Ich will die Chronistin dieser Zeit werden: Sämtliche Tagebücher und Briefe 9783406797316, 9783406797323, 9783406797330, 3406797318

DIE WELTBERÜHMTEN TAGEBÜCHER DER ETTY HILLESUM - ERSTMALS VOLLSTÄNDIG IN DEUTSCHER SPRACHE Die Tagebücher der jungen Ni

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German Pages 989 [1022] Year 2023

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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort. Von Hetty Berg
Einleitung. Von Klaas A. D. Smelik
Tagebücher 1941–1942
Heft 1: 8. März 1941–4. Juli 1941
Heft 2: 4. August 1941–21. Oktober 1941
Heft 3: 21. Oktober 1941–6. Dezember 1941
Heft 4: 8. Dezember 1941–25. Januar 1942
Heft 5: 16. Februar 1942–27. März 1942
Heft 6: 27. März 1942–30. April 1942
Heft 7: verschollen
Heft 8: 18. Mai 1942–5. Juni 1942
Heft 9: 5. Juni 1942–3. Juli 1942
Heft 10: 3. Juli 1942–29. Juli 1942
Heft 11: 15. September 1942–13. Oktober 1942
Briefe 1941–1943
Briefe von Etty Hillesum
Briefe an Etty Hillesum
Briefe über Etty Hillesum
Über Osias Kormann. Von Gerd Korman
Anhang
Dank
Nachwort der Übersetzerinnen
Anmerkungen
Bildnachweis
Verzeichnis der Briefe
Personenregister
Schlagwortregister
Bildteil
Zum Buch
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Ich will die Chronistin dieser Zeit werden: Sämtliche Tagebücher und Briefe
 9783406797316, 9783406797323, 9783406797330, 3406797318

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Etty Hillesum um 1940

Etty Hillesum

ICH WILL DIE CHRONISTIN DIESER ZEIT WERDEN Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943 Herausgegeben von Klaas A. D. Smelik Deutsche Ausgabe herausgegeben von Pierre Bühler Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth Mit einem Vorwort von Hetty Berg

C.H.Beck

Titel der niederländischen Originalausgabe: «Het verzameld werk. 1941–1943» Zuerst erschienen bei Uitgeverij Balans 1986, 7. Auflage 2021 © Uitgeverij Balans, Amsterdam, 1986 Die niederländische Ausgabe erschien auf Initiative und unter Federführung der Etty Hillesum Stiftung, Amsterdam. Die Tagebücher wurden von Christina Siever übersetzt, die dafür vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert wurde. Die Briefe wurden von Simone Schroth übersetzt. Der Verlag dankt der Niederländischen Stiftung für Literatur für die großzügige Förderung.

Mit 46 Abbildungen

Für die deutsche Ausgabe: © Verlag C.H.Beck oHG, München 2023 Umschlagentwurf: Kunst oder Reklame Umschlagabbildung: Etty Hillesum, 1937, aufgenommen von Bernard Meylink; Foto: Jüdisches Museum Amsterdam Satz: Janß GmbH, Pfungstadt ISBN Buch 978 3 406 79731 6 ISBN eBook (epub) 978 3 406 79732 3 ISBN eBook (PDF) 978 3 406 79733 0

Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.

INHALT Vorwort

Von Hetty Berg 7

Einleitung

Von Klaas A. D. Smelik 11

Tagebücher 1941–1942

Heft 1: Heft 2: Heft 3: Heft 4: Heft 5: Heft 6: Heft 7: Heft 8: Heft 9: Heft 10: Heft 11:

8. März 1941–4. Juli 1941 . . . . . . . . . . . . 4. August 1941–21. Oktober 1941 . . . . . . . . 21. Oktober 1941–6. Dezember 1941 . . . . . . 8. Dezember 1941–25. Januar 1942 . . . . . . . 16. Februar 1942–27. März 1942 . . . . . . . . 27. März 1942–30. April 1942 . . . . . . . . . verschollen 18. Mai 1942–5. Juni 1942 . . . . . . . . . . . 5. Juni 1942–3. Juli 1942 . . . . . . . . . . . . 3. Juli 1942–29. Juli 1942 . . . . . . . . . . . . 15. September 1942–13. Oktober 1942 . . . . . .

23 104 184 228 313 387 462 502 587 651

Briefe 1941–1943

Briefe von Etty Hillesum . . . . . . . . . . . . . . . . . Briefe an Etty Hillesum . . . . . . . . . . . . . . . . . . Briefe über Etty Hillesum . . . . . . . . . . . . . . . .

699 842 852

Über Osias Kormann

Von Gerd Korman 857

Anhang

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort der Übersetzerinnen . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlagwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VORWORT Von Hetty Berg Vorwort

Das Tagebuch von Etty Hillesum erschien 1981 zum ersten Mal in den Niederlanden. Ich erinnere mich an die Begeisterung, mit der es in der gesamten niederländischen Gesellschaft aufgenommen wurde. Dieses Do­ kument war einer der ersten Berichte einer jüdischen Frau, die ihre Erfah­ rungen im Lager Westerbork beschrieb und dabei vor allem ihre innersten Gefühle und Gedanken über ihr Schicksal und das anderer Juden wäh­ rend des Krieges zum Ausdruck brachte. Die Begeisterung hat nicht nach­ gelassen, und sie bleibt eine der meistgelesenen Zeuginnen dieser dunklen Zeit. Über Etty Hillesums Tagebücher und ihre Briefe aus Westerbork ist schon viel geschrieben worden. Ihr Werk gibt uns Aufschluss über die tra­ gischen jüdischen Erfahrungen in den von den Nazis besetzten Nieder­ landen und über die persönlichen psychologischen und philosophischen Gedanken Hillesums aus der Perspektive einer jungen Frau, Jüdin, Mit­ arbeiterin des Judenrats und eines Häftlings des Lagers Westerbork. Diese neue deutsche Ausgabe von Hillesums Tagebüchern und Korre­ spondenz bereichert unser Verständnis ihrer komplexen Persönlichkeit und zeigt, was für eine bemerkenswerte Schriftstellerin sie war. Obwohl sie persönliche Texte verfasste – was ist individueller und persönlicher als ein Tagebuch und Briefe, die an bestimmte Empfänger gerichtet sind? –, machte sie deutlich, dass sie ein breiteres Publikum erreichen wollte. Sie achtete auf den Stil und die Gliederung ihrer Gedanken, und sie hatte die Disziplin, jeden Tag zu schreiben. Als sie erkannte, dass die De­ portation aus Westerbork höchstwahrscheinlich den Tod bedeuten würde, sorgte sie dafür, dass die Tagebücher erhalten blieben und schließlich ver­ öffentlicht werden konnten. «Man fühlt sich immer wie Augen und Ohren eines Stücks jüdischer Geschichte, und man hat manchmal auch das Be­ dürfnis, eine kleine Stimme zu sein. Wir müssen einander doch darüber auf dem Laufenden halten, was in den verschiedenen Ecken dieser Erde

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Vorwort

geschieht, jeder muss seinen kleinen Teil dazu beitragen, damit nach dem Krieg das Mosaik ohne Lücken über die ganze Welt reicht.» Ihr Zeugnis war für sie von großer Bedeutung, wie es auch für uns heute und für künftige Generationen von Bedeutung ist. Es bleibt eines der wichtigsten Ego-Dokumente über die Deportation und Internierung von Juden aus den Niederlanden. Die große Mehrheit der niederländischen Juden wurde zuerst nach Westerbork deportiert, dem Hauptdurchgangs­ lager im Nordosten der Niederlande, wo sie bis zu ihrer weiteren Depor­ tation nach Auschwitz, Sobibor, Bergen-Belsen und Theresienstadt inter­ niert ­waren. Drei Viertel der 140 000 Juden, die in den Niederlanden lebten, wurden ermordet. Etty Hillesum schrieb, weil sie wusste, dass sie damit dokumentieren konnte, was sie erlebt hatte. Sie schrieb an Freunde, damit diese zurück­ schrieben, und dieser Austausch enthielt wichtige Informationen über das Leben im Lager und außerhalb des Lagers: «Ich bin froh, dass ich dank mutiger Menschen hin und wieder eine Nachricht nach draußen bekom­ men kann. Unsere offiziellen Briefe scheint man bis auf Weiteres zurück­ zuhalten, von der eingehenden Post bekommen wir auch nicht mehr alles, scheint es. Aber schreib bitte trotzdem weiter, ja bitte, irgendwann kommt sie schon wieder durch.» Sie beschreibt die Eltern und wie sich deren Gesundheitszustand täg­ lich verschlechtert. Sie sieht, wie ein alter Mann zu einem Zug getragen wird, nachdem er den Segen des Rabbiners erhalten hat. Und sie schreibt auch über die Grenzen der Sprache, über die Unmöglichkeit zu beschrei­ ben, was sich vor ihren Augen abspielt: «Dass Worte und Bilder für Nächte wie diese nicht ausreichen, habe ich euch schon oft genug erzählt. Trotz­ dem muss ich versuchen, etwas für euch niederzuschreiben.» Und an ­anderer Stelle: «Ach, ich kann es letztendlich doch nicht beschreiben.» Mehr als einmal spricht sie Gott an, oft im Zusammenhang mit ihrem Schreiben: «Vielleicht werde ich nie eine große Künstlerin werden, obwohl ich das doch eigentlich möchte, aber ich bin schon zu sehr geborgen in dir, mein Gott. Ich möchte manchmal kunstvolle kleine Weisheiten und vib­ rierende Geschichten schaffen, aber ich lande immer wieder direkt bei ein und demselben Wort: Gott, und das umfasst alles, und dann brauche ich all das andere nicht mehr zu sagen. Und all meine schöpferische Kraft setzt sich um in diesen innerlichen Zwiegesprächen mit dir, der Wellenschlag meines Herzens ist hier zugleich breiter geworden und bewegter und ruhi­ ger, und mir ist, als würde mein innerer Reichtum immer größer.»

Vorwort

Es war an der Zeit, dass die Schriften von Etty Hillesum dem deutsch­ sprachigen Publikum in einer zuverlässigen Gesamtausgabe zugänglich gemacht werden. Sie selbst hat mit dem Schreiben einen unermüdlichen Einsatz bewiesen: «Ich wollte erst meinen Schreibtag ungenutzt vorbei­ gehen lassen  – wegen übergroßer Müdigkeit und weil ich glaubte, ich hätte diesmal nichts zu schreiben. Aber natürlich habe ich doch viel zu schreiben, doch ich lasse meine Gedanken lieber ungehindert zu euch ­hinausströmen, ihr fangt sie schon auf.» Wir können Etty Hillesum dankbar sein, dass sie trotz ihres Schicksals, ihrer Erschöpfung und ihres Leidens an ihrer schriftstellerischen Disziplin festgehalten hat; jetzt ist es an uns, ihre Werke zu lesen und die Erinnerung wachzuhalten.

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EINLEITUNG  Von Klaas A. D. Smelik Einleitung

Esther (Etty) Hillesum wurde am 15. Januar 1914 im Haus ihrer Eltern, am Molenwater 77 in Middelburg, geboren. Ihr Vater Levie (Louis) Hillesum war dort seit 1911 als Lehrer für klassische Sprachen tätig. Am 7. Dezember 1912 hatte er in Amsterdam ihre Mutter Riva (Rebecca) Bernstein gehei­ ratet, die sich daraufhin auch in Middelburg niederließ. Etty Hillesums Vater wurde am 25. Mai 1880 in Amsterdam geboren. Er war das jüngste der vier Kinder des Kaufmanns Jacob Samuel Hillesum und seiner Ehe­ frau Esther Hillesum-Loeza. Etty Hillesum ist also nach ihrer Großmutter väterlicherseits benannt.1 Die Familie wohnte damals in der Sint Antonies­ breestraat2 31. Louis Hillesum studierte nach dem Gymnasialabschluss alte Sprachen an der Universität von Amsterdam. 1902 legte er seine Zwischenprüfung und 1905 sein Examen ab (beide cum laude).3 Am 10. Juli 1908 wurde er mit der Doktorarbeit De imperfecti et aoristi usu Thucydideo promoviert (ebenfalls cum laude). «Middelburg» war seine erste Anstellung als Lehrer. Im Jahr 1914 wurde er Lehrer für klassische Sprachen am Hilversumer Gymnasium, aber durch Gehörlosigkeit auf einem Ohr und aufgrund mangelhaften Sehvermögens bekam er Disziplinschwierigkeiten mit den großen Klassen dort. Darum wechselte er 1916 an das kleinere Gym­nasium in Tiel. 1918 wurde er Lehrer für klassische Sprachen und stellvertretender Direktor in Winschoten. Im Jahr 1924 wurde er in denselben Funktionen am Gymnasium in Deventer angestellt, an dem er am 1. Februar 1928 Rek­ tor wurde. Diese Position hatte er inne, bis er am 29. November 1940 auf Geheiß der Besatzungsbehörde dieses Amtes enthoben wurde. Louis Hillesum wird als kleiner, stiller und zurückgezogener Mann be­ schrieben, ein stoischer Stubengelehrter voller Humor und Gelehrsamkeit. In niedrigeren Klassen hatte er aufgrund seiner körperlichen Ge­brechen anfänglich Disziplinschwierigkeiten gehabt. Als Reaktion darauf eignete er sich als Lehrer ein sehr strenges Auftreten an. In den höheren Klassen

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Einleitung

konnte er seine Talente als Lehrer besser entfalten. Obwohl er in seiner Studienzeit den Grad eines Maggid (jüdischer Religionslehrer) erhalten hatte, war Louis Hillesum stark an die Mehrheitsgesellschaft assimiliert: Er arbeitete beispielsweise samstags. In Deventer gehörte er zu den Hono­ ratioren der Stadt, und im Durchgangslager Westerbork erhielt er seine Kontakte und sein kulturelles Interesse aufrecht. Louis Hillesums Frau Riva wurde am 23. Juni 1881 in Potschep (Russ­ land) als Tochter von Michael Bernstein und Hinde Lipowsky geboren. Nach einem Pogrom kam sie als Erste ihrer Familie am 18. Februar 1907 aus Surasch (Gouvernement Tschernigow) nach Amsterdam. Sie zog bei Familie Montagnu in der Tweede Jan Steenstraat 21 ein. Als Beruf gab sie an: Russischlehrerin. Am 29. Mai 1907 folgte ihr jüngerer Bruder Jacob, der Diamantschleifer war und ebenfalls bei Familie Montagnu einzog. Am 10. Juni kamen schließlich ihre Eltern aus Surasch in Amsterdam an. Sie ließen sich im zweiten Stock des Gebäudes an der Tweede Jan Steenstraat nieder. Jacob heiratete am 9. Januar 1913 Marie Mirkin, die am 5. Mai 1913 aus Warschau nach Amsterdam kam. Ihre Tochter Rahel Sarra wurde am 19. Oktober dieses Jahres geboren. Kurz danach emigrierte die ganze Fami­ lie heimlich in die Vereinigten Staaten; nur Riva blieb bei ihrem Mann Louis Hillesum in den Niederlanden. Riva Hillesum-Bernstein wird als lebhaft, chaotisch, extrovertiert und dominant charakterisiert. Etty Hillesum hatte anfänglich ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter, aber im Durchgangslager Westerbork scheint sich ihre Beziehung verbessert zu haben. Neben der 1914 geborenen Etty bekam Riva Hillesum noch zwei weitere Kinder: Jacob (Jaap), geboren in Hilversum am 27. Januar 1916 und benannt nach Louis’ Vater, und Michael (Mischa), geboren in Winschoten am 22. September 1920 und benannt nach Rivas Vater. Jaap Hillesum schloss das Gymnasium 1933 ab. Er studierte Medizin, zunächst an der Universität von Amsterdam und danach in Leiden. Er war intelligent, schrieb Gedichte und war für Frauen attraktiv. Psychisch war er labil; er wurde mehrfach in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Während des Kriegs arbeitete er als medizinischer Praktikant im Nieder­ ländisch-Israelitischen Krankenhaus in Amsterdam. Mischa Hillesum wurde am 22. September 1920 in Winschoten gebo­ ren. Schon als Kind legte er eine besondere musikalische Begabung an den Tag. 1931 zog er nach Amsterdam um, wo er drei Klassen am VossiusGymnasium absolvierte und sich ansonsten dem Klavierstudium wid­

Einleitung

mete. Sein Dozent war George van Renesse. Etwa 1939 wurde er in die jüdische psychiatrische Einrichtung Het Apeldoornsche Bosch aufgenom­ men und wegen Schizophrenie behandelt. Auch nach seiner Entlassung aus dieser Einrichtung blieb er psychisch sehr labil. Ihre Jugendjahre verbrachte Etty Hillesum in Middelburg, Hilversum (1914–1916), Tiel (1916–1918), Winschoten (1918–1924) und ab Juli 1924 in Deventer, wo sie in die fünfte Klasse der Graaf van Burenschool kam. Die Familie wohnte damals in der A. J. Duymaer van Twiststraat 51 (heute Nr. 2). Später (1933) zog die Familie in die Geert Grootestraat 9, aber da wohnte Etty Hillesum schon nicht mehr bei ihren Eltern. Nach der Grundschule ging Etty Hillesum 1926 auf das Gymnasium in Deventer, wo ihr Vater damals stellvertretender Direktor war. Ihre Schul­ leistungen waren nicht herausragend, im Gegensatz zu denjenigen ihres jüngeren Bruders Jaap, der ein sehr guter Schüler war. In der Schule belegte sie auch Hebräisch und besuchte eine Zeit lang Treffen einer zionistischen Jugendgruppe in Deventer. Nach ihrer Abschlussprüfung am Gymnasium mit Sprachenschwer­ punkt ging sie 1932 nach Amsterdam, um Jura zu studieren. Sie wohnte in einem Zimmer bei der Familie Horowitz in der Ruysdaelstraat 32, wo ihr Bruder Mischa bereits im Juli 1931 eingezogen war. Nach einem halben Jahr zog sie in die Apollolaan 29, wohin auch ihr Bruder Jaap im Septem­ ber 1933 ziehen sollte, als er anfing, Medizin zu studieren. Im November zog Jaap in eine Parterrewohnung in der Jan Willem Brouwersstraat 22; sie folgte ihm einen Monat später. Ab September 1934 war Etty Hillesum wie­ der in Deventer gemeldet. Am 6. Juni 1935 legte sie an der Universität von Amsterdam ihre Zwischenprüfung in Rechtswissenschaften ab. Sie wohnte damals mit ihrem Bruder Jaap zusammen in der Keizersgracht 612c. Im März 1937 zog Etty Hillesum bei dem Wirtschaftsprüfer Hendrik (Han) J. Wegerif ein, der in der Gabriël Metsustraat 6 wohnte, eine ­Adresse, an der ihr Bruder Jaap von Oktober 1936 bis September 1937 ebenfalls gemeldet war. Der Witwer Wegerif stellte Etty Hillesum ein, um den Haushalt für ihn zu führen. Er unterhielt jedoch auch eine Beziehung zu ihr, was dazu führte, dass das Verhältnis zu seinem zu Hause wohnen­ den Sohn Hans angespannt wurde. In diesem ihr so lieb gewordenen Haus mit seinen so verschiedenen Bewohnern wohnte Etty Hillesum bis zu ­ihrem definitiven Aufbruch ins Durchgangslager Westerbork im Juni 1943. In ihrer Studienzeit verkehrte Etty Hillesum in einem linken, anti­ faschistischen Studentenmilieu und war politisch und gesellschaftlich

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i­ nteressiert, ohne Mitglied einer politischen Partei zu sein. Ihre Bekannten aus dieser Zeit wunderten sich über ihre spirituelle Entwicklung in den Kriegsjahren, durch die sie deutlich andere Interessen ausbildete und ­einen anderen Freundeskreis bekam, auch wenn sie einige ihrer Kontakte aus der Vorkriegszeit aufrechterhielt. Am 23. Juni und 4. Juli 1939 legte sie das Abschlussexamen in niederländischem Recht (Fachrichtung öffent­ liches Recht) mit durchschnittlichem Ergebnis ab. Daneben studierte Etty Hillesum auch slawische Sprachen in Amster­ dam und Leiden. Zwar konnte sie das Studium kriegsbedingt nicht mit einer Prüfung abschließen, hat aber weiterhin die russische Sprache und Literatur studiert und auch unterrichtet. Sie gab an der Amsterdamer Volkshochschule einen Russischkurs, und später erteilte sie bis zu ihrem endgültigen Aufbruch ins Durchgangslager Westerbork Privatunterricht. Als sie nach Auschwitz deportiert wurde, lagen in ihrem Rucksack eine Bibel und eine russische Grammatik. Die Tagebücher, durch die Etty Hillesum weltberühmt geworden ist, wurden größtenteils in ihrem Zimmer an der Gabriël Metsustraat ge­ schrieben; an dieser Adresse wohnten nicht nur sie und Han Wegerif, son­ dern auch dessen Sohn Hans, die Haushälterin Käthe Fransen und ein Chemiestudent namens Bernard Meylink. Auf Empfehlung von Bernard hin ging sie am Montag, dem 3. Februar 1941, als «Forschungsobjekt» zum Psycho-Chirologen Julius Spier an der Courbetstraat 27 in Amsterdam. Spier (in den Tagebüchern fast immer «S.» genannt) wurde 1887 als zweitletztes von sieben Kindern in Frankfurt am Main geboren. Mit vier­ zehn Jahren wurde er Lehrling beim Handelsunternehmen Beer Sond­ heimer & Co. Er schaffte es dort, sich vom jüngsten Angestellten in eine Führungs­position hochzuarbeiten. Sein ursprünglicher Wunsch, Sänger zu werden, wurde von einer Krankheit durchkreuzt, infolge derer er schwer­ hörig wurde. Spier verkehrte gerne in Künstlerkreisen und gründete einen eigenen Verlag, den er «Iris» nannte. Daneben zeigte er seit 1904 ein starkes Interesse für Chirologie (Hand­ lesekunst). Nach seinem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum bei Beer Sond­ heimer im Jahr 1927 zog Spier sich aus dem Geschäftsleben zurück, um sich ganz dem Studium der Chirologie widmen zu können. Er belegte eine Lehranalyse bei Carl Gustav Jung in Zürich und eröffnete auf dessen Anraten hin 1929 in Berlin eine Praxis als Psycho-Chirologe. Diese Praxis war sehr erfolgreich. Er bot auch Kurse an. 1935 ließ er sich von seiner Frau Hedl (Hedwig) Rocco scheiden, mit der er seit 1917 verheiratet gewesen

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war, und ließ sie mit den beiden Kindern Ruth und Wolfgang zurück. Er mietete zwei Zimmer in der Aschaffenburger Straße in Berlin, wo er von da an praktizierte. Nachdem er verschiedene Beziehungen geführt hatte, verlobte er sich mit seiner Schülerin Hertha Levi, die 1937 oder 1938 nach London emigrierte. Auch Spier verließ das nationalsozialistische Deutschland und gelangte Anfang 1939 auf legale Weise in die Niederlande. Nachdem er zuerst bei seiner Schwester am Muzenplein und in einem Zimmer in der Schelde­ straat gewohnt hatte, mietete er ab Ende 1940 zwei Zimmer bei der Fami­ lie Nethe in der Courbetstraat 27 in Amsterdam. Dort praktizierte er auch und erteilte Kurse. Für solche Kurse wurden von den Kursteilnehmenden und ihren Angehörigen oder Bekannten Versuchspersonen eingeladen, ­deren Hände Spier beispielhaft analysierte. Gera Bongers, die Schwester von Bernards Verlobter Loes, war eine der Teilnehmerinnen, und via Bernard wurde Etty Hillesum eingeladen, ihre Hände während einer Montagabendsitzung von Spier analysieren zu las­ sen. Diese Begegnung hat sich als entscheidend für den weiteren Verlauf von Etty Hillesums Leben erwiesen. Sie war sofort stark beeindruckt von Spiers Persönlichkeit und beschloss, bei ihm in die Therapie zu gehen. Am 8. März 1941 schrieb sie den Entwurf eines Briefs an Spier in ein Heft. Am nächsten Tag begann sie, ihr Tagebuch zu führen, wahrscheinlich auf Anraten von Spier hin und als Teil ihrer Therapie. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass die Beziehung zu Spier ein wichtiges Thema in ihren Tagebüchern ist. Das Führen eines Tagebuchs war für Etty Hillesum nicht nur als Teil ihrer Therapie sinnvoll; es passte auch gut zu ihren lite­ rarischen Ambitionen. Sie wollte Schriftstellerin werden, und die Tage­ bücher sollten später Material etwa für einen Roman liefern können. Auf­ fällig ist in diesem Zusammenhang, dass sie in einigen ihrer Briefe auch aus ihren Tagebüchern zitiert. Darüber hinaus versuchte sie über das ­Schreiben in ihren Tagebüchern eine literarische Form zu finden, um ihre Gedanken und Gefühle festzuhalten – eine Aufgabe, die ihr oft schwerfiel, aber ihr Stil entwickelte sich dabei nach und nach. Auch wenn sie sich vor allem im Beschreiben ihres Innenlebens verbessern wollte, sind auch ihre Beschreibungen von Situationen sehr überzeugend. Besonders ihre Dar­ stellung des Durchgangslagers Westerbork ist nicht nur von historischer Bedeutung, sondern auch von großem literarischem Wert. Obwohl Etty Hillesum Spiers Patientin war, wurde sie auch seine wichtigste Sekretärin und Freundin. Weil er seiner Verlobten Hertha Levi

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treu bleiben wollte und Etty Hillesum schon ein Verhältnis mit Han Wege­ rif hatte, blieb immer eine gewisse Distanz in der Beziehung zwischen Spier und Etty Hillesum, so wichtig diese auch für beide war. Spier hatte großen Einfluss auf ihre geistige Entwicklung. Er brachte ihr bei, mit ihrem chaotischen und egozentrischen Charakterzug umzu­ gehen, und er brachte sie in Kontakt mit der Bibel und dem Kirchenvater Augustinus. Andere Autoren wie Rilke und Dostojewski las Etty Hillesum bereits seit den Dreißigerjahren, doch durch den Einfluss von Spier be­ kamen die Werke dieser Autoren für sie eine tiefere spirituelle Bedeutung. Mit der Zeit wurde die Beziehung zu Spier für Etty Hillesums Leben je­ doch weniger wichtig. Als Spier am 15. September 1942 in Amsterdam starb, konnte sie seinen Tod gut verarbeiten – dies sicherlich auch, weil ihr bewusst war, welches Schicksal ihn als Juden erwartet hätte, wenn er nicht seiner Krankheit erlegen wäre. In den Tagebüchern ist deutlich spürbar, wie die antijüdischen Maß­ nahmen der Besatzungsmacht auch das Leben von Etty Hillesum immer mehr bestimmten, auch wenn sie sich vorgenommen hatte, der Linie ihrer eigenen geistigen Entwicklung zu folgen, ohne Rücksicht darauf, was ihr passieren könnte. Als sie einen Aufruf für das Durchgangslager Wester­ bork erwartete, bewarb sie sich auf Anraten ihres Bruders Jaap um eine Stelle beim Judenrat. Dank einer Vermittlung bekam sie am 15. Juli 1942 eine Anstellung bei der Geschäftsstelle an der Lijnbaansgracht (später Oude Schans) in Amsterdam. Die administrative Tätigkeit beim Judenrat übte sie mit Widerwillen aus, und die Rolle, die der Judenrat bei der Ver­ folgung spielte, sah sie sehr kritisch. Als sinnvoll hingegen erachtete sie die Arbeit, die sie im Durchgangs­ lager Westerbork in der Abteilung «Soziale Versorgung der Durchreisen­ den» verrichtete, in die sie zum 30. Juli 1942 auf ihre Bitte hin versetzt wurde. Dort lernte sie Joseph (Jopie) I. Vleeschhouwer, Philip Mechani­ cus und M. Osias Kormann kennen, die Männer, die von diesem Moment an eine große Rolle in ihrem Leben spielen sollten. Lange dauerte ihr ers­ ter Aufenthalt im Durchgangslager Westerbork nicht: Am 14. August 1942 war sie wieder zurück in Amsterdam. Von dort aus ging sie am 19. August noch einmal zu ihren Eltern nach Deventer. Am Freitagnachmittag, dem 21. August, kehrte sie ins Durchgangslager Westerbork zurück. Wahr­ scheinlich durfte sie aufgrund der Urlaubsregelung am 4. September 1942 wieder zurück nach Amsterdam. Am 20. November kehrte sie nach Wes­ terbork zurück. Sie war schockiert über die Verschlechterung der Situation

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im Lager. Als sie am 5. Dezember 1942 nach Amsterdam zurückkehrte, war sie krank geworden und blieb es auch für längere Zeit. Es dauerte bis zum 5. Juni 1943, bis sie wieder so weit genesen war, dass sie in das Durchgangs­ lager Westerbork zurück durfte. Denn anders, als man erwarten würde, wollte Etty Hillesum gern in das Lager zurück, um ihre Arbeit dort wie­ deraufzunehmen und den Menschen beizustehen, wenn sie sich auf ihren Transport vorbereiten mussten. Aus diesem Grund lehnte Etty Hillesum alle Angebote unterzutauchen ab und erklärte mit Nachdruck, dass sie das Schicksal ihres Volkes teilen wolle. Die Abreise aus Amsterdam am 6. Juni 1943 sollte sich als endgültig erweisen, denn am 5. Juli wurde in der Abteilung Westerbork der Sonder­ status der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Judenrats beendet. Einige von ihnen mussten zurück nach Amsterdam, die anderen wurden zu ge­ wöhnlichen Lagerinsassen. Etty Hillesum gehörte zur letzteren Gruppe; sie wollte bei ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Bruder Mischa bleiben, die inzwischen ebenfalls in das Durchgangslager Westerbork deportiert worden waren. Etty Hillesums Eltern waren am 7. Januar 1943 von Deventer nach Amsterdam umgezogen, wo sie im Parterre des Hauses an der Retiefstraat 11hs wohnten. Zunächst hatten sie versucht, sich mithilfe von ärztlichen Attesten der Zwangsausreise aus ihrem Wohnort zu entziehen. Während der großen Razzia in Amsterdam am 20. und 21. Juni 1943 wurden sie zu­ sammen mit Mischa, der zu ihnen gezogen war, verhaftet und ebenfalls in das Durchgangslager Westerbork transportiert. Man versuchte nun, für ­Mischa eine Ausnahmeregelung aufgrund seines musikalischen Talents zu schaffen. Es waren vor allem die Schwestern Milli Ortmann und Grete Wendelgelst, die sich dafür einsetzten. Sowohl Willem Mengelberg als auch Willem Andriessen schrieben Empfehlungsschreiben, die erhalten geblieben sind. Diese Versuche scheiterten jedoch, weil Mischa darauf ­bestand, dass seine Eltern ihn in das Lager Barneveld begleiten sollten, wo Juden mit einem Sonderstatus interniert waren. Dies wurde nicht erlaubt; doch erhielt Mischa Hillesum im Durchgangslager Westerbork einige Pri­ vilegien. Als Riva Hillesum einen Brief an den Leiter der SS in den Nieder­ landen, Hanns Rauter, schrieb, in dem sie auch für sich um einige Privi­ legien bat, geriet dieser nach einem Bericht des Rechtsanwalts Benno Stokvis in Wut über diese «Unverschämtheit». Zur Strafe erteilte er am 6. September 1943 den Befehl, die ganze Familie unverzüglich auf den

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Transport zu schicken. Der Kommandant des Durchgangslagers Wester­ bork, Gemmeker, fasste diesen Befehl so auf, dass auch Etty Hillesum mit dem Transport vom folgenden Tag mitmusste, trotz der Versuche ihrer Bekannten im Lager, sie davor zu bewahren. Rauter hatte ja befohlen, die ganze Familie Hillesum zu deportieren. So ging die gesamte Familie mit dem Transport vom 7. September 1943 mit. Nur Jaap Hillesum blieb zurück, weil er zu diesem Zeitpunkt noch in Amsterdam war. Er kam kurze Zeit später, Ende September 1943, im Durchgangslager Westerbork an. Im Februar 1944 wurde er in das Lager Bergen-Belsen in Norddeutschland deportiert. Als dieses Lager von den Nazis teilweise geräumt wurde, landete er in einem Zug mit Gefangenen, der nach einer Irrfahrt voller Entbehrungen im April 1945 von russischen Soldaten befreit wurde. Wie viele andere Gefangene auch überlebte Jaap Hillesum die grauenvolle Fahrt nicht. Etty Hillesums Eltern sind entweder während des Transports nach Auschwitz-Birkenau umgekommen oder – was wahrscheinlicher ist – un­ mittelbar nach der Ankunft in diesem Konzentrationslager vergast wor­ den. Als Sterbedatum wird der 10. September 1943 angegeben. Dem Roten Kreuz zufolge soll Etty Hillesum am 30. November 1943 in Auschwitz um­ gekommen sein, ihr Bruder Mischa am 31. März 1944 im Konzentrations­ lager Warschau. Allerdings sind das nur ungefähre Daten. Es ist nicht un­ wahrscheinlich, dass beide bereits früher aufgrund der unmenschlichen Entbehrungen verstorben sind. Vor ihrem endgültigen Aufbruch in das Durchgangslager Westerbork händigte Etty Hillesum ihrer Freundin Maria Tuinzing, die inzwischen auch in der Gabriël Metsustraat wohnte, die Tagebücher aus, die sie in Amsterdam geschrieben hatte. Sie bat sie, die Hefte dem Schriftsteller Klaas Smelik zu bringen, falls sie nicht zurückkehren sollte, mit dem Auf­ trag, die Texte zu publizieren. Maria Tuinzing vertraute die Hefte 1946 oder 1947 zusammen mit einem Bündel Briefe Klaas Smelik an. Seine Tochter Johanna (Jopie) Smelik tippte damals einen Teil der Tagebuchauf­ zeichnungen ab, aber Klaas Smeliks Bemühungen, die Tagebücher in den Fünfzigerjahren zu publizieren, blieben erfolglos. Es bestand kein Inter­ esse daran. Der Stapel Hefte blieb in der Hoffnung auf bessere Zeiten in einer Schublade seines Schreibtischs liegen. Publiziert wurden jedoch zwei Briefe, die Etty Hillesum im Dezember 1942 und am 24. August 1943 über die Zustände im Durchgangslager Wes­ terbork schrieb. Der Text dieser Briefe wurde in eine illegale Edition auf­

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genommen, die auf Vermittlung von Etty Hillesums Freundin, der Juris­ tin Petra (Pim) Eldering, von David Koning herausgegeben wurde. Diese Ausgabe wurde im Herbst 1943 in hundert Exemplaren bei B. H. Nooy in Purmerend unter dem Titel Drie brieven van den kunstschilder Johannes Baptiste van der Pluym (1843–1912) («Drei Briefe des Malers Johannes Bap­ tiste van der Pluym (1843–1912)») gedruckt. Den beiden Briefen ging eine ­Lebensbeschreibung des Künstlers voran, auf sie folgte ein dritter Brief, der wie die Lebensbeschreibung zur Tarnung des wirklichen Inhalts von David Koning verfasst wurde. Der Erlös der Publikation wurde verwen­ det, um jüdischen Untergetauchten zu helfen. Die beiden Briefe sind seit­ her mehrfach wiederveröffentlicht worden, unter anderem in der Zeit­ schrift Maatstaf und 1962 als eigenständige Publikation im Verlag Bert Bakker / Daamen (Den Haag). Ende 1979 wandte ich mich an den Verleger Jan Geurt Gaarlandt mit der Bitte, die Tagebücher von Etty Hillesum, die ich von meinem Vater Klaas Smelik erhalten hatte, zu publizieren. Die Zeiten hatten sich ge­ ändert. Fand man die Tagebücher in den Fünfzigerjahren «zu philoso­ phisch», wollte man sich nun darauf besinnen, was während des Zweiten Weltkriegs passiert war. Gaarlandt erkannte sofort den Wert der Tage­ bücher und veranlasste die Veröffentlichung einer Textauswahl aus den Heften sowie einiger Briefe. Am 1. Oktober 1981 fand im Concertgebouw in Amsterdam die Presse­ konferenz zum Buch Het verstoorde leven. Dagboek van Etty Hillesum 1941– 1943 («Das zerstörte Leben. Tagebuch von Etty Hillesum 1941–1943») statt. Eine denkwürdige Veranstaltung, da viele von Etty Hillesums Freunden an­wesend waren und sich nach so vielen Jahren wiederbegegneten. «Das zerstörte Leben» wurde innerhalb kurzer Zeit zu einem viel gelesenen Buch. Mittlerweile ist die 32. Auflage erschienen, und das Buch wurde in 18 Spra­ chen übersetzt. Gaarlandt gab noch zwei weitere Ausgaben mit einer Aus­ wahl von Etty Hillesums hinterlassenen Schriften heraus: Het denkende hart van de barak. Brieven van Etty Hillesum (Das denkende Herz der Ba­ racke. Briefe von Etty Hillesum; 1982) und In duizend zoete armen. Nieuwe dagboekaantekeningen van Etty Hillesum («In tausend süßen Armen. Neue Tagebucheinträge von Etty Hillesum; 1984»). Damit waren jedoch noch nicht alle erhalten gebliebenen Schriften von Etty Hillesum publiziert. Ungefähr die Hälfte der Tagebuchtexte und einige Briefe waren weiterhin unveröffentlicht. Hinzu kam, dass neue Korrespondenz von Etty Hillesum gefunden wurde, namentlich zweiund­

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zwanzig Briefe, die an ihren Freund im Durchgangslager Westerbork, Osias Kormann, gerichtet waren. Sein Sohn, Gerd Korman, stellte diese für eine Veröffentlichung zur Verfügung. Daher beschloss die Etty Hillesum Stif­ tung, die die Urheberrechte an den hinterlassenen Schriften Etty Hille­ sums verwaltet, 1984 eine ungekürzte Ausgabe zu publizieren. Für diese Edition wurden sowohl die Tagebücher als auch die Briefe nochmals neu transkribiert. Dies galt auch für die beiden Briefe aus Westerbork, die zum ersten Mal 1943 in einer illegalen Edition erschienen waren, von denen wir aber zuverlässigere Abschriften entdeckt hatten. Die vorliegende Ausgabe enthält den vollständigen Text der zehn er­ haltenen Tagebücher (Heft 7 wurde leider nicht wiedergefunden), sämt­ liche Briefe von Etty Hillesum in chronologischer Reihenfolge, einzelne Briefe, die an Etty Hillesum gerichtet sind, sowie zwei Briefe, in denen ihr Aufbruch im Durchgangslager Westerbork beschrieben wird. In den Anmerkungen finden sich Informationen zu den im Text genannten Per­ sonen und zu den historischen Umständen, auf die angespielt wird. Sie stammen teils aus Archivrecherchen, teils aus Interviews mit Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis Etty Hillesums. Wenn keine In­ formationen ermittelt werden konnten, ist dies vermerkt. Für die deut­ sche Ausgabe haben die Übersetzerinnen einige Erklärungen ergänzt. In den Anmerkungen werden außerdem die Quellen zu den vielen Zitaten in den Tagebüchern und Briefen angegeben. Von einer Forschungsdiskus­ sion wurde abgesehen. Im Jahr 1986 wurde die erste Auflage des Gesamtwerks der nachge­ lassenen Schriften Etty Hillesums im Widerstandsmuseum in Amsterdam der Öffentlichkeit vorgestellt. Diese Ausgabe wurde seither regelmäßig überarbeitet, ergänzt und neu aufgelegt und auch ins Englische, Französi­ sche, Italienische und Spanische übersetzt. Mit dem vorliegenden Band liegt das Werk Etty Hillesums erstmals vollständig in deutscher Sprache vor. Die Gesamtausgabe der überlieferten Schriften Etty Hillesums möge mit den Worten des römischen Dichters Horaz ein «Denkmal, dauerhafter als Erz» sein zur Erinnerung an diese Frau. Erinnern ist Handeln, lehrt uns die jüdische Tradition. Die Lektüre dieser Texte fordert uns dazu auf, Etty Hillesums großem Ideal nachzueifern: den Hass aus uns selbst zu verban­ nen und damit aus der Welt – aus einer Welt des Hasses, dessen Opfer sie selbst geworden ist und mit ihr Millionen andere Menschen.

TA G E B Ü C H E R 1941–1942

Textpassagen in serifenloser Schrift wurden von Etty Hillesum auf Deutsch verfasst. Ihre Schreibweise wurde weitgehend beibehalten. Siehe das Nach­ wort der Übersetzerinnen, Seite 864 f.

HEFT 1 8. März 1941–4. Juli 1941 8. März 1941–4. Juli Tagebücher 1941

Lieber Herr S.!

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[Samstag] 8. März 1941. Da gerade habe ich eine ganze Geschichte an Sie geschrieben, aber ich glaube, ich werde sie Ihnen ersparen. Jetzt, während des Überlesens, muß ich schon darüber lächeln. Es ist alles so pathetisch und so wichtig hingeschrieben. Und während ich hier so ruhig an meinem vertrauten Büro sitze und das Blut mir, dank Ihrer schönen Übungen, so munter durch die Adern fließt, bekomme ich fast Lust mir selber ganz mütterlich über den Kopf zu streicheln und zu sagen: Na, liebe Kleine, das wird alles schon in Ordnung kommen, nehme dich selber und alle deine Gefühle und Gedanken bloß nicht zu wichtig. Eigentlich sollst du dich irgendwo schämen. Wissen Sie, gestern, als ich nichts anderes tun konnte als Sie töricht an­ gucken, war da in mir solch ein Zusammenprall von entgegengesetzten Gedan­ ken und Gefühlen, daß ich mich ganz darunter zerschmettert fühlte und laut aufgeschrien hätte, wenn ich mich noch weniger beherrscht hätte. Es waren starke erotische Gefühle für Sie, die ich schon meinte in mir selber überwun­ den zu haben, und zugleich ein starker Widerwille gegen Sie und es war auch plötzlich ein grenzenloses Gefühl der Einsamkeit da, eine Ahnung darüber, daß das Leben so schrecklich schwer ist und daß man alles alleine machen muß und Hilfe von außen gar nicht möglich ist, und Unsicherheit, Angst, alles war da. So ein kleines Stückchen Chaos schaute mich mit einemmale tief unten aus der Seele an. Und als ich von Ihnen nach Hause fuhr, hätte ich gern überfahren werden wollen von einem Auto und dachte: Ach ja, ich werde auch wohl ver­ rückt sein sowie meine ganze Familie, ein Gedanke, den ich immer bekomme, wenn ich mich irgendwo verzweifelt fühle. Aber jetzt weiß ich schon wieder, daß ich das nicht bin, nur daß ich noch sehr viel an mir selber arbeiten muß um ein erwachsener und hundertprozentiger Mensch zu werden. Und Sie werden mir dabei helfen? So, jetzt habe ich Ihnen ein paar Worte geschrieben; hat mich große Mühe

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Tagebücher gekostet, ich schreibe furchtbar ungerne, fühle mich dabei immer so gehemmt und unsicher. Und ich möchte später Schriftstellerin werden, jawohl! Lieber Herr S., auf Wiedersehen und Dank für alles Gute, was Sie schon für mich getan haben.

Etty Hillesum

Sonntag, 9. März [1941]. Na, dann mal los! Das wird für mich ein mühsamer und nahezu unüber­ windbarer Moment: das befangene Gemüt einem lächerlichen Stück linier­ tem Papier preiszugeben. Die Gedanken sind manchmal so deutlich und klar im Kopf und die Gefühle so tief, aber aufschreiben, das klappt noch nicht. Hauptsächlich ist es, glaube ich, ein Schamgefühl. Große Hem­ mung, wage nicht, die Dinge preiszugeben, frei aus mir hinausströmen zu lassen, und doch muss es sein, wenn ich auf Dauer das Leben zu einem angemessenen und zufriedenstellenden Ende bringen will. Wie auch beim Geschlechtsverkehr der letzte befreiende Schrei immer scheu in der Brust stecken bleibt. In erotischer Hinsicht bin ich raffiniert und ich möchte beinahe sagen gerissen genug, um zu den guten Liebhaberinnen zu zählen, und die Liebe erscheint denn auch vollkommen, aber doch bleibt es Spie­ lerei um das Wesentliche herum, es bleibt tief in mir drin etwas gefangen. Und so ist es auch mit dem Rest. Intellektuell bin ich in der Lage, alles zu ergründen, ich kann alles mit klaren Methoden anpacken, ich scheine in vielen Problemen des Lebens äußerst überlegen zu sein, und doch: Dort sehr tief sitzt ein zusammengeballter Knäuel, er hat mich etwas fest im Griff, und ich bin ab und zu doch nur ein ängstlicher, armer Tropf, trotz des klaren Denkens. Ich halte den Moment von heute Morgen schnell fest, obwohl er mir nun schon beinahe wieder entglitten ist. Durch reine Denkarbeit hatte ich S. für einen Augenblick überwunden. Seine durchsichtigen, reinen Augen, sein schwerer, sinnlicher Mund; seine stierartige, starke Erschei­ nung und die federleichten, befreiten Bewegungen. Der Kampf zwischen Körper und Geist, der bei diesem 54-jährigen Mann noch in vollem Gang ist. Und es scheint, als ob ich unter dem Gewicht dieses Kampfes zermalmt werde. Ich bin von dieser Persönlichkeit überwältigt und kann mich nicht von ihr loslösen; meine eigenen Probleme, die ich ungefähr als von derselben Art empfinde, zappeln dort ein wenig herum. Es ist natürlich doch ganz anders und es kann nicht genau ausgedrückt werden. Die Ehrlichkeit ist bei mir vielleicht noch nicht unbarmherzig genug,

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und es ist immer schwierig, mit Worten auf den Grund der Dinge durchzu­dringen. Erster Eindruck nach einigen Minuten: kein sinnliches Gesicht, unhol­ ländisch, ein Typus, der mir doch irgendwo vertraut war, ließ mich an Abrascha2 denken, war mir doch nicht so ganz sympathisch. Zweiter Eindruck: kluge, unglaublich kluge, uralte, graue Augen, die die Aufmerksamkeit von dem schweren Mund für kurze Zeit abwenden konnten, aber doch nicht ganz. Sehr beeindruckt von seiner Tätigkeit: das Ergründen meiner tiefsten Konflikte durch das Lesen in meinem zweiten Gesicht: den Händen.3 Irgendwie auch gerade sehr peinlich berührt: Als ich kurz nicht aufpasste und dachte, er spräche von meinen Eltern: «Nein, das alles sind Sie, philosophisch, intuitiv begabt», und noch einige solche Herrlichkeiten, «das alles sind Sie.» Er sagte es auf die Art und Weise, wie wenn man einem kleinen Kind einen Keks in die Hand drückt. «Sind Sie jetzt nicht froh? Ja, all diese schönen Eigenschaften haben Sie schon, sind Sie jetzt nicht froh?» Dann ein kurzer Moment der Abneigung, irgendwie gedemütigt, vielleicht auch nur in meinem ästhetischen Empfinden ­gekränkt, jedenfalls empfand ich ihn dann als ziemlich widerlich. Aber später waren da wieder diese entzückenden, menschlichen Augen, die aus grauen Tiefen auskundschaftend auf meinen Augen ruhten, die ich gerne umarmt hätte. Wo ich nun schon mal dabei bin: Es gab noch einen Mo­ ment, an demselben Montagmorgen, jetzt schon ein paar Wochen her, in dem er mir zuwider war. Seine Schülerin, Fräulein Holm.4 Kam vor einem Jahr zu ihm, von Kopf bis Fuß mit Ekzemen bedeckt. Wurde seine Patien­ tin. Jetzt genesen. Sie vergöttert ihn irgendwie, auf welche Art, kann ich noch nicht ergründen. In einem bestimmten Moment erschien mein «Ehr­ geiz» auf der Bildfläche, der darin bestand, dass ich meine eigenen Prob­ leme lösen will. Und Fräulein Holm sprach vielsagend: «Ein Mensch ist nicht allein auf der Welt.» Das klang nett und überzeugend. Und dann erzählte sie von diesem Ekzem, das sie überall hatte, auch in ihrem Ge­ sicht. Und S. wandte sich ihr zu und sagte, mit einer Gebärde, die ich nicht mehr genau beschreiben kann, aber die mir sehr unangenehm war: «Und was für einen Teint hat sie jetzt, hu?» Es klang, als spräche er über eine Kuh auf dem Jahrmarkt. Ich weiß es nicht, aber ich fand ihn damals auch ekelhaft, sinnlich, ein bisschen zynisch, aber es war doch auch wieder ­anders. Und dann am Ende der Sitzung: «Und jetzt fragen wir uns, wie können

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Es kann auch sein, dass er sagte: «Diesem Mensch muss geholfen werden.» Und ich war bereits von ihm eingenom­ men aufgrund der Probe seiner Fähigkeiten, die er mir gegeben hatte, und ich fühlte mich hilfsbedürftig. wir diesem Menschen helfen.»

Und dann seine Lesung.5 Ich ging dort nur hin, um diesen Menschen ein wenig aus der Distanz zu sehen, um ihn aus der Ferne zu mustern, bevor ich mich ihm mit Leib und Seele ausliefern würde. Guter Eindruck, ­Lesung auf hohem Niveau. Charmanter Mann. Charmantes Lachen, trotz all der falschen Zähne. Dann beeindruckt worden von einer Art innerer Befreitheit, die von ihm ausging, Gewandtheit und Gemütsruhe und eine sehr spezielle Anmut in diesem schweren Körper. Das Gesicht war dann wieder ganz anders, es ist übrigens jedes Mal anders; so allein zu Hause kann ich es mir nicht mehr vergegenwärtigen. Alle Teilchen, die ich davon kenne, setze ich wie ein Puzzle zusammen, aber es wird nichts Ganzes, wegen der Gegensätze flimmert es fortwährend. Manchmal sehe ich das Gesicht für einen Moment scharf vor mir, aber dann fällt es wieder aus­ einander in viele widersprüchliche Teilchen. Das ist quälend. Es waren viele charmante Frauen und junge Mädchen bei der Lesung anwesend. Rührend war die Liebe von ein paar «arischen» Mädchen, die, wie ich spürte, sozusagen spürbar in der Luft lag, zu diesem aus Berlin emigrierten Juden,6 der von ganz weit weg aus Deutschland hierherkom­ men musste, um ihnen zu helfen, ihre Probleme zu lösen, ein wenig innere Ordnung zu schaffen. Im Gang stand ein junges Mädchen,7 schmal, zerbrechlich, ziemlich elegant, interessant, ein nicht ganz gesundes Gesichtchen. S. wechselte im Vorbeigehen, es war Pause, einige Worte mit ihr, und sie schenkte ihm ein Lächeln, so hingebungsvoll, so aus dem Tiefsten ihrer Seele, so intensiv, dass es mir beinahe wehtat. Es kam ein undefinierbares unzufriedenes ­Gefühl in mir auf, die Frage, ob dies nun wirklich mit rechten Dingen zugehe, ein Gefühl von: Dieser Mann stiehlt das Lächeln dieses jungen Mädchens; all dieses Gefühl, das dieses Kind ihm entgegenbrachte, raubt er einem anderen, einem Mann, der später ihrer sein wird. Es ist eigentlich gemein und nicht fair, und er ist ein gefährlicher Mann. Nächster Besuch. «Ich kann ƒ 20 bezahlen.»8 – «Gut, können Sie zwei Monate kommen und ich werde Sie auch später nicht im Stich lassen.»

Da saß ich nun mit meiner «seelischen Verstopfung». Und er würde

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Ordnung bringen in das innerliche Chaos, die Leitung über die innerli­ chen gegensätzlichen Kräfte übernehmen, die in mir wirken. Er nähme mich gleichsam an die Hand und sagte, schau, so musst du leben. Mein Leben lang habe ich das Gefühl gehabt: Wenn doch nur jemand käme, der mich an die Hand nähme und der sich um mich kümmerte. Ich erscheine tüchtig und mache alles allein, aber ich würde mich so schrecklich gerne jemandem ausliefern. Und das tat nun dieser wildfremde Herr S. mit ­seinem komplizierten Gesicht, und in einer Woche hatte er schon, trotz allem, Wunder an mir vollbracht. Gymnastik, Atemübungen, erhellende, befreiende Worte über meine Depressionen, Beziehungen zu anderen usw. Und ich lebte auf einmal anders, befreiter, «fließender», das verstopfte Ge­ fühl verschwand, es kam etwas Ruhe und Ordnung dort hinein, vorläufig alles nur unter dem Einfluss seiner magischen Persönlichkeit, aber das wird noch psychisch begründet und bewusst gemacht werden. Aus diesem Grund begann er s­icherlich meine körperlichen Kräfte in einem Ringkampf zu messen. Meine Kräfte schienen ziemlich groß zu sein. Und schon geschah das Merkwürdige, nämlich dass ich diesen großen Kerl zu Boden warf. All meine innere Spannung, meine zusammengeballte Kraft brach los, und da lag er, körperlich und auch psychisch, wie er mir später erzählte, auf den Boden geworfen. Das hatte bei ihm noch nie jemand fertiggebracht. Er verstand nicht, wie ich das geschafft hatte. Seine Lippe blutete. Diese durfte ich mit Eau de Cologne waschen. Eine unheimische,9 vertrauliche Arbeit. Aber er war so «frei», so arglos, offen, ungekünstelt in seinen Bewegungen, auch als wir zusammen über den Boden rollten, und auch als ich steif von seinen Armen umklammert, schließlich gezähmt, unter ihm lag, blieb er «sachlich», rein, obwohl ich mich kurz der körperlichen Versuchung hingab, die für mich von ihm ausging. Aber es war alles noch gut, rein, für mich etwas Neues und Un­ erwartetes und auch etwas Befreiendes, dieses Ringen, obschon es später meine Fantasie zu stark anregte. Aber jetzt. «Körper und Seele sind eins.»

Ein andermal mehr. Sonntagabend im Badezimmer. Ich bin nun blitzblank von innen. Heute Abend war es noch kurz seine Stimme am Telefon, die meinen Körper gänzlich in Aufruhr versetzte.

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Aber ich habe wie ein Rohrspatz mit mir selbst geschimpft und mir gesagt, dass ich doch kein hysterischer Backfisch10 mehr bin. Und ich konnte plötzlich die Mönche begreifen, die sich selbst geißeln, um das sündige Fleisch zu zügeln. Und das war kurz ein Kampf gegen mich selbst, wahn­ sinnig war ich, aber danach große Klarheit und Ruhe. Und nun fühle ich mich herrlich, blitzblank von innen. S. ist wieder einmal für das soundso­ vielte Mal besiegt. Wird es lange andauern? Ich bin nicht verliebt in ihn und ich liebe ihn auch nicht, aber ich spüre in gewisser Hinsicht seine Persönlichkeit, die noch nicht «fertig» ist, die noch mit sich selbst kämpft, schwer auf mir lasten. Im Augenblick nicht mehr. Ich sehe ihn nun aus der Distanz: ein lebendiger, kämpfender Mensch, mit Urkräften in sich und doch auch spiritualisiert, mit durchsichtigen Augen und einem sinnlichen Mund. Der Tag begann so gut, so hell und klar in meinem Kopf, das muss ich später noch aufschreiben, später folgte ein sehr schlimmes Tief, ein Druck auf meinem Schädel, den ich nicht loswerden konnte, und schwere Ge­ danken, viel zu schwer für mein Gefühl und dahinter die Leere und das Warum, aber auch dagegen wird gekämpft werden. «Melodisch rollt die Welt aus Gottes Hand»,11 diese Worte von Verwey gingen mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Ich wünschte, dass ich selbst melodisch aus Gottes Hand rollte. Und jetzt gute Nacht. Montagmorgen [10. März 1941], 9 Uhr. So, Mädchen, nun wird gearbeitet, oder ich schlage dich tot. Und nicht denken, ich habe hier ein wenig Kopfschmerzen und bin da ein bisschen unpässlich, und jetzt geht es nicht so gut. Das ist in höchstem Maße un­ ziemlich. Du musst arbeiten und damit basta. Und keine Fantasien und «großartigen» Ideen und fabelhafte Intuitionen; eine Übersetzungsübung machen, Vokabeln nachschlagen ist viel wichtiger.12 Und das werde ich lernen müssen und dafür werde ich mich noch zu Tode kämpfen müssen: nämlich alle Fantasien und Träumereien mit Gewalt aus den Gedanken zu verbannen und mich zu säubern von innen, sodass Platz gemacht wird für die kleinen und großen Dinge des Studiums. Eigentlich habe ich noch nie gut gearbeitet. Es ist hier wieder dasselbe wie mit der Sexualität: Wenn mich jemand beeindruckt, dann kann ich Tage und Nächte lang in den erotischen Fantasien schwelgen, ich glaube, dass es mir bis jetzt kaum be­

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wusst ist, wie viel Energie das frisst, und kommt es dann zu einem realen Kontakt, dann ist die Enttäuschung enorm groß. Die Realität kommt nicht an meine Fantasie heran, weil diese zu ausschweifend ist. So war es das eine Mal mit S. auch. Ich hatte mir eine ganz bestimmte Vorstellung von meinem Besuch bei ihm gemacht und ging in einer Art Freudentau­ mel hin, einen Turnanzug unter meinem Wollkleid. Aber alles war anders. Er war wieder sachlich und sehr weit weg, sodass ich sogleich erstarrte. Und diese Gymnastik taugte auch nichts. Als ich in meinem Turnanzug dastand, schauten wir beide so verlegen wie Adam und Eva nach dem ­Essen des Apfels. Und er zog die Vorhänge zu und verschloss die Tür, und die gewohnte Ungezwungenheit seiner Bewegungen war weg, und ich wollte wegrennen und weinen, so fürchterlich fand ich es, und als wir über den Boden rollten, klammerte ich mich an ihm fest, sinnlich und doch mit Widerwillen gegen all dies, und seine Bewegungen waren ab einem bestimmten Moment auch nicht besonders unbefangen, abscheulich fand ich alles. Und wenn ich zuvor nicht diese Fantasien gehabt hätte, wäre ­sicherlich alles anders gewesen. Es gab auf einmal einen gewaltigen Zusam­ menprall von meinem ausschweifenden Fantasieleben und der ernüchtern­ den Wirklichkeit, die zu einem verlegenen Mann zusammenschrumpfte, der am Ende ein zerknittertes Hemd in seine Hose stopfte und schwitzte. Und so ist es auch mit meiner Arbeit: Ich kann manchmal auf einmal sehr klar und deutlich eine bestimmte Menge des Stoffes durchschauen und durchdenken, große, unklare Gedanken, kaum fassbar, durch die ich plötz­ lich ein sehr starkes Gefühl der eigenen Wichtigkeit bekomme. Aber wenn ich versuchte, sie aufzuschreiben, würden sie zu nichts zusammenschrump­ fen, und darum habe ich auch nicht den Mut dazu, sie aufzuschreiben, weil ich wahrscheinlich zu enttäuscht wäre von dem unbedeutenden Auf­ satz, der dabei herauskäme. Aber eine Sache werde ich dir nun ans Herz legen, Kleines: Von der Konkretisierung der großen, vagen Ideen musst du nicht sprechen. Der kleinste, unbedeutendste Aufsatz, den du nieder­ schreibst, ist wichtiger als die Flut der grandiosen Ideen, in denen du schwelgst. Natürlich darfst du deine Ahnungen und deine Intuition behal­ ten, das ist eine Quelle, aus der du schöpfst, aber sorge dafür, dass du nicht in dieser Quelle ertrinkst. Organisiere den Kram ein bisschen, betreibe ein wenig mentale Hygiene. Deine Fantasie, deine inneren Emotionen usw. sind der große Ozean, dem du kleine Stückchen Land entreißen musst, die wahrscheinlich wieder einmal überschwemmt werden. So ein Ozean ist äußerst grandios und elementar, aber es geht um die kleinen Stückchen

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Land, die du erobern kannst. Die Übersetzungsübung, die du nun machen wirst, ist wichtiger als die großartigen Gedanken über Tolstoi und Napo­ leon,13 die du neulich mitten in der Nacht hattest, und der Unterricht, den du dem fleißigen Mädchen14 am Freitagabend erteilst, ist wichtiger als alle Philosophie, die du im Vagen betreibst. Halte dir das verdammt gut vor Augen. Überschätze die innere Wucht nicht. Du fühlst dich dadurch manchmal zu etwas Großartigem auserkoren und als etwas Besseres als die anderen sogenannten «alltäglichen» Menschen, von deren Innenleben du doch eigentlich nichts weißt, aber du bist ein Schwächling und ein Trottel, wenn du weiterschwelgst und nachträglich all diese inneren Wellen ge­ nießt. Halte das Festland vor Augen und zappele nicht kraftlos im Ozean. Und nun diese Übersetzungsübung! Montagnacht, 12 Uhr. Der Tag war großartig! Ich entreiße den tobenden Wellen Land, als ob es nichts wäre. Russische Übersetzungsübung, so konzentriert wie niemals zuvor. ­Nickerchen von nur einer halben Stunde. Danach Friedl und Anna.15 Kos­ tete mich nicht dieselbe Anstrengung, die mich sonst Gespräche mit ande­ ren kosten. Danach diese humorvolle Handlese-Sitzung. Der Abstand zu S. war ausgezeichnet. Ging sehr unbeschwert wieder nach Hause. Gespräch mit Wiep.16 Habe mich vollkommen auf sie eingestellt und bemühte mich, ihr in diesem Gespräch etwas zu geben; ich glaube, dass es mir ziemlich gut gelungen ist, trotzdem nahm es mich zu stark mit. Hinterher noch ein wenig mit Pa Han17 geplaudert. Und nun schlafen, zuerst faulenzen, weg mit den Gedanken und Grübeleien. Das Leben ist schön, die Auseinander­ setzung hat begonnen und der erste Tag war schön, viel zu schön! Dienstagmorgen [11. März 1941], 9 Uhr. In der vergangenen Nacht war es noch nicht so schön. Das harmonische Rollen aus Gottes Hand ist nicht so ganz geglückt. Es ist verrückt, dass so wenig Gesellschaft wie gestern Abend noch so stark auf mich nachwirkt. Es geisterte mir durch den Kopf heute Nacht, dann war da ein Antlitz, dann eine Wahrnehmung, dann eine Gebärde, danach sah ich mich selbst wieder, und das alles hat keinen Sinn, es sind lauter kleine Stiche, die mir Ansporn geben, ohne dass es irgendein Ziel hat. Wie dies auszutreiben ist, weiß ich noch nicht. Atemgymnastik mitten in der Nacht, danach aus meinem Bett gesprungen und mich selbst ausgescholten, aber der Film in

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meinem Kopf lief ständig weiter. Zwar kurz erotische Fantasien über S., aber die waren einfach zu vertreiben. Ich will diesen Mann doch überhaupt nicht besitzen, diese Fantasien über ihn sind etwas Elendes, es ist ein wenig experimentieren, ein wenig spie­ len, und wenn wirklich etwas von diesen Fantasien konkretisiert würde, so schreckte ich zurück wie ein ängstlicher Backfisch. Und dadurch, dass ich dies so genau weiß, kann ich das auch aus dem Bewusstsein verbannen. Er ist ein wunderbarer Mann zum Beobachten, es ist eine menschliche, reine Freude zu wissen, dass er existiert; die Atmosphäre, die von ihm ausgeht, ist so erquicklich und erheiternd, aber weg, in Gottes Namen weg mit dieser widerlichen Fantasterei, sie trübt zu oft das Seelenleben. Gestern war unter den Schülern auch diese zerbrechliche kleine Frau18 mit ihrem kränklichen Gesichtchen, das dieses hingebungsvolle Lächeln hervorgebracht hat. Es stellte sich heraus, dass sie verheiratet und eine Deutsche war, und als sie gerade sprach, hörte ich auf einmal, dass sie stot­ terte. S. mal fragen, was sie für eine ist, sie fesselt mich, d. h., ich habe ein sehr zärtliches, beschützendes Gefühl für sie, und irgendwie bezaubert sie mich auch. Und nun auf zu Lermontow!19 halb 11. Man bekommt nichts umsonst. Große innere Anspannung. Schwierig. Hinter Lermontow taucht andauernd der fahle, runzlige Kopf von S. auf, so, wie er dort gestern saß: hinter dem Tisch, in sich selbst versunken, zu­ sammengeballte Kraft, die gescheiten Augen schauten aus dieser warmen Kraft heraus, aus dieser abgeschlossenen, fesselnden Welt, die er selbst dar­ stellt. Ha, wie schön formuliert, aber ich schmiere es nur so hin, wie es zufällig aus dem Stift kommt, das scheint mir das Beste zu sein. Und das ist das Schwierige an der Arbeit. Ich will fortwährend zu diesem Kopf hin, der mir so lieb ist, ich möchte mit ihm sprechen, ihn streicheln, mich mit ihm in der Fantasie beschäftigen, aber ich schubse ihn weg, fluche wie ein Kutscher, das geht nicht, das geht wirklich nicht, du musst arbeiten und dann gelingt es auch, ein Gedicht von Lermontow ganz konzentriert zu studieren. Konzentriertes Arbeiten ist das Schönste, was es gibt, aber du lieber Himmel, was müssen dafür für Kräfte aufgeboten werden, und jetzt aber ins Seminar. Ich werde nun dort auch anders dabei sein. Früher, d. h. letzte Woche noch, hörte ich zur einen Hälfte zu und zur anderen Hälfte

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träumte ich und dachte immerfort: Ach, ich studiere das, was er sagt, ­später irgendwann noch einmal,20 aber jetzt bin ich gerade so herrlich am Fantasieren. Einfach entsetzlich, schlapp und erbärmlich, solange du nur so halb dabei bist, wird das auch nichts werden. Und nun wirst du auf­ passen: Du sollst wollen! Dies ist der Anfang von allem. Mittwoch, 12. März [1941], 9 Uhr morgens. Gestern war das Leben schön: bis an den Rand ausgefüllt, und das Ein­ zige, was davon natürlich noch nichts taugt, ist, dass ich mich dort noch allzu stark bewusst eindämme. Alles muss noch selbstverständlicher und einfacher werden, ich muss selbst noch gänzlich verschwinden. Gestern Morgen hat Lermontow schließlich gegen S. gewonnen, und das gab mir ein starkes Gefühl der Befriedigung. Mittags müde, ein Tief, ungeordnet und angespannt im Kopf. Aber dann habe ich den Kraftakt vollbracht und mich selbst zurückgedrängt und Gogol dafür an diese Stelle gesetzt. Die «Belohnung» war der letzte Satz21 der zwei Iwane: «Скучно на зтом свете, господа.»22 Aber so etwas muss kein Kraftakt, sondern etwas Selbstver­ ständliches sein. Du musst nicht ständig fragen, wie du dich jetzt fühlst, sondern du musst nur arbeiten, und im gegebenen Augenblick ist dann an die Stelle des eigenen Unbehaglich-Fühlens die Arbeit getreten, und so sollte das sein. Alfred Adler23 drückt dies in seinen «Lebensproblemen» so aus: «Als Einleitung zu unserer gemeinsamen Arbeit will ich Ihnen eine Geschichte erzählen aus dem Werk eines chinesischen Autors, der unge­ fähr vor 3000 Jahren lebte. Nur wenige Menschen scheinen die Beleh­ rung, welche diese Geschichte enthält, in die Praxis umsetzen zu können. Ich selbst gebe mein Bestes, es zu tun, und auch für Sie kann es von gro­ ßem Nutzen sein bei der Auseinandersetzung mit dem, was in diesem Buch dargelegt wird. Ein Holzschnitzer schuf einmal eine herrliche Skulp­ tur, ein wahrhaftes Kunstwerk, das von allen außerordentlich bewundert wurde. Auch sein Fürst, Prinz Li, war des Lobes voll und fragte ihn nach dem Geheimnis seiner Kunst. Der Bildhauer antwortete: ‹Wie könnte ich als einfacher Mann und Euer Knecht vor Ihnen ein Geheimnis haben? Ich hüte weder ein Geheimnis noch ist meine Kunst etwas Außergewöhn­ liches. Ich möchte Ihnen allerdings erzählen, wie mein Werk entstanden ist. Als ich mir vorgenommen hatte, eine Skulptur zu schnitzen, bemerkte ich, dass in mir zu viel Eitelkeit und Hochmut steckte. Ich arbeitete folg­ lich zwei Tage daran, mich von diesen Sünden zu befreien, und meinte

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dann, ich sei rein. Aber nun bemerkte ich, dass ich vom Neid auf einen Berufskollegen angetrieben war. Ich arbeitete wieder zwei Tage und be­ siegte meinen Neid. Daraufhin spürte ich, dass ich mich zu sehr nach ­Ihrem Lob sehnte. Es kostete mich wieder zwei Tage, dieses Verlangen zum Verschwinden zu bringen. Schließlich jedoch bemerkte ich, dass ich daran dachte, wie viel Geld ich für die Skulptur bekommen würde. Dies­ mal benötigte ich vier Tage, doch endlich fühlte ich mich frei und stark. Ich ging in den Wald, und als ich einen Tannenbaum sah, von dem ich spürte, dass er und ich zusammenpassten, holzte ich ihn ab, brachte ihn zu mir nach Hause und machte mich an die Arbeit.› Man könnte diese Ge­ schichte so zusammenfassen, dass jeder, der eine wichtige Arbeit in Angriff nimmt, sich selbst vergessen sollte. Nun können wir natürlich nicht jeden Tag und jede Stunde unseres Lebens uns darauf besinnen, mit welcher Geisteshaltung wir eine Arbeit oder eine Handlung verrichten und was der tiefere Sinn unserer Tätigkeit ist. Uns Pädagogen und Psychologen muss jedoch dieser Sinn zumindest von Zeit zu Zeit bewusst werden …»24 Jeder, der eine wichtige Arbeit in Angriff nimmt, sollte sich selbst ver­ gessen. Mit diesem Motto habe ich mich auch S. anvertraut. Das Wort «wichtig» könnte ich für mich vorläufig noch weglassen, auch wenn ich eine starke Ahnung habe, dass ich, wenn ich mich selbst vergesse, doch zu etwas Wichtigem kommen könnte. Aber damit muss man sich eigentlich auch nicht auseinandersetzen, das wird sich schon zeigen, und wie meine Arbeit in Zukunft sein wird, ist abhängig davon, wie ich mich heute mei­ ner Arbeit gegenüber verhalte. Vor allem darf ich mich überhaupt keinen Fantastereien über die Zukunft hingeben, ich darf sogar heute Morgen nicht darüber nachdenken, wie es heute Nachmittag bei S. sein wird. Das ist die einzige Art und Weise, die Wirklichkeit intensiv und rein zu er­ leben: ungetrübt durch Gedanken im Voraus, die – wie sich zeigen wird – später doch nicht mit der Realität übereinstimmen und dich nur ent­ täuschen und anstrengen und verwirren werden. kirchenslawisch.25 Irgendwie muss ich das Hindernis von mir abwälzen. Ich kann mir diese schreckliche Gehemmtheit gegenüber die­ sem Teil meiner Arbeit überhaupt nicht erklären. Monatelang sitze ich da und schaue es nur an, und wenn ich mir vorstelle, nun endlich dieses Alt­ bulgarisch wieder einmal in die Hand zu nehmen, dann bekomme ich so etwas wie einen Kropf in meiner Kehle und Herzklopfen und so eine

Aber jetzt:

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Aversion und Angst, dass ich schnell etwas anderes beginne und mich selbst mit dem Versprechen abspeise, «morgen» damit zu beginnen.26 Und das monatelang. Aber jetzt, Mädchen, muss dieses Theater endlich einmal zu Ende sein. Der Beginn der Rede lautet wie folgt: Du musst dich über­ haupt nicht fragen, ob du das Fach liebst oder nicht, ob du einen Sinn ­darin siehst oder nicht, es gehört einfach zu deinem Studium, zu deiner Arbeit, die du gewählt hast, also kannst du nicht darüber nachdenken, ob du es morgen oder übermorgen oder «einmal» tun wirst, sondern du musst heute damit beginnen. Und nun greife ich zögernd nach den Diktaten, und es ist, als ob ich schwere Granitblöcke von mir wegwälzen muss, aber ich werde nun damit beginnen. Und wenn ich mich wirklich wieder in dieses Fach eingearbeitet habe und wieder einmal bei van Wijk27 in Leiden gewesen bin, dann wird dies vorläufig eines der brillantesten Resultate von S. in Bezug auf mich gewesen sein. Mittwoch, 9 Uhr abends. Das Leben ist eigentlich so einfach, wenn die Einstellung nur ein bisschen gesund ist. Heute Nachmittag bei S. Ich ging leer und «sauber» dorthin, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben. Ich beabsichtigte, alles zu akzep­ tieren. Wenn er sachlich war, gut, wenn er wenig Zeit hatte, auch gut, alles war gut. Er war sachlich, das ist doch eigentlich selbstverständlich. Es ist ziemlich arrogant zu unterstellen, dass er nun speziell mir gegenüber nicht sachlich sein sollte. Es wurden eine Menge erhellende Dinge gesagt. Und durch meine sachliche Einstellung war auch der ganze erotische Reiz ver­ schwunden. Graublasser, hässlicher Kopf, hellgrüne Augen. Mein Inter­ esse für den Mann wird jetzt zu einem Interesse für seine Arbeit, und dar­ aus entsteht dann wieder Liebe für den Mann, aber jetzt auf einer höheren Ebene. Ich bin gerade ein wenig am Kritzeln und bin nicht bemüht, den Gedanken Form zu verleihen. Und dann sagte ich zu ihm, und zog zu­ gleich mit meinem Finger eine Linie mitten über sein Gesicht: «Wissen Sie, als ich Sie das erste Mal sah, es waren nur 5 Minuten, wurde ich direkt von diesen zwei Hälften getroffen.» Und ich strich über seine Stirn und seine Augen und berührte dann seinen Mund (der Kopf ist mir eigentlich schon sehr vertraut). «Und ich fühlte sofort den Konflikt zwischen diesen zwei Hälften Ihres Gesichts, und es war mir, als ob ich durch das Gewicht dieses Konflikts deprimiert werde.» Woraufhin er sagte: «Das rührt daher,

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dass es auch Ihr eigener Konflikt ist.» Und so kam es wieder zu Kontakt. Und ich erzählte ihm ehrlich, wie der letzte Ringkampf auf mich gewirkt hatte, die Scham, die Aversion, die Sinnlichkeit, die Enttäuschung und ­alles. «Wir werden später noch mal ringen und dann», zumindest lief es dar­ auf hinaus, was er sagte, «werden wir es ohne die erotische Trübung ver­ suchen.» Und gegen Ende der Stunde, als er mir gerade einen Handgriff demonstrierte, mit dem ein Ringkampf immer beginnt, ohne dass er beab­ sichtigte zu kämpfen, da rollten wir auf einmal wieder über den Boden, vollkommen unerwartet. Aber es war herrlich dieses Mal, eine wirkliche Befreiung. Ich war bärenstark, trotz des heftigen Stechens in der Brust, das mich schon seit einigen Wochen beunruhigt, und ich konnte ihn wieder auf den Boden werfen. Da war kein Schamgefühl, es war äußerst ange­ nehm. Als wir uns am Ende ausgeruht haben, bin ich gleich auf seinen Schoß geklettert, mit meiner Wange gegen seine, und es weckte in mir kein sexuelles Gefühl, aber doch ein warmes, menschliches Gefühl und das An­ genehmfinden, ihm einen Augenblick nahe zu sein. Später in der Sonne der Stadionkade entlangspaziert, dem Stadtrand entlang. Dann war er plötzlich wieder ein ganz anderer Mensch, für mich völlig unerklärlich. Er hatte etwas Kindisches, wie er dort flanierte und um sich herumschaute, er war sehr abwesend, ich weiß nicht einmal, ob er es schön fand, dass ich mit ihm mitging, er war wieder sehr weit weg, aber ich ließ mich davon nicht allzu sehr beunruhigen, ein Mensch darf nicht allzu kindisch sein. Meine verlängerten Kopfschmerzen: Masochismus  – mein umfassendes Mitleid: Lustgefühl – Mitleid kann kreativ sein, es kann jemanden auch aufzehren. Berauscht sein von großen Gefühlen, Sachlichkeit ist besser. Ansprüche an die Eltern. Man muss die Eltern als Menschen mit einem ­eigenen, abgeschlossenen Schicksal sehen. Wunsch, die ekstatischen Momente zu verlängern, unrichtig. Natür­ lich sehr gut verständlich: Man hat eine Stunde mit sehr starkem geistigen oder «seelischen» Erleben verbracht, danach folgt natürlich das Tief. Ich pflegte mich über so ein Tief zu ärgern, mich müde zu fühlen und wünschte stets wieder diesen «gesteigerten» Moment zurück, anstatt die alltäglichen Dinge anzugehen. Schreib-«Hemmungen». «Ehrgeiz». Es muss sofort vollkommen sein, was auf das Papier kommt, die alltägliche Arbeit daran will ich nicht ver­ richten. Bin auch noch nicht überzeugt vom eigenen Talent, dieses Gefühl ist noch nicht organisch in mir gewachsen. In fast ekstatischen Momenten

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halte ich mich für zu weiß was imstande, um anschließend wieder in die tiefste Grube der Unsicherheit einzusinken. Das rührt daher, dass ich nicht täglich und regelmäßig an demjenigen arbeite, von dem ich denke, dass darin meine Begabung liegt: dem Schreiben. Theoretisch wusste ich es schon lange; vor einigen Jahren schrieb ich einmal auf einen Papier­ fetzen: Die Gnade muss bei ihren spärlichen Besuchen eine gute ge­ schulte / vorbereitete Technik vorfinden. Aber das war ein Satz, der aus meinem Kopf kam und der noch immer nicht in Fleisch und Blut über­ gegangen ist. Werde ich nun wirklich eine neue Phase in meinem Leben beginnen? Aber dieses Fragezeichen ist schon falsch. Es beginnt eine neue Phase! Der Kampf ist in vollem Gange. Kampf ist für diesen Augenblick auch nicht richtig, im Moment fühle ich mich innerlich so gut und har­ monisch, so durch und durch gesund, besser also: Die Bewusstwerdung ist in vollem Gange und alles, was bislang in tadellos ausgearbeiteten theore­ tischen Konzepten im Kopf steckte, soll denn auch in das Herz vordringen und zu Fleisch und Blut werden. Und dann muss noch das allzu große Bewusstsein verschwinden, nun genieße ich noch zu sehr den Übergangs­ zustand, alles muss noch selbstverständlicher und einfacher werden und am Ende wird man vielleicht noch einmal ein reifer Mensch, wiederum imstande, anderen Sterblichen auf dieser Erde in ihren Schwierigkeiten ein wenig beizustehen und ein wenig Klarheit für andere durch seine ­Arbeit zu schaffen, denn darum geht es doch. Nun einige Notizen von S., von einem seiner Patienten zu Papier gebracht: «In der Angst liegt die Ahnung des Göttlichen, der schöpferischen Allmacht. Man soll diese Angst erleben, ‹die Gottesfurcht›. Aus dieser Erlebung soll man schöpferische Kraft ziehen; die Gottesfurcht soll den Menschen, der sie erlebt, beleben. Man muß die Angst umsetzen; Primitive und Kinder verspüren Angst; die Angst wird überwunden durch den Glauben.»

Und nun wieder ich. In Freuds Schrift «Zukunft einer Illusion»,28 die ich neulich las, bin ich auf eine Textstelle gestoßen, die direkt aus meinem Herzen zu kommen schien; inwieweit diese ein Widerspruch zum Oben­ stehenden ist oder ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt, kann ich noch nicht abschätzen, aber ich notiere sie trotzdem mal. (Es ist sonder­ bar, aber ich liebe es so sehr, Sätze, Fragmente usw., die mich sehr bewe­ gen, abzuschreiben; ich bin dann sozusagen in der körperlichen Nähe die­ ser Worte, es ist, als ob ich sie mit meinem Füllfederhalter streichle, auch wenn das ein wenig nichtssagend klingt.)

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Und jetzt Freud: «Kritiker beharren darauf, einen Menschen, der sich zum Gefühl der menschlichen Kleinheit und Ohnmacht vor dem Ganzen der Welt bekennt, für ‹tief religiös› zu erklären, obwohl nicht dieses Gefühl das Wesen der Religiösi­ tät ausmacht, sondern erst der nächste Schritt, die Reaktion darauf, die gegen dies Gefühl eine Abhilfe sucht. Wer nicht weiter geht, wer sich demütig mit der geringfügigen Rolle des Menschen in der großen Welt bescheidet, der ist viel mehr irreligiös im wahrsten Sinne des Wortes.»

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Donnerstag, 13. März [1941], abends 9 Uhr. Lieber Himmel, was bin ich früher doch für ein armes Ding gewesen im Vergleich zu jetzt. Ich muss mir das noch kurz vergegenwärtigen – denn bald wird es für mich der Normalzustand sein. Gerade um die Eisbahn30 herumgelaufen, voller Lebenskraft und glücklich, ohne Überschwenglich­ keit, beinahe sachlich glücklich. Es ist, als wären in meinem Inneren auf einer unermesslich weiten Fläche wilde Horden durcheinandergejagt, und die wären nun geordnet worden, durch eine starke Hand ordnend auf­gestellt, und nun geht davon eine Kraft aus, eine ruhige Energie, ­etwas Sicheres und etwas Starkes; harmonisch, organisch, Selbstvertrauen, alles ist plötzlich da drinnen vorhanden. Kopfschmerzen und Müdigkeit weg, auch wenn ich noch nicht das bin, was man einen Muskelprotz nennt. Früher fürchtete ich jeden Moment, dass meine Kräfte mich im Stich lassen würden, und dann ließen sie mich natürlich auch im Stich; nun denke ich darüber nicht mehr nach, und die Kräfte erneuern sich für jede kleine Aufgabe, die ich auf mich nehme, wieder von selbst. Es ist eine Art Wunder mit mir geschehen. Und ich denke mit einer ruhigen, tiefen Liebe, die nicht erotisch und keine Verliebtheit ist, an den Men­ schen S. Es war gestern trotzdem sehr seltsam, und es kommt mir ab und zu in den Sinn wie ein wichtiges Etwas: dieser Spaziergang mit S. die sonnige Sta­ dionkade entlang. Das Gespräch verlief ungefähr so: «Wissen Sie, daß viele Frauen gar nicht gerne ringen?»

«So», sagte ich darauf. Wir blieben ab und zu mitten auf dem Weg stehen, einander gegenüber; dann hob ich den Kopf hoch, nahe zu sei­ nem, damit er mich gut verstehen kann, denn er trug sein Hörgerät nicht. Es muss ein komischer Anblick gewesen sein, wie wir uns dort an der

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Stadionkade fortbewegten, ab und zu gemeinsam stehen bleibend, gesti­ kulierend und ins Gespräch vertieft. «Ja, manche Frauen lieben es gar nicht unten zu liegen.» Was er dann ge­ nau noch sagte, weiß ich nicht mehr, das sind hier nur ein paar Gesprächs­ fetzen. «Ja, wissen Sie, manche Frauen können gar nicht zum Orgasmus kommen, wenn sie unten liegen, nur wenn sie oben liegen. Es ist doch gar keine Grenze mehr da zwischen Normal und Abnormal in den sexuellen Beziehungen. Die Frau ist doch gar nicht mehr normal, sie weiß meistens gar nicht, wie ihr eigener Körper beschaffen ist.

Er fragte es beinahe streng und dennoch auch abwesend, wie jemand, der ganz in sein Thema vertieft ist, er richtete das Wort kaum persönlich an mich. «Ja», sagte ich da sehr gemütlich, dort mitten auf der sonnigen Stadion­ kade. «Es gibt viele Frauen die das gar nicht wissen.» «Ja, das ist eine sehr traurige Sache», sagte ich darauf verständnisvoll. Hören Sie mal, wissen Sie denn eigentlich, was der Kitzler ist?»

«Wenn die Frau nicht zur Befriedigung kommt, denkt sie meistens daß es ihre Schuld ist, aber es ist die Schuld der Männer» usw. Hier sagte er noch eine Menge, aber das findet man in allen Handbüchern. «Der Anfang ist immer Kampf, zwischen Mann und Frau, man soll erst rin­ gen, nackt natürlich, die Frau will erobert werden und nicht alle Männer lieben es wenn sie sich gleich öffnet, sie soll berührt werden, überall, an der Brust, am Rücken, an allen Teilen. Ja, manche Frauen sind so geil, daß sie schon befriedigt

usw. usw. Und dieses Gespräch beeindruckte mich sehr durch die ernsthafte Sachlichkeit, mit der es geführt wurde. Es war nichts Anzügliches und auch nichts Erregendes dabei. Früher habe ich in energielosen Phasen z. B. Stekel31 gelesen, nur um ein wenig Nervenkitzel zu verspüren. Und auch in meinen ruhigen Phasen habe ich solchen Stoff doch immer mehr oder weniger aufgeregt gelesen. Und nun dieses Gespräch: Ich habe das Gefühl, dass es ein wichtiges Gespräch war. Auch jetzt, wo ich darüber nachdenke und es aufschreibe, erregt es mich auf keine Weise. Ja, es ist eigentlich so: Ich habe das Gefühl, dass ich anwesend war, als ein großer Mann mit seiner Arbeit beschäftigt war, einer Arbeit, der man meist viel zu angeekelt und erregt und mit un­ gesunder Neugier und nicht auf angemessenem Niveau gegenübersteht. Und dieses Werk, «Sexualpsychologie» oder wie es auch heißen mag, ist so unglaublich wichtig. Es hilft mit, den Menschen etwas näher zu seinem sind, wenn man sie anrührt, z. B. an der Brust.»

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Glück und zu innerer Freiheit zu führen. Und nun sah ich dies so klar und beinahe erhaben vor mir: ein schwerer, geschmeidiger Mann, ohne Kopf­ bedeckung, die Stadionkade entlangspazierend, ein wenig abwesend und sehr ernst, der mich beinahe streng und doch auch so unpersönlich fragte: «Wissen Sie eigentlich was der Kitzler ist, wissen Sie überhaupt wie Sie selber geschaffen sind?»

Morgen muss ich ihm diese Notizen wieder zurückgeben, darum werde ich davon noch schnell das abschreiben, was mir gefällt. «Was man leidet, soll man akzeptieren, man soll es gutwillig leiden und daraus Leben schöpfen. – Aus dem Erlebnis, dem Leben, dem Leiden, der Hin­ gabe, der Ehe wird neues Leben geschaffen.» «Der in sich ruhende Mensch rechnet nicht mit Zeit (ein Kind tut das auch nicht).» Entwicklung darf nicht mit Zeiten rechnen.

Diese Worte sind für mich von außerordentlicher Wichtigkeit. Sie sind in den letzten Tagen zu Fleisch und Blut geworden. Früher hatte ich im­ mer das gehetzte Gefühl, für nichts Zeit zu haben – zumindest keine Zeit für die kleinen Dinge des Lebens, nicht für den Zahnarzt, nicht für den Friseur, nicht um einmal um den Block zu spazieren und nicht immer für Freunde. Zumindest Gespräche oder Intermezzi mit Freunden und Be­ kannten bescherten mir dann stets ein verkrampftes und unruhiges Ge­ fühl, dass dabei in gewisser Hinsicht meine kostbare Zeit verloren ging. Und wozu brauchte ich all diese Zeit? Für meine «Arbeit», ein sehr mysti­ scher Begriff, denn bei dieser Arbeit kam nicht viel heraus durch diese ­innere Unruhe und dieses Abgehetztsein. Saß heute Nachmittag ungestört am Arbeiten in der Sonne, die Palata­ lisierungen im Altslawischen: ziemlich schwieriges Thema. Zwischendurch kam Claartje32 hereingesprungen, meistens geht mir das wahnsinnig auf die Nerven, bin dann wütend, dass ich nicht weitermachen kann, es kostet mich viel Energie, aber jetzt ging alles so von selbst, so «dahinfließend». Habe ihr ein Weilchen zugehört, sogar sehr intensiv und mit Interesse für das, was sie erzählte, und machte, als sie weg war, wieder ungestört weiter. Das ist ein sehr kleiner Vorfall, aber er ließ mich das neue Lebens­ gefühl, das durch mich hindurchfließt, so deutlich spüren. Ich habe nun für alles Zeit und erledige mehr und arbeite intensiver, als ich das jemals getan habe. Dieser S. ist ein kostbarer Mensch, man muss schonend mit ihm umgehen.

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J. «Nicht zuhören können, ungeduldig werden ist zum Teil ein Mangel an Ach­ tung. Was ein Mensch erzählt soll man nicht nur als Tatsache, sondern als Äusserung seines Wesens annehmen.» «Die meisten Menschen sind nivelliert, nicht mehr ursprünglich, schöpferisch, sie sehen langweilig, wenig interessant aus, als wären sie kaum wert ‹Mensch› zu heißen. Es würde aber schon genügend sein, wenn es nur einen Menschen gäbe, der wert ist ‹Mensch› zu heißen, um an den Menschen, an die Mensch­ heit zu glauben.» J. «Wenn man meint, man empfänge nicht genug Anerkennung vom Andern, so ist man eben an ihn gebunden und durch diese Bindung unselbständig. Je weniger man erwartet, um so mehr empfängt man.» J. «Das, was man vom andern, also von aussen erwartet, hat man unbewußt in sich. Statt es von aussen zu erwarten, soll man es in sich entwickeln, indem man es in sich bewußt macht. Die Seele ist nicht zeitgebunden, sie ist ewig. Man soll sich in sie vertiefen, sie ins Bewußtsein heben, d. h. sich entwickeln.» «Der Mensch kriegt seine Seele in Verwaltung (siehe auch 2 Korinther 5:5) und soll sie gut verwalten; aus seiner Seelenkraft leben, beseelt sein.» «Man hat sich so an der realen Welt, an Wissenschaft, Oekonomie u. s. w. fest­ geklammert und Krieg für einen längst überwundenen Standpunkt gehalten, sich mit den menschlichen Urinstinkten nicht mehr beschäftigt, sie verdrängt, daher regen diese sich jetzt so unkontrolliert und das Bewußtsein überwälti­ gend, so ganz ungekannt und ungeahnt. Ebenso ist es mit einem einzelnen Menschen, der sich mit dem realen Leben, mit der Persona beschäftigt und seine eigene Seele nicht kennt. Diese regt sich im hiervon unbewußten Men­ schen, der sie verdrängt hat, und äussert sich so, daß der Mensch seelenkrank wird und gar nicht weiß, daß er krank ist oder woran die Krankheit liegt.»

[Freitag] 14. März [1941], 11 Uhr abends. Aus einem Artikel über S. in der «Frankfurter-Zeitung» vom Sonntag, dem 25. August 1929, von Dr. Bernhard Diebold.34 «Bei der Menschenkenntnis hört die s. g. Wissenschaft auf. Das Genie des Arztes als Diagnostiker – die feine ‹Nase›, das ‹Fingerspitzengefühl›, das intui­ tive Erfassen des Körperzustands – das ist schon ärztliche Kunst. Aus der Witte­ rung des Ganzen das Spezielle zu finden und erst dann der rationellen und

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8. März 1941–4. Juli 1941 speziellen Behandlung unterwerfen, das ist die unlernbare Wissenschaft. Das ist die Disposition, die den dämonischen Menschen-Witterer Aub, der vor drei Jahren in München starb, bis zu scheinbar profetischen Aussagen befähigte; und die den Chirologen S. bedeutend macht. Sein Gesicht hat faunische Prägung; er weiß um den großen Pan. Seine ‹Wissenschaft› bedarf der Magie der Persönlichkeit. Kein Zauber ohne den Zauberer.»

Dies abgeschrieben, um bloß etwas zu schreiben statt des vielen selbst Er­ lebten, das noch nicht wiedergegeben werden kann oder das vielleicht auch nicht wiedergegeben werden muss: der in sich ruhende Mensch. Der Tag war lang und voller Leben, innerlich und äußerlich. Und nun bin ich innerlich müde und durcheinander, was nicht so ­ungewöhnlich ist. Und zufrieden. Das Leben ist reich und von weiteren Banalitäten sehe ich nun ab, gute Nacht. [Samstag] 15. März [1941], morgens halb 10. Sein Gesicht quält mich schon nicht mehr. Die gegensätzlichen Teile sind zu einem guten, teuren Ganzen verschmolzen. Es überrascht mich immer durch den wechselnden Ausdruck, und wenn man es aus einem anderen Winkel sieht, ist es manchmal plötzlich wieder ein ganz anderes Gesicht, aber ich spüre nun nicht mehr diesen Kampf darin, diesen Gegensatz; der Mund erscheint in letzter Zeit auch weniger schwer und ausgeprägt, er ist mehr «untergeordnet» in der faszinierenden, ergreifenden Landschaft, die sein Gesicht noch stets für mich ist. Gestern Mittag lasen wir gemeinsam die Notizen durch, die er mir mit­ gegeben hatte. Und als wir zu diesen Worten kamen: «Es würde aber schon genügend sein, wenn es nur einen Menschen gäbe, der wert ist ‹Mensch› zu heißen, um an den Menschen, an die Menschheit zu glauben»,

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da umarmte ich ihn in einer spontanen Anwandlung. Das ist das Problem unserer Zeit. Der große Hass gegen die Deutschen, der das eigene Gemüt vergiftet. «Lasst sie alle nur ersaufen! Gesindel! Vergasen muss man sie!» Diese Äußerungen gehören zur täglichen Konversation und geben einem ­ manchmal das Gefühl, dass es nicht mehr möglich ist, in dieser Zeit zu leben. Bis auf einmal vor einigen Wochen plötzlich der erlösende Gedanke kam, der wie ein zögernder junger Grashalm in einer Einöde mit lauter Unkraut emporschoss: Und wenn auch nur noch ein einziger anständiger Deutscher existierte, dann wäre dieser es wert, in Schutz genommen zu

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werden gegen die ganze barbarische Horde, und wegen dieses einen an­ ständigen Deutschen sollte man dann nicht seinen Hass über ein ganzes Volk ausgießen dürfen. Dies bedeutet nicht, dass man bestimmten Strömungen gleichgültig gegenübersteht; man ergreift Partei, man ist zu bestimmten Zeiten empört über gewisse Dinge, man versucht etwas Einblick zu gewinnen, aber dieser undifferenzierte Hass ist das Schlimmste, was es gibt. Es ist eine Krankheit der eigenen Seele. Hass gehört nicht zu meinem Charakter. Wenn es mit mir in dieser Zeit so weit kommen sollte, dass ich wirklich anfange zu hassen, dann wäre ich in meiner Seele verletzt und müsste versuchen, so schnell wie möglich zu genesen. Früher dachte ich, der Konflikt sei der folgende, aber das war zu oberflächlich: Ich glaubte, wenn in mir drin wieder dieses mich aufzehrende Durcheinander zwischen dem Hass und meinen anderen Gefühlen herrschte, dass dann ein Kampf zwischen mei­ nen Urinstinkten als einer vom Untergang bedrohten Jüdin und meinen angeeigneten, rationalen sozialistischen Ideen im Gange war, die mich ge­ lehrt haben, ein Volk nicht in seiner Gesamtheit zu sehen, sondern als ­einen guten Teil des Volkes, der von einer schlechten Minderheit irregelei­ tet wurde. Folglich ein Urinstinkt, der einer rationalen Angewohnheit ge­ genübersteht. Aber der Konflikt liegt tiefer. Der Sozialismus lässt über eine Hintertür doch wieder den Hass herein – gegen alles, was nicht sozialistisch ist. Dies ist zu plump ausgedrückt, aber ich weiß, wie ich das meine. Ich habe es mir in letzter Zeit zur Aufgabe gemacht, die Harmonie in dieser Familie,36 die solch gegensätzliche Elemente umfasst, zu bewahren: eine deutsche Frau, Christin, von bäuerlicher Herkunft, die für mich wie eine rührende zweite Mutter ist, eine jüdische Studentin aus Amsterdam, der alte, ausgeglichene Sozialdemokrat, der Spießbürger Bernard,37 aller­ dings mit einem reinen Herzen und angemessenem Verstand, aber be­ grenzt durch das «Spießbürgertum», aus dem er hervorgegangen ist, und der junge Wirtschaftsstudent, rechtschaffen, ein guter Christ, mit aller Sanftmut und allem Verständnis, aber auch mit der Kampflust und dem Anstand von Christen, wie man sie gegenwärtig kennenlernt. Dies war und ist eine tobende kleine Welt, durch die Politik von außen bedroht, um von innen zerstört zu werden. Aber es scheint mir eine Pflicht zu sein, diese kleine Gemeinschaft als Beweis gegen all diese krampfhaften und forcierten Theorien von Rasse, Volk usw. aufrechtzuerhalten. Als Beweis dafür, dass das Leben nicht in ein bestimmtes Schema gepresst werden

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kann. Aber es kostet viel innerlichen Kampf und Verdruss und ab und zu sich gegenseitig zugefügten Schmerz und Aufregung und Reue usw. Wenn ich manchmal nach dem Lesen der Zeitung oder durch eine Nachricht von draußen plötzlich von Hass erfüllt bin, dann lasse ich mich manchmal auf einmal zu Schimpfwörtern gegen die Deutschen hinreißen. Und ich weiß, dass ich das absichtlich mache, um Käthe zu kränken, um irgendwie diesen Hass abzureagieren, auch wenn es dann diese einzige Frau trifft, von der ich weiß, dass sie ihr Heimatland liebt, was vollkommen natürlich und verständlich ist, aber ich kann es dann nicht ertragen, dass sie in die­ sem Moment nicht genauso sehr hasst wie ich, ich suche sozusagen Ein­ klang mit all meinen Mitmenschen in diesem Hass. Obwohl ich doch weiß, dass sie die neue Mentalität genauso schlimm findet wie ich und dass sie ebenso sehr unter den Ausschreitungen ihres Volkes leidet. Aber tief drinnen ist sie natürlich diesem Volk verbunden und das spüre ich, aber ich ertrage das in diesem Moment nicht, das ganze Volk muss und soll mit der Wurzel ausgerottet werden, und dann kann ich so gehässig sagen: «Gesindel ist das!» Und gleichzeitig schäme ich mich in Grund und Boden und fühle mich danach äußerst unglücklich und kann nicht zur Ruhe kommen und habe das Gefühl, dass das alles verkehrt ist. Und dann ist es wirklich sehr rührend, wie wir gelegentlich sehr freundlich und ermutigend zu Käthe sagen: «Ja, natürlich, es gibt wahr­ scheinlich auch noch anständige Deutsche, die Soldaten können letzten Endes auch nichts dagegen machen, da sind auch nette Kerle dabei.» Aber das ist nur eine Theorie, um zumindest noch ein bisschen Menschlichkeit in ein paar freundlichen Worten eine geschützte Unterkunft bieten zu können. Aber wenn dies wirklich Fleisch und Blut wäre, wenn wir dies wirklich so fühlten, dann müssten wir das nicht so mit Nachdruck formu­ lieren, dann wäre es ein Gefühl, das uns gemeinsam beseelte, die deutsche Bauersfrau genauso wie den jüdischen Studenten, und dann könnten wir über das schöne Wetter und die Gemüsesuppe sprechen, anstatt uns selbst mit politischen Gesprächen zu quälen, die nur dazu dienen, unseren Hass loszuwerden. Denn das Nachdenken über die Politik, der Versuch, etwas von den großen Linien zu sehen und zu durchschauen, was dahintersteckt, das kommt in den Gesprächen beinahe nicht mehr zum Ausdruck. Es bleibt alles auf einem sehr niedrigen Niveau, und darum macht es zurzeit nicht viel Spaß, sich mit den Mitmenschen zu unterhalten, und darum ist S. eine Oase in einer Wüste, und darum umarmte ich ihn so plötzlich. Es gibt noch viel darüber zu sagen, aber nun muss ich wieder an meine

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Arbeit denken, zuerst aber mal kurz an die frische Luft und dann Kirchen­ slawisch. So long! halb 12. Herrlich, so ein ordentlicher Spaziergang an der frischen Luft zwischen­ durch. Tat ich früher auch nie. Das Kirchenslawisch muss noch kurz war­ ten. Es ist noch etwas in meinem Kopf, das zu Papier gebracht werden soll. Man darf keine Kompromisse mit der Wahrheit und der Politik ein­ gehen, sonst wird man zum Demagogen im Kleinen. Die politische Wahr­ heit muss in die große «Wahrheit» eingefügt werden, man muss hier un­ missverständlich seinen Standpunkt vertreten. Mit dieser tiefsinnigen Formulierung meine ich Folgendes: Manchmal befinde ich mich in einer Gesellschaft, die sich zu hasserfüllten Bemerkun­ gen über unsere neuen Machthaber hinreißen lässt  – sehr verständlich ­übrigens. Es werden dann oft Dinge erzählt, die komplett Lügen sind, aber mit denen die Menschen einander anstacheln und reizen; es ist die Suche nach dem Grund für den Hass, dieser Wunsch, in einer bestimmten Stimmung bleiben zu wollen usw. Ich sitze dann daneben und denke mir meinen Teil. Ich weiß dann für mich selbst, welches eindeutige Lügen sind, aber sage kein Wort und denke: «Gut so, lasst euch nur mitreißen, dann bleibt ihr kämpferischer.» Manchmal passiert es mir auch, dass ich maßlos übertreibe und Gräueltaten erzähle, nur mit dem Ziel, die Men­ schen in eine bestimmte Stimmung zu versetzen, während ich mein eige­ nes Gefühl für mich behalte – ein Gefühl, dass ich die Wahrheit ja kenne, sie aber für die anderen noch nicht für geeignet halte, aus Angst, dass ihr Kampfgeist nachlassen würde. Etwas Derartiges geschah kürzlich mit meiner aufgedrehten, rothaari­ gen Freundin Leonie.38 Es machte in Den Haag eine Geschichte die Runde über den Anschlag, den ein Jude auf einen Deutschen verübt haben soll. Diese Geschichte wurde von den Deutschen mit viel Nachdruck und mit den bekannten Absichten in Umlauf gebracht. Zufällig war in diesem Fall etwas davon wahr. Woraufhin Leonie kicherte: Wie lustig, dass das aber wahr ist, denn niemand glaubt es in Den Haag; na ja, lass sie auch lieber in ihrem Unglauben, ist viel besser. Oder manchmal erzählen wir uns gegenseitig die Gerüchte, die die Runde machen und die wir selbst nicht glauben, und fügen hinzu: Aber lasst die Menschen nur in diesem Glauben, je stärker sie daran glauben, desto besser. Und das ist Demagogie. Es ist dieselbe Einstellung, die die

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Propagandachefs des «Dritten Reichs» wahrscheinlich haben, wenn sie die Menschen mit Theorien aufhetzen, an die sie vermutlich selbst nicht glau­ ben. Es ist im Grunde eine grenzenlose Verachtung der Masse. Die Wahr­ heit für sich selbst behalten und denken, dass die Masse diese nicht er­ tragen kann. Nein, aufgrund ihrer Ziele kann die Masse die Wahrheit natürlich nicht ertragen, denn sie würde sie im Kampf schwächen. Aber es geht hier um einen forcierten, aufgezwungenen Kampf. Im Kommunismus, kurz nach 1917 in Russland, war das Problem, glaube ich, ein anderes. Es musste eine neue Welt aus dem Boden ge­ stampft werden und die Aufmerksamkeit durfte nicht durch zu tiefgrün­ dige Gedanken abgelenkt werden durch das Relativieren der Dinge. Aber ja, im Grunde ist es doch dieselbe Geringschätzung für die Masse, die man nicht sich selbst zu überlassen getraut, die selbst nicht zwischen Gut und Böse wählen darf. Ich muss dabei an den «Großinquisitor» von Dostojewski39 denken, aber das führe ich später einmal noch aus. – Die Sozialisten und Kommu­ nisten sind schon einen Schritt weiter in dieser Zeit als die neutralen Bür­ ger. Sie lehnen die beiden kämpfenden Parteien ab, was schon eine gewisse Entspannung ist, aber klammern sich direkt an einer dritten fest, nämlich Russland oder welcher neuen Welt auch immer, wo wieder die gleichen Methoden wie hier herrschen. Das hast du furchtbar nachlässig und schlampig formuliert, Mädchen; die Angelegenheit ist es wert, besser auf­ geschrieben zu werden, aber das kommt dann schon noch. Um es kurz zusammenzufassen, ich möchte eigentlich Folgendes sagen: Der Nazi-Bar­ barismus ruft in uns den gleichen Barbarismus wach, der mit den gleichen Methoden funktionieren würde, wenn wir heutzutage tun könnten, was wir wollten. Unseren Barbarismus müssen wir innerlich abweisen, wir dürfen diesen Hass nicht in uns schüren, weil die Welt sich dann keinen Millimeter weiter aus dem Sumpf herausziehen kann. Darum kann unsere Haltung gegenüber dem neuen System schon Prinzipien folgen und nicht kindisch sein, aber das ist wieder etwas anderes. Das Kämpfen gegen die eigenen schlechten Instinkte, die durch sie geweckt werden, ist etwas ganz anderes als das sogenannte «Objektiv»-Sein in diesen Dingen; das soge­ nannte «Gute» im Feind sehen, das ist eine Unentschlossenheit, die nichts mit dem zu tun hat, was ich meine. Aber man kann sehr kämpferisch sein und seinen Prinzipien treu bleiben, auch ohne mit Hass erfüllt zu sein, und man kann wiederum äußerst stark von diesem Hass erfüllt sein, ohne dass man genau weiß, worum es eigentlich geht.

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Wenn ich jetzt nicht aufpasse, werde ich demnächst noch irgendeine neue religiöse Sekte ins Leben rufen: Aber wenn solche Sekten einmal aus dem Boden schießen, werde ich davon zumindest etwas verstehen. Es geht um ernsthafte Dinge. Also: Keine albernen Gerüchte verbreiten und für sich selbst denken: Ich weiß es besser, aber das ist gut für euch – also keine Demagogie. Und nun doch noch mal schnell an die Arbeit. Um es jetzt aber einmal sehr grob zu formulieren, was meinem Füllfeder­ halter vielleicht wehtun wird: Wenn ein SS-Mann mich tottreten sollte, dann würde ich noch in sein Gesicht aufblicken und mich in ängstlichem Staunen und aus menschlichem Interesse fragen: Mein Gott, Kerl, was ist mit dir alles Schreckliches passiert in deinem Leben, dass es mit dir so weit gekommen ist, dass du solche Dinge tust? Wenn jemand etwas Gehässiges zu mir sagt, was übrigens nicht oft vor­ kommt, dann neige ich niemals dazu, etwas Gehässiges zu erwidern, son­ dern gerate dann plötzlich in eine Art peinlich-fragende Verwunderung über den anderen und frage mich, weshalb der andere so ist, und vergesse dabei mich selbst. Darum scheine ich oft wehrlos und verlegen, aber das ist, glaube ich, doch nicht der Fall. Ich weiß verdammt gut, wie ich die Worte des anderen einschätzen muss, und denke mir jeweils meinen Teil dazu, aber finde es in der Regel nicht so extrem wichtig, mich selbst direkt bemerkbar zu machen. Das ist wirklich ein seltsames Phänomen: Jetzt, wo ich einmal mit dem Schreiben begonnen habe, «kann ich nicht mehr aufhören». Die «verstopfte Seele» beginnt schon weniger «verstopft» zu werden. Ich freue mich immer noch wegen der Hyazinthen gestern. Ich wusste, dass das seine Lieblingsblumen sind, und ich habe ziemlich Mühe gehabt, sie zu bekommen. «Aber Sie dürfen doch nicht so oft Blumen mitbringen.» – «Aber wenn mir das nun ein Bedürfnis ist. Wissen Sie, ich bin in zehn Geschäfte gegangen be­ vor ich sie hatte, aber ich war so froh darüber, denn ich hatte das Bedürfnis ­irgendetwas für Sie zu tun.»

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Will Durant in «The Mansions of Philosophy»: Niemand (außer Spengler) darf gegenwärtig das Leben in seiner Ganz­

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heit betrachten; die Analyse eilt voran und die Synthese zögert; wir fürch­ ten die Experten auf jedem Gebiet und bleiben, im Interesse unserer eige­ nen Sicherheit, an den engen Grenzen unseres eigenen Fachgebiets stecken. Jeder kennt seinen Teil, aber er kennt dessen Bedeutung im ganzen Spiel nicht. Das Leben verliert seine Bedeutung und wird leer, gerade jetzt, wo es so verheißungsvoll erschien. Wir definieren die Philosophie als den Blick auf das Ganze, als den Geist, der sich über das Leben ausbreitet und der das Chaos zu einer Einheit schmiedet. Wissen ist Macht, aber nur Weisheit ist Freiheit. Die Kultur ist in unserer Zeit oberflächlich und unser Wissen gefähr­ lich, weil wir reich an Mechanismen und arm an Zielen sind. Das Gleich­ gewicht des Geistes, das einst einem warmen, religiösen Glauben entsprun­ gen ist, ist verschwunden; die Wissenschaft hat unsere Moralphilosophie ihres übernatürlichen Fundaments beraubt und die ganze Welt scheint sich in einem unordentlichen Individualismus aufzulösen, der den chaotischen Zerfall unseres Charakters reflektiert. Sonntagmorgen [16. März 1941], 11 Uhr. Amsterdam, 16. März 1941

Meine sehr geehrte Dame, auf Ihre Anzeige im Handelsblad vom 15. März42 hin teile ich Ihnen Folgendes mit: Ich bin Studentin der Sprach- und Literaturwissenschaft, 27 Jahre alt, ich habe nämlich spät mit dem Studium begonnen, nachdem ich zuerst verschiedenen anderen Tätigkeiten43 nachgegangen bin. Seit einiger Zeit bin ich auf der Suche nach einem Nebenverdienst, vorzugsweise nicht im intellektuellen Bereich. Ihre Anzeige hat mich angesprochen, weil es mich eine reizvolle Tätig­ keit dünkt, als Abwechslung zu der geistigen Anstrengung, jemandem ein wenig Gesellschaft zu leisten und ihm Geselligkeit zu bieten. Dem möchte ich noch hinzufügen, dass ich seit einigen Jahren meine Unterkunft und Verpflegung verdiene, indem ich in einer Familie, die auch eine Haushälterin hat, für etwas Atmosphäre und Geselligkeit sorge. Vielleicht höre ich auf dieses Schreiben hin etwas von Ihnen Hochachtungsvoll

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Die Hierarchie in meinem Leben hat sich doch etwas verändert. «Früher» begann ich auf nüchternen Magen vorzugsweise mit Dostojewski oder Hegel44 und in einem verlorenen, nervösen Augenblick stopfte ich dann auch noch einmal einen Strumpf, wenn es gar nicht anders ging. Nun be­ ginne ich, im wahrsten Sinne des Wortes, mit dem Strumpf und steige dann über die anderen notwendigen Tätigkeiten des Tages langsam hinauf zum Gipfel, wo ich wieder den Dichtern und Denkern begegne. Dieses Pathos in meiner Ausdrucksweise werde ich mir wirklich noch abgewöhnen müssen, wenn ich mich damit je sehen lassen können möchte, aber es ist eigentlich eher Faulheit, nach den treffenden Worten zu suchen. halb 1, nach dem Spaziergang, der schon zu einer schönen Tradition geworden ist. Am Dienstagmorgen, als ich Lermontow studierte, schrieb ich auf, dass der Kopf von S. ständig hinter Lermontow auftauchte und dass ich zu diesem teuren Gesicht sprechen und es streicheln wollte und deshalb nicht arbeiten konnte. Das ist aber schon sehr lange her. Es ist alles schon wieder ein bisschen anders geworden. Wenn ich jetzt arbeite, ist sein Kopf auch immer präsent, aber er lenkt mich nicht mehr ab, er ist zu einer vertrau­ ten, teuren Landschaft im Hintergrund geworden; die Gesichtszüge sind verschwommen, ich sehe kein deutliches Gesicht mehr, es hat sich zu einer Erscheinung, einem Geist, oder wie man das immer nennen mag, aufge­ löst. Und hier bin ich bei etwas Wesentlichem angelangt. Wenn ich eine Blume schön fand, dann hätte ich sie am liebsten ans Herz gedrückt oder aufgegessen. Mit einem großen Stück schöner Natur war das schwieriger, aber das Gefühl war dasselbe. Ich war zu sinnlich, ich würde beinahe sagen «habgierig», eingestellt. Ich sehnte mich viel zu stark körperlich nach dem, was ich schön fand, ich wollte es besitzen. Darum immer dieses schmerz­ hafte Gefühl des Verlangens, das niemals zu befriedigen war, dieses Heim­ weh nach etwas, das mir unerreichbar schien, und das nannte ich dann Schaffensdrang. Ich glaube, dass es diese starken Gefühle waren, die mich selbst denken ließen, ich sei dazu geboren, Kunstwerke zu schaffen. Dies hat sich auf einmal verändert, ich weiß nicht, durch welchen innerlichen Prozess, aber es ist anders geworden. Dies wurde mir erst heute Morgen klar, als ich an einen kleinen Spa­ ziergang um die Eisbahn vor ein paar Abenden zurückdachte. Ich ging dort in der Dämmerung; zarte Farbtöne in der Luft, geheimnisvolle ­Silhouetten der Häuser, die lebendigen Bäume mit ihrem durchsichtigen

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Astwerk, in einem Wort: herrlich. Und ich weiß genau, wie es mir «frü­ her» erging. Da fand ich es so schön, dass mein Herz zu schmerzen be­ gann. Dann litt ich unter der Schönheit und wusste nicht, wohin ich mit dem Schmerz sollte. Danach bekam ich das Bedürfnis zu schreiben, zu dichten, aber die Worte wollten doch nie kommen. Dann fühlte ich mich todunglücklich. Ich schwelgte richtig in einer solchen Landschaft und er­ schöpfte mich dadurch. Es kostete mich unendlich viel Energie. Ich würde das nun als Onanie bezeichnen. Aber an diesem Abend, jetzt vor Kurzem, reagierte ich anders. Ich er­ lebte mit Freude, wie schön Gottes Welt trotz allem ist. Ich genoss diese geheimnisvolle, stille Landschaft in der Dämmerung sehr intensiv, aber gewissermaßen sachlicher. Ich wollte sie nicht mehr «haben». Und ich ging gestärkt nach Hause und wieder an die Arbeit. Und die Landschaft blieb präsent, im Hintergrund, wie ein Kleid meiner Seele, um mich jetzt einmal bildschön auszudrücken, aber sie behinderte mich nicht mehr, d. h., ich betrieb keine «Onanie» mehr mit ihr. Und so ist es auch mit S., mit allen jetzt übrigens. Bei der Krise an diesem Nachmittag, als ich so erstarrt und krampfhaft dasaß und ihn an­ starrte und kein Wort herausbrachte, handelte es sich wahrscheinlich auch um ein Gefühl der «Habgier». Er hatte mir an diesem Nachmittag das eine und andere über sein Privatleben erzählt. Von seiner geschiedenen Frau,45 mit der er noch immer korrespondiert, von seiner Freundin in London,46 die er heiraten will, die aber im Augenblick in London «einsam ist und ­leidet», von einer seiner ehemaligen Freundinnen, einer bildhübschen Sängerin,47 die auch noch mit ihm korrespondiert. Danach hatten wir wieder gerungen und ich war von seinem großen, anziehenden Körper tief beeindruckt. Und als ich ihm wieder gegenübersaß und verstummte, ging vielleicht etwas Ähnliches in mir vor, wie wenn ich durch ein Stück Natur gehe, das mich beeindruckt. Ich wollte ihn «haben». Ich wollte, dass er auch mir gehörte. Obwohl ich kein Verlangen nach ihm als Mann hatte, sexuell zieht er mich noch nicht wirklich an, wenn auch immer Spannungen im Hintergrund vorhanden sind, aber er hat mich tief in meinem Wesen be­ rührt und das ist wichtiger. Ich wollte ihn also auf irgendeine Art und Weise besitzen und hasste all die Frauen, von denen er erzählt hatte, oder war eifersüchtig auf sie, und ich dachte vielleicht, wenn auch nicht bewusst: Was bleibt denn nun für mich übrig? Und ich fühlte, dass er mir doch entglitt. Das waren eigent­

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lich alles sehr kleingeistige Gefühle, überhaupt nicht auf hohem Niveau. Aber das wird mir erst jetzt bewusst. Damals war ich todunglücklich und einsam, für mich nun auch ein sehr verständliches Gefühl, und ich hegte wieder den Wunsch, von ihm wegzugehen und zu schreiben. Das «Schreiben» verstehe ich nun – glaube ich – auch. Es ist auf eine andere Art ein «Besitzen», es ist ein Herholen von Dingen durch Worte und Bilder und so doch ein Besitzen dieser Dinge. Und dies war, glaube ich, bis anhin das Wesen meines Schreibdrangs: sich heimlich vor allen verkriechen, mit allen Schätzen, die ich gesammelt hatte, und dann alles aufschreiben und für mich selbst festhalten und es so genießen. Und dieses Habgierige, so kann ich es noch am besten für mich selbst ausdrücken, ist plötzlich von mir abgefallen. Tausend fesselnde Banden sind gesprengt und ich atme befreit und fühle mich stark und schaue mich mit strahlenden Augen um. Und jetzt, wo ich nichts mehr besitzen will und frei bin, jetzt besitze ich alles, jetzt ist der innere Reichtum unermess­ lich. S. gehört nun ganz mir, auch wenn er morgen nach China ginge, ich fühle ihn um mich herum und ich lebe in seiner Sphäre, wenn ich ihn am Mittwoch wiedersehe, finde ich das gut, aber ich zähle nicht so krampf­ haft die Tage wie letzte Woche. Und ich frage Han nicht mehr hundert Mal am Tag: «Hast du mich noch lieb?» «Hast du mich immer noch sehr lieb?» und «Ich bin doch ­sicherlich die Liebenswerteste von allen?» Das war auch wieder die gleiche Art Festklammern, ein körperliches Festklammern an den Dingen, die nicht körperlich sind. Und nun lebe und atme ich sozusagen durch meine «Seele», wenn ich denn dieses in Misskredit geratene Wort gebrauchen darf. Und nun werden mir die Worte von S. nach meinem ersten Besuch bei ihm klar. «Was hier sitzt (und er zeigte auf seinen Kopf ) muß da kommen» (und er zeigte auf sein Herz). Es war mir damals nicht so klar, wie dieser Prozess durchgeführt worden ist, aber es ist geschehen, wie, kann ich nicht sagen. Er hat all den Dingen, die in meinem Wesen bereits vorhanden waren, den richtigen Ort zugewiesen. Es ist wie bei einem Puzzle, alle Teilchen lagen durcheinander da und er hat sie zu einem sinnreichen Gan­ zen zusammengefügt, wie er das fertiggebracht hat, weiß ich nicht, aber das ist seine Sache, es ist sozusagen sein Beruf und man nennt ihn nicht umsonst eine «magische Persönlichkeit».

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halb 5. Soeben, als ich eine halbe Stunde auf einem Mülleimer in der Sonne auf unserem steinigen kleinen Flachdach saß, den Kopf an den Waschzuber angelehnt und mit der Sonne auf den starken, dunklen, noch blattlosen Kastanienästen, habe ich gerade sehr klar den Unterschied zwischen frü­ her und heute gespürt. Und die Dinge, für die ich heute Morgen noch viele Worte benötigte, um sie auszudrücken, sind nun schnell gesagt. Die Sonne auf den dunklen Ästen, die zwitschernden Vögel und ich auf dem Mülleimer in der Sonne. Früher habe ich auch oft so dagesessen, aber so wie heute Mittag habe ich mich, außer einem einzigen Mal, nie gefühlt. Früher näherte ich mich so einem Baum in der Sonne mit dem Geist. Ich wollte für mich selbst in Worte fassen, weshalb ich es so schön fand, ich wollte begreifen, wie alles zusammengesetzt ist, dieses tiefe Gefühl, dieses Urgefühl wollte ich mit meinem Geist ergründen, das glaube ich zumin­ dest. Ich wollte also die Natur, eigentlich alles, unter meine Herrschaft bringen, ich wollte alles umschließen. Und die simple Tatsache ist nun, dass ich alles mit mir geschehen lasse. Ich werde von einem tiefen Gefühl erfüllt, aber es ist kein Gefühl, das mich erschöpft, sondern es gibt mir Kraft; es strömt gesundes Leben durch meine Adern, und als ich dort so in der Sonne saß, hatte ich den Kopf unbewusst geneigt, wie wenn ich da­ durch das neue Lebensgefühl noch stärker erleben würde. Und ich konnte plötzlich nachempfinden, wie ein Mensch stürmisch auf die Knie sinken und dann zur Ruhe kommen kann, das Gesicht in den gefalteten Händen verborgen. 17. März [1941], Montag, halb 11 abends. Ein Mensch ist doch nur ein schwaches und zerbrechliches Wesen. Aber gut, man darf auch nicht erwarten, immer mit einem solch verklärten Ge­ fühl herumlaufen zu können. Und so eine kleine Schwäche ist auch nicht ungesund. S. hat damals gesagt: Am Ende von jedem Tag musst du 10 Mi­ nuten konzentriert darüber nachdenken, wie der Tag gewesen ist und was er Gutes und Schlechtes mit sich gebracht hat und was unnötige Kraft­ anstrengung war usw. Ein paar Tage lang habe ich diese 10 Minuten nicht benötigt. Die Tage waren wie Pyramiden aufgebaut, jeder Moment schloss direkt an den vor­ angegangenen an und am Abend spürte ich den Tag wie ein starkes Ganzes noch kurz durch mich hindurchgehen, da gab es weiter nichts darüber nachzudenken. Das ist aber auch einmal anders gewesen. Es gab Tage, an

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denen ich abends nicht mehr wusste, was ich morgens, geschweige denn tags zuvor gemacht hatte. Dann war alles ein einziges Chaos. Und in den neuen Notizen, die mir S. mitgegeben hat, finde ich darüber etwas. «Wenn Menschen sagen, sie wollten von irgend einer Zeit ihres Lebens nichts mehr wissen, nicht an die Vergangenheit erinnert werden, so ist etwas bei ihnen nicht in Ordnung. Denn wie bei einem Gebäude das Fundament, so ist die Vergangenheit und alles in ihr Voraussetzung für die harmonische Ent­ wicklung, den festen, unangreifbaren Bau der Persönlichkeit. Wird etwas aus der Vergangenheit negiert oder seiner ‹vergessen› so entsteht eine Lücke im Seelenleben der Persönlichkeit die das ganze Seelengebäude schwankend und unsicher macht.»

Und so war das bei mir manchmal an einem einzigen Tag. Der Tag hatte dann kein Fundament, zumindest hatte ich es am Abend vergessen, und überall klafften Lücken. Und daher dann dieses sehr verständliche «schwankende» und «unsichere» Gefühl. Heute ist es zwar noch ein Bauwerk geworden, aber es bröckelt ordent­ lich von oben herab. Aber das ist auch kein Wunder, ich habe die letzten paar Tage intensiv genug gelebt und gearbeitet, um nun müde sein zu dürfen. Und dann noch die Menschen, die viel Kraft kosten. Gestern Nachmittag Kees de Groot.48 Ein paar Stunden intensiv über viele Dinge des Lebens gesprochen, über Politik, Philosophie, über uns selbst; in die­ sem Gespräch spürte ich zum ersten Mal die neue Kraft, die in mir steckte und die ich in alle Richtungen ausstrahlte, sehr stark. Und etwas von mei­ ner Ausstrahlung ging auf diesen netten Mann über und es war ein guter Nachmittag im sonnigen Wintergarten, voller Freundschaft und Vergnügt­ heit. Und am Ende diese unerwartete, zärtlich gestimmte Geste einer schüchternen Liebkosung von ihm und seine kaum ausgesprochenen Worte: «Ich bin doch immer so gerne bei dir.» Das war ein unerwartetes Geschenk. Und dann wieder schnell gearbeitet. Und dann Marjo,49 die gerade eben von der Bühne kam und in unserem sonnigen Wintergarten aufkreuzte und nach einem Glas Wasser, ein wenig Ruhe und einem freundlichen Gesicht verlangte. Ich behandle sie immer sehr behutsam in der Angst, irgendwie ihre überempfindliche Seele zu verletzen. Schwierige Frau, die nicht zu durchschauen ist, aber ein Schatz von einem Menschen. So eine Stunde mit ihr zusammen kostet mich wahrscheinlich mehr Kraft, als ich selbst annehme. Und dann am Abend wirklich dieses herrliche Werk50 von Durant genossen. Und das auch wieder sehr intensiv. Und der heutige Morgen begann wieder mit Strümpfestopfen. Wenn morgen in

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meinem Strumpf kein Loch ist, werde ich eins hineinmachen müssen, denn das ist die beste Art, den Tag zu beginnen. Und dann ordentlich ge­ arbeitet, Exzerpt aus einer russischen Novelle. Und dann schnell ein­ gekauft. Am Mittag kurz ausgeruht und dann wieder die Novelle. Aber da fühlte ich mich innerlich schon ein bisschen verstimmt, müde und durch­ einander. Und dann Toebosch,51 der mir den «Helden unserer Zeit»52 zu­ rückbrachte und der mir zu meinem Erstaunen sehr kaltblütig mitteilte, dass er Petschorin53 als das Vorbild des gesunden Menschen erachte, und der dann mit seinem Fanatismus, der ihn langsam reif für das Irrenhaus macht, mindestens eine Viertelstunde weiterquatschte über den Verstand, der den Menschen unglücklich macht, aber dass man so ehrlich sein muss, die Welt zu akzeptieren, wie er [Hier fehlen zwei Seiten.] 54 «Sich ärgern und unzufrieden sein ist unproduktiv; wirklich Leiden um etwas ist produktiv und zwar deswegen, weil in der Unzufriedenheit, in dem sich ­ärgern eine aktive Passivität liegt und in dem wirklichen Leiden eine passive Aktivität. Die aktive Passivität der Unzufriedenheit liegt darin, daß ein Wider­ stand, eine Auflehnung gegen etwas Unabänderliches geleistet wird, der die übrigen Kräfte des Menschen lahmlegt. Die passive Aktivität beim richtigen Leiden besteht darin, daß etwas unabänderliches ertragen und akzeptiert wird und gerade dadurch neue Kräfte frei werden.»

«Früher» hätte ich das vielleicht für eine sehr schöne, lesenswerte Ge­ schichte gehalten, aber das Wichtigste ist jetzt, dass es tatsächlich von mei­ nem Kopf ins Herz, in das Bewusstsein oder Gott weiß wohin gelangt ist, auf jeden Fall dorthin, wo es mit mir mit-atmet, wo es ein Stück meiner selbst geworden ist, und es ist fast überwältigend und immer noch eine Quelle des erstaunten Entzückens für mich, wie viele Kräfte bei mir frei­ gesetzt wurden; was nichts daran ändert, dass ich im Augenblick todmüde bin, aber so, dass ich selbst nicht darüber nachdenke und es mich folglich kaum stört, und darüber hinaus ist es nach diesem intensiven Tag eine sehr natürliche Erscheinung. «Wenn man pessimistisch ist, d. h. wenn man negativ eingestellt ist, so strahlt man negativ aus und alles was man anfängt oder begegnet wird negativ sein.» «Ein unangenehmer Gedanke oder ein unangenehmes Gefühl dürfen nie der Anlaß zu einem dauernden Zustand sein.»

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Diese letzten Worte sind für mich enorm wichtig. «Die Anziehungskraft zwischen Menschen beruht auf Ausstrahlung. Wenn man negativ eingestellt ist durch Schuldgefühle, Angst, Minderwertigkeitsgefühle, dann zieht man Niemand an, weil man nichts ausstrahlt. So beruht alles auf zwei Polen, die zusammen gehen müssen.» «Man soll die negative Seite von Menschen, in deren Umgebung man lebt wohl anerkennen und sich dagegen wehren, aber man soll deswegen nicht den ganzen Menschen verstoszen, verachten, sondern ihm mit Mitleid entgegen­ kommen.»

Das erscheint so einfach und fast abgedroschen, aber wenn man wirk­ lich so lebt, wenn diese paar Worte in das eigene Fleisch und Blut über­ gehen, dann wird man ein anderer Mensch. O S., wie gern rase ich morgen wieder zu dir und was wird wohl der Nachmittag bringen! Dies klingt hier ein bisschen aufgeregt, aber die Wahrheit ist, dass ich nicht im Geringsten darüber nachdenke, was mir der morgige Tag bringen wird. Früher habe ich mich den wildesten Fanta­ sien und Tagträumen hingegeben, die dann mit einer Realität, in der alles zusammenschrumpfte, kollidierten und zerschellten, und dann folgte das Weinen. Ich weiß nur, dass ich morgen zu dir gehen werde, und ich akzep­ tiere von vornherein alles: Bist du sehr sachlich, gut, bist du sehr lieb, dann ist das ein unerwartetes Geschenk, das meiner Seele wieder mehr Kraft geben wird, ach, wie schön gesagt, aber jedenfalls stelle ich mir nichts mehr vor im Vorhinein und das ist ein grundsätzlicher Unterschied zu früher usw. «Was man nicht beherrscht, kann man auch nicht lehren.»

Das sollst du dir sehr zu Herzen nehmen, Mädchen! «Wenn einer durch grössere innere Entwicklung andere übersehen kann, so soll sich diese Reife nicht in der Überlegenheit anderen weniger Entwickelten gegenüber äussern, sondern in Toleranz, in Geduld und Verständnis für sie.»

Schon diese Formulierungen, die sozusagen direkt aus meinem eigenen

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Herzen gegriffen sein könnten, sprechen mich darum so sehr an, weil es so ist, als ob S. sie zu mir persönlich sagte. Sein grauer, ausdrucksstarker Kopf mit den ab und zu aufleuchtenden Augen steckt hinter diesen Worten und suggeriert mir gleichsam diese Wahrheiten. Früher wären dies Worte ge­ wesen, bei denen ich stark anerkennend genickt hätte mit einem: «O ja, so ist es!», aber nun durchdringen sie mein ganzes Wesen, sinken wieder ­irgendwo tief auf den Grund und werden zu einem Teil von mir. J. «Wer mehrere Menschen über einen Kamm schert, (eine Gruppe Menschen verachtet) zeigt damit seine eigene Undifferenziertheit und Bequemlichkeit. Die solches tun, möchten aber keinesfalls selber andern gleichgestellt werden, weil sie sich doch für besser halten wie die Kategorie Menschen, die sie ver­ achten.»

Dies könnte als Ausgangspunkt für eine sehr lange Erörterung dienen, aber jetzt keine Zeit dafür (die Reaktion von ganzen Gesellschaften auf eine so erhebende Einrichtung wie Konzentrationslager). «Zum Rhytmus gehören Einteilung und Ruhepausen. Man muß den Muth ha­ ben zum Pausenmachen und zum Müdesein. Wenn man sich übersteigert, so will man die Rückfälle nicht wahr haben. Das regelmäßige, tägliche Verrichten einer Arbeit ist eine ausgezeichnete Vorübung um zu lernen masz-zu-halten. Wenn man etwas täglich übt, so verspürt man auch täglich, wie langsam eine Entwicklung vor sich geht.»

Diese letzte Hervorhebung stammt von mir. J. «Wenn ein Mensch Zentrum hat, so finden alle Eindrücke von Aussen dort einen Halt (müssen dort halt machen). Wer kein Zentrum hat, unsicher ist, lässt sich von jedem Eindruck aus dem Gleichgewicht bringen, wird stets unsicherer, während das Zentrum des ersteren sich bei jedem Eindruck stets mehr be­ wahrt.»

Mein «Zentrum» wird von Tag zu Tag stabiler. Früher war ich mit all meinen soliden, gut fundierten Theorien doch nur ein flatterndes, un­ sicheres Vögelchen. Und nun ist dort in mir drin dieses Zentrum der Kraft, das auch Kraft nach draußen ausstrahlt, das spüre ich, auch auf­ grund der Reaktionen meiner Mitmenschen auf mich. Und dies hat nichts mit Introvertiertheit zu tun. Diese Kraft kommt aus dem Innern, einem kleinen, abgeschlossenen Zentrum für sich, in das ich mich manchmal kurz ganz und gar zurückziehe, wenn mir die Außen­

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welt für einen Augenblick zu stürmisch ist, aber ansonsten sind all meine Sinne intensiv auf die Realität außerhalb von mir gerichtet, und was sie dort wahrnehmen, befördern sie ins Zentrum, das durch jeden neuen Ein­ druck gleichsam gestärkt wird. Früher dahingegen wurde ich tatsächlich durch alle Eindrücke von außerhalb beunruhigt und verunsichert. Damals konnte ich immer zwischen zwei Zuständen auswählen, die abrupt ab­ wechselten: ein Zustand von vollkommener Zurückgezogenheit von der Außenwelt, eine innerliche Harmonie, fast zu schön, um wahr zu sein, so zart und so zerbrechlich und kaputt bei der kleinsten Berührung von ­außen, oder ein Zustand der Hektik und des Zerfressenwerdens und aus dem Konzept gebracht und verunsichert durch alles, wenn es auch nur das Lesen eines Fortsetzungsromans oder die schönen Beine einer vorbei­ gehenden jungen Frau war; durch solche Beine, weil ich solche nämlich nicht habe, obwohl meine gar nicht so schlimm sind, fand ich dann mein ganzes Studium auf einmal wertlos, dass ich nicht solche perfekten Beine hatte, deprimierte mich dann so sehr, dass die Freude an der Arbeit kurz weg war, und es kostete folglich wieder Energie, sie wiederzuerlangen. Und nun muss ich dafür sorgen, dass ich genügend Schlaf abbekomme, das gehört auch zu einem gesunden Leben. Morgen weiter, gute Nacht! Mittwochmorgen [19. März 1941], halb 11. Ich bin sehr zufrieden mit dir, Fräulein, schon wieder Strümpfe gestopft und eine Übersetzung gemacht, so schnell und gründlich wie nie zuvor. Noch kurz etwas dem von gestern Abend hinzufügen, über das Zent­ rum. Früher, wenn ich mit Menschen sprach oder in Gesellschaft war, habe ich mich selbst sehr verausgabt und später musste ich alle Teilchen wieder zusammenfügen. Die Menschen gingen weg, gestärkt durch meine Vitalität, und ich blieb mit den Stücken und der Müdigkeit zurück. ­Gegenwärtig werde ich durch jeden menschlichen Kontakt reicher und stärker und die anderen haben auch viel mehr von mir, das zeigt sich mir täglich an vielen Kleinigkeiten. Und nun noch ein paar Notizen von S. Das Folgende schreibe ich ab, weil ich hier alles, um das es eigentlich geht, so hervorragend und in ge­ drängter Form formuliert vorfinde. «Das Kind ist verbunden mit beiden Eltern; das Kind muß das durchmachen, was die Eltern nicht ausgefochten haben. Man soll sich loslösen von dem Ein­ fluß der Eltern und auf eigene Basis kommen. Die Milieu-Einflüsse sind keine Veranlagung; man kann sie durch Verständnis und Anerkennung vertreiben.

8. März 1941–4. Juli 1941 ­Unsere Generation hat hier größere Schwierigkeiten weil die Vorhergehende hieran nicht gearbeitet hat durch konventionelle Selbstsicherheit und Materia­ lismus. Mit Liebe und Verehrung seinen Eltern gegenüber stützt man sein eigenes Selbstvertrauen denn im Anfang ist das Selbstvertrauen in den Eltern begrün­ det. Das Schwere ist die Loslösung von den Eltern um geistig selbständig zu werden. Diese Loslösung kann man als eine zweite Geburt betrachten, welche viel Streit und Schwierigkeiten in sich trägt. Schuldgefühle in dieser Hinsicht soll man überwinden. Es wird nicht verlangt, daß man seine Eltern liebt, son­ dern daß man sie ehrt. Im Anfang sehen die Kinder die Eltern nur, wie sie sind; später müssen die Kinder aber verstehen, wie und warum die Eltern so geworden sind. Die Eltern sollen die Kinder nicht seelisch festhalten, denn dann empören die Kinder sich. Bei gutem Instinkte verwehren die Kinder sich dagegen. Die wahre Kinderliebe will etwas sein für die Kinder ohne jedoch etwas von ihnen zu erwarten (z. B. kein Versuch, sichselbst zurückzufinden oder gleiche Liebe wider zu erwarten). Dies ist eine Schwäche der Eltern; man könnte es ihr Schicksal nennen.»

12 Uhr. Gerade eben meinen auserwählten Blutkreislauf 55 gemeldet. Das hollän­dische Volk ist mir sehr teuer. Erst standen wir mit einer ganzen Schlange im Gang dieser Schule, es schien eine etwas schweigende und bedrückte Schlange zu sein, und gerade erlebte man dieses Stehen dort als ein unabwendbares Schicksal: Es wurde mit dir gemacht. Beim Eingang vor dem Schulzimmer stand ein noch junger Mann mit einer Baskenmütze und einem humorvollen, schmalen Arbeitergesicht. Er ließ die Menschen jeweils zu zweit herein und legte dabei kurz unmerklich ­einen Arm um die Schulter von manchen, wie eine beschützende, alles andere als herablassende Geste. Dann war da dieses Klassenzimmer voller Sonne, mit kindlichen, stei­ fen Bildern vom Besuch des Zaren Peter der Große in Holland im Jahr 1717 an der Wand. Aus dem Schulzimmer nebenan ertönten Kinderlieder, sehr rein und fast ergreifend klang es. Die Schreibkräfte und die junge Frau hinter dem Tisch werde ich wegen ihrer Distinguiertheit, ihres Ver­ ständnisses und ihres äußerst zivilisierten Humors, mit dem sie diese merkwürdige Angelegenheit behandelten, nicht so schnell vergessen. Von diesen Menschen mit ihren Amtsgesichtern ging kein Mitleid oder Empö­

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rung, sondern eine besondere Sanftheit und Menschlichkeit aus. Es fühlte sich für mich so an, als hätten wir das Sprechzimmer eines Arztes betreten, es erklang kein lautes Wort, alles ging sehr geräuschlos und angenehm vor sich, und was mich vor allem traf, ist die Affektlosigkeit, mit der diese paar Holländer diesem Stückchen Judentum gegenüberstanden. Eine Dame fragte: «Müssen Kinder unter 15 Jahren auch gemeldet werden?», worauf­ hin einer dieser Männer mit einem vergnügten Grinsen sagte: «Gnädige Frau, auch wenn sie nur eine Stunde alt sind.» In Holland kann man wirklich leben. Und nun noch kurz weiter mit S., da stehen noch ein paar interessante Dinge für mich: «Unter ‹Gottes Wort› braucht man nicht nur die Bibel zu verstehen; es ist damit im weitesten Sinne das Urwissen, die Eingebung, die Arbeit des Heili­ gen Geistes gemeint, welche sich in dem Menschen offenbart.» «Vitalität ist eine rein psychische Eigenschaft.» «In früheren Zeiten lebten die Menschen beschaulicher, in der Natur, natür­ licher; das Unbewuszte war viel mehr im Einklang mit dem Bewußten. Erst in den etwa 6 letzten Jahrzehnten ist die Divergenz zwischen dem Bewußtsein (welches man lebte) und dem Unbewußten (welches man verdrängte) entstan­ den. Diese Problematik (der vorigen Generation) hat den Weg  – die Wissen­ schaft  – der Arbeit am Unbewußten, nämlich die Analyse des Unbewußten hervorgebracht.» «Sublimierungen sind Umsetzungen und Verarbeitungen innerhalb der Per­ sönlichkeit. Verdrängungen sind nicht abreagierte Kräfte (Energien), oder es sind Kräfte, welche auf ungeeignete Objecte übertragen werden.» «Die Mitte zwischen Gehemmtheit und Hemmungslosigkeit ist verantwor­ tungsvolle Bewußtheit!» «‹Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.› Wer sich selbst hilft, auf sein Selbst, sein Inneres vertraut, der hat eben Gottvertrauen.» «Geistig, innerlich von einem (mehreren) Menschen erfüllt sein, kann ein ‹fürbittendes Gedenken› also ein Gebet sein. Beten aber fordert ein sich völlig konzentrieren.»

Kommentar folgt später. Und nun den Kaffeetisch decken. Die Sonne scheint schon wieder ins Zimmer. Ach, wie gut ist das Leben. Ich habe nun etwas erreicht, das ich früher immer krampfhaft angestrebt habe, je­

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doch niemals finden konnte, nämlich ein vollkommenes Konzentriertsein auf dasjenige bzw. Erfülltsein von demjenigen, mit dem ich gerade be­ schäftigt bin, mit der ruhigen Sicherheit, die schon so lange im Unter­ bewussten geschlummert hatte, dass danach wieder neue Tätigkeiten auf mich warten, von denen ich auch wieder ganz erfüllt sein werde, und so ist das Leben plötzlich voll geworden. Ich ertappe mich selbst dabei, ein Bedürfnis nach Musik zu haben. Ich scheine nicht unmusikalisch zu sein, bin immer sehr ergriffen, wenn ich Musik höre, aber habe niemals die Geduld aufgebracht, mich extra dafür hinzusetzen, mein Interesse galt immer schon der Literatur und dem The­ ater, folglich den Bereichen, in denen ich selbst mitdenken kann, und nun beginnt in dieser Phase meines Lebens die Musik ihre Rechte einzufor­ dern, ich werde folglich wieder dazu fähig, mich einer Sache hinzugeben und mich selbst auszuschalten. Und es sind vor allem die klaren und hei­ teren Klassiker, nach denen ich verlange, und nicht die zerrissenen zeitge­ nössischen Stücke. abends 9 Uhr. Gott, stehe mir bei und gib mir Kraft. Denn der Kampf wird schwierig werden. Sein Mund und sein Körper waren heute Mittag so nah, dass ich sie nicht vergessen kann. Und ich will keine Beziehung mit ihm. Aber es geht schwer in diese Richtung. Aber ich will es nicht. Seine zukünftige Frau ist in London, einsam, und wartet auf ihn. Und die Bande, die mich binden, sind mir ebenso teuer. Nun, da ich allmählich «gesammelt» bin, fühle ich, dass ich eigentlich ein todernster Mensch bin, der im Bereich der Liebe keinen Spaß versteht. Was ich will, ist ein einziger Mann fürs ganze Leben und zusammen etwas aufbauen. Und all die Abenteuer und Affären haben mich im Grunde todunglücklich gemacht und innerlich zer­ rissen. Aber die Kraft, mich dagegen zu wehren, war nie bewusst und nie­ mals groß genug. Die Neugier war immer größer. Aber nun, wo die Kräfte sich in mir konzentriert haben, beginnen sie auch gegen meine Lust auf Abenteuer und gegen meine erotische Neugier, die vielen gilt, zu kämp­ fen. Es ist doch eigentlich nur eine Spielerei, und auch ohne mit jeman­ dem ein Verhältnis zu haben, kann man intuitiv spüren, wie er gestrickt ist. Aber mein Himmel, es wird nun so schwierig. Sein Mund war so ver­ traut und lieb und nah heute Nachmittag, dass ich ihn sanft mit meinen Lippen berühren musste. Und das sachlich begonnene Ringen endete mit einem Ausruhen in des anderen Armen. Er hat mich nicht geküsst, aber

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sehr heftig in meine Wange gebissen, aber das Unvergesslichste war für mich der Moment, als er kurz die Fassung wiedergewonnen hatte und sehr schüchtern, beinahe peinlich schüchtern und in ängstlicher Erwartung fragte: «Und der Mund, fanden Sie den Mund nicht unangenehm?» Dort liegt also seine Schwachstelle. Der Kampf gegen seine Sinnlichkeit, lokalisiert in dem schweren, wunderbar ausdrucksvollen Mund. Und die Furcht, an­ deren mit diesem Mund Angst einzujagen. Rührender Kerl. Aber meine 56 Ruhe ist hin. Und dann sagte er auch noch: «Aber der Mund muß immer noch kleiner werden.» Und er zeigte auf die rechte Seite seiner Unterlippe, die sehr seltsam und ausgeprägt aus dem Mundwinkel hervorspringt und kurz eine weite Wölbung beschreibt, ein Stückchen Lippe, das aus dem Zusammenhang gerissen wurde: «Haben Sie mal so etwas Eigensinniges ge­ sehen, das findet man fast nie», ich erinnere mich nicht exakt an seine Wortwahl. Dann habe ich wieder sehr zärtlich mit meinen Lippen dieses eigensinnige Stückchen seines Mundes gestreift. Richtig geküsst habe ich ihn noch nicht. Wirkliche Leidenschaft ist bei mir auch noch nicht vor­ handen, er ist mir vielmehr unendlich teuer und das gute, menschliche Gefühl, das ich für ihn habe, möchte ich nicht durch eine Beziehung trü­ ben, das kann sowieso nicht gut gehen mit seiner zukünftigen Frau in London, ich will einen einzigen Mann für das ganze Leben, ich spüre, dass ich das will, aber der Kampf wird schwer werden, nicht nur gegen S. Im Moment kann ich auch nicht arbeiten, meine Ruhe ist dahin, ich wäre am liebsten direkt zu ihm hingefahren, um es auszudiskutieren und um ihm zu sagen, dass ich nichts von ihm will und dass er mich in Ruhe lassen muss, aber irgendwo tief in meinem Herzen möchte ich doch etwas von ihm, aber na ja, das Leben ist ein Kampf. Auch wieder nicht allzu wichtig nehmen, auch das geht vorbei, damit versuchte ich mich nur zu beruhi­ gen. Aber es ist nicht leicht, jemandem wie S. abzuschwören. Heute Nacht begann der Ärger schon wieder, ich lag da und sank plötzlich in Gedanken wieder in seine Arme, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, und bin dann wütend aus meinem Bett herausgesprungen und habe Schokolade gegessen und er ist verschwunden und es war wirklich ein Sieg. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dank ihm, dass ich gegen meine erotischen Fantasien kämpfe, statt mit ihnen zu spielen, da ich in meinem Herzen weiß, dass ich ohnehin nichts will. Nein, ich will es nicht. Weißt du das wirklich so sicher, Kleines? Der Kerl ist so unglaublich anziehend. Aber das Schöne war, dass ich ihn im Geist ganz und gar be­ saß, dass ich so von ihm erfüllt war und danach auch wieder so sehr zur

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Ruhe gekommen bin von ihm und durch ihn, dass ich mich nach nichts Weiterem sehnte und das Leben gut war. Aber nun beginnt es wieder. Sein Mund war so reizend und gut und vertraut und gleichzeitig auch geheim­ nisvoll und es stecken darin Versprechen, die ich niemals kennenlernen werde, wenn ich weiterhin sage: «Ich will kein Verhältnis mit Ihnen.» Und als wir da auf dem Boden uns in den Armen lagen, sagte er etwas im Sinne von: «Es ist doch eigentlich ein Skandal, solche Dinge mit Kleidern an zu machen.» Aber ich will ihn loswerden, ich will keine zeitlich begrenzte Beziehung mehr in meinem Leben, ich möchte auf die Dauer etwas Ech­ tes, und ich kämpfe nun schon für den Mann, mit dem ich vielleicht ein­ mal ernsthaft und ohne Spielerei durch das Leben gehen werde. Wobei, das ist es eigentlich nicht. Ich kämpfe nicht für irgendeinen zukünftigen Mann, sondern für die Idee, oder um es sehr schön auszudrücken: für ein Ideal der Treue und des Ernstmachens mit diesen Dingen und für Charak­ terstärke. Aber mein Gott, wie wird das schwierig sein. Nun aber doch versuchen zu arbeiten. Und doch muss ich dich, Etty, noch kurz sehr ernst auf etwas hinweisen. Du denkst, dass sein Mund, seine Augen, sein ganzer Körper dich stark faszinieren und dass du sie nicht loswerden kannst. Aber täusche dich nicht. Du holst dir all das auch immer wieder zu dir in deiner Fantasie, um es zu genießen. Du willst irgendwie auch, dass er dich nicht loslässt und körperlich verfolgt, weil du das angenehm findest. Du hast dich dein Leben lang schon so daran gewöhnt, in deiner Fantasie Männer zu dir zu holen, und zwar auf die unverschämteste Art und Weise, sodass dies zu einer Gewohnheit geworden ist, bei der es schwierig ist, sie so plötzlich aufzugeben. Aber dies muss dir sehr stark bewusst sein, Mädchen, wenn du wirklich nicht etwas von ihm willst, dann ist es auch nicht notwendig. Aber es ist mit dir wie mit einem Kind und seinem Lieblingsspielzeug, immer wieder holt es das hervor, um es zu genießen und um damit zu spielen. Und so machst du das mit S. Jedes Mal rufst du ihn absichtlich wieder in Erinnerung, was auch nicht so verwunderlich ist, denn so etwas Fesselndem wie ihm begegnest du nur selten in deinem Leben. Und die Tatsache, dass er im Begriff ist, eine Beziehung mit dir einzugehen, macht ihn für dich noch anziehender, er ist jetzt in deine Reichweite gelangt, es schmeichelt deiner Eitelkeit doch auch ein bisschen und dann kommt auch noch das gewöhnliche, sehr weltliche «Habgierige» dazu: Das kann ich jetzt alles haben, diesen Mund, diese Hände, die Augen, und sag mal

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ehrlich, dieses Papier wird das Geheimnis bewahren, auch das Gefühl: Es wäre eine Sünde, dies alles auszuschlagen, später werde ich es bereuen, ich werde wahrscheinlich nie wieder einem solchen Mann begegnen. Aber vergiss nicht, dass du für ihn auch eine «Aufgabe» bist, das hat er dir selbst gesagt. Zwei Jahre lang hat er  – mit seinem Temperament  – ohne Frau gelebt, um seiner «Freundin, die da in London einsam ist und wartet», treu zu bleiben. Und ich würde dann diese Treue entzweibrechen, ich sollte doch besser mit ihm zusammen für diese Treue kämpfen. Ich habe ja auch meine eigene Beziehung, ich liebe Han doch mit einem guten und reinen und sehr anhänglichen Gefühl, ich würde ihn in meinem Leben nicht missen wollen. Ein Mensch muss nicht alles haben wollen, auch dann nicht, wenn er es bekommen kann. Wenn ich das wirklich bewältigen kann, dann werde ich viel stärker mit beiden Beinen im Leben stehen, dann werde ich vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben wirklich etwas erreicht haben. Gestern noch war sein Gesicht eine teure Landschaft, ver­ schwommen im Hintergrund zwar, aber allgegenwärtig. Nun ist nichts mehr verschwommen, vielmehr sehe ich die lebendigen Augen, die un­ glaublich schelmisch blicken können, und den ausdrucksstarken Mund vor mir, voller Leben und tiefer Empfindung; übrigens hat der ganze, ­lebendige, heute Nachmittag wieder äußerst geistreiche Kopf viel von sei­ ner üblichen Schwere eingebüßt, er versprühte gar Charme, arme Etty, du hast es wirklich ein wenig schwer. Aber du sollst wollen und ich bin noch nicht davon überzeugt, dass du wirklich weißt, was du willst. Die Span­ nungen bleiben natürlich immer im Hintergrund bestehen, aber trotz die­ ser Spannungen kann doch eine menschliche, starke Beziehung entstehen, aber ohne Affäre. Und trotz der Tatsache, dass ich so viel aufgeschrieben habe, habe ich ein fürchterlich angespanntes Gefühl in meinem Kopf und glühende Wangen. Ich werde mich jetzt der Länge nach auf den Kamin­ vorleger legen, ein wenig Atemgymnastik machen und probieren, wieder Mut zu schöpfen. Die Spannung ist nicht auf das Verlangen nach ihm zurückzuführen, sondern ganz einfach darauf, dass ich noch nicht hun­ dertprozentig sicher kein Verhältnis mit ihm will, es sind immer ein paar Prozente, die schon wollen; ich habe in meiner Fantasie zwar ein solides Gebäude der Willenskraft errichtet, aber ich habe darin ein kleines Hin­ tertürchen offen gelassen und deshalb ist das Gebäude doch nicht so stabil und darum fühle ich mich so angespannt und unruhig. Am besten ist es, möglichst mit sich selbst darüber ins Reine zu kommen.

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Verrückt ist, dass ich immer wieder nach diesem Heft greife, weil noch etwas hinzugefügt werden muss. Meine ganze Schwäche kommt eigentlich durch Folgendes zustande: Hinter allem steht bei mir immer, sehr oft zu­ mindest, die große Frage, die eigentlich eine Lücke ist: Ist das eigentlich alles der Mühe wert? Ist es der Mühe wert zu kämpfen? Darf man denn nicht nehmen, was das Leben gibt, und damit basta? Und wahrscheinlich steckt dahinter noch eine viel gewöhnlichere und banalere Frage: Wer ist dir dafür dankbar, wenn du so kämpfst, noch schöner würde natürlich klingen: Wer vergilt es dir? Gott wird es dir schon vergelten, und diese Worte, die so plötzlich aus meinem kleinen Füllfederhalter schießen, ver­ leihen mir auf einmal eine zaghafte Kraft. Vielleicht können diese Worte eine Erlösung werden: Gott wird dir dafür dankbar sein. Donnerstagvormittag [20. März 1941], 9 Uhr. Gestern Abend wirklich als Siegerin das Schlachtfeld verlassen. Mit kaltem Wasser mich überall gewaschen, ein wenig Gymnastik, ein wenig Selbst­ disziplin des Geistes und die Klarheit war wieder deutlich vorhanden. Ein Gefühl, um auszurufen: Hipp, hipp, hurra, ich habe gewonnen. Aber: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben und den Abend nicht vor dem folgenden Tag und so weiter bis ins Unendliche. Das Leben ist schwer. Und wie! Es war doch gestern Abend viel gewonnen, und zwar dies: Ich fürchtete mich nicht mehr davor, dass sein Gesicht mich bedro­ hen und unruhig machen wird, sondern ich konnte es mir ganz deutlich in meinem Geist vorstellen, ohne in erotische Träumereien zu verfallen. Und auf einmal war da so eine Distanz, sodass ich es beinahe «künstle­ risch» verarbeitet habe. Ich sah auf einmal diesen Kampf gegen seinen eige­ nen Mund als etwas sehr Großartiges an, dieses Symbol seiner Sinnlich­ keit, wogegen er schon sein Leben lang kämpft. «Der Mund soll immer noch kleiner werden.» Und wieder diese ergreifende Geste, aber nun sah ich sie gelassen, objektiv, ohne diese heimlichen Schauder des Verlangens zu be­ kommen; die scheue Frage: «Und der Mund, wie hat Ihnen denn mein Mund gefallen?» Und ich musste an Abrascha denken, der damals mit all seiner Sinnlichkeit über mich hergefallen ist, mich gleich aufgefressen hat, direkt beim ersten Mal, sodass ich mich vor ihm ekelte, der sich niemals fragt: «Wie finden die Frauen mich, finden sie meinen großen sinnlichen Mund (denn den hatte er!) nicht unangenehm?», sondern der einfach nur mit seiner männlichen Selbstsicherheit annahm, dass jede Frau ihn wahnsin­ nig angenehm finden würde. Und dieser Mann, der sich sehr bewusst ist,

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dass es möglich ist, dass er bei Frauen Ekel hervorruft, der mich nicht zu­ erst küsst, sondern wartet, bis ich ihn gesucht habe, und dann sehr scheu und abwartend fragt: «Und der Mund?» Und dann noch etwas. Heute Morgen in aller Frühe plötzlich dieser weite Horizont: Dein ganzes Leben liegt vor dir, du beginnst jetzt erst zu leben; jetzt, wo deine inneren Kräfte organisiert werden, musst du den Blick auf dieses ganze Leben gerichtet halten, es muss immer im Hintergrund sein und der Blick darf nicht nur auf den Freitagnachmittag fixiert sein, wenn du ihn wiedersehen wirst, nicht denken, dass es nur diesen Mann gibt und nichts anderes. Ich kann es nicht exakt wiedergeben, aber es war ein Ge­ fühl von Weiträumigkeit, alles wird dadurch besser proportioniert und auch dieser Mann nimmt dann in meinem Geist etwas weniger kolossale Dimensionen an, wenn auch die Liebe genauso groß bleibt; ich meine nur, dass du der Erotik nicht einen solch überwältigenden Platz beimessen musst, sie ist auch von zu vergänglicher Art, es sei denn, sie wird zu einem Bestandteil einer festen, lebenslangen Beziehung zementiert, aber immer wieder eine lockere Affäre ist doch nicht die Mühe all dieser Aufregung, Spannung, Enttäuschung usw. wert. Aber das Gefecht ist wieder in vollem Gange. Bin früh aufgestanden, nackt mit eiskaltem Wasser gewaschen, ein wenig Atemgymnastik, aber mit der Arbeit lief es nicht, er kam zurück und spukte über die Buch­ seiten. Nun ist dieser nervöse, immerwährend lebhafte Gogol auch sehr an­ strengend, um sich am frühen Morgen darauf zu konzentrieren. Ich bin nun müder und duseliger in meinem Kopf als in den letzten Tagen, so völlig gewonnen habe ich doch noch nicht, hoffe, mich die drei Stunden in der Vorlesung57 gut konzentrieren zu können, und dann mal wieder weiter­ sehen, was dieser Tag mit sich bringen wird. Bis später! Tschüss! nachmittags 4 Uhr. Etty, Kind, ich beginne wirklich ein bisschen Freude an dir zu bekommen, sogar ein bisschen stolz auf dich zu werden. Das Leben ist ein Kampf, aber ich beginne Freude an diesem Kampf zu bekommen, und schon während man kämpft, nehmen die Kräfte zu. Zuerst werde ich dich auf einen Feh­ ler aufmerksam machen. Du hast gemeint, dass du S. sozusagen in ein paar Stunden abschwören kannst und dass es dann endgültig vorbei sei. Du hast nicht realisiert, dass der Kampf stets weitergeht, dass er sich von

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Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht erneuert und dass er ständig neue Formen annimmt, und weil du darauf nicht eingestellt warst, wurdest du plötzlich so müde und unglücklich, als du heute Morgen fühltest, dass du ihm noch nicht abgeschworen hast, obwohl du doch gestern Abend mit so einem Siegesgefühl ins Bett gegangen bist. Und nun hast du plötzlich, wodurch könntest du auch nicht sagen, begonnen, Freude an diesem Kampf zu haben, und du spürst, wie deine Kräfte wachsen, und du weißt auch, wie spannend das alles ist. Du musst stets auf der Hut sein und dein eigenes Gefühl ernsthaft und ehrlich kontrollieren, aber die Möglichkeit des überraschenden und un­ erwarteten Kontakts wird immer bestehen, vor allem dann, wenn du im Voraus nicht darüber grübelst. Das Wunschbild ist seit gestern auch wieder ehrlicher und reiner ge­ worden. Gestern Abend noch stelltest du dir vor, wie du morgen Nach­ mittag mit ihm ringen wirst und dass du dann, sobald es zu erotisch würde, dich losreißen und sagen würdest: Hör mir gut zu, ich will das nicht. Aber den Kontakt wolltest du doch zuerst haben, sehr rein war das nicht. Und nun stelle ich mir vor, wie ich morgen bei ihm eintreten werde, sehr entschieden und ernst, und wie ich direkt zu Beginn des Gesprächs sagen werde: «Ich will, daß Sie Ihrer Freundin treu seien.» Und ich fühle, dass ich dies nun wirklich will. O Gott, gib mir Kraft, so standhaft zu bleiben. Und im Anschluss daran werde ich seinen Mund küssen, jedes einzelne Fleckchen davon, ruhig und ohne Leidenschaft, als Beweis für die große Freundschaft und auch als Beweis dafür, dass meine Angst vor seinem Ge­ sicht und der Obsession, die zu Beginn für mich davon ausging, ver­ schwunden ist. Denn noch immer kann ich das nicht gut wiedergeben, wie er gestern war, als er so ängstlich sagte: «Und mein Mund, fanden Sie meinen Mund nicht unangenehm?» Da stand er dann plötzlich in komplet­ ter Schwäche und psychischer Nacktheit, er zeigte kurz ganz und gar, wo seine Schwachstelle liegt, er war so wehrlos und offen, dass  – wenn ich nun daran denke – ich ihn fast in meine Arme schließen wollte. Die Müdigkeit ist verschwunden, in der Vorlesung war ich fitter denn je, ich habe in mir ein Gefühl von Kraft und Sicherheit, wie ich es noch nie gehabt habe. Aber vor einer Sache musst du auf der Hut sein, denke an den weisen Chinesen, von dem Adler erzählt. Es ist noch zu viel Hochmut in mir. Er hat alle Mädchen zum Greifen nahe und ich bin stolz darauf, dass ich nicht zu greifen bin, und sehr tief drinnen in meinem Herzen steckt wahr­

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scheinlich das Gefühl, dass ich dadurch umso reizvoller für ihn bin. Aber auch diesen unreinen Hintergrund wirst du verbannen müssen, wenn du den Anspruch geltend machen willst, ein echter Mensch zu sein. Aber durch das vollkommene Bewusstmachen dieser vagen Gefühle sind sie auch schon ausgerottet. Nein, ich kann es nicht anders sagen, ich bin sehr zufrieden mit dir und werde dir demnächst vielleicht die Hand der Freundschaft reichen. Aber zuerst muss der morgige Tag zu einem guten Ende gebracht werden und dann werden wir wieder weitersehen. Das war einzigartig heute Nachmittag, diese vorwärtsrasende Henny Tideman58 auf dem Fahrrad und ich in schnellem Tempo hinterher und plötzlich mit meinem Gesicht nah an ihrem: «Sag, fährst du immer so schnell?» Dann in rasender Fahrt die Verabredung für Sonntagabend ge­ macht, ich freue mich riesig darauf. Freitag, 21. März [1941], morgens halb 9. Eigentlich möchte ich jetzt gar nichts aufschreiben, denn ich fühle mich innerlich so leicht und strahlend und heiter, sodass jedes Wort im Ver­ gleich dazu bleischwer wirkt. Und doch musste ich mir diese innere Fröh­ lichkeit heute Morgen mit einem unruhigen und hektisch schlagenden Herzen erobern. Nachdem ich mich ganz mit eiskaltem Wasser gewaschen hatte, bin ich so lange auf dem Boden des Badezimmers liegen geblieben, bis ich ganz ruhig geworden war. Ich bin das geworden, was man «kampf­ bereit» nennt, und habe einen gewissen sportlichen und begeisterten Spaß an diesem «Kampf». In diesem Brief an S. auf der ersten Seite steht unter anderem: «… eine Ahnung darüber, daß das Leben so schrecklich schwer ist und daß man alles alleine machen muß und Hilfe von außen gar nicht möglich ist, und Unsicherheit, Angst, alles war da –»!

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Dieses vage, beängstigende Gefühl empfinde ich als in mir selbst be­ siegt. Das Leben ist wirklich schwer, ein Kampf von Minute zu Minute (jetzt nicht übertreiben, Süße!), aber dieser Kampf ist reizvoll. Früher blickte ich in eine chaotische Zukunft, weil ich den Moment, der direkt vor mir lag, nicht erleben wollte. Ich wollte alles geschenkt bekommen wie ein sehr verwöhntes Kind. Ich hatte manchmal das bestimmte, aber sehr vage Gefühl, dass in der Zukunft «aus mir etwas werden könnte», dass ich etwas «Großartiges» vollbringen werde, und dann ab und zu wie­ der diese chaotische Angst, dass ich «doch wahrscheinlich vor die Hunde gehen werde». Ich beginne zu verstehen, woher das rührt. Ich weigerte

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mich, die direkt vor mir liegenden Aufgaben zu erledigen, ich weigerte mich, Stufe um Stufe für diese Zukunft zu erklimmen. Und nun, da jede Minute ausgefüllt ist, randvoll mit Leben und Erleben und Sieg und ­Niederlage, aber dann wieder direkt Kampf und gelegentlich Ruhe, nun denke ich nicht mehr an die Zukunft, das heißt, es ist mir einerlei, ob ich etwas Gewaltiges leisten werde oder nicht, weil ich irgendwie doch die innere Sicherheit habe, dass schon etwas dabei herauskommen wird. Frü­ her lebte ich immer in einem vorbereitenden Stadium, ich hatte das ­Gefühl, dass alles, was ich tat, doch nicht das «Richtige» war, sondern die Vorbereitung auf etwas anderes, etwas «Großes», etwas Richtiges. Aber das ist nun gänzlich von mir abgefallen. Ich lebe jetzt, heute, in dieser Minute, ich lebe voll und ganz und das Leben ist es wert, gelebt zu werden, und wenn ich wüsste, dass ich morgen sterben müsste, dann würde ich sagen: Ich finde es sehr schade, aber es war gut so, wie es gewesen ist. Und das hatte ich sogar theoretisch auch schon einmal verkündet, ich weiß es noch genau, an einem Sommerabend mit Frans60 auf der kleinen Terrasse bei Reynders. Aber in dem, was ich damals sagte, steckte mehr Resignation. So etwas im Sinne von: Ach, weißt du, und wenn es morgen vorbei wäre, dann würde ich mich darüber nicht so aufregen, denn wir wissen ja, wie alles funktioniert. Wir kennen dieses Leben, wir haben alles bereits erlebt, wenn vielleicht auch nur in Gedanken, und wir hängen nicht mehr so krampfhaft an diesem Leben. So etwas in dieser Art ungefähr, glaube ich. Wir waren sehr alte, weise und erschöpfte Menschen. Aber nun ist es an­ ders. Und nun an die Arbeit. Samstag, 22. März [1941], morgens halb 11. Die Wirklichkeit ist immer anders, als die Fantasie es sich so schön aus­ gedacht hat, und ich beginne, damit klarzukommen. Und da die Fantasie diesmal einigermaßen sittsam war, war der Zusammenprall nicht so groß. Ich hatte mir das also so vorgestellt: Ich komme sehr entschlossen herein, starre ihn eine Weile ausdrucksvoll an und sage dann: «Mein Herr, ich will sicher keine Affäre mit Ihnen haben, das war wirklich ein schwieriger Kampf für mich (und dabei schaue ich dann gleichzeitig tragisch und energisch), aber meine bessere Seite in mir hat gesiegt, ich möchte Ihre Treue zu Ihrer Freundin nicht brechen. Und darf ich nun bitte kurz Ihren teuren Mund küssen, ruhig und ohne Leidenschaft, aber doch sehr gerne, zum Beweis für meine Gefühle der reinen Freundschaft für Sie.» Ja, so

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hatte ich mir das «zurechtgemacht» («unsere» zukünftige «Verkehrssprache» färbt schon ordentlich auf mich ab). Aber was ich mir nun genau vorgestellt hatte, war eigentlich nicht so wichtig, das Wichtigste war die innere Verfassung, die Sphäre, in der sich diese zurechtgelegten Fantasien abspielten. Und diese Verfassung war spitze, als ich zu ihm ging, innerlich sehr gestählt, stark und rein und völ­ lig darüber im Klaren, was ich wollte und nicht wollte. Blitzblank sozu­ sagen. Und die hübschen Maiglöckchen ängstlich in meiner Tasche. Und als ich hereinkam, war dieser verdammte Kerl wieder sachlich, aber zur Abwechslung wurde ich dann noch eine Spur sachlicher, drückte ihm zwar sehr herzlich, aber mit einem reservierten Blick die Hand. Einen winzigen Augenblick lang blickte er prüfend, gerade keinen Anhaltspunkt an mir findend, es kam ein spielerisches Element hinzu, ich spürte, dass der Kampf beginnen wird, und ich fühlte mich sowohl ihm als auch die­ sem Kampf «gewachsen». Es war eine herrliche Stunde, knallhart und sachlich und voller gebändigter starker Gefühle. Er begann sehr nüchtern: «Der Traum, den wir noch besprechen müssen.» Ich vergaß all die Dinge, die ich sagen wollte, und war direkt im Bilde, mit großem Interesse und bei­ nahe wissenschaftlich interessiert an diesem Traum, der so vieles offen­ barte: meine Einstellung gegenüber dem Judentum, meine infantile Nei­ gung, mit den verrücktesten Dingen mein Brot zu verdienen, die eigene Affektiertheit, kurzum: Es könnte eine interessante Broschüre werden, wenn ich unser Gespräch im Detail ausarbeiten würde; es ist mir auch wieder etwas klar und bewusst geworden dadurch, aber erst heute Morgen früh im Bett, aber um das alles aufzuschreiben, müsste ich über mehr Können und weniger Faulheit verfügen, aber vorläufig bin ich zufrieden damit, dass es in mir drin ist. Für einen netten Moment sorgten die zarten Maiglöckchen, die dort zerknautscht und duftend in meiner unordentlichen Tasche lagen. Das Stück Papier, in das sie eingewickelt waren, schaute aus meiner Tasche hervor und auf einmal sagte er: «Was haben Sie denn da?» Ich scheine dann etwas verwirrt ausgeschaut zu haben, denn er fing an, vor Lachen zu brüllen, und sagte: «Was machen Sie denn da für ein komisches Gesicht?» Und dann holte ich sehr schüchtern die wirklich rührenden, zarten Mai­ glöckchen hervor und sagte so etwas im Sinne von: dass ich mich nicht getraut habe, sie ihm zu geben, weil er mir verboten hatte, immer Blumen für ihn mitzubringen, aber dass ich es doch nicht lassen konnte. Das ­Lachen dieses Mannes ist an sich ein Bad der Gesundheit, es ist so voller

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Lebensfreude und Wärme und Intensität, dass man selbst beginnt, ver­ gnüglich zu werden. Dieses Lachen versachlichte die Atmosphäre gerade etwas weniger stark, es kam echte gute Freundschaft hinzu, aber wir blie­ ben äußerst angespannt und beherrscht. Seine Augen erschienen mir hel­ ler und strahlender als sonst und ich fühlte, dass es sich mit den meinen auch so verhielt. Körperlichen Kontakt gab es kaum in diesen eineinhalb Stunden. In der Hitze des Gesprächs ruhte sich meine Hand zwar schon mal eine Weile in der seinen aus, aber das ist bei ihm nur eine Kleinigkeit und es ist kaum persönlich. Kurzum, dann ging ich wieder fort, mit einem starken Händedruck und einem klaren Blick, und nun halt wieder weitersehen, was das nächste Mal mit sich bringt, ich werde mir im Voraus keinerlei Vorstellung mehr davon machen, vielmehr wird es gut sein, so wie es kommt. Die Haupt­ sache ist, dass ich beginne, mich ihm gewachsen zu fühlen. Es geschieht etwas Schönes mit meinem Gesicht. Es ist, als ob es aus der Grundierung langsam hervortritt, die Konturen werden abgerundeter, der Ausdruck intensiver und der Mund ist wirklich sehr schön: voller Aus­ druck und Gefühl, nicht zu viel, aber kräftig, ohne unweiblich zu sein. Ich habe gestern mit viel Freude im Spiegel lange meinen Mund betrachtet. Es war, als ob er plötzlich bewusster und offener in meinem Gesicht wäre. Früher war er viel ängstlicher versteckt und jetzt ist er dabei, sich zu ent­ falten. Gerade ruft Marjo an, ob ich schnell komme, und ich gehe jetzt direkt los. abends 8 Uhr. Ich muss dafür sorgen, dass ich in Kontakt mit diesem Heft bleibe, d. h. mit mir selbst, sonst geht das nicht gut mit mir; ich laufe noch jederzeit Gefahr, dass ich mich wieder ganz verliere und verirre, so empfinde ich es im Moment ein bisschen, aber das kann auch von der Müdigkeit her­ rühren. Sonntag, 23. März [1941], 4 Uhr. Es läuft wieder alles schief. «Ich will etwas und weiß nicht, was.»61 In mir drin ist alles wieder ratloser und unruhiger und gehetzter. Und der Kopf wieder stark angespannt. Ich erinnere mich mit einem gewissen Neid an die zwei vergangenen Sonntage: Die Tage lagen wie offene, weite Ebenen

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vor mir und ich konnte frei über diese Ebenen gehen und diese Tage boten einen weiten und ungehinderten Ausblick. Und nun sitze ich wieder mit­ ten im Gebüsch. Etty, du bist ein einfältiger, mieser Typ, dass du ihn soeben angerufen hast. Kopfschmerzen! Du hast es nicht allein bewältigt. Diese wahnsinnige Un­ ruhe. Aber jetzt musst du dich selbst gut an der Hand führen und nicht lockerlassen, sonst stürzt du wieder tief in eine Krise. Es war fortwährend die Rede von meinem «nervösen Herzen», aber ich spüre nun auch, dass es verdammt nervös ist. Ist es nur wegen dieses lächerlichen Musikabends62 heute Abend? Ist deshalb in meinem Kopf so ein widerliches Ragout aus allerlei unbedeu­ tenden Gedanken und kleinen Unruhen, sodass ich überhaupt keine Luft mehr bekomme? Was für ein Kleid ich anziehen soll und ob sie mich hübsch finden werden und wie er sich mir gegenüber verhalten wird usw. usw. Ich verstehe mich im Moment selbst nicht wirklich. Gestern noch war das Leben ein einziges fließendes Ganzes für mich und ich floss mit, um es nun einmal eindrucksvoll auszudrücken. Und nun ist alles wieder verkrampft. Und ich hätte so eine Menge zu schreiben, aber ich kann nichts aus mir losreißen, alles ist zwischen Granitblöcken eingeklemmt. Nun ja, jetzt gehe ich doch zu ihm um 5 vor 6, ausgerechnet. Ich mache Schluss, das bringt heute sowieso nichts mehr, ich habe das Heft aus den Händen gegeben, mal sehen, ob er damit etwas anfangen kann. Ich denke jetzt nicht im Geringsten mit warmen oder angenehmen Gefühlen an ihn, es ist vielmehr eine Art Gleichgültigkeit, beinahe Widerwille. Es kann auch sein, dass ich am Freitagnachmittag zu viel von mir verlangt habe und dass ich ihn nun zu «schwierig» finde. Natürlich auch Widerwille, weil ich mich kurz von ihm abhängig gemacht habe, weil ich einfach so zum Telefon gerannt bin, um ihn um Hilfe zu bitten, weil die inneren Spannungen gerade zu stark werden. Und von diesem gesegneten Gefühl, die Dinge «geschehen zu lassen», bin ich nun meilenweit entfernt. Ich verstehe überhaupt nicht mehr, dass ich das war letzte Woche, so friedlich auf dem Mülleimer in der Sonne und danach mit Kees63 im Wintergarten. Es begann bereits gestern Abend; da begann die Unruhe von allen Sei­ ten in mir hochzusteigen, so wie Dämpfe aus dem Morast hochsteigen. Ich wollte mich dann ein wenig mit Philosophie beschäftigen, oder nein, doch lieber mit diesem Essay über «Krieg und Frieden», oder nein, Alfred Adler passt besser zu meiner Stimmung. Und so bin ich schließlich bei

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dieser Hinduistischen Liebesgeschichte gelandet. Aber es war doch ein Kämpfen gegen eine natürliche Müdigkeit, der ich mich schließlich mit weisem Bedacht ergeben habe. Und heute Morgen schien alles wieder gut. Aber als ich da so die Apollolaan entlangradelte, war da wieder dieses Rat­ lose, dieses Unzufriedene, das Fühlen der Leere hinter den Dingen, das Nichterfülltsein vom Leben und die sinnlose Grübelei darüber. Und im Moment stecke ich im Morast. Und auch die Erkenntnis: «Na ja, auch das geht vorüber», bringt diesmal keine Ruhe. Bei Lenie Wolff64 war es heute Morgen wirklich nett. Verdammt lustiger Kauz. Sie hat etwas «Metallisches» in ihren Augen und in ihrer Stimme und eine ansteckende Lebensfreude. Als ich versuchte, sie als Versuchs­ objekt für S. zu gewinnen und eine Geschichte zu erzählen begann über einen Mann, der mit den Händen der Menschen arbeitet, sagte sie auf einmal: «Du meinst doch nicht Herrn S.?» – «Ja, richtig, kennst du den etwa?» – «Nein», sagt sie, «aber ich habe schon viel von ihm gehört, eine meiner Freundinnen ist einmal bei ihm gewesen und da hat er aus ihrem Handrücken gelesen,65 dass Obst ihr besser vor als nach dem Essen be­ kommt.» Und das war auch wirklich wahr. Wir haben darüber wirklich wohltuend gegrinst. Ich hasse mich wie die Pest und damit basta! Montagmorgen [24. März 1941], halb 10. Und jetzt keine Ausreden mehr, weiter, Mädchen, du hast jetzt die Zügel wieder in den Händen und hältst sie fest. Du bekommst nichts geschenkt, keine einzige Minute. Aber du bist jetzt wieder auf einem guten Weg. Die aufgeräumte Küche, die das Spiegelbild meiner aufgeräumten Seele ist. Am letzten Sonntag, als du zu Pa Han sagtest: Geh hinunter und schaue dir die saubere Küche an, das ist eine Kopie, eine Fotografie meiner psy­ chischen Verfassung. Und gestern, bevor ich zu dieser Musik ging, war es ein Heidenchaos. Aber heute Morgen waren die Kochtöpfe die erste Ver­ richtung und dann die Spüle, und als das ganze Chaos aufgeräumt war, fühlte ich, dass ich wieder ein bisschen ruhiger werde. Und dann die Gymnastik und jetzt sitze ich wieder hier, noch nicht gänzlich mit Ruhe und Weite erfüllt, aber diese Ruhe erobere ich heute schon noch. Gestern schlug das Herz wieder so, dass es war, als ob es durchdrehen würde. Es war auf die Zukunft ausgerichtet, und mit den Dingen, die

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­ irekt vor mir lagen, wollte ich mich nicht beschäftigen. An guten Tagen d war es so: Dann war ich jeden Moment des Tages von demjenigen erfüllt, was direkt vor mir lag; über das, was eine Stunde, einen Nachmittag oder Abend später folgte, dachte ich nicht nach, sodass ich jeden Moment des Tages unvoreingenommen war, ungetrübt durch Grübeleien im Voraus. Das Leben schien dann sehr reich und ich war sehr stark. Aber gestern war dieses Geflattere wieder da. Ich meine Folgendes: Dann ist ein Moment nicht gänzlich mit mir selbst ausgefüllt, vielmehr ist es ein Raum gewor­ den, in dem ich umherflattere, und über diesen Raum hinaus blicke ich wieder in die folgenden Räume, aber es ist dann alles vollkommen chao­ tisch und es herrscht gähnende Leere hinter allen Dingen und es stellt sich die Frage: Wozu das alles und ist das Leben es eigentlich wert, gelebt zu werden? Das Leben muss jedoch derart vollkommen gelebt werden, sodass diese Frage nicht einmal eine Chance erhält, in dir aufzusteigen, derart vollkommen musst du vom Leben und von Ruhe zugleich erfüllt sein. Ich glaube, dass ich mich gerade ein wenig wirr ausdrücke, und ich werde diese Seite jetzt für ein Jahr sicher nicht noch einmal lesen. Als ich gestern zu ihm hinradelte, war ich eigentlich schon schön ruhig geworden. Diese Unruhe ist mir teilweise klar geworden. Dieser Musik­ abend. Er und die paar hübschen blonden Frauen. Für mich eine abge­ schlossene, abgerundete Welt, in die ich nun geraten würde und die ich auf irgendeine Art erobern musste. Und außerdem: Ich kannte ihn nur in den 4 Wänden seines Zimmers, innerhalb dieser strengen Grenzen von 1 ½ Stunden jedes Mal. Und wie wird er jetzt sein, unter einer Menge anderer? Die Magie seiner Persönlichkeit erlebte ich gestern Abend nicht so stark. Ich konnte ihn kühl und distanziert beobachten. Er ist ein liebenswürdiger Mensch, aber als Mann würde ich ihn mir doch nicht wünschen. Und sein Gesang hat mich nicht besonders beeindruckt. Ich erkannte ihn nicht im Geringsten in diesem Gesang. Er erschien mir wie eine Art ferner Helden­ tenor, nein, er war mir äußerst unangenehm, oder das eigentlich auch nicht, aber gleichgültig. Aber wenn er den anderen zuhörte, dann war da wieder dieses fantastisch ausdrucksstarke Gesicht, fesselnder als alles andere. Gestern um 5 vor 6 war das doch sehr wohltuend, seine große warme Hand auf meinem Kopf, sein freundlicher, melancholischer Mund in der Nähe, aber harmlos, mehr etwas Vertrautes und Teures zum Betrachten. «Warum sind Sie denn heute morgen nicht gekommen?» – «Da warrr ich noch im Kampff mit mir selberrr»,

rollte ich dann sehr eindrucksvoll aus. «Ich bin

mir eigentlich sehr böse daß ich zu Ihnen gekommen bin, so unbeherrscht.»

8. März 1941–4. Juli 1941 «Sie sollen sich deswegen doch nicht böse sein, das ist auch verkrampft. Und diese Verkrampfung ist noch die holländische Seite in Ihnen.» Dieser Schatz hat verdammt recht. Ich könnte eigentlich so ein schrecklich netter Mensch sein, dies in aller Bescheidenheit gesagt, aber all dieses Krampf­ hafte, Ängstliche, Unnatürliche muss zuerst weg und das wird auch weg­ gehen, verdammt noch mal. Hans du Puis66 sagte einmal auf den Treppen der Universität zu mir: Ja, du bist so eine strahlende Persönlichkeit. Und ich glaube, dass ich das sein könnte und anderen auch noch ein wenig Kraft in ihrem Leben mitgeben und wirklich glücklich sein könnte. Denn das ist doch auch eine Leistung: wirklich innerlich glücklich sein, Gottes Welt akzeptieren und genießen, ohne abgewendet zu sein von dem vielen Leid, das es gibt. Es ist so ein trister Haufen, die Menschheit, die man derzeit erlebt. So wenig wirkliches Strahlen und Lebensfreude. Jedoch vol­ ler kleiner Komplexe und Grübeleien und Neid und unglücklicher Ehen und missratener Kinder usw. usw. Auch wenn du in einer Dachkammer wohnst und trockenes Brot verschlingst, das Leben ist es wert, gelebt zu werden. Und wenn es dir diese Zeit zu schwierig macht und es dir nicht erlaubt zu leben, nun gut, dann werden wir das nicht zu tragisch nehmen und ein wenig wehmütig vor die Hunde gehen. Auch das gehört dazu, und ob es nun einen anderen trifft oder mich, das kann man sich nicht aus­suchen, aber man darf sich selbst in dieser Hinsicht auch nicht zu ernst nehmen. Und jetzt liegen dort die Kastanienäste auf dem weißen Tischchen. An den dunklen, kahlen Ästen hat das lieblichste, strahlendste Leben ange­ fangen zu erblühen. Und dann ist da dieses unendlich liebliche Lächeln von Tideman, das in ihrem hässlichen Gesicht anfängt zu erblühen, sobald sie anfängt zu singen. Und die heiteren, unbeschwerten Augen von Han und der verlebte, fesselnde, aber doch auch wieder sehr schwächliche Kopf von S., es gibt so vieles, das Leben ist reich, aber es muss von Minute zu Minute erobert werden, und nun an die Arbeit und immer mit der Ruhe und vergiss Gott nicht unterdessen.

Ein wenig später, nur eine Anmerkung zwischen zwei Sätzen der Übersetzungsübung. Es ist verrückt, aber er bleibt doch für mich irgendwie ein Fremder. Wenn er manchmal kurz mit seiner großen, warmen Hand mein Gesicht strei­ chelt oder wenn er manchmal mit seiner unnachahmbaren Gebärde schnell, sehr flüchtig mit den Fingerspitzen meine Wimpern berührt, dann

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reagiere ich im Nachhinein schon mal rebellisch: Wer sagt dir, dass du das einfach so darfst, wer gibt dir das Recht, meinen Körper zu berühren? Ich glaube, dass ich auch weiß, was die Ursache davon ist. Als wir das erste Mal miteinander rangen, war es angenehm, sportlich, wenn auch uner­ wartet für mich, aber ich war sofort «im Bilde» und dachte: «Oh, das ge­ hört dann sicher zur Behandlung.» Und so war es auch, denn er stellte am Ende sehr nüchtern fest: «Körper und Seele sind eins.» Ich war danach ­natürlich schon erotisch berührt, aber er war derart sachlich, dass ich mich rasch wieder erholte. Und als wir uns am Ende wieder einander gegenüber­ saßen, fragte er: «Hören Sie mal, das erregt Sie doch hoffentlich nicht, denn letzten Endes fasse ich Sie doch überall an», und er berührte zur Demonstration mit seinen Händen kurz meine Brust und Arme und Schultern. Ich dachte damals etwas wie: «Ja, Bürschchen, du musst doch verdammt gut wissen, wie erotisch ‹anregbar› ich bin, das hast du mir selbst erzählt, aber na ja, du bist anständig, dass du das so offen mit mir besprichst, und ich erhole mich schon wieder.» Er sagte dann auch noch, dass ich mich nicht in ihn verlieben dürfe und dass er das immer am ­Anfang sage, kurzum: Es war vertretbar, auch wenn ich mich dabei ein bisschen unwohl fühlte. Aber beim zweiten Mal Ringen war es schon ganz anders. Da wurde auch er erotisch erregt. Und als er irgendwann auf mir drauflag und ächzte, nur kurz, und sich mit den ältesten Zuckungen der Welt bewegte, da stie­ gen in mir urgemeine Gedanken auf, so wie vergiftete Dämpfe aus dem Morast, so etwa im Sinne von: Du hast eine schöne Art und Weise, Patien­ ten zu behandeln, so hast du auch selbst noch Spaß daran und du wirst auch noch obendrein dafür bezahlt, wenn auch nicht üppig. Aber die Art und Weise, auf die seine Hände während dieses Kampfes nach mir griffen, die Art, wie er in mein Ohr biss und mit seiner großen Hand mein Ge­ sicht während dieses Ringens umfasste, das alles machte mich total ver­ rückt, ich spürte etwas von dem erfahrenen und faszinierenden Liebhaber, der sich hinter all diesen Gebärden verbarg. Aber gleichzeitig fand ich es auch äußerst gemein, dass er die Situation ausnutzte. Aber dieses Gefühl des Widerwillens versank in der Tiefe und hinterher gab es zwischen uns eine Vertrautheit und einen persönlichen Kontakt wie später nie wieder. Aber noch als wir zusammen am Boden lagen, sagte er: «Ich will kein Ver­ hältnis mit Ihnen.» Und er sagte auch: «Ich muß es Ihnen ehrlich gestehen, Sie gefallen mir sehr.» Und er sagte dann noch etwas von übereinstimmen­ den Temperamenten.

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Und er sagte etwas später auch: «Und geben Sie mir jetzt einen kleinen Freundschaftskuss», aber damals war ich dazu sicher noch nicht bereit und wandte schüchtern den Kopf ab. Und er war am Ende dann auch kurz ganz er selbst und ließ sich gehen und sagte geradezu nachdenklich vor sich hin: «Es ist eigentlich alles so logisch, wissen Sie, ich war ein ganz ver­ träumter Junge», und dann erzählte er mir ein wenig über sein Leben. Er erzählte und ich hörte voller Hingabe zu, und ab und zu umfasste er mit seiner Hand sehr zärtlich mein Gesicht. Und so ging ich also mit den widersprüchlichsten Gefühlen nach Hause: mit rebellischen Gefühlen gegen ihn, weil ich ihn gemein und unverschämt fand, aber auch mit zärtlichen Gefühlen, erfüllt von einem ­guten, menschlichen Gefühl der Freundschaft, und gleichzeitig mit einer sehr erregenden erotischen Fantasie, die er durch seine raffinierten Gebär­ den hervorgerufen hatte. Und ein paar Tage lang konnte ich nichts ande­ res tun, als an ihn zu denken, denken kann man das eigentlich nicht nen­ nen, es war mehr ein körperliches Erfahren. Sein großer, geschmeidiger Körper bedrängte mich von allen Seiten, er war über mir, unter mir, über­ all, er drohte mich zu zermalmen, ich konnte nicht mehr arbeiten und dachte entsetzt: Mein Gott, auf was habe ich mich da eingelassen, ich habe mich dorthin in psychologische Behandlung begeben, um ein wenig Klarheit über mich selbst zu gewinnen, und nun das, schlimmer, als ich es je erlebt habe. Und ich lebte ganz auf das nächste Mal bei ihm hin und hatte bezüg­ lich dieses Treffens sehr spezielle erotische Vorstellungen und das war das berüchtigte Mal mit der Turnhose unter dem Wollkleid und dem enor­ men Zusammenprall meiner wilden Fantasie mit seiner sachlichen Wirk­ lichkeit. Im Nachhinein begreife ich es schon. Er hatte sich zusammen­ genommen und verhielt sich bewusst sachlich, er hatte auch einen kleinen Kampf ausgefochten. Er fragte auch: «Haben Sie an mich gedacht diese ­Woche?», und da äußerte ich mich ein wenig nichtssagend und senkte den Kopf, und er sagte sehr ehrlich: «Ehrlich gesagt, habe ich die ersten Tage der Woche sehr viel an Sie gedacht.» Na ja, und dann wieder ein Ringkampf, aber darüber habe ich schon viel geschrieben, es war ekelhaft und es löste in mir eine Krise aus. Und dann dieser Brief an ihn, auf der ersten Seite, der jedoch vollkommen verlogen war, er weiß bis heute noch nicht, wes­ halb ich so erstarrt und sonderbar war, und denkt, dass es daher rührt, dass er mich sexuell so erregt hatte. Aber auch sein eigener Kampf mit sich selbst kam dann zum Vorschein. Er sagte: «Sie sind für mich auch eine Auf­

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und er erzählte, dass er trotz seines Temperaments nun schon seit zwei Jahren seiner Freundin treu ist. Aber ich empfand das als so neutral und sachlich, dass ich eine «Aufgabe» für ihn war, ich wollte «ich» sein für ihn, ich war das verwöhnte Kind, das diesen Mann «haben» wollte, ob­ wohl er mir tief in meinem Herzen zuwider war, aber ich hatte nun einmal in meiner Fantasie beschlossen, dass er mein Mann werden soll, dass ich ihn als Liebhaber kennenlernen wollte und damit basta. Sehr hoch war das Niveau, auf dem ich mich befand, noch nicht, aber das ist alles schon ­notiert. Und nun fühle ich, dass ich ihm «gewachsen» bin, dass mein Kampf und sein Kampf gleichwertig sind, dass die unreinen und die edleren Ge­ fühle sich auch in mir eine schwere Schlacht liefern. Aber dadurch, dass er sich dann so überrumpelnd plötzlich als Mann entpuppte und ungefragt seine Maske des «Psychologen» abstreifte und zum Menschen wurde, hat er ein wenig an Autorität eingebüßt, er hat mich reicher gemacht, aber er hat mir auch irgendwie einen kleinen Schock versetzt, mir eine Wunde zugefügt, die noch nicht gänzlich verheilt ist, die mir immer noch das Gefühl vermittelt, dass er ein Fremder ist: Wer bist du eigentlich und wer sagt dir, dass du dich um mich kümmern sollst? Von Rilke67 gibt es ein prächtiges Gedicht über diese Stimmung, ich hoffe es einmal wiederzufinden. gabe»,

Ich habe das Gedicht von Rilke, das ich im Kopf hatte, nach einigem ­Suchen gefunden. Vor Jahren hat Abrascha es mir vorgelesen, an einem Sommerabend auf dem Zuidelijke Wandelweg,68 und er fand damals aus irgendeinem unklaren Grund, dass es zu mir passte, und das rührte wahr­ scheinlich daher, dass ich für ihn trotz der Intimität stets eine Fremde blieb, und dieses Ambivalente in mir beginnt für mich deutlich zu w ­ erden, dies wiederum dank meiner Reiberei mit S. und der Art, wie ich damit zu Klarheit gelange. Es geht um die zwei letzten Zeilen: Und hörte fremd einen Fremden sagen: Ichbinbeidir – [Die Entführung. Oft war sie als Kind ihren Dienerinnen entwichen, um die Nacht und den Wind (weil sie drinnen so anders sind)

8. März 1941–4. Juli 1941 draußen zu sehn an ihrem Beginnen; doch keine Sturmnacht hatte gewiß den riesigen Park so in Stücke gerissen, wie ihn jetzt ihr Gewissen zerriß, da er sie nahm von der seidenen Leiter und sie weitertrug, weiter, weiter: bis der Wagen alles war. Und sie roch ihn, den schwarzen Wagen, um den verhalten das Jagen stand und die Gefahr. Und sie fand ihn mit Kaltem ausgeschlagen; und das Schwarze und Kalte war auch in ihr. Sie kroch in ihren Mantelkragen und befühlte ihr Haar, als bliebe es hier, und hörte fremd einen Fremden sagen: Ichbinbeidir.]69

abends 9 Uhr. Und doch ist er ein Schatz! Ich beginne langsam, ihn im richtigen Verhält­ nis zu sehen, bin nicht verliebt, aber schon sehr gefesselt, und er ist der erste würdige Partner, mit dem ich echt kämpfe. Wenn ich früher einen Mann toll fand, ließ ich mich meistens sofort auf ihn ein, der Kontakt war aber meistens eine Enttäuschung. Er ist der Erste, der selbst gegen Gefühle kämpft, die nicht rein sind, und er hat mich allein schon durch seine Per­ sönlichkeit auch zu kämpfen gelehrt. Jetzt gibt es Spannungen, Erfüllung, viele Möglichkeiten im Hintergrund und einen beachtlichen Kampf, der adelt. Tief in meinem Herzen bin ich stolz darauf, dass ich zu so einer Beziehung imstande bin. Wenn es mir gut geht, habe ich absolut nichts gemein mit derjenigen Person, die ich bin, wenn es mir schlecht geht. Gestern, als ich mich so gehetzt und elend fühlte, konnte ich nicht die geringste Kraft der vorange­ gangenen Tage aus mir selbst schöpfen. Es war so, als ob das jemand ganz anderes wäre, eine glückliche junge Frau, mit der ich nichts zu tun habe, und in so einem Moment glaubt man auch sicher, dass man nie wieder so glücklich und selbstsicher wird, wie man es war, und selbst wenn einem der Verstand sagt, dass man es wieder wird, glaubt man es trotzdem nicht. Und nun, da ich wieder proppenvoll mit hoffnungsvollem Leben und

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Kraft und wirklicher Lebensfreude bin, nun bin ich ein bisschen befrem­ det über diese Episode des unruhigen Missmuts von gestern Nachmittag. Und doch musste es mir gestern so miserabel gehen, um das zu werden, was ich heute bin, denn ich bin wieder ein Stückchen weitergekommen, ich habe seit heute Morgen wieder viel größere Klarheit und dadurch auch Sicherheit erlangt und so wird es auch immer weitergehen. Und jetzt werde ich mich ein wenig selbst mit Durant verwöhnen, eigentlich müsste ich dieses Altbulgarische machen, aber dazu fühle ich mich jetzt allzu gut. Heute nur ein wenig an mir selbst gearbeitet, aber morgen musst du wie­ der mit der richtigen Arbeit beginnen, sonst ist das alles sinnlos. Halte die Ohren steif, Mädchen! Dienstag, 25. März [1941], morgens 9 Uhr. Seine kräftige Unterlippe zitterte vor Wut. Dies ist schon sehr energisch, so am Morgen direkt nach dem Frühstück, aber so kommt es nun einmal aus meinem Füllfederhalter. Es war an diesem Musikabend und es ging um Politik. Eine negative Äußerung über das deutsche Volk. Und er dann plötzlich: «Aber das ist doch nicht ein ganzes Volk von Verbrechern.» Und sein schwerer Mund zitterte vor elementarer Wut. Ich saß dicht neben ihm und sah sozusagen greifbar die edle Entrüstung auf seiner schweren Unterlippe, die durch die gewaltigen inneren Kräfte erzitterte. Und ich fühlte dann auch wieder diesen sehr intensiv lebenden Menschen. Alle anderen waren so ein bisschen am Meckern über die Politik, weil das nun einmal zur Unter­ haltung gehört gegenwärtig, aber er fing jedes Wort (es ging um Berichte, die einer der Anwesenden direkt von deutschen Soldaten gehört hatte) mit seinem ganzen Wesen auf und reagierte mit seinem ganzen Wesen. Es ist etwas enorm Wichtiges in meinem Leben passiert, etwas von wahr­ lich grundsätzlicher Bedeutung: Ich schlafe zurzeit mit offenem Fenster! Ich muss dieses Gedicht von Jac. Bloem70 noch irgendwann nachschlagen, jeder Dichter drückt es immer noch besser aus als ich selbst. Und nun wieder Lermontow. halb 6. Es wäre tatsächlich besser, eine richtige Straßendirne oder eine echte Hei­ lige zu sein. Dann hast du Ruhe und weißt, woran du bist mit dir. Die Ambivalenz bei mir ist schon ziemlich schlimm. Vor Jahren schrieb ich in ein kindliches Tagebuch: Einerseits würde ich aus meinem Leben ein

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s­ tarkes und reines und tadelloses Ganzes machen wollen, und andererseits könnte ich mit dem erstbesten Mann ins Bett gehen, dem ich auf der Straße begegne. Und so ist es eigentlich immer noch. Ich weiß, dass ich mich morgen so verführerisch wie möglich schminken und anziehen werde, und dann werde ich ihm sagen, dass ich eine reine und gute Freundschaft will. Und während ich das sage und das auch wirklich so meine, werde ich gleichzeitig danach verlangen, dass er mich in seinen Armen erdrückt. So empfinde ich das nun. Gestern fühlte ich mich ihm gegenüber wirklich stark und sehr menschlich und jetzt ist wieder der Wurm drin. Als ich gerade auf der Couch lag, um mich auszuruhen, sah ich plötzlich seinen Kopf vor mir, so, wie er am Sonntagabend ausgesehen hatte: die Augen sehr tief und warm, mit einer Menge Geheimnisse darin, die ich kennenlernen will, und ein vollkommener, erfahrener Mann, mit einem langen Leben hinter sich und gleichzeitig sehr einfühlsam und durch und durch ein guter Mensch mit einer mühsam errungenen Frömmigkeit. Und dieser Anblick ist jetzt überall um mich herum und ist enorm verführerisch. Verrückt, und an demselben Abend hatte er auch Momente, in denen ich ihn durch und durch hässlich und alt und reizlos fand, und als er sang, war er für mich ein vollkommen Fremder, mit einem Mund, den ich lieber nicht angesehen habe, so unangenehm wirkte er auf mich. Nun ja, das Leben ist anstrengend. Aber sehen, was das morgen wird. abends 9 Uhr. Mein Gott, wie konnte das passieren? Van Wijk ist verschieden. Das ­Gefühl des Entsetzens ist so groß, dass ich völlig benommen bin. Und in den Abgrund, der plötzlich entstanden ist, kann man noch nicht einmal ­blicken. Ich begreife es nicht, ich begreife es nicht im Geringsten, sage ich fortwährend zu mir selbst. Es ist eine Welt des Wissens in sich zusammen­ gebrochen, unerwartet, plötzlich, geräuschlos. Das erscheint mir schlim­ mer als der ganze Krieg, wenn ich auch diese Worte später wohl einmal werde zurücknehmen müssen. In Deutschland sind Professoren in Kon­ zentrationslagern inhaftiert, es haben sich Professoren und Literaturwis­ senschaftler umgebracht, aber das geschah aufgrund der Auseinanderset­ zung mit dem Weltgeschehen, das war eine aktive Handlung, das war ein Teil der eigenen Geschichte, man kann hier Stellung beziehen, empört sein, agieren und manchmal hoffen, aber dies ist einfach unglaublich: nur so ein paar Tage krank und dann tot. Eine ganze Welt in sich zusammen­

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gebrochen und kann nie wieder aufgebaut werden. Er sagte an seinem Geburtstag noch so heiter und vergnügt: «Ich kann noch 10 Jahre weiter­ machen.» Und diese 10 Jahre sind für immer verloren. Eine Welt von Wis­ sen und Wissenschaft ist eingestürzt und die Lücke kann nicht mehr ­gefüllt werden. Dieser Mann war einzigartig in Europa und wird sich wahrscheinlich jahrzehntelang als unersetzbar erweisen. Unsere Slawistik hat den wichtigsten, eigentlich den einzigen Stützpfeiler verloren. Es ist so merkwürdig, ich habe eigentlich nur 3 Monate lang seine Vorlesung be­ sucht, und das nur eine einzige Stunde pro Woche, und doch ist auch für mich ein Teil der Welt in sich zusammengebrochen und ich betrachte alles entsetzt und benommen. Ich habe ihn erst bei meinem letzten Besuch bei ihm persönlich etwas lieb gewonnen, während der Streiks,71 als er Aimé72 plötzlich fragte: «Und, hast du nun doch einen Ofen in deinem Zimmer?» Und etwas später: «Ja, die Fahrt nach Den Haag kostet Geld, nicht? Sonst würde ich sagen, frage mal Zatskoy73 an.» Das war auf einmal so eine rüh­ rende Väterlichkeit von diesem Mann, der mit der Wissenschaft verhei­ ratet war, sodass ich ihn dann ins Herz geschlossen habe. Den letzten Be­ such werde ich überhaupt nicht vergessen. Ereignisreiche, stürmische Tage in der Politik, Streik, Aufregung, Angespanntheit, Enthusiasmus usw. Und dann, inmitten all dieser Ereignisse, das einfache, rührend altmodische Zimmer von van Wijk und er hinter dem lächerlich kleinen Schreibtisch, mit den vertikalen Stirnrunzeln, aber herzlicher als je zuvor und zutiefst besorgt über das, was an der Universität passierte, und er blieb trotzdem auf einem sehr gehobenen Niveau. Eigentlich unangenehm gestört in der wissenschaftlichen Tätigkeit durch all diesen Trubel, aber doch mit allem Anstand einer geistig hochstehenden Persönlichkeit sich solidarisch mit den Demonstranten erklärend.74 Und als mir im Verlauf des Gesprächs die Worte herausrutschten: «Nun ja, sofern mein Studium überhaupt noch zu etwas gut sein wird», da blickte er mich so ein bisschen erstaunt mit hoch­ gezogenen Augenbrauen an, wie wenn ich eigentlich eine Bemerkung ge­ macht hätte, die unter allem Niveau war, und sagte: «Nun ja, wenn der Pöbel einmal an die Macht kommt, dann hört natürlich alles auf.» Und mich beschlich darauf kurz das Gefühl, dass ich etwas enorm Or­ dinäres gesagt hatte und dass die Wissenschaft doch immer fortbestehen würde usw. Und er schüttelte mir die Hand im Zimmer und dann beglei­ tete er Aimé und mich noch den ganzen langen Gang hinunter, entlang der Bücherreihen, mit seinem hinkenden Bein, und bei der Tür gab er mir nochmals einen Händedruck, den letzten, und den werde ich niemals ver­

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gessen. Nicht, weil ich so eine starke persönliche Beziehung zu ihm hatte, sondern wegen der großen Ehrfurcht, die ich vor diesem Mann hatte, wes­ halb ich es stets als ein außerordentliches Privileg betrachtete, dort auf so einem knarrenden, niedrigen, runden Sessel in seinem Arbeitszimmer zu sitzen und in die linguistischen Geheimnisse eingeweiht zu werden. Das war etwas Einzigartiges, diese Vorlesungen bei ihm zu Hause. Die kleine Frau Verheij,75 die gutmütige dicke Emilie76 und ich auf diesem altmodi­ schen Sofa mit dem Spitzendeckchen auf der Rückseite. Der schwungvolle Hommerson,77 der stotternde kleine Russe Rodenko78 und der Gogol-­ artige, etwas finstere und teilnahmslose Aimé, verteilt auf die hundert­ jährigen Sessel. Und van Wijk auch in einem Sessel versunken. Und diese lachhaft kleine Wandtafel, direkt neben dem Flügel, vor die sich van Wijk immer in voller Breite hinstellte, sodass kein Sterblicher etwas von den vielen geheimnisvollen Zeichen lesen konnte, die er darauf schrieb. Und dieses Paneel über dem Kamin, gerammelt voll mit wild durcheinander aufgehängten, altmodischen Porträts. Und die vertrauten Köpfe von ­Tolstoi und Dostojewski. Und die alten Bäume im Garten, auf die wir hinausblickten. Und wir, die paar Studenten, wir empfanden uns als Aus­ erwählte, dass wir dort einfach so sitzen durften. Und van Wijk, sehr wort­ karg und nicht zu durchschauen, aber doch auch mit starken Stimmungs­ schwankungen, von äußerst freundlich bis hin zu sehr gletscherartiger Kälte. Dann war da eine Falte senkrecht zwischen den Augen und die Augen waren eiskalt, nicht unangenehm, sondern beinahe erhaben. Und ein Strahlen in den grauen Augen, wenn man etwas mit besonderem Inte­ resse fragte. Und die immer ein wenig ironische Stimme, wahrscheinlich eine Tarnung für die übergroße Schüchternheit. Mein Vater schrieb mir letzte Woche noch so treffend: «Geh doch bald wieder einmal zu van Wijk, du musst nicht so schüchtern sein, er ist min­ destens genauso schüchtern wie du.» Und so wird es auch gewesen sein. Dieses große Haus79 mit dem alten Garten (wo er mich an diesem Som­ merabend das erste Mal hinter einem Teetablett empfing), die imposante Haushälterin,80 der Ägypter,81 der Sanskrit beherrschte und mit dem er zusammenwohnte, nicht verheiratet, hinkend, genügsam, gänzlich mit der Wissenschaft verheiratet, immer bis tief in die Nacht am Arbeiten, dieser lächerlich kleine Schreibtisch, vollgestapelt mit Büchern und Papie­ ren, an dem er dann auch noch Platz finden musste, um zu arbeiten, der abgenutzte Flügel in der Ecke (er scheint sehr musikalisch gewesen zu sein), der lange Marmorgang, in dem – der einen Wand entlang – seine

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Bibliothek aufgereiht war. Das alles war eine separate Welt mit einer voll­ kommen eigenen Atmosphäre, eine kleine Oase der Ruhe und Frische und des Respekts vor der Wissenschaft und der Zuneigung für diese seltsame, einsame, sehr liebenswerte und doch irgendwo nicht zu durchschauende Person, weil er gänzlich einzigartig war. Und diese Welt ist zusammen­ gebrochen, ich kann es überhaupt noch nicht fassen. Dieses ungepflegte Städtchen Leiden mit seinen Grachten und Gässchen. Ich werde es ver­ missen. Und nach dieser Stunde, die meistens überzogen wurde, in diesem ruhigen Zimmer, landeten wir, d. h. Aimé, Jo82 und ich, bei Heck;83 wahr­ lich eine etwas andere Atmosphäre. Und dort haben wir dann allerlei un­ genießbares Zeug gegessen und noch Rückschau gehalten über van Wijk und uns in ihn vertieft, und wir tranken eine Tasse Kaffee und schlender­ ten ein wenig umher, und ich hatte ein gutes Gespräch mit Aimé über Gogol, und dann nicht zu vergessen Wils,84 das durch das Schicksal ge­ zeichnete Mädchen ohne Arme mit den prächtigen blauen Augen und dem aschblonden Haar; wie werde ich das alles vermissen. Aber das Ein­ zige, was nicht ersetzt werden kann, ist diese Welt des Wissens, die ver­ schwunden ist und von der wir noch alles hätten lernen sollen. Ich fühle mich in gewisser Hinsicht amputiert. Natürlich sind noch die Bücher da und der eigene forschende Geist, aber dieser Mann kann niemals ersetzt werden. Heute Nachmittag habe ich da so eine Geschichte über Huren und Heilige geschrieben, aber das ist doch belanglos im Vergleich zu dem Entsetzen, an dem ich nun leide. Da ich selbst noch so jung und voller unzerstörbarem Willen bin, mich nicht unterkriegen zu lassen, und da ich fühle, dass ich auch dazu beitragen kann, entstandene Lücken zu füllen, und spüre, dass ich auch die Kraft dazu habe, gelingt es einem selbst kaum zu realisieren, wie verarmt wir Jüngeren zurückbleiben und wie einsam wir dastehen. Oder ist es auch eine Art Betäubung? Bonger tot, ter Braak, du Perron, Marsman, Pos und van den Bergh85 und viele andere in einem Konzentrationslager usw. Auch Bonger ist für mich unvergesslich. (Merkwürdig, durch das Ster­ ben von van Wijk kommt das alles plötzlich wieder in mir hoch.) Wenige Stunden vor der Kapitulation. Und plötzlich die schwerfällige, ungelenke, unverwechselbare Gestalt Bongers, die sich dort an der Eisbahn entlang­ schob, eine blaue Brille auf und der schwere, seltsame Kopf zur Seite ge­ neigt, ausgerichtet auf die Rauchwolken, die von dort aus der Ferne über die Stadt zogen und von dem in Brand gesteckten Ölhafen86 stammten.

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Und dieses Bild, diese schwerfällige Gestalt mit dem schräg zu den Rauch­ wolken in der Ferne erhobenen Kopf, werde ich niemals vergessen. Und in einer spontanen Anwandlung rannte ich, ohne Mantel, zur Tür hinaus, hinter ihm her, holte ihn ein und sagte: «Guten Tag, Professor Bonger, ich habe in den letzten Tagen viel an Sie gedacht, ich gehe ein Stückchen mit Ihnen mit.» Und er blickte mich von der Seite durch die blaue Brille an und hatte keine Ahnung, wer ich war, trotz der zwei Prüfungen und dem Jahr Vorlesung, aber in diesen Tagen gingen die Menschen so vertraut mit­ einander um, dass ich dort in voller Freundschaft neben ihm her weiter­ spazierte. Ich erinnere mich nicht genau an das Gespräch. An diesem Mit­ tag begann genau diese Fluchtwelle nach England und ich fragte: «Denken Sie, dass es sinnvoll ist zu fliehen?» Und dann sagte er: «Die Jugend muss hierbleiben.» Und ich: «Glauben Sie, dass die Demokratie siegen wird?» Und er: «Die wird sicherlich siegen; aber das wird auf Kosten einiger Ge­ nerationen gehen.» Und er, der grimmige Bonger, war so wehrlos wie ein Kind, beinahe mild, und mich überkam plötzlich der unwiderstehliche Drang, meinen Arm um ihn zu legen und ihn wie ein Kind zu führen, und so, mit meinem Arm um ihn geschlungen, liefen wir am Eisfeld ent­ lang. Er wirkte irgendwie gebrochen und durch und durch gutmütig. Sämtliche Leidenschaft und Bissigkeit war erloschen. Mein Herz läuft über, wenn ich daran denke, wie er damals war: der Buhmann der Vor­ lesung. Und auf dem Jan Willem Brouwersplein verabschiedete ich mich, ich stellte mich plötzlich vor ihn hin, nahm eine seiner Hände in meine zwei Hände und er senkte so gutmütig diesen schweren Kopf ein wenig und blickte mich durch die blauen Gläser an, durch die ich seine Augen nicht sehen konnte, und sagte dann – es klang beinahe förmlich komisch: «Es war mir ein Vergnügen!» Und als ich am nächsten Abend bei Becker87 hineinschaute, war das Erste, was ich hörte: Bonger ist tot! Ich sage: «Das ist nicht möglich, ich habe gestern Abend um 7 Uhr noch mit ihm gespro­ chen.» Darauf Becker: «Dann sind Sie eine der Letzten gewesen, die mit ihm noch gesprochen haben.» Um 8 Uhr hatte er sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Und eines seiner letzten Worte war folglich an eine fremde Studentin gerichtet, die er gutmütig durch eine blaue Brille anblickte: «Es war mir ein Vergnügen!» Und Bonger ist nicht der Einzige. Eine Welt bricht gerade in sich zusam­ men. Aber die Welt wird sich weiterdrehen und ich drehe mich vorläufig

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noch mit, voll guten Mutes und guten Willens. Zwar bleiben wir doch ein bisschen arm zurück, aber ich fühle mich innerlich noch so reich, dass die Armut noch nicht vollkommen zu mir durchdringt. Dennoch muss man mit der gegenwärtigen wirklichen Welt eng in Kontakt bleiben und ver­ suchen, darin seinen Platz zu finden, man darf nicht nur mit den Ewig­ keitswerten leben, das könnte auch in eine Vogel-Strauß-Politik ausarten. Das Leben komplett auskosten, nach außen und nach innen, nichts von der äußeren Realität um der inneren willen aufopfern und auch nicht an­ dersherum, dies ist eine schöne Aufgabe. Und jetzt werde ich noch eine alberne Erzählung in der «Libelle»88 lesen und dann ins Bett. Und morgen muss wieder gearbeitet werden, an der Wissenschaft, am Führen des Haushalts und an mir selbst, es darf nichts vernachlässigt werden und man darf sich selbst auch nicht zu wichtig nehmen, und nun gute Nacht. дopoгиe poдитeпи,89

Mittwochmorgen, 26. März 1941.

ich kann euch nicht beschreiben, wie groß mein Entsetzen war beim Lesen der unerwarteten Todesnachricht von van Wijk. Das ist absolut nicht zu verkraften. Ich bin daraufhin direkt in einer Art benommenem Zustand zu Becker gerannt, der die Nachricht auch kaum glauben konnte und wollte. Eine Studentin aus Leiden schreibt mir gerade, dass er erst seit Samstag krank war. Es gibt letzten Endes in diesen Tagen so viel menschliches Leid und seit dem 10. Mai vermissen wir bereits viele Menschen, aber das ist etwas ganz anderes, es hat nichts mit den Umständen dieser Zeit zu tun, sondern hier ist vielmehr eine Welt des Wissens und der Wissenschaft ein­ fach so, plötzlich und geräuschlos, zusammengebrochen. Es ist kaum zu verstehen, wie das passieren konnte, es hat mich mehr beeindruckt als der ganze Krieg zusammen. Es ist beinahe ein düsteres Sinnbild davon, wie sehr die Kultur gerade im Untergehen begriffen ist. Ich erinnere mich noch an seine heiteren und vergnügten Worte an seinem sechzigsten ­Geburtstag: «Ja, meine Damen und Herren, ich darf noch bis zu meinem 70. Lebensjahr Vorlesungen halten und hoffe, das auch noch 10 Jahre tun zu können, oder denken Sie, dass ich ein langweiliger alter Mann sein werde?» Und diese verloren gegangenen 10 Jahre können schlichtweg durch nichts mehr ersetzt werden. Und die wissenschaftliche Lücke, die durch sein Verscheiden entstanden ist, wird jahrzehntelang nicht gefüllt werden können. Die Slawistik in Holland hat mit einem Schlag ihr ganzes

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Fundament verloren, und was in Zukunft aus der Slawistik werden wird, ist für mich noch nicht klar. Ich habe letzten Endes nur ein paar Monate lang Vorlesungen bei ihm besucht und meine persönliche Beziehung zu ihm war noch nicht eng, aber ich habe es dennoch immer als ein außergewöhnliches Privileg emp­ funden, dass ich dort einfach so in seinem rührend-altmodischen Arbeits­ zimmer auf einem knarrenden, niedrigen, runden Sessel sitzen durfte, und dass er sich dann bequemte, mir etwas Wissen beizubringen; die anderen Studierenden empfanden das übrigens genauso; wir saßen dort immer, er­ füllt von Ehrfurcht vor seinem unendlichen Wissen und von Stolz, dass er uns unterrichten wollte. In den nächsten Tagen wird in seinem Haus eine russische Messe ge­ lesen werden, zu der ich natürlich hingehe, und dann am Samstag das Begräbnis. Danach hoffe ich noch Kontakt zu ein paar Studierenden in Leiden pflegen zu können, mit denen ich in diesen paar Monaten schon eine Art Beziehung aufgebaut habe. Und nun ist genug für diese Woche, ich bin zu sehr beschäftigt mit diesem für mich eigentlich ersten großen Verlust, als dass ich jetzt noch über etwas anderes schreiben könnte. Nächste Woche wieder etwas fröh­ lichere Klänge! Tschüss! Etty Freitag, 8. Mai [1941], 3 Uhr nachmittags, im Bett. Ich muss mich wieder einmal um mich selbst kümmern, daran gibt es nichts zu rütteln. Ein paar Monate lang habe ich dieses Heft nicht benötigt, das Leben war so klar und hell in mir und intensiv, Kontakt zur Außen- und Innen­ welt, Bereicherung des Lebens, Weiterentwicklung der Persönlichkeit; der Kontakt mit den Studierenden in Leiden: Wils, Aimé, Jan;90 das Studium, die Bibel, Jung91 und dann wieder S. und immer wieder S. Aber jetzt ist es wieder alles zum Stillstand gekommen, eine etwas ge­ trübte Unruhe; es ist eigentlich überhaupt keine Unruhe, dazu bin ich wieder zu down. Vielleicht ist es auch einfach nur körperliche Ermüdung, unter der alle in diesem feuchtkalten Frühling so sehr zu leiden haben, die dazu führt, dass die Dinge um mich herum keine Resonanz in mir hervor­ rufen. Aber ich weiß schon, dass es eigentlich das ungeklärte, merkwürdige

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Verhältnis zu S. ist, das mir Sorgen bereitet. Und ich werde mich selbst wieder einmal bei jedem Schritt im Auge behalten. Ich könnte natürlich schon einige interessante Plattitüden über meine Ge­ fühle für ihn aufzählen, z. B.: Es wird der schwerste Tag meines Lebens sein, wenn er mich verlässt. Aber wenn er mich darum bitten würde, im­ mer bei ihm zu bleiben, dann würde ich sicherlich sagen: nein. Und jetzt werde ich ein ausgiebiges Nickerchen machen, das ist der Anfang aller Weisheit. Ich bin jetzt zumindest wieder in Form und ich werde schon ir­ gendwann ganz allein Klarheit in dieses trübe Chaos bringen. Ich benötige S. dazu nicht; das ist gerade das Verrückte: Unser gemein­ sames Verhältnis ist meine Privatsache und es ist auch seine Privatsache, aber ist es nicht unsere gemeinsame «Sache»? Und das bereitet mir dieses unsichere Gefühl. Selbst nach der wildesten und auch der zärtlichsten Umarmung spüre ich noch eine Seltsamkeit, und wenn er manchmal am Ende eines Abends sagt: «Es war schön», dann stößt dies bei mir nicht auf Resonanz, dann fühle ich mich nur unsagbar traurig und einsam. 8 Uhr abends. Der Mensch sucht immer nach der erlösenden Formel, nach einem Ord­ nung schaffenden Gedanken. Als ich gerade ein wenig mit dem Fahrrad durch die Kälte radelte, dachte ich plötzlich: Vielleicht mache ich alles viel zu kompliziert und will den nüchternen Fakten nicht ins Auge blicken. Eigentlich ist es so: Ich bin überhaupt nicht verliebt in ihn und ich liebe ihn auch nicht. Er fesselt mich, manchmal fasziniert er mich auch als Mensch, und ich lerne unbeschreiblich viel von ihm. Seit ich ihn kenne, mache ich einen Reifeprozess durch, von dem ich mir in diesem Alter niemals hätte träumen lassen. Mehr ist da eigentlich nicht. Aber jetzt kommt die verdammte Erotik hinzu, von der er brechend voll ist, und ich auch. Dadurch werden wir körperlich unwiderruflich aufeinander zuge­ trieben, obwohl wir es doch beide nicht wollen, wie wir früher schon ein­ mal ausdrücklich zueinander gesagt haben. Aber nun war da z. B. dieser Sonntagabend, ich glaube, es war der 21. April; es war zum ersten Mal, dass ich einen ganzen Abend bei ihm war. Wir sprachen, d. h. er sprach, über die Bibel, später las er etwas aus Thomas a Kempis92 vor, während ich auf seinem Schoß saß, das ging alles noch gut, da war kaum Erotik im Spiel, sondern eine Menge menschliche und freundschaftliche Wärme. Aber später war plötzlich sein Körper über

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mir und ich lag lange in seinen Armen, und erst dann wurde ich traurig und einsam, er küsste meine weißen Schenkel und ich wurde immer ein­ samer. Er sagte: «Es war schön», und ich ging mit einem bleischweren, betrübten und einsamen Gefühl nach Hause. Und daraufhin begann ich mir wahnsinnig interessante Theorien über meine Einsamkeit aufzustellen: Aber kann es nicht einfach daran liegen, dass ich mich nicht mit meinem tiefsten Wesen unserem körperlichen Kontakt hingeben kann? Ich liebe ihn ja nicht wirklich. Und ich weiß, dass es sein Ideal ist, einer einzigen Frau treu zu sein, und diese Frau lebt nun zufällig in London, aber es geht um das Prinzip. Wenn ich eine wirklich große und bedeutende Frau wäre, würde ich jeglichen Körperkontakt zu ihm unterlassen, denn dieser macht mich eigentlich im innersten Wesen nur unglücklich. Aber ich bringe es noch nicht übers Herz, auf all die Möglichkeiten mit ihm zu verzichten, die dadurch verloren gehen. Und ich glaube, dass ich fürchte, ihn in sei­ nem männlichen Ehrgefühl zu verletzen, das er doch auch in gewisser Hinsicht haben wird. Aber die Freundschaft würde wahrscheinlich ein viel höheres Niveau erreichen und letztendlich wäre er mir dankbar, dass ich ihm geholfen hätte, seine Treue zu der einen Frau zu halten. Aber ich bin halt auch nur ein winziges und begieriges Menschlein. Ab und zu möchte ich wieder in seinen Armen liegen, und dennoch werde ich dort nur wie­ der unglücklich. Es kommt wahrscheinlich auch noch kindische Eitelkeit hinzu. So etwas im Sinne von: All die Mädchen und Frauen um ihn ­herum sind verrückt nach ihm, aber ich, die ich ihn am kürzesten kenne, bin die Einzige, die mit ihm so intim ist. Wenn wirklich ein solches Gefühl in mir vorhanden ist, ist das äußerst verabscheuenswert. Eigentlich laufe ich große Gefahr, durch die Erotik die Freundschaft zu zerstören. Denn dadurch, dass ich mich körperlich nicht ganz so geben kann, wie ich bin, weil ich es in meinem innersten Wesen doch nicht will, dadurch gerate ich schon auch mal in eine erzwungene Weise des Handelns: Ich wende Tricks und Kniffe und erotische Raffinessen an, die aber nicht natürlich sind, die folg­ lich bei mir selbst keine Resonanz hervorrufen, und deshalb bleibe ich auch so einsam. Und dadurch, dass ich nicht ganz natürlich bin, werde ich unsicher, fürchte mich davor, ihn zu enttäuschen oder zu versagen, verliere dadurch meine Unbefangenheit ihm gegenüber, gehe nicht mehr mit so viel Freude zu ihm hin, weil ich schon im Voraus denke: Was wird nun wieder geschehen? Und daher vielleicht auch wieder diese Müdigkeit. Ich werde mir selbst dennoch versprechen, dass ich versuche, so natür­ lich wie möglich zu sein, bei ihm kann ich das schon sein. Ich merke, dass

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ich im Moment dabei bin, dies unkonzentriert und ohne Freude und ­eigentlich ohne ein inneres Bedürfnis aufzuschreiben. Ich werde schon wieder zu Jung gezogen. Die Arbeit wird immer wichtiger. Ich konnte mich selbst all diese Zeit ziemlich vergessen und ich hoffe, dass ich dieses Heft vorläufig nicht benötigen werde, die Zeit dazu fehlt mir, weil der Rest wichtiger für mich ist. Aber es gäbe so fürchterlich viel zu schreiben, so viele Details, die ich gern für mich selbst für später aufzeichnen würde, aber wenn das nicht mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit geschieht, kann ich es gerade so gut sein lassen. Und nun aber an die Arbeit. 8. Juni [1941], Sonntagmorgen, halb 10. Ich glaube, dass ich es einfach mal tun sollte: morgens vor Beginn der ­Arbeit eine halbe Stunde «mich nach innen wenden», horchen, was in mir drin ist. «Sich versenken». Man kann es auch meditieren nennen. Nur finde ich dieses Wort noch ein bisschen gruselig. Aber weshalb eigentlich nicht? Eine ruhige halbe Stunde mit mir selbst. Es reicht nicht aus, mor­ gens im Badezimmer nur deine Arme und Beine und alle anderen Mus­ keln zu bewegen. Der Mensch ist Körper und Geist. Und so eine halbe Stunde Gymnastik und eine halbe Stunde «Meditation» können zusam­ men ein solides Fundament der Ruhe und Konzentriertheit für den gan­ zen Tag bilden. Aber es ist nicht so einfach, so eine «stille Stunde». Das will gelernt sein. Der ganze kleinbürgerliche Kram, alles Überflüssige muss dann innerlich weggefegt werden. Letzten Endes ist in so einem kleinen Kopf immer so eine Menge Unruhe für nichts. Erbauliche und befreiende Gefühle und Gedanken gibt es dort zwar auch, aber der überflüssige Kram ist immer dazwischen. Und lass dies dann das Ziel dieses Meditierens sein: dass du innerlich eine einzige, große, weite Ebene wirst, ohne das heim­ tückische Gestrüpp, das die Sicht behindert. Dass also etwas von «Gott» in dich fährt, so wie in Beethovens Neunter etwas von «Gott» steckt. Dass auch eine Art «Liebe» entsteht, nicht so eine Luxus-Liebe von einer halben Stunde, in der du herrlich schwelgst, stolz auf deine eigenen erhabenen Gefühle, sondern eine Liebe, mit der du etwas in der kleinen alltäglichen Praxis anfangen kannst. Ich könnte natürlich jeden Morgen in der Bibel lesen, aber ich glaube, dass ich dazu noch nicht bereit bin, dass die innere Ruhe dazu noch nicht groß genug ist, und ich versuche auch noch zu viel, mit meinem Gehirn die Bedeutungen dieses Buches zu erfassen, sodass keine Vertiefung mög­ lich ist.

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Ich denke, dass ich jeden Morgen einfach etwas in «The Mansions of Philosophy» lesen werde. Ich könnte mich natürlich auch auf ein paar Worte auf diesen blauen Linien beschränken; auf ein wenig Geduld, um einen einzigen Gedanken etwas eingehender auszuarbeiten, auch wenn dies keine so wichtigen Gedanken sind. Früher konntest du vor lauter Ehrgeiz nie etwas aufschreiben. Es musste und sollte sofort etwas Groß­ artiges, etwas Perfektes sein, und du hast dich nicht getraut, dir zu erlau­ ben, einfach so mal etwas aufzuschreiben, auch wenn du manchmal fast geplatzt bist vor lauter Verlangen danach. Ich möchte dich darum bitten, nicht so häufig in den Spiegel zu ­blicken, du dussliges Dummerchen. Es muss schrecklich sein, wenn man sehr schön ist, man kommt dann nicht an sein Inneres heran, weil man dann zu sehr durch das blendende Äußerliche beansprucht wird. Die Mit­ menschen reagieren dann auch nur auf das schöne Äußere, sodass man vielleicht innerlich gänzlich zusammenschrumpft. Die Zeit, die ich aufwende, um vor dem Spiegel zu stehen, weil mich manchmal plötzlich ein witziger oder spannender oder interessanter Aus­ druck meines wirklich nicht so besonders schönen Gesichts berührt, diese Zeit könnte ich besser nutzen. Diese Gafferei nach mir selbst ärgert mich enorm. Manchmal finde ich mich zwar selbst schön, aber das rührt auch von der schummrigen Beleuchtung im Badezimmer her; aber in solchen ­Momenten, in denen ich mich selbst hübsch finde, kann ich mich von meinem eigenen Bildnis nicht losreißen, dann schneide ich mir selbst Gri­ massen im Spiegel, stelle meinen Kopf in allerlei Positionen vor meinen eigenen entzückten Blicken zur Schau, und meine liebste Fantasie ist ­dabei dann, dass ich an einem Tisch in einem Saal sitze, das Gesicht auf den Saal gerichtet, und dass alle mich anschauen und mich schön finden. Du sagst zwar immer, dass du dich selbst ganz vergessen willst, aber solange du noch so voller Eitelkeit und Fantasie bist, hast du es noch nicht sehr weit gebracht mit dem Sich-selbst-Vergessen. Auch wenn ich am Arbeiten bin, überkommt mich manchmal plötz­ lich das Verlangen, mein eigenes Gesicht zu sehen, ich nehme dann meine Brille ab und schaue in die Brillengläser. Manchmal ist es eine richtige Zwangshandlung. Und ich bin dabei sehr unglücklich, weil ich fühle, wie sehr ich mir selbst noch im Weg bin. Und es hilft auch nichts, dass ich mich selbst von außen dazu zwinge, mich im Spiegel nicht an meinem ­eigenen Antlitz zu ergötzen. Es muss von innen heraus eine gewisse Gleich­

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gültigkeit gegenüber meinem Äußerlichen kommen, es darf mich nicht kümmern, wie ich aussehe, ich muss noch viel «innerlicher» leben. Auch bei den anderen achtest du manchmal noch zu viel auf das Äußere, ob je­ mand «hübsch» ist oder nicht. Es geht letzten Endes um die Seele oder das Wesen – oder wie man es auch immer nennen will – des Menschen, das durchscheint. Wenn du aus deinem Leben wirklich ein makelloses und ernsthaftes und großes Ganzes machen willst, Mädchen, dann wirst du dir eine Menge abgewöhnen und eine Menge Dinge ernsthafter anpacken müssen. Dann wirst du auch deine Zeit besser einteilen müssen und nicht so viel Zeit verlieren mit Kleinigkeiten. Dann musst du ehrlich Rechenschaft ablegen über viel Unklares, das noch in deiner Seele herumgeistert. Dann musst du weiterhin immer Rechenschaft über dich selbst ablegen. Dann darfst du nicht unkontrolliert leben. Wenn du später noch anderen beibringen willst zu leben, dann musst du dir zuerst dich selbst vorknöpfen. Du musst zuerst selbst zu einer psy­ chischen «Hygiene» gelangen. Jung nennt dies, glaube ich, irgendwo psy­ chologisch «stubenrein»93 werden. Du befindest dich erst noch am Anfang, aber immerhin hast du überhaupt einen Anfang gemacht und das ist schon mal eine ganze Menge. Montagmorgen [9. Juni 1941], halb 10. Ein Mensch darf einen anderen Menschen niemals zum Mittelpunkt des eigenen Lebens machen. Ich muss mir dies stets wieder vor Augen halten. Wenn man an den anderen gebunden ist, absorbiert der andere deine Kräfte und man kann daher weniger für den Partner da sein. Man muss eine selbstständige Welt sein, mit einem eigenen Zentrum, und aus diesem Zentrum heraus kann man dann seine Strahlen oder Kräfte oder was auch immer zu den anderen senden. Gestern war ich sehr stark an S. gebunden. Und ich fühlte meine Kräfte schwinden. Und daher konnte ich auch nicht so intensiv mit ihm umgehen wie sonst. Ich begehrte ihn auch zu sehr körperlich. Und es war eigentlich kein erotisches Verlangen, aber ich gewinne ihn allmählich als Menschen so wahnsinnig lieb, dass ich das Bedürfnis verspürte, sehr dicht bei ihm zu sein. Ich sehnte mich mehr nach dem Menschen als nach dem Mann. Und es war nun eigentlich das erste Mal, dass ich ihn nicht als den

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sinnlichen Mann empfand und dass ich mich nicht einsam fühlte, als ich nicht mehr in seinen Armen war. Aber unmittelbar auch die Gefahr, dass ich mein Herz zu stark an ihn hänge, und direkt wieder die Erkenntnis: Ich muss mich von ihm freikämpfen, ich muss mein eigenes Leben leben, ich bin noch am Anfang und er befindet sich bereits im Endstadium; jedes Mal wieder muss ich alle Fäden durchschneiden, die jedes Mal wieder zwi­ schen ihm und mir wachsen. Es bereitet mir eine Menge Schmerzen und kostet mich viel Kraft, aber wenn ich diesen Kampf zu Ende bringen kann, werde ich stärker als je zuvor in meinem Leben sein. Gestern Nachmittag mitten in einem Gespräch: «Ja, meditieren, das ist schön.» So etwas klingt bei ihm nicht sentimental oder mystisch oder über­ trieben, sondern ernst und beinahe sachlich. Ich werde ihn das nächste Mal, sehr kindisch vielleicht, fragen: «Wie macht man das, meditieren? Kann ich das auch lernen?» Wenn man gelernt hat, sich in sich selbst zu «versenken», dann wird man sich auch ganz in jemand anderen oder in seine Arbeit versenken können, man wird dann ruhiger und man verzettelt sich weniger, so stelle ich mir das zumindest vor. Dienstagmorgen [10. Juni 1941], 9 Uhr. Nicht denken, sondern zuhören, was in dir drin los ist. Wenn du das mor­ gens, bevor du dich an die Arbeit machst, eine Zeit lang machst, dann bringt das eine Ruhe, die den ganzen Tag erhellt. Eigentlich solltest du so in den Tag starten, bis die letzten Fetzen der Grübelei und der kleinlichen Gedanken aus deinem Kopf weggefegt sind. So, wie man morgens Staub und Spinnengewebe aus dem Zimmer fegt, so hast du dich selbst morgens innerlich zu reinigen. Und dann erst kannst du mit deiner Arbeit be­ ginnen. Aus einem Vortrag von Jung: «Analytische Psychologie und Weltanschau­ ung»:

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«… Die analytische Psychologie ist in diesem Sinne eine Reaktion gegen eine übertriebene Rationalisierung des Bewußtseins, das, im Bestreben, ge­ richtete Prozesse zu erzeugen, sich gegen die Natur isoliert und so auch den Menschen seiner natürlichen Geschichte entreißt und in eine rational begrenzte Gegenwart verpflanzt, die sich über die kurze Zeitspanne zwischen Geburt und Tod erstreckt. Diese Beschränkung erzeugt das Gefühl von Zufälligkeit und

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Tagebücher Sinnlosigkeit, und dieses Gefühl ist es, das uns verhindert, das Leben mit jener Bedeutungsschwere zu leben, die es verlangt, um völlig ausgeschöpft zu werden. Das Leben wird flach und stellt den Menschen nicht mehr völlig dar.» «Das Leben mit jener Bedeutungsschwere zu leben, die es verlangt, um völlig ausgeschöpft zu werden.»

Genau so lebt S., er lebt uns dieses Leben gleichsam vor und darum darf er uns auch lehren, wie wir leben müssen, weil er selbst alles lebt, was er lehrt. – Bedeutungsschwere – Es hat in mir auch schon ein Gefühl der Schwermut hervorgerufen bei ihm, wie wenn er zu intensiv lebte, wie wenn es ihm an Leichtigkeit fehlte. Aber das lag an mir. Es ist nur unsere Feigheit und Unentschlossenheit, die uns daran hindert, das Leben «mit jener Bedeutungsschwere zu erleben, die es verlangt». Es kann nicht ausge­ zeichneter formuliert werden und S. kann mit diesen Worten am besten charakterisiert werden. Und es sind nicht seine Worte, die mich haupt­ sächlich verändert haben, sondern es ist seine Art zu leben, in die er ande­ ren so freizügig und «großzügig» einen «Einblick» gewährt. Man muss ­ständig sein Herz «ausbauen», damit darin Platz für viele ist. Die meisten Menschen haben nur wenig Platz in ihrem Herzen. Wenn sie jemand Neues ins Herz einschließen, müssen die anderen wieder hinaus. Man muss dafür sorgen, dass einer nicht zu kurz kommt auf Kosten der anderen. Dafür muss man sehr viel Liebe besitzen. Wenn die Auf­ merksamkeit auf ein neues Gesicht gelenkt wird, darf man nicht plötzlich all die alten Gesichter vergessen. Wenn ein starkes Gefühl für einen bis­ lang nicht bekannten Menschen geweckt wird, dann dürfen die Gefühle für die alten Freunde nicht schwächer werden. Dazu kann man sich selbst erziehen. Wenn man sich viel aus jemandem macht, dann muss man sich davor in Acht nehmen, dass man nicht all seine Energie in den anderen steckt, sonst bleibt für keinen anderen mehr etwas übrig. In wirklich g­ uten menschlichen Beziehungen schöpft man gerade Kraft aus der Liebe oder Freundschaft, die man für den anderen empfindet. Man muss gegenüber allen gerecht sein, man darf nicht zulassen, dass einer zu kurz kommt auf­ grund eines zu starken Gefühls für einen anderen. Das erfordert viel Kraft und viel Liebe. 11. Juni [1941], Mittwochmorgen, halb 10. Schon wieder Jung am «frühen» Morgen. «… Denn höher als der Selbstzweck der Wissenschaft oder Kunst steht der Mensch, der Schöpfer seiner Werkzeuge. Nirgends stehen wir näher dem vor­

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8. März 1941–4. Juli 1941 nehmsten Geheimnis aller Ursprünge als in der Erkenntnis des eigenen Selbst, das wir immer schon zu kennen wähnen. Aber die Tiefen des Weltraumes sind uns bekannter als die Tiefen des Selbst, wo wir das schöpferische Sein und Wer­ den fast unmittelbar belauschen können, allerdings ohne es zu verstehen.»

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Die Landschaft, die der Mensch in sich trägt, sucht er auch außerhalb. Vielleicht habe ich deshalb immer dieses merkwürdige Verlangen nach den weiten russischen Steppen verspürt. Meine innerliche Landschaft be­ steht aus großen, weiten Ebenen, unendlich weit, mit kaum einem Hori­ zont in Sicht; eine Ebene geht über in eine andere. Und wenn ich so zu­ sammengesunken auf diesem Stuhl sitze, den Kopf sehr tief geneigt, dann streife ich über diese blanken Ebenen, und wenn ich eine Weile so sitzen bleibe, stellt sich bei mir ein wohltuendes Gefühl der Unendlichkeit und der Ruhe ein. Die Innenwelt ist genauso real wie die Außenwelt. Man sollte sich ­dessen bewusst sein. Sie hat auch ihre Landschaften, ihre Konturen, ihre Möglichkeiten, ihre unbegrenzten Gebiete. Und man ist selbst das kleine Zentrum, in dem die Innen- und Außenwelt aufeinandertreffen. Die bei­ den Welten ernähren sich gegenseitig, man darf nicht die eine auf Kosten der anderen vernachlässigen, die eine nicht als wichtiger erachten als die andere. Sonst ruiniert man die eigene Persönlichkeit. Sehr viele Menschen empfinde ich als halbiert und mehr oder weniger entstellt. Das rührt wahrscheinlich daher, dass diese die Innenwelt nicht bewusst als solche erkannt haben. Ab und zu machen sich schon Kräfte aus dieser Innenwelt geltend, und diese verhelfen den Menschen auch dann und wann zu einer gewissen Erweiterung des Horizonts und zu einer Ahnung von größerer Bedeutung, aber es ist alles zu unorganisiert, zu chaotisch, kaum bewusst. Die Innenwelt ist bei ihnen ein brachliegendes, unerforschtes Terrain, und sie machen sich nicht die Mühe, daran zu arbeiten. Es ist kein anerkanntes reales Gebiet. Und ich spüre dann eine Art Drang in mir aufsteigen, damit zu beginnen, dieses Terrain urbar zu machen und Ordnung zu schaffen und ins Bewusstsein zu rücken. Vielleicht sollte das auf die Dauer doch mein Lebensinhalt und mein Tätigkeitsbereich werden? Freitagvormittag [13. Juni 1941], 10 Uhr. Frans über den Gesang von S.: «Er singt wie ein alter Löwe, der auf eine Gillette-Rasierklinge tritt.»96 Und über Henny:97 «Wie ein Schaukelpferd, das zwinkert.» Und: «Sie

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ist so ‹schelmisch›», und: «Wenn ich mit ihr auf einer unbewohnten Insel säße, würde ich ein Floß bauen», und: «Auf diese Art und Weise ist es keine Kunst, gut zu sein, es fehlt ihr nur der Antrieb dazu, schlecht zu sein.» Usw. S. über Frans:98 «Der Mensch steht nicht zu sich selber. Er ist gespalten und lebt auch diese Zerspaltenheit. Ein sehr schwieriger Fall. Er hat kein Zentrum. Schillernd.»

Und über seine Arbeit: «Sehr stark im Ausdruck.» Gera:99 «Wenn eine alte, knorrige Eiche singen könnte, dann würde sie so singen wie S. Aber lasst ihn nur, das ist gut für ihn, und es erspart ihm wiederum einige ‹Ring›-Kämpfe.» Manchmal empfinde ich ihn als wirklich großartig, beinahe erhaben, in seinem Ernst und in seinem ewigen Kampf mit und um sich selbst. Manch­ mal empfinde ich ihn als übermütiges Kind und entwickle dann so ein angenehmes mütterliches Gefühl für ihn. Als er dort letztens auf dieser Brücke stand und auf mich wartete, emp­ fand ich ihn als nicht mehr allzu jungen Gott, aber noch voller Kraft, da erlag ich sehr stark seinem Charme als Mann. In den letzten Tagen bin ich am stärksten berührt von seiner Gut­ mütigkeit, einer Art kindlicher Gutherzigkeit, und er wirkt auf mich über­ haupt nicht als Mann, sondern mehr als Vater und Mensch. Gestern Vor­ mittag bei dem russischen Salat fand ich ihn auf einmal ein bisschen kindisch und eingebildet: «Wenn ich wollte, könnte ich von diesem Fräulein auch alles ohne Bon bekommen, aber ich will nicht.»

Ich muss ihn das nächste Mal doch mal fragen, wie er in seinem Alter überhaupt auf solche albernen Ideen kommt. Aus Rittelmeyer:100 «Was dem Menschen zu allererst geschenkt wird, das ‹Leben›, das muß er auf der höchsten Stufe am allerschwersten erringen: das ‹Leben›. Zwischen dem ‹Leben›, das wir empfangen haben, und dem ‹Leben›, das wir empfangen sollen, pendelt unser ‹Leben›, das wir jetzt führen oder auch nicht ‹führen›. Wäre nur erst einmal in uns das Gewissen dafür erwacht, daß wir das bischen höheres Leben, das da und dort einmal in uns aufleuchtet, nicht wieder unter­ gehen lassen, würden wir nicht immerfort ‹keimendes Leben vernichten›, dann würden wir langsam höher und höher kommen.»

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Samstag, 14. Juni [1941], 7 Uhr abends. Wieder Verhaftungen, Terror, Konzentrationslager, willkürliches Abholen von Vätern, Schwestern, Brüdern.102 Man sucht nach dem Sinn des ­Lebens und fragt sich, ob das Leben überhaupt noch einen Sinn hat. Aber das ist eine Sache, die man mit sich allein und Gott ausmachen muss. Und vielleicht hat jedes Leben seinen eigenen Sinn und es dauert ein ganzes Leben, diesen Sinn herauszufinden. Jetzt habe ich jedenfalls jeglichen Be­ zug zu den Dingen und dem Leben verloren und habe das Gefühl, dass alles zufällig ist und dass man sich innerlich von allen trennen und zu ­allem Abstand halten muss. Es erscheint alles so bedrohlich und Unheil verkündend und dazu die große Machtlosigkeit. Sonntagvormittag [15. Juni 1941], 12 Uhr. Wir sind bloß hohle Gefäße, von der Weltgeschichte durchgespült. Alles ist Zufall oder nichts ist Zufall. Wenn ich an Ersteres glaubte, könnte ich nicht leben, aber auch von Letzterem bin ich noch nicht überzeugt. Ich bin wieder ein kleines bisschen stärker geworden. Ich kann die Dinge in mir mit mir selbst ausmachen. Zuerst ist schon der Hang dazu da, bei anderen Hilfe zu holen, zu denken: «Ich schaffe das nicht», aber auf ein­ mal merkt man, dass man sich wieder durch etwas durchgekämpft hat und dass man das allein geschafft hat, und das macht einen wieder stärker. Am letzten Sonntag (da liegt kaum eine Woche dazwischen) hatte ich das verzweifelte Gefühl, dass ich an ihn gefesselt sei und dass daher für mich eine todunglückliche Zeit anbrechen würde. Aber ich habe mich losgeris­ sen, ich verstehe nur nicht, wie. Nicht dadurch, dass ich mit mir selbst diskutiert habe, sondern ich habe mit allen mentalen Kräften an einem eingebildeten Seil gezogen, ich habe getobt und mich gewehrt und auf einmal spürte ich, dass ich wieder frei war. Und danach kam es auch zu ein paar kurzen Begegnungen (abends auf dieser Bank an der Stadionkade, beim Einkaufen in der Stadt), die äußerst intensiv waren, zumindest für mich, und diese Intensität war stärker als je zuvor. Das rührte von diesem befreiten Gefühl her; all meine Liebe und mein Verständnis und mein Interesse und meine Fröhlichkeit waren auf ihn ausgerichtet, aber ich stellte an ihn keine Forderungen, ich wollte nichts von ihm, ich nahm ihn so, wie er war, und genoss ihn. Ich möchte nur gerne wissen, wie ich es fertiggebracht habe, mich los­

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zureißen. Es ist ein Prozess, der mir noch nicht klar ist. Mir muss dies deshalb klar werden, weil ich anderen, die die gleichen Schwierigkeiten haben, dann später vielleicht helfen kann. Vielleicht kann ich es tatsäch­ lich am besten vergleichen mit jemandem, der mit einem Seil an jemand anderem festgebunden ist und der so lange reißt und zieht, bis er sich los­ gerissen hat. Er selbst wird vielleicht später auch nicht berichten können, wie er freigekommen ist, er weiß nur, dass er den Willen hatte, sich loszu­ reißen, und dass er alle Kräfte darauf verwendet hat. So wird es mir in psychischer Hinsicht ergangen sein. Folgendes habe ich auch daraus gelernt: Das Erörtern nützt nichts, sich selbst darüber klar werden, wie alles zusammenhängt, und nach der Ursache zu suchen, hilft auch nicht; man muss einfach psychisch etwas tun, Energie aufwenden, um ein Ergebnis zu erzielen. Gestern habe ich einen Moment lang gedacht, dass ich nicht weiterleben könnte, dass ich Hilfe nötig hätte. Ich konnte den Sinn des Lebens und den Sinn des Leidens nicht mehr sehen, ich hatte das Gefühl, unter einem gewaltigen Gewicht «zusammenzubrechen», aber auch dadurch habe ich mich durch etwas hindurchgekämpft, sodass ich plötzlich wieder weiter­ machen konnte, und zwar stärker als früher. Ich habe versucht, dem «Lei­ den» der Menschheit direkt und ehrlich ins Auge zu schauen, ich habe mich damit auseinandergesetzt, oder besser gesagt: Irgendetwas in mir hat sich damit auseinandergesetzt, auf viele verzweifelte Fragen wurden Ant­ worten gefunden, die große Sinnlosigkeit hat wieder Platz gemacht für etwas mehr Ordnung und Zusammenhang und ich kann wieder weiter­ machen. Es war wieder eine kurze, aber heftige Schlacht, aus der ich ein winziges bisschen reifer hervorgegangen bin. Ich sage, dass ich mich mit «dem Leiden der Menschheit» (mir graut noch immer vor diesen großen Worten) auseinandergesetzt habe. Aber das ist es eigentlich nicht. Ich fühle mich eher wie ein kleines Schlachtfeld, auf dem die Probleme oder ein einziges Problem dieser Zeit ausgefochten wird. Das Einzige, was man tun kann, ist, sich selbst demütig zur Ver­ fügung zu stellen und sich selbst zum Schlachtfeld machen zu lassen. Diese Probleme müssen doch eine Unterkunft haben, sie müssen doch ­einen Ort finden, wo sie kämpfen und zur Ruhe kommen können, und wir armen kleinen Menschen müssen unseren Innenraum für sie öffnen und dürfen nicht davonlaufen. Ich bin vielleicht, was dies betrifft, schon sehr gastfreundlich, in mir ist da manchmal ein äußerst blutiges Schlacht­

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feld, und der Tribut dafür sind ab und zu eine übergroße Müdigkeit und starke Kopfschmerzen. Aber jetzt bin ich schon wieder ganz ich selbst, Etty Hillesum, eine fleißige Studentin in einem freundlichen Zimmer mit Büchern und einer Vase voller Margeriten. Ich fließe wieder in meinem eigenen schmalen Flussbett und der Kontakt zu der «Menschheit», der «Weltgeschichte» und dem «Leiden» ist wieder abgebrochen. Das muss auch so sein, sonst würde man völlig verrückt. Man darf sich nicht ständig in den großen Fragen verlieren, man kann nicht ständig ein Schlachtfeld sein, man muss jedes Mal auch wieder die eigenen kleinen Grenzen um sich herum spüren, innerhalb derer man dann das eigene kleine Leben ge­ wissenhaft und bewusst weiterlebt, stets wieder gereift und vertieft durch die Erfahrungen, die man in diesen beinahe «unpersönlichen» Momenten des Kontakts mit der gesamten Menschheit sammelt. Später werde ich es vielleicht besser formulieren können, oder ich werde eine Figur in einer Novelle oder in einem Roman diese Dinge sagen lassen können, aber das wird erst sehr viel später sein. Die Müdigkeit ist nun wieder gänzlich von mir abgefallen, das matte Ge­ fühl im Kopf hat für große Helligkeit Platz gemacht, ich kann jetzt wieder mit meinem eigenen Leben und mit der eigenen Arbeit weitermachen. Gestern musste ich ein Stück weit ein «kollektives» Leben leben, da exis­ tierte ich selbst überhaupt nicht mehr. Wenn ich ein nächstes Mal wieder so «überschwemmt» werde, werde ich mich noch viel passiver verhalten und besser zuhören, was sich in mir drin abspielt, mich noch viel mehr zur Verfügung stellen und mich vorübergehend von mir selbst distanzieren. Montagmorgen [16. Juni 1941], halb 10. Manchmal langweilt es mich plötzlich, all diese Frauen um ihn herum, die auf das eine oder andere weise Wort des Meisters warten oder auf eine Liebkosung durch seine große Pranke. Vielleicht ist das auch nur Eifer­ sucht: Ich will nun mal gerne einen Menschen, einen Mann zumindest, für mich allein haben. Aber das ist nur so in meinen schlechtesten, nega­ tivsten Momenten. Eigentlich muss ich zugeben, dass er ausgezeichnet mit all diesen Frauen umgeht und dass die Atmosphäre rein und freund­ schaftlich ist. Wenn du so müde bist wie heute zum Beispiel, dann musst du probieren, deine Gedanken von allem und jedem fernzuhalten. Du hast dann die

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Tendenz, alles zu verunglimpfen und schlechtzumachen. Du willst dann weit weg verreisen und findest alles ärgerlich, aber das rührt nur daher, weil du zu wenig Kraft hast, um zu arbeiten und um dich in etwas zu ver­ tiefen. Du suchst dann außerhalb, was du in dir drin nicht finden kannst, aber du musst wissen, dass alles nur von innen kommt, bei dir zumindest. Lass dich jetzt einfach treiben, verhalte dich völlig passiv und vor allem: Geh nicht mit deinen destruktiven Gedanken auf Menschen zu, die dir sonst lieb sind. «… Wäre nur erst einmal in uns das Gewissen dafür erwacht, daß wir das bischen höhere Leben, das da und dort einmal in uns aufleuchtet, nicht wieder untergehen lassen.»

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Dienstagmorgen, 17. Juni [1941], halb 10. Am 8. März habe ich diesen wirren Brief geschrieben, und nun sind mehr als 3 Monate vergangen. Vielleicht ist es ein sehr gutes Zeichen, dass mir nun von dem ganzen Kram übel ist. Mit meiner weithin bekannten Intensität habe ich doch eine Menge verarbeitet in diesen drei Monaten. Adri hat ein ganzes Jahr gebraucht, bis sie ein bisschen mit ihm befreundet war. Ich kann es nicht fassen, dass das erst drei 3 Monate her ist. Aber ich kapiere schon, dass mich im Augenblick dieser ganze Kram ankotzt, S. und sein Harem und seine Arbeit. Wenn ich ihn nun heute Nachmittag wieder beim Kurs er­ lebe, ist von dieser Übelkeit vielleicht nichts mehr zu merken. Wir werden dies bloß eine «schöpferische Pause» nennen. Ich wende mich nun wieder mal meinen Russen und mir selbst zu. Heute frühmorgens fühlte ich mich noch sehr «schlecht». Da suchte ich den Fehler noch bei den anderen statt bei mir selbst. Aber diese Ver­ dauungsstörung ist gänzlich meine Schuld. Ich habe mehr gegessen, als gut für mich war, und dafür kann keiner etwas außer mir. Ich erinnere mich noch gut, wenn ich mir früher meinen Magen verdorben habe, dann nahm ich es meiner Mutter übel, dass sie mir so viele Leckereien hinge­ stellt hatte, anstatt sie unter Verschluss zu halten. Ich verlangte also von den anderen, dass sie mich vor meiner eigenen Gefräßigkeit beschützten. Und so ergeht es mir nun auch. S. und sein kleiner Kreis haben mich so vollkommen aufgenommen und sie haben sich mir gegenüber derart geöffnet, dass es wirklich rührend ist. Sie finden, dass ich selbstverständ­ lich dazugehöre. Und ich habe mich glatt an diesen neuen Freundschaften überfressen und nun finde ich sie eklig statt mich selbst. Aber ich glaube

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trotzdem, dass ich ein «großes Mädchen» werde, weil ich sehr schnell zur Einsicht der eigenen Übelkeit gelangt bin und nicht in die negative Rich­ tung weitertrabe. Dieser S. ist auch ein ordentlicher Brocken, den es zu verarbeiten gilt, allmächtiger Gott, ich bin stolz darauf, dass ich es fertig­ gebracht habe, aber ich verstehe auch sehr gut, dass ich ihn jetzt gründlich satthabe. Ich bin froh, dass ich ein paar Tage nach Deventer104 gehe. Ich werde es dort etwas ruhiger angehen; es ist höchste Zeit, die Dinge etwas sacken zu lassen und in Ruhe weiterzuarbeiten. Die Psychologie ist auch ein starker Einbruch in meine Arbeit gewesen, aber auf die Dauer können die «Russen» nur davon profitieren. Der Ein­ blick ins eigene «Krankheitsbild» verschafft dem Menschen doch eine große Erleichterung. Im Moment der Erkenntnis kann sich die Krankheit nicht mehr weiter entfalten, es wird ihr ein «Halt!» zugerufen. Für die Genesung ist dann noch etwas mehr nötig als nur die Erkennt­ nis, es muss dafür etwas «getan» werden, man muss daran «arbeiten». Aber ich beginne nun einmal damit, den ganzen Kram von mir abzuwerfen und mich etwas von S. und den «seinen» zu erholen. Wenn jemand sich den Magen verdorben hat, sollte er eine vernünftige Diät beginnen, und statt seine kindische Wut auf die Herrlichkeiten zu richten, von denen er meint, dass sie die Verdorbenheit ausgelöst haben, sollte er lieber seine Aufmerksamkeit auf seine eigene Unbeherrschtheit richten. Das ist die Weisheit, zu der ich heute selbst gelangt bin und mit der ich ziemlich zufrieden bin. Diese fortwährende Traurigkeit, die in den letzten Tagen innerlich an mir genagt hat, verschwindet jetzt auch allmählich. Mittwochmorgen, 18. Juni [1941], halb 10. Ich muss wieder eine alte Weisheit zitieren: «Der in sich ruhende Mensch rechnet nicht mit Zeit; Entwicklung darf nicht mit Zeiten rechnen.»

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Gestern Abend: «Heute morgen habe ich mich selber auf Diät gestellt was Sie betrifft und jetzt bin ich schon zum zweiten Mal hier.»

Er ist eigentlich so ein ungeheuer reizender Mann. Manchmal idealisiere ich ihn zu stark und ein anderes Mal unterschätze ich ihn zu stark. Den rechten Mittelweg werde ich schon noch irgendwann finden. «Sie sollen sich nicht in mich verlieben.»

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Tagebücher «Ich habe eine Verlobte.» «Es ist keine Kunst sich zu verlieben, es ist eine viel größere Kunst es nicht zu tun.» «Ich kann mir vorstellen, daß Sie mich manchmal trivial finden und daß ich Sie langweile.»

Und dann wieder dieses herzliche und abgeklärte Lachen eines durch und durch gutmütigen Menschen. Das Leben selbst muss stets die Urquelle sein, niemals ein anderer Mensch. Viele Menschen, vor allem Frauen, schöpfen ihre Kraft aus einem anderen Menschen statt direkt aus dem Leben; jener Mensch und nicht das Leben ist ihre Quelle. Das ist so verdreht und unnatürlich wie nur möglich. 106

mittags.

Aus einem Brief an S. von einer Schwägerin:

«… Dein Fall ist mir darum besonders interessant, weil Du von jeher ­eigentlich – ich kann es nicht anders ausdrücken – der ahnungslos Vertrauende warst. Ich will damit sagen, daß du mit unglaublicher Sicherheit durch das ­Leben gingst, ohne Dir bewußt zu sein, daß das etwas Besonderes sei, und Dich nur wundern mußtest, daß andere nicht so sind. Dies ist eine Gnade, zu­ gleich aber auch eine Gefahr, denn wenn man dieses Geschenk auf die Dauer als etwas Selbstverständliches hinnimmt, dann geht es eines Tages verloren. Es braucht nur ein großer Mißerfolg zu kommen, und sofort ist man unsicher und verliert den Boden unter den Füßen, weil man nicht dafür gesorgt hat, ihn genügend zu unterbauen. Du hingegen hast es verstanden die tiefen Quellen deiner Sicherheit aufzu­ spüren; dadurch hast du sie unter Kontrolle und sie werden dir nicht versiegen! Die Bereitschaft zum Leiden, wie wichtig ist sie für uns!»

Donnerstagmorgen, 19. Juni [1941], halb 10. Liebes Kind, das ist jetzt alles überaus wichtig, dieses wahnsinnig interes­ sante Seelenleben von dir und diesem interessanten Herrn, aber es ist doch nicht die Hauptsache. Es geht vielmehr darum, sich von dem kleinen Ego zu lösen, um der Arbeit und der anderen Menschen willen. Ich bin wieder einmal höchst unzufrieden mit dir. Du gönnst deiner Seele wieder zu viel Luxus. Du hast dich selbst wieder nicht unter Kontrolle. Die Depression ist nun vorüber, du hast dir auch reichlich Zeit damit gelassen; es ist ­wieder ein kleines Stück Ordnung in diesem Chaos erobert, aber du hast

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dafür alles andere vergessen. Ich glaube, dass du dich selbst wieder einmal zu wichtig genommen hast. Du musst vom Persönlichen zum Überper­ sönlichen gelangen, und in diesem Bereich kannst du noch viel von ihm lernen. Du darfst dich nicht mit Kleinigkeiten abgeben. Du darfst das große Ganze nie wegen zu vielen Einzelheiten aus den Augen verlieren. Dann möchte ich dich noch auf ein paar Dinge aufmerksam machen. Du hast für eine Weile in einem goldenen Zeitalter gelebt, in dem du im einen Augenblick noch nicht wusstest, was du im folgenden tun würdest, so vollkommen vertieft warst du in diesen ersten Augenblick. Du hast alles ruhig nacheinander und alles zu seiner Zeit abgearbeitet. Nun spuken in deinem Kopf wieder allerlei Dinge durcheinander und du kommst zu nichts. Du denkst nervös: «Ich will noch ein Stück Tolstoi auf Russisch lesen und ein wenig Jung studieren und o ja, auch noch Chirologie und ich muss diesen Rock noch kürzen. All diese Dinge kämpfen darum, an die Reihe zu kommen, mit der Folge, dass du gar nichts machst. Vor allem solche Kleinigkeiten wie Haarewaschen und Strümpfestopfen können mich schon zu Beginn des Tages behindern und machen dann alle Diszi­ plin zunichte. Du musst wieder zu einer besseren Zeiteinteilung kommen. Man bekommt nun einmal nichts umsonst und alles muss erobert wer­ den. Du musst dich selbst wieder einmal etwas an die Hand nehmen. Dann ist da noch etwas. Du bist ein bisschen erkältet und nimmst dir das zu sehr zu Herzen. Was hast du eigentlich mit dieser Erkältung zu tun, du musst arbeiten, und damit basta. Oder wenn du abends spät ins Bett gehst, dann schläfst du ein mit dem Gedanken: «Ich werde morgen nicht wirklich ausgeschlafen sein», und natürlich bist du es dann auch nicht. Du bist so ein privilegiertes Wesen, dass du all diese Zeit für dich selbst hast, und du musst sie nutzen und etwas daraus machen, aber all diese Kleinig­ keiten bezüglich Krankheiten müssen zuerst aus dem Weg geräumt wer­ den. Ich fühle mich im Moment nicht «stubenrein», aber doch wieder ernsthaft und «gesammelt» und tatkräftig. Und nun an die Arbeit. In deinem Leben darf kein einzelner Teil für sich die Hauptsache sein. Alles zusammen ist die Hauptsache. Du darfst nirgends zu starke Akzente setzen, sonst gerät die Harmonie durcheinander. Von allem, für das du dich interessierst, musst du doch ganz losgelöst bleiben. Du darfst nir­ gends deine Kräfte festmachen, du darfst sie nicht in etwas Energie hin­ einstecken, deine Kräfte musst du für dich selbst behalten. Und nun höre ich auf mit diesen Weisheiten.

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Aber nochmals: Du darfst einen anderen nicht besitzen wollen, keine Ansprüche an den anderen stellen. Dies muss ich bezüglich S. stets wieder aufs Neue lernen. [Freitag] 4. Juli [1941]. In mir ist eine Unruhe, eine bizarre verdammte Unruhe, die produktiv sein könnte, wenn ich damit etwas anzufangen wüsste. Eine «schöpferische» Unruhe. Es ist keine Unruhe des Körpers, nicht einmal ein Dutzend auf­ regender Liebesnächte könnte ihr ein Ende bereiten. Es ist beinahe eine «heilige» Unruhe. O Gott, nimm mich in deine große Hand und mache mich zu deinem Werkzeug, lass mich schreiben. Das alles ist durch die rothaarige Leonie und den philosophischen Joop107 gekommen. S. traf sie zwar mit seinen Analysen mitten in ihr Herz, aber ich spürte doch, dass der Mensch sich nicht durch eine einzige psychologische Formel erfassen lässt, nur der Künstler kann dem letzten irrationalen Rest des Menschen Ausdruck verleihen. Ich weiß nicht, wie das mit dem «Schreiben» bei mir weitergehen soll. Dazu ist alles noch zu chaotisch und mir mangelt es an Selbstvertrauen oder besser gesagt an der zwingenden Notwendigkeit, etwas mitteilen zu müssen. Ich warte einfach noch, bis alles von selbst nach draußen kommt und eine Form annimmt. Aber zuerst muss ich selbst noch die Form, meine eigene Form finden. In Deventer waren die Tage große sonnige Ebenen, jeder Tag war ein gro­ ßes, unzerbrochenes Ganzes, es bestand Kontakt zu Gott und zu allen Menschen, wahrscheinlich weil ich kaum Menschen gesehen habe. Es gab dort Kornfelder, die ich niemals vergessen werde und vor denen ich bei­ nahe niedergekniet wäre, dort waren die Ufer der IJssel mit den bunten Sonnenschirmen und den Schilfdächern und den geduldigen Pferden. Und dann die Sonne, die ich durch alle Poren eindringen ließ. Und hier besteht der Tag aus tausend Teilchen, die große Ebene ist wieder verschwunden, und Gott ist mir auch wieder abhandengekom­ men. Wenn das noch lange so weitergeht, werde ich wieder nach dem Sinn von allem fragen, und das ist nicht tief philosophisch, sondern der Beweis dafür, dass es mir schlecht geht. Und dann diese seltsame Unruhe, die ich noch nicht einordnen kann. Aber ich könnte mir vorstellen, dass dies die Unruhe ist, aus der später, wenn ich sie kanalisieren kann, gute Arbeit ge­ boren werden könnte. Du bist noch lange nicht am Ziel, Kleine, es muss

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vorher den tobenden Wellen noch viel fester Boden entrissen werden, noch viel Ordnung ins Chaos gebracht werden. Ich muss an die Bemerkung von S. von letztens denken: «Sie sind ja gar nicht so chaotisch, Sie haben nur noch die Erinnerung von früher, wo Sie mein­ ten, daß es genialer sei chaotisch als diszipliniert zu sein. Ich finde Sie immer sehr konzentriert.»

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Montag, 4. August 1941, nachmittags halb 3. Er sagt, dass die Liebe zu allen Menschen schöner ist als die Liebe zu ­einem einzigen Menschen. Denn die Liebe zu einem einzigen Menschen ist doch eigentlich nur die Liebe zu sich selbst. Er ist ein reifer Mann von 55 Jahren und hat das Stadium der Liebe zu allen erreicht, nachdem er zuerst in einem langen Leben viele Einzelne geliebt hatte. Ich bin eine junge Frau von 27 Jahren und trage auch sehr stark die Liebe zur ganzen Menschheit in mir, aber ich frage mich, ob ich nicht doch immer nach einem einzigen Mann suchen werde. Und ich frage mich, inwieweit das eine Beschränkung, eine Einschränkung der Frau ist. Inwieweit das eine jahrhundertealte Tradition ist, von der sie sich loslösen müsste. Oder vielleicht gehört es so sehr zum Wesen der Frau, dass sie sich selbst vergewaltigen würde, wenn sie ihre Liebe der gesamten Menschheit statt einem einzigen Mann schenkte. (Zu einer Synthese bin ich bis jetzt noch nicht gelangt.) Vielleicht gibt es deshalb so wenig bedeu­ tende Frauen auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst, weil die Frau immer den einen Mann sucht, dem sie all ihr Wissen und ihre Wärme und Liebe und Schaffenskraft entgegenbringen kann. Sie sucht den Mann und nicht die Menschheit. Diese Frauenfrage ist nicht so einfach. Manchmal, wenn ich auf der Straße eine Frau sehe, eine schöne, gepflegte, ganz und gar weibliche, ­etwas dumme Frau, dann kann mich dies gänzlich aus meinem Gleich­ gewicht bringen. Dann spüre ich meinen Verstand, mein Ringen, mein Leiden wie etwas, das mich bedrückt, als etwas Hässliches, etwas Unweib­ liches, dann wäre ich gerne nur schön und dumm, ein Spielzeug, das von einem Mann begehrt wird. Typisch ist, dass man immer wieder von einem Mann begehrt werden möchte, dass es immer wieder die höchste Bestäti­ gung für uns Frauen ist, dass wir Frauen sind, obwohl das doch etwas sehr Primitives ist. Gefühle der Freundschaft, Hochachtung vor unserer Persön­

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lichkeit, Liebe für uns als Mensch, das sind alles schöne Dinge, aber wol­ len wir letztendlich nicht, dass der Mann als solcher uns als Frau begehrt? Es ist für mich fast noch zu schwierig, alles aufzuschreiben, was ich hier sagen möchte, es ist unendlich kompliziert, aber es ist etwas Wesentliches und es ist wichtig, dass ich es herausfinde. Vielleicht muss die richtige, die innere Frauenemanzipation erst noch beginnen. Wir sind noch keine richtigen Menschen, wir sind Weibchen. Wir sind noch festgebunden und in jahrhundertealte Traditionen ver­ strickt. Wir müssen noch geboren werden als Menschen; das ist die große Aufgabe, die noch auf die Frauen wartet. Wie ist das nun aber mit S. und mir? Wenn ich auf Dauer Klarheit in dieser Beziehung schaffen könnte, dann wäre Klarheit geschaffen für alle Beziehungen zu Männern und zur gesamten Menschheit, um es mal mit großen Worten auszudrücken. Lass mich um Himmels willen pathetisch sein, alles genau so aufschreiben, wie es in mir steckt, wenn ich all das ­Pathetische und Übertriebene aus mir herausgeschrieben habe, gelange ich vielleicht auch irgendwann einmal zu mir selbst. Liebe ich S.? Ja, wahnsinnig! Als Mann? Nein, nicht als Mann, sondern als Mensch. Oder vielleicht ist es mehr die Wärme und die Liebe und das Streben nach Güte, die von ihm ausgehen und die ich liebe. Nein, so komme ich nicht weiter, so komme ich wirklich nicht weiter. Das ist eine Art Schmierheft, ich werde ab und zu einfach mal etwas ausprobieren, etwas aufs Papier werfen. Viel­ leicht werden alle Teile irgendwann mal noch zu einem Ganzen, aber ich muss nicht vor mir selbst weglaufen oder vor der Schwierigkeit der Prob­ leme; davor laufe ich auch nicht weg, ich laufe nur vor der Schwierigkeit des Aufschreibens weg. Es kommt alles so unförmig heraus. Aber du suchst auf diesem Papier doch nur ein wenig Klarheit für dich selbst, du willst doch keine Meisterwerke erschaffen? Du genierst dich noch vor dir selbst. Du getraust dich noch nicht zu geben, du getraust dich noch nicht, die Dinge aus dir herauszulassen, du bist noch schrecklich gehemmt, und das rührt daher, dass du dich selbst noch nicht akzeptierst, so wie du bist. Es ist schwierig, mit Gott und mit dem Unterleib in gleicher Weise zu­ rechtzukommen. Mit diesem Gedanken beschäftigte ich mich ziemlich verzweifelt an einem Musikabend vor einiger Zeit, als S. und Bach beide zugegen waren. Zwischen 2 Musikstücken hatte er mir erzählt, dass Wiep

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ihn gerohrschacht hatte1 und dass er so wenig «Becken» gesehen hatte, und Wiep hatte ihm dann erzählt, dass dies bedeutete, dass bei ihm das sexu­ elle Problem gänzlich gelöst war, dass es in seine gesamte Persönlichkeit «eingeordnet» war und dass es bei ihm eine untergeordnete Rolle spielte. Ich wurde dann darauf – glaube ich – sehr neidisch und habe wohl so ­etwas gedacht wie: Ja, einfach für dich. Es ist eine komplizierte Angelegen­ heit mit S. Er sitzt da und dann ist da viel Wärme und menschliche Herz­ lichkeit, an der man sich ohne schlechte Hintergedanken erwärmt. Aber gleichzeitig sitzt da auch ein großer Kerl mit einem ausdrucksstarken Kopf, mit großen, empfindsamen Händen, die er ab und zu nach einem aus­ streckt, und mit Augen, die einen wirklich herzzerreißend streicheln kön­ nen. Aber unpersönlich streicheln können, wohlverstanden. Er streichelt den Menschen, nicht die Frau. Die Pranke greift nach dem Menschen, nicht nach der Frau. Und die Frau möchte doch als Frau gestreichelt wer­ den und nicht als Mensch. So ergeht es zumindest mir ab und zu. Aber er stellt dich vor eine große Aufgabe, für die hart gekämpft werden muss. Ich bin für ihn eine Aufgabe, hat er an einem der ersten Male gesagt, aber er ist es auch für mich. Ich höre jetzt auf, ich fühle mich immer elender, wäh­ rend ich dies schreibe, ein Zeichen dafür, dass ich es nicht so formuliere, wie es eigentlich in mir aussieht. Es ist daran nichts zu ändern, ich werde meine Probleme lösen müssen, und ich habe immer das Gefühl, wenn ich sie für mich löse, dass ich sie auch für tausend andere Frauen löse. Und darum muss ich mich mit allem «auseinandersetzen». Aber das Leben ist schon sehr schwierig, vor allem wenn man die richtigen Worte nicht finden kann. Dieses ganze Bücherverschlingen von Kindesbeinen an, das ist nur Faulheit bei mir. Ich lasse andere das formulieren, was ich selbst müsste. Ich suche überall die Bestätigung für alles, was in mir wühlt und arbeitet, aber ich werde mir mit meinen eigenen Worten Klarheit verschaffen müs­ sen. Ich muss sehr viel Faulheit und vor allem die Hemmungen und die Unsicherheit über Bord werfen, um auf die Dauer zu mir selbst zu finden. Und von mir selbst zu den anderen. Ich muss Klarheit erlangen und ich muss mich selbst akzeptieren. Und jetzt gehe ich auf den Markt und kaufe eine Melone. Es ist in mir drin alles so schwer. Und ich wäre so gern so leicht. Alles nehme ich in mich auf, jahrelang schon, alles geht hinein, in ein großes Reservoir, aber es wird doch alles auch wieder herauskommen müs­ sen, sonst habe ich das Gefühl, dass ich umsonst gelebt habe, dass ich die

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Menschheit nur beraubt und nichts zurückgegeben habe. Ich habe manch­ mal das Gefühl zu schmarotzen, daher manchmal auch diese tiefe Nieder­ geschlagenheit und die Frage, ob ich eigentlich ein nützliches Leben führe. Vielleicht ist es meine Aufgabe, mich auseinanderzusetzen, mich wirklich auseinanderzusetzen mit allem, was mir zusetzt und mich quält und was in mir nach Lösung und Formulierung schreit. Denn es werden wohl nicht nur meine Probleme sein, sondern auch die Probleme von vielen anderen. Und wenn ich am Ende eines langen Lebens eine Form dafür werde finden können, was jetzt noch chaotisch in mir vorhanden ist, dann habe ich vielleicht meine eigene kleine Aufgabe erfüllt. Während ich dies schreibe, wird mir – glaube ich – irgendwie in meinem Unterbewusstsein übel. Wegen der Worte: «Lebensaufgabe», und «Menschheit» und «Lösung der Probleme». Ich finde diese Worte anspruchsvoll, ich halte mich selbst für ein einfältiges «blasses Fräuleinchen», aber das rührt daher, dass ich noch nicht den nötigen Mut habe. Nein, Mädchen, du bist noch lange nicht so weit. Ich sollte dir eigent­ lich verbieten müssen, nur einen einzigen tiefgründigen Philosophen an­ zurühren, bevor du dich selbst nicht ein wenig ernster nimmst. Ich glaube, dass ich doch zuerst diese Melone kaufen gehen muss, die ich heute Abend den Nethes2 vorsetzen will. Das gehört doch auch zum Leben. Ich fühle mich manchmal wie ein Mülleimer; in mir drin ist so viel Trübheit und Eitelkeit und Halbheit und Minderwertigkeit! Aber doch auch eine absolute Ehrlichkeit und eine fast elementare Leidenschaft, ein wenig Reinheit und Harmonie zwischen dem Äußeren und dem Inneren zu schaffen. Manchmal sehne ich mich nach einer Klosterzelle mit der sublimierten Weisheit der Jahrhunderte auf Bücherregalen entlang der Wände und mit Aussicht auf Kornfelder – es müssen unbedingt Kornfelder sein und sie müssen auch wogen, und dort würde ich mich dann gerne in die Jahrhun­ derte und mich selbst vertiefen und mit der Zeit stellten sich dann schon Ruhe und Klarheit ein. Aber das ist keine Kunst. Hier, an diesem Ort, in dieser Welt und jetzt muss ich Klarheit und Ruhe erlangen und ins Gleich­ gewicht kommen. Ich muss mich selbst immer wieder der Realität stellen, ich muss mich mit allem auseinandersetzen, dem ich auf meinem Weg begegne, die Außenwelt muss von meiner Innenwelt Nahrung erhalten und umgekehrt, aber es ist so extrem schwierig, und warum habe ich bloß so ein beklommenes Gefühl in mir? Dieser Nachmittag in der Heide. Er mit dem gefühlsgeladenen guten

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Kopf in die Ferne starrend, und ich: «Woran denken Sie jetzt?» Und er: «An die Dämonien, die die Menschheit quälen.» (Das war, nachdem ich ihm er­ zählt hatte, wie Klaas seine Tochter halb tot geschlagen hatte,3 weil sie für ihn kein Gift mitgebracht hatte.) Er saß unter einem überhängenden Baum und mein Kopf lag in seinem Schoß, und da sagte ich auf einmal, d. h., ich sagte es nicht, sondern es brach plötzlich aus mir heraus: «Und jetzt möchte ich so gern einen undämonischen Kuß haben.» Und dann sagte er: «Den müssen Sie sich dann selber holen.» Und dann stand ich brüsk auf und wollte eigentlich so tun, als ob ich nichts gesagt hätte, aber auf einmal lagen wir da in der Heide, Mund an Mund, ich lag da und drückte ihn, ich weiß nicht, wie lange. So ein Kuss ist nicht nur körperlich, es sei denn, jemandes kindischer Mund probierte, sein ganzes Wesen in dich hineinzu­ saugen. Und danach sagte er: «Das nennen Sie undämonisch?» Aber was hat dieser Kuss nun für unsere Beziehung zu bedeuten? Er schwebt gewissermaßen in der Luft. Er lässt mich nach dem ganzen Mann verlangen und dennoch will ich den ganzen Mann nicht. Ich liebe ihn überhaupt nicht als Mann, das ist das Verrückte, oder ist es dieser ver­ dammte Geltungsdrang, jemanden besitzen zu wollen? Körperlich besit­ zen zu wollen, obwohl ich ihn geistig besitze, was doch viel wichtiger ist? Ist es diese verdammte unhygienische Tradition, dass, wenn zwei Men­ schen unterschiedlichen Geschlechts in einen engeren Kontakt zueinan­ der geraten, sie irgendwann meinen, dass sie sich auch körperlich auf den Leib rücken müssen? Ich habe sehr stark das Gefühl. Ich suche in einem Mann immer sofort die sexuellen Möglichkeiten in Bezug auf mich selbst. Ich glaube, dass das eine schlechte Angewohnheit ist, die ausgerottet wer­ den müsste. Er ist vielleicht darüber hinweg, obwohl: Er muss doch – was mich betrifft – gegen seine erotischen Triebe kämpfen. Wir sind eine Auf­ gabe füreinander, manchmal erscheint es so albern, wie wenn wir es uns absichtlich schwer machten, während es doch so einfach sein könnte. Die Melonen werden wohl unterdessen ausverkauft sein. Ich fühle mich innerlich elend, in mir sitzt ein Kloß, körperlich fühle ich mich nun auch schrecklich. Aber lass dir nichts weismachen, Mädchen, das ist nicht dein Körper, das ist deine Seele, dein geplagtes Seelchen, das so spukt. Nach einer Weile werde ich schon wieder schreiben: Wie ist das Leben doch schön und wie glücklich bin ich doch, aber ich kann es mir jetzt überhaupt nicht vorstellen, wie ich mich dann fühlen werde. Ich habe noch keine Grundmelodie. Es ist noch keine solide Unter­ strömung vorhanden, die innerliche Quelle, von der ich ernährt werde,

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versiegt immer wieder, und außerdem denke ich zu viel. Meine Ideen hängen noch stets an mir herunter wie viel zu weite Kleider, in die ich noch hineinwachsen muss, aber diese Kleider sind mir immer noch zu groß. Mein Geist läuft hinter meiner Intuition her, und das ist natürlich auch wieder gut. Aber darum muss mein Geist oder Verstand, oder wie man es auch immer nennen möchte, sich manchmal so furchtbar anstren­ gen, um meine verschiedenen Ahnungen am Rockzipfel zu fassen. Aller­ hand vage Ideen schreien ab und zu nach einer konkreten Formulierung, aber vielleicht sind sie dafür noch lange nicht reif genug. Ich muss einfach weiterhin mir selbst zuhören, in mich «hineinhorchen» und gut essen und schlafen, um mein Gleichgewicht zu bewahren, sonst ergibt das etwas Dostojewskiartiges, aber in unserer Zeit liegt der Fokus wieder ganz wo­ anders. abends 12 Uhr.

Aus «Der Tod in Venedig» von Thomas Mann:4

«Aschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar ausge­ sprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche, Laster, Leiden­ schaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei. Aber das war mehr als eine Bemerkung, es war eine Erfahrung, war geradezu die Formel seines Lebens und Ruhmes, der Schlüssel zu seinem Werk.»

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Dienstagmorgen [5. August 1941], 12 Uhr. Ich fühle mich wie eine zusammengeballte Faust und weiß nicht, wie ich mich entspannen kann. Ich werde mich zwingen, jeden Tag zu schreiben, auch wenn es nur ein paar Worte sind, sonst werde ich platzen. Pa Han sagte gerade im Wintergarten, bei einer Tasse Schokolade, zu mir: Ja, ich würde mal ein wenig spazieren gehen, du bist heute wirklich «übel­ launig». Ja, sage ich, ich fühle mich auch sehr schlecht, auch körperlich, ist mir lange nicht mehr passiert. Und er: Das rührt daher, dass S. nicht da ist. Und ich, direkt darauf: Ich glaube, dass ich mich eher nicht wohlfühle wegen der Vorstellung, dass er wieder zurückkommt, als weil er weg ist. Ich vermisse ihn nicht. Es ist gerade so, als ob ich ein sehr üppiges Mahl genossen hätte, von dem ich noch eine Weile zehren kann. Er ist wahr­ haftig kein leicht verdaulicher Brocken von einem Menschen.

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Ich kann noch nicht schreiben. Ich will schreiben, was wirklich hinter den Dingen steckt, und das ist für mich noch nicht fassbar. Mich interessiert eigentlich nur die Atmosphäre, die «Seele», könnte man vielleicht sagen, aber das Substanzielle entzieht sich mir. Aber deshalb habe ich auch kei­ nen Halt. Du musst das Konkrete, das Irdische beschreiben und das so mit deinen Worten durchleuchten, mit deinem Geist, dass die Seele dahinter erweckt wird. Wenn du dich direkt auf die sogenannte Seele stürzt, dann wird alles zu vage, zu formlos. Wenn ich es mir wirklich immer stärker in den Kopf setze, dass ich schreiben will, nichts anderes als schreiben, dann wird das für mich ein großer Leidensweg werden, das spüre ich schon jetzt ab und zu mit einem gewissen Grauen. Die Frage ist, ob ich überhaupt das Talent dazu habe. Doch musst du allmählich damit beginnen, aus dem großen, unbe­ hauenen Granitblock, den du in dir trägst, die kleinen Figuren zu model­ lieren, sonst wirst du auf die Dauer zermalmt. Wenn du nicht deine Form suchst und findest, wirst du in Nacht und Chaos zugrunde gehen, ich fühle dies ab und zu sehr stark. Und dieses «Form»-Finden muss gar nicht so viel sein: eine kleine Skizze oder ein kurzer Artikel in einer unbedeutenden Zeitung. Wie dem auch sei, es steckt etwas in dir, das danach verlangt, mit aller Kraft aus dir herausbefördert zu werden, aber wie es aussehen soll, wenn es heraus­ kommt, weiß ich nicht. S. sagt: «Du genießt noch zu sehr dein eigenes Talent, du spielst da­ mit.» Aber ist Talent vorhanden? Er sagte auch einmal: «Sie sind ja die ­geborene Schriftstellerin.» Aber es spielt auch keine Rolle, ob Talent vor­ handen ist oder nicht, das wird sich schon zeigen, wenn ich nur nicht vor mir selbst weglaufe. Und nun Butterkarten in der Govert Flinckstraat6 holen. Später, zwischen dem Joghurt und dem Mittagsschläfchen. Ich glaube eigentlich, dass ich überhaupt kein umgänglicher Mensch bin, dass ich mich nicht für Geselligkeit und harmlose Konversation eigne. Das ist natürlich Blödsinn in Anbetracht meiner Lebhaftigkeit und Ver­ gnügtheit und Unterhaltsamkeit in Gesellschaft. Aber es ist gerade so, als ob mich das immer mehr Mühe kostete. Ich bin meinem Gefühl zufolge im Augenblick eigentlich nur für Gespräche von «Mensch zu Mensch» geeignet, wobei mir jemand dann aber am liebsten gleich sein ganzes ­Leben beichtet. Ich gehe auf das Wesentliche, auf den Kern des Menschen

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los, der Rest langweilt mich. Ich frage mich, wie viel Sensationslust dahin­ tersteckt, inwiefern ich immer die sehr starken Rührungen und Emo­ tionen suche. Eigentlich ist es ja nicht wahr, was ich hier schreibe. Ich bin doch gerne in der Gesellschaft von Menschen, kann dann ein einzelnes Wort, eine Geste, ein Lächeln, einen bestimmten Ausdruck auf dem Gesicht von je­ mandem genießen. Und vor allem den Humor, der immer wieder überall zu finden ist. Vielleicht wollte ich sagen, dass ich stets weniger das Bedürf­ nis habe, über mich selbst zu sprechen oder etwas Wesentliches über mich selbst zu sagen, und deshalb habe ich wahrscheinlich das Gefühl, dass ich so ungesellig bin. So, und jetzt werde ich noch ein wenig organisieren. Vielleicht leide ich in den letzten Tagen an einem Mangel an Organisation. Die Tage rin­ nen wie Sand durch meine Finger, in mir ist eine so starke Anspannung, dass ich keine Kraft übrig habe, um etwas zu erledigen. Ich brüte nur so ein bisschen vor mich hin. Ich weiß eigentlich nie, ob ich mich selbst zu Disziplin zwingen müsste oder ob es besser für mich ist, mich ein wenig gehen zu lassen, um etwas Spielraum zu bekommen, weil ich sonst wegen der Intensität, mit der ich lebe, zerplatze. Aber jetzt werde ich zuerst ein­ mal schlafen gehen, und dann setze ich mich hinter Bernards kleinen grü­ nen Schreibtisch und schaue auf die Bäume vor dem Haus hinaus und werde dann ein paar Gedanken für S. sammeln. Selbst der einfältigste Brief lässt mich Blut und Wasser schwitzen. Ich werde probieren, mich ein bisschen auf einem Blatt eines Schreibblocks zu «sammeln», in der Hoff­ nung, von ihm eine Rückmeldung zu erhalten, auch das ist etwas, zu dem ich mich zwingen muss. Während ich sitze und schreibe, habe ich das Gefühl, dass alles, was ich hier schreibe, falsch ist. Aber das spielt keine Rolle. Und ich merke, dass ich nach langer Zeit wieder einmal Kopf­ schmerzen bekomme. Ich müsste eigentlich einmal Buch führen über diese Kopfschmerzen und sehen, wann sie jeweils auftreten. Es ist immer noch dieses «Geballte Faust»-Gefühl in meinem Kopf, aber na ja, es wird schon wieder gut werden. Ich denke, dass du dich mit all deinen Stimmungen einerseits zu wich­ tig nimmst und andererseits wieder zu unwichtig, das richtige Gefühl des Selbstwerts, das Zentrum fehlt noch. Wenn ich mich elend fühle, ist es genauso, als wenn ich zugleich all das Elend der ganzen Menschheit in mir fühlte. Inwiefern ist das unangebrachter Weltschmerz?

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Deventer, Donnerstag, 7. August [1941]. Man muss an einen Menschen glauben können, auch ohne dass man ­äußerliche Resultate sieht. Und man muss auch an sich selbst glauben, auch ohne – nein, das klappt nicht. Ich bin noch nicht sehr mit diesem Leben zusammengewachsen, ich bin darin nicht festgewachsen, und das ist wahrscheinlich so, weil das ­Materielle und das Geistliche noch nicht zu einem einzigen organischen Ganzen zusammengewachsen sind. Der Sinn von allem entzieht sich mir manchmal auf einmal. Das ist wahrscheinlich Mangel an Selbstvertrauen, keinen Glauben an sich selbst haben. Nicht davon überzeugt sein, dass das, was man macht, gut ist und einen Sinn hat. Und wenn man nicht den Sinn des eigenen Lebens sieht, dann ist auch gleich das ganze Leben ohne Sinn. Ja, Etty, das ist ein seltsamer Fall mit dir. Ich werde wohl niemals verrückt werden, das glaube ich nicht mehr, aber ich kann doch sehr gut verstehen, dass man es wird. Ich will mich immer noch in allem und ­jedem verlieren. Ein Gefühl von: in Harmonie leben mit allem, was exis­ tiert. Ich akzeptiere die vielen Gegensätzlichkeiten dieses Lebens noch nicht, zwar schon mit dem Verstand, aber noch nicht mit dem Kern mei­ nes Wesens. Ich suche vollkommene Harmonie und Einheit und Frieden. Ich würde gern selbst verschwinden wollen, mich selbst auflösen wollen, mich selbst vergessen und verlieren wollen. Nicht vor mir selbst weglau­ fen, sondern ganz natürlich und harmonisch mit der Erde und dem Him­ mel verschmelzen wollen. Ich weiß eigentlich noch nicht, was wichtig und was unwichtig ist. Wo der Schwerpunkt in meinem Leben liegen muss. Ob es wohl sinnvoll ist, was ich tue. Ich bin nirgends verpflichtet, ich lebe nicht nach Normen, nach denen die meisten Menschen leben, ich habe keinen festen Arbeitsplatz, ich bin nicht verheiratet und habe noch immer nicht den Mut zu sagen: So, wie ich lebe, ist es gut, ich habe für mein ­Leben keine Maßstäbe von außen nötig, vielmehr sind diese in meinem eigenen Innersten zu finden. Wenn ich wieder beginne, so zu grübeln wie jetzt, spüre ich schon wieder die Kopfschmerzen und die Übelkeit von ­allen Seiten aufsteigen. Da ist noch was Verrücktes. Ich wollte ganz ruhig in dieses Heft schrei­ ben, wie ich meine Zeit in Deventer bis jetzt verbracht habe, über die Gespräche mit Vater und Mutter. Und ich kann es nicht. Ich habe keine Geduld, es aufzuschreiben: Und dann tat ich dies, und dann sagte er das, und dann fühlte ich, dass usw. Ich habe keine Geduld, die Details des täglichen Lebens aufzuschreiben. Ich wollte es versuchen, und dann kam

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so etwas Mystisches wie auf der vorherigen Seite zustande: Man muss an einen Menschen glauben können, auch ohne dass man äußerliche Resul­ tate sieht. Ich habe das Bedürfnis, die Dinge direkt in einer allgemeinen Formel zusammenzufassen, losgelöst von jedem Detail, anlässlich dessen sie formuliert wird. Ich erinnere mich an diese Reise nach Paris als 15-jäh­ rige Unschuld. Dieser Zug, der dort durch immer neue Landschaften donnerte, die vielen neuen Gesichter, der Radau, die neuen Eindrücke, das war für mich alles überwältigend. Ich wollte darüber etwas aufschrei­ ben, und zu meinem eigenen Erstaunen schrieb ich auf einen Notizblock: Die Welt ist doch sicherlich für jeden Menschen einzeln schon einmal zusammengebrochen, und doch existiert sie merkwürdigerweise immer noch. Das war mein Reiseeindruck auf dem Weg nach Paris. Ich habe innerlich noch keine Geduld für die Dinge, ich suche direkt nach der großen, allumfassenden Formel, die sozusagen alle Widersprüche mit einem einzigen Schlag auflöst. Ich habe noch keinen ununterbrochenen Kontakt zu den Menschen und Dingen. Jemand, der mir manchmal sehr lieb ist, kann dann auf ein­ mal wieder sehr weit weg sein, wie wenn ich nicht den geringsten Bezug zu ihm hätte. Das macht mich dann unsicher. Dann denke ich: «Welches Gefühl ist nun das richtige? Das Gefühl der Liebe oder das der Gleich­ gültigkeit?» Wahrscheinlich beide. Ich muss selbst akzeptieren, dass ich nun einmal manchmal so bin und dann wieder anders. Dass alle Gefühle in meinem Leben, dass alle Stimmungen in mir möglich sind. abends 11 Uhr, im Bett. Ich glaube, dass ich heute Nachmittag einen verdammten Unsinn aufge­ schrieben habe. Ich fühle mich zumindest ein wenig verlegen deswegen. Ich mache es mir selbst vielleicht schwieriger, als es nötig ist. Das Leben ist wahrscheinlich schon gut. Ich habe noch so viel zu tun. Ich darf meine Zeit nicht mehr mit Unsinn verschwenden. Heute Abend hing die Sonne wie eine rot glühende Kugel zwischen zwei schwarzen Masten eines Schiffs. Über die Eisenbahnbrücke in der Ferne kroch eine kleine Spielzeugeisenbahn. Es war ein prächtiger Wol­ kenhimmel. Ich stand da auf der Schiffsbrücke7 in meinem Regenmantel und schaute einfach. Es war so schön und auch sehr alltäglich und gut. Ich bin eine junge Frau und studiere allerlei Dinge. Andere junge Frauen sitzen in einem Büro und verdienen Geld oder haben einen Mann und Kinder. Aber ich habe doch genauso sehr ein Anrecht zu existieren.

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­ arum sollte man nicht Russisch studieren und sich in die Hände der W Mitmenschen vertiefen? Arbeite nur ruhig weiter, bestelle nur weiter den Acker des Geistes und lebe auch ein wenig und sorge dafür, dass alles harmonisch ist. Früher, wenn ich hinter meinem Schreibtisch saß, war ich oft unruhig und hatte Angst, im Leben etwas zu verpassen. Und wenn ich dann in dem sogenannten Leben zwischen den Menschen und ihrem Vergnügen war, dann fühlte ich mich einsam und wollte wieder zurück an den kleinen Platz am Schreibtisch. Das ist immer noch ein bisschen so. Es wird wohl die Aufgabe deines Lebens sein, eine wirkliche innerliche Harmonie zwischen dieses «Leben» und den Schreibtisch zu bringen. Vater hat früher einmal gesagt: Ein Mann, der Briefumschläge in ­einem Postamt zuklebt, ist nützlicher als jemand, der Philosophie stu­ diert. Und mehr solcher Weisheiten, auf seine überzeugte und sehr origi­ nelle Art und Weise gesagt. Vielleicht haben derartige Äußerungen sich doch ganz tief in mich hineingefressen, ich weiß es nicht. Ich kann für längere Zeit in meinem Studium aufgehen und dann plötzlich wieder die Frage: Ist das eigentlich kein Unsinn, was ich tue? Wobei, das ist es eigent­ lich nicht. Aber dadurch, dass ich mich ständig mit den höchsten und kostbarsten geistigen Gütern ernähre, habe ich vielleicht Angst, mich zu weit von der großen Masse zu entfernen, die sich mit viel gröberer Nah­ rung ernährt. Aber das ist es natürlich auch nicht. Ich kann es noch nicht in Worte fassen. Ich würde manchmal gern wie eine Blume oder wie eine Kuh oder etwas derartiges Natürliches leben. Dann fühlt sich das geistige Arbeiten wie etwas Unnatürliches und Ungesundes an. Dann wäre ich gerne so einfach, dass das Leben in mir wie etwas Selbstverständliches wäre, über das ich nicht weiter nachdenken müsste. Es schlummert ­eigentlich sehr tief in mir drin ein Verlangen nach dem äußerst Ein­ fachen, dem Ruhigen und Gleichmäßigen. Oder bilde ich mir das ein und es ist doch wieder etwas anderes? Aber es steckt nun einmal ein sich quälender Geist in mir, der dem Leben so viele Geheimnisse wie möglich entlocken will, daran ist nichts zu ändern, dein Weg wird wahrscheinlich noch schwierig genug sein. Aber in einem einzigen Moment der Depres­ sion und Verzweiflung vergisst du die vielen guten Momente, und das ist undankbar. So, und nun noch kurz zu Johannes8 und dann schlafen gehen. Du musst dich nur ein bisschen gehen lassen in diesem desorganisierten Haus­ halt. Weißt du was, ab heute muss ich eigentlich einmal genau aufschrei­

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ben, was ich an einem Tag mache und mit wem ich spreche. Die gewöhn­ lichen, alltäglichen Dinge. Vielleicht ist das doch schön, ich muss doch nicht immer nur Weisheiten über das «Leben» von mir geben. Ich hoffe, dass S., dieser Schurke, wieder einmal etwas von sich hören lässt. Ich denke so angenehm und ruhig an ihn. Es ist hier, als ob er für mich eine Legende wäre. Ein bisschen über ihn geplaudert mit dieser net­ ten Juliana.9 In meinem Herzen langweile ich mich zu Tode mit ihr, und doch habe ich Freude an ihr. Die meisten Menschen interessieren mich um ihrer selbst willen und nicht für mich persönlich. Darum wäre auf die Dauer, in 10 Jahren oder so, eine psychologische Praxis gar nicht so blöd für mich. Aber was bilde ich mir eigentlich ein? Expertin russischer An­ gelegenheiten muss ich auch noch werden und darüber hinaus Roman­ autorin von Format. Ein äußerst spezieller Plan. Aber im Ernst: Ich werde mein Leben in Zukunft sehr streng einteilen müssen, in dieser Hinsicht kann ich noch viel von S. lernen. Nun ja, aber mal sehen. Vielleicht ist es überhaupt nicht blöd, jeden Tag einen ganzen Haufen Banalitäten in dieses Heft zu schreiben, um einen Überblick über einen Monat zu erhalten beispielsweise. Mit einer Statistik zu den Kopfschmer­ zen, den Magen-Anfällen, den guten und schlechten Stimmungen. Auch die Anzahl der Male, dass S. mich umarmt und so. Eigentlich ist mein Verhältnis zu ihm so aus der Ferne sehr gut. Ich fühle mich bei ihm nun sehr sachlich. Und leise dankbar und reich durch den Gedanken, dass er existiert. Ich verlange keine Sekunde nach ihm; dass er existiert, ist für mich schon ausreichend. Und körperlich sagt er mir nichts. Der «un­ dämonische» Kuss in der Heide ist im Moment etwas, mit dem ich nie etwas zu tun hatte. Dieses Tagebuch verspricht tierisch interessant zu ­werden. Wenn ich nur genug Zeit dafür habe. O ja, heute gilt es noch zu erwähnen, dass keine Kartoffeln10 in den Läden zu bekommen waren, das ist doch auch etwas schrecklich Wichtiges. Meine Träume müsste ich auch aufschreiben, denn das sind doch oft auch wichtige Teile von mir selbst. Schlusswort dieses Tages: Das Leben ist gut, wie auch immer. Bei einigen alten Stämmen gab es den Brauch, dass man am Ende von jedem Tag ein schwarzes oder weißes Steinchen in eine Vase legte, je nach­ dem, ob der Tag schlecht oder gut gewesen ist. Ein vernünftiger Brauch. Am Ende von jemandes Leben kehrte man dann die Vase um und man konnte feststellen, ob es ein glückliches oder unglückliches Leben gewesen war. Anstelle dieses Rituals mit den Steinchen sollte ich am Ende von

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j­edem Tag in dieses Heft schreiben: Das Leben ist schön oder miserabel oder schwer oder herrlich usw. Ich werde das mal einen Monat lang tun. Schon gespannt, wie das endet. Jetzt, Donnerstagabend halb 12, 7. Aug. 1941, schreibe ich voller Über­ zeugung: Das Leben ist gut. Freitagmorgen [8. August 1941], Viertel nach 10. Ach ja, dann man los! Es ist für mich vielleicht eine gute Geduldsprobe, über die alltäglichen Dinge Buch zu führen. Nun denn: Um 10 nach 9 wach geworden mit dem letzten Bruchstück eines Traumes, der noch ganz in meinem Körper steckte. Kopfschmerzen. Früher hätte ich mich sofort auf den Aspirinvorrat gestürzt, aber jetzt verschwinden die Schmer­ zen von selbst. Der Mensch ist verbesserungsfähig und das ist schön. Die­ ses eine Traumfragment möchte ich festhalten. Ich war bei Familie Prins, ihr kleiner Junge Petertje11 lag in der Wiege. Später war ich mit diesem Kind allein und spürte in mir die unbändige Lust, diesen kleinen, feuch­ ten, verführerischen Kindermund zu küssen. Ich tat dies dann tatsäch­ lich, und dies mit einer solchen Leidenschaft und auch Sinnlichkeit und Hingabe, dass ich zum Orgasmus kam, und in diesem Moment wurde ich wach und stellte fest, dass ich Bauchschmerzen hatte, und dann be­ gann dieses Menstruationstheater wieder, eine Woche zu früh. Noch kein Brief von S., dem Schurken. Würde ihn gerne dort in Wa­ geningen in diesem unordentlichen Haushalt mit den vielen frommen Töchtern erleben.12 Als ich herunterkam, waren Mutters erste Worte: «Ich fühle mich so elend.» Es ist so merkwürdig: Wenn Vater nur leicht seufzt, dann bricht mir das sozusagen mein Herz, und wenn Mutter mit viel Pathos sagt: «Ich fühle mich so elend, ich habe wieder kein Auge zugetan usw.», dann be­ rührt mich das innerlich nicht. Wenn ich früher spät aufgestanden bin, dann war ich total mutlos und dachte: Nun ja, dieser Tag ist schon verloren, ich mache jetzt nichts mehr. Nun habe ich dabei immer noch ein unangenehmes Gefühl, es ist so, als wenn da etwas wäre, das man nicht mehr erreichen kann. Aus psycholo­ gischer Sicht könnte ich eine ganze Abhandlung darüber schreiben, aber ich nehme mir vor, nicht mehr über «schwierige» Dinge zu schreiben; das mache ich erst, wenn sie einfacher geworden sind. Keine Ahnung, was ich heute tun werde. Ich kann in diesem Haus nicht arbeiten, ich habe hier kein eigenes Plätzchen und habe den Dreh noch nicht heraus. Nun ja, ich

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lasse es einfach und werde dann einfach probieren, mich so gut wie mög­ lich auszuruhen. Klatschweib, Mistweib, jammere doch nicht so, jawohl, rede du nur ins Blaue hinein. Das ist meine innerliche Reaktion, wenn meine Mutter mit mir spricht. Mutter ist einer dieser Menschen, die einen bis aufs Blut rei­ zen können. Ich versuche, sie objektiv zu sehen, und versuche, sie auch ein wenig lieb zu haben, aber auf einmal sage ich dann wieder aus tiefster Überzeugung: Was bist du nur für ein lächerlicher und alberner Mensch. Das ist überhaupt nicht richtig von mir, ich lebe hier nicht, aber lasst mich leben, wie ich will. Ich lege mein Leben beiseite, bis ich hier wieder weg bin. Früher machte mich dieses Irrenhaus immer kaputt, mittlerweile halte ich innerlich alles auf Distanz und versuche, unversehrt wieder herauszukom­ men. Aber es fehlt mir hier jede Energie, um anständig zu arbeiten, es ist, als ob hier alle Energie aus einem herausgesaugt würde. Es ist jetzt 11 Uhr, und ich habe nur ein wenig auf dieser kühlen Fens­ terbank vor diesem unordentlichen Frühstückstisch herumgesessen und mir die pathetischen Aussprüche meiner Mutter über Buttermarken, über ihre Gesundheit und so weiter angehört. Und doch ist sie keine unbedeu­ tende Frau. Das ist hier immer das Tragische. Es ist hier eine Menge an Talent und menschlichem Wert vorhanden, bei Vater und bei Mutter, aber ungenutzt, zumindest nicht gut genutzt. Man bricht sich hier das Genick angesichts der ungelösten Probleme und angesichts der Stimmungsschwan­ kungen, es herrscht ein chaotischer und betrüblicher Zustand, der sich im äußeren Chaos des Haushalts widerspiegelt. Und dabei denkt Mutter noch, sie sei eine ausgezeichnete Hausfrau. Aber sie macht alle total ver­ rückt mit ihrer ewigen Haushaltung. Mein Kopf fühlt sich hier stets schwerer an. Nun ja, dann mal wieder weiter. Das Leben hier in diesem Haus scheitert an Kleinigkeiten. Man wird von Kleinigkeiten aufgefressen und zum Wesentlichen kommt man gar nicht erst. Ich schrieb gerade an Gera, dass ich zu einer Berufsmelancholikerin degenerieren würde, wenn ich hier lange bliebe. Man kann hier auch nichts tun, weder helfen noch eingreifen. Es ist alles so labil. Nur an dem einen Abend, als ich dieses leidenschaftliche Referat über S. und seine Arbeit gehalten habe, reagier­ ten sie enthusiastisch, mit Fantasie und Humor. Und dann ging ich mit so einem angenehmen Gefühl ins Bett und dachte: Was für nette Menschen eigentlich. Aber am nächsten Morgen waren da wieder nur Skepsis und

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alberne Scherze, dann ist es so, als hätten sie kein Vertrauen in ihre eigene Begeisterung des vorherigen Abends. Und so wurstelt man dann weiter. So, Etty, raffe dich jetzt einmal auf, ich meine: raff dich zusammen. Diese Bauchschmerzen stimmen mich natürlich auch nicht gerade heiterer. Ich denke, dass ich heute Mittag ein wenig schlafen werde, und dann gehe ich in die Bibliothek, wieder mal diesen Dr. Pfister13 weiterstudieren. Ich muss doch dankbar sein, dass ich alle Zeit für mich selbst habe; also nutze sie in Gottes Namen auch, du Dummkopf! Und nun ist Schluss mit diesem albernen Gekritzel. abends 11 Uhr. Ich beginne daran zu glauben, dass dies eine wirklich bedeutsame Freund­ schaft wird. Das Wort Freundschaft mit dem ganzen Gewicht seiner Be­ deutung. Ich fühle mich innerlich sehr ernst. Und es ist kein Ernst, der über der Wirklichkeit schwebt und der mir später wieder unnatürlich und übertrieben vorkommen wird. Das glaube ich zumindest nicht. Als heute Nachmittag um 6 Uhr sein Brief ankam  – ich kam gerade, vom Regen durchnässt, aus Gorssel14 zurück –, hatte ich überhaupt keinen innerlichen Bezug zu diesem Brief. Ich war todmüde, sowohl körperlich als auch geis­ tig, und wusste eigentlich nicht genau, was ich mit diesem Brief anfangen sollte. Und dann habe ich mich auf mein Bett geworfen und habe die mir bekannte Handschrift noch einmal andächtig studiert, und da spürte ich ein unerschütterliches und kräftiges Gefühl in Bezug auf diesen Menschen in mir. Und spürte dann, wie wichtig er für meine weitere geistige Ent­ wicklung sein wird, wenn ich mich nur stets ernsthaft und ehrlich weiter mit ihm und mir selbst und den vielen Problemen «auseinandersetze», die in Bezug auf diese Beziehung immer wieder vor mir auftauchen werden. Bedeutungsschwer.

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Ich muss es auch wagen, das Leben mit der «Bedeutungsschwere» zu leben, mit der es verlangt gelebt zu werden, ohne dass ich mir dabei wich­ tigtuerisch oder empfindsam oder unnatürlich vorkomme. Ich darf ihn nicht als Ziel betrachten, sondern als Mittel, um weiter zu wachsen und zu reifen. Ich darf ihn nicht besitzen wollen. Es ist wahr, dass die Frau die Konkretheit des Körpers sucht und nicht die Abstraktheit des Geistes. Der Schwerpunkt der Frau liegt in einem einzigen Mann, der Schwerpunkt des Mannes liegt in der Welt. Kann die Frau ihr Zentrum woandershin verlegen, ohne sich selbst gewissermaßen zu vergewaltigen, ohne ihrem Wesen Gewalt anzutun? Diese und noch viele andere Fragen

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wurden durch seinen Brief aufgeworfen, der sehr inspirierend auf mich wirkte. Zu einem anderen Menschen stehen. Freundschaft will auch geübt sein.

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Hier im Haus die seltsamste Mischung aus Barbarei und Hochkultur. Das geistige Kapital liegt hier zum Greifen nahe, aber es liegt unge­ nutzt und unbewacht da, nachlässig verstreut. Es ist deprimierend. Es ist tragikomisch, ich weiß nicht, was das für ein verrückter Haushalt ist, aber ein Mensch kann sich hier nicht entwickeln. Das Aufschreiben der alltäglichen Dinge gelingt mir nicht. Aber darum geht es mir doch überhaupt nicht. Ein schwarzes oder ein weißes Steinchen heute? Ein glänzend weißes Steinchen. Das Leben ist reich an Versprechen und Möglichkeiten, so­ lange wir gesund sind. Und nicht Angst davor haben, es schwer zu haben. Es ist eigentlich so, als ob ich mich heute, heute Abend, zum ersten Mal innerlich zu ihm bekenne, jetzt, wo ich erst den Kampf mit ihm beginne, oder besser gesagt den Kampf mit mir. Etty, sei eine «große» Frau und schaffe ein wenig Klarheit für dich und vielleicht für viele Mitfrauen. Ich fühle mich eigentlich sehr, sehr glücklich und voller Kraft, wie je­ mand, der dem Leben gänzlich gewachsen ist. Ich merke auch, dass ich immer unabhängiger von meiner äußeren Umgebung werde. Heute Morgen gab es viel Blödes, aber der Tag wurde dann trotzdem noch frucht­barer, als das früher jemals möglich gewesen wäre. Eine Zeit lang anständig Russisch mit meiner Mutter gesprochen, die dann plötzlich wieder eine sehr ordentliche, manierliche Persönlichkeit zu sein schien. Dann tut es mir auf einmal wahnsinnig leid, dass ich innerlich so häss­ lich reagiert habe, und dann finde ich, dass ich sie ungerecht beurteile, aber einige Stunden später sagt auf einmal wieder ein verärgertes Teufel­ chen in mir: scheußlicher Brüllaffe, hör doch auf mit diesem Geschwätz. Du bist doch wirklich ganz verrückt, was bist du nur für ein verrückter Mensch; sehr nüchtern und mit einer Art bitterem Humor denke ich das dann, die Liebe in mir ist dann weit entfernt. Etty, Etty, versündige dich doch nicht so. Aber es ist nun mal so. Und wirst du jetzt endlich schlafen gehen?

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Eigentlich gibt es in mir so viel Liebe. Diese Textstelle von Rittelmeyer, die er in seinem Brief zitiert, werde ich morgen früh anfangen abzuschrei­ ben. Samstagmorgen [9. August 1941], 10 Uhr. R. S. 92. «… Dinge der Außenwelt kann man so erkennen, daß der Erken­ nende dem Erkannten gegenübersteht und an ihm den Erkenntnisakt voll­ bringt. Je tiefer es ins Innere geht, um so mehr wird das Erkennen zugleich ein Erkanntwerden. Einen Menschen in seinem tieferen Wesen kann ich eigentlich nur erkennen, wenn ich zugleich mich von ihm aus sehe, und also auch ein neues Wissen über mich gewinne, indem ich ihn erkenne.»

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nachmittags 3 Uhr. Ich gehe wieder einmal mit einem Brief an meinen guten Freund S. schwanger. Es ist schon sehr schön, wenn man die Dinge so komplett und abgerundet in sich fühlt, man kann dies dann so richtig schön genießen, aber dann kommt der Moment, in dem man dies alles in einigen verständ­ lichen Worten herausbringen muss, und damit beginnt die Misere. Und doch ist es wichtig, dass ich meine Reaktionen auf seinen Brief gestern exakt in Worte fasse. Es ist eigentlich ziemlich einfach, aber ich möchte dann gerne die Dinge so besonders schön und klar formulieren, aber ­eigentlich geht es dann nur um Eitelkeit und um das Bedürfnis, Eindruck zu schinden. Aber eigentlich ist es das nicht allein. In mir spüre ich es so reich und so anschaulich und so spannend usw., und wenn es dann in ein paar dürftigen Worten herauskommt, habe ich Angst, dass er nicht den richtigen Eindruck bekäme. Es ist das Bedürfnis, sich jemandem vollkom­ men zu offenbaren. Man möchte vielleicht auch, dass vor allem der andere keinen schlechteren Eindruck von einem bekommt, als man tatsächlich wert ist. Aber auch dahinter steckt wieder Geltungsdrang. Die Dinge, die ich formulieren möchte, übersteigen meine Fähig­ keiten irgendwie noch, daher vielleicht wieder die auftretenden Kopf­ schmerzen. Überdies versteht diese Familie hier hervorragend die Kunst, alle Energie aus dir herauszusaugen, aber heute bin ich doch schon wieder viel mehr ich selbst als in den letzten Tagen. Ich kenne zwei Arten von Einsamkeit. Die eine macht mich todunglück­ lich und gibt mir ein verlorenes und verlassenes Gefühl, die andere macht mich stark und glücklich. Die erste ist immer da, wenn ich keinen einzi­

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gen Kontakt zu meinen Mitmenschen spüre, wenn ich überhaupt zu gar nichts mehr Kontakt spüre, dann bin ich gänzlich von allen und von mir selbst abgeschnitten und begreife den Sinn dieses Lebens nicht und sehe keinen Zusammenhang zwischen den Dingen und weiß dann nicht mehr, wo mein Platz in diesem Leben ist. In der anderen Einsamkeit fühle ich mich ausgerechnet sehr stark und sicher, dann fühle ich mich mit allen und allem und mit Gott verbunden und weiß, dass ich das Leben allein bewältigen kann und nicht von Menschen abhängig bin. Dann fühle ich mich selbst in ein einziges großes sinnreiches Ganzes eingefügt und fühle, dass ich auch noch viele Kräfte anderen zukommen lassen kann. Die erste Art von Einsamkeit ist die gefährliche. Ihr muss ich mich widersetzen. Diese Einsamkeit rührt daher, dass man noch nicht den Mut zu sich selbst und zu den anderen hat. Und dieser Brief von S. gestern war so wichtig. Zuerst hatte ich überhaupt keinen Kontakt zu diesem Brief. Ich fühlte mich wieder abgeschnitten, auch von S. Dann habe ich mich auf mein Bett geworfen. Ich lag dort auf meinem Rücken und plötzlich kamen mir grundlegende und fruchtbare Gedanken. Und ich war plötz­ lich wieder mit Leben und Wärme überflutet. Und ich spüre eine solide Verbindung zu diesem lieben und guten Menschen. Meine Krankheit ist, dass jeder Mensch mir letztendlich so fremd bleibt, dass keiner echte und endgültige Wurzeln in meinem Herzen schlagen kann. Und gestern war er mir auf einmal ein bisschen weniger fremd. Ich fühlte, dass dies eine ernste Angelegenheit ist, die ich auch ernst nehmen muss. Der eine Mensch muss für den anderen kein Ziel sein, sondern ein Mittel. Ein Mittel, um auf eine höhere Stufe des Lebens zu gelangen. Ein Mittel, um sich loszureißen von dieser viel zu schweren Erde und ihren Lebewesen. Miteinander und durch einander muss man sich doch wieder voneinander befreien und wieder zusammen in einer höheren Freiheit weiterleben. Das ist zwar gut gemeint, aber noch nicht gut ausgedrückt, es braucht ein ganzes Leben, um diese Dinge so klar und deutlich zu erleben und dann auch so klar zu formulieren, dass ein anderer wieder für sein ei­ genes Leben etwas davon hat. Es steckt wieder ein Kloß in mir. Und doch bin ich heute wieder ein Stück weiter als gestern, auch wenn ich wieder die gleichen Kopfschmerzen und die gleichen Anfänge von Magenschmerzen habe. Doch ich bin wieder ein wenig reifer geworden, ich habe wieder ein Stück­ chen Land weitergepflügt, aber das brachliegende Land ist noch uner­

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messlich groß. Denn worunter ich am meisten leide, ist schon, dass ich die Dinge noch nicht sagen kann, noch nicht so formulieren kann, dass die Worte transparent werden und man den Geist dahinter sieht. Viel zu ge­ schwollen ausgedrückt, Mädchen. Sonntagmorgen [10. August 1941], im Bett, die einzige Stelle hier zu Hause, wo man mal mit sich allein sein kann. Es ist hier so eine unbeschreibliche Mischung von Barbarismus und Hochkul­ tur in dieser merkwürdigen Familie, die einem alle Kräfte raubt. Mein ältester Bruder sagt immer: es ist hier die organisierte Unordnung. Das Kapital liegt hier nur so herumgestreut, ein Kapital an geistigen und menschlichen Werten, aber es liegt nur so herum, schlecht verwaltet und ohne Ziel. Es wird einem manchmal so schwer und traurig ums Herz, dabei. Früher kostete mir meine pittoreske Familie jede Nacht mindestens einen Liter verzweifelte Tränen. Ich kann diese Tränen noch gar nicht erklären, sie kamen irgendwo aus dem dunk­ len Kollektiven heraus. Heutzutage bin ich nicht so verschwenderisch mit die­ ser kostbaren Flüssigkeit, aber immerhin, es ist keine einfache Sache hier zu leben. Aber ich wollte ja gar nicht schreiben über diesen komplizierten Haushalt hier, aber ich wollte schreiben über Ihren Brief, der in dieses Chaos ordnend hineinbrach und der so ungeheuer wichtig für mich war. Als die gutmütige und zuverlässige, sehr herbeigesehnte Handschrift mir aus dem Briefkasten ent­ gegenblickte, da habe ich mich furchtbar gefreut, dann las ich den Brief, aber ich hatte im ersten Moment keinen inneren Kontakt mit diesem Brief. Und auch keine inneren Beziehungen zu Dir. Ich stand mal wieder ganz abgeschnit­ ten und entfremdet da, wie schon tausendmal früher in meinem Leben. Keine Kontinuität mehr da, meine größte innere Gefahr. Nachher habe ich mich auf mein Bett geworfen, habe aufs Neue Deine ­Hieroglyphen entziffert und plötzlich war alles wieder da. Ich bekam wieder Kontakt mit mir selber, mit dem Tiefsten und Besten was in mir ist und was ich Gott nenne und dadurch auch mit Dir. Es wuchs eine Stunde heran, in der ich wieder eine Stufe weiter reifte, in der mir viele neue Erkenntnisse über mich selbst und meine Beziehungen zu Dir und zu meinen Mitmenschen aufgingen. Es ist jetzt schon einige Tage später, diese für mich so wichtige Stunde liegt wie ein abgerundetes und vollkommenes Ganzes in mir, aber ich finde noch keine Worte sie aus mir herauszuschreiben. Weißt Du, auf dem Gebiete des «stehen zu sich» sind die meisten Men­ schen eigentlich richtige Dilettanten. Ich auch. Und wenn man nicht den Mut zu

4. August 1941–21. Oktober 1941 sich selber hat, so hat man auch keinen Mut zu den Andern, man hat dann kei­ nen Kontakt mit den Mitmenschen und fühlt sich einsam und um diese Einsam­ keit herum dichtet man dann allerhand interessante Theorien, wie von der «un­ verstandenen Seele» usw., aber das ist ja alles nur falsche Romantik und eine Flucht für sich selber. Und weil Du ein Mensch bist, der den Mut hat das Leben in seiner völligen Bedeutungsschwere zu leben, was doch nichts anderes heißt als aus seinen eigenen ursprünglichen Quellen leben, dadurch zwingst Du die­ jenigen, die sich ernsthaft mit Dir auseinandersetzen, zu den eigenen ursprüng­ lichen Quellen, zu sich selber und von da wieder zu den Anderen. Und ich bin Dir so dankbar, daß Du mich so mal an Dich heran läßt, das wird von so durch­ schlaggebender Bedeutung sein für meine weitere Entwicklung, das spüre ich immer stärker. Du bist eigentlich der erste Mensch, zu dem innerlich zu stehen, ich mich erziehe. Vielleicht wird es die erste undilettantische Freundschaft mei­ nes Lebens werden. Wenn ich Ernst mache mit den Problemen, die mir durch Dich zuwachsen und wenn ich damit fertig werde, na, dann wird schon Vieles geklärt sein in meinem Leben. Eine Frau sieht den Mann immer als Ziel, nie als Mittel, und eigentlich soll­ ten die Menschen einander nur Mittel sein um sich zu einer höheren Stufe von Freiheit emporzuringen.

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Hier liegt eine Aufgabe für die Frau. Ich kann das

­alles noch nicht so deutlich sagen. Der Schwerpunkt der Frau liegt in dem Mann, in dem Haus, in den Kindern, also in dem Substantiellen, Faßbaren, wie Du sagtest. Und der Schwerpunkt des Mannes liegt in dem Beruf, in der Welt, im Kosmos. Aber kann die Frau ihren Schwerpunkt verlegen ohne sich selbst in ihrem tiefsten Wesen zu ver­ gewaltigen? Liegt hier eine Aufgabe für die Frau, für mich? Dies sind jetzt nicht nur theoretische Fragen für mich aber sie werden irgendwie blutiger Ernst.

Abschreiben aus diesem Tagebuch S. 36 ff.,19 auch in diesem Brief, finde ich im Nachhinein gar nicht mal so verrückt. Ich kritzele alles, was ich hier hineinschreibe, unkontrolliert und ohne Gehabe hin, und hinterher sagt es mir doch etwas. Und was ist der langen Rede kurzer Sinn, geduldiger, guter Sie? Um Ihren Brief hat sich ein für mich wichtiger psychologischer Prozeß abgespielt und ich habe versucht das aufzuschreiben, aber ich glaube nicht daß es mir gelungen ist, ich habe wenigstens ein unzufriedenes Gefühl über diese viel zu vielen Buch­ staben über etwas, das ich so klar und einfach in mir fühle. Aber die Tatsache, daß ich versuche einem anderen Menschen Rechenschaft zu geben von was in

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Tagebücher mir ist, ist schon ein Fortschritt für mich und ein Beweis, daß ich anfange Ernst zu machen mit mir selber.

Sonntagabend, 12 Uhr. Ich schlage mich gut durch, wirklich, ich schlage mich durch. Das wird noch eine Vase voller weißer Steinchen, wenn das so weitergeht. Aber jetzt bin ich todmüde. Es wächst eine richtige, starke Säule in meinem Herzen, ich fühle sie sozusagen wachsen und darum herum gruppiert sich der Rest: ich selbst und die Welt und alles. Aber diese Säule gibt eine Menge innere Sicherheit. Dies ist doch schrecklich wichtig für mich: Ich habe Kontakt zu mir selbst. Ich gerate nicht ständig aus meinem Gleichgewicht oder taumele von einer Welt in die andere und schaue nicht mehr so be­ stürzt aus der Welt des Geistes in diejenige der Materie und umgekehrt. Es festigt sich in mir etwas, ich werde irgendwie verwachsen und bin nicht dauernd in der Schwebe, aber das ist erst ein zerbrechlicher Anfang eines neuen und reiferen Stadiums. Behalte dich weiterhin im Auge, Kleine, aber ich bin schon zufrieden mit dir, du schlägst dich durch, wirklich, du schlägst dich durch. Und nun hau dich aufs Ohr, morgen ist auch wieder ein Tag, der gänzlich gefüllt werden will. Mittwochnachmittag [13. August 1941]. Sie schrecklichster aller schrecklichen Kerle: «Schreiben Sie nun mal wirklich weiter und schreiben Sie viel.» Ich will ja überhaupt nicht schreiben heute und morgen wahrscheinlich auch noch nicht. Weißt Du, wie ich mich die letzten Tage fühle? Wie ein Meer, ein weites, tiefes, namenloses Meer und hast Du jemals gehört von einem Meer, das Briefe schrieb? So ein Meer weiß ja gar nicht was Buchstaben sind, es ist nur tief und weit und das genügt. Ich verlebe hier so eine merkwürdige Woche, eine der fruchtbarsten vielleicht, die ich in meinem Elternhause in den Ferien je erlebt habe. Ich habe mich diese Woche trotz der vielen Ablenkungsmanœuvres von außen her ganz in mich hineinge­ sammelt und gleichsam innerlich konsolidiert und jetzt ist einer der seltenen Momente da, worin ich so tief in mir selber ruhe, daß ich gar nicht das Bedürf­ nis habe Dir zu schreiben. Ich habe jetzt ein starkes und gutes Gefühl für Sie, aber keine Worte. Und wenn ich jetzt bei Dir wäre, da würde ich Dich nur so ein bischen treuherzig angucken und gar nicht viel sagen und ich würde Deine liebe große Hand fragen ob sie mich ein wenig streicheln wollte. Na ja, natürlich würde ich Dir doch die Ohren vollplappern, aber Du verstehst, ja? Ich weiß, wie schrecklich unangenehm es ist, wenn man keine regelrechte

4. August 1941–21. Oktober 1941 Antwort auf seine Briefe bekommt, aber ich will jetzt nur sagen, daß Ihre Briefe mich ungeheuer anregen, mit dieser mageren Reaktion müssen Sie heute zu­ frieden sein, bitte, bitte. Montagmorgen müssen Sie früh aufstehen, Sie Armes, dann kommt um 9 Uhr morgens schon Ihre Sekretärin in Ihr Zimmer hineinspaziert. Ich nehme den Zug von 7.49 und muß abends um 8.15 wieder davon. Das kann ein langer und fruchtbarer Tag werden! Ich frrrreue mich! Sie brauchen mich nicht von der Bahn zu holen, ich finde den Weg. Wiederrrrrschauauaun –

Eine kaltblütige, eiskalte Objektivität erlange ich natürlich nicht mit mei­ ner Veranlagung. Dafür habe ich zu viele Emotionen. Aber ich werde von all diesen Emotionen auch nicht mehr so zerrissen wie früher. Daan20 ist aus einem Flugzeug gefallen und es sterben Tag und Nacht so viele dieser vitalen, vielversprechenden jungen Männer. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Durch das viele Leid um einen herum beginnt man sich für sich selbst zu genieren, dass man sich selbst mit all seinen Stimmungen zu ernst nimmt. Aber man muss sich selbst weiterhin ernst nehmen, man muss selbst das Zentrum bleiben und versuchen mit allem, was in dieser Welt passiert, klarzukommen, man darf die Augen vor nichts verschlie­ ßen, man muss sich mit dieser schrecklichen Zeit «auseinandersetzen» und versuchen, eine Antwort zu finden auf die vielen Fragen betreffend Leben und Tod, die diese Zeit einem stellt. Und vielleicht findest du auf einige dieser Fragen eine Antwort, nicht nur für dich selbst, sondern auch für andere. Ich lebe nun einmal. Ich muss allen Tatsachen ins Auge sehen. Ich darf auch nicht vor mir selbst weglaufen. Ich fühle mich manchmal wie ein Pfahl im tosenden Meer, von allen Seiten von den Wellen gepeitscht. Aber ich bleibe stehen und verwittere im Laufe der Jahre. Ich will weiter­ hin alles voll erleben. Ich will die Chronistin für viele Dinge dieser Zeit werden (unten Zeter und Mordio, Vater brüllt: «Dann geh!», und schlägt die Türen zu; auch das muss verarbeitet werden und nun heule ich  – brülle auf einmal, so objektiv bin ich also doch nicht; eigentlich kann man hier in diesem Haus nicht leben, nun ja, dann mal wieder weiter); o ja, Chronistin, da bin ich stehengeblieben. Ich nehme bei mir selbst wahr, dass sich neben all dem subjektiven Leiden, das ich erfahre, immer wieder eine gewisse objektive Neugier einstellt, ein leidenschaftliches Interesse für alles, was diese Welt und ihre Menschen und meine eigenen Seelenregungen betrifft. Ich glaube

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manchmal, dass ich eine Aufgabe habe. Alles, was um mich herum passiert, muss in meinem Kopf klar durchdacht und später von mir beschrieben werden. Armer Kopf und armes Herz, was werdet ihr noch zu verarbeiten haben. Reicher Kopf und reiches Herz, ihr habt doch auch ein schönes Leben. Ich weine schon nicht mehr. Aber mein Kopf ist schon wieder fürchterlich angespannt. Hier tobt das Inferno. Wenn ich das zu Papier bringen wollte, müsste ich schon sehr gut schreiben können. Jedenfalls bin ich diesem Chaos hier entsprossen und habe die Aufgabe, mich selbst in eine etwas höhere Ordnung hochzuführen. S., dieser Schatz, nennt dies «Bauen mit edlem Material». Man wird manchmal selbst dermaßen von den schockierenden Ereig­ nissen um sich herum abgelenkt, dass man später nur mühsam den Weg zu sich selbst zurück bahnen kann. Und doch muss das sein. Man darf nicht aus einer Art Schuldgefühl heraus an den Dingen um sich herum zugrunde gehen. Die Dinge müssen in dir Klarheit erlangen, du darfst nicht selbst an den Dingen zugrunde gehen. Und ein Gedicht von Rilke ist ebenso reell und wichtig wie ein junger Mann, der aus einem Flugzeug stürzt, das möchte ich dir gerade noch sehr ans Herz legen. Das gibt es nun einmal alles in dieser Welt und du darfst nicht das eine auf Kosten des anderen verleugnen. Jetzt geh aber schlafen. Die vielen Widersprüchlichkeiten müssen akzeptiert werden, du wür­ dest zwar gerne alles zu einer Einheit verschmelzen und auf die eine oder andere Weise in deinem Geist vereinfachen, weil das Leben dadurch für dich einfacher würde, aber das Leben besteht nun einmal aus Widersprüch­ lichkeiten, die alle zum Leben gehören und als solche akzeptiert werden müssen, wobei man dem einen nicht auf Kosten des anderen einen höhe­ ren Wert beimessen darf. Lass die ganze Angelegenheit einfach laufen, und vielleicht wird dann doch noch ein Ganzes daraus. Ich habe dir doch ge­ sagt, dass du schlafen gehen sollst, statt Dinge aufzuschreiben, die du noch überhaupt nicht formulieren kannst. Freitagmorgen [15. August 1941], im Bett. Mein Kopf ist die Werkstatt, in der alle Dinge dieser Welt so lange durch­ dacht werden müssen, bis sie klar sind. Und mein Herz ist der glühende Ofen, in dem alles erlebt und erlitten werden muss. Dies ist fürwahr ein sehr tiefsinniges Erwachen. Und jetzt geht es hier mit mir bergab. Die eine Woche habe ich mich so gut durchgeschlagen, aber nun werde ich allmählich so mutlos und innerlich niedergeschlagen

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und es scheint, dass ich irgendwie nicht dagegen ankämpfen kann. Es ist, als ob hier in dieser Familie ständig etwas an meiner Lebensfreude nagen würde, und ich würde hier auf Dauer ein mürrisches Frauenzimmer ­werden und ganz vergessen, dass ich eigentlich so eine heitere und gesprä­ chige Kreatur bin. Ich glaube, dass ich mich allmählich am meisten nach Pa Hans blaugrauen «lieben Augen» sehne  – nach seinen gefühlvollen Streichelhänden. Freitagnachmittag (im Bett). Mein gequälter Kopf sehnt sich heute so sehr nach Deinen Händen. Das ­Schädeldach ist mal wieder zu eng geworden für die vielen gegenstreitigen Gedanken und das Herz wird jede Stunde schwerer. Das sind mal wieder ­andere Klänge als das vorige Mal. Hör mal, findest Du, finden Sie, mich einen sehr egozentrischen Menschen, finden Sie, daß ich mich und meine Stimmun­ gen zu wichtig nehme? Das müssen Sie nur doch mal sagen. Ich weiß es nicht. Manchmal denkt man den ewigen Frieden gefunden zu haben, aber ein Mensch soll nie zu sicher von sich selber sein. Ich weiß nicht, was das hier eigentlich ist, man kann hier nicht leben. Eine Woche habe ich mich wirklich glänzend durchgeschlagen, und mit einemmale bemerke ich, daß ich völlig erschöpft bin und bodenlos unglück­ lich. Es ist, ob fortwährend in dieser Umgebung, an meiner Lebensfreude ge­ nagt wird, ich weiß schon gar nicht mehr wie ich mich dagegen wehren muß, es ist ob überall an mir schwere Steine hängen, an meinen Armen, an meinen Beinen, an meinem Gehirn, und an meinem Herz, die mich in irgendeinen ­Morast hinunter ziehen wollen. In meinen Träumen geht es zu wie an der Klage­mauer in Jeruzalem. Ich erinnere mich, wenn ich erwache, nie etwas Kon­ kretes, sondern weiß nur noch, daß da irgendwo schwer geseufzt und herz­ zerreißend geschluchzt worden ist. Ich bin jetzt gar kein netter und lebendiger Mensch, «ein schwarzes, und russisches Mädchen», wie Frau Nethe immer sagt, aber eine gequälte, müde und langweilige Kreatur. Es ist ob ich jede Stunde müder und gelähmter werde, wenn das so weiter geht, kann ich Ihnen Montag noch einen gemütlichen Tag besorgen. Na, da steht es, schöne Ferien­ lektüre für Sie, aber im Moment ist es anders. Ich erlebe diese Woche soviel, Himmel und Hölle, alles zusammen. Aber es geht schon wieder vorüber, das schlimmste finde ich immer, daß ich dann auch körperlich gleich so vollkom­ men herunter bin, fortwährende schwere Kopfschmerzen und gelähmt von Müdigkeit, Rindvieh was? Vor einigen Tagen, sehr früh am Morgen, als jeder im Hause noch schlief,

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Tagebücher ist mein jüngster Bruder der elterlichen Wohnung entflohen.

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Er hat einen

ziemlich pathetischen, aber doch sehr logischen Brief hinterlassen, worin stand, daß er die Atmosphäre zu Hause nicht länger ertragen konnte, daß er sich nicht austrocknen lasse und daß er von nun ab sein eigenes Leben auf­ bauen wollte. Nach einem Tage suchen (das war Mittwoch) haben wir heraus gefunden daß er zu Bekannten in der Provinz gegangen ist (er hatte nur die Zahnbürste der Mutter als Gepäck mitgenommen, weiter nichts), die ihn lieb­ reich aufgenommen haben. Er will nicht nach Hause zurück. Recht hat er, der kleine Kerl. Hoffentlich hält er sich gut, damit man ihn nicht wieder einzusper­ ren braucht. Über diese kleine Episode wäre ein ganzes Buch zu schreiben, mündlich werde ich weiter berichten. Es passiert hier immer so wahnsinnig viel im Hause, jede Stunde enthält tausend Stimmungen, ich muß das alles immer wieder aufs Neue verarbeiten und daß ich schließlich nicht mehr aus meinen Kopfschmerzen herauskomme, ist eigentlich nicht so ein Wunder. Auch eine humoristische Note ist hier natürlich, aber immer mit bitterem oder zynischem Beigeschmack. Und jetzt genug der Familienchronik. Ach, weißt Du, eigentlich nehme ich meine Depressionen nur insoweit wichtig, als ich, durch zu versuchen sie zu verstehen, Andere nachher wieder verstehen kann und evtl. helfen in schweren Stunden. Immer, wenn es mir innerlich sehr schlecht geht, spüre ich zugleich eine Hilfsbereitschaft, Anderen später den Weg zu zeigen in ihrem eigenen dunklen Labyrinth der Seele, damit vielleicht viele unglückliche Momente erspart bleiben. Aber erst muß in mich selbst Klar­ heit kommen, bevor ich anderen Klarheit bringen kann.

Textstelle aus Rilke abgeschrieben.22 Weißt Du, ich habe gestern gedacht, Du bist ein Mensch, der mit den beiden Füßen fest in diese Erde gepflanzt steht, und mit dem Kopf im Himmel steckt. So soll es auch sein bei einem Menschen. Mit mir ist es anders: einmal krieche ich auf der Erde herum und ein anderes Mal schwebe ich im Himmel umher, aber eine natürliche Verbindung von Himmel und Erde ist mir immer noch nicht gelungen. Daher daß ich oft noch so unsicher und verwirrt bin, glaubst Du nicht? Ich wollte gar nicht schreiben heute und jetzt ist es doch wieder ein Brief ge­ worden. Wird für den mündlichen Rest ein Tag genügen. Aber ich kann nicht übernachten, weil die Eltern zu schiefe Gesichter sonst machen. Hören Sie mal: an Ihrem Mund ist da irgendwo eine so eigensinnige und

4. August 1941–21. Oktober 1941 trotzige Biegung, und diese Stelle küsse ich im Moment mal, aber wirklich «undämonisch», finden Sie das bitte gut? Als ich zum vierten oder fünften Mal zu Ihnen in die Stunde kam, da hatte ich mal die komische Lust Sie ganz nüch­ tern zu fragen: Lieber Herr Spier, darf ich bitte diese eigensinnige und revolu­ tionäre Stelle Ihres Mundes mal küssen, ich möchte das so gerne, ich kann gar nicht erklären warum. Das hätten Sie damals vielleicht höchst merkwürdig ge­ funden, wenn ich das gesagt hätte, gelt? Aber kurze Zeit war es doch wirklich eine kleine Obsession für mich.

Aus einer Diskussion mit Jaap:23 Er ist wahnsinnig,24 aber er ist zumindest ein gesunder Wahnsinniger, aber ich bin wahnsinnig gesund. abends 11 Uhr. So, und nun gibt es einen Moment der Ruhe, der Windstille. Ich brauche jetzt an gar nichts mehr zu denken. Das kann natürlich auch von den 4 Aspirin herrühren. Aus einer Diskussion zwischen meinem Vater und mir bei einem Spa­ ziergang entlang der Singel: Ich: Ich bemitleide jede Frau, die mit Mischa in Kontakt kommt. Vater: Der Junge ist nun einmal auf dem Markt, was kann man da machen? 23. August 1941, Samstagabend, hinter dem Schreibtisch. Ich werde meine Stimmungen wieder einmal exakt aufzeichnen müssen, es wird wieder zu schlimm. Und dass eine einzige unbedeutende Erkäl­ tung meine ganze Einstellung zum Leben plötzlich wieder pechschwarz färbt, ist doch auch sehr übertrieben. Wie war das noch mal? Am Donners­ tagabend im Zug von Arnhem25 hierher war es so gut. Hinter den Abteil­ fenstern brach die Nacht herein, still, weit und majestätisch. Und drinnen im engen Abteil waren die vielen Arbeiter, schwer beschäftigt, lebhaft, vol­ ler Leben. Und ich saß kauernd in meiner dämmerigen Ecke und mein rechtes Auge blickte in die große und stille Natur und mein linkes Auge sah die ausdrucksstarken Köpfe und die lebhaften Gebärden der Men­ schen. Und ich fand alles gut, das Leben und die Menschen. Und dann die lange Reise ab dem Bahnhof Amstel durch die beinahe dunkle, wie verzauberte Stadt. Und dann bekam ich auf diesem Spaziergang auf ein­ mal das Gefühl, dass ich nicht allein war, sondern «zu zweit». Ich fühlte

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mich so, als würde ich aus zwei Menschen bestehen, die sich innig anein­ anderschmiegten und es dadurch gut und warm hatten. Ein sehr enger Kontakt zu mir selbst und dadurch eine große Wärme in mir. Völlige Selbstgenügsamkeit. Ich unterhielt mich auch angeregt mit mir selbst und tippelte da so vergnügt all die Amstellanen26 hinab, gänzlich in mich selbst versunken. Und ich stellte mit einer gewissen Zufriedenheit fest, dass ich mit mir in guter Gesellschaft bin und dass ich sehr gut mit mir auskomme. Und am folgenden Tag blieb das Gefühl, aus zwei Menschen zu bestehen, die sehr eng aneinandergeschmiegt sind und die es dadurch so herrlich warm haben. Und als ich gestern Nachmittag den Käse von S. holte und durch diesen schönen Stadtteil Süd lief, fühlte ich mich wie ein alter Gott, in eine Wolke gehüllt. So wird es sich wohl zumindest irgendwo in der Mythologie27 ereignen: ein Gott, der sich fortbewegt, in eine Wolke ge­ hüllt. Es handelte sich um eine Wolke meiner eigenen Gedanken und Ge­ fühle, die mich umhüllte und begleitete, und ich fühlte mich in dieser Wolke so warm und umschlossen und geborgen. Und nun habe ich einen erkälteten Kopf und in mir stecken nur Gefühle der Unlust und Unbehag­ lichkeit und Abneigung. Das Unbegreifliche ist dann eine Abneigung ge­ genüber Menschen, die ich sonst sehr mag. Eine negative Haltung allem gegenüber, Destruktivität, Kritik usw. Schon sehr sonderbar, dass dies alles wohl durch eine verstopfte Nase verursacht wird. Eigentlich ist das nichts für mich: diese Abneigung gegen meine Mitmenschen. Wenn ich mich körperlich so unwohl fühle, müsste ich die Denkmaschine eigentlich ab­ schalten, aber die kommt dann meistens besonders stark in Gang und macht alles schlecht, was man nur schlechtmachen kann. Auf jeden Fall ist es klug, jetzt ins Bett zu gehen, ich fühle mich wirklich ein bisschen krank. Vielleicht ist es gut, wenn deine Taten anders sind als deine Gedanken. Hans28 wird heute Abend nach Hause kommen, und dieser Gedanke ver­ ärgerte mich fürchterlich. Sobald diese Abneigung gegen Menschen in mir aufkommt, ist er direkt betroffen, gewiss weil er zu meiner engsten Um­ gebung gehört. Ich sah der Tatsache, dass er kam, also mit Schrecken ent­ gegen, stellte mir vor, er sei ein stinklangweiliger, träger, schwermütiger Junge. Und dann kam er herein, frisch und munter aus dem Segelkurs, und dann stellte ich plötzlich bei mir selbst fest, dass ich sehr heiter und vergnügt mit ihm am Reden war, dass ich Freude und Interesse an seinem verbrannten Gesicht mit den treuherzigen, noch etwas unsteten blauen Augen hatte, dass ich aufsprang und für ihn eine Suppe kochte, mich an­ geregt mit ihm unterhielt und dass ich ihn eigentlich doch mochte, so wie

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ich eigentlich jedes Geschöpf Gottes mag. Ich glaube nicht, dass in mei­ nem Auftreten etwas Unnatürliches war, ich denke eher, dass diese innere Gereiztheit bei mir unnatürlich ist. Gehört eigentlich nicht zu mir. Folg­ lich sollte ich mich diesbezüglich etwas beherrschen. Dies kann beispiels­ weise bedeuten, dass ich – wenn ich sowieso nicht mehr arbeiten oder ­lesen kann – einfach schlafen gehen muss. Als ich für Hans die Suppe aufgewärmt habe, kamen mir die folgenden Gedanken: Bislang habe ich nur die große Geduld, alles in mich aufzu­ nehmen, aber mir mangelt es noch an Geduld, um demjenigen, was in mir steckt, eine Form zu geben. Zu S. sagte ich am Donnerstag: Ich habe noch nicht das nötige Werkzeug, um den Dingen eine Form zu geben. Und darauf sagte er, ganz richtig: «Sie haben ja auch noch keinen Gegen­ stand.»

Was ich mache, das ist «hineinhorchen» (dies scheint mir nicht übersetz­ bar zu sein). «Hineinhorchen» in mich selbst, in die anderen, in die Welt. Ich horche sehr intensiv mit meinem ganzen Wesen und versuche, hor­ chend den Dingen auf den Grund gehen zu können. Ich bin immer stark angespannt und voller Aufmerksamkeit, ich suche nach etwas und weiß noch nicht, nach was. Ich suche natürlich eine eigene Wahrheit, habe aber noch keine Ahnung, wie diese aussehen soll. Ich gehe blind auf ein be­ stimmtes Ziel zu, ich spüre, dass es ein Ziel gibt, aber wo und wie, weiß ich nicht. In meinem Studium ist das auch so merkwürdig. Ich fertige Exzerpte von Büchern an, beinahe instinktiv, manchmal halte ich einen einzelnen Satz, ein Wort fest, das muss ich für die Zukunft aufbewahren, denke ich dann, das werde ich später noch benötigen. Ich arbeite auf etwas hin, ich arbeite in einem größeren Rahmen, aber es ist noch unbestimmt, und doch führt es zu irgendetwas, es strebt nach einer Synthese. Manch­ mal fühle ich mich an diesem Schreibtisch wie eine Abenteurerin und manchmal, am Ende des Tages, fühle ich mich wie ein geduldiger Bauer, der wieder ein nicht nennenswertes kleines Stückchen auf dem großen Acker des Geistes gepflügt hat. Und dann wird die Engelsgeduld wieder von einem wilden Drang nach Abenteuer abgelöst. Und dann wieder die Niedergeschlagenheit, die Zweifel an sich selbst, die Machtlosigkeit, dem­ jenigen, was in dir steckt, eine Form zu verleihen. Es ist nun 9 Uhr. Ich gehe ins Bett. Ich werde versuchen, an nichts zu denken. Ich muss noch auf ganzer Linie disziplinierter werden, und wenn möglich sollte ich morgen noch eine Menge in dieses Heft schreiben.

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Montagmorgen [25. August 1941], halb 10. Sagen Sie mir mal etwas Gescheites hierzu: ich finde es immer so eine Blamage für den Geist, wenn er durch einen albernen Schnupfen oder Kopfschmerzen oder sonstige körperliche Beschwerden beeinträchtigt wird: Wenn es mir kör­ perlich schlecht geht, schäme ich mich gleichsam, ich will es für mich selbst verheimlichen, sträube mich dagegen, fühle mich darum doppelt so schlecht und finde mich einen energielosen Menschen, weil der Körper einen so großen Einfluß hat auf die Arbeit und überhaupt auf den ganzen Seelenzustand. Ver­ achte ich den Körper immer noch zu sehr? Muß man zu seinen Krankheiten, auch den kleinsten, stehen, oder sich widersetzen? Hier liegt noch so etwas wie ein Propplem für das manchmal zuviel grübelnde Mädchen.

Heute Morgen beim Aufwachen musste ich an die Worte von Marx den­ ken: Zuerst kommt die wirtschaftliche Basis und dann der kulturelle Überbau.29 Und ist dies nicht auch so bei dem einzelnen Menschen? Wenn sein Körper ihn viel Kraft kostet, bleiben weniger Kräfte für den Geist übrig. 26. August [1941], Dienstagnachmittag. In mir drin ist ein sehr tiefer Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber öfter liegen Steine und Schutt auf diesem Brunnen, dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben wer­ den. Ich stelle mir vor, dass es Menschen gibt, die beim Beten die Augen gegen den Himmel erheben. Sie suchen Gott außerhalb ihrer selbst. Es gibt auch Menschen, die den Kopf tief senken und in den Händen verber­ gen, ich denke, dass diese Menschen Gott in sich selbst suchen. Aus einem Brief an S.: «Wenn man Distanz zu einem Menschen hält, kann man ihn besser überbli­ cken und unterscheiden, als wenn man ihm zu nahe kommt. Ist darin eigentlich nicht etwas Trauriges? (Ach nein, vielleicht etwas Problematisches.) Wie dem auch sei, ich möchte doch immer eine gewisse Distanz zu Ihnen bewahren.»

4. September [1941], halb 11, Donnerstagabend. Das Leben besteht aus Geschichten, die von mir nacherzählt werden wol­ len. Ach, Unsinn. Ich weiß es eigentlich nicht. Ich bin wieder einmal ­unglücklich. Und kann es mir schrecklich gut vorstellen, dass Menschen

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alkoholsüchtig werden oder mit einer wildfremden Person ins Bett gehen. Aber mein Weg ist das nun einmal nicht. Ich muss nüchtern und mit ­einem klaren Kopf hindurch. Und allein. Es ist gut, dass der Schurke heute Abend nicht zu Hause war. Sonst wäre ich wieder hingerannt. Hilf mir doch, ich bin so unglücklich. Ich zerplatze. Und ich verlange von ­anderen, dass sie mit ihren Angelegenheiten selbst fertigwerden. Ich will hineinhören. Jawohl. Nun, ich habe mich dann in den hintersten Winkel meines Zimmers auf den Boden gesetzt, eingeklemmt in einer Ecke zwi­ schen zwei Wänden, meinen Kopf sehr tief gesenkt. Ja, und da saß ich. Ganz still. Gewissermaßen auf meinen Nabel starrend, in frommer Erwar­ tung, ob neue Kräfte in mir aufsprudeln wollten. Mein Herz saß wieder in der Klemme, es wollte nicht von innen zerfließen, alle Abflusskanäle ­waren verstopft und das Gehirn war in einen starken Schraubstock einge­ klemmt. Und wenn ich da so zusammengekauert sitze, warte ich darauf, dass etwas schmelzen und etwas in mir fließen will. Ich habe mich eigentlich dadurch, dass ich alle Briefe der «Freundin» gelesen habe, zu stark belastet. Ich hatte sie immer so mit einer VogelStrauß-Taktik ferngehalten und jetzt hat sie mich doch eingeholt. Und wegen dieser Briefe wieder ein ganzer Prozess der Verarbeitung, und so wurstelt man dann weiter. Ich wäre einfach gerne zum Beispiel so wie die­ ser Mann heute Abend oder wie eine Grasfläche. Natürlich nehme ich mich selbst noch zu wichtig. Ich bilde mir an so einem Tag wie heute ein, dass niemand so stark leidet wie ich. Wenn ein Mensch Schmerzen an seinem ganzen Körper hat und es nicht ertragen kann, dass ein anderer ihn auch nur mit einem einzigen Finger berührt, so ist das mit meiner Seele oder wie man es auch immer nennen möchte. Der geringste Druck verursacht dann Schmerzen. Seele ohne Oberhaut,30 etwas in der Art schrieb Frau Romein31 – glaube ich – einmal über Carry van Bruggen.32 Ich möchte sehr weit reisen. Und jeden Tag andere Menschen sehen, die dann keinen Namen haben müssten. Manchmal scheint mir, dass die paar Menschen, mit denen ich sehr enge Beziehungen habe, mir die Sicht ver­ sperren. Die Sicht worauf eigentlich? Etty, du bist ein kleiner Schurke und überhaupt nicht gewissenhaft. Du könntest für dich wahrscheinlich schon herausfinden, worauf die schwermütige und unglückliche Stimmung, ­gepaart mit starken Kopfschmerzen, zurückzuführen ist. Aber ach, dazu habe ich eigentlich keine Lust, dafür bin ich zu faul. Herr, gib mir ein wenig Demut. Bin ich zu intensiv beschäftigt? Ich will dieses Jahrhundert kennen­

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lernen, von außen und von innen. Ich berühre dieses Jahrhundert, jeden Tag aufs Neue, ich taste mich mit meinen Fingerspitzen den Konturen dieser Zeit entlang. Oder ist das nur eine Fiktion? Und dann schleudere ich mich selbst stets wieder in die Realität zu­ rück. Ich konfrontiere mich selbst mit allem, was mir über den Weg läuft. Das beschert mir manchmal so ein Gefühl der Zerschlagenheit. Es ist ge­ nau so, als ob ich mich mit Gewalt mit allem zusammenprallen lasse, und das führt zu Beulen und Schrammen. Aber ich bilde mir ein, dass das so sein muss. Ich habe manchmal das Gefühl, als säße ich in einem Schmelz­ tiegel. Oder in einem höllischen Fegefeuer, und dass ich zu etwas ge­ schmiedet werde. Zu was? Das ist wieder etwas Passives, ich muss es mit mir geschehen lassen. Aber dann ist da auch immer wieder das Gefühl, als ob alle Probleme dieser Zeit im Besonderen und der Menschheit im Allge­ meinen ausgerechnet in meinem kleinen Kopf gelöst werden müssten. Das ist etwas Aktives. Nun ja, das Schlimmste ist schon wieder vorüber. Ich bin wie ein verrückter Säufer um die Eisbahn herumgeschlendert. Und habe dem ewigen Mond ganz verrückte Dinge gesagt. Dieser Mond ist auch schon etwas älter. Solche Typen wie mich hat er wohl schon öfters erlebt. Er wird überhaupt schon das ein und andere erlebt haben. Na ja. Mir ist ein schweres Leben beschieden. Ich habe manchmal gar keine Lust mehr darauf. Dann sehe ich voraus, wie alles kommen wird, und dann habe ich es so satt, dann ist es nicht notwendig, dass ich alles noch einmal in Wirklichkeit erlebe. Aber das Leben in mir ist doch immer wieder stär­ ker. Und dann finde ich wieder alles «interessant» und spannend und bin kämpferisch und voller Ideen. Man muss seine «Pausen wahr haben wol­ 33 len». Aber ich stecke wohl mitten in den «Pausen», so erscheint es mir zumindest. Und nun gute Nacht. Da kommt mir etwas in den Sinn. Es kann sein, dass ich mich selbst zu «wichtig nehme», aber auch, dass ich will, dass andere mich sehr «wichtig» nehmen. S. zum Beispiel. Ich möchte dann, dass er weiß, dass ich sehr leide, und gleichzeitig verberge ich es vor ihm. Könnte das auch etwas zu tun haben mit dem Widerstand, den ich so oft gegen ihn verspüre? Freitagmorgen [5. September 1941], 9 Uhr. Ich fühle mich nun genauso wie jemand, der sich von einer schweren Krankheit erholt. Noch ein wenig schwach im Kopf und wackelig auf den Beinen. Das war schon schlimm gestern. Ich glaube, dass ich innerlich

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nicht einfach genug lebe, dass ich mich zu stark an «Ausschweifungen», an Bacchanalen des Geistes übernehme. Vielleicht identifiziere ich mich auch zu stark mit allem, was ich lese und studiere. Jemand wie Dostojewski macht mich noch immer irgendwie kaputt. Ich muss wirklich ein bisschen einfacher werden. Mich etwas mehr leben lassen. Nicht jetzt schon die Ergebnisse meines Lebens sehen wollen. Mein Heilmittel kenne ich jetzt. Ich muss mich einfach in einem kleinen Winkel auf den Boden hinkauern und so zusammengesunken horchen, was in mir drin ist. Mit Denken komme ich ja doch nicht weiter. Denken ist eine schöne und stolze Tätig­ keit in deinem Studium, aber aus schwierigen Gemütszuständen kannst du dich niemals «heraus»denken. Dann muss etwas anderes geschehen. Dann musst du dich passiv verhalten und horchen. Wieder Kontakt zu einem kleinen Stückchen Ewigkeit finden. Wirklich ein wenig einfacher und weniger hochtrabend sein, auch in deiner Arbeit. Wenn ich eine einfache russische Übersetzung anfertige, breitet sich in meinem Geiste im Hintergrund das gesamte Russland aus, und dann finde ich auch, dass ich mindestens so ein Buch wie Die Brüder Karamasow34 schreiben muss. Einerseits stelle ich – glaube ich – sehr hohe Ansprüche an mich selbst, und in wirklich inspirierten Momenten halte ich mich zu sehr vielem imstande, aber die Inspiration hält nicht ewig an und in den alltäglicheren Momenten bekomme ich dann plötzlich Angst, dass ich niemals etwas von dem, was ich in den «gesteigerten» Momenten in mir fühle, werde verwirklichen können. Aber warum muss ich etwas verwirklichen? Ich muss einfach nur «sein» und leben und versuchen, ein wenig Mensch zu sein. Du kannst nicht alles mit deinem Verstand beherr­ schen, lass auch ein wenig die Quellen des Gefühls und der Intuition spru­ deln. Wissen ist Macht, das weiß ich, und vielleicht eigne ich mir auch aus einer Art Geltungsdrang heraus Wissen an. Ich weiß es eigentlich nicht. Aber Herr, gib mir lieber Weisheit statt Wissen. Oder besser gesagt, nur das Wissen, das zur Weisheit führt, macht den Menschen, zumindest mich, glücklich, und nicht das Wissen, das Macht ist. Etwas Ruhe, viel Güte und ein wenig Weisheit; wenn ich das in mir spüre, geht es mir gut. Daher war ich so verletzt, als diese vornehme Bildhauerin Fri Heil35 zu S. sagte, dass sie mich für eine Tatarin hielt und dass zu meiner Vervollständigung nur noch ein wildes Pferd fehle, auf dem ich durch die Steppe reite. Ein Mensch weiß nicht viel über sich selbst. Hertha schrieb in einem ihrer Briefe an S.: «Gestern hast Du mir Deine Hand aufgelegt.»

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Die Realität ist für mich eigentlich nicht im Geringsten real, und ich bringe deshalb keine Taten zustande, weil ich deren Bedeutung und Trag­ weite niemals begreife. Eine einzelne Zeile von Rilke ist für mich realer als beispielsweise ein Umzug oder so. Ich muss wohl mein Leben lang an ­einem Schreibtisch sitzen. Trotzdem glaube ich nicht, dass ich eine ver­ träumte Idiotin bin. Die Wirklichkeit interessiert mich tierisch stark, aber nur von meinem Schreibtisch aus, nicht um darin zu leben oder zu han­ deln. Um Menschen und Ideen zu verstehen, muss man auch die wirk­ liche Welt und die Hintergründe kennen, in denen alles lebt und ge­ wachsen ist. Ich fühle mich jetzt gerade wie jemand, der aus einer schweren Narkose erwacht. Aber gestern Abend hatte ich plötzlich folgende erhellende Eingebung: Ich verlange von anderen, dass sie mich ernst nehmen, und wenn sie das dann nicht tun, fühle ich mich «unverstanden», spüre keinen Kontakt. Aber ich muss nicht verstanden werden, ich will einfach nur andere ver­ stehen. Der Mensch will sich selbst immer in den anderen spüren, und darum möchte er, dass der andere ihn versteht. Aber auf diese Forderung muss man verzichten können. Theoretisch habe ich mich davon verab­ schiedet, aber ich «lebe» es noch nicht. Ich erwarte noch zu sehr völlige Aufmerksamkeit und Verständnis für meine Person. Aber es kommt mir manchmal so vor, als bestünde ich aus tausend Menschen, und ich kann nicht verlangen, dass jemand anderes all meinen Stimmungen und inner­ lichen Unruhen folgt. Dadurch, dass sich in mir so viel ereignet, sodass ich allmählich das Gefühl bekomme, dass keine einzige Stimmung mir fremd ist, kann ich anderen immer besser nachempfinden und sie verstehen, und das sollte mir genügen. Ich glaube, dass die Einswerdung mit einem einzi­ gen Menschen mir nicht beschieden ist. Die meisten reden sich so etwas einfach nur ein und sind mit wenig zufrieden. Ich glaube nicht, dass ich mich mit einem anderen Menschen in meinem Leben abfinden muss, sondern einfach mit mir selbst und Gott. Nun ja, lass mich jetzt aber an die Arbeit gehen. Und beruhige dich, Mädchen, sorge dafür, dass du nicht wieder so schnell verstopft wirst. 11 Uhr morgens. Aufsatz über Dostojewski exzerpiert.

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Wie albern. Gerade ruft S. an und ich gerate wieder ein wenig aus der Fassung und es regt sich Widerstand. Er sagte, dass er einen «schönen Brief» von der Freundin empfangen habe. Wenn ich eine anständige Chris­ tin wäre, müsste ich froh darüber sein. Aber ich bin noch viel mehr Frau als Christin, und zwar Frau im engsten und dümmsten Sinne des Wortes. Wenn er über seine Freundin spricht, spüre ich noch immer irgendwie ­einen unangenehmen Stich in meinem Herzen und fühle mich ihm ­gegenüber gehemmt. Obwohl ich selbst ja nichts von ihm will. Dieser Mann ruft in mir noch stets die gegensätzlichsten Gefühle hervor. Na ja, Gefühle darf man natürlich haben, aber sobald sie dich behindern, sobald du dich verstopft und befangen fühlst, geht etwas nicht mit rechten Din­ gen zu und du musst herausfinden, was dahintersteckt. Ich glaube, dass ich Alleinherrscherin über jemanden sein möchte. Aber er verfügt über so viel Liebe, dass bei ihm niemand zu kurz kommt. Ich muss ihn mit seiner Freundin akzeptieren und mit seinem ganzen Gefolge. Ich muss mein eige­ nes Leben leben. Solange ich noch Ansprüche an jemanden stelle, bin ich innerlich nicht frei. Doof von mir, kleinlich von mir: Er sagte, dass seine Freundin einige «gescheite Sachen» über Chirologie geschrieben hat. Das kann ich dann nicht ertragen. Ich bin die Einzige, die gescheite Sachen sagen darf, alle anderen nicht. Es geht dann folglich nur um die Stellung des Egos und nicht um die Sache an sich. Wir verwenden immer so schöne Worte, gedankenlos beinahe, wir sprechen von «Mensch sein» und «Ge­ meinschaft» und «gut sein» und weiß Gott was noch alles. Aber wir müs­ sen diese Begriffe auch «leben». Wenn ich dann am Telefon sage: «O, herr­ lich für Sie, daß die Freundin so schön geschrieben hat», dann sage ich dies mit einem Stein auf dem Herzen, zwinge mich, es zu sagen, und meine es doch nicht so, ich leide selbst darunter. Und wenn ich es wirklich so meinte, würde ich nicht darunter leiden, sondern dadurch auch reicher und glücklicher werden, weil er einen guten Moment erlebt hat. Eigentlich sind Menschen voller kleinlicher Missgunst und Ich-Gefühl und Herrschsucht und Geltungsdrang und sie wollen die Einzigen sein und alle anderen wollen sie beseitigen. Und dadurch verarmt das Leben. Aber er macht es einem schon auch schwierig. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich noch nicht reif genug bin, um mit ihm umzugehen. Aber ich werde weiterhin an ihm festhalten, auch innerlich. Mit ihm zusammen und durch ihn muss ich wieder von ihm loskommen. Das Verrückte ist, dass ich in der Theorie bereits von ihm losgekommen bin, aber ich «lebe» das nicht immer.

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Er ist immer ganz offen zu mir und gewährt mir einen vollständigen Einblick in sein Leben, und inner­ lich weiß ich manchmal nicht, was ich damit anfangen soll. Er denkt, dass ich einmal ein Buch über ihn schreiben werde, und stellt mir großzügig alles Material über sich zur Verfügung, manchmal fühle ich mich unter diesem Material begraben. Und dann bin ich wiederum dankbar, dass er mit mir so offen umgeht und meine Menschenkenntnis derart vergrößert. Ich bin noch immer dabei, diese Welt zu inventarisieren, und er hilft mir dabei, aber die Hauptsache ist, dass meine Einstellung zu ihm klar ist. Es ist eine sehr schwierige Freundschaft mit diesem 55-jährigen Mann. Ich möchte ihn auch nicht merken lassen, dass er mich sehr stark be­ lastet, wenn er mir beispielsweise halb schluchzend die Briefe seiner Freun­ din vorliest. Er geniert sich nicht, mit splitternackter Seele vor einem zu sitzen, und darum liebe ich ihn auch so sehr. Aber sobald ich ihn merken lassen würde, dass er es mir schwermacht, dann würde er sich zurück­ halten, und ich scheine auf die eine oder andere Weise alles vom Leben haben zu wollen. Nun, dann muss ich es aber auch selbst verarbeiten und ihn nicht damit belästigen. Und dass ich die Dinge selbst verarbeiten muss, muss ich auch akzeptieren, ich will dann manchmal doch noch gern andere merken lassen, wie schwer ich es so ganz allein habe, teils vielleicht aus Wichtigtuerei und teils auch aus einer Art Einsamkeit und aus einem «Anerkennungsbedürfnis» heraus. Du musst wissen, dass du allein bist und dass niemand dir helfen kann, aber sei dankbar, dass du eine so reiche Quelle in dir hast, durch die du dir stets wieder selbst helfen kannst und deshalb andere auch nicht brauchst. Du hast noch zu sehr den Drang, dich selbst bekannt machen zu wollen, während du andererseits gerade so scheu bist. Ein Mensch muss seinen Weg gehen, immer nur seinen Weg gehen. Diese einfache, alltägliche und abgenutzte Redewendung ist eigentlich von großer Bedeutung, wenn man ihrer Herkunft nachgeht. Ein Mensch muss seinen Weg gehen. «Ich habe ja keine Geheimnisse für Sie.»

halb 6. Ich fühle mich gerade wie ein Nieselregen. Aber warum auch nicht für ein Mal? Es wird wohl wieder einmal anderes Wetter werden. Mein Fehler ist nun, dass ich denke, dass es mein Leben lang nieseln wird. Sorge dafür, liebe Kleine, dass du nicht mit deinen Depressionen kokettierst. Ich er­ tappe dich jetzt bei etwas Schlimmem. Gleich kommt S. und du nimmst

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dir vor, dich nicht zu schminken, dann kann er sehen, dass du wirklich sehr schlecht aussiehst. Du willst die Aufmerksamkeit auf deine Nieder­ geschlagenheit lenken und du willst, dass er sie als sehr wichtig erachtet. Ich glaube es doch zumindest, dass ich dich dabei ertappe. Ehrlich währt am längsten. Du brauchst dich andererseits auch nicht extrem zu schminken und dich unnatürlich vergnügt zu verhalten. Verhalte dich einfach natürlich. Jeder ist doch einmal down, sicherlich in dieser Zeit. Aber du bildest dir – glaube ich – ein, dass du von der ganzen Menschheit am meisten leidest. Verhalte dich einfach ganz natürlich. Ausklingen lassen. Diese Beschwörungsformel habe ich schon lange nicht mehr angewandt. Ist wieder notwendig. Ausklingen. Und was will ich? Später in Russland Chirologie praktizieren. Das wäre eine schöne Synthese von allem, was ich jetzt mache. Gerade eben schrieb ich in Gedanken Frans einen Brief aus einer pittoresken Straße in Mos­ kau. Ein Brief voller Heimweh. Meine Fantasie ist doch immer sehr ver­ rückt. Armes Moskau,36 wie ergeht es dir wohl jetzt? Später einmal werde ich das von den Menschen in Russland selbst hören. Also noch genug zu studieren. abends 11 Uhr. Alles ist wieder abgeebbt. Ich bin so ruhig und gelassen, wie ich, so scheint es mir, seit Jahren nicht mehr gewesen bin. Es ist, als ob ich mich selbst und alles wieder in normalen Proportionen sähe. Und ich bin stär­ ker als je zuvor, weil ich mich selbst bis hierher durchgeschlagen habe. Ich bin innerlich wieder so weit und frei. Und so genügsam. So verträumt, ohne enorme Forderungen an mich selbst zu stellen. Im Einklang mit dem ganzen Kosmos. Ja, es ist wahr, ich fühle mich nun glücklich, und dies trotz allem und trotz jedem. Ganz von innen heraus, aus mir selbst. Es ist, als wäre ich wieder zu mir selbst zurückgekehrt, und es ist hier auch am besten. Wie lange wird es andauern? Ich habe nun wieder das Gefühl, dass nichts diese innerliche und weite Ruhe stören kann – gute Nacht, Han ruft mich ins Bett. Ich kann nun auch zu ihm wieder sehr lieb sein, und vor einer halben Stunde noch in den Armen dieses idio­ tischen Schatzes in der Courbetstr. Und doch bleibe ich irgendwie auch nur chaotisch.

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Dienstagmorgen, 9. September [1941]. Er ist für sehr viele Frauen der Motor. Henny nennt ihn in einem ihrer Briefe: Mein Mercedes, mein großer, guter, lieber Mercedes.37 Über ihm wohnt «Die Kleine».38 Er sagt, wenn sie mit ihm ringe, sei sie wie eine große, vorsichtige Katze, die sich davor fürchtet, jemanden zu verletzen. Am Freitagabend rief er Riet39 an, seine Stimme sang geradezu durch das Telefon dieses 18-jährige Kind an: Ja, Rieieiet. Und währenddessen strei­ chelte seine rechte Hand mein Gesicht und auf dem Tisch lag der Brief des Mädchens, das er später einmal zu seiner Frau machen will, und die Worte: «Du mein Liebes, Jul», lagen gegen oben, ich musste sie fortwährend an­ schauen. Ich bin so traurig, so wahnsinnig traurig in den letzten Tagen. Weshalb eigentlich? Nicht ununterbrochen traurig, ich winde mich immer wieder heraus, aber falle doch immer wieder in eine große Traurigkeit zurück. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der über so viel Liebe und Kraft und unerschüttertes Selbstvertrauen verfügt wie S. Er sagte an dem besag­ ten Freitagabend40 so ungefähr: «Wenn ich all meine Liebe und meine Kraft auf jemand einziges loslassen würde, dann würde ich den zugrunde richten (verderben).» Und so ein Gefühl habe ich manchmal, dass ich ­unter ihm begraben werde. Ich weiß es nicht. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich ans andere Ende der Welt gehen müsste, um ihn loszu­ werden, aber ich weiß gleichzeitig, dass ich hier an Ort und Stelle und bei ihm mit ihm klarkommen muss. Und manchmal bereitet er mir über­ haupt keine Probleme, dann ist alles so gut, und manchmal, wie jetzt ge­ rade, habe ich das Gefühl, dass er mich krank macht. Woher kommt das eigentlich? Denn er ist ja eigentlich nicht rätselhaft, und kompliziert ist er auch nicht. Ist das die enorme Menge an Liebe, über die er verfügt und die er auf eine unendlich große Anzahl Menschen verteilt und die ich gerne für mich allein hätte? Es gibt in der Tat einzelne Momente, in denen ich das möchte. In denen ich möchte, dass all seine Liebe sich zusammenzöge und sich auf mich konzentrierte. Aber wäre das nicht allzu körperlich ge­ dacht? Und zu egoistisch? Ich weiß wirklich nicht, was machen mit diesem Kerl. Lass mich mal versuchen, etwas von diesem Freitagabend festzuhalten. Damals hatte ich das Gefühl, dass ich mitten in diesem Rätsel «Mann» steckte oder besser gesagt in diesem Nicht-Rätsel. Es war an diesem Abend, als hätte er mir die Schlüssel zum Geheimnis seiner Persönlichkeit

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gegeben. Und ein paar Tage lang war es, als ob ich ihn gänzlich mitten in mein Herz eingeschlossen mit mir umhertrüge und als ob ich ihn nie wie­ der loswerden könnte. Weshalb bin ich jetzt bloß so unsagbar traurig? Und habe überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihm und wollte, dass ich ihn los wäre? Es ist für mich jetzt so, als wenn er zu viel für mich wäre. Wie war das noch mal an diesem Freitagabend? Wenn er so in diesem kleinen Stuhl vor mir sitzt, breit, sanft, mit einer Art üppiger Sinnlichkeit und zur gleichen Zeit mit so viel menschlicher Gutmütigkeit, dann muss ich manchmal an einen römischen Kaiser im Privatleben denken. Weshalb, weiß ich nicht. Es liegt dann etwas Wollüs­ tiges um seine ganze Gestalt, aber gleichzeitig so eine unendliche Wärme und Güte, die sogar für eine Person zu viel ist und die sich über einen riesigen Raum ausstreckt. Warum muss ich dann trotzdem an einen ­Römer aus der Untergangszeit denken? Ich weiß es wirklich nicht. Diese Magenschmerzen und die Beklommenheit und dieses zusammenge­ ballte Gefühl im Innern und dieses Gefühl, von einem schweren Gewicht zermalmt zu werden, sind sicherlich der Preis, den ich ab und zu für meine Gier bezahlen muss, alles über das Leben wissen und überall eindringen zu wollen. Manchmal ist das dann einfach zu viel. In dem Test von Taco Kui­ per41 steht über mich, dass ich wie jemand sei, der dem Leben alles abfor­ dert, der aber auch alles verarbeitet. Ich werde wohl auch dies verarbeiten, diese innerlichen Verkehrsstaus gehören sicherlich zwangsläufig dazu, aber sie müssen dennoch auf ein Minimum eingeschränkt werden, sonst kann ich wirklich nicht gut weiterleben. Als ich gestern nach dem Kurs nach Hause radelte, so unsagbar traurig und innerlich bleischwer, und ich die Flugzeuge über meinem Kopf hörte, bescherte mir plötzlich der Einfall, dass eine Bombe meinem Leben ein Ende machen könnte, ein Gefühl der Befreiung. Ich habe das öfters in ­letzter Zeit, dass es mir leichter erscheint, nicht zu leben, als weiterzuleben. Ja, diesen Freitagabend, den muss ich beschreiben. Das ist eine Art Auf­ gabe für mich. Der Unterschied zwischen Mann und Frau wurde mir ­damals gleichsam vor meinen Augen vorgeführt und ich spielte selbst mit. Ich habe das Gefühl, dass dieser Abend sehr wichtig war und dass ich ­einen Schlüssel zu allerlei Geheimnissen des Lebens in die Hände gelegt bekommen habe. Wenn ich mich auf das Niveau seiner allumfassenden menschlichen Liebe hinaufarbeiten und ich mich von der Eifersucht, dem

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Argwohn und kleinen Unsicherheiten und Ängsten und all diesen Din­ gen, die den Menschen daran hindern, aus voller Kraft und Liebe zu ­leben, lösen könnte, ja, das wäre gut, das sollte mein Ziel sein. Und da­ rum: Ich muss nicht vor ihm weglaufen, ich muss zusehen, dass ich mit ihm fertigwerde, mit diesem Teufel. Die Schraube um mein Herz herum wird ein wenig lockerer, während ich dies schreibe, aber ich traue meinem inneren Gleichgewicht in letzter Zeit nur sehr wenig. Aber jetzt, wo ich ein wenig in diesem Heft herum­ geschmiert und ein wenig niedergeschlagen durch das Haus gestreift bin, bin ich wieder so weit, dass ich noch etwas arbeiten kann, was ich heute Morgen überhaupt nicht konnte. Und dann unterscheidet sich diese Stimmung noch in etwas Wesent­ lichem von der vorherigen, und das ist, dass ich einen Sinn darin sehe, mit verschiedenerlei Dingen zu Klarheit zu kommen. Dann habe ich spezielle Probleme vor Augen, die gelöst werden müssen, und dann bin ich vielleicht derart bedrückt, weil ich vor deren Schwere zurückschrecke. Aber dann kämpfe ich mich doch hindurch. Obwohl da manchmal Stimmungen sind, und das ist viel schlimmer, bei denen sich mir der Sinn von ­allem entzieht, bei denen ich den Halt im Leben verliere, dann tritt gewissermaßen eine kurze Verdunkelung in meinem Geist auf und dann habe ich manchmal das Gefühl, dass ich unwiderruflich verrückt und betrübt sein könnte. Und dann sind da auch noch die schlimmen Momente, in denen mein Gehirn zu stark arbeitet, in denen meine Gedanken nach den zusammen­ fassenden und «alles» überblickenden Formeln für die vielen Gegensätz­ lichkeiten von Körper und Seele, Irdischem und Geistlichem, endlich und unendlich – kurzum: von allem – suchen. Ich werde nun doch noch eine halbe Stunde etwas tun. Was es gestern Abend noch schwieriger machte, war, dass ich wieder einmal in ihn verliebt war. Das rührte von dem hellgrauen Anzug mit dem kontrastreichen dunkelblauen, kragenlosen Hemd her, aus dem die üppige, weiche Landschaft des Gesichts, ein wenig gebräunt von der Wochenend­ sonne, herausschaute. Und dann gibt es wieder Zeiten, in denen ich ihn als richtig hässlichen, unattraktiven Kerl empfinde. Bin ich selbst so labil? Ich glaube es nicht. Das ist nun mal so, dann bist du ein bisschen verliebt und dann wieder nicht. Das muss man einfach so akzeptieren, wie es ist. Am Donnerstagabend muss ich Wiep in die Chirologie einführen. Und etwas in mir will nicht. In mir regt sich ein schrecklicher Widerstand. Und

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als sie am Sonntag kam und unerwartet Unterricht haben wollte und ich dem innerlich mit Schrecken entgegensah, hielt ich doch plötzlich ein spannendes Referat über das 6. Kapitel42 und ich hatte daran selbst wahn­ sinnig viel Spaß. Ist es der Ehrgeiz, der mir im Voraus Angst macht, dass ich es nicht gut genug machen werde? Und der mir dann im Nachhinein so ein zufriedenes Gefühl bereitet, dass es doch gut war? Mit dieser einen lächerlichen Unterrichtsstunde in Russisch ergeht es mir genauso. Wenn der Schüler43 anruft und absagt, bin ich überglücklich. Es ist nun Dienstag und diese Unterrichtsstunde erteile ich jeweils freitags und diese Stunde steht jetzt schon vor mir wie ein bedrohliches Hindernis, das ich überwin­ den muss, dem ich aber am liebsten aus dem Weg ginge. Aber in der ersten Zeit der Behandlung bei S. war nicht alles, was ich tun musste, ein Hin­ dernis, damals war der Lebensweg von vielen freundlichen kleinen Festun­ gen gesäumt, die ich sozusagen spielerisch und mit Freude einnahm. Und so sollte das auch sein. Der Weg muss voller Erhebungen und Festungen sein; durch die Reibung und die kleinen Kämpfe, die alles begleiten, wächst man. Aber dieser große Widerstand und die Abwehr und die Angst, die nun in mir drin sind: gegen den Zahnarzt, gegen das Strümpfestopfen, gegen das Unterrichten, ist nicht mehr normal. Es muss sehr tief in mir drin wohl ein Widerwille gegen alles sein, der tiefenpsychologisch ausge­ graben werden müsste. Ab und zu bleibe ich stehen, wie ein störrischer Esel, und will nicht weiter. Warum ich nicht weiterwill, weiß ich nicht. Nach einer Menge Schufterei in mir selbst käme ich vielleicht dahinter, aber ein anderer kann einen besser durchschauen, drum auf zu S. Aber jetzt wirklich auch machen! Ich fürchte mich manchmal davor, dass ich durch die Freundschaft den behandelnden Arzt verloren habe, aber ich werde mich doch wieder einmal als Patientin bei ihm melden. Arbeiten kann ich jetzt auf keinen Fall mehr, ich werde aber noch so sorgfältig wie möglich diesen Traum von heute Nacht aufschreiben; alles, was ein wenig Klarheit schaffen kann, muss ich einfach heranschleppen. Das Stichwort «ausklingen» birgt nicht für alles die Lösung. Die Traurig­ keit kann auf diese Art und Weise manchmal in einige sanfte Töne über­ gehen, aber hundert Dissonanzen gleichzeitig ausklingen zu lassen, das geht nicht, dann muss ein anderes Verfahren angewandt werden. Und das Hinkauern in einen Winkel des Zimmers geht jetzt auch nicht, es gibt von innen nichts zu hören, es muss etwas geklärt werden. Verrückt, wenn ich einmal an diesem Heft sitze, komme ich nicht wie­

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der los davon, dann muss ich dauernd noch ein bisschen weiterschreiben, aber jetzt wirklich dieser Traum. [Aus einem Traum. Ein Mann, der S. glich, aber doch anders, umgänglich, charmant, be­ stellte mich in sein Arbeitszimmer und versuchte, mir abfällige Bemer­ kungen über S. zu entlocken. Dicky saß im Hintergrund und starrte mich nachdenklich an, während ich sprach. Der Mann fragte: «Kann es sein, dass Sie etwas gegen ihn haben, weil er sich weniger um Sie kümmert als früher?» Ich: «O nein, denn diese einzige Stunde, in der ich mit ihm spreche, ist so intensiv und so über­ voll», weiter weiß ich es nicht so genau. Er versuchte dann, mir Kritik an der Chirologie zu entlocken. Und auch darauf ging ich nicht ein. Und es verschaffte mir ein stolzes Gefühl, dass ich nicht auf diese Provokationen eingegangen bin, es war genauso, als ob ich S. bis zum Äußersten ver­ teidigte und Charakter bewies, was ich früher vielleicht nicht getan hätte. Aber dieser Mann ähnelte S. selbst, war nur eine billigere Ausgabe von ihm, und er verhielt sich schrecklich charmant und jovial, um mir doch nur Gehässigkeiten zu entlocken. Aber Etty blieb standhaft und ging nicht darauf ein und war darauf sehr stolz. Und Dickys Gesicht hing wie ein blasser Lampion hinten im Zimmer und sie schaute mich an, verträumt und doch eindringlich, wie eine War­ nung. Dieser Traum war sehr klar. Ein positiver Traum. Ein bisschen ein in­ nerer Kampf in mir zwischen dem Bild von S., das ich nicht mag, und demjenigen, das ich wirklich liebe. Ein Stück unterdrückter Widerstand kommt zu Wort. Aber Stellungnahme von meiner Seite. Schade, dass ich das nicht in S.s plastischen Worten aufschreiben kann. Doch ein sehr er­ freulicher Traum.]44 Wenn ich gelernt haben werde, ihn so zu akzeptieren, wie er lebt und wie er ist, und mich dabei auch glücklich und harmonisch fühle, dann wird mein psychologischer Zustand zum großen Teil im Reinen sein. [Donnerstag] 11. September [1941], morgens halb 10. So muss es jetzt aber bleiben. Das ist wie ein Märchen, die Erinnerung von gestern Abend, Dicky, er und ich. Ich brauche darüber nicht weiter nachzudenken, es war einfach nur schön. Und ich habe das Gefühl, dass

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durch das Zusammensein mit ihm all das Vorherige wieder weit hinter mir liegt. Wie wenn ich ihm nun wirklich sehr nahe stünde und das alles sehr natürlich wäre, und es verleiht mir Kraft, statt dass es mir Kräfte raubt. Und ich habe keine Zeit, um alles aufzuschreiben, was ich für die Zukunft festhalten wollte. Aber es bleibt schon in einem Reservoir tief in mir drin liegen. Und nun an die Arbeit. [Samstag] 20. September [1941]. J. O Herr, lass mich trachten: nicht, dass ich getröstet werde … sondern dass ich tröste; nicht, dass ich verstanden werde … sondern dass ich verstehe; nicht, dass ich geliebt werde … sondern dass ich liebe.45 Franziskus von Assisi Mittwochmorgen, 24. September [1941], 10 vor halb 1. Ich habe ein Gefühl, als hätte ich monatelang nicht in dieses Heft ge­ schrieben und als ob ich mir selbst auf irgendeine Art und Weise untreu geworden sei und aufgegeben habe. Es ist Zeitmangel und auch ein Ge­ fühl, dass es nicht notwendig sei. Ein paar Wochen habe ich so sicher und geregelt weitergelebt, aber im Nachhinein stellt sich heraus, dass das nicht wahr ist. Auf einmal das Gefühl, dass das ausgeglichene Leben doch eigent­ lich ein vorsichtiges Seiltanzen über dem Abgrund war. Ich muss eigent­ lich viel regelmäßiger «an mir selbst arbeiten», mich selbst sehr genau im Auge behalten, aber hier beginnen die großen Schwierigkeiten. Ich habe jetzt das Gefühl, als sei ich eine Art psychologisches Laboratorium, in dem sich eine große Anzahl an Prozessen abspielt, genug, um damit einige Dutzend Menschen psychologisch auszustatten. Es würde mich meine komplette Zeit kosten, wenn ich diese Prozesse alle aufzeichnen wollte. Ich könnte mich natürlich dazu zwingen, jeden Abend sagen wir eine halbe Stunde zu schreiben. Aber die Dinge wollen sich in diesem Chaos meistens nicht klar herauskristallisieren, sodass ich nichts aufschreiben kann, es sei denn eine unbedeutende Nebensächlichkeit. Und doch glaube ich, dass es wichtig ist, dass ich bei mir selbst in der Nähe bleibe und mir stets Rechenschaft über mich selbst ablege. Es ist doch wichtig, dass ich weiß, wie ich meine verschiedenen Arten von Depressionen jedes Mal wieder überwinde, sodass ich anderen vielleicht später einen Weg auf­ zeigen kann.

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Ja, ich muss wirklich ordentlich in mich selbst eintauchen, aber ich fühle mich plötzlich wie ein Kind mit einer Heidenangst, das mit aller Kraft gegen ein brennendes Haus gestoßen wird. Wie leben eigentlich die meisten Menschen, was ist ihre Einstellung zum Leben? Und was willst du selbst eigentlich und was ist der Sinn deines Lebens? Hertha schrieb in einem ihrer Briefe an S. ungefähr das Folgende: Das Leben an sich hat keinen Sinn, vielmehr muss jeder seinem eigenen Leben einen Sinn geben. Und das habe ich – glaube ich – noch nicht getan. Ich werde mich mal kurz um das Essen kümmern. In mir stecken doch sicherlich ein Dutzend beginnende Komplexe. Die Frage ist nur, ob ich sie selbst loswerden kann. nachmittags 4 Uhr. Als Kind begann ich immer wieder ein «neues Leben». Das bezog sich dann meistens auf das Naschen und das Nasepopeln. Am 1. Januar begann ich immer wieder ganz von vorne. Aber am 2. Januar bohrte ich schon wieder in der Nase. Aber am 15. Januar hatte ich Gott sei Dank Geburtstag und dann konnte ich wieder ganz von vorne beginnen, und für diese 14 Tage gestand ich mir dann sehr großzügig zu, so stark zu sündigen, wie ich wollte, am 15. begann ich sowieso wieder von vorne. Und nun habe ich auch wieder das erhabene Gefühl: Ich muss wieder einmal alles aufs Neue in Angriff nehmen. Ich glaube, dass ich in letzter Zeit nicht mit dem notwendigen Ernst an mir selbst gearbeitet habe. Ich dachte, dass es so doch auch ging. Heute Nachmittag kniete ich plötzlich auf der braunen Kokosmatte im Badezimmer, mein Kopf im Bademantel verborgen, der auf dem kaputten Korbstuhl herumlag. Ich kann über­ haupt nicht gut knien, ich spüre dabei eine Art Verlegenheit. Warum? Wahrscheinlich wegen des kritischen, rationalen, atheistischen Anteils, der auch in mir steckt. Und doch verspüre ich ab und zu einen großen Drang in mir, mit den Händen vor meinem Gesicht niederzuknien, um auf diese Art Frieden zu finden und nach einer verborgenen Quelle in mir zu horchen. Und jetzt zum Kurs.46 Bin gespannt auf das Thema und ob ich schnell genug mitstenografieren kann.

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abends 12 Uhr. Mit dieser Weisheit kam ich heute Abend von ihm nach Hause: Ein Mensch kann nicht genug absolut sein in den Forderungen, die er an sich selbst stellt, und nicht genügend relativ bezüglich der Erwartungen, die er an seine Außenwelt stellt. Mehr davon dann sicherlich morgen. Donnerstagmorgen [25. September 1941], 9 Uhr. Ja, da sitzen wir wieder. Die Nacht war kurz. Viele neue Erkenntnisse. Wieder ein kleines bisschen weiter. Müde und verschlafen, aber trotzdem schwungvoll. Heute Morgen um 6 Uhr habe ich es wirklich gemerkt, dass ich einen psychologischen Magen habe und keinen konstitutionellen. Ir­ gendwann prallten all diese neu gewonnenen «Erkenntnisse» aufeinander, ballten sich in mir zu einem Knäuel zusammen, und dann spürte ich plötzlich, dass mir speiübel wurde. Und kurze Zeit später bekam ich ­innerlich wieder ein geordneteres Gefühl, ich bekam eine freiere Aussicht und diese Magenschmerzen zogen wieder vorüber. Und auch jetzt geht es dem Magen ausgezeichnet. Womit muss ich eigentlich beginnen? So viel «Seelische Hygiene» ist für mich unentbehrlich. Und wenn ich nur so «in den Tag hineinlebe», geht das bei mir irgendwann schief. Dann entzieht sich mir der Sinn des Lebens. Ich muss Kontakt halten zu der «Unterströmung» in mir selbst. Dies ist das Höchste und Beste, das ich für mich erreichen kann: das Ruhen in mir selbst, das «Ruhen in sich». Etwas anderes gibt es nicht. Wenn ich es außer­ halb von mir suche, meine Seele sozusagen loslasse, dann bin ich verloren, unglücklich, begreife die Bedeutung der Dinge nicht mehr. Ja, «ruhen in sich», aber daran muss stets aufs Neue gearbeitet werden. Das muss man sich aneignen. Wenn ich nicht daran arbeite, dann bin ich vielleicht in ein paar Jahren eine unruhige, nervöse Frau mit einem großen Heimweh nach ein paar Worten: «ruhen in sich selber», aber ich werde dann nicht wissen, wie dieser Zustand erreicht werden kann. Wenn ein Mensch sich objektiv wahrnimmt, entdeckt er merkwürdige Dinge bei sich selbst. Dann sage ich zu mir selbst, dass dieser Abend47 vor 14 Tagen mit Dicky und ihm zusammen mich «glücklicher» gemacht hat als gestern der Abend mit ihm allein. Aber ganz so einfach ist es auch nicht. War es wirklich so? Nach diesen unerwarteten Ausschweifungen von allen dreien brauchte ich nicht nachzudenken. Es war so unerwartet

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und so schön und auch so bizarr und ungewöhnlich und auch so völlig menschlich. Und auch vom Sinnlichen her gesehen war das viel befrie­ digender für mich als gestern Abend. Gestern Abend war es viel «schwieri­ ger». Gestern Abend war da wieder das Problem Mann–Frau und an dem anderen Abend war es nicht da. Was ist mir damals eigentlich am stärksten in Erinnerung geblieben? Die kleine Dicky, die im Dunkeln am Rascheln hörte, dass ich mein Kleid auszog, und daraufhin sehr keck sagte: «O, aber dann ziehe ich meins auch aus.» Das war so natürlich und so unbefangen. Und schon war das Kleid weg und da lagen wir mit unseren nackten Ar­ men und Schultern an ihn angedrückt. Und später Dicky mit ihrem ver­ träumten Gesichtchen hingebungsvoll rücklings in ihren offenen Haaren liegend und S. und ich über sie gebeugt und S. zu mir: «Findest Du Sie jetzt nicht schön?» Und seine Hand auf ihrer Brust und mein Mund auf seinem und mein Arm um ihn herum und in Richtung Dicky, es war so seltsam, aber überhaupt nicht pervers und doch so voller körperlichem Genuss. Wir lagen da zu dritt und genossen einander total, und es war gut, denn der menschliche Aspekt behielt die Oberhand. Und als er kurz ins andere Zimmer ging, umarmten Dicky und ich uns plötzlich, und als er uns da so liegen sah, sagte er mit beinahe ekstatischer Stimme: «Liebe Mädchen seid ihr, ach, was seid ihr für liebe Mädchen», und warf sich dann auf uns beide. Und irgendwann küsste er, was er gerade erreichen konnte, Dicky und mich abwechselnd, einfach so, wie es kam. Und ich war nicht eifersüchtig, es war so etwas Harmonisches und er hatte so etwas Liebes, so etwas rüh­ rend Liebes in seinem Gesicht. Und später, als Dicky weg war, noch dieses Gespräch mit ihm. Ich war dann ganz «gelöst» und natürlich und konnte ihm so viel sagen, und ich war dann bezaubernd, er fand mich dann so bezaubernd, «leuchtend». Und später radelte ich nach Hause durch eine Nacht, die lau und verzaubert war, und dieser Abend hat etliche Tage wie ein unwirklich schönes Traumbild erleuchtet. Aber gestern Abend war es viel schwieriger. Habe sozusagen eine ganze Menge Stoff zum Verarbeiten mitbekommen. Ja, wir Frauen, wir törichten, idiotischen, unlogischen Frauen, wir s­ uchen das Paradies und das Absolute. Dabei weiß ich doch mit meinem Verstand, mit meinem hervorragend funktionierenden Verstand, dass es nichts Absolutes gibt, dass alles relativ ist und unendlich vielfältig und in immerwährender Bewegung und genau deshalb so spannend und reizend, aber auch so enorm schmerzhaft. Wir Frauen wollen uns in einem Mann

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verewigen. Es ist so: Ich möchte, dass er zu mir sagt: Liebste, du bist die Einzige, und ich werde dich für immer lieben. Das ist eine Fiktion. Und solange er das nicht sagt, hat alles andere keinen Sinn, dann übersehe ich alles andere. Und das ist das Verrückte: Ich will ihn doch überhaupt nicht, ich würde ihn nicht als Einzigen und für immer und ewig haben wollen, aber ich fordere das trotzdem von ihm. Ist es so, dass ich, gerade weil ich selbst nicht zu absoluter Liebe fähig bin, sie doch von einem anderen er­ warte? Und dann verlange ich immer die gleiche Intensität vom anderen, obwohl ich doch weiß, von mir selbst weiß, dass es das nicht gibt. Aber sobald ich beim anderen eine zeitweilige Verminderung bemerke, ergreife ich die Flucht. Hinzu kommt da natürlich noch ein Minderwertigkeits­ gefühl, so im Sinne von: Wenn ich ihn nicht so fesseln kann, dass er unab­ lässig ohne Unterlass Feuer und Flamme für mich ist, dann doch lieber gar nichts. Es ist so verdammt unlogisch, ich muss das in mir selbst ausrotten. Ich wüsste mir zumindest keinen Rat, wenn jemand für mich ständig Feuer und Flamme wäre, es würde mich belasten und langweilen und mir ein Gefühl der Unfreiheit geben. O, Etty, Etty. Er sagte u. a. gestern Abend: «Ich glaube, dass ich eine ‹Vorstufe› zu ­einer wirklich großen Liebe für dich bin. Es ist so eigenartig, ich bin für viele Menschen eine ‹Vorstufe› gewesen.» Und während das, was er sagt, wohl wahr ist, schmerzt es mich doch in gewisser Hinsicht wahnsinnig, und ich kann mich mit seinen Worten nicht abfinden. Ich glaube, dass ich verstehe, weshalb. Ich finde eigentlich, dass er tierisch eifersüchtig sein müsste bei dem Gedanken daran, dass eines Tages eine große Liebe in mein Leben treten könnte. Das ist wieder diese Forderung nach dem Ab­ soluten. Er soll mich ewig und als Einzige lieben. Der Ausdruck «Vorstufe» relativiert alles so. Und doch ist dieses «Einzige» und «Ewige» eine Art Zwangsvorstellung. Ich bin in den letzten paar Tagen sehr sinnlich. Vor­ gestern Abend war ich wieder von seinem Mund und seinen Händen be­ sessen, alles andere verblasste daneben wieder. Und gestern Abend war das auch wieder sehr stark. Und als er um 9 Uhr anrief: «Haben Sie noch Lust zu kommen», da ging ich voller Freude, Sinnlichkeit und Hingabe zu ihm. Aber das redest du dir nur ein, Mädchen, dass dann nur dieses Sinnliche da ist, es ist nicht so, dass wir einander sofort in die Arme stürzten, wir haben uns zuerst noch sehr intensiv über dieses hochinteressante und zwiespältige Thema von heute Mittag unterhalten. Und dann hänge ich an seinen Lippen und bin jedes Mal wieder fasziniert von seinen sach­ lichen und klaren Formulierungen und habe das Gefühl, dass ich wahn­

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sinnig viel lerne. Und eigentlich verschafft mir dieser geistige Kontakt viel mehr Befriedigung als der körperliche. Vielleicht neige ich dazu, das Kör­ perliche zu überschätzen, auch aufgrund irgendeiner Fiktion, dass dies so weiblich sei. Ja, verrückt eigentlich. Auch habe ich das Gefühl, dass ich mich schon gern in seinen Armen verkriechen würde und einfach gern nur Frau wäre, oder vielleicht noch weniger, nur ein Stückchen verhätscheltes Fleisch. Ich überschätze das Sinnliche sehr. Vor allem weil diese mich überkommende Sinnlichkeit jedes Mal wieder nur eine Angelegenheit von ein paar Tagen ist. Aber dieses bisschen Sinnlichkeit will ich dann auf ein ganzes Leben projizieren; sie überschattet dann den Rest. Und ich möchte, dass mein Leben mit Sprüchen geweiht wird wie: Du bist die Ewige und die Einzige. Ich glaube, dass ich das sehr unklar aufschreibe, aber die Hauptsache ist, dass ich das eine oder andere dabei loswerde. Das Sinnliche überschätze ich aus folgendem Grund: weil ich möchte, dass das bisschen Körper­ wärme, das zwei Menschen ab und zu beieinander suchen, weit über seine normale Bedeutung hinausgehoben wird durch Gelübde wie: Ich werde dich ewig lieben. Man muss die Dinge nun einmal so belassen, wie sie sind, und sie nicht in unmögliche Höhen hinaufschrauben wollen; und wenn man sie das sein lässt, was sie wirklich sind, dann erst offenbaren sie ihren wirklichen Wert. Wenn man von etwas Absolutem ausgeht, das doch eigentlich nicht existiert und das man gar nicht will, dann kommt man nicht dazu, das Leben in seinen wahren Proportionen zu leben. Er sagte u. a. gestern ungefähr das Folgende: «Ich verwöhne Frauen nicht mehr so wie früher mit Liebesbekundungen, denn ich habe gelernt, dass sie sich daran viel zu stark ‹festklammern› und dass sie sie zu absolut ver­ stehen. Früher hatte ich noch nicht so viel Verantwortungsbewusstsein, da band ich die Frauen viel mehr an mich.» Und er fragte, ob ich das nicht richtig finde, und daraufhin brüllte ich sehr laut und plötzlich: «Nein!» Aber vielleicht hat er doch recht. Ich könnte über dieses Thema viel­ leicht mein Leben lang schreiben, aber da hast du den Ärger schon, es ist nun halb 11 und ich habe noch nichts gearbeitet. Ich verstehe schon etwas von den vielen unglücklichen Liebesbeziehungen auf dieser überfüllten Erde, aber jetzt zuerst einmal an die Arbeit. Zuerst einmal die Notizen zu dem entstehenden Schizophrenen abtippen, unglaublich interessant und aufschlussreich.48 Dann heute Abend die kleinen Fingerübungen bei Tide. Ist das erst eine Woche her, dieses Gespräch mit ihr, in dem sie sagte: Auch

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diesbezüglich bin ich wie ein Kind, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll, knie ich mich mitten in meinem Zimmer hin und frage Gott. Und dann am Ende, draußen vor der Tür, gab ich ihr spontan einen Kuss und da sagte sie: «Das hätte ich nicht gewagt», und dann sagte sie: «Ettylein», und ich: «Tide», und dann radelte ich los. Aber erst jetzt beginne ich allmäh­ lich diesen Abend zu verarbeiten. Ich verarbeite die Dinge in zwei unter­ schiedlichen Geschwindigkeiten oder besser gesagt auf zwei verschiedenen Niveaus. Auf eine zügige Art und Weise, für die Außenwelt und auch zu­ erst für mich selbst, und dann noch auf eine unterirdische, tiefgründige, langsame Art und Weise. Und nun wirklich an die Arbeit. Ich merke, dass ich wieder süchtig nach diesem Heft werde. Und dadurch, dass ich auf Tide hinübergesprungen bin, bin ich wieder von diesem absoluten Frau­ sein weggekommen und dieses Thema ist nicht mehr von so quälender und alles beherrschender Bedeutung. Und dieses Letztgenannte schreibe ich nur auf, um mir selbst zu zeigen, dass das nichts ist, was bei mir im Mittel­ punkt steht. abends 7 Uhr. Dies muss nun doch ein für alle Mal klargestellt werden. Sei ein bisschen sparsam mit diesem «ein für alle Mal», Mädchen, das gibt’s nicht im Leben. Es erscheint mir jetzt alles so einfach, aber es werden immer wieder klei­ nere Krisen kommen. Wie ist es nun überhaupt? Heute Mittag radelte ich zu ihm, sehr stark in Dinge seiner Arbeit vertieft, überhaupt nicht mit ­einem «Frauen»-Gefühl. Ich dachte plötzlich, und es war mir ernster als sonst: Ich würde eigentlich gerne ein paar Jahre mit ihm zusammenarbei­ ten. Ich habe mich sehr stark auf ihn eingestellt, kann wahnsinnig viel von ihm lernen und kann auch viel für ihn tun. Ich kam bei ihm an und es war so furchtbar gemütlich und intensiv und voller Humor. Und ich war so zufrieden mit ihm und mit unserer Beziehung. Er sagte gestern Abend auch: «Ich bin doch gerade der richtige Freund für Sie jetzt.» Er meinte damit, dass ich auch meine Höhen und Tiefen habe, dass ich gänzlich in der Arbeit aufgehe und überhaupt nicht so sehr frauenhaft bin, und dann kommt plötzlich in den unerwartetsten Momenten die Frau wieder zum Vorschein. Er findet, dass das seinen besonderen Reiz hat. Gestern wehrte ich mich innerlich dagegen, wegen dieses «Absoluten», wegen des Ideals der perfekt-innigen-ewigen-immer-intensiven Bezie­ hung, die wahrscheinlich nicht existiert und die, sollte sie jemals in mein

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Leben treten, sicher nicht mit diesem Mann sein wird. Wenn ich ihn an­ sehe, dann weiß ich das. Ich liebe ihn nicht im Geringsten, wie eine Frau einen Mann lieben müsste, und wenn ich in manchen Momenten möchte, dass er mich aber so liebt, dann ist das ein krankhafter Gewaltherrschafts­ gedanke, der auf etwas in mir errichtet ist, das kaputt geschlagen werden muss. Er ist ein liebenswürdiger und guter und fesselnder Mensch und auch lebhaft, temperamentvoll und voller unerwartetem Wahnsinn. Und manchmal kann ich auf einmal «Lust auf ihn kriegen», so wie er auch auf mich, aber das ist eigentlich nur Nebensache. Und sobald ich wieder dazu neige, diese Nebensache die wertvolle Beziehung überschatten zu lassen, muss ich mich gewaltig zusammennehmen. Man verdirbt sonst wirklich zu viel Wertvolles. Es ist schon sonderbar mit einem Mann und einer Frau. Er machte sich plötzlich selbst einen Vorwurf, dass wir einfach nur «geschwatzt» haben und dass er nicht psychologisch mit mir gearbeitet hat, und dann sagte ich: «Gestern Abend hast du mehr psychologisch mit mir gearbeitet als im ganzen letzten Monat zusammen.» Und dann zog er eine lustige Grimasse und sagte: «Ist das waaahr? Ich erinnere mich nur daß wir uns geliebt haben, mehr nicht. Habe ich da auch noch etwas Gutes gesagt?»

Dieser Abend mit Dicky war eigentlich eine Verschönerung des Lebens, ein unerwartet schönes Geschenk, aber der gestrige Abend war ein Stück Kampf, ein Durchbruch zu einem etwas reiferen Stadium, und deshalb ist wahrscheinlich die Erinnerung an dieses zärtliche Bacchanal viel poe­ tischer und traumhafter als der gestrige Abend, der «schwieriger» und schwerer war, aber vielleicht auch reicher und fruchtbringender. Es sollte ein wenig von allem in diesem Leben geben. Und nun muss ich zuerst noch ein wenig arbeiten, bevor ich zu Tide gehe. abends 11 Uhr. So ein Tag ist eigentlich sehr lang, es ereignet sich viel. Ich bin an diesem Schreibtisch so schrecklich zufrieden im Augenblick. Mein Kopf ist stark auf meine linke Hand gestützt, in mir ist so eine wohltuende Ruhe, ich fühle mich so entschlossen. Die Chirologie-Sitzung in Tides Zimmer war nett. Früher hätte ich das schlimm gefunden, so viele Frauen. Und es war eigentlich urgemütlich, anregend, erfrischend, mit Birnen von Wiep und Törtchen von Gera und tiefgründiger Psychologie von mir. Und am Ende

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Tide, unermüdlich, obwohl sie schon seit 5 Uhr morgens auf den Beinen war, über ihre Arbeit. Etwas Wirkliches kann ich jetzt doch nicht schreiben, dazu ist zu viel Geschwätz hier im Raum: Hans, Bernard und Pa Han setzen ein Puzzle zusammen. Früher hätte ich niemals einfach so in einer Ecke sitzen und schreiben und lesen oder was auch immer können, wenn noch andere im Zimmer waren, das hätte mich zu sehr irritiert, aber jetzt sitze ich so ent­ schlossen da, dass mich die anderen kaum stören, ich glaube, es wäre auch so, wenn ich in einer Massenversammlung wäre. Wenn ich ein «großes Mädchen» wäre, ginge ich jetzt direkt ins Bett, in das jungfräuliche Bett in dem kleinen Zimmer, aber der Drang nach Geselligkeit und auch eine Gewohnheit, eine lieb gewonnene Gewohnheit, lässt mich doch wieder in diesem Bett hier bleiben, dem «breiten Zufluchtsort der Liebe», wie ich es einmal sehr pathetisch genannt habe. Na ja. Ich habe auch drei Aspirin intus, vielleicht fühle ich mich deshalb so angenehm beduselt. Morgen wieder ein beachtliches Programm. Der unglückliche im Entstehen begrif­ fene Schizophrene mit dem «phantastischen Vater-Imago» wird mich mor­ gen wohl wieder zünftig beschäftigen, dann den Brief für S. ausarbeiten, dann Russisch vorbereiten, und eigentlich muss ich mal Aleida Schot49 anrufen. Und ich muss vor allem ausgeschlafen sein. Gute Nacht. Das Leben ist es wert, gelebt zu werden. Gott, mein Gott, du bist doch ein bisschen bei mir. Montagmorgen, 10 Uhr, 29. September [1941]. Ich muss mich wirklich wieder mit mir selbst beschäftigen, sonst wird das wieder eine Verstopfung deiner Seele. Seit Freitag bin ich damit beschäf­ tigt, eine Stunde für mich selbst zu finden, aber ich beginne zu spüren, dass es wieder schiefläuft, wenn ich nicht kurz innehalte und ein wenig Rechenschaft ablege. Zuerst nur das Geschäftliche. Es ist sehr eindrück­ lich. Es liegen nun fünf Mappen auf meinem Schreibtisch: eine hellgraue, auf der Литepaтypa50 steht, albern, es auf Russisch draufzuschreiben, aber es ist ein Versteckenspielen mit der Außenwelt, nicht jeder braucht zu wis­ sen, was ich tue. Aber das ist genau der wunde Punkt. Dann gibt es eine knallrosa Mappe und darauf steht: Kopoткиe Xиpoлoгичecкиe зaмeтки.51 Und hier liegt der wundeste Punkt. Ich möchte eigentlich nicht, dass die skeptische Außenwelt erfährt, dass ich so etwas Verrücktes wie «Chiro­ logie» betreibe. Obwohl es nicht im Geringsten etwas «Verrücktes» oder so ist. Es ist einfach nur neu, und alles, was neu ist und sich noch durch­

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setzen muss, findet man verrückt. Und es geht eigentlich nicht um den skeptischen Teil der Außenwelt, sondern um den skeptischen Teil in mir selbst. Und Skepsis ist eigentlich nur Feigheit. Ich kämpfe doch auch da­ gegen an. Und bin manchmal beinahe dankbar, dass mir die Chirologie über den Weg gelaufen ist. Es ist nicht nur so eine bizarre Liebhaberei von mir, sondern es beginnt etwas sehr Ernsthaftes und Wesentliches für mich zu werden. Es ist etwas, das sich nun von dem Mann ablöst, durch den ich damit begonnen habe. Aber man muss alles im richtigen Verhältnis sehen. Und nicht jetzt schon fantastische Diagnosen stellen wollen. In gewisser Hinsicht lebst du zu stark von den sensationellen Momenten. Aber auf der anderen Seite steckt in dir auch, und vielleicht ist das bei dir das Wesent­ liche, die geduldige, akademische Lust am Lernen. Und das musst du noch vereinigen. Und nicht immer auf Höhepunkten und hochgespann­ ten Erwartungen leben wollen. Na ja, ich wollte dies eigentlich gar nicht aufschreiben. Ich wollte ganz andere Dinge zerpflücken. Und dann liegt da diese himmelblaue Mappe mit der Aufschrift «Πaциe­ нты».52 Ich habe sie selbst angelegt, um seine Fälle für ein nächstes Buch zu sammeln. Ich habe Stenografie gelernt, um seine Formulierungen auf­ zufangen und aufzubewahren und zu ordnen. Ich glaube an die Bedeut­ samkeit seines Werks und seiner Person: Ich sehe regelmäßig die Ergeb­ nisse um mich herum. Und nun muss ich dafür sorgen, dass ich nicht zu müde bin, ich muss eigentlich immer bereit und wach für seine Arbeit sein, sobald ich müde und innerlich so träge werde, bin ich geneigt, diese Trägheit auf die ganze Außenwelt zu «übertragen»: auf die Menschen, auf die Arbeit, die ich erledige. Auch das muss ich noch nüchterner sehen. Müde ist müde und dann musst du früher ins Bett. Und dann kommt der Rest wohl wieder von allein. Im Moment zum Beispiel bin ich nicht zu viel imstande und kann von außerhalb nicht viel ertragen, ohne dass ich explodiere oder verzweifle und alles von mir abwerfen will. Dann bin ich auch dazu imstande, alles zu verleugnen, was ich jemals wertvoll fand. Dann wird mir alles zu viel. Es entwickelt sich in mir drin wieder ein Kloß. Ich müsste nun eigentlich anfangen, an etwas zu arbeiten, bevor dieser Kloß wieder verschwunden ist. Ich handle nun irgendwie doch zu überstürzt. Und organisiere mein Leben wahrscheinlich noch nicht gut. Und habe nicht dauernd Kontakt zur Quelle der Ruhe in mir drin. Ich muss nun zuerst mit der kommen­ den Woche und mit der Woche, die hinter mir liegt, Frieden schließen,

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bevor ich weitermachen kann. Sonst werde ich eines Tages wieder zu ­einem störrischen Esel, der sich weigert, sich fortzubewegen. Das über­ kommt mich ab und zu und ich kann mir das dann nie erklären. Das rührt vielleicht daher, dass ich innerlich nicht immer akzeptiere, was ich tue, nicht zu dem «stehe», was ich mache. Aber es ist auch möglich, dass es manchmal einfach zu viel ist. Auf der einen Seite die russische Sprache, daneben die Literatur, vor allem die russische, aber auch die ganze Welt­ literatur im Allgemeinen. Manchmal zieht es mich ganz in diese Richtung. Und einerseits würde ich «Literaturwissenschaft betreiben» wollen, essay­ istisch über Literatur schreiben, und andererseits brodeln in mir allerlei Quellen, aus denen ich selbst schöpfen möchte, um schreiben zu können. Und ich frage mich gleichzeitig, ob ich überhaupt etwas kann oder ob ich mich selbst nicht überschätze. Aber was spielt das eigentlich für eine Rolle, Kleine? Warum musst du etwas können? Der Außenwelt etwas zeigen ­müssen? Es ist doch ausreichend, dass von allem etwas in dir existiert, du musst geduldig und ehrlich sein und nicht ehrgeizig und nicht etwas sein wollen. Und diese Momente mangelnden Selbstvertrauens kommen wahr­ scheinlich durch Momente großer Überschätzung. Und jetzt weiter. Ent­ weder ist alles Zufall oder nichts ist Zufall. Es kann doch kein Zufall sein, dass es mich irgendwann in die Courbetstraat verschlagen hat zu einem idiotischen Kerl, der sich mit Händen beschäftigt und der  – wie es scheint – zum bislang wichtigsten Menschen in meinem Leben geworden ist. Und nach diesem Mann kamen sein Spezialgebiet und das Fachgebiet der Psychologie auch noch dazu. Und ich habe das Gefühl, dass die Psy­ chologie mir auf irgendeine Art wie auf den Leib geschrieben ist, dass es ein Fachgebiet ist, in dem ich fruchtbringend arbeiten könnte. Und auch hier wieder die zwei Seiten: die akademische Seite, das ruhige Arbeits­ zimmer mit den Büchern, das wissenschaftliche Arbeiten, und auf der ­anderen Seite das Arbeiten-Wollen mit Menschen, das Behandeln, Ver­ ändern, das Helfen, mit meinen eigenen Erkenntnissen das Leben der an­ deren wieder erträglicher zu machen. Aber auf der anderen Seite dieses schrecklich starke Verlangen nach Einsamkeit, Abgeschiedenheit, still für mich selbst arbeiten und mich abrackern und Dinge herauskristallisieren und gestalten und verstehen. Will ich eigentlich nicht viel zu viel? Und dann die Angst, eigentlich doch nur eine lächerliche Dilettantin zu sein. Nun ja, es wird schon schiefgehen, der Ernst ist groß genug. Aber für mein enormes Lebensprogramm ist wohl ein gesundes Leben eine Grund­ voraussetzung, sowohl körperlich als auch geistig. Bei der körperlichen

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Gesundheit ist wohl das Wichtigste, genügend zu schlafen und regelmäßig kalt zu baden, und die Gymnastik morgens. Und dann die geistige Gesund­ heit. Das heißt ein wenig Kritzeln in diesem Heft, sich zumindest so oft wie möglich über allerlei Prozesse in sich selbst Rechenschaft ablegen. Und dann auch noch dies: Wenn du mit einer Arbeit beschäftigt bist, nicht an anderes denken. So sehr darin versunken sein, dass etwas anderes gar nicht existiert. Manchmal ist mir zu viel gleichzeitig bewusst, was ich noch tun muss und tun möchte, und dann ist man eigentlich viel beschäftigter, als man es eigentlich wäre. Das ist alles gar nicht so schlimm. Doch ist mir in diesem Moment, an diesem Montagmorgen im Wintergarten in der Sonne in meinem japanischen Morgenmantel, alles zu viel und ich kann meine Arbeit nicht bewältigen. Und dabei laufe ich immer sehr Gefahr, dass ich dann sofort denke, dass ich sie nie mehr bewältigen können werde, dass es mir immer zu viel sein wird. Und wenn dann wieder eine Zeit des inten­ siven Lebens in jeder Hinsicht kommt und ich alles aufnehme und zu ­allem imstande bin, dann denke ich, dass das immer so bleiben wird. Ich lebe immer noch zu wenig gemäßigt. Ich würde fast s­agen: zu wenig an mich selbst angepasst. Jedes Mal, wenn ich zu mir selbst zurückkehre, in­ terpretiere ich den Moment zu absolut. So eine momentane Ermüdung fasse ich auch wieder zu absolut auf. O Etty, Etty, ich werde noch meine liebe Not haben, mit dir ein ganzes Leben lang zurechtzukommen. Bald kommen die «1100 Bücher»,53 ich werde davon wahrscheinlich trun­ ken werden. Du darfst auch nicht im Voraus sagen: Morgen muss ich das und das und das alles erledigen. Wenn du es dann nämlich nicht schaffst, wirst du ­unglücklich und bekommst so ein nervöses und unzufriedenes Gefühl. In den Momenten, in denen du viel schaffst, halst du dir manchmal in ­deinem Enthusiasmus viel zu viel auf, und in den Momenten, in denen du weniger schaffst, sitzt du dann da mit allem und fühlst dich wie eine ent­ setzliche Versagerin. Es ist sehr schwierig abzusehen, wie viele Kräfte ­einem selbst zur Verfügung stehen. Und es ist sehr schwierig, sich damit zufriedenzugeben, dass die Kräfte immer beschränkt sind und sicherlich beschränkt in Bezug auf all das, was du gerne tun würdest. Für Menschen wie mich, die nicht in einer bestimmten Tretmühle laufen, deren Leben nicht von Außenstehenden organisiert wird, sondern von

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sich selbst, ist es schwierig, zu einer ausgeglichenen Verteilung der Energie und zu einer angemessenen Organisation zu gelangen. Und bei mir sind die Dinge, die ich tatsächlich tue, glaube ich, überhaupt nicht das Wich­ tigste; wenn ich so in meine Agenda schaue, ist sie eigentlich nicht so übervoll. Das Wichtigste ist vielmehr das, was es alles an innerlicher Ver­ arbeitung nach sich zieht. Und das ist schwierig zu organisieren und ein­ zuteilen, denn diese inneren Prozesse laufen immer weiter. Manchmal leide ich an schrecklichen Krisen und weiß dann nicht, wo ein und wo aus, werde dann aus dem psychologischen Wirrwarr nicht schlau, aber auch in meinen «gesünderen» und unkomplizierteren Zeiten sind die Ansätze der Krisen doch immer schon vorhanden. Aber gerade in den nüchterneren Zeiten erscheint es mir notwendig, diese Ansätze zu erken­ nen, sodass man sie später im Chaos auch wiedererkennen kann und sich schneller wieder erholt. Es ist für mich so verdammt schwierig, mich auszudrücken, mir wird ganz übel, während ich am Schreiben bin und doch nicht ausdrücken kann, was ich möchte. Ich schreibe, um einfach etwas zu schreiben, weil ich etwas von mir geben muss, aber ich frage mich plötzlich, ob das nicht auch falsch ist. Ich sitze hier nun seit ungefähr eineinhalb Stunden und schreibe und fühle mich noch übler und unzufriedener als zu Beginn. Das ist deshalb so, weil ich einfach so ein bisschen wild drauflosgesudelt habe. abends halb 10. Das langweilige Geschwafel von heute Morgen wurde plötzlich unterbro­ chen  – 31 Pakete in grauem Papier, ein groteskes Nikolausfest und zwei große Jutesäcke und ein Kasten, der sich als zwei Kästen entpuppte. Zu­ erst verzweifelt, später in Begeisterung versetzt. Nicht einmal nett zuerst. Eine Bibliothek, die jemand sein ganzes Leben lang gesammelt hat, mit einem Schlag in sein Haus geworfen bekommen. Es ist viel einfacher, selbst Buch für Buch mühselig zusammenzusparen. Aber im Moment bin ich davon gänzlich trunken. Vielleicht meine einzige große Leidenschaft: Bücher. Heute Morgen etwas gelernt. Ich darf nicht einfach so ein bisschen wild drauflosschreiben nur um des Schreibens willen. Ich kann doch scharf denken, auch bildhaft und anschaulich und satirisch, wenn es sein muss. Aber ich fürchte mich davor, etwas scharf umrissen zu schreiben, weil ich

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weiß, dass es nur ein schwacher Abglanz von dem sein wird, was in mir drinsteckt. Und wenn ich etwas nur so unordentlich hinkritzle, kann ich auch sehr großmütig zu mir selbst sagen: Na ja, das macht nichts, das ist ja auch nicht das, was ich eigentlich kann. Freitag hat die Verstopfung angefangen, da war bereits der Wurm drin in der guten Organisation. Am Morgen veränderte sich etwas in meinem Ge­ fühl, von dem ich dachte: Das muss ich heute Abend aufschreiben. Und ich war sehr zufrieden und dachte: «Ha! Heute Abend werde ich ‹an mir selbst arbeiten›.» Aber dann kam die verdammte Aleida dazwischen. Die Stimme schrillt noch in meinen Ohren – wenn ich daran denke. Du lieber Himmel, was für ein Mensch. Sie übersetzt Dostojewski54 und es steht eine Madonna in ihrem Zimmer, die sie indirekt beleuchtet, wenn Besuch kommt. Aber alle 80 Millionen Deutschen müssen ausgerottet werden. Es darf kein Ein­ ziger von ihnen am Leben bleiben. Das rührte daher, dass ich in meiner Arglosigkeit sagte, dass ich es nicht fertigbringe, mit einem solchen Hass­ gefühl zu leben, wie sich das viele Menschen gegenwärtig entgegen ihrer Natur aufzwingen. Und dann platzte alles heraus. Pfui Teufel, wie abscheu­ lich, wie menschenunwürdig und entsetzlich. Nun ja, vielleicht bin ich keine gute «Patriotin». Wenn ich im Nachhinein an das Gespräch denke, habe ich das Gefühl, dass ich es mit einem anormalen Menschen zu tun gehabt habe. Aber es war auch interessant. «O, ich freue mich hämisch», sagte sie, «wenn ich abends an meinem Fenster stehe und die Flugzeuge wegfliegen höre», und es sah aus, wie wenn ihre Brust gewaltig anschwellen würde und ihre Nasenflügel sich ausdehnten, obwohl sie überhaupt keinen Busen hat und nur eine sehr schmale, unbedeutende Nase. Dann kam ich nach Hause und dachte mir: «Ich muss jetzt etwas ­schreiben», und dann landete ich bei Bernard und Parijs55 und stürzte ins Zimmer hinein und fragte aufgeregt: «Hört mal, findet ihr auch, dass alle Deutschen ausgerottet werden müssen?» – «Ja, natürlich», lautete die Ant­ wort. Und darauf folgte eine hitzige und spannende Debatte. Über diesen einen Abend könnte man eine ganze Broschüre schreiben. Um halb 1 im Bett. Und nicht «an mir selbst gearbeitet». Und ich glaube, dass von dem Moment an die Dinge schiefgelaufen sind. Aber so ein Abend mit Diskussionen macht mich entsetzlich temperamentvoll und «regt mich an». Am nächsten Morgen von halb 11 bis 11 bei S. O ja, davor noch die Wolle gekauft, weinrot und beige, aus der ich einen Schal für den Winter stricken werde, und dann all die Mappen und Bleistifte

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und Anspitzer und Papier bei Winter.56 War so voller Energie. Und dann bei S. Und das so intensiv wie nie zuvor. Und angenehm und ausgelassen und toll. Und dann nachmittags dieses Stück kalte Wissenschaft in der Valeriusklinik,57 worauf ich mich schon die ganze Woche gefreut hatte. Es ging um die «Kopflinie». Aber da hatte ich bereits zu überstürzt gehandelt. Dann eine Stunde gepennt mit 1 ½ Aspirin intus wegen der Kopfschmer­ zen. Dann wach, müde und lustlos, früher wäre ich in so ­einem Zustand verharrt, aber zurzeit geht das immer wieder vorbei. Dann Musik bei Tide. Mehr Atmosphäre als je zuvor, abends wieder zu spät ins Bett mit der Aussicht, am Sonntag viel zu erledigen, Notizen von S. aus­arbeiten, Puschkin58 lesen usw., Tagebuch schreiben usw. Aber da war schon total der Wurm drin. Und dann noch Adri, Frans und Jaap, von 4 bis 6 ein wenig mit S. rumgealbert, zuerst auf seiner Couch, später in der Sonne an der Stadionkade. Und dann heute Morgen meinen Vormittag mit sogenann­ tem Tagebuchschreiben vergeudet, aber das war nur ein wenig vages Ge­ laber, von dem ich nichts habe. Und jetzt bin ich wirklich ein bisschen benommen und dann ist das Leben viel schöner und prima zu ertragen. Das rührt auch von meinen nackten Beinen und der Sonne und dem ekel­ haften blauen Pullover und meinem ungeschminkten und bleichen Zigeu­ nerkopf und von diesem Verrückten namens S. her, der da plötzlich heute Nachmittag auf meiner Couch lag, zwischen seinen eigenen ausgebüxten Büchern. Aber etwas steht fest: Ich darf nicht müde sein, ich muss bereit und wach sein. Es geht nicht darum, was man erlebt, sondern wer es erlebt und wie man es erlebt. Bei Trägheit und Müdigkeit wird die ganze Welt träge und müde. Ich glaube nicht an objektive Werte. Es ist nun 10 Uhr, ich gehe ins Bett, durch all diese Bücher hindurch wird mich Bernard wohl nicht «kleine Schnarchgeräusche machen» hören, aber auch dieser merk­ würdige Komplex muss eliminiert werden. Ein Mensch muss seinen eigenen «Schönheitsfehler» auch akzeptieren. Wenn ich jetzt nur nicht ums Leben komme wegen dieser Blausäure, mit der die Motten ausgegast wurden. Dieser Bücherschrank ist schon selbst ein Haus, ein bedrohlicher Tempel in meinem kleinen Zimmerchen. Ich habe mir immer so etwas gewünscht, eine Klosterzelle mit einem Bett und Büchern an den Wänden. Es beginnt dem zu ähneln. Ich bin mir sicher, dass ich morgen ausgeruht und fit sein werde, und freue mich schon auf die russischen Klänge von Becker,59 bin gespannt, ob ich mehr begreifen werde als früher.

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Du lieber Himmel, morgen kommt noch ein Schrank und eventuell ein Flügel, und die Kropveld-Anamnese60 und S.s eigene Notizen müssen wirklich ausgearbeitet werden. Jetzt geh pennen. Dieses Foto fand ich in seiner Familiensammlung.61 So mag ich ihn schon. Dienstagabend [30. September 1941], 11 Uhr. «Ist das nicht süß», sagte er, «guck mal, das hat die Holm gemacht.» Auf sei­ nem antiken Tisch hatte sie zwischen zwei Buchstützen ein paar Bücher hingestellt: die Bibel, Thomas a Kempis, Augustinus,62 das Dekameron63 (sie hatte keine Ahnung, was das für ein Buch ist, aber der Einband passte so gut) und ein sehr altes Buch über Chiromantie.64 Und dann sagte er plötzlich, mit einer unerwarteten Geste: «Das bin ich ja.» [Mittwoch] 1. Oktober [1941], 8 Uhr abends. Mit meiner Gesundheit ist es wie mit einem verwöhnten und launischen Kind. Ich habe ihr immer zu viel Aufmerksamkeit geschenkt und das ver­ wöhnte Kind fordert daher immer mehr Aufmerksamkeit für sich. Wenn ich sie nun einfach ein bisschen ignoriere und es nicht so tragisch nehme, dann wird sie mich auch mehr in Ruhe lassen. Man muss so eine Gesundheit auch mit weiser Umsicht erziehen. Und das Wichtigste ist für mich wohl, den täglichen Launen nicht zu viel Auf­ merksamkeit zu widmen, und die Energie, die ich früher dafür aufge­ bracht habe, kann ich jetzt für etwas anderes gebrauchen. Gauguin. Gestern war es Gauguin, der dem Tag so eine sonderbare, ei­ genartige Farbe verlieh, die im Hintergrund des Tages herumspukte. Ich weiß nichts über Gauguin, das ist das Verrückte. Mit dem Namen ist für mich eine Sphäre der Perversität und Bizarrheit verbunden. Aber ich be­ kam zwei Bücher von ihm65 in die Hände. Mehr als 1000 Bücher. Jeden Tag wird es eine andere Persönlichkeit sein, die mir so ein verträumtes und unwirkliches Gefühl vermittelt. Ich lebe mit Büchern. Sie färben die Atmosphäre um mich herum. Ein Name oder eine einzelne Seite kann meinen ganzen Tag dominieren. Dieser Gipskopf von ihm, der dort im Papierkorb lag. Er zeigte ihn mir gestern Abend. Ich steckte meinen Kopf in den Papierkorb und küsste die steinernen Lippen. Aber der schönste Teil fehlte; diese wilde, unbezähmbare Wölbung in seiner Unterlippe. Dort

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war ein Splitter herausgebrochen. Dann habe ich mich wieder nach dem Original umgedreht und den fehlenden Splitter dort warm und lebendig wiedergefunden. Und nun: Die Frau in Europa66 von Jung, sehr undiszipliniert. Das Leben ist sehr schön. Ich habe das Gefühl, dass ich in der letzten Woche wieder ein bisschen weiser und reifer geworden bin. Wie wenn ich wieder allerlei Zu­ sammenhänge in mir selbst weiter durchschauen würde und dadurch auch mehr über andere weiß. Aber wie ich hier jetzt so dasitze, merke ich, dass ich doch zu müde bin, um zu schreiben, oder besser gesagt, dass ich kein Interesse daran habe. Es muss jetzt auch nicht sein. Donnerstagabend [2. Oktober 1941], 8 Uhr. Heute Abend verlange ich einige Dinge von dir: Du darfst keine Pralinen mehr essen, du musst die 1000 Bücher in Ruhe lassen und du musst zeitig ins Bett. Alles Taten der Selbstbeherrschung. Der Fluss droht wieder über die Ufer zu treten. Und ich weiß, dass es auch ein wollüstiges und beinahe satanisches Vergnügen wäre, wieder alles über die Ufer treten zu lassen, aber das kannst du dir nicht erlauben. Heute Morgen stand ich im Badezimmer, schwang wie immer splitter­ fasernackt meine Arme, als ich plötzlich damit aufhörte und sehr entschie­ den zu meinem Spiegelbild gesagt habe: «Ja, ich habe Ideen.» Aber ich darf nicht zu viele Ideen haben. Als junge Unschuld schrieb ich einmal auf einen Papierfetzen: «Meine Ideen hängen noch an mir herunter wie viel zu weite Kleider, in die ich noch hineinwachsen muss.» Und auch jetzt sind mir diese Kleider immer noch zu weit, ich kann nicht schnell genug mitwachsen. Ich schwelge noch zu viel in diesen Ideen und habe noch nicht den Mut und das Selbstvertrauen, sie umzusetzen. Kann es sein, dass mein starker Drang nach Synthese eine unbewusste Angst vor einer potenziellen Schizophrenie ist? Ich hoffe auf einmal, dass ich noch ein sehr langes Leben haben werde und dass ich mich eines Tages völlig leerschreiben kann. Ich trinke mich voll mit Leben, immer voller, ach, wie langweilig – wie ermüdend, jetzt aber arbeiten.

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Freitagmorgen [3. Oktober 1941], 9 Uhr. Du musst weniger Ansprüche an dich selbst stellen, nicht jeden deiner Gedanken zu einem Gedanken der Weltverbesserung erheben und nicht jedes anschauliche Bild, das in dir aufsteigt, für von Bedeutung für die Weltliteratur ansehen. Du musst innerlich ein bisschen genügsamer leben, es scheint mir, dass du dir Ausschweifungen zuschulden kommen lässt. Du hast noch kein Werkzeug und du hast noch keinen «Gegenstand». Und diesen Gegenstand hast du noch nicht, weil dich alles zu stark begeis­ tert und du noch nicht einem einzigen Ding treu sein kannst. Aber du darfst dich auch nicht so in allem verlieren. Dich schon verlieren, aber doch immer wieder zu dir selbst zurückkehren. Jetzt bist du so traurig. Aber das ist nicht schlimm. Du denkst jetzt, dass du immer so traurig bleiben wirst, und verstehst nicht, wie andere Menschen fröhlich sein können. Und in einer Stunde wirst du wieder fröhlich sein und wirst nicht verstehen können, weshalb andere traurig sind. Das ist natürlich Unsinn, so wie ich das hier aufschreibe. Eigentlich bin ich immer noch mit dem Inventarisieren beschäftigt. Du suchst nach Harmonie, nach einer Synthese, aber du weißt, dass keine existiert. Ich möchte alles unter einem Blickwinkel vereinigen, mit einem einzigen Grundgedanken zusammenfassen, aber die einzige Harmonie, die du finden kannst, liegt im Akzeptieren aller Gegensätze. Jeder Pol hat seinen Gegenpol, das ist nun mal so. Es reicht nicht aus, dass du das nur mit deinem Verstand weißt, du musst die Mannigfaltigkeit der Dinge auch leben und nicht krampfhaft die Mannigfaltigkeit zu einer Einheit verschmelzen wollen. Ich bin nun einmal so gemacht, dass ich allem ausgesetzt bin. Ich ver­ schließe mich nicht, ich bin für alles offen und liefere mich allen Stürmen und Winden und allen Reizen von außerhalb aus und allem, was in mir drin aufsteigt. Ich glaube, dass ich mich selbst nicht verschone. Manchmal finde ich, dass ich es zu schwer habe und dass ich es mir zu schwierig ­mache, weil ich alles auf mich einwirken lasse und alles begreifen will, und dann bin ich wieder dankbar, dass ich zu einem solch sensiblen Instru­ ment gemacht wurde, dass dieses Leben, innerlich und äußerlich, in kei­ nem einzigen Punkt fremd bleibt oder bleiben wird. Du darfst auch nicht zu viel Zeit mit Traurigkeit und Grübeleien ver­ lieren, es gibt noch so viel zu überlegen und zu verarbeiten. Es ist wahr, ich drohe immer wieder, mich in einem Chaos zu verlieren, in einer endlosen

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Traurigkeit, und doch steckt auch etwas Starkes und Unerbittliches in mir, etwas sehr Unsentimentales und Sachliches, das spüre ich sehr stark. Etwas, das formgebend ist und zur Ordnung verhilft, und auch etwas, durch das ich mit der Zeit fähig sein werde, Dinge klarer zu beurteilen. Es wird ohnehin vermutlich ein «Büro» und nicht eine Familie wer­ den. Das war schon früher so. Andere Mädchen träumten von einem Mann mit Kindern. Und auch ich hatte immer eine bestimmte Vision: eine Hand, die schrieb. Ich sah immer eine schmale Hand und viel Papier, und diese Hand schrieb, schrieb einfach immer weiter. Es war ein Zim­ mer, eigentlich eine Zelle, auf einem Berg, und unten im Tal wimmelte es von Menschen und ich saß dort in dieser hohen Zelle und die schreibende Hand war meine und ich sprach zu diesen Menschen, die zu meinen ­Füßen umherwimmelten. Und gestern wollte ich auf einmal in diesem Heft aufschreien: «Ich will einen Mann, einen Mann für mich allein.» Es gibt halt solche Momente. Eigentlich will ich das überhaupt nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich alles allein werde machen müssen. Ich wünsche mir manchmal diesen Mann als Grenze, als Eingrenzung meines eigenen Wesens, weil ich mich davor fürchte, mich in einem Raum zu verlieren, von dem ich den Mittelpunkt nicht kenne. Aber der Mittelpunkt muss in mir selbst liegen, tief in mir selbst, das ist das Einzige, um das es bei mir geht. Wie das bei anderen Frauen ist, weiß ich nicht. So, und nun dein tägliches Programm, es ist nicht viel, eine Stunde Russisch unterrichten und heute Abend Chirologie und nicht zu vergessen: der Zahnarzt. Das Programm bedrückt mich heute fürchterlich, aber philosophiere nicht zu viel darüber, mach einfach. abends 11 Uhr. Auf dem Weg zu Tide, zwischen dem Gelände der Eisbahn und der Euter­ pestraat,67 war mir, als kehrte Hertha zurück. Mein Herz brach in diesen paar Straßen einige Male, ich führte einen heldenhaften Kampf, ich reiste ins weit entfernte Russland, nachdem ich ihm zuerst einen herzzerreißen­ den Brief geschrieben hatte, um ihm mitzuteilen, dass ich als Mensch ver­ sagte, dass ich nicht mit Hertha und ihm gemeinsam umgehen konnte. Ich wollte mit seiner Arbeit auch nichts mehr zu tun haben und fragte mich plötzlich verzweifelt, ob ich nicht doch etwa die Arbeit um des Man­ nes willen und nicht den Mann um seiner Arbeit willen ausgewählt habe. Und ich wusste, dass ich ihn niemals heiraten wollen würde, und doch konnte ich nicht mit ihm und mit seiner Frau zusammen umgehen. Das

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war alles sehr schrecklich und spielte sich in drei Straßen ab. Ich kam mit einem bleiernen und betrübten Gefühl bei Tide an und auf einmal er­ zählte ich von der spannenden Landschaft der Handinnenfläche und merkte, wie mich dieser Stoff wieder packte und was für einen Spaß ich hatte. Und ich sah, dass Wiep betrübt und deprimiert war, und auf einmal konzentrierte sich meine ganze Aufmerksamkeit auf sie und meine eigene Traurigkeit war weg. Das habe ich oft: Wenn ich sehe, dass andere traurig sind, dann werde ich selbst ausgerechnet wieder fit und würde dem ande­ ren gerne zurufen: «Es ist wirklich nicht so schlimm, es geht wieder vor­ über, du nimmst es nun viel schwerer, als es eigentlich ist.» Und dann lief ich mit Wiep im Mondschein nach Hause. Und ich fragte, warum sie so traurig sei. Und ich sagte: «Die Tatsache, dass man jeden Tag zur Arbeit gehen muss, zieht einen natürlich ab und zu herun­ ter.» Vielleicht ist es auch einfach ein viel zu schweres Dasein für uns Frauen, immer in so einer brutalen Außenwelt leben zu müssen. «Ja», seufzte Wiep, «das ist vielleicht wirklich so.» Und später versuchte ich noch etwas im Sinne von: «Ja, wir können nicht in so einem großen Raum leben wie der Mann, wir suchen unsere Begrenzung im Mann und unseren Mittelpunkt im Mann und vielleicht hat S. doch recht, dass dies daher rührt, dass wir zu wenig unser Zentrum in uns selbst haben und zu wenig in uns selbst ruhen.» «Ja», sagte Wiep dann so herrlich weiblich unlogisch, «aber ich denke auch manchmal, er soll sich mit diesem Ge­ schwätz zum Teufel scheren.» Es gibt ein Frauenproblem, es gibt wirklich ein schwieriges Frauenpro­ blem, wir haben einen langen, steinigen Weg eingeschlagen, wir äußerlich emanzipierten Frauen, ich bin gespannt, wohin der Weg uns führt. Abge­ sehen davon, dass ich neugierig bin, beinahe distanziert wissenschaftlich und objektiv, erlebe ich ihn gleichzeitig subjektiv, nicht im Geringsten distanziert und überhaupt nicht wissenschaftlich, sondern voller Schmerz und Kampf. Diese beiden Einstellungen sind nun mal nicht zu trennen bei mir. Manchmal meine ich, dass der ideale Zustand dann erreicht ist, wenn ich nur objektiv lebe und nicht mehr selbst alles zu ertragen habe, aber es ist bei mir untrennbar, ich kann auch nicht meine intellektuelle Entwicklung meiner seelischen Entwicklung vorauseilen lassen, die bei­ den müssen Hand in Hand gehen. Und eigentlich bin ich auch dankbar dafür: All mein objektives Wissen schöpft letzten Endes aus meinem eige­ nen subjektiven Erleben und vielleicht ist das auch die solideste und zu­ verlässigste Basis für das menschliche Wissen, wenn auch die «leidvollste».

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Um es zusammenzufassen: Ich werde sicherlich darüber hinwegkommen und es auch «einordnen» können, sollte Hertha jemals kommen, auch wenn es ein starkes Stück Kampf kosten wird, mit dem ich jetzt schon beginne. Wenn ich sehe, dass ein anderer traurig ist, vergesse ich meine eigene Traurigkeit und will den anderen verstehen und ihm helfen. Das Leben ist doch schön, auch wenn ich wieder lebensgefährlich an Depression und Chaos vorbeibalanciere. Samstagnachmittag [4. Oktober 1941]. Ich fühle mich wie eine Schallplatte, es wird ständig mit einer scharfen Nadel in mir gekratzt. Ich wünschte, dass dieses Gekratze aufhörte. Die Bücher sind schon ein eigenartiges Abenteuer für mich. Ich reagiere mit sehr vielen verschiedenen Stimmungen darauf. Ich bin im Moment ­eigentlich völlig verwirrt und von meinem Mittelpunkt weit weggeflattert. Ich bin eine ganz Seltsame, das weiß ich schon. Han sitzt dort und raucht eine Pfeife und wickelt mit Geduld eine Schnur auf, eine der 31 Schnüre von den 31 Paketen, und ich habe gerade zu ihm gesagt: «Vati, du bist immer gleich ausgeglichen, nicht wahr? Du kannst nie so stark aus dem Häuschen geraten wie ich.» Und ich merke, dass ich fast eifersüchtig auf ihn bin. Wenn man seinen eigenen Mittelpunkt verliert, geraten alle Menschen und Dinge auch aus dem Gleichgewicht und sie erscheinen als unwirk­ lich. Ich glaube, dass es in der Tat ein Vorteil für S. ist: seine Gehörlosigkeit. Er kann sich viel stärker aufs Innere konzentrieren. Ich nehme jede kleine Erscheinung für sich noch zu wichtig und ich versuche jeden kleinen Reiz von außen in ein großes Ganzes einzuordnen. Das ist doch nicht nötig. Ich muss ab und zu wieder viel tauber nach außen sein und in mich hin­ einhorchen. Wenn jetzt noch ein Reiz von außen hinzukommt, dann ex­ plodiere ich oder was weiß ich. Suarès über Stendhal:68

abends.

«Er hat starke Anfälle von Traurigkeit, zeigt sie seinen Freunden, verbirgt sie in seinen Büchern. Der Geist ist bei ihm die Maske der Leidenschaften. Er macht Bonmots, damit man ihn in Frieden mit seinen großen Gefühlen lasse.»

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Das ist deine Krankheit: Du willst dein Leben in eigenen Formeln erfas­ sen. Du willst alle Erscheinungen dieses Lebens mit deinem Geist um­ schließen, anstatt dich selbst vom Leben umschließen zu lassen. Wie war das noch mal? Deinen Kopf in den Himmel stecken, das geht. Aber den Himmel in deinen Kopf stecken, das geht nicht. Du willst jedes Mal selbst die Welt neu erschaffen, anstatt die Welt so zu genießen, wie sie ist. Darin steckt etwas Tyrannisches. Sonntagmorgen [5. Oktober 1941], 9 Uhr. Und jetzt ist Schluss, verdammt noch mal. Du langweilst mich mit deinen tiefsinnigen Gedanken und Gefühlen. Und jetzt wirst du wieder diszipli­ nierter werden. Ich stehe wieder mit der Peitsche hinter dir. Heute wird übersetzt, Wort für Wort aus dem Niederländischen ins Russische, mit einer Grammatik und einem Wörterbuch, sehr sachlich. Und mit dem Lösen deiner persönlichen Probleme kannst du noch kurz warten. Und ob du dich Dostojewski jetzt psychoanalytisch oder historisch-materialistisch oder eher aus der «göttlichen» Richtung nähern musst, so weit bist du noch gar nicht.69 Du hast Dostojewski selbst noch nicht einmal richtig gelesen. Und das Frauenproblem kann auch nicht an einem einzigen Tag gelöst werden und es ist wirklich sehr fraglich, ob es von dir gelöst werden sollte. Übrigens: das Frauenproblem. Das zeugt bereits von einer merkwürdigen Übertreibung, um es so auszudrücken. Siehst du wohl, dein Magen be­ ginnt auch schon wieder, verstimmt zu sein, und dein alberner Kopf steckt wieder in der Klemme. Ich möchte nicht, dass du heute an etwas denkst, nicht an Freud, nicht an Jung, nicht an Kierkegaard,70 nicht an Dosto­ jewski und nicht an Stendhal. Du hast noch nicht ausreichend Bausteine, um damit ein Gebäude errichten zu können. Du hast überhaupt noch keine Bausteine und kein Werkzeug und kein Ziel. Aber du hast eine Seele und die ist schon völlig erledigt und du hast auch alltägliche Pflichten, wie sich um das Frühstück zu kümmern, das Erledigen der russischen Überset­ zungen und das Ausarbeiten der Stenogramme, und heute Morgen musst du einem begeisterten Backfisch71 die russischen Buchstaben beibringen. Heute werde ich einmal auf dich aufpassen, und zwar sehr sachlich. Es ist nun 9 Uhr. Ich fühle mich oberbeschissen. Eine Ladung an Ge­ danken, die zu schwer für mich ist, und eine Angst und ein Widerwille, um all diese alltäglichen Dinge in Angriff zu nehmen. «Tiefenpsycholo­ gisch» wird das wohl seine Ursachen haben, aber auch damit kann ich mich nicht immer beschäftigen.

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Ich wünschte, dass mir wieder etwas von dem Glauben von S. zu­ strömte, nicht von demjenigen von Tide,72 der ist für mich unerreichbar, dazu bin ich nicht genug kindlich und einfach. Großer, guter Liebling S., er ist nun bei dem Grafen,73 der von seinem Pferd gestürzt ist, er ist für mich nun eine Art unwirkliches Phantom oder eigentlich nicht, aber er ist wieder zu einer Landschaft geworden, zu einer Atmosphäre in der Ferne. Ich fühle mich extrem kaputt und bedrückt und überreizt. Und die innerlichen Quellen, die reinen, ewigen Quellen, sind wieder mit den schweren Mühlensteinen der Gedanken verbarrikadiert. O Gott, ich hasse es manchmal, dass ich auch einen Verstand habe. Ich wäre gerne ein klei­ ner, schmutziger Junge, der Schafe auf einem Berg in der Schweiz hütet und auf einer Flöte spielt und in den Himmel blickt. Ich würde so gerne einmal nur sein und atmen und in die Ewigkeit eingebettet daliegen und ganz einfach sein. Und ich weiß, dass diese Augenblicke wiederkommen, und dann werden sie wieder verschwinden. Aber wichtig ist mir die Er­ oberung eines Stückchens Ewigkeit in mir selbst. Alles andere ist Neben­ sache. Ich werde nun wieder in mein Zimmer gehen und mich am Boden in einer Ecke verkriechen und genau so lange sitzen bleiben, bis diese be­ klemmende Kruste innerlich ein wenig wegschmilzt. Versprich mir, Etty, dass du heute kein einziges Buch in deine Hände nimmst und keinen einzigen Titel auf dich einwirken lässt. Richte deine Ohren und deine Sinne wieder einmal ganz nach innen und probiere, wieder ein wenig in dir selbst zu ruhen. halb 10. Ergebnisse der buddhistischen Viertelstunde:74 Mir wurde auf dem Boden schrecklich kalt. Du musst lernen, stärker auf deine eigenen Erfahrungen und Wahr­ nehmungen und deine Intuition zu vertrauen, und nicht denken, dass du alles aus den Büchern ziehen musst. Du willst manchmal flüchten und weit weg in ein anderes Land reisen, weil du wahrscheinlich denkst, dass du dann eine Menge Ballast hinter dir lassen kannst. Aber hüte dich vor dieser Selbsttäuschung. Das Wegreisen ist für dich das Symbol des Versinkens in sich selbst, und auch dann ver­ lierst du den Ballast zu vieler Gedanken. Als ich da so in dieser Ecke saß und mich an S.s Schrank aus Birn­ baumholz, an diesen bedrohlichen Büchertempel anlehnte, da spürte ich,

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dass das Leben holpernd und rüttelnd durch mich hindurchströmte, ge­ nauso, wie ein Fluss sich mühsam den Weg durch angehäufte und den Weg versperrende Felsbrocken bahnt. Und ich wünschte mir sehnlichst, dass das Leben ein klarer, fließender, erwärmender Strom wäre. Der größte Felsblock befindet sich dann immer genau mitten in meinem Magen. Ich habe einen typischen psychologischen Magen. Es geht mir doch schon ein kleines bisschen besser. Ich denke, dass ich heute Mittag fantastisch schla­ fen werde. Auch das ist eine Form von Flucht und ein Wunsch, sich ver­ lieren zu wollen. Ich darf nun eine Zeit lang keine Reize von außerhalb aufnehmen, sondern muss auf der Innenseite die Schleusen öffnen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Und nun Brei für den lieben Han holen. Es ist nun halb 6 und ich komme gerade aus meinem Bett unter meiner neuen türkischen Tagesdecke hervor und ich habe das unangenehme Gefühl, dass das wirk­ lich ein bisschen krank ist, wenn man so einen prächtigen sonnigen Sonn­ tagnachmittag in seinem Bett verbringt. Früher war das etwas ganz Nor­ males, damals verschlief ich auch meine ganze Zeit, aber jetzt finde ich, dass das falsch und krank ist. Sehr viel besser geht es mir auch nicht und fitter bin ich davon eben­ falls nicht geworden. Verrückt, nicht wahr, ich kann einfach nicht mit der Arbeit beginnen. Da ist etwas, das mich innerlich davon abhält. Früher habe ich gemeint, dass diese körperlichen unangenehmen Zu­ stände wie Kopfschmerzen, Magenschmerzen, rheumatische Beschwerden ausschließlich körperlich waren, aber ich kann nun an mir selbst feststel­ len, dass sie im Wesentlichen psychisch bedingt sind. Körper und Seele sind bei mir sehr stark eins. Sobald etwas in der Seele schiefläuft, läuft es auch in meinem Körper schief. Darum ist die Seelenhygiene so furchtbar wichtig für mich. Es ist der Gewinn des letzten halben Jahres, dass mir das sehr bewusst ist, und ich werde die Schuld auch nie wieder meinem Kör­ per geben können. Verrückt, dass ich jetzt zu der russischen Übersetzung hinaufblicke wie auf einen enorm hohen Berg, den ich mit klopfendem Herzen besteigen werde. Und ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt gut ist, dass ich mich selbst so mit aller Gewalt dazu zwinge. Denn wenn ich jetzt sage, dass ich die Übersetzung nun heute fertigstellen muss, und ich werde damit nicht fertig, dann belastet mich das und ich fühle mich noch viel aufgeschmissener und unsicherer.

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Meine äußeren Umstände sind ideal, das weiß ich, aber dieses Bewusstsein kann es doch nicht verhindern, dass ich ab und zu leide, wirklich sehr leide. Letztendlich ist dies natürlich doch auch fruchtbringend, aber ich wünschte mir manchmal, dass ich etwas weniger kompliziert wäre. Ich würde jetzt gerne mit aller Gewalt in mir etwas wegbrechen oder abbrechen, etwas, das mich daran hindert, frei und glücklich zu atmen. Aber das geht nicht mit Gewalt. Das geht um lauter ganz kleine subtile Dinge, ich habe manchmal das Gefühl, dass, wenn ich mich selbst ganz verstehe, ich dann auch die ganze Menschheit verstehe. Ich muss alles selbst erleben und verstehe auch sehr gut, weshalb ich manchmal so ein Bedürfnis nach Schlaf habe, dieses Bedürfnis, immer zu schlafen und weg zu sein. Aber das wird schon wieder mit dir, nur ruhig. Ich habe mir gerade eben die Notizen über den schizoiden Mann ange­ sehen. Das ist so tierisch interessant, dass ich mich frage, weshalb ich ­eigentlich so viel Zeit mit meinen Stimmungen vergeude. Ich könnte diese Zeit so schrecklich gut gebrauchen. Ich weiß ja nicht, wie mein Leben wird, ob ich so frei und ohne Sorgen werde studieren können und dann noch mit so jemandem wie S. Ich muss ihn noch 1000 Dinge fragen, noch unendlich viel von ihm lernen, weshalb also setze ich meine Zeit nicht besser ein? Ich bin körperlich gesund, halte mich sogar besser als eine Menge Menschen in dieser Zeit, die auf Unterernährung zusteuern, ich kann mich auch trotz Bomben und Konzentrationslagern und Gräuel­ geschichten und einer Million Leichen konzentrieren, weil ich an die Auf­ gabe des Einzelnen und auch an meine kleine Aufgabe glaube. Warum dann so deine Zeit mit dir selbst verplempern, warum? Ich frage mich das des Öfteren. Als ich heute Mittag vor dem übervollen Bücherregal stand mit einigen Büchern in meinen Armen und Pastor Wegerif75 wegging, sagte er zu mir, halb ironisch, aber mit einem ernsten Unterton: «Ich wünsche Ihnen Kraft, all dies zu ertragen und zu bewältigen.» Und hier ist vielleicht die Antwort auf dieses «Warum». abends 11 Uhr. Heute Morgen wollte ich ein Hirtenjunge auf einer Alpenwiese mit einer Flöte sein und saß kauernd gegen den Büchertempel aus Birnbaumholz angelehnt und verfluchte meinen Verstand, und jetzt bin ich schon wieder

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so dankbar, dass Gott mir einen Verstand gegeben hat. Ich werde das Gleichgewicht zwischen Denken und Fühlen schon noch finden. Aber das ist mein Heilmittel: nicht sprechen, nicht nach außen lauschen, sondern ganz still sein und versuchen, das Innerste von dir selbst in dir erklingen zu lassen und dem zuzuhören. Es ist der einzige Weg. An diesem stimmungsreichen Sonntag gibt es ein Ding, das  – ver­ glichen mit früher – ziemlich wichtig ist: Er ist ohne Aspirin und ohne Magenschmerzen zu Ende gegangen. Nun bin ich benommen und be­ duselt, wie wenn ich wieder eine Menge durchgemacht hätte heute. Das Leben ist lebenswert. 6. Oktober [1941], Montagmorgen, 9 Uhr. Ein Satz fiel gestern mitten am Tag und ist hängen geblieben. Ich fragte Henny: «Tide, wolltest du denn niemals heiraten?» Und sie antwortete darauf: «Gott hat mir noch nie einen Mann geschickt.» Wenn ich dies auf mich übertragen wollte, dann müsste es lauten: Wenn ich gemäß meiner ursprünglichen, eigenen Veranlagung lebe, dann sollte ich wahrscheinlich nie heiraten. Auf alle Fälle muss ich mir den Kopf nicht darüber zer­ brechen. Wenn ich einfach ehrlich auf die Stimme in mir höre, dann weiß ich, ob in einem bestimmten Moment ein Mann «von Gott zu mir ge­ schickt» ist oder nicht. Aber ich darf darüber nicht grübeln. Oder kom­ promissbereit sein oder mit allerlei verdrehten Theorien doch eine Ehe eingehen. Und ein wenig Vertrauen haben und wissen, dass ich einen be­ stimmten Weg gehen muss, und jetzt nicht denken: Werde ich dann spä­ ter nicht zu einsam sein, wenn ich jetzt keinen Mann nehme? Werde ich mein Brot selbst verdienen können? Werde ich keine alte Jungfer werden? Was wird wohl die Gesellschaft sagen, werden die Menschen mit mir Mit­ leid haben, dass ich noch immer keinen Mann habe? Gestern Abend sagte ich im Bett zu Han: «Denkst du, dass jemand wie ich heiraten darf?» Bin ich eigentlich eine richtige Frau? Das Sexuelle ist für mich doch eigentlich nicht so wichtig, auch wenn ich manchmal gegen außen einen anderen Eindruck erwecke. Ist es nicht Betrug, wenn die Männer von außen diesen Eindruck gewinnen und ich ihnen dann doch nicht geben kann, was sie gerne hätten? Ich bin eigentlich keine Ur-Frau, zumindest nicht sexuell. Ich bin kein Tierweibchen mehr und das ruft bei mir manchmal ein Gefühl der Minderwertigkeit hervor. Das Urkörper­

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liche wird bei mir auf verschiedene Art und Weise durch einen Vergeisti­ gungsprozess durchbrochen und abgeschwächt. Und es ist so, als ob ich mich manchmal für diese Vergeistigung genierte. Was aber schon urtüm­ lich bei mir ist, das sind die menschlichen Gefühle; in mir steckt eine Art Urliebe und Urmitgefühl für die Menschen, für alle Menschen. Ich glaube nicht, dass ich für einen einzigen Mann tauge und auch nicht mehr für die Liebe eines einzigen Mannes. Es erscheint mir manchmal gerade so, als fände ich es ein bisschen kindisch, einen einzigen Menschen zu lieben. Ich könnte auch nicht einem einzigen Mann treu sein. Nicht der anderen Männer wegen, sondern weil ich selbst aus so vielen Menschen bestehe. Ich bin nun 27 und es ist mir, als hätte ich schon genug geliebt und sei auch schon genug geliebt worden. Ich fühle mich schon sehr alt. Es ist wohl kein Zufall, dass der Mann, mit dem ich schon seit 5 Jahren ein Ehe­ leben führe, in einem Alter ist, das eine gemeinsame Zukunft ausschließt, und dass mein bester Freund später ein junges Mädchen in London hei­ raten will. Ich glaube nicht, dass dies mein Weg sein wird: ein einziger Mann, eine einzige Liebe. Aber ich bin schon stark erotisch veranlagt und habe ein großes Bedürfnis nach Liebkosungen und Zärtlichkeit. Und an diesen beiden hat es mir nie gemangelt. Ich merke, dass ich es doch nicht so aufschreiben kann, wie ich es heute Nacht und heute Morgen so klar in mir fühlte. «Gott hat mir noch nie einen Mann geschickt.» Meine innere Intui­ tion hat mich noch nie zu einem Mann fürs Leben «Ja» sagen lassen, und diese innere Stimme muss meine einzige Richtlinie sein, bei allem, aber vor allem auch in diesen Dingen. Ich meine damit, dass in mir eine ge­ wisse Ruhe einkehren muss und Sicherheit und die Gewissheit, einen ­eigenen Weg gehen zu wollen, basierend auf der inneren Stimme. Und nicht mit der Begründung nicht heiraten, dass man so wenige glückliche Ehen um sich herum sehe. Das wäre dann auch eine Art Oppo­ sition und Angst und Mangel an Vertrauen. Vielmehr geht es darum, nicht zu heiraten, weil man weiß, dass das nicht der richtige Weg für einen ist. Und dich dann nicht mit der abfälligen Bemerkung trösten, die man oft von ledigen Frauen hört: «Das sind ja ziemlich schöne Dinge, die man so auf dem Gebiet der Ehe um sich herum sieht.» Ich glaube schon an glückliche Ehen und vielleicht wäre ich auch dazu in der Lage, aber lass es einfach auf dich zukommen, entwickle keine Theo­ rien dazu, frage dich nicht, was jetzt eigentlich das Beste für dich wäre, rechne nicht mit diesen Dingen, wenn «Gott dir einen Mann schickt», ist

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es gut, und sonst scheint dein Weg ein anderer zu sein. Aber sei hinterher auch nicht verbittert. Du darfst später niemals sagen: Ich habe mein Le­ ben verpfuscht, ich hätte es damals so und so machen müssen. So etwas darfst du später niemals sagen, und darum musst du jetzt so extrem gut deiner inneren Stimme zuhören und Vertrauen in dich selbst haben und dich nicht ständig von dem, was die Menschen um dich herum sagen und behaupten und von dir erwarten, verwirren lassen. Und nun an die Arbeit. Die menschlichen Gefühle in mir sind stärker und viel ausgeprägter in Urform vorhanden als meine weiblichen Gefühle. Aber es wird ein ziem­ lich schwerer Kampf sein, mich selbst von der Frau in mir zu distanzieren, sollte sich das als mein Weg erweisen. Dienstagmorgen [7. Oktober 1941], 9 Uhr. Dies ist eine Traurigkeit, die nichts zu schaffen hat mit äußerlichen Din­ gen. Ich denke dann wieder, dass alles falsch ist, was ich mache, dass ich über meine Kräfte hinaus arbeite, dass ich mich für eine falsche Arbeit entschieden habe. Aber das liegt nicht an der Arbeit, sondern es ist eine offene Wunde in meiner Einstellung zum Leben, die mich fürchten lässt, den Dingen nicht gewachsen zu sein, und daher rührt dieser Widerwille gegen sie. Ich weiß nicht, was das soll mit deinen Stimmungsschwankun­ gen. Du läufst damit herum, du bist in nächster Nähe, und doch ist es das Schwierigste, deine eigenen Stimmungen zu ergründen, die Grundursache und die Zusammenhänge zu sehen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ges­ tern war ich geneigt, zu meinen Freunden zu sagen: Hört mal, wenn heute oder morgen eine Bombe auf mich fällt, macht dann kein Aufhebens, son­ dern tröstet euch mit dem Gedanken, dass ich froh bin, erlöst worden zu sein. Und heute Morgen, im Badezimmer (in diesem kleinen Badezimmer mit der braunen Kokosmatte spielt sich am frühen Morgen immer etwas ab), kamen mir auf einmal Patienten in einer Anstalt in den Sinn. Und plötzlich konnte ich mir vorstellen, dass das eine Art Befreiung war, dass man sich dort in seiner Traurigkeit gehen lassen kann und gänzlich versin­ ken und alle Verantwortung abgeben; die Mauern der psychiatrischen An­ stalt und die reglementierte Sorge durch das Pflegepersonal sorgen schon für die Einzäunung, innerhalb derer man sich gehen lassen kann. Ich sage nur, dass ich mir das vorstellen kann, nicht, dass ich in eine psychiatrische Anstalt möchte. Aber wie kommt es denn, dass mir manchmal jede Klei­

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nigkeit zu viel ist? Das liegt ja wirklich nicht an der Arbeit, das ist immer dasselbe, und häufig glaube ich, dass niemand solch ein spannendes und abwechslungsreiches Leben hat, wie ich es habe. Es ist auch keine Traurig­ keit, die du «ausklingen» lassen kannst, dafür hat sie zu viele scharfe Kan­ ten. Ab und zu komme ich wieder kurz darüber hinweg. Aber das ist ge­ rade so wie mit jemandem, der schlimme Zahnschmerzen hat und seine Hand dann mal auf die eine Stelle und dann auf eine andere legt und ­allerlei Tricks ausprobiert, um die Schmerzen kurz loszuwerden. Und ab und zu gelingt das. Ich probiere auch alles und rede mir selbst gut zu und lege gewissermaßen die Hand des Intellekts auf den einen und dann wie­ der auf einen anderen wunden Punkt meiner Psyche, aber der Grund­ schmerz bleibt, er geht manchmal kurz weg und tritt dann wieder auf. Es ist auch möglich, dass ich an etwas Körperlichem leide, denn ich fühle mich ein bisschen müde und rheumatisch, aber ich glaube, dass die umge­ kehrte Kausalität zutreffend ist. So ein bisschen Rheumatismus würde mir nichts ausmachen, wenn in meiner Seele alles gesund wäre. Es liegt auch nicht daran, dass ich keine Erlaubnis erhalten habe, mein Studium fortzu­ setzen.76 Das könnte ich höchstens als faule Ausrede gebrauchen, um nichts mehr zu machen, aber mein Pflichtbewusstsein verbietet mir das. Dieses verdammte Pflichtbewusstsein. Es ist manchmal so, als ob ich mich gerne in allerlei Träumen wegtreiben lassen wollte und als ob die alltäg­ lichen Pflichten mir dabei im Wege stünden. Aber in guten Zeiten träumst und arbeitest du durcheinander, dann ist für alles Platz, auch für mich. Vielleicht muss ich noch alles verarbeiten, was am Sonntagnachmittag aus den tiefen Sümpfen in mir aufgestiegen ist. Dass es vielleicht nicht mein Weg ist, einen Mann fürs Leben zu finden. Was dann bedeutet, auf das Finden eines Mittelpunktes in einem anderen zu verzichten, obwohl in mir ein so starker Drang steckt, mit einem anderen zu verschmelzen. Aber das Letztgenannte ist, glaube ich, eine Fiktion, das existiert nicht oder existiert nur in wenigen Augenblicken, und ich habe manchmal das zehrende Verlangen, immer mit jemand anderem verschmolzen zu sein. Und das ist tatsächlich wieder dasselbe Gefühl wie dasjenige, alle Verant­ wortung loswerden zu wollen, das Leben nicht aus eigenen Kräften bewäl­ tigen zu können, und darum kann ich dieses Gefühl nicht zugeben. Es ist eigentlich backfischhafte Romantik, und doch ist das sehr tief im Men­ schen verwurzelt, das Aufgehenwollen im anderen, um von sich selbst be­ freit zu sein. Und darum erweist es sich wahrscheinlich im realen Leben immer wieder als eine Fiktion, das Einssein zweier Menschen, man wird

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doch immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen und dann ist man hilf­ loser und einsamer als je zuvor. Man muss sich selbst dazu erziehen, aus eigener Kraft und voller Selbstvertrauen zu leben. Das Streben nach einer angesehenen Stellung in einer geregelten Gesellschaft ist eigentlich auch dasselbe: das Suchen nach Sicherheit, die nicht aus dir selbst kommt. Die Sicherheit, die sich in etwas außerhalb von dir manifestiert: in einer guten Anstellung beim Mann, in der Institution der Ehe bei der Frau. Und ein­ ander aber beeindrucken und sich weismachen, dass man sicher und ge­ borgen ist, obwohl man mit weiß Gott was für einer Leere und mit Ängs­ ten und Wunden in sich selbst herumläuft. Und vielleicht rührt bei mir daher diese Traurigkeit. Als ich am Sonntag so tief in mich «hineinhorchte» und nur mein innerstes Selbst zu Wort kommen ließ, kamen da plötzlich Dinge hoch, die vielleicht noch zu hart waren, um sie akzeptieren zu kön­ nen: das Begehen eines eigenen Weges, das Lernen, seiner eigenen reinen inneren Stimme zu folgen. Und am folgenden Tag erschien mir das so absurd. Der Verstand warf sich mit all seiner Kraft wieder auf mich. So ein Gefühl von: «Kind, mach dir doch nichts vor, die ‹musischen› Momente, die du ab und zu hast, sind sehr schön, um sie in einem bewegenden ­Roman zu verarbeiten, aber für das reale Leben sind sie nicht geeignet.» Und dann das Gefühl: Bringt der Mensch nur in der Kunst seine besten Momente zum Ausdruck, kann er sie nicht auch leben? Dieses Gefühl, dass es eine Traumwelt und eine graue, alltägliche, echte Welt gibt, die unvereinbar sind. Und ich will sie beide vereinigen, ich möchte sie beide gleichzeitig leben und ich weiß, dass das nicht geht. Als ich also zu dieser plötzlichen Einsicht gelangte: Du wirst allein ­leben müssen (dieses Gefühl hatte ich schon so oft, aber es ist, als ob es immer stärker würde, am Sonntag war es – wie sich im Nachhinein her­ ausstellte  – ein plötzlicher Fausthieb), ohne Mann, der deine Sicherheit zur Außenwelt darstellt, da kam vielleicht besonders stark das Gefühl hoch: Aber dann muss du auch etwas Außergewöhnliches leisten, etwas Besonderes sein, ein wahnsinnig interessantes Buch schreiben oder etwas in der Art. Das bedeutet wiederum: etwas Konkretes, um an dich selbst glauben zu können, um dem Leben außerhalb von dir einen Sinn zu ver­ leihen. Etwas Materielles, etwas Greifbares. Auf der anderen Seite steckt in mir dagegen ausgerechnet die Ur-Sehnsucht, einfach nur zu sein, einfach so zu leben, «melodisch aus Gottes Hand zu rollen». Aber jetzt pass auf, jetzt werden wir etwas formulieren. Vielleicht ist es doch so, dass in letzter Zeit Gefühl und Verstand, Seele und Geist sich

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wieder in den Haaren liegen, sich trüben und schwächen. Am besten lebst du gleichzeitig fließend und harmonisch und glücklich und so verträumt, wie du möchtest, in deinen Gefühlen, während dein Geist auf seinem ­eigenen Gebiet seine Arbeit verrichtet. Seele und Geist können schon durcheinander ernährt werden, aber sie dürfen einander nicht schwächen. Du musst von jeglicher äußerlichen Sicherheit Abstand nehmen, und ­darum musst du in dir selbst geborgen sein und in dir selbst ruhen, und trotzdem kann dein Geist ruhelos und leidenschaftlich nach Zusammen­ hängen in diesem Leben weiterforschen, aber nicht, weil du etwas er­ reichen willst oder etwas Interessantes fertigbringen willst, sondern nur, weil du nun einmal mit einem leidenschaftlichen und aufrichtigen Inte­ resse für die Phänomene dieser Welt geschaffen wurdest, vor allem für die Phänomene der innerlichen Welt. Du sollst nicht von deinem Verstand ausgehend leben, sondern ausge­ hend von tieferen und ewigeren Quellen, aber du kannst deinen Verstand schon dankbar als kostbares Instrument akzeptieren, mit dem du zu den Problemen durchdringen kannst, die deine Seele verursacht. Ein wenig nüchterner ausgedrückt heißt das für mich vielleicht, dass ich mehr auf meine Intuition vertrauen sollte. Das bedeutet eigentlich auch an Gott glauben, ohne dass dich das schwä­ cher werden lässt, im Gegenteil: Es verleiht dir mehr Kräfte. entwicklung setzt nicht zeit voraus. Du darfst das Leben in einem niedergeschlagenen Moment nicht einfach so wegwerfen. Wisse, dass es einen Sinn hat. Im Moment fühle ich mich körperlich ziemlich schlecht. Über mir ist eine Überdachung, die mich nicht gänzlich verdeckt, das ist manchmal schon schön, aber ich zappele darunter herum. Ruhig, Kleine, nur ruhig. Ich würde mir gerne die Hand selbst auf den Kopf legen. Das ist auch die einzige Hand, die hilft. Es muss aus mir selbst heraus kommen. Früher flüchtete ich in solchen Fällen zu einem Mann. Das ist sehr menschlich, und weshalb sollten die meisten Menschen nicht menschlich sein, aber da nun einmal Stimmen in mir sind, die sagen, dass ich nicht zu anderen fliehen kann, weil das doch nur eine Fiktion und eine Flucht ist, dann muss ich diesen Weg auch gehen, auch wenn dieser vielleicht schwerer als ein durchschnittlicher Weg ist. Und dann kommt bei mir noch dieser starke objektive Faktor hinzu:

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dass mich alles so sehr interessiert, beinahe leidenschaftlich interessiert. Auch meine eigene Traurigkeit. Dass ich dann sozusagen neugierig bin, wie es mit meinen Stimmungen weitergehen wird; fast wissenschaftlich neugierig, auch in Bezug auf mich selbst. Aber ob du nun in der Psycholo­ gie oder in der Literatur oder in einem Büro oder als Journalistin bei einer Zeitung niedriger Qualität landest, das sollte dich kaltlassen. Und nun in die Vorlesung. Mittwochabend [8. Oktober 1941], 10 Uhr. Es ist dann manchmal, als ob ich nicht glauben könnte, dass es mir besser geht. Dann bin ich innerlich noch so zögernd. Wie wenn ich mich noch nicht von diesem quälenden Zustand losreißen könnte. Noch nicht «ste­ hen zu sich». Noch zu viel denken. Auch ein bisschen Erschöpfung. Auch etwas Scham, weil ich denke, dass ich mich zu viel und auf falsche Art und Weise mit mir selbst beschäftige. Diese «Grippe» scheint doch zu kom­ men. Endlich wieder ein bisschen Rittelmeyer. Ziemlich fleißig gearbeitet heute Abend. Früh ins Bett. Es wird schon gehen. O Herr, lass mich doch ein bisschen unkomplizierter sein. Samstagmorgen [11. Oktober 1941]. Wo liegt die Grenze zwischen denken und «zerdenken»? Das Letztgenannte kann man sich vielleicht mit viel Aufwand abgewöhnen. Das ist eine un­ gesunde Angewohnheit. Du musst wirklich nicht immer gleich stark inspiriert sein, ergib dich ­ruhig einmal der Müdigkeit. Sonntagmorgen [12. Oktober 1941]. Hier sitze ich nun mit Eleonora Duse77 und mit Bauchweh und mit die­ sem Heft in der Sonne. Ein ganzer Tag für mich allein, bis 6 Uhr. Ich werde niemandem die Tür öffnen. Der Lärm in diesem Leben steht in überhaupt keinem Ver­ hältnis zur Ursache all dieses Lärms. Aber dieser Lärm kommt doch eigent­ lich ausschließlich aus dir selbst, er rührt vom Zusammenprall dieser gan­ zen kleinen Komplexe und von der Unruhe und Unsicherheit, die in dir ist, her, und dies überträgst du dann auf die Außenwelt und es scheint dann so, als ob in der Welt viel Lärm wäre. So dramatisch ist das doch alles nicht: 10 Menschen an einem Musikabend, ein Tisch und ein paar Stühle,

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die verrückt werden müssen, ein bisschen von dem miserablen Kriegsteegesöff78 und Kekse, die viel zu teuer waren. Und dann mein Vater, der keine Zwiebeln mag, der überhaupt nichts mag. Sie fanden ihn alle so nett und ich habe seinetwegen einen Minder­ wertigkeitskomplex gegenüber den anderen. Aber ich habe auch einen Minderwertigkeitskomplex wegen S. gegenüber meinem Vater. Und auch wegen Tideman gegenüber meinem Vater. Das ist so albern bei den Men­ schen. Sie haben oft Minderwertigkeitskomplexe gegenüber anderen. Ges­ tern Abend gab es zu Beginn des Musizierens einen Moment, in dem ich weglaufen und mich ertränken wollte. Das ist wirklich wahr. Alles war auf einmal in mir gestorben; ich dachte: Die Chirologie von S., jegliche Inspi­ ration dafür ist weg, die kommt auch nicht wieder. Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Und ich dachte, dass es das Bequemste wäre, mich einfach in eine Gracht zu stürzen. Das sind doch seltsame Dinge. Es könnte auch etwas mit den Bauchschmerzen von heute zu tun haben, die wieder viel zu früh kommen. Aber wie kam es zu dem genannten Mo­ ment? Ich glaube, durch das Gesicht meines Vaters, in dem ich zu lesen glaubte, dass er S. für einen sonderbaren Kerl hielt. Und ich dachte, dass Valkhoff79 es auch langweilig fand. Und die Beleuchtung war Tides Ausse­ hen überhaupt nicht zuträglich, sie wirkte furchtbar hässlich, während ihr Gesicht sonst wirklich etwas Strahlendes und Edles hat, wenn sie singt. Und ich hegte plötzlich eine Abneigung gegen sie, weil ich dachte, dass mein Vater sie auch hässlich finden wird. Na ja, wie auch immer, ich fühlte mich für jeden Ton und jede Geste von allen gegenüber allen verantwort­ lich. Und am Ende sagte S.: «Ihr Vater ist so ein lieber, so ein wirklich lieber Mensch.» Und mein Vater sagte: Was für ein erstaunlich liebenswerter Mann ist dieser S. Und Tide fand er auch so nett, hatte sie sofort richtig eingeschätzt. Und als Adri sang, fand ich das fürchterlich und versank vor Scham beinahe im Boden und dachte: Mein Vater wird es vermutlich grauenhaft finden. Und später sagte er voller Überzeugung zu ihr: «Sie haben eine schöne Altstimme, eine wirklich natürliche, besonders schöne Stimme.» Und so ging es weiter. Und Jo,80 dieser Schatz, dieser sanfte Jo, ich dachte, er würde sich zu Tode langweilen, aber am Ende stellte sich heraus, dass er gerne jedes Mal wieder mitkommen würde. Ja, Mädchen, es steht schlimm um dich. Ein völliger Mangel an Selbstvertrauen. Sich beinahe für die eine Hälfte derjenigen, die dir lieb sind, vor der anderen Hälfte genieren, weil du fürchtest, dass diese nicht Anklang finden könnte. Nun ja, und so weiter. Einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber ande­

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ren haben. In den psychologischen Handbüchern wird das wohl ausführ­ lich dargestellt sein. Ich sollte deshalb mein Gehirn nicht allzu sehr damit abquälen, das auszuarbeiten und aus eigener Kraft aus dem Boden zu stampfen. Ich meine Folgendes: Ich bin jetzt halt im Bereich der Psycho­ logie gelandet. Irgendwie fühle ich mich in diesem Gebiet nach einem halben Jahr auf eine Art und Weise zu Hause, wie es mir in meinem Stu­ dium der Rechtswissenschaften81 innerhalb von 6 Jahren nie passiert ist. Aber es besteht eine Gefahr. Man kann in diesem Gebiet so herrlich seine eigenen Wege gehen, sich durchwursteln, sich Thesen ausdenken, Hypo­ thesen aufstellen, sich Heilmittel ausdenken, die Art und Weise, wie ich manchmal mit diesem Gegenstand umgehe, übersteigt meine Kräfte. Ich muss das ruhiger angehen. Gerade weil ein Laie an sich selbst und an an­ deren so viel Material findet, kann er sich in diesem Gebiet bewegen, aber man vergisst dabei dann, dass auf diesem Gebiet jahrzehntelang systema­ tisch geforscht wurde. Es ist manchmal so, als ob ich selbst das ganze Fach aus eigener Kraft aus dem Boden stampfen müsste. Du kannst mit deiner eigenen Intuition und Beobachtungsgabe sehr weit kommen, aber nimm zuerst einmal das zur Kenntnis, was andere vor dir gedacht oder geschrie­ ben haben, und vielleicht kannst du dann später, viel später, wenn du ­einen Überblick und eigene Erfahrungen hast, systematisch daran an­ knüpfen. Aber nicht so wild und intensiv loslegen, als ob du die Erste wärst, die die ganze Psychologie aus dem Boden stampft. Und du läufst nun auch Gefahr, dass du von den kleinsten Dingen die «tiefenpsychologischen» Ursachen ermitteln möchtest. Auch das kann ausarten. Unter jedem Grund noch einen tieferen Grund finden, auf den Urgrund vorstoßen wollen, aber du darfst darin nicht blindwütig werden. Nur weil mein Vater Zwiebeln nicht mag, kann ich ihn doch nicht in ein Konzentrationslager stecken? S. gerade am Telefon: «So wie Sie gestern waren, fand ich Sie reizend, so still und so unruhig zugleich.»

Man weiß nie, was man selbst für eine Wirkung auf einen anderen hat. Und dann noch anlässlich dieses Telefongesprächs: Wie kannst du wün­ schen, dass ein anderer dich versteht, wenn du dich selbst noch nicht ver­ stehst? Na ja, und noch eine ganze Menge mehr, und er findet es «erstaun­ lich», wie gesund ich doch eigentlich bin, wenn man bedenkt, aus was für

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einer Familie ich eigentlich stamme. Mischa wird vermutlich die Krönung sein heute Abend. Das macht das Leben manchmal so schwer, nicht nur für mich natürlich, ich schreibe eigentlich nie, weil ich mich selbst so übermäßig interessant finde, oder vielleicht doch? Sondern weil ich nur durch mich selbst andere verstehen kann. Der Wunsch, sich in Träumen versinken zu lassen, das Versinken in sich selbst, der Wunsch, sich in andere und in diese Welt hin­ einzuversetzen und sich einzufühlen und auch in dir selbst eine unendliche Liebe und Kraft zu spüren, mit der man alles verstehen kann. Aber eigent­ lich ist das nur passiv – oder besser gesagt, es ist unproduktiv für das ganze, gesellschaftliche Leben. Nein, das ist es auch nicht. Einem Traum eine Form verleihen. Das, was man verstanden hat, anderen mitteilen, ihm eine Form geben. Das alleinige Genießen des eigenen Verstehens einerseits und andererseits dieser Drang zur Verallgemeinerung. Und daneben musst du auch noch dein Brot verdienen und unterrichten und Strümpfe stopfen. Es ist manchmal so enorm schwierig. Ach, weißt du was, die Sonne scheint so herrlich, ich lasse alles mal ein bisschen liegen und genieße einfach mal die Sonne und schlafe und vergesse alle Pflichten und Protokolle und russi­ schen Übersetzungsübungen und Zahnärzte und genieße Duse und träume ein wenig. Vielleicht ist es meine «Aufgabe» in meinem Leben, meine einzige Auf­ gabe, in das Chaos von mir selbst Ordnung und Harmonie zu bringen. Ich muss wahrscheinlich aufhören zu versuchen, die Antwort außen zu finden. Und die Außenwelt interessiert mich eigentlich auch nur als Ab­ druck der Innenwelt. Du musst Maß halten können. Und wissen, über welche Kräfte du ver­ fügst. Und du darfst dich durchaus ab und zu verlieren. Aber denke dann nicht, dass du nun immer in so einem verträumt-verlorenen Zustand blei­ ben musst. Du greifst doch selbst jedes Mal wieder nach den Zügeln. Das weißt du genau. Und du hast auch Freude daran, die Zügel zu halten und zu lenken und all die in unterschiedliche Richtungen wirkenden Kräfte in dir plötzlich stark im Griff zu haben. Aber wenn es Tage gibt, an denen du keine Kraft in dir hast, die Zügel zu halten, nun denn, dann lass sie fallen, aber sei zugleich gewiss, dass die Kraft wieder zurückkehrt. Es ist eine ewige Auseinandersetzung in dir, um zu Klarheit mit dir und mit dieser

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Welt und einem Dutzend Gedanken und Ideen zu gelangen, aber du liebst diese Auseinandersetzung auch, das weißt du. Menschen brauchen keine äußerlichen Maßstäbe, nur sich selbst. Und sich selbst kann man erst zum Maßstab erheben, wenn man auch wirklich man selbst ist, aus seinen eigenen Kräften heraus lebt und Selbstvertrauen hat. Und nun schlaf aber schön, liebe Kleine. Montagmorgen, 20. Oktober [1941], 9 Uhr. Sie aßen sich träge und satt und klebten immer fester an dieser festen Erde. Dies anlässlich eines Brotes mit Tomate und eines mit dickem Apfel­ sirup und drei Tassen Tee mit echtem Zucker. Ich habe eine Neigung zur Askese, mich Hunger und Durst, Kälte und Hitze auszusetzen. Ich weiß nicht, was das für eine romantische Vorstellung ist. Sobald es wirklich ein bisschen kalt wird, würde ich am liebsten in mein Bett kriechen und nicht wieder herauskommen. Gestern Abend sagte ich zu S., dass all diese Bücher so gefährlich für mich sind, manchmal zumindest. Dass ich davon so faul und passiv werde und am liebsten nur noch lesen möchte. Ich erinnere mich nur noch an ein einziges Wort von dem, was er antwortete: «degenerierend». Manchmal kostet es mich so viel Kraftanstrengung, das Gerüst des Tages aufzubauen: aufstehen, waschen, Gymnastik, Strümpfe ohne Löcher an­ ziehen, den Tisch decken, kurz und gut: mich wieder im alltäglichen ­Leben «zurechtfinden», sodass kaum mehr Kraft für anderes übrig bleibt. Dann habe ich, nachdem ich wie jeder andere Bürger einfach rechtzeitig aufgestanden bin, schon das stolze Gefühl, dass ich Wunder was geleistet habe. Doch für mich ist das das Wichtigste: die äußere Disziplin, solange die innere noch nicht in Ordnung ist. Wenn ich am Morgen eine Stunde länger schlafe, bedeutet das für mich nicht ausschlafen, sondern es bedeu­ tet, dem Leben nicht gewachsen zu sein und zu streiken. In mir steckt eine eigene kleine Melodie, die manchmal so sehr danach verlangt, in eigene Worte umgesetzt zu werden. Aber durch Befangenheit, Mangel an Selbstvertrauen, Faulheit und ich weiß nicht was sonst noch bleibt sie immer noch erstickt in mir stecken und geistert in mir herum. Manchmal höhlt sie mich ganz aus und dann wieder erfüllt sie mich mit einer sehr sanften, wehmütigen Musik.

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Manchmal möchte ich mich mit allem, was in mir ist, in ein paar Worte flüchten, ich möchte eine Unterkunft aus ein paar Worten suchen für das, was in mir ist. Aber es gibt noch keine Worte, die mich beherbergen wol­ len. Ja, das ist es eigentlich. Ich bin auf der Suche nach einer Unterkunft für mich selbst, und das Haus, in dem ich mich unterbringen werde, werde ich selbst bauen müssen, werde ich selbst unter Anstrengung Stein für Stein errichten müssen. Und so sucht jeder nach einem Haus, nach einem Zufluchtsort für sich selbst. Und ich suche immer nach ein paar Worten. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob jedes Wort, das gesprochen wird, und jede Geste, die gemacht wird, das große Missverständnis vergrößern. Dann würde ich gerne in einem tiefen Schweigen versinken und auch ­allen anderen das Schweigen auferlegen. Ja, manchmal vergrößert jedes Wort das Missverständnis auf dieser viel zu beschäftigten Erde. Tu, was deine Hand zu tun findet,82 und denke nicht voraus. Also machen wir jetzt das Bett und bringen dann die Tassen in die Küche und danach sehen wir dann weiter. Tide bekommt heute noch die Sonnenblumen, «Γope οт yмa»83 muss vorbereitet werden, dem Backfisch muss etwas über die russische Aussprache beigebracht werden und die Arbeit über den Schizoiden, die weit über mein psychologisches Verständnis hinausgeht, muss fertiggestellt werden. Tu, was deine Hand und dein Geist zu tun fin­ den, und tauche ein in jede Stunde und verschwende nicht dein Denken und deine Ängste und Sorgen an kommende Stunden. Ich muss deine Erziehung wieder einmal in die Hand nehmen. Aus Walther Rathenaus84 «Briefe an eine Liebende»:

nachmittags halb 3.

«Ich sagte Ihnen, was ich vom freiwilligen Sterben denke und will Ihnen sagen, was ich niemals aussprach; dann aber niemals mehr ein Wort hiervon reden und vernehmen. Ich selbst habe um die Zeit, als Sie geboren wurden, jahrelang den Gedan­ ken mit mir herumgetragen, den ich jetzt verwerfen muß. Ich halte dies Ende für ein metaphysisches Unrecht, für ein Unrecht am Geiste. Es ist Mangel an Vertrauen zur ewigen Güte, Auflehnung gegen die innerste Pflicht, dem Welt­ gesetz zu gehorchen. Wer sich tötet, tötet; und nicht nur sich selbst, sondern

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Tagebücher ein anderes Wesen. Denn der Mensch ist keine Einheit. Dieser Tod, das ist meine tiefe Überzeugung, ist keine Befreiung wie das natürliche und unver­ schuldete Ende. Jede Gewalt in der Welt wirkt fort, wie jede Tat. Wir sind dazu da, um vom Leiden der Welt etwas auf uns zu nehmen, indem wir unsere Brust darbieten, nicht es zu vermehren, indem wir Gewalt tun. Ich weiß, daß Sie leiden und fühle Ihr Leiden mit Ihnen. Seien Sie gütig gegen dies Leiden, es wird gegen Sie gütig sein. Durch Wünsche mehrt es sich und durch Unwillen; durch Milde schläft es ein wie ein Kind. Sie haben so viel Liebe in sich; wenden Sie alles den Menschen zu, den Kindern, den Dingen, selbst Ihnen und Ihren Schmerzen. Seien Sie nicht ein­ sam; wollen Sie es nicht sein; überwinden Sie das Hemmnis, blicken Sie ihm ins Auge; es ist nichts.»

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Das hätte ich nicht tun dürfen, die Briefe von Rathenau mitten am Tag lesen. Das ist ein zu großer Luxus und Luxus schwächt den Menschen. Ich muss nun wieder zu mir selbst zurückkehren. Diese Briefe sind so edel und so rein und auf einem solch hohen Niveau – sie sind fast zu schön, um sie in einem müßigen Moment zu lesen. Dienstagmorgen [21. Oktober 1941], halb 10. Heute Morgen mich wieder zwischen den Büchern verloren. Und nun suche ich die Teile wieder zusammen. Du darfst niemals Selbstmord begehen, das wollte ich dir schon die ganze Woche mit Nachdruck sagen. In deinem Fall wäre das, glaube ich, die Handlung eines feigen und verwöhnten Kindes. Ich weiß es nicht. Manchmal würde ich gerne einfach so aus diesem Leben weggleiten. Dann ist es gerade so, als ob mich nichts mehr festhielte, dann ist es gerade so, als ob ich alles bereits wüsste und als ob ich es albern fände, dass ich jetzt alles noch einmal in Wirklichkeit erleben muss. Ich könnte niemals die Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen, nicht für einen Mann und nicht für ein Kind. Manchmal wünschte ich, dass ein anderer die Verantwortung für mich übernehmen möchte. Aber das ist eine Fik­ tion, das ist eine Flucht in etwas, das nicht existiert. Was für müde Töne am frühen Morgen! Es ist doch nur eine vorübergehende Stimmung. Oder besser gesagt eine der Grundmelodien, die immer wieder erklingen. Aber es gibt auch noch andere Melodien. Jetzt arbeite aber mal, du Nörgelfritze. Mit diesem Arbeiten wahre ich den Schein für die Außenwelt. Damit rechtfertige ich meine Existenz.

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Dieses bisschen unglückliches Arbeiten muss ich immer wieder mit aller Kraft erobern. Nun ja, nicht nörgeln. Du hast immer noch falsche Vorstellungen von diesem Leben. Tagelöhner. Ekstase, Rausch, Verträumtheit. Du kannst dich nicht selbst verwirk­ lichen. Das Wesen des Geistes, eine einzige Stunde. Diese einzige Stunde ist es wert, dass du das Leben immer wieder durchlebst. Du musst nicht auf Belohnungen des Lebens warten, zum Beispiel, dass du dich wieder einmal glücklich fühlst. Du sollst nicht so «habgierig» sein. S. Es wird eine alte, vernünftige Freundschaft. Er wird zu einer grauen und uralten Land­ schaft im Hintergrund meines Denkens. Es ist kalt und es nieselt und ich habe Lust auf Kaffee und ich beschäftige mich schon viel zu lange mit diesem Schizoiden und ich habe kalte Füße. Und existiert Liebe? Du darfst doch ruhig mal schlechte Laune haben, das hat doch nichts mit der Liebe zu tun. Ich werde mich schon noch ir­ gendwann in diesem Leben heimisch fühlen. Es gibt Momente, in denen ich mich darin heimisch fühle, und das reicht doch. Du musst nicht ­immer von einer Art höherer Harmonie erfüllt sein wollen. Das ist sehr anmaßend. Und jetzt rede mal kein verworrenes Zeug mehr. Mischa, ­Mischa. Ich bange um ihn. Oder ist das Bequemlichkeit, die Angst, in meiner Ruhe gestört zu werden? Meine sogenannte Ruhe? Es macht mich viel unruhiger, dass ich mich überhaupt nicht um ihn kümmere. Ohn­ macht. Angst. Etwas ist noch nicht in Ordnung mit dir. Du musst deine eigenen Grenzen noch kennenlernen. Manchmal sind sie sehr weit, manch­ mal sehr eng. Und nun wirklich arbeiten. Hustenbonbons. Käthe in der Küche, am Waschen. Pa Han. Telefon. Leicht verärgert. Gestern Abend liebte ich ihn nicht. Vorgestern Abend liebte ich ihn so wahnsinnig. Im­ mer wieder anders. Ich hätte so gerne etwas Beständiges. Nichts ist ewig als 86 der Wechsel. Manchmal vergesse ich das und möchte einen festen Be­ zugspunkt. Aber ein solcher existiert nicht. Nur im Tod. Und daher führt vielleicht manchmal dieses Verlangen nach dem Tod, nach dem Nichts, nach der überwölbenden Kuppel des großen Schweigens. Und nun wirst du zum Donnerwetter arbeiten.

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HEFT 3 21. Oktober 1941–6. Dezember 1941 21. Oktober 1941–6. Dezember 1941

[Dienstag] 21. Oktober [1941], 6 Uhr. Aus einem Brief von Rathenau an «Liebes Fräulein Lore»: «Daß Sie begonnen haben, Ihr Leben wieder an Menschen der Umgebung, vor allem an ein Kind zu knüpfen, ist ein schöner und verheißungsvoller Schritt. Ich weiß sehr wohl, daß alle Materie zehrt, doch sie erwidert Liebe, und durch ihre Begrenzung hindert sie, daß man sich verliert. Die Welt des Gedankens und der Phantasie ist gefährlicher, denn sie ist ungemessen; sie verlangt, daß man sich ein Objekt als Ambos schaffe, sonst gehen die Schläge in die Luft und Mensch und Hammer wirbeln in den Abgrund.»

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Nach dem Essen. Es ist ein langsamer und schmerzlicher Prozess, zur wirklichen, inner­ lichen Selbstständigkeit geboren zu werden. Die sich manifestierende Ge­ wissheit, dass es nie und nimmer Hilfe, Unterstützung und Zuflucht bei anderen für dich gibt. Dass die anderen genauso unsicher, schwach und hilflos sind wie du selbst. Dass du immer die Stärkere sein musst. Ich glaube nicht, dass es deine Art ist, dass du Zuflucht bei anderen finden könntest. Du wirst immer wieder auf dich selbst gestellt sein. Es gibt nichts anderes. Alles andere ist Fiktion. Aber dies muss man immer wieder von Neuem erkennen. Vor allem als Frau. Es besteht doch immer der Drang in dir, dich in einem anderen, in dem sogenannten Einzigen, zu verlieren. Aber auch das ist eine Fiktion, wenn auch eine schöne. Es ­existiert keine Vereinigung zweier Leben. Zumindest für mich nicht. In einzelnen Momenten zwar schon. Aber rechtfertigen diese einzelnen Mo­ mente das Zusammenbleiben für ein ganzes Leben? Können diese weni­ gen Momente ein gemeinsames Leben zusammenhalten? Trotzdem auch ein starkes Gefühl. Und manchmal ein glückliches. Allein. Gott. Aber hart. Denn die Welt bleibt unwirtlich.

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Mein Herz schlägt wie wild, aber niemals für einen einzigen Menschen. Für alle Menschen. Dieses Herz ist – glaube ich – auch sehr reich. Und früher habe ich mich immer gefragt, wie ich das einem einzigen Menschen geben könnte. Aber das geht nicht. Und wenn du in deinem 27. Lebens­ jahr zu derartigen bitteren «Wahrheiten» gelangen musst, beschert dir dies mitunter ein verzweifeltes und einsames und beängstigendes Gefühl, aber auf der anderen Seite auch ein Gefühl des Stolzes und der Unabhängig­ keit. Ich bin mir selbst anvertraut und werde es allein hinkriegen müssen. Der einzige Maßstab, den du hast, bist du selbst. Ich wiederhole das für dich immer wieder. Und die einzige Verantwortung, die du in deinem Leben wirst übernehmen können, ist diejenige für dich selbst. Aber das musst du dann auch voll und ganz tun. Und nun S. anrufen. abends. Viel wissen zu wollen ist auch eine Art von Eitelkeit. Dir selbst einen ­Inhalt zu geben, der nicht dein eigentlicher Inhalt ist. Und doch ist der Wissensdurst etwas sehr Wesentliches. Und kann die treibende Kraft in einem ganzen Menschenleben sein. Ich möchte manchmal nichts mehr wissen wollen, kein Wissen besitzen wollen, sondern einfach nur sein, ein­ fach nur voll mit Leben und mit ein bisschen Güte sein. Und ohne Wis­ sen. Mein Studium ist auch eigentlich nicht ein Anhäufen von Wissen, sondern die Suche nach den Dingen hinter den Dingen, sehr bescheiden und einfach gesagt: die Suche nach dem Rätsel des Lebens. Wonach wahr­ scheinlich jeder Mensch auf seine Art und Weise sucht. Doch das Rätsel des Lebens existiert nicht. Gute Nacht. Ich lebe zu sehr in der Welt der «Kunst», in der Welt der Literatur. Und dort ist alles ausgereift, manchmal nach viel Kämpfen und Leiden. Siehst du, das ist jetzt wieder typisch. Ich stehe in der Küche und fülle einen Krug. Und plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Für mein Empfinden ein ziemlich erhellender Gedanke. Und den wollte ich sofort aufschreiben. Und jetzt fällt er mir nicht mehr ein. Ich finde keine Worte und der «Gedanke» schrumpft in sich zusammen. Und doch war es für mein Empfinden etwas Wesentliches. Und so geht es mir eigentlich immer. Meine Gedanken und Gefühle erscheinen mir ziemlich ausgereift, aber sie wollen noch nicht geboren werden. Vielleicht sind sie doch noch nicht so ausgereift. Oder fehlt mir die Geduld? Ich weiß es nicht.2 Und nun wirklich gute Nacht.

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Zu S. in einem späten Telefonat:

«Ich schlafe lieber mit Büchern als mit Männern.» – «Das ist ja schon ein

Und zu Han: «Nein, führe mich jetzt nicht in Ver­ suchung, ich gehe wirklich in mein eigenes Bett.» Und Han, leicht belei­ digt: «Ha! Versuchung! Schlaf du nur mit deinen Büchern!»3

Riesenfortschritt.»

Mittwochmorgen [22. Oktober 1941], 8 Uhr. O Herr, gib mir am frühen Morgen etwas weniger Gedanken und etwas mehr kaltes Wasser und Gymnastik. Das Leben kann nicht mit ein paar Formeln erfasst werden. Das ist es, womit du letzten Endes immer beschäftigt bist und was dazu führt, dass du zu viel nachdenkst. Du probierst, das Leben in einigen Formeln zu er­ fassen, aber das geht nicht, es ist unendlich vielfältig, und es kann nicht erfasst und vereinfacht werden. Aber deswegen kannst du selbst trotzdem einfach sein. Nach dem Frühstück. Eine Person hat nun einmal aufgrund ihres schlanken Körpers einen stär­ keren und heftigeren Lebensstrom zu bewältigen als eine andere. Die Stromschnellen werden bei mir zu Kopfschmerzen, die plötzlichen Strudel zu Magenschmerzen usw. Geduld. – Empfindungen. halb 12. Das mit Aimé war wohl wirklich Inflation.4 S. versetzte mir damals einen derartigen psychischen Stoß, dass ich wiederum jemand anderem einen Stoß versetzte. Aber meine Kraft reichte nicht aus, um diese Freundschaft aufrechtzuerhalten. Es ärgert mich ab und zu. Ich kann natürlich zu mei­ ner Entschuldigung sagen: Ja, gut, er für seinen Teil hat auch nichts dazu beigetragen. Aber die Schuld liegt doch bei mir. Ich habe damals etwas begonnen, wozu – wie sich später zeigte – die Kraft nicht ausreichte. Sehr schwierig, seine eigenen Kräfte einzuschätzen. Es macht einen unsicher und zurückhaltender gegenüber Mitmenschen. Die nächsten Jahre müs­ sen dir dazu dienen, dass du die eigenen Kräfte einzuschätzen und zu er­ forschen lernst, sodass du im Voraus weißt, was du bewältigen kannst und was nicht. Es ist schon schön, spontan und mit Temperament etwas zu beginnen, aber es ist so beschämend, stecken zu bleiben.

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21. Oktober 1941–6. Dezember 1941 Ich heb mein schweres Herz so feierlich, Wie einst Elektra ihre Urne trug

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Den ganzen Tag über ertappe ich dich dabei, dass du in deinem Denken zu viele widersprüchliche Phänomene zu einer Einheit, in ein einziges Sys­ tem zusammenzwängen willst. Das ist ein Urbedürfnis in dir. Aber was ist das eigentlich? Du willst dir selbst ein abgegrenztes Gebiet der Sicherheit schaffen. Rührt das von einem Gefühl der Unsicherheit her, des Verloren­ seins in der Vielfalt der Dinge? Aber diese Vielfalt muss man akzeptieren. S. machte einmal an einem Sommerabend mit seinem Arm eine große und ausladende und freundliche Geste und sagte: «Es ist im Grunde eigent­ lich alles so einfach.» Und als ich dort bei ihm saß, glaubte ich das auch. Und ab und zu ist das Leben in mir auch einfach und stark und deutlich. Das sind die besten Momente. Es wird für mich niemals glücklichere Mo­ mente geben, als zu merken, dass das Leben wirklich einfach ist. Inwiefern bin ich noch an meine eigene Kompliziertheit gebunden und kann davon nicht Abstand nehmen? Inwiefern bilde ich mir ein, dass dies für mich eine Quelle der Inspiration ist, und vielleicht denke ich doch heimlich, dass ich verarme, wenn ich nicht mehr so kompliziert wäre in meinem Denken und Fühlen? Ich weiß es nicht. Rathenau an «Liebes Fräulein Lore»: «Könnte ich Ihr armes Herz um ein paar Jahre altern machen! Ich kenne diese Sehnsucht und fühle sie Ihnen nach und weiß doch, wie vergeblich sie ist. Vereinigung gibt es nur im Bereich der Sinne und auch die ist flüchtige Täu­ schung. Die Seelen aber stürzen hintereinander her wie die bewegten Sterne, und können doch ihre Bahn nicht verlassen und begegnen sich nicht.»

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halb 6. Das muss doch letztendlich das Ziel sein: selbst innerlich ganz einfach werden, aber die Kompliziertheiten der anderen bis ins kleinste Detail ­begreifen. Aber man muss da nun zuerst einmal hindurch. Nicht alles so final sehen, so statisch, so absolut. Sondern als Übergangsphase. Der Be­ such heute Nachmittag bei S. war ein richtiges Labsal. Ich erforsche mich selbst noch viel zu viel. Aber das ist, glaube ich, deshalb so, weil ich jede Schwingung in meinem doch so schrecklich speziellen Gemüt meine ana­

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lysieren und festhalten zu müssen für die vielen Meisterwerke, die ich noch glaube schreiben zu müssen. Und die ich überhaupt nicht schreiben will. Lass das Leben nur fröhlich und traurig in dir herumschwappen, so, wie es nun einmal ist, in all seinen Gegensätzen, liebe Kleine. Sei nicht so absolut. Furchtbar viel Erhellendes wurde heute Nachmittag gesagt. Wir sind wahrscheinlich schon zwei ziemlich Verrückte, er und ich, und doch fühle ich mich bei ihm am normalsten und natürlichsten. Meine Augen brennen nun vor Müdigkeit. Heute Abend ein bisschen Russisch und dann aber rechtzeitig ins Bett. Jupiter ist bei mir zum Glück ja nicht der größte Berg, Apollo. Merkur ist der noch größere Berg.7 Beide halten einander im Gleichgewicht. «Ich will, dass dieser Jupiter bei mir ganz verschwindet», maulte ich ihn an. «Sie sind doch ein originelles Luder.»

Er hat so etwas Bestimmtes. Und seine Sicherheit bringt dann diesen schrecklichen Chor der widersprüchlichen Stimmen in mir zur Ruhe. Aber ich darf ihn auch nicht zu sehr als Maßstab für mich selbst nehmen. Er ist 55 und hat sich die – ich würde fast sagen religiöse und starke – Ein­ fachheit auch in einem langen Leben errungen, ich darf mich nicht damit messen. Bei jedem lächerlichen Atemzug von mir sterben Tausende von Men­ schen, sie vernichten einander. Und doch darf man nicht sagen: Was ist im Augenblick ein Menschenleben wert? Es ist doch nichts wert. Erst dann, wenn dies wirklich zu einer festen Lebenseinstellung wird: «Was ist ein einzelnes Leben wert, während sie ja fortwährend zu Tausen­ den sterben?», ist die Vernichtung vollkommen. Donnerstagmorgen [23. Oktober 1941]. Verrückte, die du bist! Hör auf, dieses Gehirn zu zermartern! Dich in voller Lebensgröße in einem Wort zu umreißen, in anschau­ lichen, umfassenden Worten. Aber diese Worte werden dich nicht gänz­ lich erfassen können. Gottes Welt und Himmel sind so weit. Etwa nicht weit genug? Wieder zurück in die Dunkelheit wollen, in den Mutterschoß, in das Kol­ lektive. Selbstständig werden, die eigene Form finden, das Chaos bezwingen. Dazwischen hin- und hergerissen.

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[Freitag] 24. Oktober [1941]. Heute Morgen habe ich Levie unterrichtet. Man darf sich nicht gegen­ seitig mit seiner schlechten Laune anstecken. Heute Abend9 neue Verordnung für die Juden. Ich habe mir selbst er­ laubt, deswegen eine halbe Stunde lang deprimiert und unruhig zu sein. Früher hätte ich mich selbst getröstet, indem ich einen Roman gelesen und meine Arbeit sausen gelassen hätte. Nun die Analyse von Mischa aus­ arbeiten. Es ist viel zu wichtig, dass er am Telefon so gut reagierte. Man darf nicht zu optimistisch sein – aber er verdient es, dass man ihm hilft. Solange man durch das kleinste Schlupfloch Zugang zu ihm finden kann, muss man dies ausnutzen. Vielleicht kann ihm das später im Leben ein wenig helfen. Man sollte nicht immer großartige Ergebnisse anstreben, vielmehr muss man an die kleinen glauben. Schon zwei Tage lang nur gearbeitet und mich nicht in meine eigenen Stimmungen vertieft. Großes Mädchen, nicht wahr? 8

«Ich hänge so sehr an diesem Leben.» Was verstehst du unter diesem ­«Leben»? Das bequeme Leben, das du zurzeit erträgst / führst? Ob du wirklich am nackten, am splitterfasernackten Leben hängst, in welcher Form es auch immer auftritt, wird sich im Laufe der Jahre noch zeigen müssen. Du ver­ fügst über genügend Kräfte. Und es steckt auch dies in dir: «Ob man das Leben lachend oder weinend verbringt, es ist doch immer nur ein Leben.» Aber das ist es nicht allein. Es ist mit westlicher Dynamik vermischt, das spüre ich ab und zu sehr stark. In diesen nüchterneren Tagen der wirk­ lichen Selbstdisziplin fühle ich dies sehr stark: Du bist kerngesund, du bist damit beschäftigt, zu dir selbst heranzuwachsen, dir eine Basis zu erschaf­ fen. Und nun an die Arbeit. Nach einem Gespräch mit Jaap. Wir werfen einander ab und zu einmal Fragmente von uns selbst zu, aber ich glaube nicht, dass wir einander verstehen. Montag [27. Oktober 1941]. Du musst mit deiner Seele leben und atmen, aber mit deinem Verstand arbeiten und studieren. Wenn du nur mit deinem Intellekt lebst, ist es ein erbärmliches Dasein.

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Aber wegen der Seele brauchst du den Verstand nicht wegzuwerfen. Es ist gut, dass der Mensch beide hat. Wenn sie nur an der richtigen Stelle zum Einsatz kommen. Dienstagmorgen [28. Oktober 1941]. Du darfst niemals von einem anderen etwas verlangen, das du selbst nicht geben kannst. Wenn ich selbst psychisch niedergeschlagen und abgespannt bin, dann bin ich viel schneller durch Langeweile und Geistlosigkeit bei anderen gereizt als sonst. Beispielsweise bei Tide. Gestern Abend fand ich sie stinklangweilig, kindisch, schulmeisterlich und öde. Ich selbst war wahnsinnig müde und deprimiert. Obwohl ich vor ein paar Tagen dachte: Geist habe ich ja selbst, den muss ich nicht suchen, bei anderen suche ich ein wenig Seele und menschliche Wärme und echte menschliche Liebe. Und dann musste ich an die Geste denken, mit der Tideman an Mischas Musikabend ihre Hand auf meine legte, und später schrieb sie auf das Programm: Ich bete für dich.10 Und in niedergeschlagenen Momenten d ­ anach hatte ich manchmal den Drang, zu ihr zu laufen und zu sagen: «Ja, bete bitte für mich, ich habe es bitter nötig.» Das war gestern Abend schon wieder einmal eine große Dissonanz. S. kam so frisch und ausgeruht aus Friesland,11 rappelvoll mit «dem Leben nach dem Tod» und Kierkegaard und neuen Ideen. Und ich war zu müde, um zu atmen. Und er warf mit wertvollen Formulierungen um sich und ich versagte jämmerlich und fühlte mich zu müde, um etwas aufzunehmen. Und dann frage ich mich, warum ich diesen Wahnsinn begonnen habe. Vor ein paar Tagen war es so, dass ich das Gefühl hatte, dass ich in die Chi­ rologie hineinzuwachsen begann, dass es eine Sache war, die ich bis zum Äußersten verteidigen würde. Aber du willst zu schnell Ergebnisse sehen. Wenn ich mich selbst so kraftlos fühle, dann hasse ich ihn mit all sei­ ner Kraft beinahe. Mein Fehler ist immer wieder, dass ich mich dann nicht mit der temporären Müdigkeit meines Körpers abfinde, sondern dass diese Müdigkeit dann gerade mein ganzes Lebensbild angreift. Dann sehe ich alle Dinge, die ich anfangs positiv sah, nur negativ, obwohl mein Sinn für Gerechtigkeit direkt auf der Lauer liegt und mich warnt, dies nicht zu tun. An Tagen, an denen ich aufgrund meines Mangels an Kraft niemanden liebhaben kann, fordere ich, dass die anderen mich doppelt liebhaben sol­ len. Oder besser gesagt, ich fordere das nun nicht mehr. Früher tat ich das.

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Je weniger ich anderen geben konnte, desto unangemessener wurde ich mit meinen Forderungen an die anderen. An Tagen wie diesen muss ich mit meinen Gedanken und Gefühlen von allen ablassen. So ein bisschen wie ein kranker Vogel zusammengekauert dasitzen und wissen, dass es schon wieder gut wird. Und verschwende nicht deine Energie, indem du gegen deinen Mangel an Kräften rebellierst. Und nicht denken: Ich muss noch dies und das erledigen, denn in deiner Fantasie erscheint es dann als viel mehr, als es in Wirklichkeit ist. Entlang eines schmalen Pfades die Arbeit erledigen, die auf der Hand liegt. Du hast immer noch zu hohe Ansprüche an dich selbst. Mit einer ver­ stopften Nase und einem beduselten Kopf kannst du nicht die Rolle der Inspiratorin spielen. Du musst überhaupt nicht mit dem Anspruch her­ umlaufen, immer die Inspiratorin zu sein. – Rasch an die Arbeit jetzt. Mittwochmorgen [29. Oktober 1941]. Das sind jetzt wieder solche Tage, an denen morgens beim Aufwachen mein erster Gedanke ist: heute Abend wieder früh ins Bett. Aber ob diese körperliche Müdigkeit von psychischer Unlust herrührt oder umgekehrt, das ist etwas, wo ich wirklich nicht dahinterkommen kann. Du musst nicht mehr sein wollen, als du bist. Indem du krampfhaft ver­ suchst, mehr sein zu wollen, verschwendest du dein letztes bisschen Ener­ gie, das du benötigst, um genau das zu sein, was du sein könntest. Heute Morgen machte ich plötzlich einen Sprung zu du Perron. Es scheint mir schon, als ob ich auf einmal der «Seele» und Gottes, mit dem Henny so intim ist, und der Liebe und der Güte von S. überdrüssig geworden sei. Diese kämpferische Intelligenz, die sich niemals geschlagen gibt. Alles selbst untersuchen wollen, du Perron, ter Braak, Marsman, Slauerhoff,12 die Namen sind mit der Zeit mit Lout13 und Frans verbunden. Plötzlich taucht diese Zeit wieder vor mir auf und lässt mich aus meiner Niederge­ schlagenheit hochschnellen. Manchmal würde ich mich gerne geräuschlos in eine trübe Gracht sinken lassen und dort sanft einschlummern. Dann will ich mich geschlagen ge­ ben und bin dann so müde von allem, nicht nur körperlich.

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Und dann plötzlich, inmitten der größten Müdigkeit, schnellt etwas in mir hoch, etwas, das sich behaupten und standhalten will und das sich bis ans Ende zu Tode kämpfen will. Jeder und alles ist mir dann im Weg, ich muss dann mit etwas ins Reine kommen. Ich weiß bloß nicht, mit was. Aber geh nun heute Nachmittag bitte nicht schlafen. Den ganzen Morgen bereitest du die Flucht schon wieder vor, drum bleib bitte auf den Beinen. Donnerstagmorgen [30. Oktober 1941]. Lebensangst auf der ganzen Linie. Totales Tief. Mangel an Selbstvertrauen. Abscheu. Angst. Donnerstagnachmittag. Ich falle schon seit ein paar Tagen wieder in mein eigenes «finsterstes Mit­ telalter» zurück. Fortwährend nur schlafen wollen, Hunderte Dinge an einem Tag planen und nichts davon erledigen. Es ist, als ob wieder ein schweres Haus über mir eingestürzt ist, und ich weiß nicht, wie ich all die Steine von mir herunterwälzen kann. Wann hat das eigentlich angefangen? Letzten Freitag hatte ich mich selbst noch fest im Griff. Ich war noch so froh über Mischas gute Reaktionen abends auf das Telefonat mit S., ich freute mich über das Ergebnis, das auf einmal sichtbar wurde, ich war voller Lebensfreude und plante, auch mit Jaap ein eingehendes Gespräch über S. und seine Analyse von Mischa zu führen. Samstagmorgen plötzlich Mutter, die gut aussah, aber davon nichts hören wollte, scheinbar voller Leben und aufgedreht wie immer, zog über Tiere und Pelzmäntel her und klang auch wieder intelligent und außergewöhn­ lich, aber alles in allem ein sehr unruhiges Ganzes. Auf der einen Seite war ich froh, dass sie kam, ich wollte über Mischa sprechen. Sie sagte, dass sie für ihn sozusagen ihr letztes Hemd hergeben würde, wenn ihm etwas ­zustoßen würde, aber: Vaters Umstände14 etc. Ich weiß noch, dass mir ­damals sehr stark bewusst wurde: Meine Mutter ist für mich ein Vorbild dafür, wie ich nicht werden will. Da ist sie nun, gut angezogen, beinahe elegant, jung für ihre 60 Jahre, lebhaft, vital, aber ich weiß, dass sie nur zeitweise so ist. Den einen Tag übertriebener Vitalität muss sie wieder da­ mit bezahlen, dass sie sich tagelang schlecht fühlt. Ein chaotisches Leben, seufzen und klagen über ihre Müdigkeit, und damit verdirbt sie die ganze Atmosphäre im Haus, wie sie sie schon ihr Leben lang verdorben hat. Wie

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sie sich heute gibt, ist eigentlich Betrug. Es ist viel mehr Schein als Sein. Sie ist dann für einen einzigen Tag so, aber ansonsten ist sie nicht so, sie ist dann unbrauchbar, sie ist schlichtweg jemand anders, ein Fass voll mit den unmöglichsten psychologischen Komplikationen. Ich glaube, dass ich im­ mer Angst habe, so zu werden wie meine Mutter: Zeitweise voller Enthu­ siasmus und Leben und Interesse und ansonsten zehre ich mich selbst auf, plage mich mit der Müdigkeit ab und kann ihr nicht entkommen. Und in den Momenten, in denen du dann wirklich wieder einmal ein richtig ­lebendiger Mensch bist, glaubst du da selbst nicht dran und bist nur eine Art Fassade für die Außenwelt, an die du selbst nicht glaubst. Das ist feige und abscheulich von dir und das stammt aus deiner schlech­ testen Zeit: Du flüchtest wieder in Bücher und Gedichtbände, du erzählst dir selbst wieder eine ergreifende Geschichte, dass niemand dich begreift, dass du gerne dichten würdest, aber dass du darunter leidest, dass du das nicht kannst, du rollst dich auf der Couch zusammen und lässt Käthe, die sich in letzter Zeit sehr schlecht fühlt, durch den Regen den Einkäufen hinterherrennen, du denkst wieder erhaben über Selbstmord nach, was reine Bequemlichkeit und Feigheit wäre, du bist ein sehr widerlicher Mensch. Und du entschuldigst dich selbst mit einem: Ich fühle mich doch so elend, ich kann wirklich nicht. Die Vorlesung heute Morgen hast du auch versäumt. Ich schäme mich für dich. Eine Ohnmacht und eine Angst und nicht wissen, wo ich beginnen muss, um sie anzugreifen. Zu Beginn des Morgens lief es noch recht gut mit Mutter, ich redete ­natürlich gleich viel zu aufgedreht über alles durcheinander, war aber den­ noch angespannt; ich arbeitete weiter an Mischas Analyse mit dem stolzen Gefühl: Na, ich lasse mich doch nicht aus dem Konzept bringen von mei­ ner Familie. Mittags auf einmal Jaap und Mutter gemeinsam in meinem kalten Wohnzimmer. Jaap wirkt, so glaube ich, auf irgendeine Art und Weise mörderisch auf mich mit seiner eiskalten und unsicheren Verkrampftheit und mit seiner Arroganz, hinter der doch bestimmt auch Unsicherheit steckt. Ich habe schreckliches Mitleid mit ihm und er stößt mich ab. Letz­ teres rührt wohl daher, dass er mich, zumindest für mein Empfinden, ein bisschen verachtet.

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Er schrieb mir einmal, als er krank war, zuoberst auf einen Brief: «Co­ gito, ergo sum. Credis, ergo non es.»15 Und ich glaube, dass dies auch heutzutage noch der Unterschied zwi­ schen uns ist, der wahrscheinlich auch nicht zu überbrücken ist. Und ich muss ihn jedes Mal empfangen, weil er nun einmal mein Bruder ist, ob­ wohl ich es ziemlich sinnlos finde, das als Grund dafür anzuführen. Er hat etwas Feindseliges mir gegenüber, er wird sich dessen selbst nicht bewusst sein, und vielleicht kommt es auch daher, dass ich nicht offenherzig genug zu ihm bin. Es liegt natürlich auch an mir. Und wenn ich jedes Mal wieder so sehr von seiner Kritik und seinem Skeptizismus getroffen werde, dann ist das nur ein Beweis dafür, dass ich in manchen Dingen unsicher bin, denn sonst würde seine kritische und überhebliche Haltung mich nicht treffen. Gymnastik hast du auch schon seit mehreren Vormittagen nicht mehr ge­ macht, und dieses kalte Wasser hast du auch verabscheut. Kind, ich ver­ achte dich. Früher habe ich manchmal wochenlang so weitergebrütet, und nun bekomme ich auf einmal wieder das Gefühl, dass ich mich selbst an meinem eigenen Schopf aus dem Sumpf herausziehen muss, eine Münch­ hausener Kraftprobe,16 glaube ich. Ich bilde mir ein, dass ich wer weiß was fertigbringe, weil ich Wunder was alles denke und träume und fantasiere. Die unwirkliche Welt ist für mich realer als die wirkliche, und je mehr Kräfte ich manchmal in die unwirkliche einsetze, desto kraftloser werde ich in der wirklichen Welt. Und das darf nicht sein. Alles sollte Hand in Hand gehen. Ich schäme mich dann auch so. Und statt dass mir die Scham dann einen Schubs in die richtige Richtung gibt, macht sie mich manchmal noch machtloser. Du musst dich dir wieder vorknöpfen, Mädchen, und in ­einen eisernen Griff nehmen und nicht feige sein. Und jetzt ein paar Dinge aus dem «Evangelium des vollkommenen Le­ bens»:

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«Denn durch die Verwicklung und Entwicklung wird die Erlösung der Welt vollendet werden durch das Herabsteigen des Geistes in den Stoff und das Emporsteigen des Stoffes in den Geist, durch alle Zeiten.» «Sie sollen gezüchtigt werden»,

sagte S., als ich wie ein albernes Schulkind

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in einer nassen Regenjacke und mit einer Träne in meinem Gesicht ganz schuldbewusst vor ihm stand. Und er hat recht. Und noch etwas aus diesem Evangelium: «Die, welche Liebe haben, haben alle Dinge, und ohne Liebe gibt es nichts, das Wert hätte. Lasset alle halten, was sie als die Wahrheit erkennen in der Liebe, wissend, daß dort, wo keine Liebe ist, die Wahrheit ein toter Buchstabe ist, ohne Wert. Es bleiben Güte, Wahrheit und Schönheit; doch die größte von diesen ist die Güte. Wenn etliche ihre Brüder gehaßt und ihre Herzen verhärtet haben gegen die Geschöpfe von Gottes Hand, wie können diese, deren Augen blind und deren Herzen verhärtet sind, für Gottes Schöpfung die Wahrheit sehen zu ihrem Heile?»

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Von du Perron bin ich doch wieder hier gelandet. Und hier fühle ich mich heimischer. Han sagte gerade etwas Schönes: Er sagte, dass Lesen an sich keine Kunst ist, das machen alte Männer in Lesesälen auch. Er meinte, dass ich zu viel und zu flüchtig lese und dass ich ohnehin kein wahres Interesse am Buch habe. Ich glaube nicht, dass er recht hat. Aber es ist schon so, dass ich in den Zeiten, in denen ich am niedergeschlagensten bin, am meisten lese und dass dies dann immer degenerierender wirkt. Ich denke manchmal, dass etwas Grammatik studieren gesünder ist. Ich habe mich schon ein ordentliches Stück aus dem Sumpf herausge­ zogen. Das scheint jetzt zumindest so. Bin gerade durchs Zimmer gegan­ gen und habe eine leidenschaftliche Rede darüber gehalten, was ich mor­ gen S. sagen werde. Bin gespannt, ob ich es tun werde. Ich spreche zu viel über mich selbst, sagt Han. Aber nur mit ihm, mit anderen dafür zu wenig. Der Gute hat von seinem Standpunkt aus zwar recht, aber ich werde doch noch weitermachen müssen, ich werde mich nun viel mit mir selbst beschäftigen müssen, um auf die Dauer vielleicht endgültig von mir wegzukommen. Das «Alles oder nichts», das du in deiner Jugend (höre nur, wie ich rede!) mit so viel Leidenschaft und stolz verfochten hast, ist im Grunde doch falsch. Es ist eine Phase, durch die du hindurchmusst. Wenn das «Alles» unmöglich scheint, ziehst du dich oft in Verbitterung und Scham zurück auf das Nichts, sei es im Bereich der Liebe oder in Bezug auf die Ansprüche, die du an deine Arbeit stellst.

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abends 8 Uhr. Da habe ich mich selbst in Ruhe und Frieden an meinem Schreibtisch wiedergefunden. Für wie lange? [Freitag] 31. Oktober 1941. Man kann sich natürlich weismachen, dass man aus Neugierde am Leben bleiben will. Aber das wäre schon nicht mehr die wahre Lebensfähigkeit. Es gibt auf die Dauer nichts mehr Neues, oder man hat es auf die ein oder andere Weise bereits erlebt, in sich selbst oder in der eigenen Fantasie. Neugierde, was aus dir wird, ist kein ausreichender Motor. Dieser Motor muss die wahrhafte Liebe zu diesem Leben sein. In einer Nacht wie heute Nacht bin ich wieder ein Stück auf mich selbst zugewachsen, habe ich mich selbst wiedergefunden. Das Leben war auf einmal wieder transparent in mir. Dieses Gefühl von vollkommener Har­ monie ist das Höchste, was man erreichen kann. Für mich zumindest. Von so einer Nacht muss ich wieder lange zehren können. Man kann auch nicht erwarten, fortwährend in so einer seligen Harmonie herumlaufen zu können. [Dienstag] 11. November [1941], morgens. Es scheint, als wären wieder sehr viele Wochen verstrichen und als hätte ich wieder furchtbar viel erlebt, und doch findest du dich selbst irgend­ wann wieder vor dasselbe Problem gestellt: Diesen Drang in dir oder die Fiktion oder die Fantasie oder wie du es auch immer nennen willst, einen Menschen ein Leben lang besitzen zu wollen, musst du in dir in tausend Stücke zerschlagen. Diese Absolutheit muss in dir zerbröckelt werden. Und dann nicht denken, dass der Mensch dadurch ärmer wird, nein, er wird sogar reicher. Aber auch schwieriger, vielfältiger. Das Auf und Ab in Beziehungen akzeptieren, und dies positiv sehen und nicht als etwas Trauriges. Jemand anderes nicht besitzen zu wol­ len bedeutet aber nicht, auf jemand anderes zu verzichten. Jemand ande­ rem völlige Freiheit lassen, auch innerliche, bedeutet keineswegs Resigna­ tion. Ich beginne jetzt meine Leidenschaftlichkeit in meiner Beziehung mit Max19 zu erkennen. Es war schiere Verzweiflung, weil du spürtest, dass er letztendlich doch unerreichbar war, und das trieb dich immer mehr an. Aber das war dann wahrscheinlich, weil du den anderen auf die falsche Art und Weise erreichen wolltest. Zu absolut. Und das Absolute existiert nicht.

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Ich weiß, dass das Leben und die menschlichen Beziehungen unendlich vielfältig sind und dass es nirgends etwas absolut oder objektiv Gültiges gibt, aber dieses Wissen muss auch in dein Blut, in dich übergehen, nicht nur in deinem Kopf vorhanden sein; du musst es auch leben. Und darauf komme ich immer wieder zurück: Man muss sich ein Leben lang darin üben, dass man das Leben nicht nur gemäß der eigenen Weltanschauung lebt, sondern auch mit den entsprechenden Gefühlen; das ist wahrschein­ lich die einzige Möglichkeit, um ein Gefühl von Harmonie zu erhalten. Mittwochnachmittag [12. November 1941]. Auf einmal, mitten im Anfertigen eines Protokolls, rebellisch und zugleich schicksalsergeben: Man kann seine innerlichen Ziele nicht verwirklichen in der Außenwelt.

Vielleicht können manche das, und manche probieren es und machen dann aus ihrem Leben ein buntes Irrenhaus oder einen Jahrmarkt, auf alle Fälle etwas sehr Verzweifeltes. Arbeite jetzt weiter! Formung! Formung! «Gestalten». [Freitag] 14. November [1941]. Gestern Abend S. Diese Abende mit ihm sind doch stets die Höhepunkte der Woche oder der Wochen. Ich spüre die angenehme Nachwirkung, jetzt, wo ich hier an meinem Schreibtisch sitze und voller Schwung in den neuen Wochentag starte. [Freitag] 21. November [1941]. Es ist interessant, dass ich in letzter Zeit voller Schöpfungsdrang bin und eine Novelle schreiben möchte: «Das Mädchen, das nicht knien konnte» oder so etwas in der Art, und dann etwas über diese schmale, kleine Frau Levie, die mich beschäftigt, und so vieles, so schrecklich vieles mehr, aber als ich dies aufschreibe, auf einmal: Wie von einer Tarantel gestochen springe ich plötzlich mit meinem rumorenden Magen von der blauen Couchdecke hoch: ja, dieser Magen. Obwohl ich schon viele Probleme mit der Ethik und der Wahrheit und Gott selbst habe, taucht da auf ein­ mal noch ein «Essensproblem» auf. Doch etwas für eine Analyse vielleicht. Ab und zu, nicht mehr so oft wie früher, verderbe ich mir meinen Magen, ganz einfach, weil ich zu viel esse. Durch Unbeherrschtheit also. Ich weiß, dass ich aufpassen muss, und auf einmal überkommt mich dann eine Art Gefräßigkeit, gegen die keine Argumentation ankommt. Ich weiß dann,

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dass ich dieses bisschen Genuss oder diesen einen Bissen viel zu sehr werde büßen müssen, und doch kann ich es dann nicht lassen. Und ich glaube auf einmal, dass es da eine Essstörung gibt, die behandelt werden könnte. Es ist letzten Endes nur symbolisch. Diese Gier habe ich wahrscheinlich auch in meinem geistigen Leben. Ich will schrecklich viel aufnehmen, und das gipfelt ab und zu in schweren Verdauungsstörungen. Irgendwo muss hier ein Grund dafür zu finden sein. Vielleicht hängt es mit meiner lieben Mama zusammen. Mutter spricht immer übers Essen, es existiert für sie nichts anderes. «Komm, iss noch was. Du hast noch nicht genug gegessen. Wie mager du geworden bist.» Ich erinnere mich noch, wie ich vor Jahren meine Mutter auf einer Hausfrauenparty essen sah. Ich saß auf dem Balkon in dem kleinen Theatersaal in Deventer. Mut­ ter saß an einem langen Tisch inmitten vieler Hausfrauen. Sie trug ein blaues Spitzenkleid. Und war am Essen. Sie war völlig ins Essen vertieft. Sie aß gierig und mit Hingabe. So wie sie da saß, als ich sie von da oben vom Balkon aus plötzlich beobachtete, hatte sie etwas an sich, das mich furchtbar erschütterte. Sie stieß mich ab, so wie sie da saß, und gleichzeitig hatte ich wahnsinnig Mitleid mit ihr. Ich kann es gar nicht erklären. In dieser Gier steckte eine Art Angst, sie könnte im Leben ein wenig zu kurz kommen. Etwas schrecklich Bedauernswertes und gleichzeitig etwas tierisch Abstoßendes war an ihr. So schien es mir. In Wirklichkeit war sie eine Hausfrau in einem blauen Spitzenkleid, die Suppe aß. Aber wenn ich verstehen könnte, was ich alles in Bezug auf sie empfand, als ich sie dort so beobachtete, dann könnte ich viel von meiner Mutter verstehen. Diese Angst, im Leben ein wenig zu kurz zu kommen, und aufgrund dieser Angst kommt man dann eigentlich komplett zu kurz. Man kommt nicht an das Wesentliche heran. Psychologisch könnte man es vielleicht so formulieren – hört mal den blutigen Laien: Ich verspüre einen Widerstand gegen meine Mutter, der noch immer nicht gebrochen wurde, und deshalb mache ich Dinge, die ich an ihr verabscheue, genau gleich wie sie. Ich bin schließlich kein Mensch, der sehr aufs Essen aus ist oder so, auch wenn das seine geselligen und angenehmen Seiten hat. Aber darum geht es nicht. Es steckt etwas dahinter, dass ich mir wissentlich oder besser gesagt wider besseres Wissen immer wieder den Magen verderbe. Damit verbunden ist natürlich auch mein starkes Verlangen nach Askese, nach einem Klosterleben mit Rog­ genbrot, klarem Wasser und Obst.

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Man kann Lebenshunger haben. – Aber mit Lebensgier schießt man ge­ nau am Ziel vorbei. Nun ja, tiefsinnige Dinge kannst du ja immer noch später erzählen. Aber ich finde es doch interessant, dass ich mich – während in mir die stärkste Poesie herumgeistert, die immer noch nicht weiß, wie sie sich ­äußern soll  – plötzlich dazu gezwungen fühlte, einige Worte meinem Magen und dem, was dahinterstecken könnte, zu widmen. Das rührt ­natürlich auch von den Gesprächen mit S. in letzter Zeit über die Vorund Nachteile der Analyse her. Und all dies wurde durch ein Gespräch mit Münsterberger20 ausgelöst. S. wirft den Psychoanalytikern ihren Mangel an Menschenliebe vor. Ihr sachliches Interesse. «Man kann keinen gestörten Menschen ohne Liebe heilen.» Und doch könnte ich mir vorstellen, dass man sich so einem Magen rein sachlich nähern könnte. Dass eine Analyse täglich eine Stunde kostet und manchmal Jahre dauert, findet auch S. schlimm. Er ist der Meinung, dass der Mensch dadurch eigentlich für die Gesellschaft unbrauchbar wird. Ich schreibe dies jetzt natürlich sehr krass und undifferenziert auf. Ich habe jetzt keine Zeit mehr und eigentlich auch keine Lust, damit weiterzumachen. Es ist so ein schwieriges Gebiet und ich bin so ein blutiger Laie. Trotzdem lassen mich diese Dinge nicht los und ich werde meinen Weg damit schon machen. Ui, ui, ui, was ist das für eine Menge dorniger Pfade, die ich beschreiten muss. Und ich muss überall durch. Ich ganz allein bin mein Maßstab für mich selbst und muss alles selbst herausfinden und werde zu meinen eigenen Formulierungen und meinen eigenen kleinen Wahrheiten gelangen. Manchmal verfluche ich es, dass schöpferische Kräfte in mir stecken, die mich, weiß nicht wie, antreiben, aber manchmal erfüllt es mich auch mit großer Dankbarkeit und beinahe mit Ekstase. Und diese Höhepunkte der Dankbarkeit dafür, so voller Leben sein zu dürfen, und auch für die Möglichkeit, die Dinge allmählich begreifen zu können, wenn auch auf meine eigene Art und Weise, machen jedes Mal mein Leben wieder lebenswert, sie werden ­eigentlich jedes Mal wieder zu den Grundpfeilern meines Lebens. Aber jetzt geht es gerade wieder schief. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass Mischa wieder in der Stadt ist. Ich weiß es wirklich nicht. Ach, lieber Gott, es gibt so viel. Am selben Tag. Schreckliche Abneigung gegen die Arbeit von S. Der Gedanke, dass ich meine Zeit verschwende, dass es Unsinn ist. Bewusste Argumentation da­

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gegen: Betrachte es als einen kleinen Job, du verdienst Geld damit, auch wenn es nicht viel ist, und man kann nie wissen, wozu es noch gut sein wird, und es ist ja interessant. Wirklich große Abneigung. Ein Gefühl von: Ich will das nicht. Außerdem Magenschmerzen. Unlustgefühle. Allem mit Schrecken entgegensehen. Auch dem Russischunterricht, den ich morgen erteilen muss. Gestern Abend genau andersherum: Höhepunkt. Psychoanalyse und 21 Weltanschauung von Pfister gelesen. Ich konnte es durchdringen, es hat mir viel gegeben und mit Dankbarkeit habe ich an S. gedacht und daran, welche Erweiterung des Horizontes ich ihm verdanke, dem Umgang mit seiner Person, aber auch dem psychologischen Arbeiten bei ihm. Echte, aufrichtige Dankbarkeit und Liebe für ihn. Jetzt große Abneigung. Wir werden es jetzt einmal sachlich halten. Mal schauen, wann der Enthusiasmus zurückkehrt. abends. Andererseits: Es tut doch eigentlich nichts zur Sache, was du tust. – Ach nein, jetzt nichts mehr davon. Samstagmorgen [22. November 1941]. Ich hoffe und ich fürchte auch, dass in meinem Leben einst eine Zeit kommen wird, in der ich ganz mit mir allein und einem Stückchen Papier bin. Dass ich dann nichts anderes mache als schreiben. Ich traue mich das noch nicht. Ich weiß nicht, warum. Als ich mit S. in diesem Konzert war am Mittwoch. Wenn ich viele Menschen beieinander sehe, möchte ich einen Roman schreiben. In der Pause hatte ich das Bedürfnis nach einem Stück Papier, um etwas aufzuschreiben. Ich wusste selbst noch nicht, was. Eigene Gedanken weiterspinnen. Stattdessen diktierte S. mir etwas über einen Patienten. An sich spannend genug. Und auch bizarr. Aber ich musste mich selbst wieder beiseiteschieben und das Rechenschaftablegen über mich selbst. Das Bedürfnis haben, stets zu schreiben, und es doch noch nicht zu wagen, sich dazu zu bekennen. Ich schiebe – glaube ich – überhaupt zu viel von mir selbst beiseite. Ich glaube manchmal, dass ich eine viel stärkere Persönlichkeit bin, aber nach außen zeige ich immer In­ teresse, ewige Freundlichkeit und Güte, was oft auf meine eigenen Kosten geht. Die Theorie lautet dann: Ein Mensch muss so sozial sein, dass ein anderer nicht unter seinen Stimmungen leidet. Aber dies hat nichts mit Stimmungen zu tun. Indem ich viel von mir selbst unterdrücke, werde ich

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in anderer Hinsicht wieder asozial, nämlich wenn ich dann tagelang für niemanden zu sprechen bin. Irgendwo sind in mir eine Wehmut und eine Zärtlichkeit und auch ein wenig Weisheit, die dort ihre Form suchen. Manchmal spielen sich in mir ganze Dialoge ab. Bilder und Figuren. Stimmungen. Der plötzliche Durch­ bruch zu etwas, das meine eigene Wahrheit werden soll. Menschenliebe, für die es zu kämpfen gilt. Aber nicht in der Politik oder in einer Partei, sondern in mir selbst. Aber noch falsche Scham, es offen zu vertreten. Und dann Gott. «Das Mädchen, das nicht knien konnte und es dann doch lernte auf der rauen Kokosmatte in einem unordentlichen Badezimmer.» Aber diese Dinge sind fast noch intimer als die sexuellen. Dieser Prozess in mir, von dem Mädchen, das zu knien lernte, möchte ich in all seinen Nuancierungen schildern. Das ist Unsinn. Ich habe natürlich sehr wohl Zeit zum Schreiben. Mehr Zeit als viele andere wahrscheinlich. Aber es liegt an dieser inneren Unsicherheit. Weshalb eigentlich? Weil du denkst, dass du geniale Dinge sagen musst? Weil du doch nicht sagen kannst, worum es wirklich geht? Aber das kommt stufenweise. Das «stehen zu sich». S. hat vermutlich ­immer recht. Ich habe ihn so lieb und gleichzeitig hege ich eine riesige Abneigung gegen ihn. Und diese Abneigung hängt mit tieferen Dingen zusammen, an die ich selbst nicht ganz herankomme. Samstagabend. Wie viel kann an einem Tag passieren! Alles, was sich in einem ganzen Leben ereignen kann, erlebe ich manchmal an einem einzigen Tag. Prof. Becker und Eleonora Duse. Russische Geschäftskorrespondenz22 und sich in Träumen verlieren. Zuversicht und Angst. Gott und Spott und alles. Ermüdung und Fitness. Eine Übersetzungsübung mit einem Wörterbuch und das Gefühl, dass man älter wird, und der Glaube, etwas zu können, und wieder Zweifel und diese Erschöpfung am Ende des Tages und nun das breite Bett mit dem alten Freund und viel zu viele Gedanken und Bilder. Die zwei Gulden von S. und das Gespräch mit Gera, die sagte: «Tide beschäftigt sich mit Gott wie mit ihrem Unterrock.» Und dann hatte Gott auch noch Eiweiß in ihren Urin getan, weshalb sie nicht nach Nieder­ ländisch-Indien konnte. Zweifellos hatte er dafür seine Gründe.23 Und Kierkegaard. Und die Grenze zwischen Psychologie und Literatur. Und du Perron und Jung. Und die reinen, aufrichtigen Frauenfiguren in der

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russischen Literatur im Gegensatz zu den zerrissenen und chaotischen Männerfiguren. Kann man daran mit einer Anima-Konstruktion24 heran­ gehen? Und die Russen, die einander mit «Seele» (Душа)25 anreden und die so viele Ausdrücke für das Wort «schlagen» haben wie keine andere Sprache dieser Welt. Und Beckers Leben, das einen Fehler aufweist. All die Leben, die einen Fehler aufweisen. Und die Psychoanalyse und was Gott damit zu tun hat. Und nun so herrlich müde und erschöpft, nur noch etwas vor mich hinträumend, nicht mehr denken. Noch ein Aufflackern vor dem Einschlafen. Und doch ist es wahr, ich weiß es ganz gewiss: Ich arbeite sehr hart. Mein näheres Umfeld würde lachen, wenn es dies hören würde. Doch in mir, in meinem Gehirn ist eine riesige Werkstätte und dort wird gearbeitet und geschmiedet und geschuftet und gelitten und geschwitzt. Aber was bei dieser Arbeit herauskommen wird, weiß ich nicht. Es ist nicht nur vage Träumerei. Es möchte etwas herauskristallisiert werden. Es ist etwas an der Arbeit, und in einem Moment wie diesem akzeptiere ich das auch, ohne mich dagegen zu sträuben. «Das Leben von mir abschütteln wie etwas Lästiges», kritzelte ich heute Vormittag auf einen Zettel. Jetzt finde ich das eine billige und ver­ antwortungslose Äußerung. Ich weiß, dass ich es doch ausleben werden muss. Und die Werkstatt in mir darf nicht geschlossen werden, die muss ich nun einmal zur Verfügung stellen. Ich werfe mich heute Nacht mit mehr Wonne in Morpheus’ Arme als in diejenigen von Han. Sonntagmorgen [23. November 1941], 10 Uhr. Interessant, dieser Zusammenhang zwischen bestimmten Stimmungen und deiner Menstruation. Gestern Abend in einer auffällig «gesteigerten» Stimmung. Und heute Nacht auf einmal, als ob meine ganze Blutzirkula­ tion anders würde. Ein ganz anderes Lebensgefühl in dir. Du weißt nicht, was los ist, und plötzlich erkennst du: die bevorstehende Menstruation. Ich habe manchmal gedacht: Ich will sowieso keine Kinder, warum muss dieses sinnlose monatliche Schauspiel dann weiterhin stattfinden, das so viele Unannehmlichkeiten mit sich bringt? Und ich dachte in einem un­ überlegten und bequemen Moment schon darüber nach, ob diese Gebär­ mutter nicht wegkönnte. Aber du musst dich nun einmal so akzeptieren,

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wie du geschaffen bist, und du kannst nicht sagen, dass es einfach nur lästig ist. Diese Wechselwirkung zwischen dem Körper und der Seele ist sehr mysteriös. Diese sehr merkwürdige und verträumte und doch auch wieder erhellende Stimmung von gestern Abend und heute Morgen rührte von jener Veränderung in meinem Körper her. Auf diesen soeben aufgetauchten «Essenskomplex» reagierte ich heute Nacht mit einem Traum. Er war ein sehr deutliches Fragment, zumindest dachte ich das, aber wenn ich es aufschreiben will, entzieht es sich mir. Mehrere Menschen um einen Tisch herum, darunter ich, und S. am Tisch­ ende. Er sagte dann etwas in der Art von: «Warum stattest du anderen nie Besuch ab?» Ich: «Ja, es ist so schwierig mit dem Essen.» Und dann sah er mich auf einmal mit seinem berühmten Blick an, mit einem Ausdruck, für den ich ein ganzes Leben benötigen werde, um ihn zu beschreiben, ein Ausdruck, den er hat, wenn er verärgert ist, und der meines Erachtens seinem Gesicht den stärksten Ausdruck verleiht, den es haben kann. Ich las aus seinem Gesicht etwas wie: So bist du also, ist dieses Essen so wich­ tig für dich. Und ich hatte plötzlich so ein Gefühl von: Jetzt hat er mich durchschaut, jetzt weiß er ganz genau, wie materialistisch ich bin. Ich habe diesen Traum nicht gut wiedergegeben, er ist nicht zu fassen. Doch war bei mir plötzlich die Empfindung sehr stark: Jetzt hat er mich durch­ schaut, jetzt sieht er also, wie ich eigentlich bin. Und das Erschrecken ­darüber. Von der «verklärten» Weite von heute Nacht hallt nun noch etwas nach. Ruhe und wieder Raum für alles. Ein wenig Verliebtheit und noch mehr Zuneigung für Han. Und keine Abneigung mehr gegen S. Auch nicht ge­ gen die Arbeit. Ich werde trotzdem meinen eigenen Weg gehen. So ein kleiner Umweg ist nicht schlimm. Warum sich beeilen? «Ihr Leben reifte allmählich zur Erfüllung.»26 So ein Gefühl manchmal. Wenn es nur wahr wäre. Dieser ganze weite freie Tag liegt vor mir. Ich gleite ganz langsam in diesen Tag hinein, ohne Verkrampftheit, ohne Hast. Dankbarkeit, plötz­ lich sehr bewusste, starke Dankbarkeit für dieses helle geräumige Zimmer mit der breiten Couch, den Schreibtisch mit den Büchern, für den stillen alten und doch auch wieder sehr jungen Mann. Und für den Freund im Hintergrund mit dem schweren, guten Mund, der keine Geheimnisse mehr vor mir hat und der manchmal doch plötzlich wieder so geheimnis­ voll werden kann. Aber am meisten Dankbarkeit für die Klarheit und Ruhe

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und auch für das Vertrauen in mich selbst. Als ob ich in einem dichten Wald plötzlich zu einer Lichtung gelangt wäre, auf der ich mich auf mei­ nen Rücken zum Ausruhen hinlege, um in den weiten Himmel hinaufzu­ schauen. Es kann in einer Stunde bereits wieder anders sein, das weiß ich. Vor allem in diesem prekären Zustand mit diesem brodelnden Unterleib. Eine psychologische Studie über den «Dämon» von Lermontow.27 Ein wachsendes Vertrauen / Sicherheit, dass ich diese Werke eines Tages selbst­ ständig und auf eine nicht abgedroschene, neue Art und Weise angehen und erforschen kann. Das Leben gibt jedem ein anderes Rätsel auf, immer je nach Art und Be­ schaffenheit des Menschen. Ich will das Rätsel des Lebens lösen. Aber ich muss eigentlich sagen: mein Rätsel, oder besser: das Rätsel, das mir gestellt wird. Auf einmal fallen mir die beiden Werke von Ödön von Horváth28 ein. Ich glaube, das eine heißt «Menschen ohne Gott», und das zweite, das einfacher, aber doch bedeutender war, heißt, meine ich: «Es war einmal»29 oder so. Und jetzt die russische Übersetzung. abends. Du stellst zu maßlose Forderungen an dieses Leben. Ich weiß doch eigent­ lich immer noch nicht, was ich mit dir anfangen soll. In diesen Tagen aufpassen. Es kommen wieder solche Momente der großen Gereiztheit und Unerfülltheit. Sie spiegeln eigentlich das Verlan­ gen in dir: alte Dinge auf eine neue, noch nie da gewesene Art und Weise zu sagen. Allem einen ganz besonderen Glanz zu verleihen. Eine eigene neue Welt zu erschaffen. Figuren zu gestalten und zu erwecken. Und auf der anderen Seite: die Erschöpfung, wenn man dies tut, da man in gewis­ ser Hinsicht die Dinge bereits so stark durchlebt hat, dass die Vergegen­ wärtigung dieser Dinge zu einem grauen und alltäglichen Handwerk wer­ den würde. Auch Faulheit und Bequemlichkeit. Und ein Gefühl von: alles schon dagewesen. Und doch auch wieder: alles auf eine eigene Art und Weise äußern. Gestern Abend fühlte ich mich noch in dieses Leben eingebettet, wie wenn es ein vertrautes Element für mich wäre, es umspülte mich gleich­ sam mit lauwarmen Wellen, ich kuschelte mich an dieses Leben an und fühlte mich darin heimisch.

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Du sehnst dich nach einer Art unaufhörlichem Gefühl der Behaglich­ keit oder so etwas in der Art. O, dieses Bäuchlein! Sehr seltsam, ich fühle mich, wie wenn ich ganz anders zusammengesetzt wäre. Han fand das einfach nur komisch. So etwas hatte ihm noch nie eine Frau erzählt. Und alle drei Wochen eine Woche lang eine andere Zusammensetzung, das fand er doch auch bedenklich. Und nun kuschele ich mich in die Reise­ decke und weiß noch nicht, ob es van Gogh, Kinkel,30 Stekel oder Rilke sein wird, den ich mitnehme. Verwöhntes Kulturtier. Mit nackten Füßen durch die Kälte und trockenes Brot und ein Konzentrationslager. Irgend­ etwas in mir sehnt sich danach, Sehnsucht ist ein starkes Wort, aber es nagt etwas an mir, das mir ein Schuldgefühl gibt, dass ich noch nie mit der echten Härte dieses Lebens in Berührung gekommen bin. Und ich frage mich manchmal, ob ich das Recht habe zu sagen: Was finde ich dieses Leben doch furchtbar schwer. Und doch empfinde ich es so. Trotz der Couch mit der blauen Decke und des teuren Gasofens mit dem Öl­ gemälde mit dem proletarischen Mädchen darüber.31 Es gibt noch ein ­anderes Leiden als das rein körperliche, aber vielleicht darf man erst sagen: Ich habe so sehr gelitten (multatuli32), wenn man das Leben in seiner gan­ zen brutalen Härte erlebt hat. Und vielleicht ist dieser Ausdruck «brutale Härte» auch nur eine romantische Bezeichnung. Aus dem Zusammen­ treffen der Realität mit der Empfindlichkeit des Einzelnen … aber das ist wieder zu schwierig. Verrückt, nicht wahr, es ist doch manchmal so glasklar und deutlich umrissen in mir, aber auf dem Papier bin ich so tollpatschig. Auch das ist eine Art des Leidens, der Kampf darum, eine Form zu erobern in dem Chaos in dir, gegen das ich noch nicht angehen will. Obwohl auch darin die einzige wirkliche Befriedigung für mich liegen wird und nicht in ­einem Mann oder einem Kind. Das spüre ich immer stärker. Aber es ist wahrscheinlich einfach zu sagen, dass der Mann nicht das Ziel ist, wenn man mit einem Mann zusammenlebt, auch wenn er nicht das A und O in meinem Leben ist. Was ist das für ein merkwürdiges Bedürfnis im Menschen, leiden zu wol­ len? Um damit seine Existenz zu rechtfertigen. Es ist keine große Kunst, das Leben zu preisen und Gott zu preisen, wenn es einem gut geht. Doch bei mir stimmt etwas nicht. Ich will keinen Mann, ich will keine Kinder, weil ich mich niemals trauen würde, die Verantwortung für an­ dere zu übernehmen, die Verantwortung für mich selbst kostet mich be­

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reits alle Kräfte, und weil ich mich vor dem Leiden, vor der Traurigkeit und der Einsamkeit fürchte, die aus so einer kleinen Gemeinschaft von Menschen hervorgehen. Ich glaube auch, dass ich extrem egozentrisch bin und niemanden ­neben mir ertragen kann. Und auf der anderen Seite dieses große Bedürf­ nis nach Zärtlichkeit und Verständnis und Wärme und einem Menschen ganz für mich allein. Aber gleichzeitig nicht daran glauben, dass das mög­ lich ist. Und es auch zu beengend finden. Aber warum darüber Spekula­ tionen anstellen? Das findet sich alles von selbst in diesem Leben. Und doch ist es auch etwas Seltsames. Traum und Wirklichkeit. Das ewige Thema. Die Glaskugel des Traumes, die bei einem Zusammentreffen mit der Realität zerbricht. Bei aller Kraft, die ich manchmal in mir spüre, gibt es da doch auch eine enorme Zerbrechlichkeit, die sich vor der geringsten Berührung fürchtet. Ich werde mich, wenn ich jemals «schreiben» möchte, den kleinen alltäg­ lichen, konkreten Dingen zuwenden müssen, den einzelnen Gesten. Ich spreche immer über «das Leben», das «Leiden», «den» Menschen. Das starke, allumfassende Gefühl. Die kleinen Dinge, die plötzlich erhaschten Gesten, mit Liebe und Geduld wahrgenommen und untersucht und aus­ gedrückt – usw. Das meine ich mit zu maßlos. Montagmorgen [24. November 1941]. Das wäre ein Beispiel für Heldenhaftigkeit auf den nüchternen Magen: das zurückgewiesene Brot mit Käse. Aber im psychologischen Moment war dieses Brot abwesend. Schade. Diese Geste, die überlegen und voller Hei­ terkeit gewesen wäre, mit der ich gesagt hätte: Nein, danke schön, ich habe schon ein Brot gehabt und habe nun keinen Hunger mehr. Das wäre eine Ruhmestat gewesen! Vielleicht kannst du auch in diesem Bereich mit ein wenig Selbsterziehung beginnen: nicht alles im Leben haben wollen. Nicht gierig sein. Nicht Angst haben, dass dir irgendetwas entgeht. Ein Versuch, zu Harmonie zu gelangen. Einerseits: das Verlangen nach Hunger, Kälte und Einsamkeit. Wahrscheinlich aus Schuldgefühlen heraus. Andererseits: es nicht ausstehen können, wenn der Ofen nicht recht funktioniert. Du darfst auch Gott nicht als ein Mittel gebrauchen, um dich selbst zu besänftigen, um dich selbst zu beruhigen. «Ruhen in sich». Jawohl! Aber auf Disteln lässt es sich nicht gut «ruhen».

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Montagvormittag, halb 12. Und nun denke ich nicht einmal daran! Das ist ständige Selbstvergewalti­ gung. Ich betreibe keine Chirologie mehr, und damit basta. Ich kann so etwas nicht. Dass ich etwas von der Technik verstehe, ist deshalb sinnvoll, weil ich dann seinen Ausführungen etwas besser folgen kann. Gerade diese kindliche niederländisch-indische Hausangestellte aus Berlin33 angerufen, dass ich keine Zeit mehr habe. Irrsinnig tapfer von mir! Ein Mensch kann sich doch nicht zu sehr vom Kurs abbringen lassen. Auch nicht, um 15 Gulden dazuzuverdienen. Am besten beschränke ich mich doch auf einen einzigen Bereich. Ich möchte gern seine Sekretärin sein und die psychologische Richtung interessiert mich. Aber ansonsten ist es aus. Und nun: Karl Nötzel: Das heutige Rußland.34 Genauso gut, weil ich auf einmal wusste: Geschäftskorrespondenz ist auch nicht mein Ding. Chirologie ist auch nicht mein Ding. Psychologie schon, aber dann rein theoretisch und als Instrument, um mich besser der Literatur nähern zu können. Schade, diese Frau hatte auf einmal so ein betrübtes Stimm­ chen am Telefon. Na ja. Wenn es nicht anders geht, will ich später doch meinen Lebensunterhalt als Tellerwäscherin verdienen, oder sagen wir mit Dingen, hinter denen meine Person nicht stehen können muss, und dann behalte ich einfach ein Studienfach für mich selbst bei. Das ist wirklich eine Erleichterung und es ist keine Faulheit. Aber es wurde mir zu blöd. Gespannt, wie ich dies S. mitteilen werde.35 nachmittags halb 6. Weißt du, Gott: Ich werde mein Bestes geben. Ich werde mich diesem Leben nicht entziehen. Ich werde mich weiterhin beteiligen und ver­ suchen, alle Begabungen, die ich habe, wenn ich sie habe, zu entfalten. Ich werde nicht Sabotage treiben. Aber gib mir ab und zu ein Zeichen. Und lass ein wenig Musik aus mir herausströmen, lass das, was in mir steckt, eine Form finden, es verlangt so sehr danach. Plötzlich in einer sehr merkwürdigen Stimmung. Dienstagmorgen [25. November 1941], halb 10. Es geschieht etwas mit mir, und ich weiß nicht, ob das einfach so eine ­vorübergehende Stimmung ist oder etwas Grundlegenderes. Es ist, als wäre ich mit einem Ruck auf meine eigene Basis zurückgekehrt. Ein kleines bisschen selbstständiger und unabhängiger.

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Gestern Abend auf dem Fahrrad durch die kalte dunkle Lairessestraat, ich wünschte, ich könnte das wiederholen, was ich dann laut murmelte: Gott, nimm mich an deine Hand, ich werde brav mitgehen, ohne großen Widerspruch. Ich werde mich nichts von alledem, was in diesem Leben auf mich zustürmt, entziehen, ich werde es nach besten Kräften verarbei­ ten. Aber gib mir ab und zu einen kurzen Augenblick der Ruhe. Ich werde in meiner Naivität auch nicht mehr denken, dass diese Ruhe, wenn ich sie habe, ewig sein wird, ich werde auch die Unruhe und die Auseinanderset­ zung, die dann wieder kommen werden, akzeptieren. Ich bin gerne in der Wärme und in Sicherheit, aber werde auch nicht aufständisch werden, wenn ich in die Kälte gehen muss, vorausgesetzt, ich kann dies an deiner Hand tun. Ich werde an deiner Hand überallhin mitgehen und ich werde versuchen, keine Angst zu haben. Ich werde versuchen, etwas von der Liebe, von der echten Menschenliebe, die in mir steckt, auszustrahlen, wo immer ich auch bin. Aber auch mit diesem Wort «Menschenliebe» musst du nicht prahlen. Du weißt nicht, ob du sie tatsächlich besitzt. Ich möchte nichts Besonderes sein, ich will nur versuchen, diejenige zu sein, die in mir noch nach voller Entfaltung sucht. Ich denke gelegentlich, dass ich mich nach der Abgeschiedenheit eines Klosters sehne. Aber ich werde doch un­ ter den Menschen und in dieser Welt danach suchen müssen. Und das werde ich auch tun, trotz des Widerwillens und der Müdigkeit manchmal. Aber ich verspreche, dass ich dieses Leben ausleben und weitermachen werde. Manchmal denke ich, dass mein Leben gerade erst beginnt. Dass die Schwierigkeiten noch kommen müssen, auch wenn ich manchmal glaube, dass ich mich schon durch eine ganze Menge durchgekämpft habe. Ich werde studieren und versuchen, alles zu ergründen, aber ich denke, dass ich es tun muss, ich werde mich verwirren lassen von allem, was auf mich zukommt und was mich scheinbar von meinem Weg zu meiner eigenen kleinen Wahrheit abbringt, aber ich werde mich immer wieder verwirren lassen, um vielleicht zu immer größerer Sicherheit zu gelangen. Bis ich mich nicht mehr verwirren lassen kann und ein sehr großes Gleichgewicht entstanden ist, in dem jedoch immer noch alle Er­ schütterungen möglich sein werden. Ich weiß nicht, ob ich eine gute Freundin für andere sein kann. Und wenn ich das aufgrund meiner Art nicht sein kann, muss ich dieser Tat­ sache auch ins Auge blicken. Du darfst dir auf alle Fälle niemals etwas vormachen. Und du musst in der Lage sein, Maß zu halten. Und du kannst nur dir selbst ein Maßstab sein.

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Es ist, als ob ich jeden Tag aufs Neue in einen großen Schmelztiegel geworfen werde, und ich kann doch immer wieder hinausklettern. Es gibt manchmal Momente, in denen ich denke: Mein Leben ist völ­ lig falsch, es steckt ein Fehler drin, aber das ist nur so, wenn man sich eine bestimmte Art von Leben vorstellt und das Leben, das man wirklich führt, damit vergleicht, dann scheint es manchmal falsch zu sein. Es ist, als ob ich auf einmal anders zu S. stehen würde. Wie wenn ich mich mit einem Ruck von ihm losgerissen hätte, auch wenn ich mir doch einge­ bildet habe, dass ich mich bereits von ihm gelöst habe. Wie wenn auf einmal in mein Innerstes durchgedrungen wäre, dass mein Leben gänzlich losgelöst von seinem sein wird. Ich erinnere mich noch, als vor einigen Wochen die Rede davon war, dass alle Juden in ein Konzentrationslager in Polen gehen müssten,36 und er damals sagte: «Dann werden wir heiraten, dann können wir zusammenbleiben und wenigstens noch etwas Gutes tun.»

Und obwohl ich genau begriff, wie diese Worte zu verstehen waren, erfüll­ ten sie mich doch noch einige Tage mit einer Freude und einer Wärme und einem Gefühl der Verbundenheit mit ihm. Aber dieses Gefühl ist jetzt weg. Ich weiß nicht, was das ist, so ein Gefühl, als ob ich mich auf einmal gänzlich von ihm losgerissen hätte und meinen eigenen Weg weitergehe. Wahrscheinlich hatte ich doch noch vielerlei Kräfte auf ihn verwendet. Gestern Abend auf diesem kalten Fahrrad überblickte ich auf einmal in einer plötzlichen Rückschau, mit welcher enormen Intensität, mit wel­ chem Einsatz meiner ganzen Person ich diesen Mann und seine Arbeit und sein Leben in einem halben Jahr in mir aufgenommen und verarbei­ tet habe. Und nun ist das geschehen: Er ist zu einem Bestandteil von mir geworden. Und mit diesem neuen Bestandteil in mir gehe ich wieder wei­ ter, aber allein. Äußerlich ändert sich natürlich nichts. Ich bleibe seine Sekretärin und bleibe an seiner Arbeit interessiert, aber innerlich bin ich doch freier. Oder ist dies alles nur eine momentane Stimmung? Es rührte  – glaube ich  – daher, dass ich diese für mich sehr selbstständige Tat vollbrachte, ohne sein Wissen und auf eigene Faust das Telefon zu nehmen, dieser Frau telefonisch abzusagen und zu sagen: «Ich werde es nicht tun, das ist nichts für mich.» Wenn plötzlich in dir etwas drinsteckt, das stärker als du selbst ist und das dich «Handlungen» (ach Gott!) verrichten und Maßnahmen treffen lässt, die du tun musst, zu denen du dich berufen fühlst, dann

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fühlst du dich auf einmal auch stärker. Und auch, wenn du plötzlich mit großer Sicherheit sagen kannst: Das ist nichts für mich. Das Verhältnis der Literatur zum Leben.37 In diesem Bereich meinen eige­ nen Weg finden. Reaktion von S. am Telefon:

«Sie, heimtückisches Luder»,

usw.

Wir müssen über «die Angelegenheit» sprechen. Ich hoffe, dass ich mit meinen Worten genauso mutig bin wie in «Gedanken». Es wird nicht allzu einfach sein. Ich muss wieder einen Teil von mir selbst von ihm zu­ rückerobern. Einen beträchtlichen Teil sogar. Mittwochabend [26. November 1941]. Und so machst du dann weiter. Eine Liebesnacht, eine gute Atmosphäre und eine schlechte Atmosphäre und viel Traurigkeit und auch ein wenig Mut und Unlustgefühle in dir selbst, wobei die Gefahr so groß ist, dass du diese auf Menschen überträgst, die dir sonst lieb sind, und dadurch dann wieder dieses Gefühl, kein Vertrauen in dich selbst haben zu können, kei­ nen Halt in deinen eigenen Gefühlen zu finden. Und ich werde später dennoch prima darüber schreiben, was jetzt in mir verworren heranreift. Es wird vielleicht doch ein Fluss werden, der sich seinen Weg bahnt und der zu lange an seinem Lauf gehindert wurde. Freitagmorgen [28. November 1941], Viertel vor 9. Ich hatte gestern Abend das Gefühl, ich müsste ihn um Verzeihung bitten für all die scheußlichen und rebellischen Gedanken, die ich in den letzten Tagen gegen ihn gehegt habe. Ich weiß allmählich, dass, wenn es Tage gibt, an denen man seine Nächsten verabscheut, dies auf Abscheu vor sich selbst zurückzuführen ist. «Liebe deine Nächsten wie dich selber.»38 Ich weiß auch, dass es immer an mir liegt und niemals an ihm. Wir haben nun einmal beide einen sehr unterschiedlichen Lebensrhythmus und man muss sich gegenseitig die Freiheit lassen, so zu sein, wie man ist. Wenn man einen anderen nach seiner Vorstellung formen will, läuft man immer wieder gegen eine Mauer und wird immer wieder enttäuscht, nicht vom anderen, sondern von den Erwartungen, die man an den anderen heran­

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trägt. Das ist dumm und eigentlich sehr undemokratisch, aber es ist menschlich. Vielleicht führt der Weg zur wahren Freiheit über die Psycho­ logie, man kann sich nie genug darauf besinnen, dass man sich innerlich von dem anderen frei machen muss, aber auch dem anderen Freiheit ge­ währt, indem man sich nicht bestimmte Vorstellungen von ihm in der Fantasie macht. Es bleiben noch genügend große Bereiche für die Fantasie übrig, auch wenn man ihr in Bezug auf die Personen, die man liebt, nicht freien Lauf lässt. Gestern Nachmittag radelte ich zu ihm mit einem Gefühl von: Ich habe keine Lust, ich sage kein Wort zu viel, ich fühle mich wie gelähmt. Plötzlich überkam mich an der Ecke Apollolaan und Michelangelo­ straat39 das dringende Bedürfnis, etwas auf meinen Notizblock zu schrei­ ben. Und da stand ich in der Kälte und schrieb. Darüber, dass in der ­Literatur so viele Leichen vorkommen und wie seltsam das ist. So viele leichtsinnige Tote übrigens. Na ja, es war nur Unsinn, wie so oft, wenn man denkt, dass weiß Gott was für großartige Gedanken im Gehirn ent­ standen sind, und dann ein wenig unzusammenhängendes Gestammel auf ein paar blauen Linien entsteht, an der Ecke zweier Straßen in der Kälte. Ich trat bei S. ein, in das kleine vertraute Zimmer, für das er bei­ nahe zu riesig ist. Gera war dort, wir tuschelten so ein bisschen an sei­ nem schwerhörigen Ohr vorbei und es kam wieder dieses Gefühl der Behaglichkeit in mir auf. Ich begann dann damit, obwohl ich mich ja «wie gelähmt» fühlte, meine J­acke, meinen Hut, die Handschuhe, die Tasche, den Notizblock, alles kreuz und quer durch das Zimmer zu wer­ fen, zum entsetzten Vergnügen von S. und Gera, die fragten, was jetzt schon wieder los sei. Woraufhin ich sagte: «Ich habe keine Lust, ich sabo­ tiere», und es ist ein Wunder, dass die Blumentöpfe nicht in Scherben vom Fensterbrett geflogen sind. Mein Ausbruch tat Gera sichtlich gut. Weil ich auf eine Art und Weise explodierte, wie sie sie vielleicht öfters ersehnte, es sich ihm gegenüber aber nicht traute. «Gut so», sagte sie, und in meiner aufständischen Raserei brachte ich vielleicht auch für sie ein Aufbegehren zum Ausdruck, das sie vermutlich auch manchmal gegen ihn spürt, wie man es wahrscheinlich immer von Zeit zu Zeit gegen viel stärkere Persönlichkeiten spürt. Ein Mensch sollte niemals vorausdenken, nicht einmal 5 Minuten vor­ aus: Und jetzt werde ich gleich so und so sein und das und das sagen. Ich hatte mir alles Mögliche vorgenommen, was ich ihm sagen würde. «Grundsätzliche Dinge.» Und abrechnen mit der Chirologie. Usw. Sehr

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heftig und so gewichtig. Und direkt bevor ich zu ihm ging, war meine Stimmung so, dass ich überhaupt nichts sagen wollte. Und sobald Gera weg war, geriet ich auf einmal in ein kurzes Blitz­ gefecht mit ihm, schmiss ihn nach einem kurzen Kampf auf die Couch, ermordete ihn dort beinahe, und dann mussten wir eigentlich hart arbei­ ten. Aber stattdessen saß er plötzlich in dem großen, von Adri so schön überzogenen Lehnstuhl in der Ecke, und ich lag wieder auf die gewohnte Art und Weise um seine Füße geschlungen und wir waren plötzlich in eine leidenschaftliche Diskussion über die Judenfrage verwickelt. Und bei sei­ nen wortreichen Ausführungen war es mir wieder einmal, als ob ich aus einer kraftspendenden Quelle trinken würde. Und ich sah auf einmal ­wieder deutlich sein Leben, wie es sich von Tag zu Tag fruchtbar weiter­ entwickelt, vor mir ablaufen, jetzt aber nicht durch meine eigene Gereizt­ heit entstellt. Es passiert mir in letzter Zeit ab und zu, dass ein einzelner Satz aus der Bibel vor mir in einer deutlichen, neuen, inhaltsreichen und auf Erfah­ rung beruhenden Bedeutung aufleuchtet. Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild40 – Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Usw. Das Verhältnis zu meinem Vater werde ich nun endlich auch einmal mit Kraft und Liebe in Angriff nehmen müssen. Mischa kündigte mir Vaters Ankunft für Samstagabend an. Erste ­Reaktion: fürchterlich. In meiner Freiheit bedroht. Lästig. Was soll ich mit ihm anfangen? Anstelle von: Wie schön, dass dieser gute Mann ein paar Tage weg von seiner gereizten Ehefrau und seinem langweiligen Pro­ vinzstädtchen ist. Wie kann ich versuchen, es ihm, mit meinen geringen Kräften und Mitteln, möglichst angenehm zu machen? Ich Strolch und Widerling und träges Biest. So, das hat gesessen. Immer zuerst an dich selbst denken. An deine kostbare Zeit. Die du doch nur brauchst, um noch etwas mehr Bücherweisheit in deinen schon so verwirrten Kopf ein­ zupauken. «Und was nützt mir alles, wenn ich die Liebe nicht habe?»41 Ein Schatz an Theorien, um dir selbst ein wohliges und edles Gefühl zu geben, aber vor der kleinsten Liebestat in der Praxis scheust du dich dann. Nein, das ist keine kleine Liebestat. Es ist etwas sehr Grundsätzliches und Wich­ tiges und Schwieriges. Innerlich seine Eltern zu lieben. Das heißt, all die Schwierigkeiten, die sie dir – allein schon durch ihre Existenz – bereitet haben, zu verzeihen: die Bindung, die Abneigung, die Belastung deines

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eigenen, bereits schon so schweren Lebens durch ihr eigenes kompliziertes Leben. Ich glaube, dass ich gerade die schwachsinnigsten Dinge auf­ schreibe. Na ja, das ist nicht schlimm. Und nun muss ich mal das Bett von Pa Han beziehen und den Unterricht für die Schülerin Levie vorbereiten usw. Aber dies steht auf jeden Fall auf dem Programm für dieses Wochen­ ende: meinen Vater wirklich innerlich zu lieben und ihm zu vergeben, dass er kommt und mich aus meiner trägen Ruhe aufscheucht. Ich liebe ihn letzten Endes sehr, aber dies ist eine – oder besser gesagt war eine – kom­ plizierte Liebe: übertrieben, verkrampft und dermaßen mit Mitleid ver­ mischt, dass es mir beinahe das Herz gebrochen hat. Aber ein Mitleid, das masochistisch wurde. Eine Liebe, die zu exzessivem Mitleid und Verdruss führte, aber nicht zu einer einfachen Liebestat. Zwar schon zu viel Herz­ lichkeit und dazu, dass ich mich ins Zeug legte, aber so heftig, dass mich jeder Tag, an dem er hier war, ein Röhrchen Aspirintabletten kostete. Aber das ist alles schon lange her. In letzter Zeit war es schon viel normaler. Aber doch noch immer ein Gefühl des Gehetztseins. Und damit hing ­sicherlich auch das Gefühl zusammen, dass ich es ihm doch eigentlich übel nahm, wenn er hierherkam. Und das muss ich ihm nun innerlich vergeben. Und denken und auch wirklich meinen: Wie schön, dass er mal kurz weg ist. So, das war ein schönes Morgengebet. Samstagmorgen [29. November 1941]. Gestern Abend: Diskussion zwischen S. und Dr. L. Ergebnis: S. ging mit «Kastein» unter dem Arm nach Hause, L. wird sich in das Neue Testament vertiefen und am Ende waren mehr Kekse in der Schale als zu Beginn.42 Ging das nicht so? «Was hilft mir alles Wissen, wenn ich die Liebe nicht habe?» Aber kann man überhaupt beide haben? Schließt das eine das andere denn nicht aus? Die Mühlsteine des Gehirns werden wieder lange zu mahlen haben an diesem Abend. Eigentlich bin ich noch eine ziemliche Analphabetin. Da sitze ich nun vor dem leicht flackernden Gasofen, um halb 10 Uhr morgens. Das graue Tageslicht, das durch die gardinenlosen großen Fens­

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ter hereinkommt, vermischt sich mit dem treibhauspflanzenartigen Licht, das aus dem Schirm der schmalen Stehlampe kommt. Ach, wie besonders toll und schön gesagt! Die Chrysanthemen des charmanten Ehepaars L. beginnen endlich damit, Anzeichen von Lebensmüdigkeit zu zeigen. Die Psalmen, Vincent van Gogh und Botticelli43 – und meine kalten Füße. Und «Psychoanalyse und Weltanschauung».44 Und Pa Han, der in dem kalten Wintergarten mit seiner unendlichen Geduld mit seinen Pflanzen beschäftigt ist. Ich sitze hier auf der chinesischen Binsenmatte und starre mit weit offenen, munteren Augen in den nicht sehr lebhaften Ofen. – Und jetzt zum Donnerwetter an die Arbeit. Sonntagmorgen [30. November 1941], halb 11. Den Mut zu sich selbst haben. Ein großer Ausspruch, jedes Mal wieder auf Kleinigkeiten angewandt. Das beinhaltet nun z. B., dass ich eine Stunde lang mich selbst zwingen muss, ein paar Dinge über gestern auf­ zuschreiben. Hatte ich heute Morgen im Bett auch vor. Bin eine halbe Stunde früher in den kalten Sonntagmorgen gestartet, anstatt mich wei­ ter unter den warmen Decken zu wärmen. Aber dann war ich doch nicht so diszipliniert, denn während meines Zigeunerfrühstücks kam mir ein Artikel von einem modernen jungen Autor in die Hände: zynisch, kühl, ziemlich geistreich, dennoch voller dichterischer Akzente und, wie es mir schien, hervorragend geschrieben. Und dann wollte ich auf einmal nichts mehr aufschreiben. Wenn ich etwas Gutes lese von anderen, etwas, das überzeugend klingt, das aber komplett anders ist als die Stimmung, in der ich mich selbst gerade befinde und die ich gerne beschreiben würde, dann werde ich gelähmt, was das Schreiben betrifft. Dann fühle ich mich wie eine weggeblasene Fliege, die kein Anrecht auf Existenz hat. Wohingegen in anderen Momenten Stimmungen, Gedanken und ein bestimmtes ­Lebensgefühl so stark und übermächtig in mir sein können, dass ich finde, dass alles andere kein Anrecht auf Existenz hat. Etwas von diesem Egozentrischen ist notwendig, um wirklich zum Schöpferischen zu ge­ langen, aber die Kehrseite der Medaille ist, sich gänzlich als Nichts und etwas sehr Lächerliches zu fühlen. – Und das ist dann: nicht den Mut zu sich selbst haben. In mir ist doch noch nicht genug Raum, um den vielen Gegensätzlich­ keiten in mir selbst und in diesem Leben einen Platz einzuräumen. In dem Moment, in dem ich das eine akzeptiere, werde ich dem anderen wieder untreu.

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Freitagabend Diskussion zwischen S. und L.  – Christus und die Juden. Zwei Lebensanschauungen, beide scharf umrissen, glänzend dokumen­ tiert, abgerundet, mit Leidenschaft und Aggressivität verteidigt. Doch bei mir immer wieder das Gefühl, dass in jeder bewusst verteidigten Lebens­ anschauung Betrug steckt. Dass stets mehr auf Kosten «der Wahrheit» ge­ schändet wird. Und doch muss und will ich selbst auch danach streben, nach einem Stück eigener Umzäunung; ein zuerst blutig erobertes, später leidenschaftlich verteidigtes Gebiet. Und dann doch wieder das Gefühl, dem Leben nicht gerecht zu werden. Aber Angst, sonst in der Vagheit und der Unbestimmtheit und dem Chaos zu versinken. Wie auch immer, nach dieser Diskussion ging ich mit einem be­ schwingten, sehr angeregten Gefühl nach Hause. Aber immer wieder bei mir eine Reaktion in der Art von: Ist es nicht eigentlich alles Unsinn? Warum machen sich die Menschen immer so lächerlich viele Gedanken? Machen sie sich nicht etwas vor? Das bleibt doch immer im Hintergrund. Dann kam mein Vater. Mit so viel Liebe, einstudierter Liebe, erwartet. Am Tag zuvor, nach diesem energischen Morgengebet, habe ich mich be­ freit und glücklich und leicht gefühlt. Aber als er dann auf mich zukam, mein kleiner Papa, mit seinem vertauschten Regenschirm und seiner neuen karierten Krawatte und vielen Butterbrotpäckchen, scheinbar hilf­ los, da tauchte wieder diese Befangenheit auf, das Schwinden der Kräfte, ich fühlte mich befangen und todunglücklich. Noch unter dem Einfluss der Diskussion des Vorabends, stand ich ihm ablehnend gegenüber. Und die Liebe half nicht. Die war übrigens weg. Vollkommen gelähmt, sehr seltsam. Wieder Chaos und Verwirrung in mir. Und ein paar Stunden der Krise und des «Rückfalls» wie in den schlimmsten Zeiten. Ich konnte daran ermessen, wie schlimm manche Zeiten früher gewesen sind. Mittags in mein Bett gekrochen. Ich empfand das Leben aller Menschen wieder als eine große Leidensgeschichte usw. Ein zu weites Feld, um darüber zu ­schreiben. Da ist mir ein Zusammenhang klar geworden. Mein Vater, der im ­höheren Alter all seine Unsicherheiten, Zweifel, wahrscheinlich auch e­ inen ausgeprägten körperlichen Minderwertigkeitskomplex, Schwierig­ keiten in seiner Ehe, die er nicht lösen konnte, usw. usw. mit einem philo­ sophischen Verhalten überspielt hat, das völlig echt, liebenswürdig und voller Humor und sehr scharfsinnig ist, aber bei allem Scharfsinn doch sehr vage. Mit seiner Philosophie, die alles beschönigt, die nur das Anek­

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dotische sieht, ohne tiefer auf die Dinge einzugehen, obwohl er weiß, dass Tiefen existieren, vielleicht gerade, weil er das weiß, weiß, wie unermess­ lich tief die Dinge liegen, hat er es darum schon vorher aufgegeben, Klar­ heit zu erlangen. Unter der Oberfläche seiner resignierten Lebensphilo­ sophie, die besagt: «Ach ja, und wer kann das wissen?», klafft doch das Chaos. Und es ist dasselbe Chaos, das auch mich bedroht, aus dem ich herausfinden muss. Ich muss meine Lebensaufgabe darin sehen, aus dem Chaos herauszukommen, und falle doch immer wieder ins Chaos zurück. Und überhaupt die kleinste Äußerung meines Vaters, die Äußerungen der Resignation, des Humors, des Zweifels appellieren an etwas in mir, das ich mit ihm gemein habe, aber aus dem heraus ich mich weiterentwickeln muss. Also diese scharf umrissene Diskussion gestern Abend; hinter all meinen Reaktionen steht natürlich immer dies: «Ist es nicht alles Unsinn?» Und dieser kaum hörbare Klang im Hintergrund wurde plötzlich durch den Einbruch meines Vaters in meine Welt verstärkt. Und daher natürlich auch wieder dieser Widerstand gegen Vater, dieses Gelähmt- und Kraftlos­ werden. Es hat also eigentlich nichts mit meinem Vater zu tun. Das heißt nicht mit seiner Person, mit seiner äußerst teuren, rührenden, liebenswür­ digen Person, sondern es ist ein Prozess in mir selbst. Das Verhältnis der Generationen. Wegen ihres Chaos, weil sie nicht gegenüber den Dingen Stellung bezogen haben, muss ich mich jetzt selbst formen, indem ich eben doch Stellung beziehe, indem ich mich mit den Dingen «auseinan­ dersetze», obwohl ich doch immer wieder überfallen werde von der Frage: «Ist das nicht alles Unsinn?» Ach ja, Kinderchen, so ist das Leben nun einmal. Usw. usw. Als mir der Zusammenhang klar wurde, kehrten meine Kräfte wieder zurück und auch die Liebe kam wieder zurück und diese paar Stunden des Grauens waren wieder überwunden. Es kam auch noch Folgendes hinzu: «O Herr, ich habe gesagt, dass ich das Leiden, das da kommt, auf mich nehmen werde.» Aber es scheint mir doch, dass ich selbst dieses Leiden aussuchen möchte, so im Sinne von: Ja, dieses Leiden akzeptiere ich zwar, aber jenes nicht. Die Schwierigkeiten und dieses wirkliche Leiden, das da manchmal aufgrund des Verhältnisses zu meinen «Vorfahren» ist, oder um es gewichtiger zu formulieren, zum Chaos meiner «Erbmasse», gehören da sicherlich auch dazu? Und das ist etwas, das ich nicht akzeptiere, ich lehne mich dagegen auf. Es waren wie­ der ein paar Stunden, in denen ich das Leben verabscheute und keinen

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Ausweg mehr sah und mein Leben als einen Leidensweg ohne Ende vor mir sah. Aber ich werde allem, was kommt, ins Auge blicken  – usw. usw. In dem Moment, in dem mir so etwas durch den Kopf geht, erscheint es eindrücklich und gewaltig und ich finde dichterische Worte, von denen ich spüre, dass sie gut sind, aber in dem Moment, in dem ich sie nieder­ schreiben will, sind sie verschwunden. Es ist noch nicht vorbei. Meinen Vater also wieder in Liebe und Gnade akzeptiert. Dadurch Rückkehr der Kräfte. Wieder offen sein für alles und sich wieder mit Leben füllen. Abends Mischa. Ich habe dem zuerst mit Schrecken entgegengesehen. Weiß gewissermaßen zu viel, was dahinter­ steckt, hinter dieser Maske,45 wenn er am Klavier sitzt, und kann dann seine Musik nicht mehr genießen. War jetzt anders. Wirklich tief berührt von seinem Spiel und habe mich auch gefragt, ob ich wirklich eine rich­ tige Vorstellung von seiner Persönlichkeit habe, ob ich ihn auch nicht zu einseitig aus dem Blickwinkel eines verkrampften Familienkomplexes sehe und ihm dadurch Unrecht mit meiner Beurteilung tue. Ich werde nun wieder über die Liebe schreiben müssen, eine wirklich höhere Art der Liebe, die dann in mir ist, auch im Streben danach, meinen Mitmenschen gegenüber so gerecht wie möglich zu sein, wenn ich sie beurteile, aber es wird langweilig, dieses Wort «Liebe». Finde ich dann plötzlich. Aber auch das ist wieder: nicht den Mut zu sich selbst haben. Zu den tieferen Ur­ gefühlen in sich selbst. Es sentimental finden. Fürchten, dass andere es sentimental finden. Und es ist nicht sentimental, es sind die 2 großen Grundgefühle in mir: Liebe, eine unerklärliche, vielleicht nicht näher ana­ lysierbare (weil es ein Urgefühl ist) Liebe für die Lebewesen und zu Gott, was ich dann Gott nenne, und Mitgefühl, ein grenzenloses Mitgefühl, aufgrund dessen ich manchmal plötzlich in Tränen ausbreche. Jawohl, Liebe und Mitgefühl. Geh sehr sparsam mit diesen Begriffen um. Zumindest in der Theorie und im Sprachgebrauch. Leben darfst du so, wie du das möchtest. Dahingegen: Spott, scharfer Verstand, analy­ tischer Geist, Zynismus, Zweifel, Unsicherheit. Am Ende des Konzerts, als Mischa fertig war mit seinem Spiel auf dem rot lackierten Flügel, saßen wir noch eine Weile in einer Ecke, Jan Polak46 mit seiner straßenköterblonden Germanin, Vater und ich. Und da war Vater in Höchstform. Humor und Ironie, gepaart mit Gutmütigkeit. Jede

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Bemerkung saß. Nicht schwerfällig. Anekdotisch. Feinfühlig, diszipliniert. Und vor allem aber: nicht schwerfällig. Und dann auf einmal wieder die innere Ablehnung von S. und seinem Kreis. Sie scheinen viel zu gewichtig und nachdrücklich mit ihrer «Liebe» und Gott usw. usw. Es handelt sich sicherlich um Ambivalenz. Himmel noch mal, warum ist nicht Platz für alles in mir? Es ist doch auch all dies in mir: der schwere Ernst des Lebens und der «Witz» und die kreative Erfindungsgabe. Das wirklich tiefgründige Gefühl in dir wird doch kein falsches Gefühl sein? Und das Schwere und das Leichte, es muss doch alles akzeptiert werden, und zwar als verschiedene Seiten meines Lebens. Und weshalb einen Teil von dir verleugnen, sobald ein anderer Teil von dir stärker zur Geltung kommt? Das ist doch: nicht den Mut zu sich selbst haben. Ich befinde mich wahrscheinlich am Rande einer gewissen inneren Zerrissenheit, kann man das auch Ambivalenz nennen? Aber das wird auch meine Aufgabe sein – na ja, jetzt aber genug davon. «Ach Gott!», diese Devise meines Vaters ist eigentlich der Dämpfer meiner ganzen Jugend gewesen, aber natürlich nur deshalb, weil in mir auch ein Stück weit «Ach Gott»-Lebensanschauung steckt, die doch wirklich über­ wunden werden muss. Montagnachmittag [1. Dezember 1941]. Allmählich in einer angenehmen Schläfrigkeit wegen dieser 12 Aspirin­ tabletten. Wenn ich etwas tue, dann mache ich es auch richtig. Also doch Aspirin. Aber nicht nur wegen meiner Vorfahren. Ich bin doch eigentlich schwer beschäftigt gewesen in diesen paar Tagen. Gestern Nachmittag S. Das Gefühl, als ob wir uns näherstehen als je zuvor. – «Sagen Sie mal etwas Nettes.» Usw. Diskutiert und geliebt. «Ich 47 habe Sie in meinem Tagebuch um Verzeihung gebeten.»  – «Aber wissen Sie denn immer noch nicht, daß wenn Sie diese Opposition fühlen, diese nicht mir gilt.» – «Ja, ich weiß.» Ein Mensch, der sich selbst als eigenständige Persön­

lichkeit empfindet, wird niemals gerne zugeben, dass ein anderer großen Einfluss auf seine Entwicklung gehabt hat. Er prägt und formt mich. So schlecht ausgedrückt. Aber weil ich immer wieder in sehr engen Kontakt mit ihm trete, geschieht etwas mit mir. Ich gewinne an Tiefe und Reich­ tum. Er ist immer da, er ist der Fels, der nicht von der Stelle weicht, und meine Stimmungen umspülen ihn. Ich lächerlicher Idiot, ich wollte über­ haupt nicht über dich schreiben. Gestern Abend warst du einzigartig. Du warst jungenhaft und auf eine gewisse Art ausgelassen, was mich aber

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nicht störte. Mich störte es vielleicht deshalb nicht, weil ich erkannte, dass ich teils zu dieser ausgelassenen Fröhlichkeit beigetragen hatte: Ich sah das Liebesspiel dieses Mittags durchschimmern. Jesssesss, warum kann ich nicht schreiben? Doch, später, «wenn ich groß» bin, werde ich schon schreiben können. O ja, diesen Traum von heute Nacht wollte ich aufschreiben. Jaap saß bei S. wegen seiner Hände. S. betrachtete zuerst die Rückseite der Hand und Jaap lachte ihm frech ins Gesicht bei allem, was er sagte, mit einer Menge blitzender Zähne und einem eisigen Gesicht. Er lachte diabolisch. Und dann betrachtete S. seine Handinnenfläche, fummelte ein wenig darin herum und rief plötzlich in allen Tonarten der Entzückung: «Aber Sie haben ja eine Menschheitsliebelinie», und da, wo er auf diese Linie zeigte, war eine tiefe Furche in der Hand. Es war auf einmal, so fühlte ich es, wie wenn diese Furche in meiner Hand wäre. Ich saß daneben und sagte: «Ja, er hàt auch Menschenliebe.» Worauf S. noch etwas sagte in der Art von: «Ja, ich wusste schon, dass es mit dieser Hand noch etwas Außer­ gewöhnliches auf sich hat.» Oder so etwas in der Art. Und dann: «Wenn du nur nicht die ganze Aufmerksamkeit der Außenwelt, den vielen Men­ schen widmen würdest, sondern mehr dem Innern.» Menschheitsliebelinie.

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In jeden -ismus schleicht sich zwangsläufig ein Element des Betrugs, denn: Nichts ist wahr, und nicht einmal das.49 Das war kürzlich eine falsche Aussage: «Ich bin eine Analphabetin.»50 Das kommt daher, dass ich noch immer zu viel Respekt vor der angeeigne­ ten Bücherweisheit habe. Ich lasse heute die Zügel mal ein bisschen schleifen. O dieser Bauch, und diese 12 Aspirintabletten, und doch hat mich das mit meinem Vater überhaupt nicht gestört, aber ich beginne langsam, die hintergründige Wechselwirkung zwischen ihm und mir, deren er sich wahrscheinlich überhaupt nicht bewusst ist, zu erkennen. Und diese Bewusstwerdung des eigenen Selbst ist harte Arbeit. Ein großer Teil dieser Aspirintabletten ist doch sicherlich diesem barbarischen Tief vom Samstagnachmittag ge­ schuldet, aus dem ich mich energisch herausgearbeitet habe. Ich habe mich danach, bis zum jetzigen Moment, geistig herrlich frisch und befreit und fit gefühlt und körperlich miserabel, aber Letzteres ist eigentlich nie schlimm. Der Geist ist doch das Wichtigste.

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Als ich gestern Nachmittag Abschied nahm, sagte er aus Versehen: «Gute Nacht.» Er grinste auf einmal vor Vergnügen, sagte etwas von Freud und «das entspricht mal der Situation» usw. Warum schreibe ich so etwas Lang­ weiliges und an sich relativ Geschmackloses eigentlich auf? Nur um etwas davon aufzuschreiben, um später einen kleinen Anhaltspunkt zu haben, an­ hand dessen ich einen solchen Nachmittag wiederaufleben lassen kann. Dienstagmorgen [2. Dezember 1941], halb 10, im Badezimmer. Kälte, Bauchschmerzen, noch kein bewohnbarer Fleck im Haus. In Augenblicken, in denen mich Unlustgefühle stark bedrohen, stelle ich mir gegenwärtig regelmäßig die Frage: Meinst du das jetzt wirklich, dass du Ernst machen willst mit diesem Leben? Es ist schon inspirierend, in guten Momenten zu sagen: «Ich vertraue auf Gott, ich will etwas aus meinem Leben machen, ich akzeptiere alles Leiden, das auf mich zu­ kommt.» Aber ist es auch ernst gemeint, wenn man sich in jedem Tief wieder gehen lässt? Aber ich lasse mich in letzter Zeit nicht mehr gehen. Ich übe mich darin, beständiger zu leben, den Abstand zwischen Hochs und Tiefs nicht mehr allzu groß sein zu lassen. Alle Kräfte mobilisieren und sie auch mo­ bilisiert halten. Und doch auch träumen. Das muss doch beides möglich sein. Früher habe ich viele Tage verschwendet, aus reinen Unlustgefühlen heraus. Habe mich auch selbst verwöhnt. Habe mich mit Büchern auf der Couch und viel Schlafen und Träumen verhätschelt. Bis dann wieder ein Moment voller Energie kam, in dem ich mir vorgenommen habe, alles Mögliche zu tun. Aber wenn ich diese Momente, in denen ich spüre, dass etwas in mir steckt, das energisch nach Entfaltung sucht, und in denen ich mir vor­ nehme, meine Zeit ertragreich zu verwenden, ernst nehme und nicht nur so als eine Anwandlung betrachte, dann muss ich auch, wenn ich weniger inspiriert und deprimierter bin, weiterleben und arbeiten, auch wenn es mir in so einem Moment sinnlos erscheint. Sonst stehen die beschwingten Momente auf Dauer zu oft allein da. So ein einzelner beschwingter Mo­ ment muss in der Lage sein, für lange Zeit weiterzustrahlen und Kraft zu spenden. Du forderst immer noch zu sehr, auf Höhepunkten zu leben, und du hast das Gefühl, zu kurz zu kommen, wenn das Leben manchmal grau und banal oder einfach nur lästig erscheint. Wenn ich mich früher so schlapp und down fühlte wegen dieser monatlichen Bauchschmerzen, glaubte ich damit einen Freibrief erhalten zu haben, nichts mehr machen

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zu müssen, ließ mich dann so ein bisschen gehen und wartete, bis ich von selbst wieder Lust hatte zu beginnen. Verstehe mich bitte recht, du musst nicht immer gleich straff leben, das wäre sogar gänzlich falsch für dich, aber du darfst dir selbst ruhig ab und zu einen Stoß versetzen und bewusst auf einem bestimmten Weg weitergehen und dich nicht immer wieder unter­ kriegen lassen. Aber das klappt eigentlich schon ganz gut in letzter Zeit. Mittwochmorgen [3. Dezember 1941], 8 Uhr, im Badezimmer. Mitten in der Nacht wach. Ich erinnerte mich plötzlich, dass ich geträumt hatte, Vieles und Bedeutungsvolles. Mich einige Minuten intensiv anstren­ gen, um mir diesen Traum zu vergegenwärtigen. Gierig. Hatte das Gefühl, dass dieser Traum auch ein Teil meiner Persönlichkeit war, der zu mir ge­ hörte, auf den ich ein Recht hatte, den ich mir nicht entgehen lassen wollte, den ich kennen müsste, um mich als abgeschlossene und ganze Persönlich­ keit fühlen zu können. Um 5 Uhr wieder wach. Übel und ein bisschen schwindelig. Oder bildete ich mir das nur ein? Danach 5 Minuten lang alle Ängste aller jungen Mäd­ chen in mir gespürt, die plötzlich zu ihrem großen Schrecken ein Kind erwarten, das sie sich nicht gewünscht haben. Der Mutterinstinkt fehlt mir – glaube ich – völlig. Ich erkläre mir das selbst wie folgt: Im Grunde empfinde ich das Leben doch als großen Lei­ densweg und alle Menschen nur als unglückliche Wesen, und ich kann meinerseits nicht die Verantwortung übernehmen, die Menschheit mit noch einem unglücklichen Lebewesen zu vergrößern. Später: Ich habe mir einige unvergessliche Verdienste um die Menschheit erworben: Ich habe niemals ein schlechtes Buch geschrieben und ich bin nicht dafür verantwortlich, dass ein Unglücklicher mehr auf dieser Erde herum­ läuft. Ich knie wieder auf der rauen Kokosmatte, die Hände vor meinem Gesicht, und bitte: O Herr, lass mich in einem einzigen großen und unge­ teilten Gefühl aufgehen. Lass mich die tausend kleinen alltäglichen Dinge mit Liebe verrichten, aber lass jede kleine Handlung aus einem einzigen großen, zentralen Gefühl der Bereitschaft und der Liebe hervorgehen. Denn dann tut es eigentlich nichts zur Sache, was man tut und wo man ist. Aber so weit bin ich noch lange nicht.

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Ich werde aber heute 20 Chininpillen schlucken, ich fühle mich schon ein bisschen komisch, dort südlich meines Zwerchfells. 4. Dezember [1941], Donnerstagmorgen, 9 Uhr. Eine Liebesnacht, erstickt in Chininpillen und eventuell noch in heißem Kognak. Man könnte sich zynisch darüber auslassen. Es gibt Menschen, die ihr Leben lang damit beschäftigt sind, sich Zynismen auszudenken und zu propagieren. Ich spüre noch kein Bedürfnis danach. Vielleicht auch, weil mich heute Morgen so ein liebes Gesicht aus den Kissen anschaute und sagte: «Mein Lämmchen». Und dann war doch alles wieder gut. Und jetzt ist Schluss mit diesem Theater, du Quatschkopf. Die meiste Energie und Zeit verschwendest du damit, zu grübeln und über Dinge nachzudenken, die sinnlos sind. Es gab eine Zeit, die erste Zeit der Be­ handlung bei S., in der du in keiner Minute daran dachtest, was du in der folgenden Minute tun würdest. Und dadurch erlebtest du jeden Moment des Tages so intensiv, weil du dir deine Kräfte nicht im Voraus auf die Dinge, die kommen sollten, aufgeteilt hast. Und jetzt war da in letzter Zeit wieder eine fürchterliche Desorganisation. Z. B. am Donnerstagabend, also genau heute in einer Woche, wird der blinde Imre Ungar51 am Flügel in unserem Wohnzimmer sitzen und es werden 20 Menschen da sein. Also dann tragen wir 20 Stühle aus dem ganzen Haus zusammen, und Lenie Wolff sorgt für Kakao und ich für ­Tassen und Ungar für die Musik und die Atmosphäre kommt von selbst. Fertig. Aus. Erfreuliche Aussicht. Gute Tat. Hagenpreek.52Aber meine ­Gedanken schweifen fortwährend sorgenvoll zu diesem Abend. Wie wir die Stühle hinstellen müssen, ob es wohl gemütlich sein wird, dass ich zusehen muss, dass ich an Blumen komme, dass ich doch eigentlich gar keine Lust dazu habe, kurzum, dass es doch sehr lästig ist. – Wie ekelhaft von dir! Zeitverschwendung. Es gab bei dir eine Zeit, und in meiner Erinnerung erscheint es mir als eine glorreiche und sinnvolle Zeit, in der du mit Kraft und sehr bewusst gegen die erotischen Tagträume mit S. gekämpft hast, die dich von deiner Arbeit abhielten und deine Kraft zerstörten. Du hast um dich geschlagen wie eine Rasende, wenn du bei deiner Arbeit davon überfallen wurdest, du bist nachts aus deinem Bett in die Kälte herausgesprungen und hast ­geflucht wie ein Kutscher und es hat geholfen. Du dachtest damals, du hättest damit ein für alle Mal abgeschlossen. Und jetzt musst du wieder von Neuem beginnen, den Streit gegen die

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Grübelei wieder aufnehmen. Zum Beispiel kommt am Samstagnach­ mittag dieser Samenhändler aus Enkhuizen,53 um Russisch zu lernen. Und was habe ich mir schon viele Sorgen darüber gemacht, ob ich diesen Mann wirklich unterrichten kann und wie, obwohl ich doch weiß, dass ich in der Lage dazu bin, diesen Unterricht zu erteilen. Etty, jetzt, wo ich mich darein vertiefe, bin ich eigentlich entrüstet über dich. Und jetzt dieser Bauch wieder. Bei wie vielen Ärzten ich in diesen ­Tagen in meiner Fantasie in Wartezimmern gesessen habe und wie viele Pillen ich schon geschluckt habe und wie viele Unannehmlichkeiten ich schon erlebt habe – kein Wunder, dass ich nicht gut arbeiten kann! Große Weisheit in dieser einfachen Volksweisheit: «Der Mensch leidet oft am meisten an dem Leiden, das er fürchtet.»54 Bis Montag oder Dienstag werde ich nicht mehr an meine gestörte Blutzirkulation denken und dann weitersehen. Aber es dann auch nicht im Kopf durchspielen. Und für diesen Herrn aus Enkhuizen werde ich mich schon sehr inten­ siv vorbereiten, aber dann werde ich auch nicht mehr über ihn nachden­ ken, bis er direkt vor mir steht am Samstagnachmittag. Und was für ein Kleid ich dann anhaben werde.  – Und ob ich am Sonntag nach Bilthoven55 mitgehen werde; im einen Moment erscheint mir das reizend, im anderen möchte ich es nicht, das hängt von meiner Stimmung ab. Usw. usw. Es ist eine fürchterliche Desorganisation. Dadurch habe ich vielleicht in letzter Zeit das Gefühl, dass ich so wenig tue, und ich habe manchmal das Gefühl, dass mein Programm überladen ist und nichts mehr hinzu­ kommen darf. Und es geht auch anders, das hast du schon selbst erlebt. Mädchen, Mädchen, was bist du eigentlich für ein Reinfall. Ich fühle mich im Mo­ ment in der Tat ziemlich kaputt und körperlich in einer sehr schlechten Verfassung, aber deshalb musst du doch nicht alles hinschmeißen. Es ist wahrlich keine Kunst, in Zeiten, in denen du dich gut und fit fühlst zu arbeiten usw. Gerade an solchen Tagen wie diesen kommt es darauf an, dir selbst zu zeigen, was du draufhast. Du musst wirklich etwas weniger ­Mitleid mit dir selbst haben. Wenn du dir wirklich einbildest, mehr als ein Durchschnittsmensch in deinem Leben leisten zu müssen, dann musst du anders leben.

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Innerliche Hygiene und Organisation. Nicht so viel Zeit vertrödeln und verschwenden. Freitagmorgen [5. Dezember 1941], 9 Uhr. Bin sehr zufrieden mit dir, Mädchen. Sobald ich mich selbst «mit Kraft in Angriff nehme», geht es. Ich grüble dann auch nicht mehr, sondern arbeite. Und kann das Leben dann eigentlich sehr gut bewältigen. Es spukt noch in den Gewölben. Es muss schon etwas nicht in Ord­ nung sein. Gute, liebe diskrete Käthe, die heute Morgen mit einer Kognak­ flasche ankam. Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Zu der Beklemmung und der Unruhe dieses unerwarteten Zustands kommt auch noch die kribbelnde Empfindung des Ungewohnten für eine Weile hinzu. Jetzt, wo ich mir selbst verboten habe, unruhig zu sein, bin ich es seltsamerweise auch nicht mehr. Gestern Nachmittag S. und abends Ηoчь любви здecь.56 Und wieder vollkommen dankbar für diese zwei Freunde. Verrückt, dass meine nächs­ ten Menschen, meine дopoгeйщиe дpyзья,57 Männer sind, die ich sieze. Gestern Vormittag, als ich im Nebel spazierte, wieder dieses Gefühl: Ich habe doch meine Grenzen bereits erreicht, alles schon dagewesen, ich habe doch alles schon erlebt, weshalb lebe ich eigentlich noch weiter; ich weiß es natürlich schon, ich komme niemals weiter, als ich schon gegan­ gen bin, die Grenzen werden zu eng und jenseits der Grenze gibt es doch eigentlich nur die Irrenanstalt. Oder den Tod? Aber so weit habe ich noch nicht gedacht. Bestes Mittel dagegen: ein knochentrockenes Stück Gram­ matik studieren oder schlafen. Die einzige Erfüllung für mich in diesem Leben: mich selbst in einem Stück Prosa, in einem Gedicht verlieren, das ich mühselig Wort für Wort selbst erobern muss. Ein Mann ist für mich nicht das Wichtigste. Das rührt vielleicht daher, dass immer so viele Männer um mich herum waren? Manchmal ist es gerade so, als wenn ich gesättigt wäre von Liebe, aber auf eine gute Art und Weise. Das Leben war eigentlich sehr gut zu mir, ­immer, und ist es auch noch. Manchmal scheint es gerade so, als ob ich das «Ichund-Du»-Stadium58 überwunden hätte. Es ist leicht, so etwas nach so ­einer Nacht zu sagen. Und jetzt meine lieben Füßchen ins Wasser. Sogar diese Verwirrung wegen eines ungeborenen Kindes ist etwas Unwirkliches für mich. Es wird schon gut werden.59

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nachmittags, Viertel vor 5. Jetzt kommt es darauf an, dass ich mich nicht von dem, was in mir ge­ schieht, beherrschen lasse. Es muss doch irgendwie nebensächlich bleiben. Ich meine damit Folgendes: Man darf sich eigentlich niemals durch eine einzige Sache gänzlich lahmlegen lassen, wie schlimm sie auch sein mag, der große Strom des Lebens muss immer weiterfließen. Ich nehme mich immer wieder selbst an die Hand und sage: Jetzt musst du diese Unterrichtstunde für morgen vorbereiten und heute Abend musst du mit dem «Idioten» von Dostojewski60 beginnen, nicht zur Unterhaltung, sondern du musst dieses Buch jetzt wirklich einmal erschöpfend durch­ arbeiten. Wie ein Tagelöhner. Und dazwischen werde ich dann ab und zu schon mal die Treppe hinunterrennen und Zeremonien mit heißem Was­ ser abhalten. Auch ein Gefühl, als ob sich etwas Geheimes in mir ereignet, von dem niemand etwas weiß. Es ist letzten Endes auch ein Teilhaben an einem elementaren Geschehen. Und dann stelle ich bei mir selbst in einer doch etwas brenzligen Lage (und brenzlig ist sie zweifellos) ein starkes Gefühl fest: mich nicht unter­ kriegen lassen. Ich sorge schon dafür, dass es in Ordnung kommt. Und es wird schon in Ordnung kommen. Arbeite nur ruhig weiter, verschwende nicht all deine Kräfte darauf. Das war gerade ein kurzer, flotter Spaziergang mit S. um 2 Uhr. Er hatte wieder etwas Strahlendes und Jungenhaftes an sich. Eine wahrhafte Menschenliebe strahlt er dann nach allen Seiten aus, auch ein bisschen auf mich, und ich strahle zurück. Weiße Chrysanthemen. «So bräutlich.» Ich bin ihm ja treu innerlich. Und Han bin ich auch treu. Ich bin allen treu. Ich gehe auf der Straße neben einem Mann mit weißen Blumen, die wie ein Brautstrauß aussehen, und sehe strahlend zu ihm auf, und vor zwölf Stunden lag ich in den Armen eines anderen Mannes und liebte ihn und liebe ihn auch jetzt. Ist das geschmackslos? Ist das dekadent? Für mich ist das alles vollkommen in Ordnung. Vielleicht weil das Körperliche für mich nicht so wesentlich ist bzw. nicht mehr ist. Es ist eine andere, umfassendere Liebe. Oder rede ich mir das ein? Bin ich zu unbeständig? Auch in meinen Beziehungen? Ich glaube es nicht. Wie komme ich auf einmal auf dieses völlig abwegige Geschwafel? Es gibt eigentlich kein Ziel. Man muss sich kein Ziel außerhalb von sich selbst setzen. Jeder Augenblick dieses Lebens muss an sich Ziel sein. Selbst­

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verwirklichung. Höhepunkte erreichen in vereinzelten Momenten. Und dann wieder weitermachen. Vertrauen, dass das alles irgendwo hinführt, und nicht mit aller Gewalt ein Ziel sehen wollen. Den Männern gegenüber gerecht bleiben, Mädchen, auch wenn wir den Ärger haben. Rührender Pa Han. Han schleppte gerade mit meiner Pfanne heißes Wasser ins Badezimmer. Wir müssen da zusammen durch, aber wenn Gereiztheit in mir aufsteigt, darf ich sie nicht an ihm auslassen. Samstagmorgen [6. Dezember 1941], halb 10. Zuerst mir selbst wieder einmal gut zureden, um ein wenig Mut für diesen Tag zu fassen. Heute frühmorgens beim Aufwachen kurz diese bleischwere Beklemmung, pechschwarze Unruhe, frei von jedem sensationellen Zusatz. Es ist schließlich keine Kleinigkeit. Ich habe das Gefühl, als wäre ich damit beschäftigt, einem Menschen das Leben zu retten. Nein, das ist lächerlich: einem Menschen das Leben zu retten, indem man ihn mit aller Gewalt von diesem Leben fernhält. Ich will es jemandem ersparen, dieses Jammertal zu betreten. Ich werde dich in der sicheren Ungeborenheit belassen, du werdendes Wesen, sei mir bloß dankbar. Ich empfinde beinahe Zärtlichkeit für dich. Ich rücke dir mit heißem Wasser und abscheulichen Instrumenten zu Leibe, ich werde dich geduldig und ausdauernd bekämpfen, bis du dich wieder im Nichts aufge­ löst hast, und dann werde ich das Gefühl haben, eine gute Tat vollbracht und verantwortungsvoll gehandelt zu haben. Ich kann dir ohnehin nicht genügend Kraft mitgeben und es schwirren viel zu gefährliche Krankheits­ erreger in meiner vorbelasteten Familie herum. Als Mischa neulich voll­ kommen verwirrt war und mit Gewalt in eine Anstalt61 abtransportiert wurde und ich den ganzen Tumult als Augenzeugin miterlebt hatte, habe ich mir geschworen, dass ich niemals zulassen werde, dass aus meinem Schoß so ein unglücklicher Mensch hervorgeht. Wenn es bloß nicht zu lange dauert. Dann werde ich so fürchterlich ängstlich. Es ist nun erst eine Woche her und ich habe es bereits satt und bin müde von all diesen Maßnahmen. Aber ich werde dir den Zutritt zu diesem Leben versperren, und wirklich, darüber wirst du dich nicht be­ klagen müssen. Programm (abgesehen von dieser ganzen edlen Lebensretterarbeit): mich noch einmal darein vertiefen, wie ich diesem Mann aus Enkhuizen die

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Aussprache der russischen Buchstaben verdeutliche, diese kurzen Steno­ gramme von S. ausschreiben, eine Stunde lang unterrichten, einkaufen, heute Abend Musik und morgen Bilthoven. Ich werde versuchen, mich darauf zu freuen. Ich fühle mich körperlich sehr unwohl, ich hoffe, dass es nicht noch schlimmer wird. Aus Suarès: «Die Intuition ist sehendes Herz in der Finsternis.»62 Samstagabend, 12 Uhr. Ich kann natürlich backfischhaft schreiben, es war ein herrlicher Tag. Es war wirklich herrlich! Ich wollte, ich könnte diese Worte in tausend S­ tücke schlagen und all diese Stücke zusammen würden dann den Tag widerspie­ geln. Ich begreife nun etwas von Paul van Ostaijen,63 der Worte kreuz und quer über eine Seite schleuderte. Eigentlich ist das mein einziges Problem: wie ich mich ausdrücken muss. Die eigene Form zu finden. Tides Stimme, die strahlend und ungebrochen in die Luft schießt, und gleichzeitig an meinem Ohr durch das Telefon Claras tiefe, traurige Stimme, die aus einer ganz anderen Welt kam. Die roten Vorhänge und Glassners64 unbeholfener, schwerfälliger Körper an dem edlen, hervor­ ragenden Instrument. Jetzt aber gute Nacht. Morgen Spier mit Harem und Glassner nach Utrecht.65 Ich bin ge­ spannt.

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8. Dezember 1941, Montagvormittag, 10 Uhr. Gestern Nachmittag bei den Vasseurs;1 die baltische, aufgedrehte Mutter und der Vater, der in der ersten Stunde bereits all sein Pulver verschossen hatte, indem er uns alle interessanten Fakten aus seinem Leben präsen­ tierte. S. steht mitten im Raum und singt. Ein Mann steht mitten im Raum und ich zerbreche mir den Kopf und ich zerschelle an einem unerschütter­ lichen Granitblock: Wie soll ich das beschreiben? Ich kenne doch diesen Mann in- und auswendig, wie soll ich ihn beschreiben, wie soll ich ihn darstellen? Das ist die ewige Frage. Ich würde einen Mann so schildern wollen: Er steht mitten in einem kleinen Raum. Und plötzlich mache / reiße ich eine Tür auf, sodass der Blick in einen größeren Raum ermög­ licht wird. Und ich mache noch eine Tür auf und noch eine. Es werden Räume sichtbar, in denen wiederum Türen sind, und auch diese werden wieder geöffnet. Der Mann steht dort noch immer in der Mitte, aber der Raum um ihn herum wird immer weiter, immer neue Durchblicke, es weht ab und zu durch alle Türen, ein Sturm rast von Zeit zu Zeit hin­ durch, Türen schlagen zu, andere gehen wieder auf. Ich sehe es plastisch vor mir, aber wie soll ich so etwas beschreiben? S. steht also dort mitten im Raum. Gestern war er auf einmal bleich wie Elfenbein und so hübsch. Hübsch, sage ich. Meine Sprache ist dürftig. Hübsch. Natürlich war er nicht hübsch. Als ich ihn dort so von der Seite anschaute, war sein Hals so jung. Und dadurch auf einmal der ganze Mann so reizvoll und ich wieder einmal verliebt. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Von Bedeutung ist dieser elende, unerschütterliche Granitblock. Ich ging wieder verzweifelt und hilflos drum herum und wusste nicht, wie ich mich ihm nähern sollte. Wie ich Figuren einmeißeln sollte und mit was für einem Werkzeug. Ich muss nochmals ganz von vorne beginnen. Es

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kommt mir dann so vor, als hätte ich noch nie ein Buch gelesen, ich be­ komme dann das hungrige und fiebrige und auch fragende Gefühl: Wie ist das bei all den verschiedenen Meistern, wie haben sie – jeder auf seine eigene Art und Weise – ihre neue Wirklichkeit geschaffen? S. steht also in dem Raum, groß mitten im kleinen Raum. Ich gehe um ihn herum und versuche die verschiedenen Zugänge zu finden. Sagen wir: Tide ist eine Tür, wenn es mir gelingt, diese aufzumachen, kommt ein ziemlich schöner Raum zum Vorschein, und Dicky ist ein kleines Türchen und in London ist ein Mädchen mit schwarzen melancholischen Augen und schreibt in einen Notizblock «nur für Dich und mich» und plötzlich stürzt er sich auf eine Frau und auf Thomas a Kempis. Es gibt hundert Türen. Ich glaube nicht, dass ich etwas kann. Es ist zwar ein starkes Talent vorhanden, Dinge nachzuempfinden und auch wirklich in der Fantasie plastisch zu sehen, aber das ist noch etwas anderes als das Talent, den Din­ gen eine Form zu verleihen. Und doch ist dieser Drang sehr stark. Ich muss wirklich nochmals ganz von vorne beginnen. Und mit allen Sinnen das große Wunder, das die Sprache ist, erforschen. Und ab und zu probie­ ren, kleine Kerben in den unerschütterlichen Granitblock zu schlagen. Das war wohl das gestrige Hauptgefühl. Und dann nicht zu vergessen der «Smolensker»2 und das Fischragout und der Spaziergang und der kleine emigrierte Organist mit seiner Baskenmütze. Usw. usw. Und dann das ­außerordentlich behagliche Gefühl in dieser unberührten Landschaft von Tide und Adri und Gera mit ihrem guten, alten Schutzheiligen,3 auch mit Baskenmütze. Backfischhaft und vergnüglich und doch voller Tiefe, aber doch ein bisschen weniger geistreich, auch nicht schlimm. Ja, Etty, das ­Leben ist sehr gut, es ist, als ob die Konturen deiner eigenen Persönlichkeit stets stärker und kräftiger würden. Und jetzt solltest du doch eigentlich mal mit dieser Übersetzung beginnen. Und überdies nicht zu vergessen: Heute Morgen um 6 Uhr wurde das ungeborene Kind geboren. Es war nur 10 Tage alt. Es war für Käthe ein wichtigeres Abenteuer als für mich und Han. Der liebe, ruhige Han beich­ tete mir im Nachhinein, dass er doch viel unruhiger gewesen war, als er es mich hatte spüren lassen. – Usw. Während des Spaziergangs durch die nassen Blätter: laufen und singen, das kommt zuerst und dann, viel später, kommt erst die Psychologie. Es fällt so viel von einem ab, beim Laufen.

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nachmittags 4 Uhr. Ich lag gerade ein wenig auf der Couch und döste und plötzlich war mir einen winzigen Augenblick lang so unendlich wohlig zumute, als ob nir­ gends mehr Abgründe wären, und es tauchte auf einmal ein neuer Sinn in mir auf: Und dieser Nachmittag war gerade so blank und glatt wie eine spiegelglatte Wasserfläche. Dieser kurze Moment der vollkommenen Ruhe erscheint jetzt völlig unwirklich. Aber gleichzeitig wusste ich wie­ der, noch immer in diesem Halbschlaf, dass es nicht ohne die Gruben, Höhlen und Tiefen geht und dass ich das doch auch nicht wollte: eine glatte Fläche. Ich kann es nicht beschreiben, verdammt noch mal, ich kann es nicht beschreiben. Ich wurde wach und war doch noch nicht ganz wach. Und es war einen Moment lang so, als ob alle Schwere von mir abgefallen wäre, das Leben war so unsagbar gut und so leicht zu ertragen, es war gerade so, als ob das Leben nichts als nur Oberfläche wäre, eine glitzernde, blanke, weite Fläche, unter der sich nichts bewegte, unter der sich keine Tiefen verbargen. Es war beinahe eine kleine Vision. Und auf einmal wusste ich wieder, dass etwas, das nur Oberfläche ist, nicht im Geringsten existiert, und ich wusste auch gleich, dass dies gut war. Die Gruben und Höhlen, in die man jedes Mal hinabsteigen muss, gehören auch dazu. Das Meer. Ein Dutzend Gedichte über das Meer. Das Meer, das wie ein kleines Stückchen glänzendes Perlmutt an diesem einen Sommernach­ mittag vor langer Zeit war. Es ließ mich damals auch kurz seine heim­ tückischen Tiefen vergessen. Lieber Ofen, grauer Tag, quengelnder Bauch, wollenes Kleid, schmale, starke Hand, Wirklichkeit hinter dieser sichtbaren Wirklichkeit und da­ hinter wieder eine Wirklichkeit, niemals zu fassen, immer flüchtend. Dich doch konzentrieren und studieren und die sichtbarste Wirklichkeit doch ergreifen und ihr die wahre Wirklichkeit abringen, die sie verbirgt. Ich habe bei Menschen manchmal das Gefühl, als ob sie zu massiv seien, als ob sie mir die Aussicht auf etwas versperren würden, ein Gefühl, sie von mir wegschieben zu wollen. Was erwartest du für eine Aussicht, wenn du schon das Wesentliche um dich herum wegschiebst? Erwartest du dort dann die echte Wirklichkeit? Nicht das Wesentliche wegschieben, sondern durch es hindurchschauen, es so mit deinem Verständnis durch­ leuchten, dass es transparent wird und die dahinterliegende Wirklichkeit auftaucht. Nicht wegschieben, weil du dich dann im luftleeren Raum be­ findest, sondern durchleuchten. Das gilt auch, wenn du schreiben möch­

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test. Du hast für dich selbst nirgends einen Anhaltspunkt an den konkre­ ten Dingen in dieser alltäglichen Wirklichkeit, du gehst daran vorbei, weil du auf der Suche nach einer anderen Wirklichkeit bist, aber dieser Weg führt nur durch die substanzielle, greifbare Realität hindurch. Wenn du diese vernachlässigst, fällst du irgendwann in den luftleeren Raum und du verlierst deinen Halt. Und dann stehst du dort vielleicht auf einmal wie eine betrunkene Närrin da. Donnerstag, 11. Dezember [1941], morgens halb 10. Ich zwinge mich einfach mal wieder, einige Dinge loszuwerden, auch wenn ich nicht so viel Lust habe zu schreiben. Aber ich betrachte es als eine ­hygienische Maßnahme. Werde sonst übervoll. Diese Sphäre vom Sonntag hat noch einige Tage nachgeklungen. Hin­ terher stellte sich heraus, dass dies hauptsächlich von dem sehr starken Kontakt zwischen S. und mir herrührte, auch wenn wir an diesem Tag fast keine Worte miteinander gewechselt hatten. Erst später wurde mir be­ wusst, wie die ganze Wärme seines Wesens mich an diesem Tag umschlos­ sen hatte. Die Erfüllung kam gestern Nachmittag, wir mussten uns doch wieder körperlich nähern, es ging nicht anders, es war die unumgängliche Folge dieser Verbundenheit dieser paar Tage. Verrückt, und doch war ich an diesem Sonntag mit ihm inniger verbunden und glücklicher über ihn als in dem Moment, als er mich gestern Nachmittag beinahe mit seinem roten Strickpullover erdrückte. Es ist so schrecklich viel passiert in den letzten paar Tagen, ich kann das alles fast gar nicht aufschreiben. Aber ich wachse und gewinne an Ge­ stalt. Und der Zusammenprall der Fantasie mit der Wirklichkeit ist nicht mehr so schmerzhaft. Ein paar Tage mich schrecklich nach ihm gesehnt, schwer verliebt. Ein paar Tage stark in seiner Sphäre gelebt, ohne ihn zu berühren. Und der Moment des Körperkontaktes ist immer gefährlich für mich, dann zerplatzt etwas von dem Traum. Diesmal nicht. Was für ein Unsinn eigentlich. Es ist eine Art Tradition, solche Dinge als äußerst wich­ tig zu erachten, aber darum geht es doch bei mir nicht. Unterdessen nichts als Aufregung. Käthe, die nervös ist und weg­ möchte, Gespräch mit Hans und Pa Han, Kopfschmerzen, Unruhe. Ich verspreche mir weiterzuschreiben, wenn sich die Gelegenheit bietet. Ich werde mich nun aber wieder einmal nach langer Zeit in meinem Zimmer auf den Boden setzen, um etwas zur Ruhe zu kommen. Gestern war doch ein überreicher Tag. Und mein Herz ist schon seit einigen Tag so voller

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Schwere und Gefühle. Eines nach dem anderen, du musst dich sicherlich jeden Tag auf dich selbst besinnen, sonst wird das für mich zu schwer. Gestern Vormittag Maurice Betz’ Rilke in Frankreich.4 Gestern Nach­ mittag diese 1 ½ Stunden. Es fliegt mir eigentlich sehr viel zu. Manchmal scheint es mir, als ob ich nicht weit und offen genug sein kann, um alles mitzukriegen und aufzunehmen und zu verarbeiten. Auch ein Gefühl, als ob ich tief in der Schuld stehen werde, wenn ich später nicht etwas zu­ rückgebe von dem, was ich jetzt alles aufnehme. Gestern Abend bei Claartje van Keulen. Im Augenblick finde ich einfach keinen Ausweg, zumindest nicht mit Worten. Ich setze mich jetzt so lange in die Ecke meines Zimmers, bis wieder Ruhe einkehrt. Gestern bei der Begrüßung: «Ich habe Sie ganz gern, die letzten Tage, ich glaube Sie werden vernünftig.» Es hat sich jetzt eigentlich viel zu viel in mir angesammelt von diesen letzten Tagen. nachmittags halb 5. Das ist wieder mal ein schlechter Tag, nicht gut organisiert, starke Kopf­ schmerzen, die auch von dem feuchten, lauen Wetter herrühren können. Sowieso lebe ich noch nicht gut. Ich verwende immer noch mehr Kräfte auf das Innere als auf das Äußere. Zum Beispiel habe ich vom «Idioten» bis jetzt nur 10 Seiten gelesen, und diese 10 Seiten haben eine Menge Ideen und Gedanken in mir ausgelöst, eigentlich unverhältnismäßig viele im Verhältnis zu der geringen Anzahl Seiten. Ich muss viel konstanter wei­ terlesen und mich vertiefen. Oder vielleicht gerade nicht? Eine ganz kleine Anregung von außen wühlt manchmal ganze Welten in mir auf. Es muss doch noch ein größeres Gleichgewicht zwischen dem, was ich innerlich produziere, und dem, was davon nach außen dringt, hergestellt werden. Ich muss jetzt aufstehen, es ist halb 5, habe ab 2 Uhr im Bett gelegen. So ein Nachmittag im Bett bereitet mir ein elendes Gefühl. Fast Schuld­ gefühle. Alle arbeiten und ich liege im Bett. Käthes eiliges Treppensteigen im Haus geistert dann den ganzen Nachmittag lang durch mein Mittags­ schläfchen. Ich fühle mich dann wie eine von der Gesellschaft Ausge­ stoßene. Das kommt aber glücklicherweise nicht allzu oft vor. Und ich habe doch auch einen Entschuldigungsgrund für mich, ein paar Abende zu spät ins Bett, heute Abend ein anstrengender Abend, Kopfschmerzen usw. Doch es ist ein Fehler, an einem solchen Nachmittag Schuldgefühle zu haben, ich bin innerlich zu unfrei.

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Lieber Herrgott, ich kann dich nicht immer beim geringsten Anlass anrufen. Dieses eine Mal, als ich dich wirklich inbrünstig, aus einer tiefen Gemütsbewegung heraus angerufen5 habe, gibt mir immer noch Kraft, es wirkt noch immer nach. Die dunklen Äste wiegen vor meiner matten Fensterscheibe hin und her, ich ziehe jetzt mein schwarzes Kleid an und male meine Lippen rot an, dann kommen der blinde Ungar und mein tauber Freund und viele andere Menschen und dann mal sehen, was das Leben wieder bringt. Wenn du nur bereit bist, jede Minute dieses Lebens dich zu beteiligen und nicht Widerstand zu leisten und dich nicht zu verschließen, und wenn du nur weißt, dass es keine Rolle spielt, wo du bist und was du tust, wenn du nur Gott in dir hast. – Und jetzt hopp, aus den Federn. Ein wenig später. Sobald ich mich ganz dazu bereiterkläre, mich zu beteiligen, fühle ich mich wieder gut. Und nun stellen wir den weißen Flieder in die braune Vase, die auf der geschwungenen Seite des Flügels6 zu stehen kommt usw. usw. Freitagmorgen [12. Dezember 1941], 9 Uhr. Man klagt oft über die Dunkelheit am Morgen. Aber das ist mitunter meine beste Zeit des Tages: Wenn der beginnende Tag grau und geräusch­ los vor meinen matten Fensterscheiben steht. Es gibt dann eine einzige grelle, helle Stelle in all dieser Grauheit und Stille: meine kleine, leuch­ tende Stehlampe, die die große, schwarze Fläche meines Schreibtischs er­ hellt. Eigentlich war das letzte Woche meine beste Zeit. Ich war in den «Idioten» vertieft, übersetzte sehr konzentriert ein paar Zeilen in einem Heft, machte einen kurzen, selbstständigen Eintrag dazu und plötzlich war es 10 Uhr. Dann so ein Gefühl von: Ja, so musst du studieren, so versunken, so ist es gut. Heute Morgen sagenhafte Ruhe in mir. Wie ein Sturm, der sich ausge­ tobt hat. Ich merke, dass die Ruhe immer wiederkehrt. Nach Tagen von gewaltigem, intensivem Innenleben und des Strebens nach Klarheit und von Geburtswehen, ausgelöst von Sätzen und Gedanken, die noch lange nicht geboren werden wollen und die enorme Forderungen an einen selbst stellen, und nach Tagen, an denen man es am wichtigsten und notwen­ digsten findet, die eigene kleine Form zu finden usw. usw., fällt dies alles auf einmal wieder von mir ab. Dann überkommt eine wohltuende Müdig­

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keit meinen Verstand, dann hat sich wieder etwas ausgetobt, dann über­ kommt mich beinahe eine Art Milde, auch gegenüber mir selbst, und mich überkommt ein Schlummer, durch den mir das Leben gedämpfter und oft auch freundlicher erscheint. Und eine Versöhnlichkeit mit dem Leben. Und auch: Nicht ich im Besonderen will etwas oder muss etwas, das Leben ist groß und gut und spannend und ewig, und wenn man so stark auf sich selbst fokussiert ist und herumhampelt und rast, dann ent­ geht einem dieser große, mächtige und ewige Strom, der das Leben ist. Das sind wirklich solche Momente – und ich bin so dankbar dafür –, in denen alles persönliche Streben von mir abfällt, in denen zum Beispiel mein Drang nach Kenntnis und Wissen zur Ruhe kommt, dann über­ kommt mich plötzlich mit breitem Flügelschlag ein Stückchen Ewigkeit. Und ich weiß, ich weiß, ich weiß wirklich, dass diese Stimmung nicht von Dauer ist. In einer halben Stunde ist sie vielleicht wieder weg, aber dann habe ich trotzdem wieder Kraft daraus geschöpft. Und ob mich nun diese Milde und Weite deshalb überkommen hat, weil ich gestern wegen der schweren Kopfschmerzen 6 Aspirin geschluckt habe, oder durch ­Mischas «unheimisches» Spiel von gestern Abend und Brahms’ Wiegen­ lied7 oder durch S.s lieben, grauen Kopf, der plötzlich wieder aufgrund von Mischas Spiel auftauchte, oder durch Hans warmen Körper heute Nacht, in dem ich mich gänzlich vergraben habe, wer kann es sagen und was spielt es für eine Rolle? Diese 5 Minuten gehören noch mir. Hinter meinem Rücken tickt die Uhr. Die Geräusche im Haus und auf der Straße sind wie eine ferne Bran­ dung. Eine runde, weiße Lampe bei den Nachbarn gegenüber dringt durch die Blässe dieses regnerischen Morgens. Ich fühle mich hier, an dieser gro­ ßen, schwarzen Fläche meines Schreibtisches, wie auf einer einsamen ­Insel. Das schwarze marokkanische Mädchen starrt in den grauen Morgen hinaus, mit diesem ernsten, düsteren Blick, der animalisch und erhaben zugleich ist. Und was für eine Rolle spielt es, ob ich von einem Buch eine Seite mehr oder weniger studiere? Wenn man nur auf seinen eigenen Rhythmus hört, der in einem steckt, und probiert nach diesem Rhythmus zu leben. Hören, was in dir selbst aufsteigt. Vieles von dem, was du tust, ist doch Imitation oder eingebildete Pflicht oder eine falsche Vorstellung davon, wie ein Mensch sein sollte. Die einzige Gewissheit, wie du leben sollst und was du tun musst, kann doch nur aus denjenigen Quellen auf­ steigen, die dort in deiner eigenen Tiefe sprudeln. Und ich sage das nun sehr demütig und dankbar und ich meine es aufrichtig, auch wenn ich

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weiß, dass ich wieder aufständisch und reizbar sein werde: Mein Gott, ich danke dir dafür, dass du mich so geschaffen hast, wie ich bin. Ich danke dir dafür, dass ich manchmal so voller Weite sein darf. Diese Weite ist ja nichts anderes als ein Erfülltsein von dir. Ich verspreche dir, dass ich mein ganzes Leben danach streben werde, diese reine Harmonie und auch diese Demut und wahrhafte Liebe zu erreichen, deren Möglichkeit ich in ­meinen besten Momenten in mir spüre. Und nun den Frühstückstisch abräumen und noch kurz Levies Unter­ richt vorbereiten und etwas Farbe auf meine Visage. Ein wenig später. Ein Ausschnitt aus Suarès über Dostojewski: «Amor vitae, das ist noch schlecht gesagt. Das Leben ist weder so groß noch so stark wie die Liebe. Er erwartet da die vollkommene Schönheit, die sich unsere Sehnsucht versprochen hat. Nicht der amor vitae, sondern mehr die vita amoris: dieses ist Dostojewskis letzter Grund. An der Liebe ist es, das Leben zu schaffen und zu retten. Die Besten leben nichts anderem, als diesem zu dienen. Und die reinste Liebe ist die Liebe am meisten.»

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Dieses kleine Buch von Suarès über Dostojewski steht S. wirklich zu. Er könnte es selbst geschrieben haben. Ich werde diese Woche dazu nutzen, es zu exzerpieren, damit ich es ihm zu Weihnachten geben kann. Dieses Gefühl, dass du selbst nicht so wichtig bist, ist keine Resigna­ tion, es ist auch keine Flucht und auch kein Trost, weil du dein Ziel doch nicht erreichen kannst. Es gibt dir im Gegenteil mehr Kraft, um weiterzu­ arbeiten, es schwächt nicht, sondern spornt eher an. Es ist vielmehr so, dass der persönliche Ehrgeiz nachlässt, dass Eifersüchteleien nicht mehr vorkommen, dass dein Geltungsdrang dir als etwas Kindisches und Ener­ gieraubendes und Übertriebenes erscheint. Eine so vollkommen weite und möglichst freie Sicht auf das Leben behalten, dir nicht den Zutritt durch deine persönlichen Kleinlichkeiten verbarrikadieren. Und doch musst du immer wieder durch all diese Klein­ lichkeiten hindurch, mit denen du so randvoll bist und von denen du dir wirklich nicht einbilden musst, dass du jemals von ihnen wegkommst, um etwas von den Menschen und dem Leben zu verstehen. Ich rede immer so vage über «das Leben». Ich weiß schon, was du d ­ amit meinst, aber kannst du das nicht einmal definieren? Ich merke auf einmal, wie lieb mir diese grauen Morgen doch sind. Ich

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gleite dann durch den Tag und durch meine Arbeit. Jetzt zumindest. Nicht so ruckweise. Als ob keine Widerstände zu überwinden wären. Weitergleiten und dahingleiten durch den Tag, durch die ganze Welt, durch das Leben. abends 8 Uhr. Es gibt dort eine Stelle, an der mein Herz anschwillt, dort in der Apollo­ laan, wenn ich dort die Stadionkade bereits hinter mir weiß. Dann schwillt mein Herz an, dann werfe ich meinen Kopf in die Luft und das ist dann jedes Mal wieder ein sehr besonderes Gefühl. Dann bin ich plötzlich voller Elan, vielleicht auch, weil der Wind dort manchmal steif in mein Gesicht weht und ich mich an meinem Fahrrad festklammere, das ich dann wie ein Pferd unter mir empfinde, das ich zähmen muss. Es ist doch jedes Mal wieder eine Überraschung für mich, diese Freund­ schaft mit ihm. Auch, dass ich ihm etwas bedeute. «Sie Armes, Sie haben sich so gelangweilt unter Ungar», oder so etwas. «Wenn Sie da sind, langweile ich mich nie, wenn ich Ihr Gesicht nur sehe, ist es mir immer gut.» Für seine Verhältnisse sind das wahnsinnig zärtliche Worte. Einen kleinen Moment lang kurz diese Eifersucht, aber  … wirklich nur einen Moment lang. Er ist mit Dicky hinterher noch ein wenig spazie­ ren gegangen, durch Mischas Musik traumversunken. Und Dicky hatte, als sie zu Hause waren, gesagt: «Sie müssen noch eine halbe Stunde bei mir bleiben, ich kann noch nicht nach Bett.» Und dann kurz dieses schmerzende Gefühl: Was war los gestern Abend? Ist etwas passiert? Und unter «pas­ siert» verstehe ich dann vielleicht eine Liebkosung oder was auch immer. Habe mich aber unmittelbar erholt. Mensch, sei nicht so vulgär und neu­ gierig und lass alle ihr eigenes Leben leben und sei nicht so widerlich arg­ wöhnisch, wodurch du wieder Dinge betonst, die nicht wichtig sind. Du weißt, wie er ist, und sein Leben steht auch dir offen usw. In wenigen Minuten war diese Eifersucht wirklich überwunden. Es ist gerade so, als ob unsere Freundschaft stabiler und stärker würde, auch konstanter. O ja, das wollte ich noch schreiben. Die vielen Zärtlichkeiten am Mittwochnachmittag waren das zwangs­ läufige Ergebnis all dieser angehäuften Wärme und Freundschaft der vor­ angegangenen Tage, aber sie waren nicht die Hauptsache. Das Wichtigste war vielmehr das Folgende: Er liest die Briefe von Abaelard und Heloise.9

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Zu meinem Erstaunen war er immer noch damit beschäftigt, obwohl er sie irgendwann ziemlich langweilig gefunden hatte. Ich sagte dann, dass ich das wirklich ausgezeichnet fand, dass er sie trotzdem zu Ende las, ob­ wohl er doch so wenig Zeit hat. Er, ein wenig verwundert: «Aber natürlich.» Und dann etwas im Sinne von: «Ich kann das nicht, ein Buch nicht zu Ende lesen, das finde ich zu respektlos», oder so ähnlich. Und auf einmal sah ich wieder so deutlich diese Treue in seinem Wesen, diese Beständig­ keit, dieses Durchhalten in allem, durch das sein Leben wie so ein unauf­ haltsamer starker Strom weitergeht. Treue, nicht nur zu Menschen, son­ dern auch zu Büchern, zu Dingen, zu Ideen. Und auf die Weise, mit der er mit einer einzigen guten und herzlichen Gebärde sagte: «Ja, natürlich lese ich ein Buch zu Ende, das ich begonnen habe», trug er wieder zu meiner Entwicklung bei. Und so trägt er jedes Mal, durch ein einzelnes beiläufiges Wort und auch auf die Art und Weise, auf die er lebt, zu meiner Entwick­ lung bei. Und ich empfinde dies als wesentlicher und wichtiger und wert­ voller als die erotischen Intermezzi. Ich muss dies einmal für mich selbst sehr sachlich konstatieren, weil man – aufgrund von Traditionen und der Bildung durch die Lektüre von Romanen – geneigt ist, diese Momente zu überschätzen. abends beim Ofen. Eigentlich entwickle ich mich spät. Ich lese seit meinem 12. Lebensjahr, aber wahrscheinlich zu passiv. Vielleicht zu oft bis zur Benommenheit ­gelesen. Zu ungeformt und zu vage alles. Versunken und weggetreten und verloren und verträumt. Es war das O-ja-Lesen. Bei vielem das Gefühl, es selbst genauso gesagt haben zu können, es selbst genauso erlebt haben zu können. Erst jetzt, wo ich schon 27 Jahre alt bin, beginne ich bewusster zu ­lesen, ich würde sagen, unabhängiger von dem, was ich lese. Und die Schriftstellerpersönlichkeiten tauchen stärker konturiert vor mir auf. Zum Beispiel Rilke. Eine einzige Zeile ist für mich auf einmal wirk­ licher als – ja was? Mit einzelnen Zeilen aus seinem Rodin-Buch10 lebe ich nun schon seit Monaten. Und Dostojewski. Ich weiß noch, wie ich ihn – war das in den Weihnachtsferien? – zu Hause gelesen habe. Bis ich davon benommen und kaputt und verrückt war, Hunderte, Tausende von Seiten hintereinander. Und jetzt ab und zu ein paar Seiten, die ich dann aber auch wirklich aktiv verarbeite und mit denen ich tagelang herumlaufe. Bei einem Mädchen verläuft die Entwicklung vielleicht anders als bei

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einem Jungen. Ein Junge, der auf dem gleichen geistigen Niveau wie ich ist, verarbeitet das, was er liest, mit 18 Jahren vielleicht schon bewusster, mehr mit seinem Verstand. Bei einem Mädchen entwickeln sich die Reife des Gemüts und die Reife des Verstands vielleicht eher gleichzeitig. Jetzt, wo ich eine Reife der Seele erlange, fühle ich auch, wie ich in meinem Studium bewusster werde, schöpferischer beinahe, obwohl ich finde, dass ich viel zu wenig mache und zu langsam arbeite. Meine Intuition ist meinem Bewusstsein noch immer meilenweit voraus. Aber ich kann das Tempo ja nicht forcie­ ren, ich kann nur für eine möglichst disziplinierte Zeiteinteilung sorgen. Dostojewski verfolgt mich in letzter Zeit und trifft mich immer wieder. Mitten im Rilke-Buch von Betz finde ich auf einmal ein paar zitierte Worte von Dostojewski, mit denen ich diesen Tag beschließe: «Es ist ein Fehler, den Menschen so zu beurteilen, wie Sie es tun. Es ist keine Liebe in Ihnen, nur strenge Gerechtigkeit; also sind Sie ungerecht.»

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Samstagmorgen [13. Dezember 1941], 9 Uhr. Gestern Abend um 11 Uhr waren drei Sterne in der schwarzen Fläche mei­ nes Fensters zu sehen. Jetzt befindet sich dort eine schmale Mondsichel. Das ist schon der soundsovielte graue Morgen, an dem ich mich selbst an diesem ruhigen Schreibtisch im Licht meiner kleinen Aluminiumlampe wiederfinde. Es müsste eigentlich verboten sein, den Tag mit der Zeitung und dem Radiogerät zu beginnen. Diese halbe Stunde gehört mir, ganz und gar mir. Es gibt öfters Momente, in denen ich sehr intensiv spüre: ­Dieser Augenblick gehört mir, mir ganz allein, der Tag kann jetzt bringen, was er will, aber dieser eine Augenblick ist zu meinem unabdingbaren ­Eigentum geworden. Es geht dann nur um kleine Dinge. Zum Beispiel um diesen ausgelassenen Musikabend bei Lenie Wolff. Ich sah dann auf einmal in einer Ecke auf dem Boden diese weißen Blumen vor dem dunkelroten Vorhang, die dort so still ein Eigenleben führten. Oder dieses hilflose kind­ liche Gebaren von Mien Kuyper,12 als sie im Flur zögerte, an diesem Abend von Ungar, weil sie nicht wusste, ob sie gehen oder bleiben sollte. Die Mär­ tyrerin für Mischas Talent. Man kann natürlich sagen, dass sie nur eine strohblonde hysterische Witwe mit einer Zwangsvorstellung ist. Aber die­ ses eine ergreifende Gebaren gehört auch zum Bild ihrer Person. Gestern Abend im Bett, ich fühlte mich wieder wie ein schmales Fass, randvoll gefüllt mit Gedanken und Gefühlen. Es wird irgendwann in die­

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sem Fass brodeln. Was habe ich nur alles zu diesen drei Sternen gesagt? Und von welchem Fleck der Welt und durch welches Fenster werde ich wieder zu denselben Sternen sprechen und an den gestrigen Abend den­ ken? Es war gut, dass ich diesen einen Moment des Argwohns gestern unmittelbar überwand. Ich fühle mich manchmal für jeden toten Soldaten in Europa verant­ wortlich, und auf einmal war ich gestern Abend tränenüberströmt, aber das sind dann vielleicht eher dichterische Tränen. – Nun geh aber arbei­ ten, was du hier alles so aufschreiben willst, das führt noch lange zu nichts. Ich möchte noch kurz einen einzigen Satz aus dem Buch von Maurice Betz notieren: «Aber ich weiß, daß eines Abends, als ich das kleine Buch ge­ öffnet hatte, der ferne Ritt des Cornets Christoph Rilke durch die Ebenen Un­ garns für mich plötzlich wirklicher war als der Krieg, der Europa erschütterte.»

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Es ist gut, seine dichterischen Momente zu haben und zu träumen, aber man darf nicht darin schwelgen, zumindest ich nicht, noch nicht. Dem­ gegenüber muss konzentriertes, diszipliniertes Arbeiten stehen, sonst lässt der Mensch nach und erschlafft. Programm für heute: Der Idiot, Wort für Wort nachschlagen,14 es ­kostet mich mehr sprachwissenschaftliche Anstrengung, als ich dachte. Heute Mittag unterrichten und heute Abend weiter Suarès und Betz’ Rilke exzerpieren. Aber das ist dann auch das Mindeste. Zuerst noch schnell den Frühstückstisch abräumen, o ja, und die Grammatik bei Hillie15 holen. Und nun loslegen. Diese halbe Stunde gehörte mir. Es ist beinahe Viertel vor 10, der Tag wird immer heller, aber ich kann die Lampe noch nicht entbehren. halb 12. Anlässlich des «Idioten», in dem ich wegen Sprachhindernissen nicht ­zügig vorankomme und dadurch geneigt bin, das wenige, das ich gelesen habe, in meiner Fantasie üppig aufblühen zu lassen, stelle ich fest: Man muss sich einem Buch auf dieselbe Art und Weise nähern wie seinen Mit­ menschen. Nicht mit bereits vorgefassten Vorstellungen oder Ansprüchen. Manchmal macht man sich schon auf den ersten Seiten ein Bild über das Werk und man klammert sich an diesem Bild fest, man will davon nicht mehr Abstand nehmen, und das geht dann oft zulasten der Intention des Autors. Man muss einem Menschen seine ganze Freiheit lassen, und ­einem Buch auch. Jede Äußerung eines Menschen oder in einem Buch kann

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manchmal auf einmal ein überraschend neues Licht auf das Ganze werfen und kann dann die bestimmten Vorstellungen, die wir hatten und durch die es sich sicherer leben lässt, vernichten. (In der Rechtswissenschaft: die Gerechtigkeit der Rechtssicherheit ge­ opfert, weil diese Sicherheit auch ein kostbares Gut für die Menschheit ist.) Wir machen uns bestimmte Vorstellungen über die Dinge um uns he­ rum, um Sicherheiten zu haben in diesem immerwährend in Bewegung sich befindenden und verwirrenden Leben, aber dadurch opfern wir das wirkliche Leben auf, in all seinen Schattierungen und dem Unerwarteten, und wir tun ihm damit eigentlich Unrecht. Das Leben kann nicht in einem System erfasst werden. Auch nicht ein Mensch. Auch nicht die Literatur. Und dem manchmal mühsam erwor­ benen System wird zu viel Wirklichkeit und Wahrheit geopfert. Das Wort Wahrheit hier vielleicht lieber aus dem Spiel lassen. Dieser Drang in den Menschen, zu systematisieren, um die vielen Widersprüche in einer ein­ zigen stabilen Konstruktion zu vereinigen, ist auch wahr, es ist ein wahr­ hafter Drang. Und man muss immer wieder zu einem System gelangen, um dem Chaos zu entrinnen. Aber man muss es auch wieder loslassen können. Es ist nun 11 Uhr abends, und wenn ich durch meine Wimpern hindurch auf den Morgen spähe, dann liegt dieser sehr weit weg. Es ist, als ob ich durch einen dichten Wald gegangen wäre und nun stehe ich still und schaue mich um und spähe auf die Stelle, an der ich begonnen habe. Und weit in der Ferne sehe ich einen vertrauten und lieb gewordenen Licht­ schimmer. Das war meine kleine Lampe in dem grauen Morgen. So lang war dieser Tag. Ich bin so kontinuierlich durch diesen Tag gegangen. So musst du eigentlich durch jeden Tag gehen: dass du vom Morgen an dem Abend entgegenwächst und -reifst. Und wie eine müde Frucht falle ich nun vom Stamm des Tages ab. Der starke Stamm des Tages. Und falle nun in die dunkle Höhle der Nacht. Vom geraden, starken, glatten Stamm des Tages in den geheimnisvollen Korb der Nacht. Und da sind die bereit­ willigen Arme und die blauen Augen von Han, aber das ist etwas viel zu Konkretes. Ich bin nun schon in die Schleier des Traums eingehüllt. Wackelnder Stiftzahn. Knöchernes Vogelgesicht und hellblaue blinzelnde Augen aus Enk­ huizen.16

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Die Telemann-Variationen von Reger17 und Mischa, der Dicky fragte: «Sie dichten wirklich?» Gute Nacht. Morgen Vormittag: Übersetzung. Aber während ich dann so abgeschottet bin von der Außenwelt, von den Dingen in diesem Zimmer, von dem Mann dort hinter seinem Schreib­ tisch, ist es, als ob diese Dinge in mir drin ein glasklares Leben führten. Es ist eine Art des Abgeschlossenseins von der Außenwelt, ein Eingewickelt­ sein in Schleier, aber trotz des Traums und der Verträumtheit ist in mir drin alles von beinahe mathematischer Klarheit. Und nun wirklich gute Nacht. Sonntagmorgen [14. Dezember 1941], 9 Uhr. Schon wieder die kleine Lampe und draußen noch fast dunkel. Bleibt das so? Ich gleite wie ein schmales Schiff durch den grauen Ozean der Ewig­ keit. Am Dienstagabend in seinem Kurs, als gerade die Rede von Hirten war, die oft magnetische Kräfte in sich tragen, auch verständlich, da die Urkraft noch nicht getrübt ist, da sagte er, und da war kurz eine kleine Verzückung in seinen Augen: «O ja, Hirten, aber die leben doch ganz in der Natur, sind ganz nah verbunden mit der Natur», und seine Augen strömten dann durch die uralte, furchige Landschaft seines Gesichts wie ein paar kristallklare Gebirgsbächlein. Gestern Abend, kurz vor dem Zubettgehen, kniete ich auf einmal mit­ ten in diesem großen Zimmer zwischen den Stahlstühlen auf dem hellen Binsenteppich. So ganz von allein. Zu Boden gezwungen durch etwas, das stärker war als ich selbst. Vor einiger Zeit sagte ich zu mir selbst: Ich übe mich im Knien. Ich genierte mich noch zu stark wegen dieser Gebärde, die genauso intim ist wie die Gebärden der Liebe, über die man auch nicht sprechen kann, wenn man kein Dichter ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich Gott in mir habe, sagte ein­ mal ein Patient zu S., z. B. wenn ich die Matthäus-Passion18 höre. Und S. antwortete ungefähr wie folgt: In solchen Augenblicken habe er eine absolute Verbundenheit mit den in jedem Menschen wirksamen schöpferischen und kosmischen Kräften. – Und das Schöpferische sei doch schließlich ein Teil von Gott, man müßte nur den Mut haben, das auch auszusprechen.

Diese Worte begleiten mich schon wochenlang: Man muss auch den

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Mut haben, es auszusprechen. Den Mut haben, Gottes Namen auszuspre­ chen. S. sagte mir einmal, dass es sehr lange gedauert hatte, bis er sich traute, Gottes Namen auszusprechen. Gerade so, als ob er es noch immer als etwas Lächerliches empfunden hätte. Obwohl er doch gläubig war. Und abends bete ich auch, ich bete für Menschen. Und ich fragte, unverschämt und kaltschnäuzig wie immer, da ich nun einmal alles wissen will: «Was beten Sie denn?» Und dann überkam ihn eine gewisse Schüchternheit und dieser Mann, der auf meine subtilsten und intimsten Fragen immer eine glasklare und deutliche Antwort parat hat, sagte ganz verlegen: «Das sage ich Ihnen nicht. Jetzt noch nicht. Später.»

Ich frage mich, wie es kommt, dass dieser Krieg und alles, was damit zusammenhängt, mich so wenig berührt. Vielleicht weil es mein zweiter Weltkrieg ist? Den ersten habe ich in der Nachkriegsliteratur erlebt, heftig und intensiv. Rebellion, Abneigung, Leidenschaft, Debatte, soziale Ge­ rechtigkeit, Klassenkampf usw. usw., das alles haben wir schon einmal durchgemacht. Ein zweites Mal von Neuem zu beginnen, das geht nicht. Es wird klischeehaft. Wieder betet jedes Land für seinen eigenen gerech­ ten Sieg, wieder gibt es die vielen Parolen, aber jetzt, da wir das zum zwei­ ten Mal erleben, ist es zu lächerlich und zu geschmacklos, sich darüber aufzuregen oder in Leidenschaft zu geraten. Ich sagte gestern Abend mit­ ten in einem Gespräch zu dem 21-jährigen Hans: «Das rührt daher, dass die Politik doch nicht das Wichtigste in deinem Leben ist.» Und er: «Man muss nicht den ganzen Tag darüber sprechen, aber es ist schon das Wich­ tigste.» Zwischen seinen 21 und meinen 27 Jahren liegt doch schon eine ganze Generation. Es ist nun halb 10 Uhr morgens, Han liegt weit hinter mir im dämme­ rigen Zimmer und schnarcht leise und vertraut. Der graue, lautlose Sonn­ tagmorgen ist damit beschäftigt, zu einem hellen Tag heranzuwachsen, und der Tag wird wieder zum Abend weiterwachsen und ich wachse mit. Es ist, als ob ich in diesen drei letzten Tagen einen fortwährenden Wachs­ tumsprozess von Jahren durchmachen würde. Und jetzt wieder brav und diszipliniert an die Übersetzung und die russische Grammatik. Dies noch: Innerlich bereite ich mich schon tagelang auf Jaap vor. nachmittags 2 Uhr. Auf einmal finde ich beim Katalogisieren in der Bibliothek von S. «Das 19 Stundenbuch» von Rilke!

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So paradox das auch klingen mag: S. macht die Menschen gesund, in­ dem er ihnen beibringt, das Leiden zu akzeptieren. abends halb 12. Wie findest du diesen Sturm ums Haus herum, kleines Mädchen? Aus meinem sicheren Zimmer wage ich es nicht, den Sturm aus ganzem Her­ zen zu loben, das ist dann nicht in Ordnung. Erst wenn man mitten hin­ einläuft und dem Sturm trotzt, dann darf man sagen, dass man ihn herr­ lich findet. Ich weiß schon, dass ich nicht immer innerhalb dieser sicheren und lieb gewonnenen Wände bleiben werde, und ich sehne mich auch nicht danach, aber lass mich noch ein kleines bisschen bleiben. Rilke, der in Russland war20 und immer Heimweh danach hatte! Wie reich und randvoll an innerlichen Erfahrungen war der Tag wieder, mein Gott, es ist fast unheimisch. Gute Nacht, kleine Lampe, ich schalte dich jetzt aus, bis morgen früh! Montagmorgen [15. Dezember 1941], halb 10. Plötzlich den Hals über diese schwarze Fläche gebeugt, unter der Schwere der Gedanken. Wie werde ich mich da jemals hinausschreiben können? Gestern dachte ich dies: Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Hoch­ genuss, das Leiden zu suchen, und dem Akzeptieren des Leidens. Ersteres ist ein krankhafter Masochismus, Zweiteres ist eigentlich eine gesunde ­Akzeptanz des Lebens. Wir müssen das «Leiden» auch nicht suchen, aber dort, wo es sich uns aufdrängt, dürfen wir ihm nicht aus dem Weg gehen. Und es drängt sich uns bei jedem Schritt auf und trotzdem ist das Leben schön. Man leidet am meisten, wenn man mit dem Leiden Verstecken spielt und darüber flucht. – Ich habe natürlich trotzdem ganz anders dar­ über gedacht, aber lass mich doch zumindest den Mut haben, ab und zu ein einziges Wort aufzuschreiben, vielleicht werden diese Worte später dann zu genauso vielen mangelhaften Garderobenständern, an denen ich dann die ausgereifteren Gedanken aufhängen kann. Und etwas später am Tag stoße ich bei Suarès auf Folgendes: «Der Schmerz ist nicht Ort unseres Verlangens, sondern Ort unserer Gewißheit … Ich behaupte nicht, daß wir aus dem Schmerz eine Auserwählung machen müssen. Man muß vielmehr alles nötige tun, sich von ihm zu befreien. Aber kennen muß man ihn. Der wahre Mensch ist nicht der Herr seines Schmerzes,

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Tagebücher nicht dessen Flüchtling, nicht dessen Sklave: er muß des Schmerzes Erlöser sein.»

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Und dazu gehört auch, was Walther Rathenau in «Briefe an eine Liebende» sagt: «Ich sagte Ihnen, was ich vom freiwilligen Sterben denke und will Ihnen sagen, was ich niemals aussprach; dann aber niemals mehr ein Wort hiervon reden und vernehmen. Ich selbst habe um die Zeit, als Sie geboren wurden, jahrelang den Gedanken mit mir herumgetragen, den ich jetzt verwerfen muß. Ich halte dies Ende für ein metaphysisches Unrecht, für ein Unrecht am Geiste. Es ist Mangel an Vertrauen zur ewigen Güte, Auflehnung gegen die innerste Pflicht, dem Weltgesetz zu gehorchen. Wer sich tötet, tötet; und nicht nur sich selbst, sondern ein anderes Wesen. Denn der Mensch ist keine Ein­ heit. Dieser Tod, das ist meine tiefe Überzeugung, ist keine Befreiung wie das natürliche und unverschuldete Ende. Jede Gewalt in der Welt wirkt fort, wie jede Tat. Wir sind dazu da, um vom Leiden der Welt etwas auf uns zu nehmen, indem wir unsere Brust darbieten, nicht es zu vermehren, indem wir Gewalt tun. Ich weiß, daß Sie leiden und fühle Ihr Leiden mit Ihnen. Seien Sie gütig gegen dies Leiden, es wird gegen Sie gütig sein. Durch Wünsche mehrt es sich und durch Unwillen; durch Milde schläft es ein wie ein Kind. Sie haben so viel Liebe in sich; wenden Sie alles den Menschen zu, den Kindern, den Dingen, selbst Ihnen und Ihren Schmerzen. Seien Sie nicht ein­ sam; wollen Sie es nicht sein; überwinden Sie das Hemmnis, blicken Sie ihm ins Auge; es ist nichts. Es ist nichts.»

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Viertel nach 10, Frühstückstisch, russische Übersetzungsübungen. Und so besteht dieses Leiden manchmal nur in ein bisschen Erkältung an einem kalten grauen Morgen und in einem Zahnarzt, der angerufen wer­ den muss, und in der manchmal etwas peinlichen Verwunderung, wie morgens bereits so viele schrille Laute aus den Menschen kommen kön­ nen, auch aus dir selbst. Dienstagmorgen, 9 Uhr, 16. Dezember [1941]. Gestern während eines unangenehmen Moments waren mir auf einmal die letzten paar Tage äußerst fremd geworden, vor allem der Sonntag.

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Diese Tage erschienen auf einmal so unwirklich. Aber auf einmal sah ich den Sonntag vor mir. Es war ein Tag, der wie ein ruhiges und majestä­ tisches Schiff durch das Jahr der Tage fuhr. Von diesen vielen Tagen löste sich dieser eine Tag los und verdichtete sich zu einem Bild: ein Schiff, das da so verträumt und doch so bestimmt über den grauen Ozean der Zeit hinwegfuhr. Und auch kurz das Bild eines ruhigen Schwans auf einem dunklen Teich. Und durch diese Bilder wurde dieser Tag auf einmal wie­ der etwas Reales und er war nicht mehr unwirklich und ich konnte ihn in mir selbst aufnehmen, wo er nun seinen unverzichtbaren Platz hat. Und dies wird stets gewisser für mich: Eine Gedichtzeile ist eine ge­ nauso große Realität wie ein Käse-Bezugsschein23 oder Frostbeulen an den Füßen. Sie ist genauso wirklich. Dadurch, dass wir unsere dichterischen, verträumten und kreativen Momente im kühlen Licht des Tages oft als unwirklich empfinden, schließen wir manchmal zu viel aus dem Bereich unserer Persönlichkeit aus. Und wir leiden an innerer Zerrissenheit, die gar nicht nötig wäre, wenn wir den Bereich so vergrößerten, dass alles ­darin einen Platz fände. Jesses, was für ein belangloses Geschwafel. Jaap sagte einmal sehr ironisch und ein wenig herablassend während eines Gesprächs über unsere Zeit zu mir: «Na ja, aber du lebst auch in ­einem Buch.» Ich hätte darauf natürlich sagen müssen: «Ein Buch ist doch sicherlich eine genauso große Realität wie ein Flugzeug? Und wie verarbei­ test du denn die Bücher, die du liest? Wo versteckst du denn all deine tie­ feren und innerlichen Erfahrungen, von denen ich doch weiß, dass du sie hast? Du willst sie nicht anerkennen, weil sie in einem krassen Gegensatz zu der sogenannten knallharten Realität stehen. Aber dadurch, dass du dich nicht traust, die irrationaleren Momente deines Lebens einzugeste­ hen, weil du diese nicht als gleich große Realität in deinem Leben an­ erkennen willst wie diese Menge an dürftigen Fakten, unter denen du das ‹wirkliche Leben› verstehst, verarmt deine Person und du machst sie lang­ weilig. Du baust einen Gitterzaun um ein nacktes und ärmliches Zent­ rum, und außerhalb und dagegen flattern – ja, sagen wir mangels eines besseren Wortes vorläufig mal noch – deine irrationalen Momente, denen du jedoch nicht loyal und ehrlich Zutritt verschaffst. Und dadurch entsteht manchmal in deinem äußerst beherrschten Ge­ sicht auf einmal eine Verlegenheit, eine Schüchternheit und Unsicherheit, die mich mit enormem Mitleid erfüllen. Etwas sehr Bedauernswertes.» Und das ist noch immer meine Weisheit der letzten Zeit: Eine Zeile von Rilke ist eine genauso große Realität wie ein Käse-Bezugsschein.

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Kurz etwas aus Maurice Betz: Im August 1902 quartierte sich Rilke zum ersten Mal in einem Hotel­ zimmer im Quartier Latin ein, «und seine ersten Briefe verraten die Kraft und Bewegtheit der Gefühle, die ihn bestürmten.»

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Und dann war es dieses Satzfragment, das mir auf einmal Räume er­ öffnete und das mich gestern den ganzen Tag über begleitete: «Nach der Unermeßlichkeit des russischen Lebens stand er nun einer an­ deren Unermeßlichkeit gegenüber, die aus Gesichtern …

Nach dem Krieg26 kam Rilke wieder nach Paris.

usw. … bestand.»25

«Er kam allein und wollte in einem unbekannten Hotel ‹ganz von vorn wie­ der mit Paris anfangen›, ähnlich dem jungen Menschen, der achtzehn Jahre vor­ her sich in einem möblierten Zimmer in der Rue Toullier niedergelassen und dort Paris erlebt hatte, wie man eine Lehrzeit durchmacht oder eine Krankheit.»

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Und bevor dieser Russisch lernende Backfisch gleich kommt, muss dies auch noch kurz aufgeschrieben werden: Ich fand es in dem Brief der «Pfle­ 28 gerin aus Velp», der auf seinem Schreibtisch herumlag. Sturm ehrlicher Entrüstung. Keine Eifersucht. Patientinnen, die sich ihm anvertrauen. Mit ihm darüber sprechen. Vielleicht alles ganz anders. «Ich komme doch lieber nicht mehr. Es ist nichts Unangenehmes hän­ gen geblieben. Ich finde es einfach nur schade und es hat mich enttäuscht.» Es «hat mich damals auch enttäuscht», aber er hat doch wirklich keine Zeit, um mit all seinen Patientinnen, an denen er sich vergreift,29 solche Freundschaften zu schließen, durch die sie auf Dauer verstehen, wie unbe­ deutend eigentlich dieser sinnliche Moment war. Und er als 55-jähriger Mann, der nun sagt: «Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit,30 aber man muß doch erst alles erlebt haben», kann doch nicht von jungen Frauen, die doch alle sehr viele Probleme haben und die ihm ihre Seele und Träume und alles anvertrauen, verlangen, dass sie sich auch schon in diesem Sta­ dium befinden oder dass sie ihn einfach nur verstehen. Es ist seine Pflicht, sich gegenüber seinen Patientinnen zu beherrschen. Ich muss wirklich mit ihm darüber sprechen, es stört mich, nicht wegen mir selbst jetzt, sondern wegen seiner Arbeit. abends. Gestehe dir jetzt einfach ein, dass du müde bist. Man kann es auch sehr kurz machen. In einem kleinen Gedicht von Rilke Dostojewskis Idee des «Groß-Inquisitors» wiedergefunden.

8. Dezember 1941–25. Januar 1942 Gerüchte gehn, die dich vermuten, und Zweifel gehn, die dich verwischen. Die Trägen und die Träumerischen mißtrauen ihren eignen Gluten und wollen, daß die Berge bluten, denn eher glauben sie dich nicht. Du aber senkst dein Angesicht. Du könntest den Bergen die Adern aufschneiden als Zeichen eines großen Gerichts; aber dir liegt nichts an den Heiden.31

Und jetzt kehre ich wieder zu Suarès zurück: «Von Heiterkeit ist nicht ein Schatten in dem großen Russen. Die unge­ heure und schmerzliche Komik bei Dostojewski greift ans Herz. Lebedew, Mar­ meladow, der alte Karamasow

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und viele andere noch von unvergleich­licher

Fülle, an Falstaff erinnernd. Diese Fülle kommt aus der Liebe, wie alles andere.»

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Stefan Zweig,34 der Mann der viel zu vielen Worte, die dadurch abgegrif­ fen werden. Aus seiner Rede «Abschied von Rilke» kurz ein paar Worte: «Er ist in Rußland gewesen, damit die Glocken des Kremls tönten in sein Gedicht, er hat in die Augen Tolstois geblickt, um von diesem schauenden Blau zu wissen, durch das tausende Bilder von Menschen und Geschicken gin­ gen.»

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Um kurz auf du Perrons «Land van Herkomst»36 zurückzukommen: Eigentlich finde ich es ein kindisches Buch. [Das Herkunftsland: Eigentlich finde ich es ein ekelhaftes Buch. Als eine Psychoanalyse von sich selbst kann so etwas zum Teil funktionieren, man quält und quält sich und kommt doch nicht auf den Grund der Dinge. Insofern wird diese Selbstverantwortung nicht vollständig wahrgenom­ men und scheitert deshalb. Und es zählt nicht zur Literatur. Hier gibt es eine Ehrlichkeit, die jedoch nicht den Mut zur Literatur hat, aus einer Art falscher Scham heraus. Einerseits keine Scham, beinahe eine Schamlosigkeit bei der Selbstana­ lyse. Andererseits doch Scham – Gott bewahre –, das geringste Gefühl zu zeigen. Und das ist wahrscheinlich wiederum eine Reaktion auf die pathe­ tischen Schlagworte dieser Zeit. Aber durch diese heftige Reaktion darauf

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ist er wieder einem anderen Extremismus verfallen und schießt deshalb auch wieder über das Ziel der wahren Menschlichkeit hinaus.] Und der ganze Rest ist noch zu schwierig. Es ist eine Woche her, seit das ungeborene Kind nach viel warmem Wasser zur Welt kam. Es scheinen Jahre zu sein. Es ist, als ob nach diesem Sonntag in Utrecht37 ein neuer Wachstumsprozess mit unterirdischer Kraft in mir begonnen hätte. Und es ist, als ob dieser schon seit Jahren liefe. In der übergroßen Müdigkeit auch deine innere Disziplin bewahren. Mittwochmorgen [17. Dezember 1941], Viertel nach 8. Ich bin auf einmal wieder von einem Bild erlöst worden. Ich meine Fol­ gendes: Heute Morgen beim Erwachen die fürchterlichsten Unlustgefühle, müde, Traumfragmente, die zwar noch herumgeisterten, aber nicht greif­ bar waren, in meinem Kopf blockiert, Widerwille gegen den Tag. Und das ist an sich nicht so schlimm, das Quälendste ist vielmehr eigentlich immer das Bedürfnis zu analysieren, woher diese Unlust stammt, und wenn man damit beginnt, landet man in einem Irrgarten. Früher ließ ich mich gleich von dieser Unlust besiegen. Stand dann lieber gar nicht erst auf, deser­ tierte dann bloß gleich von dem Leben. Nun aber doch mit Heldenmut unter den kalten Hahn, immerfort ergründend: Was ist denn los, wo kommt das her? Und auf einmal ein Bild oder wie man das auch immer nennen möchte: Während des Waschens sagte ich zu mir selbst: So, jetzt bist du wieder einmal in einen Tag «hinein­ geboren». Es war wahrlich eine schwere Geburt diesmal aus dem sicheren, dunklen Schoß der Nacht in den feindseligen, grauen Tag. Zuerst sagte ich: der warme Bauch der Nacht. Aber das stieß mich wegen einer zu ­großen Körperlichkeit ab. Und dadurch wurde ich auf einmal von dieser undeutlichen Unlust befreit, so wie vor einigen Tagen dieses Bild von die­ sem Sonntag, der wie ein Schiff durch mein Jahr voller Tage fuhr, mich von einer Art Zerrissenwerden und Zerstreutheit verschonte. Und ich finde es interessant festzustellen, dass durch das Analysieren und Grübeln, woher diese Unlust kommt, mir noch viel elender zumute ist, aber dann plötzlich ein dichterisches Bild: Der weite, sichere Schoß der Nacht, aus dem ich, mich sträubend, in den Tag geboren werde, befreit mich. Was nun übrig geblieben ist von der Unlust, ist rein körperlich: eine

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beginnende Erkältung, Müdigkeit und ein wenig Magenschmerzen. Aber das ist jetzt nichts. Was viel schlimmer ist, ist die psychische Unlust, die in diesem Bild eingefangen wurde und verschwunden ist. Eine Art chemi­ scher Reinigungsprozess, sehr interessant, dies einmal so bewusst festge­ stellt zu haben. Und nun schleunigst frühstücken. Hilf mir, daran zu den­ ken, dass ich hier auch über die «Befreiung» bei den Glasmalereifenstern38 während dieser Strafrechtsvorlesung schreibe. abends. Ruth erhält Geschenke von Theater-Fans in einer kleinen deutschen Klein­ stadt, und Hertha erhält welche von Prostituierten in einem Bücherkiosk in einem Londoner Park. Der blonde Operettenstar ist 22 Jahre alt und das melancholische schwarzhaarige Mädchen ist 25, Letztere ist die zu­ künftige Mutter der Ersteren. Und die richtige Mutter ist mit einem 25-jährigen Mann «verlobt»39 und ist doch selbst schon 50. Und der ExMann, der Vater und der zukünftige Ehemann, lebt in zwei kleinen Zim­ mern in Amsterdam, liest die Bibel und muss sich jeden Tag rasieren und die vielen Frauenbrüste um ihn herum sind genauso zahlreich wie die vie­ len Früchte in einem üppigen Obstgarten, nach denen er seine begierige Pranke nur ausstrecken muss. Und die «russische Sekretärin» versucht sich ein Bild von alledem zu machen. Es wächst eine Freundschaft heran, die ihre Wurzeln immer weiter in ihrem ruhelosen Herzen schlägt, sie sagt noch immer «Sie», aber dies stellt vielleicht jedes Mal wieder den richtigen Abstand her, um den Überblick über das Ganze zu behalten. Das alberne und leidenschaftliche Gefühl, in ihm «aufgehen» zu wollen, hat sich schon lange zurückgezogen, es ist «vernünftig» geworden. «Aufgehen» in einem Menschen ist aus meinem Leben verschwunden, übrig geblieben ist viel­ leicht ein «Aufgehen»-Wollen in Gott oder in einem Gedicht. Die große Hirnschale der Menschheit. Das mächtige Gehirn der Mensch­ heit und das große Herz der Menschheit. Alle Gedanken, wie gegensätz­ lich sie auch sein mögen, stammen doch aus diesem einen großen Hirn: aus dem Hirn der Menschheit, der ganzen Menschheit. Ich empfinde es als ein einziges großes Ganzes und vielleicht deshalb doch ab und zu dieses große Gefühl der Harmonie und des Friedens, trotz der vielen Widersprü­ che. Man muss alle Gedanken kennen und alle Emotionen selbst empfun­ den haben, um zu wissen, was alles in dieser unermesslichen Hirnschale ausgebrütet worden und was durch das große Herz gegangen ist.

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Und so ist dein Leben ein Fortschreiten von einem Erlösungsmoment zum nächsten. Und ich werde meine Erlösung vielleicht öfters in einem schlechten Prosaausschnitt suchen müssen, so wie ein Mann in höchster Not manchmal in einer – wie man es treffend nennt – «Hure», weil man manchmal nach Erlösung schreit, egal wie diese aussehen mag. Und jetzt möchte ich zum Schluss, um 11 Uhr, noch kurz feststellen, dass diese Unlust und Müdigkeit nach diesem chemischen Prozess von heute Morgen verschwunden sind und dass ich, vor allem heute Abend, konzentrierter denn je gearbeitet habe. Und jetzt ziehe ich mich auf das Gebiet zurück, das ich früher einst «den breiten Zufluchtsort der Liebe» genannt habe, die blau bezogene Zweipersonen-Couch, und Betz kommt noch eine Weile mit und ach ja, ansonsten ist das Leben doch etwas sehr Sonderbares. Donnerstagmorgen [18. Dezember 1941], 9¼. S. hat einen Drohbrief40 vom Verlobten seiner Frau erhalten, und ich schwinge mich wieder einmal aufs Fahrrad, um ihn abzutippen. König, hörst Du wie mein Saitenspiel Fernen wirft, durch die wir uns bewegen?

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Soeben diesen Brief fertig abgetippt. Ein Stück weit Mentalität dieser Zeit, die wie ein schmaler, stinkender Abwasserkanal durch sein Leben läuft. Und die doch auch irgendwie einen Ursprung bei ihm selbst hat. Er sagte unter anderem diesbezüglich: «Mit was für Sachen man sich noch abgeben muß, nicht? Doch toll! Über­

Aber alles hat seinen Grund und nichts ist überflüssig und alle Reaktionen, die man manchmal hervorgerufen hat, fallen wieder irgend­ wann auf einen selbst zurück, und kein Wort und keine Gebärde geht verloren – und jetzt zum Zahnarzt. flüssig.»

Der Morgen erschien so durchsichtig klar. Oder rührte das daher, dass wieder so eine große Klarheit in mir herrschte? Freitagmorgen [19. Dezember 1941], halb 10. Manchmal laufen Prosasätze in mir herum, aufrecht und beinahe erwach­ sen, aber wohin sie spazieren, weiß der Himmel. Ruhig jetzt.

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Warum stecke ich in dieses Tagebuch jetzt genau diesen geschmack­ losen Brief von gestern, kannst du mir das erklären? Manchmal bekomme ich auf einmal diesen fiebrigen Drang: Ich muss Informationen über ihn sammeln, Material anhäufen. Hunderte von Gebärden, Worten und klei­ nen Ereignissen, die nun zum Greifen nahe liegen. Werde ich mich später noch daran erinnern? Ich kann doch sicher für kleine Garderobenständer sorgen. Aber das wird doch nie was. Und gestern hatte ich wieder einmal so einen Moment. Und da tauchte ausgerechnet dieser Brief auf. – Gestern Nachmittag sagte er etwas im Sinne von: Du hast dich, glaube ich, noch stärker darüber aufgeregt als ich. «Ach, weißt du, ich denke manchmal, mein Leben ist so schön und so gut, so viele liebe, gute Menschen um mich, so viel Arbeit, ich kann so viel Gutes tun, dann muss man so ein kleines Ä ­ rgernis auch einfach mal schlucken.» «Heute immer mit der Ruhe», sagte sie leicht verärgert. Dieses Herz flatterte gestern immer wilder gegen die Gitterstäbe. Jetzt musst du dich gerade wieder im Auge behalten, sonst verlierst du wieder auf die verrück­ teste Art und Weise deine Nerven. Die «Freundin» kann ich jetzt wahrscheinlich ungefähr einordnen. Kurz dieses Stenogramm zu ihrer Frage ausschreiben, ob man durch diese «Bewußtwerdung» nicht die Spontaneität verliert. Bewußtwerdung bezieht sich natürlich nicht darauf, daß man sich in jeder einzelnen Handlung und in jedem Wort kontrolliert, sondern unter produktiver Bewußtwerdung ist zu verstehen Freimachung aller persönlichen und produk­ tiven Kräfte von Behinderungen sowohl der Vergangenheit als der Gegenwart, als da sind: Hemmungen, Minderwertigkeitskomplexe, falsche Vorstellungen usw. Hierzu ist nötig Ehrlichkeit gegen sich selber und eine Kontrolle seiner Reaktionen und Äußerungen. Diese Kontrolle soll aber nicht in der Weise ge­ schehen, daß man jede einzelne Handlung und Äußerung sofort materialistisch kontrolliert, sondern mehr in einer täglichen rückblickenden Innenschau, wo­ durch nach und nach eine Verwandlung aller dem Menschen unbewußten, hin­ dernden und negativen Kräfte vor sich geht. Ferner ist das Hauptmoment dar­ auf zu legen, daß die Kontrolle nicht stecken bleibt in einer selbstbespiegelnden, eitlen Beobachtung seiner Reaktionen, sondern daß es sich vor allen Dingen auch darauf bezieht inwiefern unsere Handlungen im Einklang stehen mit den theoretischen Erkenntnissen.

Mitstenografieren bedeutet tatsächlich nicht «schöpfen».

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Zutritt zu den Menschen erhalten wie zu einem Haus, in das man ­hineingeht und in dem man durch alle Gänge und Zimmer läuft. Aber was ist dafür erforderlich! Alles, was «Malte»42 benötigte, um ein kleines Gedicht zu schaffen. Gestern Abend Betz über Rilke: «Über F. A., einen Dichter, sagte Rilke: ‹Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre.›» Ich selbst befinde mich noch mitten im «Ungefähren»,43 beinahe im Grotesken, aber ruhig jetzt. Es befinden sich eine Menge undeutliche und schwere Gefühle in mir, aber gleichzeitig ist da ein ewiges Streben nach Konturen lateinischer Klarheit. Betz sagt dann: «Wenn er die ergiebigen Einfälle seines Unbewußten aufzunehmen wußte, so verstand er es auch, an sein Werk die lange Geduld des Handwerkers zu wenden, nachdem er von Rodin gelernt hatte, daß Liebe und Sehnsucht nach der Schönheit nichts nützen, wenn man nicht in harter Handwerksarbeit zu­ nächst die besonderen Bedingungen vorbereitet, die ihnen gestatten, sich in den Worten oder Dingen zu verkörpern.»

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Ich erinnerte mich, wie ich als junge Unschuld am Gymnasium einmal auf einen Zettel schrieb: Die Gnade muss bei ihren spärlichen Besuchen eine gut vorbereitete Technik vorfinden. Und jetzt kannst du dich endlich einmal um deinen Frühstückstisch kümmern. Viertel vor 11. Die «Filiale» des Büros ist stark mit dem Telefon beschäftigt. Die Filiale bin ich. Zu dem Stenogramm wurde gerade am Telefon noch das Fol­ gende ergänzt: «Eine das tätige und schöpferische Leben tatsächlich hemmende Psycho­ logisierung, d. h. hinter jeder Äußerung und Reaktion einen psychologischen Hintergrund oder Untergrund sehen wollen, wobei jedes ethische und mora­ lische Moment fehlt.» «In allem eine unbewußte Veranlassung sehen und dadurch den großen Zusammenhang mit dem wirklichen Leben verlieren.» «Sind nicht nur Freudianer, sondern auch Jungianer mit ihren ewigen Anima und Animus.» – usw.

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Viertel nach 11. Ich nehme wieder mit voller Fahrt Kurs. Gestern Vormittag im Wartezimmer beim Zahnarzt. Stundenbuch: Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken bis an deinen Rand dich denken und dich besitzen (nur ein Lächeln lang) Ich lese es heraus aus deinem Wort, aus der Geschichte der Gebärden, mit welchen deine Hände um das Werden sich ründeten, begrenzend, warm und weise …………………… …………………… Doch vor dem ersten Tode kam der Mord …………………… …………………… Und was sie seither stammelten, sind Stücke deines alten Namens. Der blasse Abelknabe spricht Ich glaube an alles noch nie Gesagte. Ich will meine frömmsten Gefühle befrein Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug, um jede Stunde zu weihn. Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug, um vor dir zu sein wie ein Ding …………………… …………………… Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt und will niemals blind sein oder zu alt, um dein schweres schwankendes Bild zu halten. Ich will mich entfalten. Nirgends will ich gelogen bleiben, denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. Und ich will meinen Sinn wahr vor dir. Ich will mich beschreiben wie ein Bild, das ich sah

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Tagebücher lange und nah, wie ein Wort, das ich begriff Du siehst, ich will viel. Vielleicht will ich alles: das Dunkel jedes unendlichen Falles und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel …………………… …………………… Du freust dich aller, die dich gebrauchen wie ein Gerät. Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät, in deine werdenden Tiefen zu tauchen, wo sich das Leben ruhig verrät. Wir bauen an dir mit zitternden Händen, und wir türmen Atom auf Atom. Aber wer kann dich vollenden, du Dom. Daraus, daß einer dich einmal gewollt hat, weiß ich, daß wir dich wollen dürfen …………………… …………………… …………………… Auch wenn wir nicht wollen: Gott reift.45

Und danach musste ein Backenzahn aufgebohrt werden. Aber vielleicht war ich deshalb den ganzen Tag so wild und ungestüm, durch die Wirklichkeit dieser, ja, Gedichte (das Wort «Gedicht» ist schon zu grob und zugleich abgenutzt, um diese Äußerungen zu bezeichnen) auf einem violetten Samtstuhl in einem Zahnarztwartezimmer. Es gibt nun einmal nicht mehr, als es gibt. Aber das ist schon viel. Aber darüber hinaus gibt es auch wirklich nichts mehr. Dieser windige Frühlingsnachmittag, als wir vor einigen Tagen die ­Stadionkade entlanggegangen sind, nachdem wir Kondensmilch in einer Parfümerie und Goldrenetten in einem Butter- und Käseladen gekauft

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hatten, o du historische Zeit! Ein Gespräch über Literatur oder so. Man kann nur sagen, dass man nicht viel zu lesen braucht, wenn man schon viel gelesen hat. Und dann sagte S. etwas im Sinne von: «Ist es nicht so, daß man immer wieder, wo auch in der Literatur, denselben Gedanken und

Und ich, mit einer verzweifelten Geste zu der sandi­ gen Fläche der Stadionkade:46 «Aber es ist doch auch nicht mehr da, àls da ist.» Und dies ist auch wieder eine der Lebensweisheiten der letzten Zeit. Und wenn ich in Worte fassen wollte, was ich damit genau meine, wäre wieder ziemlich viel Lebenszeit notwendig.  – Und jetzt solltest du dich auch wirklich mal an die Arbeit machen. Gefühlen begegnet?»

4 Uhr nachmittags. Der Tag galoppiert wieder davon, ich muss zusehen, dass ich ihn an den Zügeln packe. Der Umschwung der übermütigen Stimmung ist wieder im Anmarsch. Heute Abend Trude47 und Jaap. Trude bemerkte schon in den ersten zwei Minuten, dass mit meinem einen Zahn etwas nicht in Ordnung war und dass ein Knopf an meinem Pullover anders war als letztes Jahr. Dann kam Jaap, der bleich-verlegen-zynisch-erkältet mitteilte, dass sie sich heute Morgen zu sechst mit einem Patienten beschäftigt hatten, das war seine medizinische Erfahrung dieses Morgens. Wenn Trude und Jaap einander ansehen, schwebt hinter ihrem Blick immer ein Bett, und jetzt: Pack den Tag an den Zügeln! Kurz noch ein Nickerchen. Dünnere Strümpfe und ein schwarzes Samtröckchen, damit Trude zumindest ein bisschen Spaß an ihrer guten Beobachtungsgabe hat. Dann kurz meine russische Gramma­ tik und dann ein Stückchen unterwegs mit Suarès. Dabei ertappe ich mich immer wieder. Ich schreibe ein paar beliebige Dinge in dieses Heft, will es dann zumachen und in meine Schreibtisch­ schublade stecken, bleibe dann aber auf einmal ganz gefesselt sitzen. Dann habe ich auf einmal das Bedürfnis, wahnsinnig tiefgründige Dinge aufzu­ schreiben, dann greift meine linke Hand manchmal in den Raum, wie wenn sie energisch etwas aus der Luft formen wollte.  – Jetzt geh aber schlafen, du Wirbelwind! Samstagmorgen [20. Dezember 1941], 10 Uhr. Während des Abwaschens: Und plötzlich stehst du da, ganz typisch in ­einem kleinen Gedicht gespiegelt.

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Was ein Gedicht für Fräulein X bedeutet: eine verschwiegene Sünde und ein unhandlicher Luxus, mit dem sie im nüchternen Licht des Tages nichts anfangen kann und für den sie sich eigentlich schämt. S. würde sagen: weil sie noch «nicht zu sich steht». Nicht den Mut zu haben, aus dir herauszukommen wegen etwas, das außerhalb von dir ist, ist das Gleiche wie: nicht den Mut zu haben, aus dir herauszukommen wegen etwas, das in dir drin ist. Ja, du musst vor allem über «lateinische Klarheit»48 sprechen. Na ja, lass mich vorerst einfach kritzeln. Heute Morgen hingen ein paar Sterne wie glänzende Früchte in den schwarzen kahlen Ästen des Baumes vor meinem Fenster. Vincent van Gogh, der große Sonnensucher. Romain Rolland,49 der große Vermittler. Die Politiker: die Teiler und Herrscher, die Dichter: die Vermittler und Diener. Gestern Nachmittag fragte ich plötzlich diesen verrückten Alfred50 im Zahnarztstuhl: «Kapierst du, warum es so wenig jüdische Dienstmädchen gibt?» Und er auf einmal sehr bestimmt und wie auswendig gelernter Stoff: «Ja, das rührt von ihrem Minderwertigkeitsgefühl her, sie wollen nicht dienen.» Dieses «sie wollen nicht dienen» blieb bei mir, aber in einem anderen Kontext. Ich hoffe, dass ich die zwei Weihnachtsfeiertage mit dem Essen von Mutters Hühnersuppe und mit dem Lesen von Platons Apologie51 mit ­Vater verbringen kann. Gestern Nachmittag habe ich wieder auf dem hellgelben Binsenteppich gekniet (ein Teppichboden wie Kornfelder) und meinen Kopf im strahlen­ den Blau der Diwandecke verborgen, und ich habe probiert, meine Ge­ danken und Gefühle, die wie wilde Horden / Herden vor mir her und um mich herum stürmten, wieder in den abgeschlossenen Käfig meines in­ nersten Inneren hineinzulocken. Manchmal werden dort ruckweise die Türen aufgeweht – setzte sie voller Poesie ihre Vormittagsträumerei fort – und es stürmt alles nach draußen, aber man muss sich immer wieder um den eigenen Kern herum versammeln. Die ungeordnete Herde deiner Ge­ danken und Gefühle, Emotionen, Wahrnehmungen, Erfahrungen, Reak­ tionen zu hüten, sag mir mal ein gutes Wort, das all dies ausdrückt. Wie ein guter Hirt. Ich fühle mich nun wieder wie dieser gute Hirt. Und bin immer ruhiger geworden. Und ich sitze wieder, ja, ich sitze wirklich schon wieder bei dieser treuen Lampe, so unsagbar friedlich und ohne Hast. Den Pfad dieses Tages werde ich etwas gemächlicher zurücklegen und ein wenig

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Urlaub machen; das Gefühl, in den Augen und im Kopf ein kleines biss­ chen überanstrengt und überarbeitet zu sein. Du musst auch die Geduld haben, einmal etwas weniger zu tun. Stetig und beständig. Ich freue mich auf diesen Samenhändler aus Enkhuizen.52 Dieses ex­ treme Lampenfieber vor dem Unterrichten scheint nun auch zu der gro­ ßen Anzahl der besiegten Krankheiten und Zipperlein zu gehören. Ich bringe einem Mann, der später einmal aufgrund meines Unterrichts einen unbeholfenen Geschäftsbrief schreiben können wird, nur ein paar Voka­ beln und Sprachlaute bei, und doch habe ich dabei folgende Einstellung: das Aufbauen dieser slawischen Sprache, der Muttersprache meiner Mut­ ter,53 in jemand anderem. Ist das ein übertriebenes Gefühl bei so einem anspruchslosen Unterricht? Das Aufbauen einer Sprache in jemand ande­ rem. Manchmal fühle ich mich auch wie ein Zahnarzt, der einem Patien­ ten so vorsichtig wie möglich über schmerzhafte Momente hinweghilft. Das Gespräch mit Trude und Jaap war wieder mit Betten übermöb­ liert. Das heimliche Bett in ihrem Hotel. Das Bett von Ella Cahen54 und ihrem 15 Jahre jüngeren, mittlerweile rechtmäßigen Ehemann, das nach der Eheschließung auf einmal viel schmaler erschien als zuvor. Es war nun beinahe unbequem schmal. Trude fand dies wohl eine herrlich vertrau­ liche Mitteilung in diesem nüchternen und sachlichen Zionistenbüro,55 wie sie nachträglich genießend erzählte. Und dann dieses Bett von Otto und Bé,56 genauer gesagt: Es gelingt Otto schon ein Jahr lang nicht, Bé hineinzubekommen. Und dann hat Heleen einen Sohn bekommen und der heißt Jaapje.57 «O, das ist witzig», sagte Pa Han auf seine überaus trockene Art. Wieder unbändige Freude von Trude. Und dann das Bett von Mischa und seinem bedauernswerten Opfer. Ich habe den Eindruck, dass Mischa der Besitzer dieses Bettes ist und Mien streift darum herum, sie hat wech­ selnde Lagerstätten im ganzen chaotischen Haus und kann nicht mehr schlafen. Wenn ich mir noch kurz die Mühe machte, etwas nachzudenken, würden mir sicherlich noch mehr Betten aus dieser einstündigen Unter­ haltung einfallen. Und als sie mich, quasi ganz beiläufig und doch mit großem Interesse fragte: «Und, wie ist es mit Herrn S.?», schwebte in ihrem Blick auch ein Bett. Und bei einer Bemerkung über einen früheren Esperanto-Lehrer: «Die schrecklichste Sprache», na ja, ich weiß nicht mehr, was sie ganz genau sagte, aber danach sagte sie: «Ja sicher, internationale Brüderlichkeit, puh, mit Herrn Zamenhof.»58 Und dieser verächtliche Ton, mit dem das Wort «Bruderschaft» ausgesprochen wurde. Dadurch wird der globale Frieden

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mindestens noch ein paar Jahr hinausgezögert. Den Weltfrieden in sich selbst aufbauen. Seine Mitmenschen lieben, das ist noch einmal etwas an­ deres als miteinander in einem Bett liegen. Stell dir vor, ich würde ihnen so etwas sagen. Sie würden mir mit einer sadistischen Erzählung über ein Konzentrationslager antworten und triumphierend sagen: «Wo bleibt jetzt deine Menschenliebe?» Und ich erinnere mich tatsächlich noch an Jaaps schwache Bemer­ kung: «Na ja, das ist nur eine ethische Plauderei.» Damals war ich darüber etwas verärgert und jetzt bin ich nur noch ein wenig verwundert und frage mich: Aber ihr Menschen, ihr armen, nackten, beraubten Racker, wie lebt ihr denn eigentlich? Ich bin einst der konventionellen Auffassung aufgesessen, dass ich «die besten Jahre meines Lebens» mit einem alten Mann verbrachte und dass ich mich dadurch der Möglichkeit beraubte, den richtigen Lebenspartner zu finden. Und jetzt weiß ich: Jedes Jahr deines Lebens kann dein bestes sein. Ein paar Worte, die S. – schon vor langer Zeit – aus seinem schweren Mund herausrutschten, erstaunt und gutherzig: «Jedes Jahr kann das beste sein.» Und da war auf einmal wieder ein Bann gebrochen, der über meiner Existenz lag. Bislang war meine Lektüre eigentlich nur ein fortwährendes Erkennen meiner eigenen Momente. Und so hast du versucht, dein eigenes Bild zu­ sammenzufügen. Wie wenn ein Bild in tausend Scherben eines Spiegels eingefangen wird. Aber allmählich will ich auch zurückspiegeln – zurück­ spiegeln: was für eine widerliche Lautkombination. Das ist womöglich doch das Wesentliche einer Freundschaft: das ge­ genseitige Widerspiegeln. Und in der Freundschaft mit S. wird dies zum ersten Mal zu etwas Bewusstem. Sonntagmorgen [21. Dezember 1941], halb 10. «Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug.» «und dich besitzen (nur ein Lächeln lang)» «Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt.» «Wer seines Lebens viele Widersinne versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt»

8. Dezember 1941–25. Januar 1942 «Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum. Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille» «Mein Leben ist nicht diese steile Stunde, darin du mich so eilen siehst.»

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––––––––––– Gestern Abend brachte ich kurz diese Freud’sche Studie von Münsterber­ ger über Rilke zur Sprache. Und ich auf einmal fast wütend: «Ich verstehe eigentlich nicht, was der Witz daran ist, Rilke eine ausführliche Studie zu widmen und dabei zum Schluss zu kommen, dass er homoerotisch war. So kann man doch nicht an ihn herangehen, oder? Usw. usw. Und S.: «Es ist natürlich eine Folge der eigenen Unbefriedigtheit durch die materialistische und rationalistische Einstellung, die, um die eigene Existenz rechtfertigen zu können, nun alles ebenso zu materialisieren sucht, also alles ‹entschöpferischt›; es wird alles materialisiert und eigentlich alles Schöpfe­ rische auf den materialisierten Nenner zurückgeführt. Es findet eine Entnüchte­ rung und Disqualifizierung des Dichters statt. Sie wollen solche Leute wie Rilke disqualifizieren, weil er einfach nicht in ihr Weltbild paßt.»

Es wächst in letzter Zeit sehr langsam so eine «Zuversicht» in mir heran, eine wirklich große Zuversicht. Ein Gefühl der Geborgenheit in deiner Hand, mein Gott. Ich bin nicht mehr so oft von dieser tiefen Unterströ­ mung in mir abgeschnitten. Und wenn ich ausgelassen und übermütig bin, dann ist das nicht unnatürlich oder zügellos, sondern es basiert auf der Gewissheit dieser Unterströmung. Ich stoße mich auch nicht mehr ständig an den spitzen Ecken des Tages. So, wie man einen Menschen nicht mit bestimmten und vorgefertig­ ten Meinungen studieren darf, so darf man auch kein Buch, keinen Tag, keine Mahlzeit oder was auch immer studieren. Wenn ich diesen Sonntag mit der Erinnerung an den letzten und mit der Vorstellung angehe, dass es wieder ein genauso herrlicher Sonntag werden muss, dann wird dieser Tag ganz sicher scheitern. Dann tue ich diesem Tag schon von vornherein un­ recht, wenn ich ihn durch bestimmte Vorstellungen meinerseits fixiere. Und dann gebe ich diesem Tag nicht die Chance, sich seiner Anlage ge­ mäß zu entfalten. Und sehr langsam lerne ich das und dadurch werde ich immer befreiter: nichts an seinem Wachstum hindern; sei es nun ein Mensch oder ein Tag oder ein Buch oder Gott selbst, oder ich selbst. Vom

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Behindern muss jedoch das formende Eingreifen unterschieden werden. Sich formend zur Wehr setzen. Gestern Morgen: Am Ende des Tages winkten die zwei kleinen Zim­ mer. Sie winkten wie ein sicheres Hafenfeuer in der Ferne. Mehr nicht. Und gestern Abend war ich wieder dort: Seid gegrüßt ihr schönen Räume. Am Ende des Abends: «Es ist doch gut, daß ich zu dir gekommen bin.» – «Wann?» – «Nicht heute abend, aber damals schon.» – Und er: «Es ist schön. Ob es gut ist weiß ich nicht, jedenfalls ist es schön.»

und es ist auch gut – Wenn ich bedenke, was ich in meinem Leben noch alles studieren will, studieren und erforschen, um Zusammenhänge, die ich überall vage ver­ mute, auskristallisiert zu sehen und auf Dauer in eine eigene Form fassen zu können, dann wiederhole ich ab und zu für mich selbst diese Worte: stetig, beständig, geduldig. «Sie, russisches Zigeunermädchen». Verrückt, das bin ich auch. «Sie ori­ ginelles Biest.» So empfinde ich mich überhaupt nicht. Und während des Annähens eines Knopfs: «Ich muß Sie etwas fragen.» Und nach sehr langem Drängen von seiner Seite stellte ich endlich meine Frage: «Knien Sie auch?» Ich kann dies noch überhaupt nicht aufschreiben. Später. Und Gott: «Wie ist Ihre Verdauung die letzte Zeit?» Über einen Autor (könnte es Tolstoi gewesen sein?): der realistische Beschreiber des Seelenlebens, der Mathematiker der seelischen Regungen (im Zusammenhang mit «Kindheit»60 usw.). Und ein anderer Autor (Dos­ tojewski): der mystische Beschreiber eines Stuhlbeins beispielsweise. Erste­ rer beschreibt von außen nach innen, Letzterer von innen nach außen. Beim einen wird die Seele zu etwas Greifbarem, beim anderen ein Stuhl zu etwas Unfassbarem. Der Realist des Unfassbaren. Der Mystiker des Greif­ baren. Na gut, jetzt mach dich aber an die Arbeit. Han fragt gerade, ein bisschen ironisch: Hast du den «Ich-Zustand» schon in dein Tagebuch aufgenommen? Und ich: «Das hat gewiss nichts mit ‹Ich› zu tun.» Und er: «Hihi.»

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Montagnachmittag [22. Dezember 1941], 5 Uhr. Sein intimes Verhalten in Bezug auf Frauen kenne ich, und nun würde ich gerne auch noch dies kennen: die Art und Weise, wie er mit Gott umgeht. Er betet jeden Abend. Kniet er mitten in diesem kleinen Zimmer? Und versteckt er seinen schweren Kopf hinter diesen großen, guten Händen? Und was sagt er dann? Und kniet er sich hin, bevor er sein Gebiss aus dem Mund genommen hat oder danach? Damals in Arnhem: «Ich werde Ihnen mal zeigen wie ich aussehe ohne Zähne. Dann sehe ich so alt und so ‹wissend› aus.» «Von dem Mädchen, das nicht knien konnte». Heute Morgen, im grauen Dämmerlicht, in einer Anwandlung der Unzufriedenheit, fand ich mich selbst auf einmal auf dem Boden wieder, ich kniete zwischen Hans ab­ gezogenem Bett und meiner Schreibmaschine, zusammengekauert, mein Kopf auf dem Boden. Eine Gebärde vielleicht, mit der man Frieden er­ zwingen will. Und als Han hereinkam und ein wenig erstaunt die Szene betrachtete, sagte ich, dass ich einen Knopf suchte. Aber Letzteres ist nicht wahr. Und Tideman, die energische, rothaarige 35-jährige Frau, sagte mit heller und klarer Stimme an diesem besagten Abend: «Ja, siehst du, dies­ bezüglich bin ich wie ein Kind, wenn ich Schwierigkeiten habe, knie ich mitten in meinem Zimmer und frage Gott, was ich tun soll.» Sie küsst wie ein kindischer Backfisch, S. hat es mir einmal vorgeführt, aber ihr Verhal­ ten gegenüber Gott ist reif und sicher.

Viele Menschen sind in ihren Vorstellungen zu stark festgelegt, zu fixiert, und legen deshalb bei ihrer Erziehung ihre Kinder auch wieder fest. Daher zu wenig Bewegungsfreiheit. Bei uns war es gerade umgekehrt. Es scheint mir, dass meine Eltern von der endlosen Kompliziertheit dieses Lebens überwältigt waren und es auch immer mehr werden und dass sie nie dazu in der Lage waren, eine Entscheidung zu treffen. Ihren Kindern ließen sie eine zu große Bewegungsfreiheit, sie konnten ihnen keinen Halt geben, weil sie selbst nie Halt gefunden haben, und sie konnten nie zu unserer Formung beitragen, weil sie selbst niemals eine Form finden konnten. Und stets aufs Neue und immer deutlicher erkenne ich unsere Aufgabe: ihren armen, umherschweifenden, nicht zu einer Form und nicht zur Ruhe gelangten Talenten die Gelegenheit zu bieten, sich in uns zu ent­ wickeln und zu reifen und ihre Form zu finden. Als Reaktion auf ihre Ungeformtheit, die nicht Großzügigkeit ist, son­

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dern Schlampigkeit und Unsicherheit, schlechte Verwaltung «sozusagen», vielleicht manchmal ein – wenn auch in letzter Zeit nicht mehr so starkes – krampfhaftes Streben nach Einheit, Rahmen, System. Aber die einzig gute Einheit ist diejenige, die alle Gegensätze und irrationalen Momente in sich einschließt, sonst ist es wieder eine Verkrampftheit und eine Fixiert­ heit, die dem Leben Gewalt antut. «Wer seines Lebens viele Wiedersinne versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt»

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Woher stammt denn dieses doofe überanstrengte Gefühl in meinem Kopf, wie wenn ich tagelang schlafen wollte? Und doch zu unruhig, um zu schlafen. Ich glaube, dass dies nun ein rein körperliches Problem ist, stän­ dig aufkommende Grippen, die ich jedes Mal mit Erfolg abwehre. Aber meine Augen sind so übermüdet und mein Kopf ist sehr angespannt. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie er manchmal mit ein paar Zügen die Fundamente des Wesens einer Person freilegt. Und diese liegen dann da, objektiv und ohne viel Geheimnisvolles. Ich will ihm darin nicht immer folgen, weil ich manchmal mehr ein dichterisches Vergnügen darin finde, ein wenig in den Gängen und manchmal in den verschwommenen Vor­ hallen des Inneren einer Person umherzuirren. Heute Morgen während des Einkaufens in der Kalverstraat. Im Nieselregen mit einer merkwürdigen Baskenmütze sieht man anders aus als mit einem blassen Conrad-VeidtProfil62 über einem dunkelblauen Hemd neben einer kleinen Schirmlampe. Aber man soll, «soll», sich nicht jemandem am Tag mit einem Bild in seiner Fantasie nähern, wie er in der Nacht war. Lass die Nacht Nacht und den Tag Tag sein, und behandle den einen nicht ungerecht aufgrund der Erinnerung an die andere, und lass jeden Moment einer Freundschaft sich in seinem ­eigenen Potenzial entfalten, statt ihn in seiner Entwicklung durch die Erin­ nerung an einen anderen Moment zu vergleichen, abzuwerten und zu hem­ men. Also die Kalverstraat im Nieselregen. Ein wenig über Hesje63 geredet. Hesje mit ihren strohblonden Haaren und dem frischen Teint und dem jü­ dischen Profil. Eine verführerische Mischung aus mondäner Frau und tüch­ tiger Bauerntochter. Die in einer Kneipe in der Stadt sich und anderen er­ zählt, dass sie auf einer Farm in Kanada leben und 12 Kinder haben will, und die sich, wenn sie dann wirklich in der freien Natur ist, in der Pampa in einer Jugendherberge porträtieren lässt und auf dem Gemälde wie eine mondäne Frau aussieht. Und jetzt muss ich Sauerkraut essen.

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Dienstagmorgen [23. Dezember 1941], gegen 12. Es ist jetzt, glaube ich, wieder Ebbe. Wenn es früher Ebbe war, lief ich wie eine wahnsinnige Idiotin den Strand entlang und verlangte, dass sofort die Flut wieder steigen solle. Der Höhepunkt der Flut war womöglich am Samstagabend. Die Flut ist sehr langsam angeschwollen und nun ebben die – ja was eigentlich? – wieder langsam zurück, um sich auszuruhen und Kräfte für einen neuen Anlauf zu sammeln. Und das ist gut so. Ebbe und Flut. In einer Freundschaft ist das auch so und man muss ein Gefühl für den Rhythmus entwickeln. Gestern Abend Suarès fertig abgetippt. Und auf verschiedenen Seiten fand ich ihn lebensgroß vor und fühlte mich sehr nah mit ihm verbunden. Aber gleichzeitig todmüde und überempfindlich gegen äußere Reize. Dann kurz dieses sachliche, nüchterne, ganz neutrale Telefonat mit ihm. Er wahrscheinlich auch müde, von irgendetwas in An­ spruch genommen. Früher wäre das wieder einmal ein Schock gewesen. Dann hätte ich dieses neutrale Gespräch nicht gut verarbeiten können. Ich spürte dann auch einen Moment lang, wie müde und überreizt ich war, denn durch seinen extrem nüchternen Ton kam ich eine winzige Se­ kunde lang in Versuchung, unbeherrscht zu werden, zu weinen oder etwas in dieser Art. Aber ich habe mich in einer einzigen winzigen Sekunde er­ holt und mich als hysterischen Menschen beschimpft. Früher hätte ich diesen nüchternen Ton nicht in Einklang mit dem Gefühl bringen können, das ich innerlich für ihn hegte, es wäre wieder ein fürchterlicher Konflikt geworden. Doch sehr «übersteigert» alles früher. Und heute Morgen auf einmal die Eingebung: Ja, jetzt ist wieder Ebbe und das ist auch gut. Ich weiß ja, dass die Flut wiederkommt. Früher wusste ich das nicht. Zur Zeit eines Tiefs sagte er einmal: «Sie hatten sicher gedacht, das würde jetzt nie wieder kommen? Aber ich weiß, daß das immer wieder kommt.»

Es kam natürlich auch Folgendes hinzu: Ich ertrug es dann einfach nicht, dass er mir einen Moment lang weniger Aufmerksamkeit schenkte als sonst. Und das ist wieder das Gefühl mangelnden Selbstvertrauens. Wenn man fortwährend die Aufmerksamkeit und die Liebe eines anderen benötigt, um sich gut zu fühlen, um an eine Freundschaft glauben zu kön­ nen, dann stimmt da etwas nicht. Es gibt doch Ebbe und Flut? Und es ist doch vernünftig, dass das so ist? Warum dann nicht auch in den mensch­ lichen Beziehungen? Wenn man nur dem Rhythmus zuhört. Und es ist so dumm und so töricht, hier etwas erzwingen zu wollen. In den mensch­ lichen Beziehungen gelten doch auch die großen ewigen Rhythmen, man

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muss ihnen auch hier ihre Zeit lassen und geduldig sein und nichts erzwin­ gen. Und dann der bedauernswerte eigene kleine Geltungsdrang! Und das Wort «Demut» wird mir auch immer klarer, es wird immer erfahrbarer. Was mich gestern Abend bei Suarès traf: «Nietzsche ist eine gute Methode der Rebellion. Trunken von seinen Prinzi­ pien und blind zum Leben despotisiert er. Er bringt damit jenen die Disziplin bei, die keine innere Regel besitzen. Ebenso befriedigt er auch den künstle­ rischen Instinkt der Halbkünstler. Dostojewski ist der Mensch des Lebens, aber nicht nur in seinen Büchern. Und weil er der Mensch des Lebens ist, so ist seine Welt die Welt der Kraft. Jene aber, welche weder die Griechen noch die Italiener der Rénaissance, ­weder Pascal

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noch Stendhal, noch die Revolution verstanden haben, die

m ­ ögen Nietzsche lesen, der ihnen aus all dieser Größe ein Handbuch macht mit all der simplen Bequemlichkeit, die dieses Format mit sich bringt. Raskolnikow

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und alle die jungen Helden Dostojewskis wissen von sich

aus alles, was Nietzsche sie lehren kann. Aber Dostojewski rät ihnen nicht, in dieser Halb-Erkenntnis zu bleiben.»

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Und jetzt noch kurz dies: Als mir, wiederum zurück im Badezimmer, plötzlich bewusst wurde, dass in einer Freundschaft nicht immer Flut sein kann und dass man auch die Zeiten der Ebbe akzeptieren muss, und zwar als etwas Positives und Fruchtbares, da strömte auf einmal auch wieder das Leben mit ruhigerem Wellenschlag durch mich hindurch. mittags. beständig, stetig, geduldig. Wo hört die Toleranz auf und beginnt die Charakterlosigkeit? Montagmorgen, halb 10, 29. Dezember [1941]. Folgendes lehrt mich jeder Tag wieder aufs Neue: dass du offen bleiben musst, dass du dich in deinen trübsinnigen Momenten nicht verschließen darfst und dich nicht darauf fixieren darfst, mit einem Gefühl von: Das ist ein verlorener, ein trauriger Tag. Ich merke in meinem oft viel zu reichen Leben, dass es an einem Tag hundert Wendungen gibt, hundert Über­ raschungen, plötzlich eine weite Aussicht, ein Hochgenommenwerden – usw. Ich denke, dass ich mich früher öfters auf so einen Unlustmoment ­fixiert habe und dadurch längere Zeit verschlossen blieb.

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Dienstagabend. Wieder diese bleierne, tiefe Traurigkeit. Und ich wollte nicht zu Imre Ungar, wollte mich in einer Ecke meines Zimmers verkriechen, wollte nichts mehr als nur traurig sein. Ich glaube, dass ich langsam weiß, wo diese Traurigkeit herkommt: wenn ich die Form nicht finden kann. Wenn sich in meinem Gefühl und Geist nicht klar zu Bildern und Worten aus­ kristallisiert, was in mir vorgeht. Und an diesem Dienstagabend rührte die Traurigkeit, glaube ich, daher. Ich wollte S. dieses kleine Werk von Suarès geben. Und ich wollte eine Widmung dazuschreiben, eine ganz lange, in der ich all das zum Ausdruck bringen wollte, was mir während der Lektüre durch den Kopf ging und was einen Bezug zu meinem Ver­ hältnis mit ihm hatte. Aber es blieb bei dummem Zeug, bei einem Zitat aus dem Buch selbst: «Was schenke ich, wenn ich mich nicht beraube»,67 was sich darauf bezog, dass es wirklich ein kleines Opfer war, ihm dieses Büchlein zu geben. Und ich glaubte zu merken – oder vielleicht bildete ich mir das ein –, dass er nach ein paar eigenen Worten von mir suchte und dass er vielleicht auch etwas Persönliches von mir erwartet hatte – und ich fühlte mich auf einmal wieder wie eine Versagerin. Ich meine Folgendes: «Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt und will niemals blind sein oder zu alt, um dein schweres schwankendes Bild zu halten.»

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Rilke sagt das zu Gott, aber diese Zeilen haben mich im Zug und wäh­ rend dieser paar Tage in Deventer im Zusammenhang mit unserer Freund­ schaft begleitet: «um dein schweres schwankendes Bild zu halten».

Und beim Überreichen dieses Büchleins – ohne ein einziges Wort von den vielen, die ich sagen wollte – fühlte es sich an wie ein Versagen, als ob ich das schwere, schwankende Bild gerade nicht gut hielt. Und dann war da Leo Polak,69 wieder ein sanftmütiger Philosoph, in einem Konzentrationslager gestorben – ich wollte wissen, auf welche Art und Weise er gestorben war, um zu wissen, auf welche Art und Weise ich darüber traurig sein musste. Und da war noch viel mehr, durch das diese Traurigkeit wieder zu einem so großen Umfang heranwuchs, wie es sehr lange nicht mehr der Fall gewesen war. Und dann um 8 Uhr von S. zu Ungar geradelt, entlang der dunklen, breiten Fläche der Stadionkade. Und diese Traurigkeit lag wie ein tonnenschwerer Stein in mir, aber ich habe sie liebevoll in mich aufgenommen und mich für sie sperrangelweit geöffnet, und da spürte ich, dass diese Traurigkeit auch zu meinem Wesen gehört

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und ein kostbarer Bestandteil davon ist und dass man sich ihr nicht ent­ ziehen darf, wenn sie einen für einen Augenblick in Anspruch nehmen will. Und dann Ungar. Und Mischa. Über Rachmaninow70 und Beethoven. [Ungar: «Eine polnische Pianistin hat mir einmal unter 4 Augen gesagt, daß sie mir ganz aufrichtig gestehen muß, daß, wenn bei Beethoven auch das Rin­ gen ist, sie das nachfühlen kann; wo er sich aufhebt, dann ist da etwas, das sie nicht sieht, B. hebt sich da in Regionen die sie nicht sieht, die zu licht sind; es ist für sie etwas Gemachtes.» Ungar: «Ich fühle doch, daß das was B. hat, als etwas Fehlendes, das noch in der russischen Natur aufkommen muß. Sie wer­ den ja selber anerkennen, daß ein Rachmaninow mit all seiner Schwermut un­ ter keinen Umständen in der Hohheit (?) der Klassiker herankommt (?). Für die musikalischen Russen war die klassische Musik eigentlich etwas Verschlossenes.» Mischa: «Wenn ich Rachm. höre, dann denke ich zum Bei­ spiel, daß er alle Gefühle und Geistessphären (?) in seinem Spiel aufnimmt, unbewußt vielleicht aufgenommen hat, aber er bleibt Russe.» Ungar: «Das soll er auch.» M.: «Aber ich glaube, er kann das Deutsche von Beethoven auch sehr gut heraus distillieren.» Ungar: «Die Slaven sind tausendmal musika­ lischer von Geburt aus wie die Deutschen, unvergleichlich.» Mischa: «Wie ist es denn, daß Sie sagen, daß man klassische Musik dort nicht so sehr spielt?» Ung.: «Wahrscheinlich eine Frage des Reifezustandes, im Allgemeinen und doch auch im menschlichen Sinne. Ich behaupte daß Musik von Ar. Völkern auf jedem Gebiet und überall wo man sie trifft, ist tieftraurig und daß es mit der Entwicklung des Verständnisses der Kunst ist.» Kunst ist das was am meisten intuitiv und von einer höheren Sphäre zu kommen scheint, es sind ja auch noch Gedanken, die in religiösen Büchern er­ scheinen daß wie die Leute dort wenig zum Beispiel in Ägypten oder Palästina. Zu (Singen?) hat in mir so den Eindruck geweckt, daß es damit, mit der Aus­ sicht des Menschen, in höheren Sphären, die Entwicklung vor sich geht, daß Erkennen der Schönheit, die Freude am Dasein, der wilde Mensch, der nicht entwickelte Mensch, der hat seine eigene Freude am Dasein, er hat es viel ­weniger, er lebt in einer gewissen Dumpfheit, die keine richtige Freude genannt werden kann und das zeigt sich in der Musik und in der Kunst überhaupt. Ein Tanzlied der Araber in Palästina. Einige Tage in einem Kibbuz in Palästina gewohnt und man hörte die Araber die gehen auf einem Kamel ganz lange Strecken in der Wüste und darum hört man abends eine Melodie von den Ara­

8. Dezember 1941–25. Januar 1942 bern durch die Wüste gehen, man hört eine kurze Strophe und dann tritt eine lange Pause ein und dann wieder die eine Strophe und das ist so etwas Rüh­ rendes und so etwas tief trauriges, Sie müssen sich vorstellen ein sich Wieder­ holen des Motivs, aber mit großen Zwischenpausen. Es ist tief traurig und hat etwas von diesem Dumpfen, auch von dem ganz wüsten Leben hat es viel in sich, von ihrer ganzen Lebensweise und Art. Auch was wir von den Hollän­ dischen Inseln hören, finde ich tief traurig. Es ist etwas darin, was für uns ko­ misch klingt, aber wir würden nicht darum lachen können. Dieses große Strah­ len einer 7. Symphonie – wir haben auch einen Standpunkt über unsere Musik, wir suchen auch danach. Sie haben ihre Freude, aber auf ganz anderer Ebene und diese Ebene liegt tiefer als unsere.

Über Rachmaninow: Er hat das Düstere tief erlebt und das hat etwas Großes an sich; aber das Lichtere ist das, was R. nicht sieht. Eigensinnig. Ein nicht-­ getröstet-werden-wollen. Was hier echt ist, ist das Nachfühlen der großen Trauer. Aber das sich beugen vor dem Schicksal (Beethoven) ist etwas Wunder­ bares und ist ein Sieg. Das nicht-getröstet-werden-wollen. Das sich beugen vor dem Schicksal, das hat er nicht gekannt.]

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Das «nicht-getröstet-werden-wollen» – Und das «sich beugen vor dem Schick­ sal, das auch ein Sieg ist». Es gibt nichts anderes als das, was es gibt. Wir können uns daran orientie­ ren, was zu einer Form gefunden hat, was aus den tiefsten Tiefen ins Be­ wusstsein gelangt ist und dann eine Form erhalten hat. Ein paar Takte von Beethoven, in denen er wie auf einem Schlitten in den Himmel gleitet, und dann noch ein paar Takte, in denen er ganz im Himmel ist. Und dann einige monotone Klänge einer arabischen Melodie in der Wüste.72 Und Nietzsche und Dostojewski, ein Gebäude und ein kleines Gedicht. Noch am selben Abend: «Das Evangelium der Heiligen Zwölf»,73 das S. für uns abtippen ließ. «Gesegnet seien diejenigen, die lesen, hören und handeln.» Zu Weihnachten 1941, J. S. Nein, wirklich nicht: Es kann nicht aufgeschrieben werden, nicht einmal im Telegrammstil, was seit diesem Dienstagabend bis jetzt alles passiert ist.

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So eine Intensität des Lebens, von zugleich immer größer werdender Be­ wusstwerdung und innerlich tieferem Leben und der Tatsache, immer stärker vom Chaos fortgerissen zu werden und zur Form zu gelangen. Das Mädchen aus China,74 der «Muskel-Komplex».75 Mischa: «Wenn man sich nicht den Menschen anpasst, wird man doch zu den großen Verlasse­ nen gehören, auch wenn man noch so begabt ist.» Mischa über seine strohblonde «Verführerin»: «Sie schaut immer ge­ nauso, als ob sie andauernd einen achtstimmigen Chor aus dem Himmel hörte.» Sonntagabend: die 23 Telemannvariationen und die Fuge von Reger.76 Tides Brief: Ich küsse Deine Mund und streichle Dein Haar und die roten Tulpen und das Meditieren darüber und meine Verärgerung darüber. Herthas Brief. Spaziergang. Und dann plötzlich Monna Vanna in ihrer Astrachanjacke im Wert von ƒ 7.50.77 Heute Morgen S. am Telefon: «Heute nacht habe ich mir überlegt, ich werde da Mischa einen Brief schreiben.»

Dass man einen derartig Ehrfurcht gebietenden Raum in sich hat! Und jetzt mach dich aber mal an die Arbeit, ich bin dem «Idioten» lange untreu gewesen. Ich ertappe mich dabei, dass ich nie mehr sage: Wie schlecht, wie trau­ rig, wie langweilig, wie witzig, sondern: Wie interessant! abends halb 8. Einfachheit, die nur Oberflächlichkeit ist, und Einfachheit, durch alle Kompliziertheiten hindurch erlangt. Es ist wirklich nicht so einfach mit der Einfachheit. Ich habe eine Telefonnummer in China, ist das nicht ein sonderbares Ge­ fühl? Das Mädchen heißt Hedda Hammer und ist Fotografin. Oben auf dem Brief stand das Datum: 24. Aug. 1941.78 Und 1932 hat S. mit ihr ge­ sprochen, 4-mal eine Stunde lang. Nach dem zweiten Mal gerungen. Nach dem dritten Mal, wie wenn sie sich schon ihr Leben lang gekannt hätten. Ja, das kenne ich. Nach dem letzten Mal ein Brief mit Nacktfotos von ihr, kaum erotisch gemeint, vielmehr ein einziger großer Jubel, dass sie so «ge­ löst» und «gelockert» war. Seine Frau las diesen Brief, nachdem sie die Schnipsel aus dem Papierkorb zusammengeklebt hatte. Dies führte zu

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e­ inem Stoß in Richtung Scheidung. Kurz danach «Brünhilde»,79 die «AnimaFigur», das Nacktkulturmädchen, wie die russische Sonja80 in ihren nahezu verzweifelten Briefen aus Palästina schrieb. Drei Jahre möblierte Zimmer in Berlin nach der Scheidung. Dann kamen ein paar eigene Möbel, und im alten Sekretär, der nun – nachdem er zwei Jahre eingelagert war – in dem kleinen Zimmer in der Courbetstraat steht, fand er dann einen Brief, den seine eifersüchtige Frau achtlos weggeworfen hatte. Der Brief war von Hedda Hammer. Sie war inzwischen nach China gegangen. Es stellte sich heraus, dass seine Frau sich bei ihrem Vater damals beklagt hatte, dass seine Tochter ein Verhältnis mit ihrem Mann hatte. Und dann ist sie halt nach China gegangen. Sie wollte bloß weg von zu Hause. Und er schrieb ihr sofort zurück, nach drei Jahren, die Adresse war noch die gleiche. Und aus diesem großen China flattert ab und zu ein Gruß in seinen Briefkas­ ten, von diesem Mädchen, mit dem er 4-mal eine Stunde lang gesprochen hat. Das ist nun auch wieder 10 Jahre her. Es gibt Hunderte solcher Ge­ schichten in seinem Leben. Kürzlich kam auch Tee an, duftender, chine­ sischer Tee, den wir an einem unserer Musikabende tranken. Dieser Brief hat einen enormen Einfluss auf meine Fantasie. Ich werde dieses Mädchen einmal aufsuchen, es ansehen und sein Leben aufzeichnen. Manchmal habe ich so ein Gefühl: Zu dem und dem Menschen will ich gehen, ich will wissen, wie ihr Leben war, und ich werde es aufschreiben. Aber das ist natürlich Unsinn. Es gibt hier hundert Leben aufzuzeichnen und ich kann es noch lange nicht, vielleicht nie. Aber das Gefühl, der Drang, es tun zu wollen, ist real, ist schrecklich real. In schwarzen, feinen Druckbuchstaben steht am Rand, nicht über dem Brief, wie bei uns: «Hedda Hammer, Nan Chang Chieh, 15 Tung Ho Yen tel 3–2200.»* Der Brief ist getippt, ein bisschen schlampig und mit Fehlern, und viel­ leicht macht er deshalb so einen enorm lebendigen Eindruck, wie wenn er nicht wirklich aus China gekommen wäre und das Mädchen nicht bereits 10 Jahre älter geworden ist, seit es mit diesem Julius zum letzten Mal ge­ sprochen hat. Und in diesen paar Zeilen steckt der ganze Mensch. Lieber Julius, Ich möchte so gern wissen, wie es Dir geht. Schreib mir bitte einen kleinen Brief.

* Von Etty Hillesum am Rand notiert.

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Tagebücher Bei mir ist es so, daß es den Anschein gibt, als ob ich wieder aufwache. Langsam fängt mich die Fotographie wieder an zu interessieren. Ansonsten lebt man sehr still hier, gar nicht in der Öffentlichkeit. Ich ver­ diene mit der Fotographie soviel, daß ich gerade durchschlupfen kann. Zwei Freunde. In der Freizeit schwimmen, radeln, wandern. Deinetwegen habe ich an verschiedene Freunde geschrieben, aber ob sie etwas tun können ist fraglich, Du hast sehr lange gewartet Dich zu entschei­ den, wo Du Leben willst. Jetzt ist es so in der Welt, daß der Einzelne nicht über sich selbst entscheiden kann. Ein Buch von Jung und Wilhelm über taoistische Ideen hat mich in den letzten Wochen ziemlich gefesselt.

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Allmählich verliere ich auch dumme, unnötige Komplexe, wenn ich nur noch über die lähmende Passivität Herr werden könnte, sie existiert nicht so sehr nach innen als nach aussen. Arbeiten von denen keiner was weiß, gehen fein, aber die in Bezug auf andere Menschen gehen schief, so und so oft kommen mir meine eigenen Vorteile garnicht zum Bewußtsein. Es hat nicht viel Sinn darüber nachzudenken, nur das Leben und die Zeit kann da helfen oder ist es vielleicht auch ganz unnötig etwas zu ändern. Du bist aber eine meiner Sehnsüchte in Bezug auf Menschen, bitte schick mir einen Gruß.

(Und in einer sehr feinen Handschrift steht darunter gekritzelt): Viele innige Grüsse von deiner Hedda.

Vielleicht ist es tatsächlich gut, dass die letzte «Schranke» noch nicht gefallen ist, alle «Nebenschranken» sind gefallen, das ist wahr, im Geistigen sind wir gegenseitig in unsere entlegensten Gebiete vorgedrungen. Aber es wird so kommen, wie es kommen muss. Ich bin zu vielem bereit, aber ich verlange nicht mehr, als was da ist. Es ist alles gut so. Und ich glaube nicht einmal, dass es ein Sophismus ist zu sagen, dass wir beide Hertha treu sind und dass ich Han treu bin. Denn so empfinde ich es. Heute Abend: Tide bei ihm. Das ist gut. Alles ist gut, so wie es jetzt ist. Was doch in diesen wenigen Monaten für ein Prozess stattgefunden hat! So ein Frieden und so eine Toleranz. Und eine gegenseitige Bereicherung, nachdem gegen die Eifersucht angekämpft wurde. Alles in seinem Sinne. Und ohne Dissonanzen. Und es wird auch nicht geschmacklos. In den kleinen Taschenkalender, den Tide ihm zu Weihnachten geschenkt hat, schrieb sie die Worte: «Gott mit Dir». Und kurz war ich wieder irritiert,

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überall Gott, dieser familiäre Umgang mit Gott, aber dann erinnerte ich mich plötzlich an Rilkes Worte aus dem «Stundenbuch»: Du freust dich aller, die dich gebrauchen wie ein Gerät.

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Am Silvesternachmittag zum Facharzt für Lungenkrankheiten.83 Puls 48. Das ist doch schon irre. «Ihr saugt mir ja alle mein Herzensblut aus. Ach nein, Unsinn.» Das ist schon so viele Abende her. Juultje färbte heute Mittag mir gegenüber schön: «Es nagt etwas an seinem Herzen, wirklich wahr.» Lau­ tes Gebrüll vor Freude, als ich ihm dies später erzählte. Er muss gesund bleiben. Natürlich bleibt er gesund. Von den 7 Kindern sind noch 3 am Leben. Vater und Mutter, Cousins und Cousinen.84 Sterben ist ein ver­ trauter Gedanke, ja gewiss. Ach Unsinn. Am Sonntag in einem eingeschriebenen Brief seine Nummer85 erhal­ ten, unter der er jederzeit angerufen werden kann. So ist es doch eigent­ lich: bedroht von Krankheit, von Deportation, um nicht von Bezugs­ scheinen, Kälte und zu wenig Fett zu sprechen, und doch so unverschämt Gott vertrauen und lieben und die Menschen lieben und das Leben gut finden. Aber auf alles vorbereitet sein und dem Leiden nicht die Tür weisen. Sein Mund, der da gestern Nachmittag und heute Nachmittag auf ein­ mal wieder so wild und dämonisch war und mit so intensiver Sinnlichkeit aufblühte, und der Griff seiner guten, erfahrenen Hände. Und die charak­ teristische, zärtliche Bewegung seiner Fingerspitzen, die deine Wimpern streicheln. 86 Um dein schweres schwankendes Bild zu halten. Diese «Ebbe» war doch eigentlich eine Frage von einigen Stunden, und es war wahrschein­ lich nur körperliche Müdigkeit. Aber es war gut, dass ins Bewusstsein drang, dass Ebbe möglich ist und dass sie akzeptiert werden muss und dass es gut so ist. Und es wird mir immer klarer, wie das alles zu deinem Leben gehört und nicht geleugnet werden darf: deine Traurigkeit und Müdigkeit und auch dein Übermut und deine Irrtümer und deine oberflächlichen Momente und deine Eifersucht, gegen die du kämpfst, und die innerliche Unehrlichkeit, die du erkennst. Und deine Mutlosigkeit und deine Über­ mütigkeit. Du führst alles zusammen mit dir mit und lässt keinen Moment in deinem Leben verwaisen, du bietest eine Bleibe und auch Verständnis an. Kein «Rückfall» nach Deventer. Das immer klarere Erkennen der eige­ nen Aufgaben. Ich erinnere mich auch noch an das Erwachen diese paar

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Male im großen, eiskalten Badezimmer, das genauso chaotisch und ge­ schmacklos und doch lieb gewonnen ist wie alle anderen Zimmer in die­ sem Haus. So frisch und mutig in den Tag hineinwachsen, die scharfen Konturen von sich selbst spürend. Ich beginne auch langsam etwas von meiner Jugend zu verstehen, von diesen immer wieder wochenlang andau­ ernden Kopfschmerzen und von der Taubheit und von dem Versunken­ sein im Chaos. Manchmal ist mir schon noch so – aber mehr in der Vor­ stellung als im wirklichen Leben  –, als ob ich mich in einem großen, grauen Ozean befände, aber auf dem Grund erheben sich Hügel und es zeichnen sich Erhebungen ab, es zeichnet sich eine Form ab. Und von Mischa verstehe ich auch viel. Aber ich kann ihm noch lange nicht helfen, und manchen Menschen ist schon ziemlich geholfen, wenn man sie ver­ steht, aber auch damit ist ihm nicht zu helfen. Über diesen Brief an ihn noch nicht gesprochen. Zunächst einfach einmal abwarten, wie es um die Gesundheit von S. steht. Er darf sich auch nicht überbelasten. Das Problem der Hausangestellten87 im Judentum. Fantastischer Zustand. Dienstmädchen bietet ihre Dienste an, bringt eigenen Flügel mit. Und liest an ihrem freien Abend dann sicherlich Spinoza.88 Und mein Vater, der beim Lebensmittelhändler seine Kollegen aus der jüdischen Gemeinde89 trifft, die sich gegenseitig fragen: «Hast du eine gute Dame?» – «Hast du eine ordentliche Hausangestellte?» Warum kann ich eigentlich nicht schreiben? Ich muss ihn noch tausend Dinge fragen  – ich wachse diesbezüglich noch –, damit ich später selbst die Antworten auf alles weiß, was ich zu fragen habe, aber ich kann ihn jetzt noch lange nicht entbehren. Dies fällt mir immer wieder auf: dass die Dinge oft viel einfacher sind, aber zugleich auch viel tiefgründiger, als ich sie mir vorstelle. Ich kann manchmal ein sehr kompliziertes Plädoyer für etwas halten und denken, dass dies sehr poetisch und außergewöhnlich sei, und dann kommt er plötzlich mit ­einem einzigen Satz und einem etwas fragenden Blick und sagt: «Aber das ist doch so und so?» Und dann ist es eigentlich auch so. Während er kurz weg war heute Nachmittag, habe ich auf einmal et­ was aufgeschrieben, das ich schon den ganzen Nachmittag mit mir her­ umgetragen habe. Ich dachte, dass es etwas sehr Klares war, aber das war es doch nicht. Ich schrieb in etwa das Folgende auf: Er kann es sich erlauben, andauernd aufrichtig zu sein, ohne dabei an Interessantheit zu verlieren. Nur wenn man sehr tiefgründig ist, wird eine Offenheit wie die seine

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nicht langweilig usw. usw. Ich konnte es doch nicht gut ausdrücken. Und er kommt wieder herein, steckt neugierig seine ausdrucksstarke Nase in diesen Notizblock und ich sage noch alles Mögliche dazu und dann sagt er auf einmal in einer knappen und pointierten Formulierung, die ich nicht wiedergeben kann, weil es so ganz abgerundet ist und aus ihm heraus­ kommt, aus seiner großen Bestimmtheit, die ihn Dinge immer treffend sagen lässt: «Wie war das noch mal?» Ich kann ja wirklich nicht immer mit einem Stenogrammblock auf meinem Schoß dasitzen, wenn ich mit ihm spreche. Aber wie kann ich ihn später einmal beschreiben? Lass es einfach wachsen. Ruhig jetzt. Es war so etwas im Sinne von: Aber eine wahre Per­ sönlichkeit ruiniert sich doch nicht, indem sie andauernd gibt. Er erneu­ ert sich doch in jedem Augenblick? Hat doch diese Geheimniskrämerei nicht nötig, hinter der man häufig seine Leere verbergen muss? Es ist 9 Uhr. Lass mich noch eine Stunde arbeiten und dann früh ins Bett. Dienstagmorgen [30. Dezember 1941], 10 Uhr. Beim Erwachen in Deventer war das so ein Gefühl, als wüchse ich so kan­ tig und fest umrissen in den eiskalten Morgen hinein. Kurz ein paar Worte, aber mehr wegen dieser Vorstellung, einige ­Augenblicke bei dieser vertrauten Lampe bei mir selbst zu Gast zu sein. Einige profane Angelegenheiten. Ich merke, dass es mir am besten be­ kommt, früh aufzustehen. Und noch immer finde ich dieses kalte Wasser beinahe heroisch. Bin doch eigentlich schon ein sehr gesunder Mensch, die Hauptsache ist bei mir das psychische Gleichgewicht, alles andere funktioniert dann von selbst. – Das Frühstück mit einer Hühnerkeule auf­ gepeppt. Liebe мaмушка,90 die all ihre Liebe in Hühnerkeulen und hart gekochte Eier verwandelt. Der Zug nach Deventer. Wenn ich so viele Gesichter um mich herum sehe, will ich einen Roman schreiben – Abaelard und Heloise. Die weite Landschaft, friedlich und auch ein wenig traurig, ich schaute aus dem Fenster und es war, als ob ich durch die Landschaft meiner eigenen Seele führe. Seelenlandschaft. Habe das öfters, dass mir die äußere Landschaft wie eine Spiegelung der inneren erscheint. Am Donnerstagnachmittag kurz die IJssel entlang. Strahlende, weitläufige und helle Landschaft. Auch ein Gefühl, als würde ich durch meine eigene Seele weitergehen. Wie ab­ scheulich ausgedrückt. Ruhig jetzt.

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Mutter. Auf einmal diese Welle von Liebe und Mitleid, die alle kleinen Ärgernisse fortspülte. Fünf Minuten später natürlich doch wieder ver­ ärgert. Aber später an diesem Tag oder am Abend auch wieder so ein Ge­ fühl von: Vielleicht kommt irgendwann mal eine Zeit, wenn du sehr alt bist, in der ich eine Weile mit dir verbringe, und ich werde dir dann erklä­ ren, was alles in dir steckt, und dadurch die Unruhe in dir beseitigen, denn so langsam beginne ich zu verstehen, wie du beschaffen bist. Mutter, die irgendwann sagte: «Ja, eigentlich bin ich religiös.» «Tante Piet»91 sagte vor einigen Tagen hier vor dem Ofen fast dasselbe: «Eigentlich bin ich religiös.» Dieses eigentlich, das kommt bei ihnen an. Die Menschen lehren, dieses eigentlich wegzulassen und den Mut zu haben, zu ihren tiefs­ ten Gefühlen ja zu sagen. Was meinen sie mit diesem eigentlich? Ich bin dankbar, ich kann noch nicht die Worte dafür finden, wie enorm dankbar ich bin, dass ich ihn im besten Stadium seines Lebens er­ leben darf. Dankbar ist gar kein Ausdruck. [Mittwoch] 31. Dezember [1941], 10 Uhr morgens. Als der Wecker klingelte an diesem letzten Morgen des Jahres, begrüßte ich ihn mit einem: «Verflixt!» Was für ein schrecklicher Tagesbeginn. Und Bauchschmerzen. Und ein einziger Gedanke: Jesses, bis 12 Uhr aufbleiben heute Nacht und ich bin jetzt schon so schläfrig. Aber so etwas ist kein ausschlaggebender Moment mehr. «Früher» betrachtete ich dann auf ein­ mal das ganze Leben aus der Perspektive dieses einen unangenehmen ­Moments. Die Menstruation wirkt doch stark auf die Psyche ein, bei mir zumindest. Aber die Erkenntnisse der letzten Zeit ruhen weiterhin in mir, sie sind zu Gewissheiten geworden, und eine Stunde nach diesem «ver­ flixt» war der Tag schon wieder dankbar angenommen. Früher dachte ich, dass so ein wenig Bauchschmerzen mich von all meinen Verpflichtungen entbanden, ich wurde dann so schwer und träge und probierte, mich selbst so gut wie möglich zu verwöhnen, und fühlte mich immer elender. Aber jetzt werde ich mich an diesem letzten Tag des alten Jahres und am ersten des neuen ganz bewusst wirklich schön verwöhnen: keine Über­ setzungen, keinen Unterricht vorbereiten, keine Briefe tippen, nur wieder einmal ein kleines Stückchen vorankommen mit dem «Idioten» und wie­ der einmal Jung. «Meinen Silvesterabend verbringe ich mit Jung und Napfkuchen», sagte ich gestern zu Tide. Ich musste ihr erklären, dass «Napfkuchen» etwas mit Zucker obendrauf ist, etwas Essbares und nicht ein russischer Philo­

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soph, wie sie dachte. Ich habe ihr da klargemacht, dass ich nicht nur auf das Geistige beschränkt bin. Gestern Abend, als ich diese Briefumschläge nicht beschriftet hatte: «Du, Schwein», und ein temperamentvoller Knuff. Was ist das überhaupt mit seinem Mund? Er hat etwas von einem wütenden Kind, das gleich heulen wird. Es war derselbe Mund, der beim letzten Mal, als ich mit ihm sprach, so voller Verlangen nach mir aufgeblüht war. Aber jetzt war da keine Dissonanz mehr. Auch nicht die große Ernüchterung, die ich früher immer hatte. Dieser müde und wütende Mund verwandelte diesen leiden­ schaftlichen und lieben Mund nicht in eine Lüge. So wie ich früher oft das Gefühl hatte, dass die frostigeren Momente die besseren Momente in eine Lüge verwandelten. (Wann werde ich dafür wirklich passende Worte fin­ den?) Auch Tide gestern Abend mit diesem kindischen Ehrgeiz; sie hängt ihre wertvollere Seite nicht auf einmal an den Nagel. Früher, und jetzt kann ich allmählich auch wirklich von früher sprechen  – es scheint sich eine Veränderung in mir vollzogen zu haben, die bleibend ist –, hatte ich in meinen schlechten Stimmungen, in meinen Momenten der Niedergeschla­ genheit jeglichen Kontakt zu derjenigen verloren, die ich sonst war. Und das passiert jetzt nicht mehr. Meine Traurigkeit und meine Fröhlichkeit und alles trage ich gleichzeitig mit mir herum. Die eine schließt die andere nicht mehr aus und so ist es auch in meinen Beziehungen zu anderen. «Wer seines Lebens viele Widersinne versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt.»

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Nicht mehr in deinen schlechten Momenten deine besseren verleugnen. Die meisten Menschen sind doch eigentlich ständig ihren besseren Mo­ menten untreu. Wenn man der Herzlosigkeit des Tages den richtigen Platz einräumen kann, ist Ernüchterung auf die Dauer ausgeschlossen, weil man weiß, dass diese auch zum Leben gehört. All das war gestern Abend in seinem Gesicht: etwas Abgespanntes und etwas Ungeduldiges und etwas sehr Sinnliches, wenn er mich oder diese schlanke, kleine Frau Levie oder Dicky anschaute, und dann auf einmal auch wieder etwas sehr Liebenswürdiges. Aber hinter diesem Gesicht tauch­ ten für mich auch all seine anderen Gesichter auf, und das eine schloss das andere nicht aus, und das eine machte das andere nicht zu einer Lüge. Heute Nachmittag zu diesem Facharzt für Lungenkrankheiten. Ich bin innerlich wirklich nicht darüber besorgt, es erscheint mir beinahe über­ trieben. Einfach mal abwarten.

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Ungar über Beethoven im Zusammenhang mit den moralischen Stan­ dards derzeit. War das denn Lüge? Und ich konnte vollkommen verstehen, was er meinte, und sagte energisch: «Nein, das war keine Lüge.» Noch rasch dies aus Betz: «Ich habe immer sehr schnell geschrieben», sagte mir Rilke, «gleichsam improvisierend empfand ich einen Rhythmus, der durch mich lebendige Gestalt zu erhalten suchte. Wenn diese Bewegung in uns ist, dann ist die Darstellung nur mehr eine Sache des Gehorsams. So habe ich den Cornet in einer einzigen Nacht geschrieben, indem ich, einem unwiderstehlichen Zwange gehorchend, die Bilder wiedergab, die der Widerschein der untergehenden Sonne auf den Wolken, die an meinem geöffneten Fenster vorüberzogen, hatte entstehen las­ sen. Viele meiner Neuen Gedichte haben sich gewissermaßen selbst geschrie­ ben, in endgültiger Form, oft mehrere an einem Tage, und als ich das Stundenbuch schrieb, hatte ich das Gefühl, daß sich die Auslösung so leicht vollzogen hatte, daß ich nicht mehr aufhören konnte zu schreiben. Das Stundenbuch ist übrigens keine Sammlung, aus der man eine Seite oder ein Gedicht entneh­ men kann, wie man eine Blume pflückt. Mehr als jedes andere meiner Bücher ist es ein Gesang, ein einziges Gedicht, in dem keine Strophe von ihrem Platz gerückt werden kann, ebenso wie die Adern eines Blattes oder die Stimmen eines Chors.»

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Und dies ist auch eine der neuesten Erkenntnisse: dass aus jedem ­ ugenblick ein neuer Augenblick geboren wird, der neue Möglichkeiten A in sich birgt und der manchmal ganz unerwartet ein neues Geschenk ist. Und dass man keinen Moment der Unlust festhalten und unnötig verlän­ gern muss, weil man damit die Geburt eines reicheren Moments ver­ hindern kann. Und so strömt das Leben durch dich hindurch in einem ununterbrochenen Strom, in einer einzigen großen Folge von Momenten, von denen jeder seinen eigenen Platz am Tag hat. – Na ja, weißt du eigent­ lich nichts Besseres? Ich kann wirklich nichts daran ändern, aber ich kann es noch nicht ausformulieren. Ruhig jetzt. Sei geduldig. Und wenn du es nicht sagen kannst, wird es schon ein anderer für dich tun, wie beispiels­ weise Rilke oder Beethoven. – Tschüss abends 8 Uhr. Dieser Lungenmann hat ihn gewissermaßen wegen seines breiten Brust­ korbs ausgelacht. Bei allem, was er fragte, ob er an Husten oder Schleim und was weiß Gott noch was alles leide, sagte S. jedes Mal: «Leider kann ich

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Das Erste, was er sagte, als er wieder ins Wartezimmer kam, war: «Ich muß sofort nach Davos.» Ich bestand darauf, dass der ganze Harem mitgehen sollte. «Jawohl, die Schweiz wird sich bedanken.» Auf der Straße konnte ich nicht aufhören, ihn anzugrinsen. Und er drohend: «Ja warte nur, bis Frei­ tag, bis die Röntgenplatte.» An einem Karren konnten wir mit großer Mühe 3 Zitronen erstehen, weil wir 10 Cent pro Stück bezahlten statt der festge­ setzten 7 Cent.94 Und wir hatten so Lust auf Törtchen mit Schlagsahne. Und da zogen wir wieder durch die Straßen, ich hing auf komplizierte Weise an seinem Arm, mit der Kosakenmütze schief auf meinem Kopf, und er mit dieser komischen Baskenmütze über der grauen Landschaft, wie ein verrücktes «Liebespaar». Und jetzt ist es schon fast halb 9. Der letzte Abend eines Jahres, das für mich das reichste und fruchtbarste und ja, doch auch das glücklichste von allen vorangegangenen Jahren war. Und wenn ich dieses Jahr mit einem einzigen Wort charakterisieren müsste – seit dem 3. Februar, als ich schüchtern in der Courbetstraat 27 an der ­Glocke zog und ein gruseliger Kerl mit einer Antenne auf seinem Kopf meine Hände betrachtete –, dann müsste dieses Wort lauten: durch die große Bewusstwerdung. Bewusstwerdung, und dadurch stehen mir die tieferen Kräfte in mir selbst zur Verfügung. Und früher gehörte ich auch zu den Menschen, die ab und zu das Gefühl hatten: «Ja, eigentlich bin ich schon religiös.» Oder etwas derart Positives. Und jetzt muss ich mich manchmal auf einmal hinknien, sogar in einer kalten Winternacht vor meinem Bett. Und das in-sich-hineinhören. Dieses Sich-führen-Lassen, nicht mehr von dem, was von außen auf dich zukommt, sondern von dem, was von innen in dir aufsteigt. Es ist aber erst ein Anfang. Das weiß ich. Aber es ist nicht mehr ein wackeliger Anfang, er ist schon fundiert. Es ist nun halb 9, ein Gasofen, gelbe und rote Tulpen, und auf einmal einfach so ein Schokoladenplätzchen von Tante Hes95 und die drei Tannen­ zapfen aus der Larenser Heide, die dort noch immer neben dem marok­ kanischen Mädchen und Puschkin herumliegen. Ich fühle mich so «normal», wirklich so schön normal und gut, ohne diese schrecklich tiefsinnigen und quälenden Gedanken und bedrücken­ den Gefühle, sondern so ganz normal, aber doch voller Leben und sehr tiefgründig, aber mehr eine Tiefe, die sich schon wie etwas «Normales» anfühlt. Außerdem verdient der Lachssalat noch Erwähnung, der für heute Abend bereitsteht. Und jetzt koche ich Tee und Tante Hes häkelt an einer Weste und Pa Han werkelt an einem Fotoapparat herum, ach, warum Ihnen nicht dienen.»

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auch nicht; in diesen 4 Wänden oder in 4 anderen, was soll’s? Das Wesent­ liche liegt doch irgendwo anders. Und ich hoffe, dass ich mit Jung heute Abend auch noch ein Stückchen vorankomme. 11 Uhr. Aus Jung: «Die Wertschätzung der unbewußten Psyche als Erkenntnisquelle ist kei­ neswegs so illusionär, wie unser westlicher Rationalismus es haben möchte. Unsere Neigung ist es, anzunehmen, daß alle Erkenntnis in letzter Linie immer von außen stamme. Wir wissen aber heute bestimmt, daß das Unbewußte über Inhalte verfügt, die, wenn sie bewußt gemacht werden könnten, einen unabsehbaren Erkenntniszuwachs bedeuten würden.»

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«Von unserem äußerlichen Standpunkt gesehen, erscheint uns das Seelische wesentlich als Abbild äußerer Vorgänge, durch diese nicht nur veranlaßt, son­ dern ursächlich erschaffen. So erscheint es uns auch zunächst, als ob das Un­ bewußte nur von außen und vom Bewußtsein her zu erklären wäre. Wie Sie wissen, hat Freuds Psychologie diesen Versuch gemacht. Diese Unternehmung könnte aber nur dann wirklichen Erfolg haben, wenn das Unbewußte tatsäch­ lich etwas wäre, das erst durch das individuelle Dasein und Bewußtsein ent­ stünde. Das Unbewußte ist aber immer schon vorher da, denn es ist seit Ur­ zeiten vererbte Funktionsbereitschaft. Das Bewußtsein ist ein spätgeborener Nachkomme der unbewußten Seele. Es wäre wohl verkehrt, das Leben der Ahnen aus den späteren Epigonen zu erklären, daher ist es auch meines Er­ achtens verfehlt, das Unbewußte als in kausaler Abhängigkeit vom Bewußt­ sein zu betrachten. Das Umgekehrte ist darum wohl das Richtigere. Das ist aber der Standpunkt der alten Psychologie, welche, wissend um den ungeheu­ ren Schatz dunkler Erfahrung, der unter der Schwelle des ephemeren, individu­ ellen Bewußtseins verborgen liegt, die Einzelseele immer nur als abhängig von einem geistigen Weltsystem betrachtet hat. Sie hat nicht nur die Hypothese gemacht, sondern es war ihr über jeden Zweifel hinaus evident, daß dieses System ein Wesen mit Willen und Bewußtsein, ja sogar eine Person sei, und sie hat dieses Wesen Gott genannt, und dieser war ihr der Inbegriff aller Reali­ tät. Er war ihr das allerrealste Wesen, die prima causa, aus der allein die Seele erklärt werden konnte. Diese Hypothese hat psychologische Berechtigung, denn ein annähernd unsterbliches Wesen mit annähernd ewiger Erfahrung im Vergleich zum Men­ schen göttlich zu nennen, könnte nicht als unberechtigt gelten.»

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Han, du schlägst die Sahne, nicht wahr, und dann kümmere ich mich um das geröstete Brot und dann kann Tante Hes ruhig am Ofen sitzen bleiben. Halb 12. Wie schläfrig ich bin. Freitagmorgen, 2. Januar [1942]. Gestern Abend. Auf einmal wollte das Fleisch, und wirklich nur das Fleisch, dass aus seinen tiefsten Tiefen wieder alle Lüste geweckt werden. Das kommt bei mir nicht so häufig vor. Und wer der Mann ist, spielt dann keine Rolle. Und vor dem Ofen, vor dem ich am ersten Vormittag des Jahres so fromm gesessen und geträumt hatte und vor dem Tide und S. und ich nachmittags in einem wirklich stilvollen Beisammensein geses­ sen hatten – Tide wie eine Amazone in ihrem schwarzen Wollanzug mit der weißen Bluse und S. wie ein netter, erkälteter Onkel, dessen Horoskop mit so viel Sorgfalt und Liebe von dieser lungenkranken Frau98 vor vielen Jahren auf violetter Seide aufgezeichnet wurde, und guter Napfkuchen und Rührkuchen –, vor diesem Ofen lag ich am Abend auf einmal nackt, auf dem persischen Teppich, und das einzige Licht im Zimmer waren die Flammen des Ofens und der Mann war zufälligerweise H. Es war nur der Schrei des Fleisches nach einer kleinen Erlösung und der Mann ist dann wirklich nur das Instrument. Man darf eigentlich dafür Freundschaft nicht gebrauchen. Und das Paradoxe: Befriedigend war es nur für den völ­ lig überraschten Mann, der vor dem Ofen gerade nichts ahnend einen nüchternen Bericht studierte und dort plötzlich zu seinen Füßen eine nackte Frau vorfand. Ich scheine sehr ausgeglichen, heiter und zuversicht­ lich zu werden. Dieser unerwartete kleine Exzess, der im Nachhinein sonst in mir vielleicht ernüchternde oder zynische oder traurige Reaktionen her­ vorgerufen hätte, dehnt sich nicht überproportional in mir aus. Er ist schon wieder verarbeitet. Aber es ist zu kompliziert, um alles aufzuschrei­ ben. Dann lieber eine Tasse Kaffee, bevor der Schüler kommt. Es ist ein neuer Freund hinzugekommen: Fürst Myschkin.99 Ich weiß noch nicht viel über ihn, aber er hat schon seinen festen Platz in meinen Gedanken. abends halb 10. Schon seltsam, wie tief diese Menstruation jedes Mal in mein Wesen ein­ greift. Heute eigentlich ein schlechter Tag. Nicht gearbeitet. Heute Mittag ein wenig geschlafen mit Aspirin und Bauchschmerzen. Heute Morgen

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für meine Verhältnisse noch wahnsinnig aktiv, plötzlich das Kleid gekürzt, 5 Pfund Goldrenetten und heute Nachmittag in 20 Geschäften gewesen, um Handschuhe für Käthe zu suchen, mit all den Sinneseindrücken, die einem die Kalverstraat immer zu bieten hat. O ja, ich muss S. mal noch nach seiner Definition von «Materialis­ mus» fragen. In dem einen halbdunklen Laden, in den niemand kommen wollte, gab es einen kurzen verrückten Moment, in dem meine Hand auf diese wollenen Fäustlinge abrutschen wollte. Wie kam das? «Die Erinnerungen aus einem Totenhaus»,100 das fand ich damals nicht schlimm. Stell dir vor: Am Morgen liegst du kniend vor dem grauen Morgen hinter deiner Fens­ terscheibe und später am Tag würdest du eine blonde, nichts Böses ah­ nende Verkäuferin wegen der Niederträchtigkeit der Menschen verbittern, die Wollfäustlinge klauen. Steht das in einem Zusammenhang mit der Menstruation? Ja, aber ich bin da ja auch noch. Lass mich jetzt aber ins Bett gehen und lass mich versuchen, jeden Gedanken und jedes mir sonst so teure Gesicht außerhalb des Bereichs meiner Unlust zu halten, sonst wird wieder alles damit verunreinigt. Ein Abend wie dieser isoliert mich wieder. Dann ist die Kontinuität zu allem Vorangegangenen zerbrochen. Früher nahm so etwas verzweifelte Ausmaße an. Es endete immer damit, dass es mir schien, eines der herr­ lichsten Dinge wäre es, mich auf dem Grund einer morastigen Gracht schlafen zu legen. Das Zerschellen an Ich-weiß-nicht-was. Eigentlich nicht dazu bereit sein, diese Unlustmomente zu ertragen. Ich gehe nun mit so einem wüstenartigen Gefühl ins Bett. Jetzt aber gute Nacht, mor­ gen wird alles besser. Samstagmorgen [3. Januar 1942], halb 10. Liebes Kind, du gefällst mir im Moment nicht. Du bist, glaube ich, wieder zu sehr von deinem Gesundheitszustand beeindruckt. Na, dann fühle dich einfach mal elend. Du hast keine Lust auf das Unterrichten heute Nach­ mittag und keine Lust auf diesen Musikabend. Aber da steckt mehr dahin­ ter. Du bist wirklich nicht richtig krank, du kannst also durchaus unter­ richten und ausgehen. Aber du musst es dann ertragen, dass du einfach einmal weniger charmant und lebendig unterrichtest als sonst und dass du heute Abend am Muzenplein101 etwas träger bist. Es ist Eitelkeit und Gel­ tungsdrang, dass du immer nur so temperamentvoll und angenehm wie möglich bei anderen sein willst. Du solltest auch in der Lage sein zu akzep­

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tieren, dass du mal «ungesund» aussiehst, ohne dass du dich dabei wertlos fühlst. Es ist auch dieses feuchte, milde Wetter und dieser komische Bauch. Früher reagierte ich darauf noch öfter und viel empfindlicher, da habe ich mich gänzlich gehen lassen. So ein dumpfes und blödes Gefühl. Wie wenn in mir drin das Licht ausgeschaltet worden wäre. Draußen ist auch noch nicht viel Licht, jetzt um halb 10 Uhr morgens. Mach dich nun diszipliniert an die Arbeit, liebe Kleine, eine sehr nüchterne Übersetzung ins Russische scheint mir das Beste zu sein. Und habe vor allem kein Mitleid mit dir selbst und versuche überhaupt nicht, an dich zu denken. 5. Januar 1942, Montagvormittag, halb 10. Alle verstopften Kanäle sind wieder offen und fließen in den großen Ozean hinein. Manchmal war der graue Morgen beim Aufwachen nichts anderes als ein Stück Papier, das auf die Außenseite meines Fensters geklebt war, und die schwarzen Äste meines Baumes waren schlampig gezogene Bleistift­ striche auf diesem schmuddeligen Papier. Und das Bücherregal, das die ganze helle Nacht lang deutlich zu sehen war, war nur ein Stück Holz voller Stapel mit langweiligem Papier. Das ist eigentlich das Schlimmste, was es gibt, wenn innerlich der Lichtschalter ausgeschaltet wird, oder sagen wir es mal sehr kühn: Wenn Gott dich für einen Moment verlassen hat. Aber gestern Abend musste ich auf einmal wieder  – von plötzlich aufkommendem innerlichem Über­ schwang angetrieben – mitten im Zimmer knien, und der graue Morgen war beim Erwachen kein Stück Papier mehr, sondern hatte wieder seine Weite von früher. Der Samstag wurde trotzdem noch durch den Brief an Mischa geret­ tet, den S. mir am Ende des Nachmittags diktierte. Bei ihm schließt sich der Kreis immer. Es bleiben niemals vage Pläne in der Luft schweben, sie finden immer irgendwann zu einer Form, wenn auch nur in einem Brief oder einem abrundenden Gespräch. Er sagte später: «Von dem Moment an, als Mischa nicht mehr zu mir kommen wollte, hatte ich im Kopf, dass ich ihm einmal schreiben muss, und wenn man es dann nicht tut, bleibt in deiner Seele das Gleiche zu­ rück, was Narben für deinen Körper sind.» Er hätte es vermutlich etwas besser formuliert. Aber wie auch immer: In meiner Seele gibt es ziemlich

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viele Narben von Worten, die ich anderen hätte sagen sollen und die ich aus Unsicherheit oder Feigheit oder Geiz oder nur aus Bequemlichkeit zurückgehalten habe und noch immer zurückhalte und wodurch ich ge­ genüber verschiedenen Menschen das Gefühl habe, als ob ich ihnen an­ dauernd nicht gerecht würde. Es geht auch nicht darum, dass ich verstan­ den werde, sondern dass ich anderen auf diejenige Art und Weise helfen kann, die ich für richtig halte. Herr, mach mich nicht so gierig, dass ich verstanden werden will. Und mich selbst lächerlich zu machen finde ich nie schlimm, das riskiere ich gerne. Später sagte er auch noch: «Früher in Berlin wäre ich zu so einem Brief niemals gekommen, dann würde ich mit Ihnen gerungen haben. Und wenn wir jetzt zärtlich gewesen wären zusammen, dann wäre dabei auch nichts herausgekommen. Früher herrschte das ‹Triebhafte› vor, obwohl die Lust schon immer da war.» Und abends diese Clownerie auf dem Muzenplein, mit dieser ausgelas­ senen Freude bei diesen kindischen Spielchen. S. später ganz kategorisch: «Ein Mensch, der nicht spielen kann, ist nicht entwicklungsfähig.» Und an diesem Abend zu mir: «Sie sind wirklich ein Unikum, Sie sind die komischte von allen.» Und mit diesen Worten kroch ich abends in mein Bett, so wie ich früher als Kind heimlich noch ein paar saure Drops im Bett lutschte. Und diese kleine Eitelkeit verhinderte sozusagen ein ehrliches Abend­ gebet. Aber ach, das geht bei mir auch wieder sehr schnell vorüber. Und gestern Vormittag zuerst dieser rabenschwarze, fleißige Backfisch, der Journalistin werden will. Und mittags überraschte uns dieser schmale Eukalyptus102 plötzlich mit diesem Beethoven-Stück. Und ich beginne S.s Stimme zu würdigen, d. h., die wirkliche, ehrliche Leidenschaft und Hin­ gabe, mit der er singt, beginnt die Risse in der Stimme auszugleichen. Unser früher etwas düsteres und «unbelebtes» Wohnzimmer beginnt nun langsam eine Geschichte von vielen stimmungsvollen Musiknachmit­ tagen und -abenden zu erhalten. Und abends Jung am Ofen und wieder das Hineinfließen der Kanäle in das größere Meer. Noch kurz probieren, ob ich von Jung etwas abtip­ pen kann, bevor ich zu Frau v. Esso103 gehe, um über Mischas Hauskonzert zu sprechen. Dienstagmorgen [6. Januar 1942], halb 10. Der plötzliche Vorsatz von heute Nacht wird doch noch eine Menge Blut und Tränen kosten, liebe Kleine. Durch die große Ruhe und Klarheit und

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Weite, die seit gestern – nach dieser ganz kurzen Unterbrechung – wieder in dir sind, entfaltete sich in dir ein Satz nach dem anderen und wurde zu einem feierlichen, fließenden Ganzen, das überhaupt kein Ende nehmen wollte. Du hast noch gut 3 Wochen, um zu versuchen, eine Übersicht über dieses entscheidende Jahr der wachsenden Freundschaft zu formu­ lieren. Am 3. Februar 1941 bin ich zum ersten Mal schüchtern in diese 2 kleinen Zimmer hineinspaziert und jetzt will ich am 3. Februar 1942 ein «Dokument» in seinen Briefkasten stecken, in dem ich die wichtigsten Momente dieses Jahres festhalte. Und wenn ich das jetzt nicht tue, dann fühle ich mich sicherlich hundeelend. Also schreib das jetzt mal. Und um zu beweisen, dass du es ernst meinst, musst du heute endlich diesen Brief an die kleine Wils schreiben, und nicht schnell und schlampig, sondern mit Liebe und Zuwendung. Du widmest ihr so oft gute Gedanken, wa­ rum solltest du dir dann nicht auch eine Stunde Zeit nehmen können für einen Brief? Es ist blöd von dir, dass du so etwas wochenlang aufschiebst. Unterdessen ist es 11 Uhr geworden. Ich glaube, dass dies ein fruchtbarer und intensiver Tag wird. Zuerst einmal einen Teil russische Übersetzung und der Brief an Wils, heute Abend Kurs und heute Nachmittag vielleicht einen kleinen Schritt weiter auf dem Weg mit Myschkin. Gute Reise! nachmittags 4 Uhr. Die Geschichte des Wachstums unserer Freundschaft, die sich am 3. Feb­ ruar zum ersten Mal jährt, geht schon den ganzen Tag wie ein ununterbro­ chener, feierlicher Rhythmus durch mich hindurch. Und es ist, als wären die Worte und Bilder zum Greifen nahe, aber es wird sich schon zeigen, dass sie noch nicht nahe genug an mir vorbeigehen und dass sie sich noch nicht sicher fassen lassen. Ich habe Angst davor. «Sie spielen noch zuviel mit Ihren Talenten», sagte S. einmal, «Sie genießen selber noch zu sehr davon.» Nun ja, der Brief an Wils ist fertig, das ist zumindest ein gutes Omen. Er begann wie folgt: Hallo, Wilsje, ich sagte heute Morgen zu mir selbst, dass es nicht ausreichend ist, jemandem dann und wann freundliche und herz­ liche Gedanken zu widmen, sondern dass man auch einmal zu einer «Tat» schreiten muss, auch wenn diese Tat dann nur ein simpler Brief ist. Und ich kann nicht weiterhin die Worte und Rhythmen genießen, die durch mich hindurchgehen und auf die der andere eigentlich auch ein Recht hat, ich muss doch langsam einmal probieren, zu einer auch noch so mangelhaften Form zu gelangen. Und nicht den Ehrgeiz haben, etwas Außergewöhnliches tun zu wollen, sondern einfach das machen, was ge­

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tan werden muss, und ob das dann etwas «Außergewöhnliches» ist oder nicht, wird sich dann schon zeigen, aber man muss in jedem Fall den Mut haben, etwas «Mangelhaftes» oder etwas Nichtaußergewöhnliches zu produzieren. Und jetzt komme ich noch zu «Der Idiot». Dieser Dostojewski für Tide104 ist zwar auf echt schäbigem Kriegs­ papier gedruckt, aber der Umschlag ist hübsch und ich bin zufrieden da­ mit. Und ich möchte ein paar Worte in diesem Sinne hinzufügen: Tide, ich habe mir eine Woche lang den Kopf zerbrochen über Teetas­ sen und Blumentöpfe und Geigenständer, bis mir plötzlich der Gedanke kam: Warum sollte ich dir nicht etwas sehr Persönliches geben, etwas aus meiner eigenen Sphäre? Du hast mein Leben dadurch bereichert, dass du ein «offenes Haus» bist. Schrecklich, schrecklich, was für eine Formulie­ rung. Ich weiß schon, dass es nicht auf die «Formulierung» ankommt, und das wirkliche Gefühl schließt den Stil in sich ein, wie Suarès über Fjodor Michailowitsch105 sagt, aber die Diskrepanz zwischen dem Gefühl und dem «Stil» ist bei mir noch zu groß. Es ist nicht nur Eitelkeit, gut formu­ lieren zu wollen, sondern es gibt nun einmal einfach Grenzen. Es schneit auf einmal vor meinem Fenster. abends halb 11. Wenn du tagsüber in dieser Art an jemand denkst: «Und manchmal bist Du mir so nah, daß ich Deine Nächte mit Dir teilen möchte und mich niemals mehr von Dir trennen möchte» –

und abends triffst du ihn unter einer Philips­ lampe als Kursleiter an, umgeben von vergnügten jungen Frauen, und auf einmal ist da wieder diese wilde und unbezähmbare Wölbung auf seiner Unterlippe, durch die du in all deiner Müdigkeit plötzlich wieder eine machtlose Verliebtheit in dir aufkommen spürst usw. usw., dann auf ein­ mal wieder ein bisschen traurig. Aber vielleicht auch nur große Müdigkeit. Und dieses innerliche «Schöpfen» an so einem Tag wie heute erschöpft ja auch, und dass ich mir vorgenommen habe, bis zum 3. Februar etwas auf­ zuschreiben, wiegt wie eine bleierne Last auf mir, und ich spüre, dass ich nicht darum herumkomme, und ich fühle mich jetzt schon ganz schlecht und erbärmlich, wenn ich an den großen Graben denke, der zwischen meiner Fantasie und dem klaffen wird, dem es sich zu nähern gilt. Und es war natürlich auch wieder ein Leben auf zwei verschiedenen Ebenen heute: tagsüber an diesem Schreibtisch, in diesem abgeschiedenen Zim­ mer in einer imaginären Gedankenwelt, einer neu geschaffenen Realität.

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Und den Gegenstand deiner schöpferischen Fantasie triffst du dann abends in der alltäglichen Realität auf einer komplett anderen Ebene. Dann gibt es immer, auch wenn es nur für einen winzigen Augenblick ist, einen Kurz­ schluss. Aber er trifft mich jetzt nicht mehr so tief. Und diese Traurigkeit ist eigentlich viel eher Müdigkeit. Und nun gute Nacht. 7. Januar 1942, Mittwochabend, 8 Uhr. Heute Nachmittag an der verschneiten Gracht entlang, nach dieser un­ erwarteten Szene im «Judenrat»:106 «Ich bin viel weniger überzeugt von meinem hundertprozentigen Können wie von meiner gesammten menschlichen Qualität.»

Und später, alle an einer Handschlaufe in der Linie 24: «Es war gut, daß Sie dabei waren, Sie regen mich immer an, weil Sie alles so mitleben und ich bin doch eigentlich ein ‹Podiummensch›, das kann man wohl sagen.»

Ich habe in mir irgendwie den Anspruch, dass ich etwas entweder sehr geistreich, treffend und besonders formuliere oder dass ich andernfalls gar nichts sage. Und dadurch komme ich niemals dazu, allerlei kleine uner­ wartete komische Ereignisse aufzuschreiben, weil ich es sogar nicht einmal vor mir selbst riskieren will, «langweilig» zu sein. Aber jetzt zwinge ich mich einmal dazu, diesen Vorfall von heute Nachmittag ganz simpel auf­ zuschreiben, nur die nüchternen Fakten. Obwohl, nüchterne Fakten gibt es im Zusammenhang mit S. eigentlich nicht, weil die Stimmung, die von ihm ausgeht, immer eine große Rolle spielt. Also: um halb 5 im Judenrat sein. Die Lust auf diese Unternehmung war nicht allzu groß. Ausfragerei, Vermögensverhältnisse, «Auswande­ rungsnummer», Gestapo und noch mehr solcher Aufheiterungen. Ein jun­ ger Mann hinter einem Tischchen. Sensibles, weiches, intelligentes Ge­ sicht. Die «russische Sekretärin» tänzelt frech überallhin mit ihm mit, als ob sie dazugehörte, quasi wegen des Gehörs, aber eigentlich nur, um nun einmal dabei zu sein. Und es lohnte sich dieses Mal wieder reichlich. Nach einer friedlichen Plauderei zwischen S. und diesem sanftmütigen, wirklich sehr liebenswürdigen jungen Mann kommt auf einmal ein kleiner Mann begeistert auf S. zu. «Guten Tag, Herr S.» S. schaut den Mann an, der einen herrlich sarkastischen Mephistopheleskopf auf seinem kleinen Körper hatte, erkannte ihn nicht wieder und sagte dann einfach auf gut Glück: «O ja, Sie waren sicher mal bei mir im Kurs.»

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Das läuft so in ganz Europa, stelle ich mir vor. Wenn ich mit ihm auf der Straße gehe, kommt alle paar Meter jemand mit ausgestreckter Hand auf ihn zu und S. sagt dann einfach sofort: «O, Sie waren sicher mal als Objekt bei mir.» Dieser Mann mit seinem spitzen, sarkastischen Teufelsgesicht, das auf spannende Weise mit dem sensiblen, weichen Gesicht des jungen Manns kontrastierte, schien noch nicht in einem Kurs gewesen zu sein, sondern kannte S. durch die Nethes, wollte aber wahnsinnig gerne einmal als Objekt kommen. Und der mit dem spitzen Gesicht sagte zu dem Sanftmütigen: «Pass bloß auf mit Herrn S., der weiß schon alles über dich. Aus deinen Händen.» Und der Sanftmütige legt sofort seine rechte Pranke offen auf den Tisch. S. hatte gerade Zeit und ging darauf ein. Und es ist eigentlich sehr schwierig zu beschreiben, wie es weiterging. Es ist auch so: Wenn S. sagt: «Das ist ein Tisch», und jemand anderes sagt auch: «Das ist ein Tisch», dann sind das zwei völlig unterschiedliche Tische. Die Dinge, die er sagt, selbst die simpelsten, klingen eindrucksvoller, bedeutender, ich möchte beinahe sagen «spannungsgeladener», als wenn jemand anderes die gleichen Dinge sagen würde. Und das kommt nicht daher, dass er exzentrische Allüren an den Tag legt, sondern daher, dass die Dinge bei ihm aus tieferen und stärkeren – und auch aus wirklich zutiefst menschlichen  – Quellen emporsprudeln als bei den meisten anderen. Und in seiner Arbeit sucht er das Menschliche und niemals das Aufsehenerregende, obwohl er doch immer wieder Sensationen hervorruft, gerade weil er den Menschen so tief ergründet. Zurück zu diesem kahlen Büro im Judenrat. Der sensible junge Mann, der seine Hände in die Höhe hielt, der interessierte Mephisto und S., der nach ein paar Bemerkungen einen sehr starken menschlichen Kontakt zu diesem jungen Mann herstellte. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir herkamen, um über unser Vermögen ausgefragt zu werden. Was S. genau sagte, kann ich nicht mehr exakt eruieren, aber er sagte unter anderem: «Diese Arbeit, die Sie hier verrichten, die verrichten Sie zwar gut, aber sie steht in einem Widerspruch zu Ihrem Charakter.» Und so ganz beiläufig: «Er ist ganz introvertiert, der Mann.» Nein, es ist doch zu schwierig für mich, es wiederzugeben. Ich spielte als brave Schülerin tapfer mit und sagte unter anderem: «Er hat auch was Weibliches und Sensibles.» Und es schienen Ta­ lente in dem jungen Mann zu schlummern, die wegen seines mangelnden Selbstvertrauens einfach nicht zum Vorschein kommen konnten. Und auch: «Wenn Sie für eine Aufgabe eingesetzt werden, dann werden Sie sie gut machen, aber wenn Sie selbst aus mehreren Dingen auswählen müssen, dann sind Sie unsicher.»

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Usw. usw. Es lief darauf hinaus, dass dieser junge Mann in wenigen Minu­ ten gewissermaßen umgehauen und völlig perplex war und sagte: «Aber Herr S., was Sie mir hier in zwei Minuten sagen, steht auch genau so in einem

Und er vereinbarte prompt einen Beratungstermin und er­ teilte auf einmal tausend Ratschläge für das Ausfüllen der Formulare. Ich merke, dass es mir überhaupt nicht liegt, das Humoristische dieser unvor­ hergesehenen Szene wiederzugeben. Wir grölten später wie ausgelassene Schuljungen an dieser verschneiten Gracht wegen des unerwarteten und albernen Verlaufs dieser Amtshandlung: ein Termin für eine Beratung und ein Beamter, der wegen spontaner Zuneigung für einen das Gesetz beugen würde, wenn er es könnte. Aber neben dem Humoristischen bewegte mich doch hauptsächlich dies: wie dort in dem kahlen und nüchternen Büro innerhalb von 5 Minuten ein wirklich menschliches und warmes – Test von mir.»

Da ruft er gerade wieder an, der Schlingel, ob wir noch kurz zusammen zu Tides Geburtstag gehen wollen. abends halb 12. Puh, diese Schallplatte habe ich mehrere Male ausschalten müssen seit heute Nachmittag. Es ist auch komisch, wenn man mit Vermögensangele­ genheiten startet und auf einmal mitten in den sozialen Beziehungen des befragenden Beamten landet und wenn ein kahles Büro plötzlich in ein Sprechzimmer von so etwas «Verrücktem» wie einem Psycho-Chirologen verwandelt wird. Heute Abend wieder diese wilde und unbezähmbare Wölbung auf sei­ ner Unterlippe geküsst. Und dann diese gute Tat, den schmollenden Nethe107 mitzunehmen. Und heute Mittag an der Gracht Hertha. Das war wieder ganz kurz ein grässlicher Stich ins Herz, aber das Herz ging mir doch wieder auf und dann war da wieder Platz, auch für Hertha. Er erzieht mich schon zu einer umfassenderen Liebe als nur derjenigen zu einem einzigen Menschen. Und zu einer Liebe, die aus etwas anderem besteht, als einen einzigen Menschen besitzen zu wollen. – Doch manch­ mal die Anwandlung, ihn besitzen zu wollen. Aber ich weiß, dass ich ihn nie mehr besitze als in den Momenten, in denen er mir innerlich so nahe ist, dass ich seine Nächte teilen könnte. Und wenn ich diese große Ver­ bundenheit mit ihm spüre, dann ist das eigentlich ein Höhepunkt in ­unserer Beziehung und dann muss diese Nacht nicht einmal folgen.

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Und jetzt geht es schon auf Mitternacht zu, es irrt wieder eine scheuß­ liche Bakterie in mir herum, den ganzen Tag Kopfschmerzen, «Erkältung im Kopf» hieß das früher bei mir. Ich bin glücklicherweise nicht mehr so stark davon beeinträchtigt wie früher, zwar schon in meiner Arbeit, aber nicht mehr in meinen Stimmungen. Donnerstagmorgen [8. Januar 1942], halb 12. Als wir gestern Nachmittag an der schneebedeckten Gracht entlanggingen, sagte er auf einmal, ich weiß nicht, wie er so plötzlich darauf kam: «Das erste was ich tue, wenn die Freundin wieder hier ist, ist zum ‹Mauritshuis› ge­

Und er plauderte weiter und frischte Erinnerungen an einen Tag mit ihr auf, der nun auch schon wieder einige Jahre her ist. Und für einen Au­ genblick war es schwierig für mich. Und früher, ganz am Anfang, in meiner kindischen und engstirnigen Beschränktheit, verschloss ich mein Herz ganz stark vor dieser weit entfernten «Freundin» und dachte: Ja, rede du nur, ich liege hier trotzdem schon in deinen Armen und ich werde schon dafür sor­ gen, dass du mich liebenswerter finden wirst als diese Freundin usw. usw. Aber nach einem schwierigen und langen Prozess hat sich da etwas verän­ dert. Gerade deshalb liebe ich ihn ja so sehr: weil sein Herz so groß ist und vielen Platz bietet und weil er allen treu ist, auf die Art und Weise, wie es sich bei jedem gehört. Wie war ich doch vor einem Jahr noch kindisch und kleinlich und wirklich «materialistisch» und wie wenig wahre Liebe war doch in mir. Und wenn ich jetzt ihre Briefe lese, so voller Heimweh und Traurigkeit und auch mit dem Wunsch, nicht zu verzagen, und voller Treue, dann schäme ich mich manchmal, dass ich ihn so ganz bei mir habe. hen.»

Freitagmorgen [9. Januar 1942], halb 10. Ich fragte ihn kürzlich nach seiner Definition von «Materialismus» und erwartete, ganze Bände erzählt zu bekommen, weil er so extrem oft sagt: «Das ist viel zu materialistisch gedacht» usw. Aber er prompt und bündig: «O, ich kann dir in wenigen Worten sagen, was ich unter Materialismus verstehe: «Ich verstehe prinzipiell unter Materialismus alles das, was entweder in der Voraussetzung oder in der Zielsetzung etwas Reales, Beweisbares oder Zweck­ haftes verfolgt.»

Zack, bumm, Ende! Es ist wieder die bekannte, kurze, kraftvolle und sichere Formulierung, die alles enthält. Und nachdem wir noch etwas wei­ tergeplaudert hatten, kam unter anderem noch dies hinzu:

8. Dezember 1941–25. Januar 1942 «Die Grenzsetzung ist natürlich individuell und zu urteilen danach ob das unter Umständen in jeder menschlichen Beziehung auftauchende Zweckhafte ein Durchgangsstadium oder ein Endstadium ist.»

Das bezog sich auf die Frage, wie weit der materialistische Aspekt in einer Beziehung zwischen Mann und Frau gehen soll. Geliebt werden zu wollen, weil einem das Gefühl des Selbstwerts so guttut. Das Lieben um der eigenen kleinen Befriedigung willen. Usw. usw. Es ist nur eine Feststel­ lung, nicht eine Ablehnung des Materiellen als solches. Es gibt nun einmal Himmel und Erde. Aber das Materielle muss ja nicht das Endziel sein. Es kam auch noch kurz dies zur Sprache: «Das Materialistische könnte auch darin stecken, daß sehr häufig die Menschen, die einen Gedanken oder ein System erfunden haben, dies ängstlich festhalten, Angst haben das weiterzu­ geben.»

Das «Alle Menschen werden Brüder»108 hat erst dann eine Chance auf Verwirklichung, wenn die Urheberrechte abgeschafft sind. Wenn jeder aus dem großen gemeinschaftlichen Reservoir schöpft, das über Jahrhunderte hinweg von der Menschheit erschaffen wurde. Wenn man auch weiß und einsieht, dass dieses Reservoir gemeinschaftlicher Besitz ist, und wenn man weiß, dass es ein Gnadenakt ist, wenn einem etwas aus diesem Reser­ voir zuteilwird, und dass es wirklich nicht wichtig ist, dass Sie es sind, Herr oder Frau soundso, sondern dass man dankbar ist, dass man einem der Gedanken oder der Gefühle der Menschheit eine Unterkunft anbieten darf. Dass man dankbar ist, dass man zufällig als Mittel, als Medium, als Vermittler ausgewählt worden ist, um dem Geist, dem Göttlichen, oder wie auch immer man es nennen will, wieder zu einer kleinen Form zu verhelfen, um die Möglichkeit zu schaffen, zu einer Form zu kommen. Und dann spielt es keine Rolle, ob es diese oder jene Person ist. Und durch dieses sogenannte «Unpersönlich»-Werden müssen die Konturen der eige­ nen Person nicht verwischt werden, sie werden im Gegenteil umso schär­ fer umrissen hervortreten können, wenn sie nicht mehr getrübt werden von und vermischt werden mit den kleinlichen, allzu kleinlichen persön­ lichen Überlegungen, die auf Geltungsdrang, Eitelkeit, Minderwertig­ keitskomplexen usw. basieren. Und etwas später in der Unterhaltung: «Das kosmische Fühlen ist dem materiellen Fühlen ganz entgegengesetzt. Wenn ein Mensch kosmisch fühlt, kann er nicht an das Materielle gebunden sein, weil dann alles ins Große geht. Das Materielle ist doch ganz an das Dies­

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Tagebücher seits gebunden und das alleinige Diesseits ist zweckhaft und endlich. Man kann nur wirklich da von materialistisch sprechen, wo das Materielle ein Zweck ist und nicht ein Mittel zum Zweck.»

Gott, ich danke dir für die viele Kraft, die du mir verleihst: Das innere Zentrum, aus dem heraus mein Leben regiert wird, wird stets stärker und mittelpunktiger. Die vielen widersprüchlichen Eindrücke von außen vertragen sich alle vortrefflich miteinander. Der Innenraum kann immer mehr umfassen und die ganzen Widersprüchlichkeiten berauben sich nicht mehr gegenseitig des Lebens, sie stellen sich auch nicht mehr gegenseitig in den Weg. Und nach einem Tag wie gestern wage ich es, mit einer gewissen Überzeugung zu sagen: In meinem inneren Reich herrscht Frieden, weil es dort eine starke, zentrale Gewalt gibt. Gott, ich finde, dass ich gut mit dir zusammenarbeite, dass wir gut zusammenarbeiten. Ich biete dir einen immer größeren Raum an, in dem du wohnen kannst, und ich beginne dir auch wieder treu zu werden. Ich muss dich fast nie mehr verleugnen. Auch mein eigenes Innenleben muss ich in frivoleren und oberflächlicheren Momenten nicht mehr voller Scham verleugnen. Das starke Zentrum sendet Strahlen aus, auch in die entferntesten Peripherien. Ich schäme mich nicht mehr für meine tieferen Momente, ich tue nicht mehr manchmal so, als wollte ich sie nicht ­kennen. Gestern Vormittag am Schreibtisch, abgetaucht in der Unterströmung, und abends die Theaterluft bei den Levies. Und bei den Levies habe ich Tideman gegen all ihre Kritik verteidigt. Die Gegensätze stellen sich nicht mehr gegenseitig in den Weg. Rilke und Marlene Dietrich109 vertragen sich sozusagen vortrefflich in mir, ich muss den einen nicht für einen Mo­ ment verleugnen, um den anderen wertschätzen zu können. Was für ein dummer Vergleich eigentlich, wie bin ich darauf gekommen? Und gerade dieses intensive Gespräch mit Jan Polak. Daran merkte ich eigentlich erst, wie ich auch artikulieren kann, was mich berührt, und wie ich auch den Mut habe, meine innerlichen Dinge auszusprechen. Das wird dann bei­ nahe ein Zeugnis. Es geschah viel gestern, es war wieder ein reicher und randvoller Tag, es ist zu viel, um alles aufzuschreiben. Und nun an die Arbeit. Und ich danke dir, Gott, in meinem großen inneren Reich herrscht Ruhe und Frieden, dank der starken zentralen Gewalt, die du ausübst.

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Selbst die äußersten Randgebiete spüren noch deine Autorität und deine Liebe und sie lassen sich von dir leiten. 6 Uhr. Diese zerbrechliche, stammelnde kleine Frau Levie gestern Abend: «Wenn ich besoffen bin, dann bin ich wirklich ganz reizend.»

Aus diesem Gespräch mit Jan: Wenn ich früher an meinem Schreibtisch saß, war ich von einer Un­ ruhe erfüllt, dass ich draußen irgendwo im Leben etwas verpassen würde. Und deshalb konnte ich mich nie gut auf mein Studium konzentrieren. Und wenn ich im «wirklichen» Leben unter den Menschen war, sehnte ich mich immer wieder niedergeschlagen nach diesem Schreibtisch und war unter den Menschen auch nicht wirklich fröhlich. Und diese künstliche Trennung von Studium und «wirklichem Leben» ist jetzt aufgehoben. An meinem Schreibtisch «lebe» ich jetzt wirklich. Das Studium ist zu einem wirklichen «Erleben» geworden und es ist nicht mehr etwas, das nur mei­ nen Kopf allein etwas angeht. An meinem Schreibtisch bin ich ganz und gar vom Leben durchflutet, und im «Leben» trage ich die innere Ruhe und die erworbene Ausgeglichenheit mit mir herum. Früher musste ich mich immer wieder aus der Außenwelt zurückziehen, weil die vielen Eindrücke mich verwirrten und unglücklich machten. Und dann musste ich in ein ruhiges Zimmer flüchten. Jetzt trage ich dieses «ruhige Zimmer» sozu­ sagen immer mit mir herum und ich kann mich immer dorthin zurück­ ziehen, ob ich nun in einer vollen Straßenbahn sitze oder einen ausgie­ bigen Bummel mache.  – Die Glocke ruft zum Essen!  – Heute Abend S. –??? Sonntagabend, 11. Januar [1942], halb 9. Komisch, dort sitzt S. in einer Ecke und plaudert mit Pa Han. Heute Nachmittag sang er die Dichterliebe110 und danach aß er Joghurt und dann saß er neben mir am Schreibtisch und wir lasen auf einmal seine Briefe aus den Sommerferien und er sagte: «Ich bin doch ein ganz verrückter Hund.» Aber darum geht es jetzt nicht. Wie kann ich dieses Jahr in Worte fassen. Dort sitzt er, der gutmütige Onkel mit der dämonischen Unterlippe. Dort sitzen meine zwei Männer und plaudern zusammen, der 55-Jäh­ rige und der 62-Jährige. Dann muss ich halt mal ohne Inspiration etwas machen. Du wirst noch hart arbeiten müssen, wenn du am 3. Februar damit fertig sein willst.

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Nein, verrückt, ich kann nicht über S. schreiben, während er im Zimmer ist – «Sie sehen etwas matt aus heute», sagte er gerade. – Na, dann mal los! abends halb 12. Ich bin froh, dass morgen früh dieser riesige Abwasch in der unordent­lichen Küche auf mich wartet. Es ist wie eine Art Buße. Ich verstehe, weshalb Mönche in rauen Kutten auf kalten Steinen knien. Ich muss sehr ernsthaft über diese Dinge nachdenken. Ich bin doch wieder ein bisschen traurig heute Abend. Aber ich habe diese Umarmungen doch selbst gewollt. Dieser Schatz, und dabei hatte er sich gerade vorgenommen, viele Wochen lang ein keusches Leben zu führen. Und dies angesichts der Gestapo, die ihn in ­wenigen Wochen erwartet. Um sozusagen – kindlich gesagt – selbst nichts als Güte und Reinheit auszustrahlen und dadurch die guten Geister im Kos­ mos auf sich zu ziehen. Warum sollte man das auch nicht glauben können? Und dann kam ein wildes «Kirgisenmädchen»111 daher und ließ die Keusch­ heitsträume platzen. Und ich fragte ihn, ob er es nun heute Abend im Bett, wenn er über den Tag nachdenken wird, bereuen werde. «Nein», sagte er, «ich bereue nie etwas und es war doch schön und für mich ist es eine Beleh­ rung, daß eben noch ein ‹Erdenrest› in mir ist.» Aber diese plötzliche körper­ liche Annäherung rührt bei mir immer von einer «seelischen Nähe» her und darum ist es doch gut. Und was nehme ich davon mit? Doch wieder Trau­ rigkeit. Und die Erkenntnis, dass ich in Umarmungen nicht ausdrücken kann, was ich für jemanden empfinde. Und ein Gefühl, dass jemand mir in meinen Armen, ausgerechnet in meinen Armen, entgleitet. Ich betrachte seinen Mund jetzt, glaube ich, lieber wieder aus der Ferne und sehne mich danach, als dass ich ihn auf meinen Mund drücke. In sehr seltenen Augen­ blicken verschafft mir dies eine Art Glück, um dieses große Wort einmal zu gebrauchen. Und jetzt schlafe ich heute Nacht neben Han ein, aus reiner Traurigkeit. Es ist doch alles recht chaotisch. So, jetzt weiß ich es: Er betet, nachdem er seine Zähne «herausgenom­ men» hat. Eigentlich ja auch logisch. Man muss zuerst mit allen irdischen Dingen abgeschlossen haben. Ich scheine mich jetzt in einer Blütezeit zu befinden, ich strahle in alle Richtungen aus, sagt er, und er genießt das mit. Vor einem Jahr war ich ja wirklich eine Todkranke mit meinen Mittagsschläfchen von 2 Stunden hintereinander, mit meinem Pfund Aspirin pro Monat, es war schon ziem­ lich beängstigend, wenn ich daran denke. Heute Abend blätterte ich ein wenig in diesen Heften. Sie sind für mich jetzt wirklich «klassische Litera­

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tur»; die Probleme, die ich damals hatte, scheinen weit weg zu sein. Es war ein mühsamer Weg, zu diesem intimen Verhältnis zu Gott zurückzufinden und abends am Fenster zu sagen: Hab Dank, o Herr. In meinem inneren Reich herrscht Ruhe und Frieden. Es war wirklich ein mühsamer Weg. Nun erscheint mir alles so einfach und selbstverständlich. Dieser Satz hat mich wochenlang verfolgt: Man muss auch den Mut haben auszuspre­ chen, dass man glaubt. «Gott» aussprechen. Jetzt gerade in diesem Mo­ ment, in dem ich etwas schwach und müde und traurig und nicht so ganz zufrieden mit mir bin, empfinde ich das nicht so, aber es bleibt trotzdem ein fester Teil von mir. Heute Abend werde ich sicher nicht zu Gott spre­ chen, auch wenn da doch ein Verlangen nach kalten Steinen ist und ich mich auf die Dinge besinnen und mit ihnen Ernst machen möchte. Ernst machen mit den Dingen des Körpers. Aber mein Temperament schlägt noch zu oft seinen eigenen Weg ein, es harmoniert noch nicht mit der Seele. Und ich glaube doch, dass ich es in mir habe: das Bedürfnis nach Harmonie, auch in dieser Hinsicht. Und doch glaube ich immer weniger an diesen einen Mann für meinen Körper und meinen Geist. Ich bin jetzt doch anders traurig als früher. Ich falle nicht mehr so tief. Der Traurigkeit wohnt schon wieder das Aufrichten inne. Früher dachte ich, dass ich jetzt mein ganzes Leben lang immer so traurig bleiben würde. Und jetzt weiß ich, dass diese Momente auch zu meinem Lebensrhythmus gehören und dass das gut ist. Da ist wieder dieses Vertrauen, dieses sehr große Vertrauen, auch in mich. Ich vertraue auch auf meine eigene Ernst­ haftigkeit und weiß allmählich von mir selbst, dass ich mein Leben gut meistern werde. Es gibt Momente, meistens wenn ich allein bin, in denen ich ein sehr tiefes und dankbares Gefühl der Liebe für ihn in mir trage, so ein Gefühl von: Du bist mir so nah, daß ich Deine Nächte mit Dir teilen möchte. Und das sind dann nach meinem Empfinden die Höhepunkte unserer Beziehung. Doch es ist sehr gut möglich, dass so eine Nacht in Wirklichkeit zu einer Katastrophe führen könnte. Tut sich hier nicht ein eigenartiger Abgrund auf? Und jetzt gute Nacht, denn ich fühle, dass ich vor lauter Müdigkeit anfange, total dummes Zeug zu reden. Ha, dieser Abwasch morgen früh. Und dennoch: Ich will seinen Körper ja nicht im Geringsten, auch wenn ich manchmal auf einmal enorm verliebt bin. Kommt es vielleicht daher, dass ich ihn so tief und beinahe «kosmisch» liebe, wie es körperlich kaum je möglich ist?

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Tide und ich stehen ihm am nächsten, obwohl wir so gegensätzlich sind. Wir müssen einander auch sehr lieben. Heute Nachmittag, als Tide uns hinausbegleitete und uns beide küsste, entstand für einen Moment so eine sonderbare Intimität zwischen uns dreien. Und wirst du jetzt endlich ins Bett gehen? Montagmorgen [12. Januar 1942], 9 Uhr, am Ofen. Guten Morgen, neue Woche. Es ist schon alles wieder gut. Der gestrige Abend ist schon wieder sehr lange her. Er ist schon wieder harmonisch in die vielen Abende des letzten Jahres eingereiht. Er ist schon zu einer klei­ nen Welle im großen Strom des Lebens geworden, der durch mich hin­ durchfließt. Er wird wohl gestern Abend spät gesagt haben: «Es war schön und ich bereue nicht.» Und ich sage jetzt: «Es fehlte irgendwie etwas, gestern Abend, aber ‹ich bereue nicht›.» Wie war es doch bei Han vertraut und warm heute Nacht. Und doch, rückblickend, war es auch nicht so, dass ich bei Han Trost suchte wegen der Traurigkeit, die S. in mir ausgelöst hatte. Innerlich doch treu. Es ist doch immer dieselbe alte Leier. Dieser Abwasch war wieder einmal eine symbolische Handlung zur Schaffung von Ordnung. Han läuft wie ein Jäger durch das Zimmer und sieht mich hier am Ofen kritzeln und fragt ironisch: «Machst du dir schon wieder Gedan­ ken? Überführst du deine Gefühle bezüglich des Abwaschs in eine höhere Form? Und jetzt denkst du sicher: Er kapiert davon nichts!» Dieser Schatz. Die letzte Dose Apfelsirup112 wurde beim Frühstück aufgebraucht. Aber noch zwei Tassen Tee, wenn auch nicht ungepanscht, nach über 1 ½ Jahren Krieg. Ich beginne einfach mit ein wenig Grammatik, diesen übersetzten Bordewijk repetieren113 und für Hettys114 Unterricht vorbereiten.  – Du lebst tief in mir drin, Gott. Ich finde dieses Leben sehr gut. – Han erklärt mir inzwischen zum 5 × 365sten Mal, wie man anständig ein Bett abzieht, und fügt sofort hinzu: «Aber ich will dich nicht bei deinen erhabenen Gedanken stören.» Es ist halb 10 Uhr morgens, die schwarzen Verdunke­ lungsvorhänge115 sind schon aufgezogen, aber das Licht ist noch komplett an, der Morgen ist noch ein wenig schmuddelig hinter den Fensterschei­ ben. Vor dem Haus wird wohl wieder die gefrorene weite Steppe liegen. Und jetzt aber wie der Blitz. Auf einmal huschte gestern Abend ein sehr bewegter Ausdruck über

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sein Gesicht, während er dort auf dem Boden lag. Ich liebte dieses Gesicht in diesem Moment sehr und fragte: «Woran denken Sie, gerade in diesem Moment?» (Dieses «Sie» manchmal noch in den intimsten Momenten, ist das nicht seltsam?) Es ist schon wahr, dass die höchste Freude und die tiefste Traurigkeit oft nahe beieinanderliegen. Und über diese tiefe Traurig­ keit: «Das ist wohl die ‹Weltenseele› die sich bemerkbar macht.» Wenn jemand an seiner eigenen Entwicklung immer weiterarbeitet und sich nicht schämt, dies anderen zu erzählen, auch wenn es manchmal noch so alberne Dinge sein mögen, dann wirkt er auch an der Entwick­ lung des anderen mit. Dies im Zusammenhang mit seinen Keuschheits­ plänen. Und alles, was er diesbezüglich so sagte, und der Ausdruck seines Gesichts dabei. Und meine Reaktion darauf: Bin ich wirklich ernst genug in diesen Dingen? Käthe rennt auf einmal strahlend ins Zimmer herein und ruft: Ich habe von dem jüngsten Assistenten116 Bezugsscheine für 49 Kilo Kartof­ feln erhalten. Und so werden wir schon durch die Kälte kommen. abends. Kurz etwas aus Jung: «… kenne ich Leute, denen die innere Begegnung mit der fremden Ge­ walt ein Erlebnis bedeutet, dem sie den Namen ‹Gott› beilegen. Auch ‹Gott› in diesem Sinne ist eine Theorie, eine Anschauung, ein Bild, das der mensch­ liche Geist in seiner Beschränktheit sich erschafft, um ein unausdenkbares, unaussprechbares Erlebnis auszudrücken. Das Erlebnis ist das einzig Wirk­ liche, das nicht Wegzudisputierende. Bilder aber können beschmutzt und zer­ rissen werden.»

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Heute Abend dieser Brief von der kleinen Frau Levie.118 Ich füge ihn hier zum Spaß ein, weil diese Frau auf irgendeine Art und Weise ein poetisches Erlebnis für mich ist. Zum ersten Mal war sie bei der Lesung von S., zerbrechlich, schmal und etwas Bescheidenes und Geheimnisvolles und auch eine durch und durch elegante und charmante Frau. Am Kursabend: Ich merkte auf ein­ mal, dass sie stotterte, und das machte sie eigentlich noch charmanter. Ihre Kleidung dort in dieser zugigen Szene, und sie – eine schlanke Person in Schwarz  – mit den langen, seidenen, dunkelblonden Haaren neben mir. Ich sah sie so gekleidet in meinen Gedanken und es war ein sehr be­ zauberndes Bild. Alles komplett ausgeplündert, gestohlen und verbrannt.119

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Und ihr stiller Mut, auch derjenige des Mannes, der etwas von einem Gangster hat, und doch ab und zu etwas sehr Sanftes im Gesicht. Ich werde S. vorschlagen, gemeinsam an dieser Frau zu «arbeiten». ­Irgendwie Hemmungen. [Mittwoch] 14. Januar [1942], morgens halb 12. Für mein Empfinden müsste ich nie mehr etwas schreiben, weil eigentlich alles aufgeschrieben werden müsste. Ein raues Handtuch auf deinem nackten Körper am kalten Morgen. Und eine Freundschaft, die jetzt wie eine ständig lebendige und fühlbare Quelle in dir ist. Und eine Heiterkeit, die anscheinend durch nichts mehr getrübt werden kann. Wenn ich ein Tief habe, dann ist es eigentlich nur noch ein solches: Das Leben in dir ist dann plötzlich wie ein schmaler, trüber Wassergraben. Aber dieser Wasser­ graben ist nur ein ganz schmaler Strich in einer weiten und blühenden Landschaft. Früher war dann auf einmal alles grau und trübe und matt. Und jetzt sehe ich weiterhin die ganze Landschaft, und dieser Wassergra­ ben gehört da nun einmal auch dazu. Ich überblicke jetzt ständig das Ganze. Auch bei Menschen. Wenn Tideman früher auf so kindische Art ehrgeizig und beinahe backfischhaft albern und naiv war an den Kurs­ abenden, dann ist mir dadurch plötzlich der Blick auf den Rest ihrer Per­ sönlichkeit abhandengekommen. Und jetzt behalte ich stets auch den Rest im Auge. Ich sehe jetzt ständig den Wert des ganzen Menschen, auch in seinen weniger tiefen und alltäglicheren Momenten. Und die praktische Folge davon ist, dass das Leben wie eine unverbrüchliche Einheit in mir ist und in alle Richtungen aus mir herausströmt. Auch akzeptiere ich mich selbst jetzt in meiner Gesamtheit. Früher hätte mich das peinlich berührt, wenn sie mir – wie gestern Abend – nach dem Kurs gesagt hätten: «Du bist viel zu ätzend und zu ironisch zu diesem Objekt gewesen, das darfst du nicht machen, das ist nicht nett.» Früher hätte ich mich deswegen be­ schissen gefühlt. Und das nur, weil ich dann gedacht hätte: Jetzt finden sie mich sicher nicht mehr nett. Aber an so etwas denke ich gar nicht mehr. Kritik wird dankbar akzeptiert und sie wird genutzt, aber ich grüble nicht weiter darüber nach. Ich akzeptiere selbst auch meine unerfreulicheren Momente und bekenne mich vor anderen auch ehrlich dazu. Auch im russischen Konversationsunterricht:120 Wenn ich dort früher solche bescheuerten Fehler gemacht habe, erschütterte das mein Selbstver­ trauen sehr stark und ich schämte mich zu Tode, aber jetzt akzeptiere ich es sehr heiter, dass ich nun einmal Fehler mache, und es ist ein Ansporn,

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umso härter zu arbeiten, aber es ist kein Dämpfer mehr. Ich habe sozu­ sagen den Mut, Fehler zu machen, und bewahre dabei trotzdem mein Selbstvertrauen. Bin sehr gespannt, wie meine Mutter und S. morgen Abend aufein­ ander wirken werden. Die ganze Familie komplett und S. dazu. Der Kreis schließt sich immer mehr und das ist schön. In dem Buch von Paul Stefan über Gustav Mahler – meiner Lektüre vor oder während des Frühstücks und des Mittagessens – stieß ich gestern auf Folgendes: «… Und so ist es manchen gelungen, die ‹scheinbare›, die ‹gemachte› Nai­ vität des Komponisten, das ‹Unruhige›, ‹Grübelnde›, ‹Launenhafte› des wirken­ den und leitenden Künstlers als unecht zu verdächtigen. Damit war ihre Teil­ nahmslosigkeit gerechtfertigt. Statt zu fragen, ob sie denn noch unbefangen genug seien, naive Größe naiv aufzunehmen, verdächtigen sie den Schenken­ den, daß er spiele, künstle, sich verstelle. Nein, sie würde man nicht betrügen. Denn das ist die größte Angst der heimlich Haltlosen und – öffentlich Meinen­ den, daß sie einmal überrumpelt werden könnten; und sie bedenken nicht, daß zehnmal überschätzen nicht so schlimm ist wie einmal verkennen.»

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In mir steckte früher ganz sicher ein großes Stück eines «heimlich Halt­ losen» und eines «öffentlich Meinenden». Was soll ich jetzt heute Abend mit dieser hilflosen, kleinen Kindfrau122 anfangen (diesen Eindruck macht sie manchmal)? Sie scheint etwas von mir zu erwarten. Ich denke, dass ich ihr ganz einfach diesen Vortrag von Jung vorlesen werde: Die Bedeutung der Psychologie für die Gegenwart.123 Und stelle mich darauf ein, dass diese Abende bei ihr nicht zu einem zufäl­ ligen Besuch ausarten, sondern dass für uns beide etwas Grundlegendes dabei herauskommt. Früher war der Umgang mit meinen Mitmenschen manchmal so unmotiviert und zufällig, man saß beieinander und manch­ mal wurde es gut, der Funke sprang auf einmal über, und dann wiederum hing man wieder einfach so ein bisschen zusammen herum. Ich könnte das jetzt nicht mehr. Weil jetzt so eine fühlbare, lebendige, immer in Be­ wegung bleibende Quelle tief in dir drin ist, weil du selbst immer klarer und deutlicher wirst, gibst du dich auch nicht mehr mit undeutlichen, unklaren, zufälligen menschlichen Beziehungen zufrieden. Ja, ich werde ihr diesen Essay heute Abend vorlesen und werde ihr nicht mit geheimnis­ vollen psychologischen Erkenntnissen imponieren, die ich ihr im An­ schluss daran ausführen würde, sondern ich werde mich ihr komplett so

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ausliefern, wie ich bin, mit allem, was ich weiß und nicht weiß; ich freue mich darauf. nachmittags 4 Uhr. Wenn ich auf diesem Foto sehr komisch aussehe, liegt dies daran, dass die beiden Männer sich in meinem Gesicht gekreuzt haben und es zu einer verzerrten Maske machten. War den ganzen Tag so stark von S. erfüllt. Und Han sagt auf einmal heute Nachmittag: «Soll ich wieder einmal ein Foto machen?» Und ich total begeistert: «Ja.» Ich dachte, dass mich all meine Gefühle und die Liebe erstrahlen lassen werden und dass es dann ein «Foto» ganz speziell für ihn werden sollte. Aber Han war derjenige, der es machte. Und das ging doch eigentlich nicht. Sehr stark irritiert. Wenn man innerlich sehr stark von dem einen erfüllt ist, kann man den Kontakt zum anderen gerade nicht ertragen. Einfach gerecht bleiben. Und genug Liebe für beide haben. Und die habe ich auch. Es sind zwei sehr unter­ schiedliche Beziehungen. Aber im kalten Wintergarten prallten sie doch kurz heftig gegeneinander. Ich denke, dass daher auch das sehr große Ge­ fühl des Unbehagens kommt. Ja, die Dinge sind nicht so einfach. Man kann damit auch nicht spielen. Es sind ernsthafte Angelegenheiten. Diese zwei Männer. Ein wenig später. Ich kann mich jetzt nicht konzentrieren. So ein extrem unangenehmes Gefühl. Sobald es in mir drin nicht mehr rein ist, bin ich auch nicht mehr für andere offen. Diese Gereiztheit gegenüber Han, von der ich nicht er­ mitteln kann, wie tief sie ist, vertreibt gerade alle Liebe, die in mir war. Und dann werde ich auf einmal müde und lustlos. Habe jetzt zum Bei­ spiel überhaupt keine Lust, zu dieser kleinen Frau L. zu gehen, weil ich mich zu kraftlos fühle, um ihr etwas geben zu können. Aber zumindest weiß ich jetzt, was es ist. Wie subtil doch alles in einem reagiert. Damit darf kein Unfug getrieben werden. Die Zufahrtswege zu dir selbst sind dann auf einmal wieder verstopft. Passiert eigentlich fast gar nicht mehr in letzter Zeit. Aber es war dennoch eigentlich ein fast dramatischer Moment. Han, der sagt: «Schau nicht mit solchen hochgezogenen Augen und so unnatürlich», während ich mir ge­ rade einbilde, dass ich alle Arten von Liebe ausstrahle. Und ich, gereizt: «Mische dich doch bitte nicht ein, lass mich einfach schauen, wie ich will.» Na ja, da war schon alles durcheinander und ich zog nur noch eine

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peinliche Grimasse. Bei all den Tausenden von Malen, bei denen er mich früher fotografiert hatte, galt mein Blick ihm. Aber dies war doch einfach eine komische Situation. Und auch sehr unlauter. Du kannst dich nicht von einem Mann, der dich liebt und der auch ein gewisses Anrecht auf dich hat, mit Liebe für einen anderen im Gesicht fotografieren lassen. Und dann war es obendrein auch noch so kalt dort. halb 8. Es ist natürlich nicht nur dieses Foto, das weiß ich durchaus. Es kommt einfach kein Schwung in die «Ode» an S. Ich kann die Form noch nicht finden, mit der ich ausdrücken kann, was dieses Jahr alles mit sich ge­ bracht hat. Oder eigentlich kann ich es schon, manchmal, ab und zu. Aber dann entgleitet es mir wieder. «Schöpfen» ist wahrlich eine schmerzhafte Angelegenheit. Aber nicht nur das. Heute Mittag dachte ich auf einmal, dass ich die richtige Form gefunden habe. Die Sätze wollten ohne Weiteres aus mir herausfließen. Es scheint dann zumindest manchmal so zu sein. Und dann kamen dieser verflixte kalte Wintergarten und Han mit seiner Fotomanie dazwischen. Und jetzt habe ich Angst, dass ich nicht fertig­ werde damit. Die Sätze türmen sich manchmal in mir auf. Ich würde so gerne viele Worte und Gebärden von ihm und Momente mit ihm wieder­ geben, und zwar in den treffendsten Worten, die ich im Moment finden kann. Es ist bereits viel gewonnen: Ich stehe dem Graben, der sich da auftut, nicht jedes Mal wieder so fremd und abgeneigt gegenüber, wenn ich bei­ spielsweise abends schreibe: «Du bist mir manchmal so nah, daß ich Deine Nächte mit Dir teilen möchte», und am Morgen kriege ich seine Stimme in Bezug auf eine sachliche Angelegenheit am Telefon zu hören. Ich kann jetzt einfach von der einen Ebene auf die andere wechseln und komme mir nicht total verrückt vor auf der einen, obwohl ich mich gerade auf der anderen aufhalte. O, mein Liebes, mein Gutes, mein Teures. Und jetzt mit Jung und dem «Manuskript» in die Watteaustraat124 – Brrr. [Donnerstag] 15. Januar [1942], morgens 8 Uhr. Gott, ich danke dir. Ich danke dir, dass du in mir wohnen möchtest. Ich danke dir für alles.

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19. Januar 1942, Montagmorgen, 10 Uhr. Was meinen Umgang mit der Sprache betrifft: Es ist ab und zu gerade so, als ob das Eis sich in mir zu stauen beginnt, als ob Bewegung in die er­ starrte Sprachmasse in mir käme. Etwas Ordnung in die Ereignisse meines Geburtstags bringen. Er be­ gann mit diesen violetten Tulpen, die da in aller Frühe durch Eis und Kälte gebracht wurden, sorgfältig verpackt. Zarte Blumen an so einem ­eisigen Wintermorgen. Und es lag auch ein Buch bei: «Wirklichkeit der 125 Seele» von Jung. Und zudem lagen 2 Visitenkarten von ihm bei, auf der einen die Aufschrift «offiziell», auf der anderen «unoffiziell», geschrieben in seiner teuren Bärentatzen-Handschrift. Und auf der «Unoffiziellen» stand: «Seiner in geistiger Beziehung hervorragenden, in praktisch-realer Bezie­ hung immer besser werdenden Sekretärin zur Unterstützung auf dem Weg über die reale Wirklichkeit zur ‹Wirklichkeit der Seele›.»

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Und durch diese Blumen und dieses Buch und die Kärtchen war ich auf einmal wirklich in «Geburtstagsstimmung». Er versteht die Kunst, eine festliche Stimmung um sich herum zu verbreiten, auch wenn er selbst nicht dabei ist. Und dann kam Käthe mit einem Fläschchen, das mit etwas Gelbem gefüllt war, und ich roch daran, aber es war kein Eau de Cologne, sondern Salatöl.127 Und ich sagte: «Käthe, das schreibe ich in mein Tagebuch, wie werden wir in späteren Jahren, wenn der Krieg vorüber ist, noch Spaß daran haben.» Und einen kleinen Beutel Grießmehl brachte sie auch mit, alles aus ihrem kleinen Vorrat; so ein Schatz! Und um 10 Uhr Vater und Mutter in ihrem kalten Pensionszimmer.128 Vergnügte Unterhaltung und dann um halb 11 zu S., der gleich um die Ecke wohnte. Jacke, Weste, Schal, Mütze, Handschuhe, alles kreuz und quer durch sein Zimmer geschleudert, sodass er später die Nethes rief, sie sollten das Stillleben bewundern kommen. Und dann habe ich mich in seine Arme geworfen und wir hatten ein ausgelassenes und intensives Vier­ telstündchen, das war der beste Moment des Tages. Und zu dieser Visiten­ karte: «Wenn ich etwas sage, dann meine ich es auch, das ist kein ‹Schmoes›, was ich da geschrieben habe.»

Alle spannenden Dinge zusammen an diesem Tag. Er schien unerwar­ tet eine Stunde frei zu haben um 5 Uhr und wollte dann eine Analyse meiner Mutter durchführen, bei mir vor dem Ofen. Mutter angerufen, erstes Kennenlernen am Telefon. S. später zu mir: «Ich muß streng sein gegen Ihre Mutter, sonst komme ich gar nicht zu Wort.»

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Mit dem Apfelkuchen, den er für mich von Frau Nethe hatte backen lassen, in einer Serviette auf dem Fahrrad nach Hause. Dieser Kuchen ist nur ein einziges Mal auf den Boden gefallen, mitten in der Apollolaan, aber er war noch unversehrt. Und so weiter und so fort. Und dann die japanischen Kirschblüten von der kleinen Frau, mit der ich Jung lese. Da stehen sie nun und blühen, frühlingshaft und zartrosa vor dem hellgrauen Vorhang, während vor dem Haus die große Rasen­ fläche zu einer weißen gefrorenen Steppe geworden ist. Mittwochabend: die schlanke kleine Frau in ihrer langen Hose und dem knallblauen Pull­ over, später eine geblümte Cretonnejacke über dem fröstelnden Persön­ chen. Sie ist mir noch ein Abenteuer. All ihre verschiedenen Gesichter sind vor meinem geistigen Auge noch nicht zu einem einzigen verschmol­ zen, genauso wie es bei S. zu Beginn der Fall war. Am Donnerstagabend mit dieser kleinen Pelzmütze, wie eine russische blonde Sonja. In diesem Punsch war wirklich nichts Gefährliches, aber sie wurde auf einmal locker gegen Ende des Abends und sprach sogar 5 Minuten hintereinander ohne zu stottern mit S. Und was mich an diesem Abend auch traf: die Unverdorbenheit von ihr und ihrem Mann: Sie wurden in allen Kulturzentren Europas von ­guten Künstlern verwöhnt und haben doch die Empfänglichkeit für das «unmittelbare» Singen Tides bewahrt, die ihre Seele zum Besten gibt. – Ar­ mer Jaap mit seiner Totenmaske. Tide sagte später, und darin zeigte sich wieder ihre intuitive Intelligenz: «Ich fand, dass dein ältester Bruder sich innerlich so sträubte.» Es gab noch einen guten Moment: der gütige, schwere Kopf von S. unter unserer Lampe, in die Zeitung vertieft. Es strahlte so viel Atmo­ sphäre und Wärme und Vertrautheit von ihm aus. Plötzlich der Sinnes­ eindruck: Ich möchte dich immer um mich herum haben, mein ganzes Leben lang. Käthes vorzügliches Abendessen, obwohl ja schon seit 2 Jahren Krieg ist: Braune-Bohnen-Suppe und Lauch und Birnen und Pudding mit Pflaumenkompott und Blumen und der Apfelkuchen zur Dekoration. Und S., der Suarès’ Dostojewski ganz hat abtippen lassen, das wurde beinahe zu viel. Du, verschwenderisches. Und so weiter und so fort. Den Freitagmorgen verträumt und den Schreibtisch aufgeräumt und die vielen Eindrücke dankbar verarbeitet. Vor allem Frau L. in ihren ver­ schiedenen Gestalten und Ausdrucksformen. Es liegt noch ein Schleier

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über ihr, der es verhindert, dass ich mich ihr gänzlich nähern kann. Etwas sehr Zerbrechliches, aber auch Humor und Originalität. Und vor allem diese Kombination aus Charme, Eleganz und großem Ernst, der sich je­ doch nicht aufdrängt, ist sehr faszinierend und auch relativ neu für mich. Ein Übermaß an Musik diese Woche. Samstagabend Mischa. Färbt er seine Haare? Es scheint ein rötlich-blonder Glanz durch. Sonst geht es ihm gut. Die zwei Zugaben von Chopin. «Hheerrlich», flüsterte der scheue E ­ ukalyptus. Ich kann sowieso nicht «unmittelbar» genießen mit der ganzen Familie um mich herum. Vor allem Mutter beraubt mich in gewisser Hin­ sicht der Aussicht. Frau L. jetzt wieder ganz anders, sachlicher, grässlicher, uninteressanter, aber gerade durch diesen neuen Aspekt wieder umso inte­ ressanter. Als es zu Ende war, bin ich noch kurz mit S. und Dicky mitgegangen, Bratkartoffeln und Marzipan, und dann schlaftrunken mit einem Apfel in meiner Hand den kalten Weg zurück. Todmüde und am nächsten Nach­ mittag hier wieder Musik. Am späten Samstagabend kam kurz wieder ein Unlustmoment auf, der den ganzen guten Tag zu verschlingen drohte. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ein einziger solcher Unlustmoment wie ein tiefes Loch sein kann, das Hunderte von guten Momenten verschlingt. Wie ein Drachenrachen, der einen ganzen guten Tag auffrisst. Aber ich habe diesen Tag von dem plötzlich gähnenden Abgrund ferngehalten, ich habe die vielen Momente einer nach dem anderen wieder betrachtet und zu mir selbst gesagt: Ich Undankbare. Wie habe ich bloß früher gelebt. Allem Guten gegenüber ungerecht. Alles Gute gegen einen einzigen ­depressiven Moment eintauschen. Barbarin! Und so habe ich meinen Tag gerettet. Das war dann noch der einzige kleine Rest meiner «Familien­ neurose». Das ist wirklich erwähnenswert: Keine Spur von Kopfschmerzen seit Donnerstag. Trotz so vieler Emotionen und der Familie um mich herum. Dem gestrigen Nachmittag sah ich mit Schrecken entgegen und doch er­ wies sich dieser als einer der schönsten und harmonischsten Nachmittage des «Spier-Clubs». Und mein Vater und meine Mutter. Und Vater, der S. mit Vergnügen singen hörte und später sagte: «Es spielt eigentlich keine Rolle, ob die Stimme etwas schöner oder weniger schön ist, die Haupt­ sache ist vielmehr, dass man mit Gemüt und Verstand singt.» Und Fräu­ lein Wolterbeek aus Beetsterzwaag mit ihrer Geige. Und Glassner mit dem «Carnaval» von Schumann.129 Und Adri, die direkt im Skianzug und mit

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Bergschuhen aus den verschneiten Wäldern kam. Und die weiße, weite Puszta vor dem Haus und gelbe Narzissen und violette Tulpen auf dem Flügel und das rosa Glück von Frau L. auf dem Kamin und heißer Tee mit Keksen und Atmosphäre und Geselligkeit und Musik. Und Tassen ab­ waschen und das Zimmer verändern. Und ich zu Vater: «Findest du das nicht flotte Mädchen? Sie sind in allen Sätteln gerecht.» Es war eine sehr lebhafte Gesellschaft, die später in das «Nieuwe Huis»130 zum Essen ging,  S. durch seine zwei blonden Paladine arisiert. Er hatte von Tide die Anweisung erhalten, nicht zu sprechen, denn als Jude durfte er nicht hinein. Und da gingen sie; Fräulein Wolterbeek in ihrem schwarzen Pelzman­ tel und mit ihrem Geigenkasten und einem mädchenhaften frischen Ge­ sicht trotz ihrer 50 Jahre, und mit ernsten, dunklen Augen. S. mit der burschikosen Mütze auf dem Faunskopf, auf der Treppe noch brüllend: «Dank an das Gasthaus.»

Am Samstagabend, als wir seinen ausdrucksstarken Kopf zwischen den Menschen auftauchen sahen, sagte Fr. L.: «Er sieht manchmal aus wie 135.» Adri in ihrer Skihose und in den Bergschuhen und ein dunkelblaues Tuch als Turban um ihr krauses Haar gewickelt. Und Tide, die Adri und S. beschwor, dass sie nicht gemeinsam hineingehen dürften, weil sie dann die Aufmerksamkeit des ganzen Hotels auf sich lenken würden; sie fand das für S. wegen der verbotenen Rasse gefährlich. Und Tide selbst, mit einer kleinen braunen Pelzmütze und einer braunen Winterjacke, und dann noch Dicky mit ihrer kleinen Stupsnase und dem strahlenden Gesicht ­unter der Hochsteckfrisur. Und da gingen sie. Han und ich hingen am Treppengeländer. Und dann die Kartoffeln kochen und abends habe ich mich selbst mit Rilke vor dem Ofen verwöhnt, eigentlich eher gedöst und um 10 Uhr ins Bett. So viele Eindrücke in diesen paar Tagen, so viel Freundschaft und Wärme. Und zwischendurch gearbeitet, den Haushalt geführt etc. Und keine Kopfschmerzen, keine Spur von Kopfschmerzen. Sei gesegnet, Du.

Ich scheine einen Zustand des vollständigen Gleichgewichts erreicht zu haben. Ich muss mich nicht mehr in eine kleine Ecke neben dem Schrank verkriechen, um «in mich hineinzuhören», ich höre den ganzen Tag darauf, was in mir drin ist, auch wenn ich unter anderen Leuten bin, ich muss mich nicht mehr zurückziehen, sondern ich schöpfe regelmäßig Kräfte aus den verborgensten und tiefsten Quellen in mir selbst.

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Etwas Komisches: an meinem Geburtstag ein Brief von Toebosch in grüner Tinte und in gehobenem Französisch, mit einem Eilsendungsauf­ kleber darauf und einer Briefmarke auf der Rückseite, aber höchstpersön­ lich in den Briefkasten geworfen. 23. Januar 1942, Freitagmorgen, 8 Uhr. Ich besuche mich wieder einmal selbst am frühen Morgen. Es war so an­ strengend und so kalt in den letzten Tagen. Der Gasofen flackert jetzt be­ denklich niedrig, und ist es vielleicht noch ein Grad kälter geworden? Aber ich habe mich wieder von Kopf bis Fuß gewaschen und Gymnastik gemacht. Ein paar Tage lang wegen der Kälte ausgesetzt, aber dann geht es mir doch weniger gut. Montagnachmittag plötzlich Aimé. Mit einem Rucksack und einer ­kaputten Sohle und rabenschwarzem, lang gewachsenem Haar um ein schmales, bleiches Tatarengesicht. Und einer Mappe voller Gedichte. Die Nervosität in seinem Gesicht nahm ab. Viel reifer geworden in der Zeit, in der ich ihn nicht gesehen habe. Ich hatte ihm nicht viel mehr anzubieten als ein wenig dürftigen Rotkohl und kein Bett. Aber er konnte bei jeman­ dem übernachten, von dem er nur wusste, dass er Bart hieß. Nachname und Adresse kannte er nicht, aber wir haben sie doch ausfindig gemacht. Und als wenn es so kommen musste, abends S. mit Adri. Und Jaap mit seinem ausdruckslosen Gesicht saß zufällig auch am Ofen. Es war wirklich rührend mitanzusehen, wie sich Jaaps Gesicht auf­ hellte, als S. ihm ein paar Dinge über ihn selbst sagte. Das war eigentlich der erste Kontakt. Ich schreibe kurz etwas von Adris Zettel ab: «Die Hand des Bruders von Etty ist viel robuster, aber viel unausgegliche­ ner (als die

von Aimé). Bei lieberer Haltung hat sie einen weichen Ausdruck.

Ist ganz auf sich gerichtet. Bei gestreckter Haltung hat sie etwas Hartes, Ratio­ nales. Er ist wirklich weich und viel netter, wie er sich äußerlich zeigt.»

Und in einem Gespräch sagte Jaap abwehrend: «Ich bin nicht so nett.» – sagte S., «Sie sind viel netter als Sie sich zeigen. Ihr Rationalismus ist Ihr Schutz gegen Ihre Unsicherheit.» – Und später: «Sie lassen sich nicht

«O doch»,

durchschauen, aber das ist aus Angst.»

Und das Gespräch nahm später eine sehr komische Wendung: «Sie sind in einer fortwährenden Opposition gegen Ihre Mutter. Aber ich kann doch nichts dafür. Warum müssen andere dafür büßen. Machen Sie sich das doch mal klar.»

Jaap lachte blass. Etwas später kamen wir beim Daumen an. –

8. Dezember 1941–25. Januar 1942 «Ist beeinflußbar, zeigt viel Einfühlen, steht also im Gegensatz zu dem Hang zum Rationalen. Die Hand ist viel unausgeglichener und komplizierter wie die

(gute Adri!), welche viel aufgeschlossener und einheitlicher ist.» Und am Dienstagmorgen um 11 Uhr bei S. mit Aimé. Dieser Dienstag war wieder ein Tag, der sich durch Intensität und Buntheit und Bedeu­ tung von anderen Tagen unterschied. Analyse mit Hindernissen. Später oben auf Dickys Zimmer. Aimé lehnte sich an die Wand an mit seinem bleichen, stillen, aber doch auch leidenschaftlichen Tatarengesicht und las Gedichte vor, die wirklich gut waren. Und dann dieser Lunch bei S. Ich habe ihm zwischen zwei Happen seines Butterbrots Weisheiten entlockt. Und ich: «Aber sagen Sie ihm doch mal etwas, was soll er machen, was muß er tun?» Und S. kurz und bündig und so treffend, wie das in diesem speziellen Fall nur möglich war: «Den Mittelpunkt in sich fühlen, aber sich nicht zu sehr als Mittelpunkt fühlen. Das ist aber ein Weg.» – So etwas wie Applaus von Adri, Aimé und mir. Und ich habe brav immerzu die weisen Worte des Meisters stenografiert. Und dann bekamen wir alle ein Stück Käse und eine Scheibe Wurst und ein Stück Kuchen. Und Aimé, der mit strahlenden, intensiven und fragenden Augen S.s grauen, gutmütigen und lebendigen Kopf musterte. Und später mit Aimé die Straße hinunter, mit seinem Rucksack und der kaputten Sohle und dem weißen Wollschal, den er gegen die Kälte um seinen Kopf gebunden hatte. Im Café de Paris131 gestrandet, in das er sich dank seines Zigeunerprofils ohne Schwierigkeiten hineinschmuggeln konnte. Intensiv über Dichtkunst gesprochen, über die jungen Poeten bei uns, über die Literaturbewegung der «Tachtigers», über Baudelaire, über die Russen und Dostojewski. Über die Form und über das Metrum und über die psychologischen und «weltanschaulichen» Hintergründe. Ich merke in solchen Gesprächen, wie viel klarer und ausgeprägter und ein­ deutiger viele meiner Auffassungen geworden sind und dass ich nicht mehr aus erlernten Quellen meine Meinungen bilde, sondern aus viel tie­ fer gelegenen, eigenen Quellen. Aimé zu Becker gebracht132 und dann auf dem Fahrrad zurück und am Abend Kurs. Adri und ich haben uns im Anschluss daran bei Frau L. noch etwas unterhalten. (Tabak133 für Pa Han.) Nachts um halb 1 ins Bett. Am Mittwochmorgen um halb 10 Konversationsunterricht bei dieser schlotternden Frau de Vries.134 Danach Goldrenetten für meine dankbare Mutter ergattert. Und kalt, permanent nur kalt. des Dichters

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Und abends bei Frau L. Auf zwei Kissen in einer Ecke bei der Zentral­ heizung. Sie wäre mit ihrem schmalen Körper in einer grauen langen Hose mit einem hellblauen Pullover und einem feuerroten Schal am liebsten zwischen die Stäbe des Heizkörpers gekrochen. Das niedrige Tischchen ihrer kleinen Tochter135 mit einer Teekanne und Keksen. Und ich aus Jung vorgelesen. Es löste eine Menge bei ihr aus. An dieser Frau muss viel ge­ arbeitet werden. Ich sagte gestern am Telefon zu S.: Wir müssen sie ein­ fach als unsere erste gemeinsame Patientin betrachten. Sie kommt mir vor wie ein umgeknickter Stängel, der wieder aufgerichtet werden muss. Mir ist nun zu kalt und ich fühle mich zu unbehaglich, um noch viel darüber zu schreiben. Han hat mich geholt. Bis halb 12 noch dort gesessen. Wieder um 1 Uhr ins Bett. Eigentlich insgesamt kein Wunder, dass ich gestern et­ was in den Seilen hing. Beinahe den ganzen Tag auf der Couch geschlafen, nachmittags zumindest. Gestern um halb 11 ins Bett. – Und jetzt zu S. Komisch, dass man von der Kälte so träge und untätig wird. Und der 3. Februar ist schon so bald. Es bleibt nur noch so wenig Zeit, um alle guten, liebenswürdigen und dankbaren Worte, die ein Jahr lang in mir für ihn gediehen sind, zusammenzusammeln. Und dies bedrückt mich sehr stark. Und Aimé möchte so gerne rasch seine «Analyse» ausgearbeitet ­haben und nächste Woche beginnen wieder die Vorlesungen und ich komme überhaupt nicht gut voran. Komm, vorwärts, Mädchen, reiß dich zusammen und reiße dich von diesem Ofen los. Die rosa japanischen Kirschblüten vor dem grauen Vorhang beginnen schon langsam zu verblü­ hen. Die violetten Tulpen schlängeln sich noch kapriziös und stolz in die Luft, aber einige sehen schon elend abgetakelt aus. Käthes Abflussrohr ist eingefroren und die Frauen gehen alle in Hosen herum und die Männer mit Schals um den Kopf und wir bekommen grüne Erbsen und Kartoffel­ mehl in unser Brot und mein Fahrradjunge hat so einen Hunger und in Russland ist es noch kälter. Es fühlte sich wieder so gut und vertraut in meinem einsamen, schmalen Bett an heute Nacht. Ich habe Gott wieder gedankt, nicht für das warme Bett und für die Erbsensuppe, sondern da­ für, dass er wieder in mir wohnen möchte. Ich danke nie für die guten ir­ dischen Dinge, die ich von ihm bekomme, und ich würde mich auch nicht gegen ihn auflehnen, wenn ich sie nicht mehr bekäme. Es geht mir gegen den Strich, für etwas zu danken, das so viele nicht haben. Es ist nun einmal noch schlecht bestellt um die Verteilung der irdischen Güter auf dieser unvollkommenen Erde. Und es scheint mir Zufall zu sein, ob man bei den Satten oder bei den Hungrigen gelandet ist. Und ich werde nie­

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mals für mein tägliches Brot danken können, wenn ich weiß, dass so viele andere dieses tägliche Brot nicht haben. Aber ich hoffe, dass ich – auch wenn ich dieses tägliche Brot nicht mehr habe – dennoch danken werde. Für etwas anderes. Dafür, dass Gott in mir wohnt. Und das hat nichts damit zu tun, ob man wohlgenährt ist oder nicht. Zumindest sage ich das jetzt, an meinem warmen Ofen nach einem ordentlichen Frühstück. Es ist wirklich alles nicht so einfach. Freitagnachmittag, 5 Uhr. Es ist gerade wieder so, wie es «früher» immer war: Die Tage entgleiten einer nach dem andern meinen machtlosen Händen. Ich mache gar nichts; das kürzeste Telefongespräch kostet mich noch zu viel Kraft. Es ist wieder eine schwere Müdigkeit in all meine Glieder gesunken, eine Art von ­Müdigkeit, von der ich dachte, dass sie überhaupt nicht mehr zu mir ge­ hörte. Aber es ist nicht mehr so schlimm wie früher. Ich falle nicht mehr so tief. Ich bin gegenüber solchen Tagen innerlich viel geduldiger gewor­ den. Aber das dauert nun schon so lange, finde ich. Schon seit zwei ganzen Tagen vegetiere ich so ein bisschen vor mich hin, ich bin nicht in der Lage, mich zu erwärmen, und schläfrig. Es ist tatsächlich nicht dieses bisschen äußerliche Kälte, auch wenn die Temperatur hier nicht wirklich behaglich ist. Und ein hungriges und überfressenes Gefühl zugleich. Es ist irgendet­ was. Was denn eigentlich? Wieder ein kleiner Anlauf zur Traurigkeit. Ja, und auch etwas Unorganisiertes und dadurch wieder die Angst, dass dir alle Kleinigkeiten über den Kopf wachsen. Diese Tage mit Aimé waren schon ereignisreich. Werde ich die vielen De­ tails davon noch verarbeiten? Er hat viel von seinem kindischen Wesen verloren. Und er war unerwartet in voller Blüte. Auf einmal war bei ihm alles offen und er ging ungezwungen mit Gott um und klopfte der Muse auf die Schulter. Und wenn bei ihm nun auch der Kosmos vom Kopf in sein Herz oder welchen anderen Fleck auch immer umzieht, dann wird er nicht nur ein guter Dichter, sondern auch noch ein außergewöhnlicher Mensch. Während der Tage, als ich in die Unterströmung eintauchte und für meine Gefühle für S. sowohl Worte suchte als auch fand – auf einer ande­ ren Ebene als der alltäglichen –, da fühlte ich mich, als wäre es zwar müh­ sam ab und zu, aber gut. Und nun habe ich mich davon losgelöst und kann nicht mehr auf diese andere Ebene zurückfinden.

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Ich bin sehr bescheiden geworden. Ich möchte nicht mehr die be­ rühmteste Schriftstellerin dieses Jahrhunderts werden. Ich möchte nur ab und zu ein paar kleine Worte finden, die die sich ansammelnden Gefühle beherbergen können. Nur für mich selbst. Und mit dieser Tiefe, aus der diese Worte emporsteigen, will ich stets in Fühlung bleiben, sonst fühle ich mich wie ein nicht verankertes Schiff. Ich weiß, dass ich einen Anker­ platz habe. Ich reiße mich nicht mehr oft vom Anker los. Und ich kehre doch immer wieder zurück, das weiß ich nun ganz sicher … Und wenn ich gegenwärtig doch einmal Heimweh habe, dann weiß ich auch, wonach ich es habe. Die Gebiete, nach denen ich Heimweh habe, muss ich nicht mehr außerhalb von mir suchen, sondern in mir drin, auch das habe ich in diesem Jahr gelernt. Und jetzt werde ich das dickste Wollkleid anziehen, das ich besitze, und den Tisch decken und um halb 8 S. bei seinen Schwei­ zer Vegetariern136 abholen und früh ins Bett gehen und geduldig sein und in mich hineinhorchen, was ich tun muss. 24. Januar 1942, Samstagmorgen, 9 Uhr. Er hat wieder seine Pflicht getan, der Freund, und hat mich wieder von allen Seiten aufgefangen. Gestern Abend im Schnee auf einmal wieder so eine wahnsinnige Trau­ rigkeit, dass ich dem Herzen beruhigend zureden musste. – «Aber man muß der Weltentraurigkeit doch dann und wann mal eine kleine Unterkunft verlei­ hen.» – Aber dies war keine «Weltentraurigkeit», das war meine ganz eigene,

persönliche Traurigkeit. Aber nun lässt sich auf eine halbe Stunde verdich­ ten, wofür früher mehrere Tage benötigt wurden. Es sind nun wieder viele kleine Dinge von mir abgefallen. Immer wieder aufs Neue derselbe Prozess. Ich sagte ihm, dass er sein Fachgebiet für die Nazis137 prostituiert, wenn er versuchen will, damit sein Leben zu retten. Darauf sagte er rundheraus: «Ja, so ist das.» Aber es ist doch alles weniger heftig und weniger schlimm, als ich es mir in meiner blühenden Fantasie ausgemalt hatte. Und die deut­ schen Soldatenmützen an der Garderobe bei den «Stahls»: Ich wurde wild und traurig. Ich wollte ihn kurz nach Hause bringen und sofort weggehen, die Kehle war mir zugeschnürt und ich sagte: «Weißt du eigentlich, dass Hunderte von Holländern im Gefängnis sitzen, weil sie sich weigern, ein Wort mit den Deutschen zu wechseln?» Er erzählte dann von Jo van Ammers-Küllers138 Analyse, es war eine interessante Stunde und sie kommt nochmals zu ihm, um noch ein wenig über Psychologie zu reden.

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Und er hielt ruckartig mitten auf der schneebedeckten Straße an, es war so hell abends um 9 Uhr, dass ich sein gerührtes und in Aufregung gerate­ nes Gesicht sehen konnte, und er gestikulierte: «Wenn mich ein Mensch interessiert und fesselt, dann geht das an mir vorbei ob er deutschfreundlich ist oder nicht. Das geht wirklich an mir vorbei. Und wo führte das auch hin, wenn wir uns alle voreinander verschlössen? Und ich kann so einer Frau doch helfen und dadurch vielleicht auch wieder von politischem Nutzen sein.» Und das ehrliche und leidenschaftliche Engagement war so groß, dass ich mich schon wieder wegen allerlei kleinlicher Gedanken schämte. Und natürlich hat er auch recht. Bevor ich ihn wieder abholte, hatte ich die Briefe gelesen, die auf sei­ nem Schreibtisch lagen. Derjenige von Hertha: so viel Liebe, so viel Ver­ langen, sie fühlt sich mit ihm so eins und er sich auch mit ihr. Ich konnte es in diesem Moment nicht verarbeiten. Und dachte: Er ist vielleicht mit ihr so stark verbunden und mit ihr beschäftigt in letzter Zeit, sodass weni­ ger Kräfte auf mich gerichtet sind, und deshalb fühle ich mich vielleicht so verlassen. Und ebenso verzweifelt bezüglich Beziehungen zwischen Men­ schen, die aneinanderhaften bleiben und nicht voneinander getrennt wer­ den können. Und meine Eltern hier in der Stadt empfand ich auf einmal als große Last. Und alles war wieder zu viel, zu chaotisch und zu unüber­ windbar. Und dann diese deutschen Mützen im Flur. Aber alles wurde wieder anders. Ich ging mit nach oben. Es gab so viel zu besprechen und sich gegenseitig zu erzählen. Unterwegs sagte er schon: «Sie sind ja wieder ganz abgesunken, Sie haben wieder Ihr weltabgewandtes Gesicht.» Und in seinem Zimmer sagte er plötzlich, in wirklich treffender Diagnose: «Sie sehen aus ob Sie einige Tage keine Verdauung gehabt haben.» Schön, nicht wahr, einen Freund zu haben, der solche poetischen Dinge aus deinem Gesicht abliest. Und er hatte auch recht, dieser Schatz, ich war sowohl körperlich als auch seelisch wieder einmal komplett verstopft. Und es ist natürlich schon so, dass ich viel intensiver und vitaler lebe, als es meine nicht so wahnsinnig starken Nerven verkraften können. Und so ein «Rück­ fall» ist dringend notwendig, dann sammeln sich wieder aufs Neue die Kräfte. «Und vergiss nicht», sagte er, «dass du an deinen guten Tagen auch hundert Mal so viel wert bist wie ein Durchschnittsmensch.» Die Seele hat kein Alter, und deshalb ist sie auch nicht so unbegreif­ lich, diese Freundschaft zwischen dem 55-jährigen Mann und dem Kir­ gisenmädchen. «Vielleicht ist Ihre Seele noch älter als die meine.» Und später mit einem begehrenden und zärtlichen Ausdruck in seinem

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gütigen Gesicht: «Ich wollte so gern daß Sie und meine Freundin einander kennen lernen. Ob ich das noch erleben werde?»

Und später: «Die Seelen sind ja überall gleich verteilt, in allen Län­ dern, und darum finden sich auch immer wieder die Menschen, die ein­ ander finden müssen, ist das nicht schön?» Er sagte alles ganz anders, aber na ja. Und ich zu ihm später in einem chaotischen Gespräch: «Das ist ja so komisch bei mir: einerseits bin ich furchtbar scheu und fast keusch und ande­ rerseits ganz unverschämt.»

Und später zog ich im halbdunklen Schlafzimmer – wo sein Bett be­ reits gemacht war – vor dem Bett stehend zögernd meine Jacke an, schaute über meine Schulter zu ihm und auf einmal hatten wir uns beide auf das Bett geworfen. Und ich sagte später: Es ist doch gut, dass du bei einer so netten Familie wohnst und ich so ein anständiges, bürgerliches Mädchen geworden bin, sonst ginge ich heute Nacht nicht weg. «Ich glaube ich werde Dich nie verlassen.» Und er: «Das wäre schön.» Gestern Abend sind wohl tausend kleine Dinge von mir abgefallen. Und heute Morgen im Badezimmer mich wieder mit kaltem Wasser gewaschen und ausführlich Gymnastik gemacht und wieder auf der braunen Kokosmatte gebetet. Es ist auch nicht mehr kalt, trotz dieser dicken Schneedecke, nicht einmal der Ofen ist an. Ich kann das Leben wieder bewältigen. Gleich kommt mein Prokurist aus Enkhuizen, bin gespannt, ob er das schafft bei diesem Wetter. Und darum geht es eigentlich: Ich werde eine «Schülerin» in seinem Geist, eine echte «Jüngerin». Ich lerne, meine Kräfte immer mehr anderen zur Verfügung zu stellen. Ich schöpfe aus immer größerer innerlicher Ge­ wissheit. Er hat Quellen in mir erschlossen, die nie wieder versiegen wer­ den, und ich werde immer mit ihm verbunden sein, weil ich immer öfter von den gleichen Quellen leben werde wie er. Ich liebe ihn maßlos, und es ist eine Liebe, die Raum lässt für dieses Mädchen in London und auch für viele andere. Immer wieder muss ich aufs Neue erfahren, wie geräumig das Herz sein kann, und immer wieder aufs Neue muss ich den Platz wieder­ erobern. Gestern Abend war ich eine Viertelstunde lang so wahnsinnig traurig im Schnee, dass ich glaubte, dass das Herz deswegen brechen würde. Und es war, als ob mein stabiles Lebensgebäude der letzten Zeit in Schutt und Asche zerfiele, es war, als ob schwere Steine übereinander in einen Abgrund stürzten und mich in ihrem Fall mitrissen. Der Rhythmus war abgebrochen und ich dachte, dass es einige Zeit dauern würde, bis ich

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das Leben wieder auf die rechte Bahn lenken können würde. Und es ist wieder auf der rechten Bahn. Der Freund hat wieder seine Pflicht getan und im Griff seiner großen, guten Hand ist alle Kleingeistigkeit wieder weggeschmolzen. Und nun an die Arbeit. 1 Uhr mittags. Gestern Abend auf diesem Bett betrachtet er mich auf einmal andächtig und sagt: «Du siehst aus wie ein, wie ein» – und ich war schon gespannt, was kommen sollte, er wollte etwas sehr Liebenswürdiges sagen, das habe ich seinem Gesicht angesehen. Und zu meiner Überraschung sagte er: «wie ein Zebu, Du hast so gescheite Augen.»

Alle Kräfte sind komplett wiederhergestellt. Eine Schneefläche vor dem Haus und Braune-Bohnen-Suppe und Birnen und Schokoladenpudding, weil Wim139 Geburtstag hat. Mein Enkhuizener kommt erst heute Nach­ mittag, er ist im Schnee stecken geblieben. Du hast es nun wieder einmal zum soundsovielten Mal gelernt, Mädchen: Du darfst deine Unlust nicht solche langen Schatten vorauswerfen lassen. Gestern sahst du mit Schre­ cken dem Unterricht, dem Kurs am Dienstag und Frau L. am Mittwoch und deinen Eltern entgegen, alles war dir im Weg, du wolltest dich verkrie­ chen und alle anrufen und ihnen absagen. Du hast in deine Unlust wieder unnötige Dinge einbezogen. Alles funktioniert jetzt wieder. Ich freue mich auf den Kurs und auf Fr. L. und auf meine Eltern, na ja, nicht ganz so sehr, aber doch auch auf meine Eltern. Allmächtiger, wie kalt es hier ist. Aber das ist nicht schlimm. Es war wirklich keine äußerliche Kälte gestern, das habe ich doch gesagt. Und nun den Tisch decken. Sonntagnachmittag [25. Januar 1942], 3 Uhr. Bevor ich mich gleich in die schneebedeckten Ebenen begebe, kurz dieses Telefonat von gestern Abend. Wie es begann, weiß ich eigentlich nicht mehr, es war wieder einmal altmodisch ausführlich und angeregt. Als er anrief, dachte ich gerade zufällig an ihn. «Zufällig» nennst du so etwas. Er sagte mitten in der Unterhaltung: «Sie sagen jetzt immer: man soll, sagten Sie das immer, oder haben Sie das von mir? Warum sage ich das eigentlich immer: man soll?» Ich: «Weil Sie so sicher sind. Andere sagen: man könnte, man möchte, man müßte, man dürfte, Sie sagen: man soll. Sie zwin­ gen die anderen. Sie sind im Grunde ein Moralist.»

Er: «Aber Moralist, ist das

nicht etwas ganz Starres?» Ich: «Ja, aber ein Moralist, erweitert durch Psycho­ logie und Religion.»

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Und dann hatten wir es davon, dass ich eigentlich ein «Mustervorbild» seiner Methode bin. Und ich erzählte, dass ich immer stärker prägend auf andere einwirken kann und immer sicherer werde. Ich erzählte, wie ich manche Menschen auf meine Art behandle. Dass ich der «Mahlersfrau»140 an diesem Tag mindestens eine Stunde lang am Telefon gut zugeredet habe, dass ich seine Weisheiten weitergebe und die «herrlichsten psychologi­ schen Sachen hervorbringe». Er: «Sie sind ein Monstrum.» Und später: «Sie werden noch mal eine richtige Assistentin.» Ich: «Nein, keine Assistentin, aber ein Jünger, der Deine Lehre verkündigt.» Er: «Aber Sie machen es doch leben­ dig, in Ihren eigenen Worten, nicht wahr? Und nicht wie die Holm, die mir alles

Ich: «Ja die Holm, das ist so eine herrliche adorierende Gramo­ phonplatte.» Lautes Gebrüll am anderen Ende: «Sagen Sie das nochmal.» Und wir haben noch mehr geredet  – alles durch diesen geduldigen Apparat, ich lag auf der Couch und er lag so halb auf seinem Schreibtisch, der an diesem guten Samstagabend ohne Musik mit Steuerunterlagen übersät war –, und zwar über meine kurze, aber schlimme Depression am vorigen Abend. Er: «Sie haben da in meiner Korrespondenz sicher ein Wort nach sagt.»

gefunden was Ihnen nicht gefiel? War das es nicht? Haben Sie alles gelesen? Ich wußte nicht, daß Sie neugierig sind.»

Ich: «Das ist keine Neugier, das ist

eine Dämonie, ich will immer alles von jemand wissen und dafür gebrauche ich alle Mittel.» Ich habe ihm klargemacht, dass diese Depression vielleicht der

Tatsache geschuldet war, dass ich mich einen Moment lang wieder an ihn gebunden und von ihm abhängig fühlte und dass dadurch wieder alle Kräfte in mir abgeschwächt und ins «Schwanken» gebracht wurden. Man muss sich immer wieder völlig von jemandem loslösen. Wegen dieser Briefe von Hertha wusste ich auf einmal wieder ganz sicher, dass er mich früher oder später für immer verlassen wird. Aber das ist natürlich Un­ sinn. So, wie unsere Beziehung jetzt ist, wird sie immer sein, mit oder ohne Hertha. Wieder alles zu materialistisch betrachtet gerade. Die ewige Frage von Verbundenheit ohne Gebundenheit. Und er: «Ja, und in dieser Gebundenheit stellt man auch zu viele ‹Ansprüche› an den anderen.» Und ich: «Oder man will ganz auf den anderen ‹verzichten›.» Und am Ende ich: «Erst ein Jahr kennen wir einander und was haben wir schon nicht alles erlebt.» Er: «O, ich muß gar nicht daran denken.» Und wir sprachen noch über mehr während dieses Telefonats. Aber jetzt: hinaus in den Schnee. O ja, das unerwartete Geschenk von gestern Abend: «Liv» von Sigbjørn Obstfelder.141

HEFT 5 16. Februar 1942–27. März 1942 16. Februar 1942–27. März 1942

Montagabend, 9 Uhr, 16. Februar 1942. Wieder damit beschäftigt, den Weg zurück zu mir selbst zu finden mit­ hilfe dieser Worte von Rainer Maria: Alles ist austragen und dann gebären. Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewußten, dem eigenen Verstande Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Ge­ duld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen. Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts. Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!

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Die innerlichen Erkenntnisse dieses Jahres gelangen auf immer wieder an­ deren und unerwarteten Wegen zu mir. Jetzt auch wieder, heute Abend am ausflackernden Ofen, mitten in einer beginnenden Unruhe und Ge­ hetztheit kommen diese Worte auf mich zu und lassen mich plötzlich wie­ der auf die Dinge besinnen, um die es doch eigentlich wieder geht. So, die ersten paar Zeilen im neuen Heft stehen schon wieder da, bin immer gehemmt angesichts eines neuen Heftes, kindisch eigentlich. Es gibt so viel zu schreiben über die letzten 14 Tage, die eigentlich wie­ der ein ganzes Leben sein könnten. Vielleicht morgen Vormittag. Du darfst nicht sagen: Wenn diese schlimme Müdigkeit der letzten Tage vor­ über ist. Es handelt sich um eine Wechselwirkung: Wenn du nicht für die Hygiene deiner Seele sorgst, bleibst du so müde. Morgen früh mit Vater in die Vorlesung von Becker. Ja wirklich, sie existieren immer noch,

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die ­Familienkomplexe und die Albträume voller Hass und Aggression ge­ genüber der eigenen Mutter. Alles geht immer weiter, auch wenn man weiß, um welche wichtigen Dinge es doch eigentlich geht. Ich glaube, dass ich noch eine Menge über Alice Levie schreiben muss. Wie sie damals in der Pause dieses Konzerts auf S. und mich zugelaufen kam: Damals sah sie wie eine zerbrechliche, aufgeschreckte Elfe aus mit diesen offenen, wogen­ den Haaren und dem fröstelnden, schlanken Körper. Aber irgendwo steckt da eine verborgene Kraft. Und diese Kraft werden wir nun mobilisieren, sodass diese nicht mehr gegen sie, sondern für sie genutzt werden kann. Dass sie beim Zahnarzt gewesen ist, ist doch schon eine Handlung großer Lebensbejahung. Heute Morgen Loekie,2 und später Leonie und Vater und noch einmal Leonie und Hetty. Aimé auch ein paarmal. Und mit Alice Levie dieses Gespräch bis nachts um 3 Uhr, am folgenden Morgen Augen einer schlaflosen Nacht und müdes Gesicht, aber später die Beteuerung, dass dieses Gespräch so viel in ihr «aufgekrempelt» hatte. Es muss so sein: Je mehr man anderen von seiner Kraft abgibt, desto mehr Kraft sollte man wiedererhalten, sonst ist es nicht gut. In den letzten Tagen merke ich: Es kostet mich zu viel Kraft. Also lebe ich wieder irgendwie falsch. Noch kurz diesen einen Brief «an einen jungen Dichter» lesen und dann ins Bett. O ja, Erdbeeren mit Sahne, d. h. eingemachte Erdbeeren mit Kunst­ schlagsahne,3 ein luxuriöses Sprungbrett in eine Hungersnot, um das große Wort zu verwenden. Ich sagte zu Käthe, dass ich es in meinem Tagebuch mit plastischen Worten verewigen werde, dass wir im Februar 1941 bei 8 Grad Frost im zweiten Kriegsjahr Erdbeeren mit Schlagsahne gegessen haben aus purer Not heraus, aber für «Plastik» bin ich jetzt zu schläfrig. Und gestern: Mischa und Hermann Schey4 und Imre Ungar und seine Frau und Berthe Seroen5 und ihr Mann und S. und Tide, Adri, Dicky, Jo Valkhoff, Lenie und meine zwei Schülerinnen, Hetty und Stella.6 Es war sehr schön. «Dichterliebe» und «Lieder eines fahrenden Gesellen».7 Gute Nacht. 19. Februar ’42, Donnerstagnachmittag, 2 Uhr. Wenn ich sagen müsste, was mich heute am meisten beeindruckt hat, dann wären das die großen violetten Frostbeulen an Jan Bools Händen. Es wurde auch wieder jemand zu Tode gefoltert: dieser sanftmütige junge Mann von Cultura.8 Ich erinnere mich noch daran, dass er Mandoline spielte. Er hatte damals auch ein nettes Mädchen, das in meiner Klasse im Russischkurs saß. Dieses Mädchen ist inzwischen seine Frau geworden

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und ein Kind war auch schon da. «Diese Bestien», sagte Jan Bool in dem schmalen Gang der Universität, «sie haben ihn kaputtgemacht.» Und Jan Romein9 und Tielrooy10 und noch mehr dieser zerbrechlichen älteren Professoren. Sie sind nun in einer zugigen Baracke11 in derselben Veluwe gefangen, in der sie früher ihre Sommerferien in einer freund­ lichen Pension verbrachten. Sie dürfen nicht einmal ihren eigenen Pyjama tragen, sie dürfen gar nichts von sich selbst haben, erzählte Aleida Schot in der Cafeteria. Die Absicht dahinter ist, sie gänzlich zu verwildern und ­ihnen ein Gefühl der Minderwertigkeit zu vermitteln. Moralisch sind sie stark genug, diese Männer, aber die Gesundheit der meisten ist doch sehr angeschlagen. Pos12 hat es geschafft. Er befindet sich jetzt in einem Kloster in Haaren und schreibt ein Buch. Das erzählt man zumindest. Und so weiter. Es war schon trostlos in der Vorlesung heute Morgen. Es war doch nicht völlig trostlos, es gab einen Lichtblick. Ein kurzes, unerwartetes Gespräch mit Jan Bool in der kalten, schmalen Langebrugs­ teeg13 und an der Straßenbahnhaltestelle. «Was ist das nur in den Men­ schen, andere kaputtmachen zu wollen?», fragte Jan verbittert. Ich sagte: «Die Menschen, ja die Menschen, aber bedenke, dass du selbst auch dazu zählst.» Und das gab er sogar unerwartet ohne Weiteres zu, dieser bockige, mürrische Jan. «Und diese Schlechtigkeit der anderen steckt auch in uns», predigte ich weiter. «Und ich sehe keine andere ­Lösung, ich sehe wirklich keine andere Lösung, als sich auf sein eigenes Zentrum zu besinnen und dort all diese Fäulnis auszurotten. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir in der Außenwelt etwas verbessern können, das wir nicht zuerst in uns selbst verbessert haben. Und das scheint mir die einzige Lehre aus diesem Krieg zu sein: dass wir gelernt haben, dass wir alles nur in uns selbst und nirgendwo anders suchen müssen.» Und Jan war sofort mit mir einverstanden, er war zugänglich und stellte Fragen und kam mir nicht wie früher mit den knallharten sozialen Theorien. Und er sagte: «Sie sind auch so billig, diese Rachegefühle nach außen. Nur diesen einen Moment der Rache herbeisehnen. Darauf kön­ nen wir doch auch verzichten.» Wir standen da in der Kälte und warteten auf die Straßenbahn, Jan mit seinen großen violetten Frostbeulen an den Händen und mit Zahnschmerzen. Und es waren doch keine Theorien, die wir verkündigten. Unsere Professoren sind verhaftet, es wurde wieder ein­ mal ein Freund von Jan umgebracht und es ist zu viel, um alles einzeln aufzuzählen, und wir sagten zueinander: «Sie sind so billig, diese Rache­ gefühle.»

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Das war doch wirklich ein Lichtblick heute. Und nun ein bisschen schlafen und dann Bekanntschaft mit dieser Freundin von Rilke14 machen. Alles geht immer weiter, warum auch nicht? Ich werde wieder etwas regelmäßiger auf diese blauen Linien schreiben müssen. Aber viel zu wenig Zeit – 20. Februar ’42. Freitagmorgen, 10 Uhr. Dieser Vormittag gehört mir. Und jetzt, wo ich mich zwinge, mich in Ruhe vor dieses Heft und zu mir selbst hinzusetzen, jetzt merke ich wie­ der, wie viel Mühe mich das eigentlich noch kostet, von wie viel Unruhe und Ungeduld man stets beherrscht wird. Die Ausrede ist immer: Ich habe keine Zeit, ich habe viel zu viel zu tun. Aber es ist doch eigentlich die eigene Unruhe. Die Stille nicht zu ihrer weitesten Ausdehnung heran­ wachsen lassen, sondern schon zufrieden sein mit den kurzen Momenten der Ruhe und Selbstbesinnung, die allerdings immer mehr mit meinem alltäglichen Leben verwoben werden. Aber ich stolpere doch immer noch über die kleinen Pausen der Stille, aus purer Ungeduld, und bin viel zu schnell zufrieden und denke, dass ich in mich selbst «hineinhöre», aber jetzt, wo ich mich nach Wochen wieder zwinge zu sagen: «Dieser Vormit­ tag gehört ganz und gar mir», jetzt merke ich wieder, wie viel Ungeduld und wie sehr ein «in den Tag hineinleben» noch immer in mir stecken. Am dritten Februar bin ich ein Jahr alt geworden. Ich glaube, dass ich den 3. Februar sogar als festes Geburtsdatum beibehalten werde, er ist wichti­ ger als der 15. Januar, als ich von der Nabelschnur losgeschnitten wurde. Aber darüber will ich überhaupt nicht sprechen. Er scheint schon so lange her zu sein, dieser 3. Februar, ich hatte damals tagelang kein Bedürfnis ge­ habt zu schreiben, ich musste nicht in mich selbst «hineinhorchen», weil ich in einem Zustand des andauernden «Hineinhörens in sich» war. (Warum kann ich dafür keinen passenden niederländischen Ausdruck finden?) Ich habe damals nicht mehr gebetet, weil ich eigentlich innerlich unablässig betete. Abends, als ich ins Bett ging, war es, als ob in meinen Armen hoch aufgeschichtet die reiche Ernte dieses Tages lag, beinahe nicht zu umschlie­ ßen vor lauter Überfluss. Es ist gut, dass so ein Zustand nicht anhält. Man muss jedes Mal wieder aus dem eigenen Zentrum in die Unruhe gestoßen werden, um sich eine größere Ruhe aufs Neue zu erobern. Und sich einer Sache sicher sein darf man niemals, dann steht jede Entwicklung still. Aber dies wollte ich eigentlich auch nicht schreiben heute Morgen.

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Man kann Worte nicht direkt aus seinen einsamen und reich durch­ dachten Nächten in den Tag mittragen. Das merke ich jetzt auch wieder. Ich habe euch so lieb, meine einsamen Nächte. Man liegt einfach hinge­ streckt auf dem Rücken in dem schmalen Bett, voller Hingabe an die Nacht  – mit Frostbeulen an den Füßen, einer Wärmflasche und einem Wolltuch um den erkälteten Kopf, aber das spielt alles keine Rolle –, ge­ genüber meinem Bett steht noch immer S.s großer Bücherschrank wie ein bedrohlicher, geheimnisvoller Tempel, der Vorhang ist offen, die Nacht steht grau und weit im Fenster, das Eissportgelände ist eine weite weiße Schneesteppe. Ich liege da auf meinem Rücken und fühle, wie ich an ­einem großen Wachstumsprozess beteiligt bin. Ich hatte auf einmal das Gefühl heute Nacht, dass meine innere Landschaft wie weite Getreide­ felder aussah, die gerade reiften. In der Nacht klingt das so einfach und naheliegend: In mir drin sind Getreidefelder, die wachsen und gerade reifen. Wenn man versucht, solche Worte mit sich über die Schwelle des frühen Morgens in den Tag hinein mitzunehmen, dann stehen sie da ein wenig ungewohnt. Es gab heute Nacht so viel, was ich in Worten auf diese blauen Linien hätte mitnehmen wollen, aber ich weiß ja jetzt, dass das nicht so einfach geht. – «Alles ist austragen und dann gebären  … und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit ab­ warten.»

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Es ist schon sehr viel, wenn man weiß, dass man Teil eines großen Wachstumsprozesses ist, dass man sich eines solchen Prozesses bewusst ist. Ich glaube, dass noch für viel zu viele das Leben aus zufälligen Momenten ohne allzu viel Zusammenhang besteht. Gerade 5 große Buchhandlungen angerufen, um danach zu fragen: Briefe 16 an einen jungen Dichter und die an eine junge Frau. Nicht mehr erhältlich. «Briefe an einen jungen Dichter». Früher auch gelesen, wahrscheinlich als lyrische Kuriosität, als ein wenig Luxus für eine Mußestunde. Und nun? Man findet darin sein ganzes Lebensprogramm wieder und es stehen Worte darin, die einen eigentlich ein Leben lang nicht mehr verlassen dürfen. Ich werde so wütend auf diejenigen, die sagen, dass Rilke «weich­ herzig» ist. Er ist nicht weichherzig. Es steckt eine Kraft in ihm, so stark wie ein Diamant. Siehst du, mir fehlt jetzt doch die Geduld dazu, die Worte zu suchen, mit denen ich die Kraft, die ich in ihm spüre, dokumen­ tieren könnte. Aber das kommt später schon noch.

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Es ist eigentlich so traurig. Eine Frau wie Ilse Blumenthal,17 die mit ihm korrespondiert hat und die jetzt auch im Nachhinein sagt: «Ja, eigent­ lich ist er schon weichherzig.» Von Rilke «kommt man nicht mehr los», wenn man ihn wirklich gut gelesen hat. Wenn man ihn nicht während eines ganzen Lebens mit sich mitträgt, hat es überhaupt keinen Sinn, ihn zu lesen. Ich bin noch immer in der Phase des genüsslichen Abschreibens, statt dass ich einen eigenen Kommentar abgebe. Aber ich muss daraus Teile abschreiben: «Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Her­ zen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stu­ ben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. For­ schen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.»

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Ich fühle mich nun verwandt mit demjenigen, der zu dem jungen Dichter spricht. Und jetzt, da ich beginne «in die Antwort hinein zu leben», jetzt erst verstehe ich diese Worte. Zu der Zeit, als ich noch mit den Fra­ gen leben musste, habe ich sie überhaupt nicht verstanden. Ich muss die­ ses kleine Buch vielen jungen Menschen geben und versuchen, ihnen zu helfen, es zu verstehen. Man kann nur helfen, wenn man selbst vorlebt, was man anderen klarmachen will, und ich spüre immer mehr Kraft in mir wachsen, um anderen eine kleine helfende Hand anzubieten, nur schon indem ich ihnen klarmache, dass ein anderer ihnen eigentlich nicht helfen kann und dass sie das akzeptieren müssen, aber nicht als etwas, das einen unglücklich machen muss, sondern als etwas, das einem die eigenen Kräfte und das eigene Innere bewusst werden lässt, dass man mit Geduld zuhören muss, bis einem Gewissheiten aus dem eigenen Inneren zuteil­ werden, aber man muss geduldig sein. «… kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ­ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmer­ zen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!»

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Gerade kommt der Arzt herein. Es ist doch eine Lungenentzündung bei Hans. Man steht der Tatsache so machtlos gegenüber, dass die Wider­ standsfähigkeit der Menschen so stark abnimmt.

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Gerade rief Kees de Groot an und sagte, dass er um 2 Uhr kommt. Treuer Kees, ich freue mich, und um 4 Uhr eine Verabredung mit meinem Vater und meiner Mutter bei Lenie Wolff. – Heute Abend vermutlich ein wenig arbeiten. Nun noch eine Stunde für mich selbst. «Aber alles, was vielleicht einmal Vielen möglich sein wird, kann der Einsame jetzt schon vorbereiten und bauen mit seinen Händen, die weniger irren. Da­ rum, lieber Herr, lieben Sie Ihre Einsamkeit, und tragen Sie den Schmerz, den sie Ihnen verursacht mit schönklingender Klage. Denn die Ihnen nahe sind, sind fern, sagen Sie, und das zeigt, daß es anfängt weit um Sie zu werden. Und wenn Ihre Nähe fern ist, dann ist Ihre Weite schon unter den Sternen und sehr groß; freuen Sie sich Ihres Wachstums, in das Sie ja niemanden mitnehmen können, und seien Sie gut gegen die, welche zurückbleiben, und seien Sie ­sicher und ruhig vor ihnen und quälen Sie sie nicht mit Ihrer Zuversicht oder Freude, die sie nicht begreifen könnten. Suchen Sie sich mit Ihnen irgendeine schlichte und treue Gemeinsamkeit, die sich nicht notwendig verändern muß, wenn Sie selbst anders und anders werden; lieben Sie an ihnen das Leben in einer fremden Form». «Vermeiden Sie, jenem Drama, das zwischen Eltern und Kindern immer aus­ gespannt ist, Stoff zuzuführen; es verbraucht viel Kraft der Kinder und zehrt die Liebe der Alten auf, die wirkt und wärmt, auch wenn sie nicht begreift. Verlan­ gen Sie keinen Rat von ihnen und rechnen Sie mit keinem Verstehen; aber glauben Sie an eine Liebe, die für Sie aufbewahrt wird wie eine Erbschaft, und vertrauen Sie, daß in dieser Liebe eine Kraft ist und ein Segen, aus dem Sie nicht herausgehen müssen, um ganz weit zu gehen!»

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Ich muss auf einmal an meinen lieben Vater denken, der mir da klein und gebückt mit einem zerknitterten unpraktischen Filzhut und mit einem schwarz-weiß karierten Jungsschal vor ein paar Tagen ein Ei, sage und schreibe ein Ei, und etwas Butter in einem Papier vorbeibrachte, um da­ nach mit noch einem Ei und einem Klümpchen Butter und noch einem Brötchen mit Räucherfleisch zu Mischa weiterzuspazieren. «Es klingt ja wie ein Märchen», sagte Alice Levie, als ich ihr erzählte, wie ich zwischen meinem Vater und meiner Mutter auf den Bänken des Hör­ saals21 gesessen habe, Puschkin vor uns. In Mutter kamen Jugenderinne­ rungen hoch und Vater strahlte voller kindlicher Freude, wenn er ab und zu ein Wort verstand.

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sagte die schlanke Alice – ihr Vater22 ist kürzlich in einem Konzentrationslager gestorben. Als ich am Dienstagmorgen aufstand, war mein erster Gedanke: Und nun muss ich dafür sorgen, dass ich meinen Vater mit wahrhafter Liebe mitnehme. Es spukten wieder Reste eines Minderwertigkeitskomplexes herum, so wie dies wohl fast jedes Kind vor seinen Eltern hat: Werden sie sie nicht komisch finden? Alle Menschen müssen viel Selbsterziehungsarbeit leisten. Ja, und was nützt mir alles, wenn ich die Liebe nicht habe. «Man könnte eine Geschichte darüber schreiben», sagte Wiep gestern Abend, als ich ihr erzählte, wie Mischa seine zwei betagten lieben Eltern durch das eiskalte Land hinter sich herschleppt bei seinen Hauskonzerten. Er weigert sich schlicht zu spielen, wenn sie nicht kommen. Sehr rührend. Früher besuchten sie psychiatrische Kliniken und Ärzte und jetzt besuchen sie seine Konzerte. Ich bin mir noch nicht ausreichend bewusst, welch ein großes Glück dies doch alles in sich birgt und wie viele Gründe zur Dank­ barkeit es gibt, was die eigene Familie betrifft. Man ist sich dessen noch nicht voll und ganz bewusst, weil immer noch Reste von Unlustgefühlen gegenüber der eigenen komplizierten Familie herumspuken. Noch immer wieder Angst, dass man plötzlich überrumpelnde Überraschungen erleben könnte, die einfach lästig für die eigene Ruhe sind. Diesbezüglich werde ich noch am stärksten mit mir selbst ins Reine kommen müssen. «Es klingt wie ein Märchen»,

«Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter als man meint, und die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin bestehen, daß Mann und Mädchen sich, befreit von allen Irrgefühlen und Unlüsten, nicht als Gegensätze suchen werden, sondern als Geschwister und Nachbarn und sich zusammentun wer­ den als Menschen, um einfach, ernst und geduldig das schwere Geschlecht, das ihnen auferlegt ist, gemeinsam zu tragen.»

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Ich habe meine einsamen Nächte so lieb, aber man darf nicht immer nur an sich selbst denken. Es ist gut, sich einmal einem Mitmenschen ent­ gegenzustrecken, der einen benötigt, auch nachts. Ich erschrak so, als Han neulich nachts sagte: «Ja, ich war schon stark am Vereinsamen in letzter Zeit.» Und in die Hingabe als Frau schlich sich ein sehr starkes mensch­ liches Element ein. Gestern küsste ich S.s Haar, das an der rechten Schläfe schon ganz weiß wird. Aber sein Nacken ist noch so jung. Ich liebe ihn mit einer

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Liebe, die immer weniger besitzen will und die dadurch immer mehr be­ sitzt. Ab und zu kommt eine kleine Eifersucht auf, zudem auch Wild­ heiten, die Unbefriedigtheit und ein großes Verlangen. Und das ist gut. Sonst würde man sich beinahe heilig fühlen. Meine zwei greisen Freunde. Was ist eigentlich mit mir los? Der Vormittag ist schon wieder vorüber. Ich habe so furchtbar viel zu ­schreiben. Ich habe eigentlich nichts gemacht heute Morgen, ein wenig rastlos in diesem Zimmer auf und ab gegangen, ein wenig in den Ofen gestarrt, ein wenig mit Käthe geredet, ein paar Zeilen in dieses Heft ge­ schrieben. Ich habe trotzdem viel gemacht: Ich spazierte wieder einmal entlang der Grenzen des innerlichen Reichs, habe wieder einmal gänzlich in der Stille verweilt  – noch lange nicht still genug  – und gespürt, wie dringend nötig ich dies habe. abends halb 8. O Herr, lass mich doch etwas mehr im Geiste leben. Und lass mich nicht abends direkt nach dem Essen ein Stück Brot aus dem Schrank holen. Und zu Han sagte ich kurz davor mit so viel Sachverstand in Bezug auf Bernard, der nach 2 vollen Tellern Buttermilchbrei Käthe um ein Stück Brot für abends bat: «Dieses andauernde Hungerhaben kommt auch ­dadurch, dass du derzeit zu viel ans Essen denkst. Du musst versuchen, deinen Geist von deinem Magen abzulenken, du darfst nicht zu viel ans Essen denken. Du musst deinen Geist in eine andere Richtung lenken.» Und kurz danach war ich am Brotkasten. Und das Schlimme ist, dass ich nicht einmal starken Hunger habe, es ist einfach nur die Lust, etwas zu es­ sen. In Zukunft wird das noch sehr schwierig werden in diesem leergeplün­ derten Europa, aber auch hier geht es um innerliche Disziplin. Wissen, dass man bei einem Minimum wahrhaftig nicht umkommen wird, und ansonsten versuchen, seinen Geist von dem Magen abzuwenden. Auch ein wenig Selbstbeherrschung. Und Selbsterziehung. Auch in diesen Dingen. So sonderbar. Ich hatte monatelang nicht gekniet, weil ich eigentlich im­ mer innerlich betete. Und auf einmal fiel ich nach vorn auf den Boden, mit diesem Butterbrot mit heimlichen Schokoladenstreuseln, das noch schwer im sündigen Magen lag, schlug die Hände vor mein Gesicht und sagte fast verzweifelt: «O Herr, lass mich doch ein wenig mehr im Geiste leben.» Auch hier Selbsterziehung und Disziplin. Sonst gelangt man nicht zu einer Harmonie.

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Ich bin schon sehr müde abends. Aber ich muss mich doch wirklich eine Stunde «zusammennehmen» und ein wenig am Russischen arbeiten, und danach habe ich wieder eine freie Hand für Rilke. Samstagmorgen [21. Februar 1942], halb 10. Gestern Abend auf einmal so müde und überreizt und unzufrieden und Schmerzen in meinem Rücken. Unfreundlich zu Han. Auf dem breiten, ruhigen Fundament des Vormittags habe ich meinen weiteren Tag nicht gut aufgebaut. Und meine Tage, sie ruhen auf dem breiten Fundament einer «stillen Stunde» am Morgen – und wenn es manchmal nur auch 5 Minuten sind.

Heute Morgen fand ich mich selbst auf einmal kniend am erloschenen Ofen im Wohnzimmer wieder und sagte: «Mein Gott, gib mir ein wenig Geduld und ein wenig Liebe für die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens. Lass mich mich nicht über dieses andauernde Husten von Hans ärgern.» Ich verdächtige ihn manchmal, dass er – aus reiner Dramatisierung – etwas schlimmer hustet, als es notwendig ist. Aber bedenke dies: Das Bedürfnis zu dramatisieren ist auch ein Teil seiner Krankheit und an dieser Pathetik, die er hat, leidet er vielleicht noch stärker als an seiner Krankheit selbst. Früher schlug man Geisteskranke. Dieses Verärgertsein über Hans’ über­ triebene Besorgtheit ist noch ein primitiver Rest solcher mittelalterlicher Reaktionen auf die Mitmenschen. Die Besorgnis um etwas Imaginäres – und hier ist kaum die Rede von etwas Imaginärem, diese Lungenentzün­ dung ist wirklich völlig echt  – ist genauso gut etwas Wirkliches für den Patienten und man muss sie als Krankheit betrachten und man muss ihr auch mit Liebe und Verständnis begegnen. Wenn man seine Gereiztheit diesbezüglich nicht besiegt, bleibt die Menschheit immer in diesem primi­ tiven Stadium stecken, und man kann nur zum Fortschritt der Menschheit beitragen, wenn man beginnt, all diese primitiven Reste in sich selbst zu überwinden. Das ungefähr überlegte ich mir, als ich neben dem erlosche­ nen Ofen kniete. Und später: «Und lass mich auch ein wenig Mitgefühl und Verständnis für Bernards ewig hungrigen Magen haben und nicht fortwährend denken, dass das seine Gefräßigkeit ist, und lass mich ihm ehrlich alles, was er isst, gönnen.» Dieser Kerl leidet wirklich Hunger, ich habe nicht das geringste Mit­ gefühl, weil ich ihn für so einen Materialisten halte und meine, dass er an nichts anderes als ans Essen denkt. Aber versuche doch, dir dies klar be­ wusst zu machen: Dieser Kerl arbeitet hart, er fährt lange Strecken durch

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die Kälte zur Arbeit, er nimmt stark ab und hat chronischen Hunger. Die innerliche Haltung, die du ihm gegenüber einnimmst, ist eigentlich nicht sehr menschlich. – Und so weiter und so fort. Das Ergebnis war, dass Bernard einen zusätzlichen Teller Brei  – mit Liebe geschöpft – zum Frühstück bekam. Und ich glitt so freundlich an Hans’ Bett vorbei, dass ich spürte, dass es ihm selbst dadurch besser ging. Es geht mir jetzt sehr gut. Diese ganze Gereiztheit ist weg. Die Müdigkeit bleibt, aber dann muss ich einfach ein etwas ruhigeres Tempo anschlagen. Wieder minus 9 Grad. Vielleicht kommt Enkhuizen nicht,24 obwohl ich ein ernstes Gespräch über diese Erbsen und Bohnen führen muss. Auf diese Fragestunde von Spier am Nachmittag bei Tide freue ich mich sehr. Dann noch Vater und Mutter und um 8 Uhr rein.25 Und nun an die Arbeit. 22. Februar 1942, Sonntagabend, 9 Uhr. «Und was schreibst du jetzt heute Abend auf, Tide?»,26 fragte ich, als ich die Kartoffeln servierte. «Oh, Dankbarkeit, Dankbarkeit, nichts als Dank­ barkeit», sagte Tide mit glänzendem rotblondem Haar und einer Küchen­ schürze und sehr unpathetisch. Heute Nachmittag, Sonnenschein auf den Hyazinthen und Narzissen, Beethoven, die Spierlinge27 um das 3-jährige niederländische Baby herum, das bereits weißes Haar an den Schläfen hat, und selbst gebackener Rührkuchen aus Beetsterzwaag28 und Atmosphäre, so eine gute Atmosphäre um uns herum, so viel gute Ausstrahlung von allen zu allen, mein Gott, für so viel Gutes kann man wirklich dankbar sein – und einige Häuser weiter das Gebäude, zu dem wir am Mittwoch­ morgen um 8 Uhr hinmüssen,29 S. und ich, mit strammer Haltung und nur mit «Ja» oder «Nein» antworten und von halbwüchsigen Kerlen ange­ schnauzt werden, obwohl man weißes Haar an der rechten Schläfe hat. Und doch trifft mich dies nicht, ich frage mich, ob das daher rührt, dass ich nicht in der Wirklichkeit lebe, und ob das unverantwortlich ist. Ich glaube es nicht. Ich weiß, dass wir uns im Griff eines großen und be­ drohlichen Schicksals befinden, dieser Mittwochmorgen ist so eine Mo­ mentaufnahme, davor habe ich keinen Moment lang Angst, ich erwarte sogar nicht einmal etwas unerwartet Aufsehenerregendes. Er hatte Angst, der alte Schatz. «Er hat es mir am Freitag ehrlich eingestanden», sagte Tide in der Küche, «findest du das nicht stark und reizend?» Er hat gesagt, dass er Angst hatte. Es ist alles so seltsam. Das Realste ist für mich noch immer

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dieser Sonnenschein auf den Hyazinthen, das Kaninchen, der Schoko­ ladenpudding und Beethoven und sein weißes Haar an der Schläfe und sein junger Nacken. Als er vor dem Essen diesen Psalm vorlas, unter der Lampe stehend, unpathetisch, beinahe nüchtern, lag da so eine unend­ liche Güte über die liebe Landschaft seines Gesichtes ausgebreitet. Und für einen Moment liebte ich ihn mit einer Liebe, die fürchterlich wehtat, weil sie weit über alle Erotik und Sinnlichkeit hinausging, und die deshalb auf einmal so ungreifbar schien. Ich weiß dann, dass ich in einer Um­ armung, selbst in einer vollkommenen Hingabe meine Liebe für ihn nicht ausdrücken könnte, und das tut weh, weil man dann einfach ruhig auf seinem Platz sitzen bleiben muss und diese Liebe in sich tragen muss, es ist dann auf einmal ein Gewicht, das fast zu schwer ist für so ein kleines ­sinnliches Mädchen. Und ein kleines stilles Lächeln über die Kartoffeln hinweg kann dann mehr bedeuten als eine ganze Nacht unter gemein­ samen Bettlaken, und als ich ihn anschaute, merkte ich, dass auf einmal Tränen in meine Augen schossen, und fast geblendet von seinen gutmüti­ gen Augen wandte ich mich ab. Und dazwischen harmlosen Blödsinn ver­ zapfen. Aber keine Disharmonie zwischen diesem oberflächlichen Scher­ zen und den tieferen Gefühlen, das eine ergänzte das andere und so weiter. «Und, Herr Glassner», fragte S., «wie fühlen Sie sich nun in unserem Kreis, spüren Sie daß wir hier einen bestimmten Geist haben? Und mit so verschie­ denen Mentalitäten. Gucken Sie sich die Hillesum und die Tideman mal an, man sollte sagen, die passen zueinander wie Wasser und Feuer, wenn man sie so sieht» – Glassner schmunzelte

nur ein wenig und aß Kaninchen. Ich dachte, dass ich heute Abend sehr viel werde schreiben müssen, aber eigentlich ist alles schon gesagt. Ich radle mit einem Segelschiff hin­ ten auf meiner Persianermütze entlang der gefrorenen Schneehügel, die entlang der Straßen liegen. Um 8 Uhr müssen wir drinnen sein und um 9 Uhr geht der Ofen mit einem Plopp aus. Kürzlich war die Buttermilch im Wohnzimmer gefroren und die Kartoffeln waren süß, weil sie gefroren waren; es sind alles Kleinigkeiten, sie gehen alle vorbei, und all das Auf­ heben, das um sie gemacht wird, ist zu viel. Heute Mittag – während Beet­ hoven – musste ich auf einmal den Kopf tief beugen und für alle beten, die sich in kalten Konzentrationslagern befinden, und ich bat um Kraft für alle und wünschte ihnen, dass sie sich an gute Momente in ihrem Leben erinnern, so wie ich mich später, in schwierigeren Zeiten, an diesen Tag und an viele Tage des letzten Jahres erinnern werde und sie mir Kraft geben werden, nicht über das Leben verbittert zu sein. Wir müssen jetzt

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dafür sorgen, dass täglich die Kräfte wachsen, um die Zeiten tragen zu können, die kommen werden. Auf einmal muss ich an eine Passage aus einem Brief von Rilke denken – mal kurz im Buch von Betz suchen –, deren Worte ich für mein eigenes Leben beanspruchen will. Ja, da habe ich sie gefunden. «Von allem, was das Leben mir an Unvorhergesehenem zufügen könnte, bleibt die Enttäuschung die entfernteste Möglichkeit; manche seiner Gaben, die ich in meiner Arbeit verwirklichen konnte, haben mich zu sehr erfüllt und für immer entzückt, als daß ich jemals an seiner unwandelbaren Großmut zweifeln könnte …»

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Ich bin schon noch sehr jung, aber es gab Tage und Momente in mei­ nem Leben und es gibt sie noch täglich, durch die ich niemals verbittert werden könnte. Es ist, als ob das Leben mir niemals etwas Schlechtes an­ haben könnte, weil all das Schwere und Schwierige, das kommen kann, schon im Voraus akzeptiert ist. Mein Körper richtet sich sehr stark nach meinem Geist. Je vertrauen­ der und ausgeglichener ich mich fühle, desto stabiler scheinen sich die Zellen meines Körpers zu einem starken Bau zu vereinigen. Ja, es ist wahr, ich habe nun Kopfschmerzen und Magenschmerzen, aber ich werde nicht mehr davon beherrscht so wie früher, es fällt von mir ab, was ich fühle, ist ein unzerstörbarer starker Kern, der nur so stark bleibt bei einer andauern­ den «seelischen» Disziplin. Wenn ich diesbezüglich nachlasse und nur so unordentlich «in den Tag hineinlebe», dann überkommt meinen Körper auch direkt eine Müdigkeit und Unlust. «Es war schön»,

sagte Alice Levie mit ihrer verschleierten Stimme auf der Eingangstreppe beim Zahnarzt, und ihre Augen und wogenden blonden Haare blickten mich aus der schwarzen Pelzmütze heraus an. Schmal und fröstelnd zusammengekauert stand sie dort und ich fuhr mit dem Fahrrad weg, dieses knallrote Segelschiff hinten auf meiner Persianermütze. Es war schön. Wir hatten eine Tasse Kaffee im Café de Paris getrunken und ein wenig geredet. Ihre Worte und Fragen und Schwierigkeiten flat­ terten auf mich zu, ein wenig unsicher und Halt suchend, und ich fing sie auf und versuchte zu verstehen und ihnen eine Form zu verleihen. Es war schön. Warum sollte es auch nicht so sein können im Leben, immer und zu jeder Stunde, dass man beisammen ist und dass man beim Abschied nehmen sagt: Es war schön. Und ich entwickle mich schon in diese Rich­ tung. Jedes Beisammensein mit einer anderen Person erhält einen Inhalt

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und eine Bedeutung, ein wenig über das alltägliche Niveau hinausgehend. Zielloses und zufälliges Zusammensitzen und sinnloses Reden kommt kaum mehr vor. Je reifer man selbst wird, desto klarer werden auch die eigenen Dinge, desto klarer sieht man sie auch bei anderen und man lan­ det bei anderen auch direkt im Zentrum. Was noch nicht heißen will, dass man immerwährend bedeutungsvoll ist. Es gedeihen immer mehr Ant­ worten in mir. Abends im Bett denke ich manchmal: Da habe ich eine Frage falsch beantwortet, da hätte ich dies sagen müssen; oder: Darauf habe ich keine Antwort gegeben, ich weiß jetzt, was ich hätte sagen sollen. Es muss so werden, dass man immer bereit ist, den Mitmenschen for­ mend entgegenzutreten, und je geformter man selbst wird, desto eher wird dies gelingen. Ich bin so dankbar für dieses Leben, ich fühle mein Wachstum, ich weiß um meine Fehler und um meine Schwächen, jeden Tag aufs Neue, aber ich weiß auch um meine Möglichkeiten. Und ich habe so viel Liebe, ich liebe ein paar gute Freunde, aber diese Liebe stellt keinen Zaun gegen­ über den anderen Mitmenschen dar, ich liebe vielmehr extrem weit und umfassend und breit, sehr viele Menschen, auch solche, die ich eigentlich persönlich überhaupt nicht gerne mag, und dort muss die Liebe auch hin. Es ist nun 10 Uhr. Han schläft wieder oben bei seinem etwas pathetischen Lungenentzündungssohn und ich krabbele dankbar in mein schmales und einsames Bett. Das ist so typisch, wenn ich so auf meinem Rücken aus­ gestreckt daliege, dann ist mir, als ob ich an die gute alte Erde selbst ange­ schmiegt läge, obwohl ich doch wirklich nur auf einer weichen Matratze liege. Aber wenn ich da so liege, so intensiv und ausgestreckt und voller Dankbarkeit für alles, dann ist es gerade so, als wäre ich verbunden mit – ja, mit was eigentlich? Mit der Erde, mit dem Himmel, mit Gott, mit ­allem. Und wirklich, dann ist es gerade so, als ob ich an die Erde ange­ schmiegt daläge, obwohl es doch eine echt bürgerlich dekadente und weiche Matratze ist. Und nun gute Nacht. Morgen früh beginne ich mit dieser russischen Übersetzung für Don­ nerstag, dann kommt Loekie, die unverwüstliche Streunerin mit ihren ­hohen Tanzbeinen, dann Leonie, die psychologisiert und ständig «ringen» will, und dann Hetty E., noch so jung, 10 Jahre jünger als ich und so ­suchend und fragend und leidenschaftlich, ich bin froh, dass ich da ein wenig anleiten kann – und abends S. bei Geiger abholen und kurz eine «moralische» Vorübung für Mittwoch; ich bete für ihn, ich bin manchmal selbst ein einziges großes Gebet für ihn. – Und nun wirklich gute Nacht.

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Mittwoch, 25. Februar 1942. Es ist nun morgens um halb 8. Ich habe meine Zehennägel geschnitten und einen Becher echten Van-Houten-Kakao31 getrunken und ein Butter­ brot mit Honig vor dem Ofen gegessen, das alles – wie man so sagt – mit Hingabe. Ich habe die Bibel an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen, aber sie gab mir an diesem Vormittag keine Antwort. Das ist auch nicht schlimm eigentlich, denn es gab keine Fragen, da ist nur so ein großes Vertrauen und Dankbarkeit dafür, dass das Leben so schön ist. Und deshalb ist dies ein historischer Moment: nicht weil ich jetzt gleich mit S. zur Gestapo32 muss, sondern weil ich trotz dieser Tat­ sache das Leben so schön und voller Zukunftsaussichten empfinde, was auch immer geschehen wird. Wenn ich bloß mit hineingehen darf. Und ferner glaube ich noch dies: Ich glaube, dass S. ein «Einzelschick­ sal» hat, ein Schicksal, das einen sehr eigenen Weg geht. Eigentlich er­ schafft sich der Mensch doch sein Schicksal von innen heraus – ich habe viel Vertrauen in sein Leben. 27. Februar [1942], Freitagmorgen, 10 Uhr. Dieser Vormittag gehört wieder mir. Es kostet mich jedes Mal wieder so viel Kraft und Selbstüberwindung, mich wieder hinter diese blauen Linien zu setzen und zu versuchen, vorsichtig ein paar Gedanken aus mir heraus­ zuführen, sie kommen doch noch nicht gut an. Vielmehr springen sie manchmal in mir herum und drängeln sich wie hinter einem Gitter, um nach draußen zu kommen. Es geschieht – zumindest für mein Gefühl, ein Außenstehender könnte es nicht bemerken – so furchtbar viel in meinem Leben, dass ich manchmal fast nicht mithalten kann; es entgleitet mir viel, das ich gerne festhalten würde, aber das Wesentliche wird wohl immer wieder zurückkehren. War das noch zu Beginn dieser Woche, dass ich ihm schrieb: «Habe Dich gestern einen Moment liebgehabt mit einer so großen Liebe, daß es mir fast weh tat. Es war eine Liebe, die so weit über alle Grenzen des Sinnlichen und des Besitzenwollens hinausging, daß ich nicht wußte, wie ich das jemals ausdrücken müßte.»

Jawohl  – über alle Grenzen des Sinnlichen hinaus. Ist dies eine neue Phase in unserer Beziehung oder sind das eher zufällige Momente meiner­ seits, dass gerade ein körperliches Verlangen nach ihm wächst, dass es in den letzten Tagen und Nächten fast zu einer Obsession wurde? Sehr lang­ sam bewege ich mich in Richtung einer gänzlichen Hingabe.

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Sein Mund ist mir in unseren Gesprächen immer nah, angenehm und gütig und vertraut, eine Welt für sich, aber die Dämonen sind zur Ruhe gekommen und ich will sie wieder heraufbeschwören. Ich wurde gestern Nachmittag beinahe wahnsinnig. Es war schon wieder interessant und später zu Hause war es auch wieder anregend, worüber wir sprachen (das Buch Hiob und Faust), aber ich hatte Lust, alles Mögliche durch das Zim­ mer zu schleudern und mich nur seinen Armen und seinem Mund hinzu­ geben. Aber was willst du machen? Um 8 Uhr abends drinnen; vergeudete Stunden zwischen den Patienten, Spaziergänge im Schnee und Telefon­ gespräche. Als ich nach Hause kam, um 4 Uhr, fühlte ich mich elend. Eine Trau­ rigkeit, die so groß war wie schon lange nicht mehr. Mich fast gekränkt fühlen als eine Frau, die voller Bedenken ist, ob sie noch begehrt wird. Und doch: Seine Stimme ist eine einzige große Liebkosung. Aber die ­Dämonen: für einen Moment lang vertrieben. Die Ironie wollte es, dass er an diesem Mittag, während ich gerade sehr poetisch bei ihm auf dem Schoß saß, noch sagte: «Doch schön und merkwürdig, wie Sie jetzt leben, wie Sie so dahinleben und alles umsetzen in Geist.» – Jawohl: in Geist. Und dann auch noch einen Brief von Hertha lesen. Gestern Abend am Telefon las er mir einen Teil aus ihrem Brief vor – sie kommen und strömen, die «sehn­ suchtsschweren» Briefe. Und ich habe mein Herz sperrangelweit geöffnet und war völlig ehrlich und dachte: Ich bin so dankbar dafür, dass er mich sein ganzes Leben miterleben lässt und auch dieses andere Leben, das aus der Ferne mit dem seinen verbunden ist, denn so erweitern sich ständig meine inneren Horizonte. Es ist jedes Mal schwierig für mich, aber jedes Mal schlage ich mich durch und bleibe innerlich anständig. Aber dann gestern Nachmittag wieder so ein Brief und ich so voller Verlangen – tja, aber was sollte ich machen, in einer halben Stunde kam ein Patient. Und eigentlich war ich so müde. Ja, das muss ich mal mit ihm besprechen, das ist etwas Typisches für mich: Ich habe beobachtet, dass bei mir fast immer eine große Müdigkeit – der Beginn einer Grippe oder was auch immer – mit großer Sinnlichkeit und Verliebtheit einhergeht, die dann wegen der großen Müdigkeit doch nicht realisiert werden kann und dann aufs Innere zielt und Unheil anrichtet. Und als ich gestern Nachmittag vor dem Ofen saß, wieder zurück und sehr traurig, zuerst für mich selbst unverständlich, und Leonies Brief noch einmal durchsah, griff ich nach der Bibel und schlug Korinther 1.13 auf, zum zigsten Mal.

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Ja – «Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. … Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf; sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.»33 Und als ich diese Worte las, da war mir, ja, wie war mir da zumute? Ich kann es noch nicht gut ausdrücken. Sie wirkten auf mich wie eine Wün­ schelrute, die den harten Grund meines Herzens berührte und plötzlich verborgene Quellen aufsprudeln ließ. Auf einmal lag ich auf den Knien neben dem kleinen weißen Tisch und es strömte wieder die befreite Liebe durch mich hindurch, einen Augenblick lang befreit von Begierde, Neid, Gehässigkeiten usw. Aber ich glaube, dass ich ganz schön hysterisch war gestern Nachmittag. Kurze Zeit danach saß ich vor dem Ofen, mit Tränen und so traurig wie schon sehr lange nicht mehr. Und mit so einem großen Verlangen und mit einer Art Wut einer verschmähten Frau. Und ich hielt mir selbst noch vor: «Weißt du eigentlich, dass es sehr kindisch ist, dich beleidigt zu fühlen auf eine Art und Weise, wie du das jetzt tust?» Und als Han kurze Zeit später ins Zimmer hereinkam, sagte ich: «Papi, es wird höchste Zeit, dass du wieder unten schläfst, ich fühle mich wieder ganz melancholisch und nymphoman und bin wieder geneigt, alle Dinge des Geistes als wertlosen Plunder in eine Ecke zu schmeißen.» Und Han, sehr klug: «Nein, das muss nicht sein, dann wäre dein Gleichgewicht aufs Neue gestört, lass den Geist das sein, was er ist, und lass ihn seinen vollen Wert behalten, aber stelle zuerst das Gleichgewicht wieder her.» «Ja, Han.» Ich bin ehrlich zu ihm, innerlich. Die Leidenschaft vieler Jahre ist allmählich zu einer übergroßen Zuneigung geworden und die Körper sind aus einer schönen Tradition heraus noch vertraut mitein­ ander. Und ich habe mir gestern vorgehalten: Es ist gemein und kindisch und ungerecht, wenn man das Verlangen nach dem einen Mann mit ­einem anderen Mann zu stillen versucht. Aber ich versuche, das nicht zu tun und Han nicht als ein Mittel für meine erotischen Wünsche zu ge­ brauchen.

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Und als ich abends in seinem Bett lag und er noch an seinem Schreib­ tisch saß, sehnte ich mich auf einmal wieder so nach S., dass ich froh war, dass Han erst viel später ins Bett kam und ich durch sein Spätsein bereits eine Ausrede hatte, schon zu schlafen. Aber als die so vertrauten Glieder wieder an mich angeschmiegt dalagen, begannen die Körper ihr Spiel nach ihren eigenen Gesetzen und ich gab mich dem auch voller Genuss hin, aber als dann später Han glücklich und zufrieden neben mir lag, habe ich heimlich im Dunkeln in seiner Achselhöhle geweint vor lauter Ver­ langen nach dem anderen Mann. Und heute Morgen hatte zu meinem Entsetzen das Verlangen noch nicht nachgelassen. Es wächst weiter, und wohin wird das führen? Gestern Abend, als ich ihn um 7 Uhr bei Geiger abholte, sagte ich plötzlich: «Ich bin wieder soo traurig.» Und er, sehr erstaunt: «Seit wann denn?» Ich: «Seit heute morgen 11 Uhr.» Und er: «Das ist doch selbstver­ ständlich, nach diesem frühen Aufstehen und diesen Emotionen von ges­ tern.» Und ich: «Aber darüber habe ich mir keine Sekunde lang Sorgen gemacht.» Er: «Aber Sie haben vielleicht doch mehr Libido34 hineingesteckt als Sie selber wissen.» Und ich: «Vielleicht habe ich ausgerechnet zu viel L ­ ibido übrig.» Und dann wusste er es schon wieder. Und ich habe ihn voller Widerwillen um 7 Uhr abgeholt. Ich wollte nicht mehr reden, ich wollte einzig nur die Dämonen um seinen Mund wieder heraufbeschworen sehen. Aber die Unterhaltung auf diesem kur­ zen Spaziergang zu seinem Haus enthielt wieder unerwartet gehaltvolle M ­ omente. Und als ich zu Hause war, hörte ich kurz danach seine Stimme wieder am Telefon, eine einzige große Liebkosung. Über moderne Dich­ tung, über Tatjanas Traum35 in Puschkin, über weiß Gott was gesprochen; ich habe ihm dann von der Begegnung mit diesem Mann im Zug und später in der Straßenbahn erzählt, mit diesem Gesicht wie eine exotische Landschaft, von dem ich hoffte, er würde mich ansprechen. Vielleicht will ich ihn auch unbewusst reizen? Ich weiß es nicht. Und er, sehr versöhn­ lich: «Das kommt alles auch mal wieder.» Am 3. Februar, dem ersten Jahrestag unserer Freundschaft, habe ich gedacht, dass keine «Steigerung» mehr möglich sei, so intensiv erschien mir unsere Beziehung. Seither – noch kein Monat ist vergangen – scheint sie mir immer intensiver zu werden. Und ich weiß, dass da noch viele Möglichkeiten warten. Die Angst vor dem vollständigen Körperkontakt, aus Furcht, dass dieser nicht das gleiche Niveau erreichen könnte wie ­unsere geistige Verbindung und dass er etwas verderben könnte. Man

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sollte niemals etwas forcieren und alles seinem natürlichen Wachstum überlassen und warten, bis die reifen Früchte zu Boden fallen. Mein Ver­ langen wächst sehr langsam und reift zu einer vollkommenen Hingabe, wie ich das noch niemals zuvor gekannt habe. Es geschah vor ein paar Tagen in einer kalten Straßenbahn auf dem Weg zur Universität. Da hatte ich es auf einmal mit großer Deutlichkeit vor Augen: Ich werde durch viele Länder reisen und ich werde ebenso viele Gesichter von Menschen wie Landschaften bereisen. Von allen Gegenden der Welt aus, wo ich sein werde, werde ich etwas zu den Menschen zu ­sagen haben, und zwar auf meine eigene bescheidene Art und Weise, aber ich habe jedenfalls etwas zu sagen – auf eine eigene Art und Weise. Ich habe mich mit ihm dann verbundener denn je gefühlt, aber zu­ gleich auch befreiter von ihm als je zuvor gefühlt. Ich trage ihn in mir wie einen Teil meines Körpers und meiner Seele. Aber ich werde frei und un­ gebunden bleiben und niemals mein Leben an dasjenige eines anderen binden. Das wusste ich dann ganz sicher. Ich wusste damals auch um den Hunger und die Kälte und die Niedergeschlagenheit, an denen ich immer wieder aufs Neue leiden werde, aber auch um das große Vertrauen und um ein andauerndes Wachstum. Und in kurzen Momenten werde ich mit ihm für das ganze Leben verbunden sein wollen, aber ich weiß, ich muss im­ mer wieder bedenken, dass ich trotzdem eigentlich allein durch das Leben gehen will. Der Mensch erschafft sich sein eigenes Schicksal von innen heraus. Ich schrieb dies am Mittwochmorgen in aller Frühe auf und fühlte mich da­ nach ein wenig beunruhigt durch diese unbedachte Äußerung und suchte für mich selbst nach Beweisen dafür. Und plötzlich wurde es mir so kris­ tallklar. Natürlich erschafft sich jeder Mensch sein eigenes «Schicksal» von innen heraus. Es gibt nicht so viele Lagen, in denen man sich auf dieser Erde befinden kann: Man ist Ehemann, man ist Vater, man ist Ehefrau, man ist Mutter, man ist Insasse eines Gefängnisses oder Wärter eines Ge­ fängnisses, es macht nicht so einen großen Unterschied, alle sind von den­ selben Mauern umgeben. Und so weiter und so fort, später weiter aus­ arbeiten. Aber wie man sich innerlich zu den Ereignissen des Lebens stellt, das bestimmt dein Schicksal. Das ist dein Leben. Man kennt das Leben eines Menschen nicht, wenn man die äußeren Umstände kennt. Die äuße­ ren Umstände, ach, sie unterscheiden sich nicht so stark im Leben eines jeden. Um das Leben eines anderen zu kennen, muss man seine Träume

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kennen, seine Stimmungen, und wissen, welche Art von Beziehung zwi­ schen ihm und seiner Frau und seinem Tod und seinen Enttäuschungen und seinen Krankheiten besteht. Wir standen dort mit einer großen Gruppe in diesem Lokal bei der Gestapo am Mittwochmorgen in aller Frühe, und die Lebensumstände waren für alle dieselben in diesem Augenblick: Wir befanden uns alle im selben Raum, die Männer hinter dem Pult genauso wie die Befragten. Was das Leben eines jeden bestimmte, war, wie man sich innerlich dazu stellte. Es fiel mir unmittelbar ein hin und her laufender junger Mann mit unzufriedenem Gesicht auf und er verbarg diese Unzufriedenheit auf keine Art und Weise und wirkte nervös und gequält. Hochinteressant zu sehen. Er suchte nach Vorwänden, um die unglücklichen Juden anschreien zu können: «Hände aus den Taschen bitte» usw. Ich fand ihn bedauernswerter als die Angeschrienen und die Angeschrienen nur bedauernswert, sofern sie Angst hatten. Als ich mit S. vor seinem Pult erschien, brüllte er mich plötzlich an: «Was finden Sie lächerlich hier.» Ich hätte gerne gesagt: «Außer Ihnen, finde ich nichts lächerlich hier», aber aus diplomatischen Überlegungen heraus erschien es mir besser, dies zu unterlassen. «Sie lachen ja fortwährend», brüllte er weiter. Und ich völlig unschuldig: «Davon bin ich mir gar nicht bewusst, das ist mein gewöhnliches Gesicht.» Und er: «Machen Sie keinen Blödsinn bitte, gehen Sie bitte rrrraus», mit einem Gesicht, das aussagte: «Wir werden uns gleich noch sprechen.» Und dies war wahrscheinlich der psychologische Moment, in dem ich eine Heidenangst hätte haben müs­ sen, aber diesen Trick durchschaute ich zu schnell. Ich habe eigentlich keine Angst. Nicht, weil ich mich mutig fühle, sondern aus dem Gefühl heraus, dass ich es doch immer mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen werde, jede Äußerung von wem auch immer zu begreifen, sofern mir dies möglich sein wird. Und dies war das Historische an diesem Morgen: nicht, dass ich von einem unglücklichen Gestapo-Kerl angeschrien wurde. Vielmehr hätte ich vielleicht empört oder ängstlich sein müssen, aber das Wichtige dieses Morgens scheint mir darin zu liegen, dass ich aufrichtiges Mitleid mit diesem Kerl hatte, sodass ich ihn am liebsten gefragt hätte: «Hast du so eine unglückliche Jugend gehabt oder hat dich dein Mädchen betrogen?» Er sah so gequält und ner­ vös – übrigens auch sehr unangenehm und schlapp – aus. Ich hätte am liebsten direkt mit einer psychologischen Behandlung angefangen. Dabei war mir sehr stark bewusst, dass diese Kerle bedauernswert sind, solange

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sie nichts Böses anrichten können, aber lebensgefährlich werden und des­ halb ausgerottet werden müssen, wenn sie auf die Menschheit losgelassen werden. Aber verbrecherisch ist nur das System, das sich dieser Männer bedient. Noch etwas von diesem Vormittag. Die sehr starke Empfindung, dass ich trotz all des Leids und Unrechts, das geschieht, die Menschen nicht hassen kann. Und dass all das Furchtbare und Abscheuliche, das geschieht, nicht etwas geheimnisvoll Bedrohliches und Fernes von außen ist, sondern dass es sehr nahe bei uns ist, in uns, aus uns Menschen entspringt. Und dass es mir dadurch bereits wieder vertrauter ist und nicht so beängsti­ gend. Das Beängstigende ist, dass Systeme über Menschen hinauswachsen und diese Menschen in ihrem satanischen Griff haben, und zwar sowohl die Entwickler als auch die Opfer dieses Systems, so wie große Gebäude und Türme – von Menschenhand erbaut – irgendwann über uns hinaus­ ragen, uns beherrschen und über uns zusammenstürzen und uns begraben können. Wir kamen in einen schön beheizten Raum und wurden von sehr ­korrekten Herren mit allerlei Abzeichen sehr korrekt empfangen und wir selbst waren auch sehr korrekt. Wir unterschrieben mit höflicher Geste die Schriftstücke, die uns höflich hingeschoben wurden und die möglicher­ weise unser eigenes Todesurteil sein könnten. Wir sagen: Diese Männer da, die machen doch da nur mit, auch wenn sie nicht damit einverstanden sind, Todesurteile zu unterschreiben. Aber wir, wir machen doch auch mit und unterschreiben unsere eigenen Todes­ urteile mit einem freundlichen Gesicht. Und dieses Gefühl hatte ich an diesem Morgen sehr stark: Man kann den Hass nicht an einzelnen Men­ schen abreagieren, niemand trägt Schuld, ein System funktioniert über unsere Köpfe hinweg, ein bedrohlich errichtetes Gebäude, das über uns einstürzen kann, sowohl über den Befragenden als auch über den Be­ fragten. Eine Sache war noch witzig und erwähnenswert: Dieses Gespräch über Rilke um 8 Uhr vormittags mit diesem jungen Beamten des Judenrats. Und ich sagte später an dem Tag zu jemandem: Ich finde es eigentlich immer und überall ganz gut, solange ich selbst dabei sein darf. Und nun muss ich mich um die Kaffeetafel kümmern. Ich muss noch über ein paar Dinge schreiben. Über Tide, die am Sonntag so bezaubernd war, dass ich das Bild von ihr an diesem Tag gerne festhalten würde. So frisch und jung und strahlend. Und dann etwas sehr Prosaisches: das hohe

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Niveau, das dieses Diner hatte. Zwei wirklich tüchtige Frauen, Adri und Tide. Na ja, über solche Dinge kann ich doch nicht gut schreiben. Über Alice Levie könnte man noch Bände schreiben. Und über Leo­ nie, deren Brief36 ich hier als Erinnerung an den Weg beilege, auf den sie sich nun begeben wird und auf dem ich sie auch ein wenig unterstützen kann. Alice Levie betrachtet mich als eine Zwischenstation zwischen ihr und S. und Leonie sagte einmal: «Bei dir komme ich in den Vorhof des Tempels und bei S. gelange ich dann in das Heilige des Heiligen selbst.»37 So entsteht eine kleine Praktik, um ein großes Wort zu gebrauchen. Dieses kleine Stückchen Beichte lege ich auch bei, auch als Erinnerung. Und Aimé – damit dieser Kreis nun auch geschlossen ist – verschafft mir eine stets wiederkehrende Befriedigung. Es ist jetzt nur ein wortloser und stiller Kontakt in den Vorlesungen, aber ich weiß, dass er bei mir wieder anklopfen wird, und dann stehe ich bereit. Meine Herde wird im­ mer größer und ich stehe für immer mehr bereit und finde immer mehr Antworten für mich selbst und für diejenigen, die fragen. Und nun zur Kaffeetafel. 1. März ’42, Sonntagabend, halb 9. Ich darf nicht mit so viel unverarbeitetem Stoff in meiner Seele die neue Woche beginnen, nicht so viele verwirrte Stimmungen mit mir in die neue Woche mitschleppen. Es wäre schade, denn es stehen so viele gute Dinge auf dem Programm: morgen die Rilke-Briefe bei Ilse Blumenthal und Hetty, am Dienstagnachmittag merkwürdigerweise Jan Bool, um mit mir zusammen ein wenig zu arbeiten, am Mittwoch Leonie, am Freitagabend und Freitagnacht die Levies, am Donnerstag mit S. bei Geiger essen. Was ist das doch für eine Frühlingshysterie und Schwermut, auch wenn noch eine Schneesteppe vor dem Haus liegt. Als S. heute Nachmit­ tag mit seinem bleichen Gesicht über dem dunkelblauen Anzug vor mir stand (dieser dunkle Anzug mit dieser dunkelroten Krawatte steht ihm viel zu gut) und sagte: «Na, was sitzen Sie da melancholisch verschollen in der Ecke», da hatte ich auf einmal die seltsame Anwandlung, laut weinen zu wollen. Und als wir später kurz allein in Tides Zimmer waren und er vor mir stand, musste ich mich beherrschen, nicht zu heulen, und ich ver­ hielt mich ihm gegenüber wahnsinnig zurückhaltend und verkrampft und er lachte mich ein bisschen aus und sagte: «Na, es wird schon wieder gut.» Das Schlimme war, dass er mir wie ein vollkommen Fremder vorkam, ein Mann, mit dem ich nichts zu tun hatte und auch niemals etwas zu tun

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gehabt habe. Und auf der Straße auf dem Fahrrad konnte ich dann wieder laut heulen wie ein Kind, das todunglücklich ist und nicht weiß, worüber. Und ich habe noch immer einen Kloß im Hals. Es ist echte Frühlings­ hysterie. Ich bin selbst verblüfft darüber. Ich verstehe es aber auch ein biss­ chen. Ich habe mich in den letzten 2 Monaten innerlich vor lauter Liebe für ihn verausgabt und sein Herz war immer offen und bereit für mich, er streckte mir seinen Geist fortwährend entgegen, aber er vergaß, seine Hände und seinen Mund auch nach mir auszustrecken. Und es muss doch ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist geben. Und wenn man sich so schrecklich danach sehnt, dass jemand einen in seine Arme nimmt, und er tut dies aber niemals, dann überkommt einen als extreme Reaktion ­darauf manchmal auf einmal ein Gefühl der starken Entfremdung und Verlassenheit, gefolgt von Wut und Hass auf den anderen. Ich war heute Nachmittag auf einmal so wütend und unglücklich und es brach auf ein­ mal wieder so eine starke Schwermut über mich hinein. – Damit verbun­ den eine große körperliche Müdigkeit und Erschöpfung und Schmerzen im Rücken. Ich habe mich vor ein paar Tagen gefragt: Besteht dieses Verlangen nach ihm nur in zufälligen Momenten oder wird es ein organischer Pro­ zess, in dem das Verlangen wächst und reift bis zur unvermeidlichen Hin­ gabe? Ich beginne allmählich zu glauben, dass Letzteres der Fall ist. Aber dann muss ich auch die Geduld haben, dieses Verlangen bis zu seinem Ende auszutragen. Immer wieder habe ich mir gesagt: Geduld. Ich muss dann zunächst abwarten, ob dieses Verlangen lebensfähig ist und ob es nicht nur in den Fantasien der Nacht blüht oder ob es auch der Nüchtern­ heit des Tages gewachsen ist. Es ist wirklich sehr schwierig für mich in den letzten Tagen mit diesen Frühlingsgefühlen. Und was mich dann auf einmal so widerspenstig und wahnsinnig machen kann, ist, dass er dann immer derselbe bleibt und dann noch, überhaupt nichts Böses ahnend, behauptet: «Doch schön so ein Mädchen, das so dahinlebt und alles umsetzt in Geist.» Ich sage ab und zu zu mir selbst: Ich halte das nicht mehr lange aus, ich verzweifle, ich kann nicht mehr. Und dann wieder: Geduld. Ein Verlangen in dir tragen und zur vollen Größe heranwachsen lassen. Und diese Kinde­ reien musst du dir abgewöhnen: wütend sein und dich ärgern über den­ jenigen und dich beleidigt fühlen von demjenigen, der dein Verlangen nicht stillt. Er ist letzten Endes auch in denselben Prozess verwickelt. Die Umstände machen es derzeit sehr schwierig, ungestört beieinander zu

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sein, und Mann und Frau haben nun einmal ihre unterschiedlichen Mo­ mente, es ist alles so verdammt schwierig. Aber dies steht jetzt doch für mich fest: Im Augenblick ist, zumindest für mich, das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele in unserer Bezie­ hung gestört. Der Körper macht mir zu schaffen und macht mich müde. Noch diese zärtliche, melancholische Novelle von Tschechow38 zu Ende lesen und dann sehr früh ins Bett. Ich habe solche Angst, dass diese Müdig­ keit bleibt. Ich bin so böse auf ihn. Ich würde so gerne in seinen Armen sein. Ich finde es so gemein von ihm, dass er mich so verschrumpeln lässt, ich werde davon sehr stark rebellisch und gleichzeitig so lustlos. Und ich kann jetzt auch nicht sagen: Ich liebe ihn so sehr. Das ist nun alles getrübt. Das Verlangen «macht sich breit» in mir, es dehnt sich aus und nimmt mich von innen gänzlich in Anspruch und macht mich so bleischwer. Es ist halb 9. Han liegt im Bett, ein alter, hustender, keuchender Mann mit freundlichen blauen Augen. Es ist alles ein bisschen betrüblich. Mein Körper fühlt sich so jung und so einsam und verraten an. In mir gibt es keinen einzigen liebenswürdigen Gedanken, ich bin traurig und hasse alle. Heute Morgen war das noch nicht so und gestern überhaupt nicht. Das war gestern so ein ausgelassener Frühlingsnachmittag mit Alice Levie. Aber heute Nachmittag überkam es mich auf einmal, als ich S. wiedersah. Es ist sehr gut, seinen Kummer wieder einmal zu erfahren und zu ­einem guten Abschluss bringen zu müssen. Der Kummer wiegt schreck­ lich schwer in mir und tut weh. Man darf sich niemals an anderen ab­ reagieren, das ist kindisch, andere müssen nicht unter uns leiden, wenn wir an unserem Kummer zu leiden haben. Und auch immer die kindische Neigung, dich beleidigt zu fühlen. Zu denken, dass niemand es so schwer hat im Leben wie du selbst. Und lass mich nur mich selbst zitieren: «Und meine Traurigkeiten, sie gehören mit zu den kostbaren Bestandteilen des eigenen Wesens und bergen schon wieder in sich den neuen schöpfe­ 39

 – Es klingt für mich jetzt nicht einmal überzeugend in den Ohren. Da ist ein gestörtes Gleichgewicht, das so wehtut und das zu­ erst wiederhergestellt werden muss. rischen Moment.»

Montagmorgen [2. März 1942], 8 Uhr. Ich bin nicht mehr böse auf ihn, ich liebe ihn sehr. Alle Kindereien sind gerade wieder von mir abgefallen. Gerade als ob immer wieder aufs Neue kleine Geschwüre auf der Oberhaut auftreten, aber sie platzen schnell auf

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und verschwinden. Man muss auch immer wieder aufs Neue mit den eige­ nen Schwächen und der eigenen Oberflächlichkeit konfrontiert werden. Gestern Abend im Bett sagte ich plötzlich: «Eigentlich müsste ich dir doch dankbar sein, Gott, dass du mich dazu befähigt hast, große und leiden­ schaftliche Gefühle zu haben, und dass du einen Mann auf meinen Weg geführt hast, der all diese Gefühle richtig zu erwidern weiß, auch wenn er es dann einige Wochen lang versäumt hat, seine Arme nach mir auszu­ strecken.» Ich werde mein Verlangen erziehen und es vorsichtig und so würdevoll wie möglich an seinen Bestimmungsort lotsen. Aber was muss ich zu den Frauen mit einem großen Verlangen sagen, die dafür keine Bleibe finden können? Die nicht den einen richtigen Ge­ genspieler finden können und die deshalb ihr Verlangen in viele schmut­ zige Stücke zerbröckeln müssen und es herabwürdigen müssen? Die – und plötzlich fallen mir die Worte dieser strengen, halb männlichen Phia ­Veling40 ein, das ist schon Jahre her – aus ihrem Kapital Kleingeld machen müssen? Was muss ich solchen Frauen sagen? Arme Frauen nach diesem Krieg mit ihren niedergemetzelten Männern. Es wird viel und schwer gelitten in deiner Welt, Gott, ich erfahre das annähernd jedes Mal wieder am eigenen Leib. Und auch dafür bin ich letztendlich dankbar, dass ein fernes Echo dieses Leidens auch in mir er­ klingt und dass ich dadurch immer wieder die Menschheit etwas besser verstehen und ihr nachempfinden kann. Ja, ich werde mein Verlangen erziehen und es manchmal bändigen und es sicher an seinen Bestimmungsort lotsen. Gestern Abend dachte ich: Seine Arbeit, nichts interessiert mich im Augenblick, bevor das Gleichgewicht nicht wiederhergestellt ist. Man sollte sich im Voraus niemals auf bestimmte Vorstellungen so festlegen. Wenn er mir heute oder morgen etwas über einen Patienten oder über was auch immer erzählt, dann wird mein Interesse wieder genauso groß und begierig sein wie immer. Was ich gestern auch wieder gelernt habe, ist: Man darf ein Unlust­ gefühl niemals so einen langen Schatten auf die Tage vorauswerfen lassen, man verdirbt dann aus seinem eigenen Inneren heraus die kommenden Tage. Ich habe mir selbst eingeredet, dass ich ihn hassen würde, bis das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele in unserer Beziehung wieder­ hergestellt wäre. All meine Gefühle für ihn waren gestern so getrübt und ich dachte, dass dies so bleiben würde. Aber nun ist er mir wieder so nahe

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und ich liebe ihn, ohne getrübtes Gefühl. Und dass er mir gestern so fremd war mit seinem bleichen, leidenschaftlichen Gesicht über diesem dunkel­ blauen Anzug, das finde ich im Nachhinein betrachtet etwas sehr Merk­ würdiges und Interessantes. Früher war das in jedem Augenblick der Fall, es war gestern auf einmal wieder eine kleine Reminiszenz an die Möglich­ keiten von früher. Und auch das ist gut. So rostet man niemals in Gewiss­ heiten ein und muss sich jedes Mal aufs Neue eine Sicherheit und ver­ traute Nähe zurückerobern. Und das ist letzten Endes auch einer der Reize an der Beziehung mit ihm: trotz der großen Vertrautheit und Intimität doch immer wieder eine große Distanz, erwachsen aus der Unvermeid­ lichkeit, dass jeder doch eine eigene Welt mit eigenen Grenzen ist. Aber es gibt Momente – und das war gestern so und in den letzten Tagen –, in denen man die eigene Welt und die eigenen Grenzen mit Freude würde aufgeben wollen, um mit dem anderen zu verschmelzen. O ja, und dieser Gedanke kam mir heute Nacht auch noch: In solchen Frühlingsstimmungen ist man geneigt, das erotische und sexuelle Verlan­ gen wieder als den alles beherrschenden Mittelpunkt des Daseins zu be­ trachten, aber auf einmal wusste ich wieder: Es ist ein Teil davon, es kann vielleicht gerade alles beherrschend sein, aber es ist doch nur ein Teil da­ von. Und es stand mir auch klar vor Augen: Das Schreiben eines kleinen Stücks Prosa oder ein Gespräch über wesentliche Dinge des Lebens mit einem Mitmenschen wird mir doch immer wieder größere Befriedigung verschaffen als ein Ehebett. Und dadurch, dass mir dies so klar vor Augen stand, trotz dieses quälenden Verlangens, wurde die Harmonie in mir schon fast wiederhergestellt. Man muss stets die Vielzahl der Teile zugleich im Auge behalten und man kann gelegentlich von einem Teil mitgerissen werden, auch das hat seinen Reiz, aber die meisten lassen sich manchmal derart von einem einzigen Teil beherrschen und mitreißen, dass das ganze Leben dadurch beschädigt und aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Ich habe heute Nacht viel geträumt, aber ich weiß kaum mehr, was. Aber dies weiß ich doch noch: Als ich wach wurde und noch auf der Schwelle zwischen Traum und Wachheit zögerte, da konnte ich gerade noch in den Raum des Traumes schauen und ich wusste: Es war ein guter Traum. Dann schlug die Tür zu und ich war nur noch wach. Aber die Er­ innerung war: Es war ein guter Traum. Vielleicht weht die Türe ab und zu wieder einmal auf heute, das passiert öfters und dann fallen dir wieder Traumfragmente ein. Unter anderem war da dieses: Ich saß inmitten sehr vieler Menschen,

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mein Vater saß da auch, klein und krumm, und er aß sehr unappetitlich. Und ich schämte mich nicht für ihn vor den anderen, ich hatte ihn sehr lieb, in mir war kein einziges Minderwertigkeitsgefühl seinetwegen, wie das sonst der Fall ist. Und als ich wach wurde, gab mir das ein sehr herr­ liches und dankbares Gefühl. Und direkt nach dem Erwachen dachte ich auch: Ja, nun ist mir wie­ der einmal zum soundsovielten Mal bewusst geworden, dass die Innenund die Außenwelt ständig ineinander überfließen müssen, es ist gerade so, also ob heute Nacht wieder ein Loch in die Wand gemacht wurde, die sie doch immer wieder getrennt halten will. Und auch dies gab mir so ein Gefühl der Erweiterung. Zu Beginn der Nacht träumte ich etwas Schlechtes, aber der Traum hinterließ überhaupt keinen schlechten Nachgeschmack. Ich war mit S. kurz allein in seinem Zimmer und plötzlich wirft er sich auf mich und beginnt mich zu küssen, ich erwidere den Kuss mit gierigem Mund und habe dabei das Gefühl: Er tut dies, wie er einen Patienten be­ handeln würde, von dem er denkt, dass dieser es benötigt. Es war nur sehr kurz, viel zu kurz, und dann kam Dicky herein, oder war es Adri? Ich er­ innere mich noch, dass ich voller Wut eine Tür hinter Dicky zuschmet­ terte und Adri aus dem Zimmer hinausjagte. Mehr weiß ich nicht mehr. Ich weiß noch ganz schmerzhaft, wie ungestüm ich war und wie viel zu kurz es dauerte. Und jetzt will ich noch eine Passage aus Rilke abschreiben, nur so, weil ich so gute Laune habe und mir selbst etwas Nettes gönnen will. Ich bin schon gespannt, ob diese gute Laune den heutigen Tag überleben wird, ich muss doch darauf vorbereitet sein, dass ich in jeder Hinsicht wieder aus meinem Gleichgewicht gebracht werden kann. Ach nein, sei nun erwachsen. Ach, wie früh ist Käthe denn? Sie ist so eine verdammt starke und tüchtige Frau, diese Käthe. Direkt heute Morgen zum Carlton-Hotel, um zu versuchen, Carl41 hierzu­ behalten, sonst geht er nach Deutschland und sie mit, das wäre eine Katas­ trophe für diesen Haushalt, ganz abgesehen von dem großen mensch­ lichen Verlust. Käthe gehört zu den wenigen Menschen – das ist mir vor einiger Zeit bewusst geworden –, die ich ihr ganzes Leben lang nicht aus den Augen verlieren wollte und mit der ich immer in Kontakt bleiben wollte.

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Die Arbeit in Carls Hotel wird wohl von deutschen Mädchen über­ nommen, hierher importiert aus den besetzten Gebieten, alle Männer vom Krieg verschlungen. Ich ertappte mich im Flur auf einmal dabei, dass ich für Käthe und für uns betete, damit es klappen würde, sie hierzu­ behalten. Dieser Brief von Tide,42 ich kann nichts dafür, vom 27. Febr., beigelegt auf S. 29 dieses Hefts, den sie mir gestern gab, irritierte mich in hohem Maße: … «dann ärgere ich mich schon wieder über meinen fürchterlichen Stil, aber ich weiß, dass unser lieber Gott nicht darauf achten wird.» Ich dachte diesbezüglich: Kindlichkeit ist sehr rührend, aber dies geht mir doch zu weit für eine Frau im Alter von 35 Jahren. Und dann … «Das Wunderbare ist, dass Gott mich erhört hat, mehr, als ich sagen kann, ist es nicht wunderbar gelaufen? Aber S. ist natürlich auch ein begnadetes Wesen.» Da wird man ja verrückt. Ja, es ist wunder­ bar gelaufen, wir durften eine Stunde lang hinter allerhand Tresen stehen, dann wurden wir von einem Querulanten angeschrien. Was hatte sie ­eigentlich erwartet, diese naive Tide? Dass sie ihn gleich ins Militärgefäng­ nis stecken würden? Wunderbar gelaufen, nennt man so etwas. Das ist mir irgendwie alles zu kindisch, nicht mit dem nötigen Weitblick betrachtet. Ich werde vielleicht doch einmal mit ihr darüber sprechen. Auf eine andere Art und Weise hat dieser Brief vielleicht doch eine Auswirkung auf mich gehabt. Ich ertappte mich dabei, dass ich gerade sehr intensiv für Käthe betete heute Morgen und dass ich in aller Frühe dachte: Bevor ich am Freitag zu den Levies gehe, werde ich ganz gewaltig und unheimlich beten, bevor ich dahin gehe, damit Segen über unserem Zusammensein ruht, weil davon so viel abhängen kann. Und nun muss ich mich mal um mein Krankenhaus kümmern gehen, Rilke kommt dann später wieder einmal dran. abends halb 10. Es tut so schrecklich weh, ich kann nicht darüber schreiben. Ich stöhnte in der Apollolaan und in allen benachbarten Straßen, als ich unter dem Mond durchradelte. Es fielen Worte wie: Mitleid, Belästigung, Verantwortung, Konflikte und Unfreiheit. Ich muss mein Verlangen erziehen, es muss sich würdevoll benehmen. Weshalb kann ich mich nicht wie eine Schwerverletzte verhalten, die doch ihre Schmerzen anderen gegenüber zu beherrschen versucht und mit ­einem freundlichen Lächeln in ihr Bett geht? Ich stöhnte nur auf meinem

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Fahrrad: «Mein Gott, wie kann ich hier jemals auf anständige Weise her­ ausfinden? Wie kann ich das ertragen?» Dieses große Verlangen ist nicht so schlimm, aber die Reaktionen sind noch so kindisch. Wenn ich so weitermachen würde, könnte ich es mir mit ihm verscherzen. Aber im Moment bin ich einfach nur kaputt. Nicht unglücklich, das wäre einfach sündhaft. Aber ich leide, ich leide sehr stark, ich weiß nicht, wohin ich mit dem Leiden soll. Ja, Fräulein, du mit deinen großen Worten über das Leiden. Es tritt nun wieder einmal in einer anderen Form an dich «heran», auch dies musst du akzeptieren. Es tut so entsetzlich weh. Aber du musst doch sehr gut zu unterscheiden lernen, wann du dich als verschmähte Frau fühlst und wann das Verlangen echt und groß ist. Wann es eine normale Frühlingshysterie ist, die an jedem abreagiert werden könnte, und wann es speziell diesem Mann und niemand anderem gilt. Ich bin doch noch einfach sehr klein und jung und kindisch, finde ich auf einmal. Ich bin wieder einmal in einen neuen Schmelztiegel geworfen worden. Das Leiden, eigentlich mit einem großen L,43 muss daraus zum Vorschein kommen, befreit von allen unedlen Nebenbestandteilen. «Ausklingen», auch das muss ausklingen. Er entwickelt sich gerade zu einem halben Heiligen und mein Verlan­ gen wächst stetig, das verleiht mir so ein katastrophales und verzweifeltes Gefühl. Es wird schon wieder gut. Ich bin noch lange keine «große» Frau. Ich habe heute Nachmittag diesem jungen Kind so voller Leidenschaft eine Rede darüber gehalten, dass das Leben ein langsamer Wachstumspro­ zess ist, und eine Rede über die Geduld. Und das, was ich heute Nachmit­ tag sagte, das lebe ich auch. Aber jetzt kommt wieder eine neue Phase, durch die ich hindurchmuss und durch die ich unversehrt und so «groß» wie möglich hindurchmuss und die ich in ihrem tiefsten Elend erleben muss, um anderen später hindurchhelfen zu können. Man muss alles zu­ erst selbst erleben. Und bitte eine etwas «große» und würdevolle Frau sein. Ich fühle vage, dass dies der Beginn einer neuen Phase ist, aber wie das gehen soll, weiß ich noch nicht. Es ist alles noch so klein und getrübt. ­Eigentlich Wut auf ihn, weil ich denke, dass er mich verschmäht, ach nein, dies doch auch nicht, ferner scheint mir, als ob ich noch nie von ­einem körperlichen Verlangen so stark besessen war wie jetzt gerade, oder war es die anderen Male auch so schlimm? Und dann bilde ich mir ein, dass ich das Recht habe, mich diesem Verlangen jetzt hinzugeben. Es gab Zeiten, in denen ich die erotischen

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Regungen ihm gegenüber mit Gewalt beherrscht habe, und aus dieser Be­ herrschung habe ich Kraft getankt. Jetzt denke ich, dass ich das Verlangen wachsen lassen darf, dass ich eine Art Recht darauf habe, er hat mich so dicht an sich «herangelassen» und jetzt suche ich wieder das Gleich­gewicht zwischen Körper und Seele und überschätze nun den Körper wieder. Und bin geneigt, all das andere, das zwischen uns war und ist, zu vergessen. Nein, Letzteres ist nicht wahr, ich bin mir unserer Freundschaft fortwäh­ rend bewusst, aber es ist jetzt der Augenblick gekommen, in dem ich sage, wenn er zu mir spricht: «Ich kann nicht mehr, ich will einfach nur noch in deine Arme.» O Gott, hilf mir hier heraus. Lehre mich, das Gefühl der verschmähten Frau und des wirklich großen Verlangens zu unterscheiden. Und Leiden ist nicht schlimm für einen Menschen, aber die Dinge, die noch beigemengt werden, machen es so gemein und so albern. Und lass andere nicht leiden, weil du selbst leidest, sei doch nicht so klein und kin­ disch. Ja, was hattest du eigentlich heute Abend erwartet? Leidenschaft auf Bestellung, erledigt in einer halben Stunde? Ich, die ich sage: «Ich habe eine so große Sehnsucht, ich bin so unglücklich», und er, der mich halb amü­ siert und halb väterlich anschaut und sagt: «Höre auf das, was ein Greis sagt, es ist alles nicht so schlimm.» Ja, was wollte ich? Dass er an meiner Leidenschaft sofort Feuer fangen würde? Vielleicht doch verletzte Eitel­ keit, weil er sich nicht direkt auf mich «losstürzte» und versuchte, mich mit Berichten über Patienten abzulenken? Und ich verbarg meinen Kopf zwischen seinen Knien und später zog ich ihn auf den Boden über mich, das ist doch eigentlich «geschmacklos». Leidenschaft auf Bestellung. Nein, mein Kind, du schreibst ausgezeichnete Passagen über die «Geduld» bei Rilke ab, aber du musst es leben, hörst du, leben, sonst hilft alles nichts. Das war das Schreckliche bei dieser Ilse Blumenthal mit ihren Briefen von Rilke, nach denen sie selbst niemals lebte, und nun ist sie eine verbitterte, illusionslose Frau, obwohl sie einst solche Briefe erhielt. Nein, liebes Mäd­ chen, so einfach ist das Leben nicht, und sei froh, dass es dir nicht so ein­ fach gemacht wird. Du bist noch zu trivial. Ich sehne mich so. Und dann hätte er unmittelbar Feuer und Flamme sein müssen. Alles schön pro­ grammatisch und innerhalb einer Stunde abgearbeitet. – Und dann ein­ fach schmollen, wenn man seinen Willen nicht bekommt. Tolle Frau. Pah, Kind, ich schäme mich für dich. Nur ruhig, du kommst da schon durch, ich spüre es, du bist auf dem richtigen Weg. Geduld, und jede Stunde birgt eigene Möglichkeiten in sich. Du hast jetzt schon Angst, dass er wirklich noch mal ein Heiliger wird und dass es dann keine leiden­

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schaftliche Geste, kein einziges Streicheln deines Egos mehr geben wird, nicht wahr? Und vielleicht fändest du es in einem halben Jahr furchtbar, wenn er Ansprüche auf dich geltend machen würde. halb 11. Jawohl, das «Leiden», es geht mir nun wieder viel zu gut, um mit so viel Dreistigkeit dieses Wort niederzuschreiben. Ich sprang vorhin auf einmal auf und rannte zum Telefon und fragte: «Hören Sie mal, finden Sie mich ­eigentlich nicht einen geschmacklosen Menschen?» Es stellte sich heraus, dass er mich 1 Minute davor angerufen hatte, aber da haben wir uns hier unterhalten. Und dann ein Gespräch von einer halben Stunde, in dem ich innerlich immer freier und freier wurde und immer besser etwas von mir preisgeben konnte. Schade eigentlich, dass ich zu wenig Geduld habe, um dieses Gespräch Wort für Wort wiederzugeben. Aber ich habe ihn wieder­ gefunden. Und der Rest kommt von selbst. Ich habe gesagt, dass es so «verzweifelnd und erschütternd» war und dass eine Kluft entstand, als ich merkte, dass er sich immer mehr zu einem Heiligen entwickelt, während ich immer unheiliger wurde. Und er fortwährend mit diesem gesunden, kerngesunden und schallenden Lachen. Ich erzählte, wie ich durch alle Straßen geradelt bin und gestöhnt und geschrien hatte. «Und was tatest du, als du nach Hause kamst?» Da sagte ich zu mir selbst: Andere dürfen nicht leiden, weil du selbst leidest, geh nach oben zu Pa Han und sei lieb zu ihm. Aber meine Kehle war so fürchterlich zugeschnürt. Und dann befand ich mich kurz in einem Zwiespalt, ob ich abwaschen gehen oder Rilke lesen sollte. Aber ich war so todmüde und unglücklich, da bin ich auf meine Knie gefallen im Badezimmer, meinen Kopf verborgen in mei­ nem Morgenmantel, der dort auf dem Stuhl lag, und ich habe innerlich gewimmert, und als ich später in den Spiegel blickte, war mein Gesicht so fremd, so verzerrt und bewegt und, ja, ich kann es selbst nicht sagen – sehr fremd war es zumindest. Und dann habe ich mich doch einfach vor die­ sem Heft fallen lassen und allmählich kam wieder etwas in Ordnung. «Bist ein ganz vernünftiges Mädchen.»  – «Ja, aber, ich mißtraue meiner eigenen Vernunft.» Und dann wieder so ein herrlich schallendes Lachen am anderen Ende der Leitung. Ich sagte: Ich habe das diese Woche dauernd, dann bin ich die Vernunft und Ausgeglichenheit in Person, und wenn ich dann in deiner Gesellschaft bin und dich sehe, dann werde ich wieder verwirrt und kann in das fürchterlichste Geheul ausbrechen. Und wir haben darüber gesprochen, wie man immer wieder «die Erde»

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überwinden muss. Und ich: «Ja, aber ich will doch auch ein Stück Erde leben, das soll man doch auch.» Und er: «Ja, selbstverständlich. Aber wir haben uns doch so wenig gesehen in letzter Zeit, wir können uns doch nicht bei Geiger oder an einer Straßenecke um den Hals fallen.» Und ich: «Oh, was mich betrifft, sehr wohl.» Und ich sagte ihm auch, dass es so schwierig sei, das Verlangen groß und rein und ungetrübt in sich aufzubewahren, und dass man andere so ungerecht behandle, wenn man selbst leide. Und er sagte: «Ich habe der Hertha geschrieben, daß, wenn man so große Sehnsucht hat, diese versuchen

Und ich: «Ja, aber es gibt Momente, dann ist einem alles zu viel, dann kann man nicht mehr.» Und er: «Na, selbstverständlich.» Und ich wieder, dass es so schwierig sei, eine «große» Frau zu sein. Und er: «Man soll gar nicht diesen Anspruch haben, man soll immer wieder die ei­ genen Unvollkommenheiten durchleben.» Und dann sagte ich noch, wie sehr ich von Worten wie Mitleid, Unfreiheit usw. beeindruckt war. Und er: «Ja, aber die musst du im Licht einer bestimmten Situation betrachten.» Und dann habe ich ihm erzählt, wie ich kürzlich an einem kalten Morgen in der Linie 16 plötzlich ganz sicher wusste: Ich werde viele Länder berei­ sen und viele Menschen sehen und Bücher schreiben und von ihm wegrei­ sen, und wie ich mich zugleich freier von ihm fühlte denn je, aber auch verbundener mit ihm denn je. Und dies sagte ich noch: «Was auch immer zwischen uns sein wird, dieses Gefühl der Freiheit, eine eigene Welt zu sein, keine Ansprüche an dich zu haben, das wird mich immer begleiten, und deshalb habe ich auch den Mut, dir immer alles zu sagen, auch den Mut, mein Verlangen auszusprechen, weil dieses keine Bindung will. Das ist einfach nur Verlangen, mehr nicht, und es sehnt sich nach einem Teil von dir, und doch bin ich frei von dir.» Vor zwei Stunden dachte ich, dass ich kaputtgehen würde, ich wusste nicht, wie ich das überstehen könnte, und jetzt atme ich wieder so frei. Es befinden sich schon noch Tränen hinter meinen Augen, und mein Kopf ist so, als wenn ich schlimm krank gewesen wäre, und es ist alles noch ein bisschen sonderbar, so «durchlitten», um ein großes Wort zu gebrauchen, und es liegt auch noch so viel Gewicht auf dem Herzen, aber man kann wieder leben. Aber man kann wieder leben von dem Moment an, in dem man zum Telefon rannte und fragte: «Hör mal, findest Du mich eigentlich soll umzusetzen in Liebe für andere Menschen.»

keinen geschmacklosen Menschen?»

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Dienstagmorgen [3. März 1942], halb 11. Ich bin so unheimlich glücklich. Und gestern Abend dachte ich, dass ich nicht weiterleben könnte. Heute Morgen um 8 Uhr rief er an: «Na, wie geht es denn der Patientin?» Er erzählt von drei Träumen, die er in der ver­ gangenen Nacht geträumt hatte. Sehr speziell. Ich sagte: «Ich werde sie mit Ihnen behandeln.» Was war da eigentlich außerdem noch? Ich weiß es nicht. Es ist gut, ich habe Geduld, das Verlangen wird sich auskristallisie­ ren, es wird befreit von den beigemengten Dingen: gekränkte Eitelkeit usw. Die Hauptsache ist doch, dass wir es gemeinsam besprochen haben. Es ist immer wieder ein schwankendes Selbstvertrauen, du hast Angst, dass er dich genauso wie einen seiner vielen Fälle betrachten wird, wie all die anderen, die mit ihren unbefriedigten Wünschen und Sehnsüchten zu ihm gelangen. Du scheinst noch immer nicht wirklich daran zu glauben, dass da eine sehr wirkliche und wahrhafte Beziehung zwischen euch be­ steht. Und wenn er dann gerade nicht so handelt, wie du es willst, wenn ein Rhythmusunterschied entsteht, dann wirst du unsicher und gekränkt und ziehst dich lieber ganz zurück und machst dich mit all deinen schlim­ men Gefühlen einfach in einer Ecke interessant. Warum nicht gemeinsam die Probleme teilen? Er sagte gestern: «Ach, Sie haben Sehnsucht nach mir, während Sie 5 Minuten von mir entfernt sind, sagen Sie mir das doch gleich, wenn so ein Prozeß anfängt. Das ist doch eine natürliche Sache und warum soll man so mystisch tun mit diesen natürlichen Sachen, es gibt wirklich andere Dinge, worüber man mystisch sein kann.»

Und gestern war ich auf irgendeine Art durch diese Worte verletzt. Es schien, als ob dieses große Verlangen bagatellisiert und versachlicht würde. Und doch, im Nachhinein: Es war alles gut, was er sagte. Wo habe ich um Himmels willen diese «Briefe an einen jungen Dichter» gelassen? Eine Passage daraus erfuhr ich gestern Abend spät im Badezim­ mer – meine entscheidendsten Momente erlebe ich noch immer im Bade­ zimmer – auf einmal so heftig und intensiv am eigenen Leibe. Rilke sagt dort, dass eine Zeit kommen wird, in der Mann und Frau einander nicht mehr gegenüberstehen werden, sondern nebeneinander­ stehen werden, um gemeinsam die schwere Bürde des Geschlechts zu ­tragen.44 Und diesen Weg beschreite ich nun mit ihm, das wurde mir gestern sehr deutlich. Ich habe mein Verlangen zu unserer gemeinsamen Ange­ legenheit gemacht und wir werden da zusammen schon hindurchkom­ men. In die Vorlesung.

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abends 9 Uhr. Alle Emotionen, alle Leidenschaft, Verlangen, Aufbegehren usw., abge­ ebbt in eine ausgleichende Müdigkeit, abgeglitten in ein Frösteln und grippales Kränklichsein. Aber ich habe immer noch das Gefühl, dass ich ein organisch wachsendes Ganzes bin. Ich kann nie mehr so tief fallen wie früher, die Option zur Harmonie bleibt doch immerfort im Hintergrund bestehen. So viel gewachsen heute, so viel geliebt, so viele gute und liebe Ge­ danken, jetzt alles abgeebbt, müde, ein paar Rilke-Briefe am Ofen, Han hustend im Bett, alternd, dieses unartige Benehmen gegenüber Adri ges­ tern Abend wiedergutgemacht, oder eigentlich nicht gemacht, das passiert alles von selbst, alles einfach wachsen lassen, ein Prozess. O Du, mein Du, meine Augen, sie durchwandern immer wieder aufs Neue die bloße und verbrannte Landschaft Deines Gesichtes. Und hab mich manchmal ein bischen irdisch lieb, aus naher Nähe, der Him­ mel wölbt sich doch immer darüber, das wissen wir beide doch.

Heute Mittag wollte ich viel schreiben. Ich wollte leise und lautlos auf dieses Papier leerströmen. War doch schon zu müde. Und jetzt sehr früh ins Bett. Zuerst noch S. anrufen. Es ist immer lustig, dass jedes Telefon­ gespräch mit ihm auch ein Abenteuer mit vielen Optionen ist, es ist i­ mmer wieder überraschend, was für verworrenes Zeug oder was für Tiefsinnig­ keiten bei uns herauskommen. Und dieser nüchtern schwarze Apparat mit diesen elektrischen Drähten, oder wie das Ding funktioniert, ist kein Hin­ dernis mehr, dass die Stimmen einander doch streicheln. Я так люблю тебя.45 10 Uhr. Und es ist zum Teufel noch mal nicht einfach. Es wird immer wieder ge­ legentlich eine kleine Folterbank. Ein kurzes und sachliches Gespräch. Siehst du, du fängst wieder damit an, dich mit fixen Ideen den Dingen zu nähern. Und doch und doch – das Leben ist so schön. Eine fortwährende Ahnung der Fülle und des Reichtums und der Möglichkeiten dieses Lebens bleibt doch immer wie eine Wolke um mich herum hängen. Ich bin schon sehr «schwankend» und reizbar in den letzten Tagen, wenn ich mir das so betrachte. Nach diesen Momenten der wirklich großen innerlichen «Sammlung» werde ich von einem einzelnen Wort, das mir zu sachlich klingt, wieder aus dem Gleichgewicht gebracht. Schon sehr müde. Nicht krank werden, Mädchen, das solltest du wirklich nicht.

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Bei Betz über den Einfluss von Rilke auf die junge Generation in Frankreich gelesen, die in den Krieg zog. Stundenbuch usw.46 Bei Klatt47 begegne ich nun derselben Liebe für und die fruchtbare Beeinflussung durch denselben Dichter, auf dieselbe Generation in Deutschland, die in den Krieg ziehen wird. Und Klänge für das Stundenbuch holte er unter anderem auch aus der Weisheit Russlands. Das ist so schön und so vielver­ sprechend, diese Strömungen und die Verbundenheit über alle Grenzen hinweg. Die Seele ist doch vaterlandslos, oder besser gesagt: Die Seele hat ein einziges großes Vaterland und darin gibt es keine Grenzen. Er gibt die Möglichkeiten des wechselseitigen Verstehens und der Annäherung und daran muss ich mitarbeiten, weil ich in mir meine Seele und mein Ver­ stehen wie Repräsentanten aller Zeiten und aller Länder empfinde. Ja, das will ich. Und deshalb darfst du nicht so hysterisch sein und dich unglück­ lich fühlen, wenn die Stimme des Mannes, die du streichelnd erwartest, plötzlich etwas sachlicher klingt. Du weißt doch nicht, wie sein Tag war? Er hat sicherlich heute härter gearbeitet als du und vielleicht war er müde. Keine Ansprüche an den anderen, nichts erwarten, den anderen und dich selbst machst du dann unfrei und es entsteht ein unfreundliches und raues Klima, in dem menschliche Beziehungen nicht zu voller Blüte gelangen können. Du bist noch sehr klein, oder vielleicht habe ich einfach nur die Grippe. Geduld ist alles.

Gott, gib mir viel Geduld, immer mehr Geduld. Und befreie mich von dieser Reizbarkeit. Samstag 6. [= 7.] März [1942], abends 7 Uhr. Am Donnerstagabend sagte ich zu ihm: «Ich habe es meinem Tagebuch ver­ sprochen diese Träume von Dir in ihm aufzuschreiben.» Es scheint mir, dass sie in irgendeinem geheimnisvollen Zusammenhang mit diesem Abend stehen, an dem man von mir sagen konnte: «Da habe ich ihm gestanden, mein Sehnen und Verlangen.»

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Hier sind sie, die drei Träume von der Nacht vom 2. auf den 3. März: Erster Traum. Ich war in einem großen Betrieb und da war eine Versammlung von allen voranstehenden Persönlichkeiten zu einer Beratung, wie man wohl am besten den ganzen Betrieb verbessern könnte. Es wurden sehr viele Vor­ schläge gemacht und ich war sozusagen die oberste Instanz und schließlich sagte ich: Ja, aber das Wesentlichste und das was am raschesten zum Ziel führt ist doch, wenn man seine eigenen Fehler bekennt.

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Gerade als wir hier waren, kam ein Anruf aus dem hohen Norden, aus Beetsterzwaag, und die Reise konnte wieder einmal nicht stattfinden, sie waren dort eingeschneit oder so etwas in der Art. S. zuerst wütend und missmutig und später beschönigend: «Man bleibt doch immer ein Kind.» Am nächsten Morgen ein Jubel am Telefon: «Wir faahren.» Arme Tide, armer Glassner. Und während alle in der Straßenbahn beinahe weinten vor Kälte, strahlte er und sagte: «Herrliche Luft.» Und im kalten Abteil, in dem Tide und Glassner fröstelten, begann er einfach unbeirrbar, Mozart zu üben. Unverwüstlich, jung, strahlend, herrlich. Während Tide die Fahrkarten löste, sagte ich zu ihm: «Ich möchte mal so gerne eine Reise mit Dir machen, von der einen kleinen Stadt zu der ande­ ren, wir beide.» – «Na, und ich»,

sagte er. In der kalten Halle fantasierten wir über eine Bergtour in einsame Hütten, in denen es nach guten Kräutern roch, und in ein gutes Hotel in der Stadt unterhalb. Und so weiter. Wird das alles einmal noch geschehen? Ich möchte ganz sanft und lautlos leerströmen auf diese Blätter zu Dir hin.

Zweiter Traum. Ich sitze irgendwo und finde ein Buch, das mich ungeheuer fesselt und es ist eine Biographie über die bedeutendste russische Frau, ich weiß aber nicht wer und dann frage ich: wem gehört dieses Buch eigentlich und dann sagt man: Ja, das ist die Leihbibliothek und dann sage ich: das möchte ich doch gern haben und auch leihen, obwohl es mir im allgemeinen nicht sympathisch ist Bücher aus Leihbibliotheken zu lesen.

In dem Gespräch, in dem ich ihm als tiefgründige Analytikerin gegen­ übersaß, kam unter anderem dies heraus: Die russische Frau kann eine Animafigur sein. Und ich fragte: «Ist eine russische Frau ein besonderer Typus Frau für Sie?» Er: «Ja, ich finde die Rus­ sen überhaupt viel phantasiebegabter und weiter und auch dämonischer.» Ich: «Haben Sie auch an mich gedacht?» Er: «Ich empfinde Sie viel mehr als Russin denn als Holländerin.»

Und was die «Leihbibliothek» betrifft: «Daß ich nicht gern leihe, vielleicht hat das damit zu tun, daß ich alles originell machen will, alles aus eigenen Quel­ len schöpfen will. Daß ich so eingebildet bin, daß alles was ich denke und sage originell sein muß.» Dritter Traum. Ich bin zu einer großen Hochzeit eingeladen und soll dort singen. In dem

16. Februar 1942–27. März 1942 Vestibule des Hauses treffe ich einige geladene Gäste, die mir sagen, daß u. A. auch der Sänger Schwarz

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(einer der bedeutendsten Baritone von Berlin) dort

hinkäme und ich soll mich sehr anstrengen um sehr gut zu singen, da er eine besondere Autorität sei.

Hier auch wieder: das Bedürfnis nach Kritik? Und noch zum ersten Traum: Vielleicht eine Warnung? Es lief beinahe zu gut in den letzten 5 Wochen. Zu der Zeit, als ich verzweifelt war wegen des reinen körper­ lichen Verlangens nach ihm und ihm dies auch offen und ehrlich erzählte an diesem berüchtigten Abend – es scheint schon wieder Monate her zu sein –, da erzählte er mir, dass er bereits 5 Wochen auch ohne «Halbbefrie­ digung», ohne Selbstbefriedigung oder was auch immer lebte. Er hatte das bislang für unmöglich gehalten. Und er merkte, wie gut er sich dabei fühlte und wie es seiner Arbeit zugutekam. Ich fühlte mich daraufhin doppelt verzweifelt. Während ich da durch einen kurzen, heftigen Sturm geschüttelt wurde, sodass die Grundfesten erschüttert wurden, offenbarte er sich plötzlich als blutjunger Heiliger. In diesem Moment war das zum Verrücktwerden. Es ist schon alles wieder überwunden. Wir wachsen wieder weiter, wir leben schon wieder aus allen Quellen und nicht nur aus der Leidenschaft heraus, und das Leben ist gut und schön, wenn auch kalt. Und jetzt muss ich Liesl anrufen. Ja, es ist nicht mehr «Frau Levie» und «Fräulein Hillesum», sondern Liesl und Etty. In dieser für mich so entschei­ denden Zeit ist es fast logisch, dass die Freundschaften, die ich schließe, auch entscheidend für das weitere Leben sind. Sie ist mir sehr nahe und lieb und vertraut, diese Liesl, und zugleich von einer Faszination, die nicht dem Verschleiß ausgesetzt sein wird. Und der Mann gehört da auch dazu. Über die Kälte könnte man noch Bände schreiben. – Na ja, jetzt zuerst mal telefonieren. Sonntagmorgen [8. März 1942], halb 10. Siehst du, so etwas ist Untreue, mein Kind, und darf nicht mehr vorkom­ men. Früher hast du wahrscheinlich immer so gelebt, dich selbst ständig untergraben. Treue, gestützt auf innere Sicherheit, dorthin muss der Weg auch führen. Es war so: Ich las bei Vestdijk50 einen Essay über Rilke, er stimmte mich unbehaglich, weil er sich Rilke auf eine formalistische Art und Weise näherte, die sehr unbefriedigend war, da er dem Wesen seiner Arbeit und seiner Person doch nicht gerecht wird. Die Tatsache, dass ich mich auf irgendeine Weise von diesem Essay unangenehm berührt und

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leicht verärgert fühlte, bewies doch noch meine eigene innere Unsicher­ heit gegenüber einer Figur wie Rilke oder letzten Endes meine innere ­Unsicherheit gegenüber den tiefsten Werten, die er vertritt. Aber diese Unsicherheit war in wenigen Tagen überwunden. Das Wort «manieriert» blieb kurz hängen. Einige Tage später bei Ilse Blumenthal. Wir sprachen über den Dichter und sie sagte, dass er doch zu – ja was zu? – zu viel viel­ leicht war auf die Dauer? Und zu meinem eigenen großen Entsetzen ent­ fuhr mir das Wort: Zu manieriert vielleicht? Woraufhin sie sofort repli­ zierte: «O nein, manieriert wird er niemals, dafür ist er immer viel zu echt.» Ich war ihr auch noch dankbar für die Worte und war froh, dass sie das Niveau hielt. Aber hier stieß ich doch noch auf einen wunden Punkt bei mir. Das ist Untreue und Charakterlosigkeit von der schlimmsten Art, davon werde ich mich immer mehr befreien müssen. Ich führte das Wort «manieriert» nur an, um mich ihr anzupassen, das ist immer das Bequemste, und außerdem war es auch noch das Begehen eines Plagiats, das gedankenlose Verwenden von etwas, das ich vor einigen Tagen bei jemand anderem gelesen habe, ob ich nun damit einverstanden war oder nicht. Auf einmal holte mich gestern dieses Wort in meiner Erinnerung ein und ich schämte mich zutiefst. Treu, wirklich treu zu sich selbst und zu den Werten, die man hochhält, und den Mut haben, sich um dieser Treue willen bei anderen unbeliebt zu machen. Nein, Mädchen, du bist noch lange nicht so weit, aber du entwickelst dich schon in diese Richtung. Und jetzt möchte ich hier noch ein Gedicht von ihm abschreiben, dem ich gestern Abend begegnet bin. Es ist aus dem Buch der Bilder: Die Blätter fallen, fallen wie von weit als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andere an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.51

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Und später aus einem Brief: «…, dies alles, nicht wahr?, war ‹Einfluß›, und der größeste bleibt vielleicht zu nennen: daß ich allein sein durfte in so viel Ländern, Städten und Landschaf­ ten, ungestört, mit der ganzen Vielfalt, mit allem Gehör und Gehorsam meines Wesens einem Neuen ausgesetzt, willig ihm zuzugehören und doch wieder genötigt, mich von ihm abzuheben …»

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Was wird dies für ein Tag? Ich bin so müde und matt. Gestern Abend ging ich so zufrieden und zuversichtlich ins Bett mit einem Gefühl von: Mor­ gen bin ich den ganzen Tag bei S., ich werde dann über diesen Sturm schreiben, der mich geschüttelt hat, ich werde mich bei ihm auf diese ver­ gangene ereignisreiche Woche besinnen wollen. Dieser Tag ist ganz für Dich. Und nun liegen so ein Druck und eine Taubheit und auch eine Ohnmacht und Unlust auf mir. Aber ich gebe diesen Tag noch nicht auf. Vielleicht werde ich ihn noch aus seiner eigenen Schwere herausheben können. Es ist exakt Viertel nach 10. Um halb 12 kommt die kleine schwarze Stella. Ich kann nicht behaup­ ten, dass ich sehr gewillt bin, sie zu unterrichten. Nun ja, niemals einen Tag gänzlich von vornherein aufgeben, wie ich das früher zu tun pflegte. Die Worte liegen alle in mir bereit, ich würde sie ihm so gerne in den ­hohen Norden zukommen lassen, dann wäre ich innerlich wieder rein und der Sturm ist dann verzeichnet und wir wissen beide davon. Ich weiß nicht, was das jetzt ist, so schrecklich müde und lustlos. Bis später – abends 10 Uhr. Dass es einem vergönnt ist, stets mehr zu verstehen und sich jeden Tag weiter zu vertiefen. Ich bin so dankbar. Und muss noch geduldiger wer­ den. Die Gefühle sind stärker und größer als die Ausdrucksmöglichkeiten. Ich weiß noch nicht, in welchem Bereich ich mein Werkzeug finden muss. Warten und horchen und geduldig sein. Und an den alltäglichen Dingen arbeiten. Und immer mehr man selbst werden. Und dennoch ein Glied im Ganzen. Aber keine abgedroschene Imitation und keinen einzigen ­Augenblick lang bedenkenlos leben. Zu einem Werkzeug werden, nicht nur der Geist, sondern auch der Körper. Das ist natürlich unter dem Ein­ fluss von Rilke geschrieben, von Rainer Maria, der in den letzten Wochen einen riesengroßen Platz in meinem Leben einnimmt und der zu einer immer kräftigeren Stütze für die zarten Triebe wird, die ganz zaghaft in meinem Inneren in die Höhe schießen. Unter dem Einfluss von Rilke,

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aber doch wirklich aus mir selbst heraus. Die fremden Länder, in die ich noch ziehen werde – ich weiß das immer gewisser –, eine jugendliche Un­ ruhe, die zu einer Gewissheit wird  – und die vielen Gesichter der Men­ schen, die ebenso viele Landschaften sein werden, die ich bereisen werde. Ich müsste meine Sprachen noch viel besser lernen. Und dann horchen, überall horchen, bis auf den Grund der Dinge horchen. Und lieben und Abschied nehmen und deshalb sterben, aber wiedergeboren werden, alles so schmerzlich und auch alles so voller Leben. – Ich bin 28 Jahre alt, manch­ mal denke ich, dass das alt ist, und doch bin ich erst noch am Anfang. Erlebnis dieses Abends: die Duineser Elegien53 und einige Briefe aus Muzot. Ich habe den Tag in seinem Beginn nicht als verloren aufgegeben und er hat sich aufgerichtet und mir wieder dieses volle und blühende Ende beschert. Und jeden Abend gehe ich wieder aufs Neue mit einem Herzen voller Dankbarkeit ins Bett. Der intensive Umgang mit Rilke in den letz­ ten Tagen lastet auch so schwer auf mir, dass meine eigenen Worte sich darunter nicht losreißen können. Ich hätte S. viel schreiben müssen. Auch dies war eine neue Erkenntnis der letzten Woche: Man soll für seine eine große Sehnsucht nicht hundert kleine Befriedigungen suchen, man soll sie heil und ganz bewahren, sozusagen auf eine höhere Ebene emporheben und Kräfte und Antrieb daraus schöpfen für Liebe zu vielen. – Aber so schwer manchmal.

Aber: Die Sehnsucht bleibt doch immer größer als die Befriedigung. Und

so muß es auch wohl sein.

Immer wieder hole ich dieses Heft aus meiner Schublade und muss dann noch ein Gedicht aufschreiben. Werde ich später diese Zeilen noch so in­ tensiv erleben wie jetzt? Ein paar Zeilen aus: «Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen»: … Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.54

11 Uhr abends, im Badezimmer, schon mit Coldcream auf meinem Gesicht. Es taucht plötzlich wieder wie eine immer größer gewordene Gewissheit in mir auf: Ich werde niemals heiraten. Das große Verlangen nicht in viele

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kleine Befriedigungen aufteilen. Vielleicht findet es ab und zu, groß und unversehrt, einen sicheren Hafen, eine einzige Liebesnacht, und dann muss man das Verlangen wieder groß und ungeteilt in sich tragen und daraus Kräfte schöpfen für die Liebe zu allen und nicht immer auf die ei­ gene kleine Befriedigung aus sein. Man soll seine große Sehnsucht nicht aufteilen in hundert kleine Befriedi­ gungen.

Und nun eine gute Nacht. 8. [= 9.] März [1942], Montagmorgen, halb 10. Mich kurz an den letzten Worten seines Briefes erwärmen: Hören Sie mal: Ihr Roman geht mir immerzu im Herz herum: er ist so still und lieb und hat alle Ihre Seiten: ich sehe Sie dann mit allen Ihren Ausdrücken vor mir! Und ich finde es schön daß das kleine schüchterne Mädchen heute vor einem Jahr und 1 Monat zu mir kam! Jawohl!

Und nun zu den kleinen alltäglichen Dingen. Han waschen und das Zim­ mer aufräumen und Loekie unterrichten und eine Reiseerlaubnis55 für S. beim Judenrat holen und bitte Zeit und Aufmerksamkeit für einen langen Brief an S. finden. Der Weg zu ihm ist wieder offen seit heute Nacht, ges­ tern war der Zugang noch versperrt. Du!

9. [= 10.] März [1942], Dienstagmorgen, 9 Uhr. Solche Tage muss es nun einmal auch geben, es ist nicht mehr so schlimm. Dann ist alles Leben in dir ausgelöscht und ertrunken in einem großen Tümpel der Taubheit. Dass ich am Sonntag so komisch und so blockiert war, rührte also von der Menstruation her, schön, wenn das im Nach­ hinein aufgeklärt wird. Und doch – es sind keine verlorenen Tage. In diesem Versinken in eine sehr tiefe Müdigkeit und Taubheit ruht doch auch wieder etwas in dir aus und du bekommst manchmal solche vagen Ahnungen und Harmonien – wenn du nur die Geduld hast, dich ihnen hinzugeben. Früher kam auch noch Folgendes hinzu. An Tagen, an denen ich mich schlecht fühlte, fühlte ich mich so unsicher und unglücklich und dachte: Wie soll das ge­ hen, ich will Reisen machen in ferne Länder, ich will Journalistin werden usw., aber wenn ich mich ab und zu so krank fühle, werde ich mich doch

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nicht behaupten können. Warum so verkrampft? Warum sollte man sich in fremden Ländern nicht auch ab und zu krank fühlen können? In ande­ ren Ländern leben doch auch Menschen, die sich auch nicht immer gleich gesund fühlen. Es war mehr die Unsicherheit, sich nicht gut zu fühlen, als die Unbehaglichkeit selbst. Es ist nun alles eingeordnet und akzeptiert. Traum von heute Nacht: Ich rief Geiger an, um zu sagen, dass ich am Mittwoch mit S. zum Essen komme. Da sagte Frau Geiger: Es tut mir sehr leid, aber am Mittwoch ist das unmöglich. Ich habe allerlei berühmte Menschen eingeladen zu Ehren von S.s Rückkehr und es ist einfach kein Platz mehr. Ein paar Tage später ginge schon. Ich war verzweifelt, dass es an diesem Mittwoch sicher nicht ging. Assoziation heute Morgen zu diesem Traum: Empfinde ich S. noch immer als vollkommen unerreichbar für mich? Auf jeden Fall: Ich war verzweifelt, dass ich am Mittwoch nicht dort hingehen konnte. O ja, jetzt fällt mir noch ein Traum ein, den ich Freitagnacht bei den Levies hatte. Ich träumte, dass ich sagte: Frau Levie setzt sich mit den Dingen aus­ einander, und Herr Levie setzt sich zu den Dingen auseinander. Es erschien mir furchtbar tiefgründig, und als ich kurz wach wurde, «leuchtete» es mir absolut «ein». Ich schlief wieder ein und träumte dann, dass ich den Levies erzählte, was ich geträumt hatte, aber sie verstanden überhaupt nicht, was ich damit meinte, darüber war ich dann sehr enttäuscht. Und morgens beim Frühstück erzählte ich ihnen von diesen zwei kleinen Träumen, aber dann entging mir selbst deren Tiefsinnigkeit. – Und doch hatten sie es in sich. Kürzlich wurde ich an einem Morgen wach und erinnerte mich vage da­ ran, dass ich mitten in der Nacht sanft zu mir selbst gesagt hatte: «Meine Stimme reift.»

Und jetzt heute den ganzen Tag brav und geduldig Russisch machen und diese beginnende Grippe mit vielen Hilfsmitteln aus der Apotheke und mit innerem Widerstand bezwingen und morgen ist es wieder gut, morgen Nachmittag Liesl und morgen Abend S. Jetzt, wo ich diesen Brief an ihn von gestern noch einmal gelesen habe, finde ich ihn nicht halb so schlimm, ich habe gestern mit so viel Unlust geschrieben, dass ich glaubte, dass er sehr schlimm sein müsste, aber es geht.

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12. März ’42. Donnerstagabend, halb 12. Es war unbeschreiblich schön. Max, unsere Tasse Kaffee und die schlechte Zigarette und unser Spaziergang durch die verdunkelte Stadt, Arm in Arm, und die Tatsache, dass wir zwei dort zusammen gingen. Wir sagten zueinander: Man muss dafür doch Russe sein, um dies so intensiv erleben zu können. Diejenigen, die unsere Geschichte kennen, fänden unsere ­Begegnung sicherlich bizarr und höchst erstaunlich, einfach so, mitten im Jahr, eigentlich ohne Anlass – abgesehen davon, dass Max heiraten will und mich um Rat bat, komisch, ausgerechnet von mir wollte er einen Rat hören. Und das war so schön – dass man den Jugendfreund wiedersieht und sich in seiner eigenen größeren Reife spiegeln kann. Er sagte zu Beginn des Abends: «Ich weiß nicht, was sich an dir verändert hat, aber etwas hat sich verändert. Ich glaube, dass du jetzt eine richtige Frau geworden bist.» Und am Ende: «Nein, du hast dich nicht unangenehm verändert, das wollte ich nicht sagen, deine Gesichtszüge, deine Mimik, alles ist noch genauso leb­ haft und ausdrucksstark wie früher, aber dahinter liegt nun so eine große Abgeklärtheit, es ist schön, bei dir zu sein.» Oder so etwas in der Art. Und er leuchtete unter dem Vordach dieser Kneipe in der Ceintuurbaan noch kurz mit der kleinen Taschenlampe56 direkt in mein Gesicht und er lachte dann und nickte wiedererkennend und sagte dezidiert: «Ja, das bist du.» Und dann streiften sich unsere Wangen, einerseits unbeholfen und ande­ rerseits sehr vertraut, und dann liefen wir in entgegengesetzte Richtungen davon. Es war wirklich unbeschreiblich schön. Und so paradox es auch klingen mag: Vielleicht war dies unser erstes Beisammensein, das wirklich gut war. Und während wir gingen, sagte er auf einmal: «Ich glaube, dass wir im Lauf der Jahre vielleicht noch einmal echte Freunde werden kön­ nen.» Und so geht nichts verloren. Menschen kommen wieder zu einem zurück und innerlich kann man mit ihnen weiterleben, bis sie einige Jahre später wieder zu einem zurückkommen. Am 8. März schrieb ich an S.: «Meine Leidenschaftlichkeit früher war ­eigentlich nichts anderes als ein verzweifelt sich festklammern an, ja an was eigentlich? An etwas, woran man sich mit dem Körper gar nicht festklammern konnte.»

Und es war der Körper des Mannes, der heute Abend so brüderlich neben mir herging, an den ich mich damals in der menschlichen Verzweif­ lung festklammerte. Und das war auch irgendwie das Erfreuliche; dass doch noch dies übriggeblieben war: dieser angenehme und vertraute Aus­

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tausch unserer Gedanken, das Verweilen in der Atmosphäre des anderen, das Auffrischen von Erinnerungen, die uns nicht mehr quälten, während wir uns früher doch buchstäblich kaputtgemacht hatten. Und auch kurz ganz ruhig feststellen: Ja, wir waren wohl stark überanstrengt am Ende. Aber dann war es doch auch wieder Max, der plötzlich fragte: «Hast du in dieser Zeit noch ein Verhältnis mit einem anderen gehabt?» Und ich zwei Finger in die Luft. Und später, als ich gerade zur Sprache brachte, dass ich eventuell einen Emigranten heiraten werde,57 um ihm beistehen zu können, wenn er in ein Lager käme, verschwand er kurz. Und beim Abschiednehmen sagte er: «Du wirst keine Dummheiten machen, ja? Ich habe solche Angst, dass du doch irgendwann kaputtgehst.» Und ich: «Ich gehe niemals und nirgends kaputt», und ich wollte noch Folgendes sagen, aber da liefen wir schon zu weit voneinander entfernt: Wenn man inner­ lich lebt, dann ist der Unterschied innerhalb und außerhalb der Lager­ mauern vielleicht gar nicht so groß. Werde ich diese Worte später vor mir selbst verantworten können, werde ich danach leben können? Wir können uns nicht zu viele Illusionen machen. Das Leben wird sehr hart werden. Wir werden wieder getrennt werden, wie alle, die einander lieb sind. Ich glaube, dass diese Zeit nicht einmal mehr so fern ist. Man muss sich inner­ lich immer mehr vorbereiten. Ich würde gerne diese Briefe noch einmal lesen, die ich ihm mit 19 Jah­ ren geschrieben habe. Er sagte unter anderem: «Ich war immer so ehrgeizig in Bezug auf dich, ich habe dicke Bücher von dir erwartet.» Ich sagte: «Max, die kom­ men noch. Hast du es eilig? Ich kann nämlich schreiben und ich weiß, dass ich auch etwas zu sagen haben werde. Aber warum sollten wir keine Geduld haben?» «Ja, ich weiß, dass du schreiben kannst. Ich lese ab und zu die Briefe noch einmal, die du mir geschrieben hast, du kannst wirklich schreiben.» Es war ganz unbeschreiblich schön. Dass in dieser zerrissenen und ge­ fährdeten Welt doch noch solche Dinge möglich sind. Das ist sehr trost­ reich. Es ist vielleicht viel mehr möglich, als wir uns selbst eingestehen wollen. Dass sich da auf einmal eine Jugendliebe wiederfindet und lächelnd in die eigene Vergangenheit zurückblickt. Und sich mit dieser Vergangen­ heit versöhnt. So erging es mir. Ich gab heute Abend den Ton an und Max ging darauf ein. Das war schon viel. Wie er diesen Abend innerlich ver­ arbeitet, weiß ich nicht. Aber für ihn war es auch ein schönes Abenteuer, da bin ich mir ganz sicher. Und so ist auch nicht mehr alles nur ein Zufall,

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eine kleine Spielerei dann und wann und ein spannendes Abenteuer. Man bekommt das Gefühl, dass man ein «Schicksal» hat, in dem sich ein Ereig­ nis sinnvoll an das nächste reiht. Und wenn ich daran denke, wie wir da zusammen durch die dunkle Stadt liefen, gereift und milde gestimmt be­ züglich unserer Vergangenheit und mit einem Gefühl, dass wir einander noch viel zu erzählen hätten, aber wir ließen es im Unklaren, wann wir uns wiedersehen würden, vielleicht dauert es wieder ein paar Jahre, dann gibt mir das ein Gefühl von ernster und tiefer Dankbarkeit, dass so etwas möglich ist in einem Leben. Es ist nun fast 12 Uhr und ich gehe ins Bett, ich gehe jetzt wirklich ins Bett. Ja, es war sehr schön. Und am Ende eines jeden Tages habe ich das Bedürfnis zu sagen: Das Leben ist sehr schön, es ist trotzdem sehr schön. Jawohl, ich entwickle eine eigene Sicht auf dieses Leben, ich entwickle eine Meinung, die ich sogar anderen gegenüber ver­ teidige, und das sagt viel aus über so ein schüchternes Kind, wie ich es immer war. Es gibt solche Gespräche wie heute Abend mit Jan Polak, in denen dein Sprechen zum Zeugnis wird. Und nun wirklich gute Nacht. Daan! Daantje!58 Freitagmorgen [13. März 1942], halb 11. Das sind wirklich alles große Geschenke. Dieses vertrauliche Gespräch mit Käthe am Ofen, ihre natürliche Intelligenz und ihr angeborenes Verständ­ nis für die Dinge dieses Lebens. Ich kann ihr so ruhig von dieser Begeg­ nung von Max und mir erzählen, ohne ein Gefühl von geschmacklosem Getratsche zu bekommen. Und gerade Dr. Levie am Telefon. Seelenprobleme der Gegenwart.59 Mit sich selber anfangen. «Vor 10 Jahren hätte ich das noch für Unsinn gehalten. Jetzt ist es genauso ein Erlebnis für mich wie damals Dosto­ jewski.» Und ich: «Schön nicht wahr, daß das alles möglich ist in einer Zeit wie der heutigen.» So eine große Offenheit und Vertraulichkeit, die mir da entgegenschlug. Und keine persönliche Eitelkeit mehr wegen Vertraulich­ keit mit einem Mann, den ich für sehr lohnenswert hielt, sondern so eine aufrichtige menschliche Freude, die Entfaltung und Entwicklung eines wertvollen Menschen aus nächster Nähe mitzuerleben und vielleicht selbst daran auch ein klein wenig beteiligt zu sein. Dies sind wirklich alles wich­ tige Dinge und für mich kostbare Geschenke. Vielleicht wird diese Hand hinter dem Federhalter noch irgendwann geduldig. Es ist noch lange nicht so weit. Es ist eines der Dinge, auf die ich

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hinleben muss: dass meine Hand die Geduld erlangt, den Federhalter zu führen. – Aber das wird wohl noch ein langer Weg sein, seufzte sie. «Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum.»

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Das scheinen mir die schönsten Worte zu sein, die ich kenne, wahrschein­ lich weil sie in ihrer Abgerundetheit und Vollkommenheit genau das wiedergeben, was ich immer stärker erlebe. Ich lese gerade noch ein paar Gedichte von Rilke durch, man müsste ihnen eigentlich kein Wort mehr hinzufügen, jetzt, wo die Worte den Gefühlen ein bisschen, ein kleines bisschen «ebenbürtig» sind. Ich bin wieder einmal direkt entlang der Grenzen der physischen Bereiche gegangen, und wirklich, dieses Gebiet ist doch nicht so groß. Aber es hin­ terließ keinen bitteren Nachgeschmack, so wie früher. Allmählich weiß ich, dass die Grenzen des Körpers in der Nähe liegen, und man versöhnt sich damit. Und: Die Sehnsucht wird immer größer bleiben als die Befriedigung. Aber es gibt dann solche Momente, in denen weder Befriedigung noch Ver­ langen besteht. Ja, so hat dann das «Große Verlangen» wieder einmal die kleine Wirk­ lichkeit des Körpers erlebt. Wann war das noch mal? Am Mittwochabend. Aber als er mir gestern Nachmittag mit diesem durch und durch bewegten und ausdrucksstarken Gesicht etwas besonders Spannendes und Inte­ ressantes über einen epileptischen Patienten erzählte, da war er mir doch eigentlich noch näher und teurer, wie als er sich am Mittwochabend auf mich stürzte. «Und bist Du jetzt traurig?», habe ich daraufhin gefragt. «Traurig? Wa­ rum?» – «Oder bist Du unzufrieden?» – «Wieso denn?» – «Daß Du jetzt kein Heiliger mehr bist, Du warst ja gerade so ein netter, junger Heiliger von 6 Wo­ chen und jetzt mußt Du wieder aufs Neue anfangen.» – «Nein nicht traurig, aber wohl einsichtig.»

Anlässlich meines Briefes haben wir darüber geredet, weshalb man doch leiden muss, wenn man liebt. Das ist dann die falsche Liebe, die ichbezogene Liebe, die Liebe, die besitzen will. Und ich blickte ihn währenddessen an und dachte beinahe entsetzt: Mit jeder Geste, mit jedem Atemzug entzieht sich derjenige, den man be­ sitzen will, dem Besitz. Über den Weg des Körpers geht das auch nicht – es

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gibt natürlich die gesegneten Momente, in denen Körper und Seele sich in einem einzigen großen Ganzen verbinden, aber dafür muss man vermut­ lich sehr reif sein. Und wir wissen, dass auf der anderen Seite des Körpers – notfalls über den Weg des Körpers – reiche und größere Gebiete der Gemeinschaft lie­ gen, aber man muss innerlich den Schritt machen können, den anderen freizugeben. Und immer wieder lande ich bei dir, Rainer Maria – kürzlich an einem Abend an diesem Schreibtisch traf es mich plötzlich doch so, dass du nicht mehr unter den Lebenden weilst. Ich glaube, dass ich dir ansonsten lange Briefe geschrieben hätte. Aber so ist es auch gut. Du lebst dennoch. Fritz Klatt sagt zu Beginn dies: «Rilke weiß in einer größeren Tiefe als die meisten Meister der Vergangen­ heit und als die Zeitgenossen, was Liebe eigentlich ist. Das ewig tragische Liebesthema anerkennt er mit neuen Worten: ‹Nie eins sein mit dem Geliebten.› Darum besteht für ihn die höhere Liebe, die wir lernen müssen darin: den Geliebten freizulassen. Im Requiem hat Rilke aus­ gesagt: Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: die Freiheit eines Lieben nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen: denn daß wir uns halten, das fällt uns leicht, und ist nicht erst zu lernen.»

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Den anderen mit sich herumtragen, immer und überall, abgeschottet in sich selbst, und dort mit ihm leben. Und dies nicht nur mit einem, son­ dern mit vielen. Den anderen in den Innenraum aufnehmen und ihn dort weiter gedeihen lassen, ihm einen Platz geben, an dem er wachsen und sich entwickeln kann. Wirklich mit dem anderen leben, auch wenn man jemanden manchmal jahrelang nicht sieht, ihn doch in einem weiterleben lassen und mit ihm zusammenleben, das ist das Wesentliche. Und so kann man mit jemandem zusammen weiterleben, geschützt vor den äußer­lichen Veränderlichkeiten dieses Lebens. Es schafft eine große Verantwortung. Ich kann jetzt nicht mehr weiterschreiben. Ist das nicht typisch, dass da plötzlich meine ganze Vergangenheit auf mich herunterkommt? Ein Telefon und eine Stimme, eine ruhige, be­ kannte Stimme: «Hier spricht Smelik.» Nach dieser Szene in den Kriegs­ tagen62 nichts mehr von ihm zu sehen. Auf einmal: «Hier spricht Smelik.»

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Es ist doch genau so, als hätte ich jeden Augenblick erwartet, dass er wie­ der einmal da wäre. Innerlich lebe ich doch mit den alten Freunden wei­ ter. Ich war dann auch kaum verwundert oder bestürzt, dass er es war, es war, als ob ich ihn gestern zum letzten Mal gesehen hätte, und ich sagte: «Hallo, Klaas, wie schön, dass du wieder da bist.» Und wieder das alte Drama:63 Ob Jopie bei mir war. «So, ist es also wieder so weit», sagte ich, «murkst ihr euch noch immer gegenseitig ab?» Jopie, ich denke im Moment gerade sehr stark an dich, wie würdest du dich wahnsinnig wundern, wenn ich sagen würde: «Ich bete für dich.» Begehe nicht Selbstmord. Ich habe dir noch viel zu erzählen und zu helfen und ich habe so viele Kräfte übrig, dass ich davon ein wenig abgeben kann. Und doch habe ich schon vor Jahren von dir gedacht: Sie wird mit Selbstmord oder in einer Irrenanstalt enden. Aber warte noch kurz, Jopie. Muss das wirklich sein? Da lagen viele Talente brach, nie zur Geltung ­gekommen, und da war der Beginn einer «großen Seele». Aber solange so eine «Seele» nicht diszipliniert ist, bezeichnet man diese manchmal mit dem unangenehmen Wort «Hysterie». Vielleicht kann bei euch noch ­etwas gemacht werden. Oder bin ich übermütig wegen der stetigen Zunahme der eigenen Kräfte? 16. März 1942, Montagmorgen. War das erst am Freitag? Diese entsetzlich einsame Kirche inmitten dieser Kriegslandschaft? Und diese Brücke, unversehrt in der malträtierten Stadt, die nun wie ein Schmuckstück an einer Bettelfrau wirkte? Und als ich am Donnerstagabend mit Max bei dieser Tasse Kaffee und Jugenderinnerun­ gen im «Paris» saß, konnte ich doch wirklich nicht ahnen, dass ich einen Tag später mit seinem Nachfolger64 in meiner Jugend durch die Trümmer­ haufen von Rotterdam gehen würde. Das ist alles erst ein paar Tage her? Und das ist das Erfreuliche: meine rasche «Einordnung». Ich könnte stun­ denlang schreiben, ganze Bände füllen über diese letzte halbe Woche. Keine Zeit. Gekritzelte Notizen, dargestellt in groben Zügen. Nach dieser Unterwelt-Mordszene nach der Kapitulation, schon wie­ der beinahe 2 Jahre her, ein Treffen am Hauptbahnhof. – Klaas derselbe mit geschmeidigem Gang und schwarzer Pelzmütze und leuchtend blauen, kleinen Seemannsaugen, die jünger bleiben als sein Gesicht. Erst am Mit­ tag noch die blonde Mien65 am Telefon, die erzählte, dass Jo wohlbehalten in Vlaardingen bei Tante Totebel66 angekommen war, wohlauf, aber völlig

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erschöpft. Und die mir noch im Ferngespräch mitteilen musste, dass ihr Hund gestorben war und dass sie jetzt so einsam war. Usw. Als mich Klaas vom Bahnhof aus anrief, konnte ich ihm also sofort erzählen, dass seine flüchtige Tochter wieder einmal, zum soundsovielten Mal, wohlbehalten war. Und dann dieses plötzliche Vorhaben, zu ihr nach Vlaardingen zu gehen. Es ist gut, sich stets wiederzufinden, es ist doch ein Beweis dafür, dass ich innerlich mit ihnen und sie mit mir weitergelebt haben. Schon zwei Jahre sind darüber vergangen. Und dann die Begegnung am Bahn­ hof, als ob wir uns am Tag zuvor gesehen hätten, ich noch immer mit derselben, unverwüstlichen Kosakenmütze auf dem Kopf, die ich vor Jah­ ren mit ihm und Jopie unter komischen Umständen gekauft hatte. Und meine ersten Worte  – als er seine Dankbarkeit darüber bekun­ dete, dass ich vorbeigekommen war  – waren ungefähr: «Aber du musst dich sehr stark bei mir revanchieren. ??? Du musst mir dein Taschentuch leihen, ich weiß mir keinen Rat, ich habe meines vergessen.» Und dann war alles wieder so angenehm und vertraut wie eh und je. Und wo auch immer man mit ihm hingeht, umgibt einen eine Atmosphäre des Aben­ teuers. Und dann kamen wir versehentlich auch noch nach Rotterdam. Diese Landschaft kann ich jetzt noch nicht beschreiben. Und was lernt man daraus? Dass man früher zu verantwortungslos mit Männern gespielt hat. Dass ich ihm so nahe geblieben bin, war beinahe erschütternd. Und ich? In dieser Beziehung stecken sinnliche Elemente. Nur die jungen blauen Seemannsaugen und ab und zu der tolle Gesichts­ zug um seinen breiten Mund stehen mir menschlich sehr nahe, aber der Mann? Den Mann will ich nicht. Dieses leere Abteil war kurz bedrückend und dann saß ich auf einmal doch auf seinem Schoß, und er küsste mich wie früher und kapierte selbst nicht, ob es ein Traum war. Und: «Erinnerst du dich noch, dass ich dich immer mein ‹kleines Sonnenkind› und ‹Ge­ schenk Gottes› nannte? Das warst du für mich auch.» Aber dem nächt­ lichen Hotel konnte ich entkommen. Und ob noch eine Möglichkeit be­ stünde, dass ich mich ihm noch einmal hingeben könnte. «Nein, Klaas, nein, Klaas, wirklich nicht.» Ich sagte: «Ihr Männer seid eigentlich so pri­ mitiv, das ist doch nicht das Wichtigste?» Usw. usw. Endlose Gespräche zwischen einem Mann und einer Frau. Und natürlich doch auf irgendeine Art und Weise von der wachsenden Verliebtheit dieses großen, umher­ schweifenden Mannes geschmeichelt. Aber wenn ich mich jetzt wieder einmal wie früher in eine Ecke auf den Boden setzen und mich an den Bücherschrank aus Birnbaumholz anlehnen würde, um zu horchen, was

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in mir hochstiege, dann wäre dies: «Nein, Klaas, als Mann widerst du mich an. Es ist nun mal so. Aber als Mensch stehst du mir nahe, wie jeder Mensch, der wirklich menschliche Elemente in sich trägt, mir nahesteht.» Aber wie kann ich ihm das so feinfühlig wie möglich beibringen? Und dann Han, mit dieser verhaltenen Eifersucht auf meine Vergangenheit. Meine Intuition ließ mich in dieser Nacht nach Hause zurückkehren, auf den letzten Drücker. Han bleich, zurückhaltend, abweisend, hustend. Um halb 2 in der Nacht noch eine kurze Unterhaltung: «Es ist gut, dass du zurückgekehrt bist, sonst hätte ich unsere Beziehung beendet.» O Männer, Männer! Mit euren kleinlichen Besitzinstinkten. Max, der mich ungefähr nach 10 Jahren noch schwören ließ, ob ich ihm wirklich immer treu gewesen war. Und Klaas, der um eine Nacht bettelte, und Han, der ab und zu meint, sich an meiner «Vergangenheit» stören zu müssen. Und am Samstagnachmittag krabbelte ich kurz zu Han ins Bett, und über sein ausdrucksloses Gesicht huschte auf einmal ein Lächeln und er sagte: «Du bist doch eine unverschämte Frau. Zuerst bist du mit dei­ nem ehemaligen ‹Verführer› unterwegs, und nun verführst du mich wie­ der.» Und so weiter. Und gestern Abend am Telefon erzählte ich S., wie ich eine halbe Stunde lang unter Hans Decken gekrochen war, und er sagte: «Ach, das ist alles nicht so wichtig.» Aber er fügte sofort auch hinzu: «Aber daß man das nicht so wichtig nimmt, darf auch wieder nicht dazu f­ ühren, daß man das nicht-wichtig-nehmen als ‹deckmantel› gebraucht für Ausschwei­ fungen.»

Und er fügte noch hinzu: «Ich sage das nicht zu Dir, aber für mich

selber.»

Und plötzlich Jopies melodiöse Stimme in dieser kleinen Küche in Vlaar­ dingen: «O, wie schöhön ist das denn? Nein, wie schöhön ist das denn? Wie kommt das denn, Vater, dass du hier auf einmal mit Etty auftauchst?» Und sie erzählte, wie sie beinahe eine Flasche Somnifen67 oder weiß Gott was für ein Zeugs leergetrunken und dabei gedacht hatte: Dann müssen Vater und Etty zur Beerdigung kommen. Und ich sagte, dass ich es schade fand, dass es jetzt keine Leiche gab, wo wir doch gerade so schön beisam­ men waren. Dieser ganze Tag hat mich nur 4 Aspirin gekostet, und das rührte noch von den Zahnschmerzen her. Und das Wertvollste an diesem Tag und der halben Nacht voller Empfindungen (Reise im verdunkelten Zug spät­ abends, mit diesem illegalen Brot,68 Hauptbahnhof um Viertel nach 12 in der Nacht, ausgestorbene Stadt, Jopie ohne Gepäck, mithilfe eines Polizis­

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ten in ein Hotel eingebrochen, auf dem kalten Bahnsteig in Schiedam die Erzählungen von Klaas – begleitet von großen Gesten – über die betrun­ kene Schauspielerin,69 dieser Ausbruch politischer Leidenschaft, kurzum: jeder Moment unerwartet und abenteuerlich und dann sind sie fast allzu menschlich), aber doch das Wertvollste: Jopies Stimme: «Nein, wie ­schöhön ist das denn?» Und ihre vertrauten Gesten und ein großes Gefühl von: Ich habe sie doch sehr lieb. Die Tochter steht mir näher als der Vater. Ich beginne ein wenig zu verstehen, wie sie gestrickt ist, vielleicht kann ich etwas für sie tun. Aber wie halte ich mir den Papa vom Leib?! Und was für mich auch so eine wichtige Erfahrung war: Diese un­ erwartete Begegnung mit einem Teil der Vergangenheit blieb innerhalb der Grenzen dieses einen Tages und dieser einen Nacht und war innerhalb dieses Zeitraums auch sofort vollständig verarbeitet. Früher lief ich ­wochenlang mit solchem sensationellen unverarbeiteten Material in mir herum und wäre nicht in der Lage gewesen, zu anderen Dingen zu kom­ men. Aber jetzt wird sozusagen alles an Ort und Stelle verarbeitet und eingeordnet, das ist wahr, so ein Tag ist wirklich randvoll und er spült auch über die Ränder hinaus, aber am nächsten Morgen um halb 11 (um 2 Uhr nachts ins Bett, um halb 8 auf ) unterrichtete ich wieder mit dem gewohn­ ten Enthusiasmus meinen Samenhändler, der am Ende der Stunde sagte: «Wenn es für Sie als Jüdin hier zu gefährlich wird, wenn Sie einmal ver­ schwinden müssen oder so, dann kommen Sie ruhig zu uns.» Und so pflegt man mit jedem Menschen einen eigenen Kontakt und eine eigene unverkennbare Beziehung, die von den Beziehungen zu ande­ ren abgegrenzt wird. Man wird so niemals «wahllos» oder willkürlich im Umgang, sondern pflegt zu allen eine klar definierte, eigene Beziehung. Und abends S. Gerade so, als hätte ich ihn jahrelang nicht gesehen. Sein Kopf wirkte, als wäre er von vielen innerlichen Erlebnissen durchgeweht worden. Ich erzählte ihm, er erzählte mir, alles in eine intensive halbe Stunde zusammengepresst. Und dann via Beethoven und japanische Tor­ pedos70 zu einem altmodischen Walzer und einem modernen Tango. Während Beethoven habe ich Dickys lauschendes Profil mit dem kind­ lichen Mund und den gesenkten Wimpern still um Verzeihung gebeten. Ich strich mit meinem kleinen Finger kurz ihre kleine Stupsnase entlang und auf einmal strahlte sie mich mit ihren kleinen weißen Zähnen an. Ich habe sie um Verzeihung für die Eifersucht und die Verärgerung gebeten, die ich manchmal ihr gegenüber empfinde. Sie weiß weder etwas von der

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Verärgerung noch davon, dass ich sie um Verzeihung bat, aber damit hat sie auch nichts zu tun. Und doch wird sich vermutlich etwas an der Atmo­ sphäre zwischen uns verändern. Es ist schön und gut, dass man selbst ­innerlich an der Verbesserung des menschlichen Umgangs arbeiten kann (wie abscheulich ich das alles doch formuliere), und das ist die einzige Stelle, an der man beginnen kann: bei sich selbst, in sich selbst. Ich sehe keinen anderen Weg und für mich zeichnet sich dieser Weg immer stärker ab. Und dann war Lobatto71 da mit seinem dunklen, kantigen Piratenprofil. Die Wege der Verliebtheit (ein zu großes Wort dafür) sind kapriziös und unergründlich und nicht lenkbar. Man darf sie nicht zu wichtig nehmen und doch wissen, wie sie das Leben verschönern und gelegentlich da und dort einen ordentlichen Akzent legen. Früher wären vielleicht erotische Fantasien gefolgt, aber davon scheine ich nun wirklich erlöst zu sein, ­außer wenn ich S. begehre, aber darauf habe ich ein Recht, finde ich – aber jetzt war es einfach nur schön, kurze Momente der Verführung durch dieses männliche Profil zu erfahren. Und S. gestern Abend am Telefon: «So wie Sie getanzt haben, das ist mir regelrecht in die Glieder gefahren!»  – «O, ich freue mich», sagte ich darauf sehr böse. Nächtelang könnte ich durchtanzen. Und das ist eine Sinnlich­ keit, die aus viel tieferen Tiefen als aus denjenigen des Körpers allein kommt. «Wie so ein kleines Mädchen, das sich anschmiegt», sagte S., und Glassner schaute mit solch freundlichen und verliebten Augen zu. «So habe ich Sie noch nie gesehen. Wissen Sie wie Sie tanzen? Wie so ein kleines Mäd­ chen in einem Café, das eine ganze Woche viel gearbeitet hat und jetzt im Tango alles vergißt. Und so graziös und beschwingt tanzen Sie, es ist mir regelrecht in

Und jetzt ist es Frühling, ja, es ist Frühling. Und durch diese unerwartete Tanzveranstaltung wurden so viele unbekannte Rhythmen in mir ausgelöst. So wie Tides Gesicht beim Singen sich ganz und gar verändert, so scheint sich meines während des Tanzens zu ver­ ändern, schade, dass man das selbst nicht sehen kann, obschon ich mich an diesem Samstagabend fast widergespiegelt sah in den Augen von Dicky und Adri und auch von S., die gerührt waren und gleichzeitig ­verlangend und auch ein bisschen eifersüchtig. Und später sagte er dazu noch, dass es fast an der Grenze des Anstands war, so sinnlich, wie ich tanzte. Aber ich sagte ihm später, dass diese Sinnlichkeit von viel weiter her kam als nur vom Körper. Man kennt die Grenzen, die beschränkten Möglichkeiten der die Glieder gefahren.»

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Sinnlichkeit, und man hat sich damit schließlich auch versöhnt, und da­ durch, dass man dies weiß und akzeptiert, fühlt man sich so frei und so ungebunden. Und ich spüre gleichzeitig, dass dieses Tanzen bei mir irgend­ wann in einen rein bacchantischen Rausch umschlagen könnte. Dass man so viele Seiten an sich hat und dass das Leben so reich ist und dass man ständig etwas Neues in sich entdeckt! Und ja, dieser Lobatto mit seinem Piratenprofil. Ich musste daran den­ ken, wie Leonie tapfer und unbeirrbar versucht, ihn an ihrem Seelenleben teilhaben zu lassen, wie sie versucht, ihn über ihr Seelenleben zu seinen eigenen Bereichen der Seele zu führen. Und während ich von seinem Mann-Sein angetan war, war da doch auch gleichzeitig das Gefühl: nicht nur mit Männern flirten, nicht nur den Gegenpol in ihm suchen. Aber: Kommt herein in die Bereiche unserer Seele. Wir Frauen müssen einen großen Auftrag an euch erfüllen, ich beginne da langsam etwas zu ver­ muten, ich beginne auch den Weg zu sehen. Und ihr gelangt über unsere «Seele» zu eurer eigenen. Ich will nicht nur mit dir flirten und von deiner Männlichkeit betört sein, früher war so etwas vielleicht das Wesentliche zwischen den Geschlechtern, aber eigentlich sind dies doch nur Dinge von nebensächlicher Bedeutung, auch wenn sie ihren Reiz haben, und diesen Reiz darf man auch nicht außer Acht lassen, man muss allem nur den richtigen Platz und Raum geben. In diesem anderen, dem Menschlichen, liegt vielmehr unser Auftrag. Ich stelle mir euch offen vor und ihr kommt herein. Ich habe keine Angst mehr, mich lächerlich zu machen oder von euch «sentimental» gefunden zu werden, wenn ihr mich nicht versteht, dann liegt es an mir. Es liegt immer an uns selbst. Ich bin nicht gut oder begreifend oder offen genug oder nicht genug guten Willens, wenn der andere mich nicht versteht. So in etwa brachte Leonie es mühsam zusam­ men, vor vielen Nachmittagen vor dem Ofen, sie hatte sich das mühsam ausgedacht, ganz allein in ihrem noch sehr jungen Alter: Es liegt immer an einem selbst. Ich bin nicht gut genug, wenn ich den anderen nicht errei­ chen kann. Und wegen dieser von ihr gefundenen Wahrheit, die sie ein wenig unsicher zusammenstammelte, ist sie mir sehr lieb und teuer. Und so ist es auch, es liegt immer an uns. Und dies schafft eine große Verant­ wortung, ein verantwortungsbewusstes Leben. Ich finde, dass ich noch immer nicht konstant genug lebe, man darf eigentlich keine Minute ver­ lieren, wenn keine Arbeit vorhanden ist, sind da die Menschen, die Auf­ merksamkeit und Verständnis verlangen, und dieses Verständnis kann man erst voll und ganz aufbringen, wenn man unablässig in sich selbst

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hineinhorcht und an sich selbst arbeitet. Und auch: sich nicht zu viel auf­ bürden, jeden und alles, was man beginnt, zu Ende bringen und treu sein. In menschlichen Beziehungen darf man nicht kapriziös sein. Und wenn man jemanden in sein Innerstes aufnimmt, muss man ihn dort auch be­ lassen und dort an ihm weiterarbeiten. Denn auch dies ist eine neu gefundene Wahrheit für mich: Man muss nicht nur an seinem eigenen Innenleben «arbeiten», sondern auch am ­Leben derjenigen, die man in sein Inneres eingeschlossen hat. Man gibt eigentlich seinen Freunden einen Platz in sich selbst, an dem sie sich ent­ wickeln können, und man versucht, sie in sich selbst zur Klarheit zu füh­ ren, und das muss den anderen auf die Dauer doch helfen, selbst wenn man ihnen davon niemals etwas erzählen würde. Die Gesten und Blicke und Worte und die Problematik und das Leben der anderen in sich auf­ nehmen und das Leben der anderen in sich selbst weiterleben lassen und zur Klarheit führen: Das ist unsere innere Aufgabe. Über ein paar Dinge werde ich möglicherweise ein Leben lang spre­ chen, in immer deutlicher werdenden Worten; ob es mir wohl vergönnt sein wird, die Worte dafür zu finden? Und zu S. gestern Abend am Telefon (oh, dieses ewige Telefon!): «Hör mal, da habe ich etwas wichtiges in meine linke Hand geschrieben, ich muß Dich etwas fragen: Wirst Du mal eine Reise mit mir machen, eine kleine Reise von der einen unbekannten Stadt zu der anderen? Wir werden spazieren und ein Buch schreiben und tanzen und, ja und alles. Aber ich muß das jetzt schon wissen, dann fange ich schon an zu sparen!» Lautes Gebrüll am anderen Ende. Aber diese Reise: «O, wenn das doch wahr wäre.» Ich habe ihn getröstet: «Vielleicht reisen wir zusammen nach Polen.» Die Zukunft? Was bringt die Zukunft? Es spielt keine Rolle. Was bringt die nächste Minute? Mich um die Kaffeetafel kümmern und Leo­ nie. Und dann Hetty E. und heute Abend S. Ob meine unverschämten Tanzrhythmen wohl noch in seinen «Gliedern» stecken? Es ist wirklich Frühling. Ich merke das an meinen Halsschmerzen und auch an einer seltsamen Art leichter und übermütiger, aber doch auch wieder äußerst ernsthafter Fröhlichkeit. Schreibst du eigentlich verworrenes Zeug, ­Mädchen?

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Dienstagmorgen [17. März 1942], halb 10. Gestern Abend, als ich zu ihm radelte, war in mir eine große und ange­ nehme Frühlingssehnsucht. Und während ich mich nach ihm sehnte und träumend über den Asphalt der Lairessestraat radelte, fühlte ich plötzlich, wie mich ein lauer Frühlingswind streichelte. Und ich dachte plötzlich: So ist es auch gut. Warum sollte man nicht einen großen und zärtlichen Lie­ besrausch mit dem Frühling und mit allen Menschen erleben dürfen? Und man kann auch mit dem Winter Freundschaft schließen und mit einer Stadt oder mit einem Land. Ich erinnere mich an die weinrote Buche aus meinen Jugendjahren. Ich hatte zu ihr ein besonderes Verhältnis. Abends hatte ich manchmal plötzlich ein Verlangen nach ihr und dann suchte ich sie auch auf, eine halbe Stunde Fahrradfahrt entfernt, und dann ging ich um sie herum, gefesselt und verzaubert von ihrem blutroten Blick. Ja, ­warum sollte man sich nicht in einen Frühling verlieben können? Und das Streicheln dieses Frühlingswinds war so zart und so allumfassend, dass Männerhände, selbst wenn es seine wären, mir im Vergleich dazu grob vorkämen. Und so kam ich bei ihm an. Aus dem Arbeitszimmer fiel ein Lichtschein in das kleine Schlafzimmer, und als ich hereinkam, sah ich sein Bett aufge­ schlagen und darüber duftete ein schwerer Orchideenzweig, der über sein Bett geneigt war. Und auf dem Tischchen neben seinem Kopfkissen standen Narzissen, so gelb, so schrecklich gelb und jung. Das aufgeschlagene Bett und die Orchideen und die Narzissen – man muss sich nicht einmal zusam­ men in so ein Bett legen. Als ich nämlich kurz in diesem dämmerigen Zim­ mer stand, war es, als ob ich eine ganze Liebesnacht erlebt hätte. Und er saß an seinem kleinen Schreibtisch, und es fiel mir wieder auf, wie der Kopf ­einer grauen, verwitterten, uralten Landschaft ähnelte. Ja, siehst du? Der Mensch muss Geduld haben. Dein Verlangen muss wie ein langsames und stattliches Schiff sein, das über endlose Ozeane fährt und das nicht auf der Suche nach einem Ankerplatz ist. Und plötz­ lich, völlig unerwartet, findet es dann doch für einen Augenblick einen Ankerplatz. Gestern Abend hat es seinen Hafen kurz gefunden. – Ist das erst 14 Tage her, dass ich so wild und unbeherrscht war und ihn an mich heranzog, sodass er über mich rüberfiel, und dass ich danach so unglück­ lich war, dass ich dachte, kaum weiterleben zu können? Und ist das erst eine Woche her, dass ich in seinen Armen lag und mich dennoch irgend­ wie weiterhin unglücklich fühlte, weil ich es doch noch als etwas Forcier­ tes empfand?

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Und doch werden diese Stationen schon notwendig gewesen sein, da­ mit wir jetzt aufeinander zugleiten können, damit sich diese Vertraulich­ keit einstellt und damit wir einander lieb und teuer sein können. Und so ein Abend bleibt auch riesengroß in der Erinnerung erhalten. Und man hat vielleicht nicht einmal viele solcher Abende nötig, um doch das Ge­ fühl zu erhalten, ein volles und reiches Liebesleben zu führen. Ich sagte: «Weißt Du, Deine Augen sind so zeitlos. Dein Mund ist ganz aktuell, aber Deine Augen sind zeitlos und das bringt mich manchmal zur Ver­ zweiflung.» «Wiesooo? Zur Verzweiflung?» «Ja, wenn ich so eine Sehnsucht nach Dir habe, so eine ganz irdische, zeit­ gebundene Sehnsucht, und Deine Augen sind so zeitlos, dann habe ich ein Gefühl, daß ich Dich gar nicht erreichen kann. Aber ich finde es doch schön, daß Deine Augen zeitlos sind, darum liebe ich Dich ja auch so, aber bitte, sei manchmal doch ein bischen irdisch.» Und er zog mich auf seinen Schoß und es glitt so ein Schleier über diese Augen – Augen können manchmal vor lauter Zärtlichkeit in Tränen ausbrechen – und er sagte: «Ja, ist das alles nicht merkwürdig, da kommt man aus Berlin in ein paar kleine Zimmer in Hol­ land und findet da so ein kleines Mädchen – eigentlich findet man doch überall die Menschen, man muß nur Geduld haben, man muß nie suchen, es kommt schon alles auf einen zu, wenn man Geduld hat.»

Und wie fühle ich mich jetzt? Ich kann dafür nur monströse Bilder finden, später werde ich schon die richtigen Pinselstriche finden, später, wenn ich wirklich schreiben werde. Wie ich mich fühle? Ein Verlangen, das zur Ruhe gekommen ist und das träumend fortgetrieben wird, um­ strömt von lauem Frühlingswind. Abscheulich ausgedrückt, aber ich weiß, was ich meine. Und o ja, als Glassner am Sonntagnachmittag auf dem Flügel seine Ge­ schichten erzählte, da war mir, als sei mein Herz eine einzige große Kla­ viatur, auf der er mit energischen und zärtlichen Fingern spielte, so nahe, so von innen heraus kam diese Musik. Und die gute Tide, die in ihr Tagebuch schrieb, dass sie eifersüchtig war, weil ich «so schön tanzte». Aber sie hat diese Gefühle schon wieder besiegt. Gute Tide. Und Leonie, die gestern wie ein zartes englisches Internatsmädchen aussah in ihrem braunen Röckchen, dem rotbraunen kurzen Jäckchen und dem beigen großen Filzhut auf den kupferroten Haaren. Und die so tapfer

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damit beschäftigt ist, den Weg zu sich selbst zu finden. Wenn ich ihr heute schreiben würde, so wäre dies: «Kleines, ich bin stolz auf dich!» Und heute Nachmittag Hetty als Objekt. Auch dieses Mädchen wird zu denjenigen gehören, die ich in mir selbst zur Klarheit führen werde. Und ja, seine Augen sind in der Tat zeitlos. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie direkt vor mir: Es ist gerade so, als ob die Jahrhun­ derte darin zu graugrünem Granit zusammengepresst stünden. Und sein Mund ist nicht nur dämonisch, sondern auch so schrecklich gut und ­liebenswürdig. Einen Mann kann man nicht als «süß» bezeichnen. Aber gestern war ab und zu ein Lächeln in seinem Gesicht, das ich gern «süß» genannt hätte. So wie ich mich jetzt fühle, kann ich mir fast nicht vorstellen, dass noch eine größere Steigerung in unserer Beziehung möglich sein wird, aber ich weiß, dass die Entwicklung weitergeht. Und es ist so gut, immer wie­ der zu lernen, sich gegenseitig zu distanzieren, eigentlich ist eine Bezie­ hung nichts anderes – oder sollte nichts anderes sein –, als sich andauernd gegenseitig zu distanzieren, um sich auf einer höhergelegenen Ebene wie­ der umso intensiver zu begegnen. Und die Distanz, die zwischen uns im­ mer wieder geschaffen wird, ist gut, man kann einander immer wieder in der Gesamtheit überblicken, man behindert einander nicht im Wachs­ tum. Obwohl – ich sagte ihm gestern, dass ich Momente hatte, in denen ich wollte, dass jegliche Distanz verschwinden würde und dass wir eine gemeinsame Zahnbürste hätten. Und er: «Ich bin doch froh, daß wir zwei haben.»

Und ich habe noch einmal für ihn ausformuliert, dass ich glaubte, dass dies die historische Aufgabe der Frau ist für die kommende Zeit: dem Mann über ihre eigene Seele den Weg zu seiner eigenen Seele zu weisen. Und dabei muss nichts von der erotischen Spannung verloren gehen, man muss allem den richtigen Platz geben, der ihm zusteht, man muss es ein­ ordnen. Und ich glaube auch, dass diejenigen Männer am wichtigsten und am bahnbrechendsten für die kommende Zeit sein werden, die so ein gro­ ßes Stück Weiblichkeit in sich haben – und dabei trotzdem wirklich Män­ ner sind –, so wie er auch und wie beispielsweise auch ein Rilke – dass sie, ja dass sie, hier lässt mich mein Formulierungsvermögen im Stich – dass sie Wegweiser in die Regionen der Seele sind. Und nicht die «He-Men», die Führer und die uniformierten Helden. Nicht diejenigen, die man echte Kerle nennt, aber vielleicht existiert das auch nur in der Fantasie von Frauen.

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Und endlich habe ich meinen «jungen Dichter» zurück und ich kann hier den Teil aufschreiben, der mir schon seit einer Weile im Kopf herum­ geistert: «Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter, als man meint, und die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin bestehen, daß Mann und Mäd­ chen sich, befreit von allen Irrgefühlen und Unlüsten, nicht als Gegensätze ­suchen werden, sondern als Geschwister und Nachbarn und sich zusammen­ tun werden als Menschen um einfach, ernst und geduldig das schwere Ge­ schlecht, das ihnen auferlegt ist, gemeinsam zu tragen.»

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abends 7 Uhr. Gleich zum Kurs, und dann drücke ich ihm den folgenden Brief in die Hände, plötzlich anlässlich Hettys Analyse aus mir hochgestiegen: 17. März, Dienstagabend, halb 7.

[durchgestrichen:] Da ich Dich ja schon seit Ewigkeiten.73 abends 12 Uhr. Manchmal denke ich, dass in meinem Leben zu viel passiert. Gestern ein großes Verlangen, das einen Ankerplatz fand, und heute Abend war er mir nichts, dir nichts – nach zwei Gläsern Wermut – be­ trunken, das war die allerneueste Empfindung. Und eigentlich, eigent­ lich – fand ich das nicht schön. 20. März ’42, Freitagmorgen, halb 12. Und dann musste ich wieder alles um meinen eigenen Kern herum zu­ sammentrommeln, an diesem Abend nach den zwei harmlosen Gläsern Wermut, von denen Werner Levie behauptete, dass es nur Himbeerlimo­ nade war, aber S. verträgt doch eigentlich Wermut so schlecht, sodass sein Gesicht zu einer leeren, schlaffen Hülse wurde, aus der aller Geist heraus­ geströmt war. Einen Moment lang war das ganz entsetzlich für mich. Ich habe dann wieder einmal, nach Monaten, vor meinem Bett gekniet, und mich wieder ganz auf das eigene Innere konzentriert. Weil es in den letz­ ten Tagen war, als ob das Leben beinahe zu voll und zu intensiv war. Durch das Aufwenden von Kräften sollte man doch immer eine Zunahme der Kraft und Konzentration empfinden, das sollte die einzige Lebensregel sein, wenn man anders lebt, lebt man falsch, und deshalb musste ich mich dann auf einmal wieder um den eigenen Kern herum sammeln.

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Und ich hatte auch auf einmal Angst, dass das, was ich ihm einige Stunden zuvor aus voller Überzeugung geschrieben hatte, sonst nur hohle Worte bleiben würden: «Und dies wurde mir wieder zum sovielten Mal klar heute mittag: daß man sich nie bewußt genug sein kann der Verantwortung, die man seinen fragen­ den, hilfesuchenden Mitmenschen gegenüber hat, daß man immer andäch­ tiger und gewissenhafter in sich selbst hineinhören muß, daß man innerlich immer disziplinierter werden muß und daß man eigentlich keine Minute seines Lebens vergeuden darf, weil so viel, so überwältigend viel zu tun ist für die anderen.»

Und spätabends hatte ich auf einmal Angst, dass ich diesen Worten nicht treu war. Aber als ich da so hingekniet war, abends, nach all diesen ereignisreichen Tagen wieder ganz allein mit mir selbst, da fühlte ich in mir doch ein großes Stück konzentrierte Kraft. Und dies lernt man jeden Tag hinzu: das sofortige «Einordnen» der Dinge in seinem Leben. Am Dienstagabend bei diesem blassen Mondschein und unter dem Laternenpfahl (die klassischen Requisiten bei größerer oder kleinerer Be­ trunkenheit) war sein Gesicht eine leere, schlaffe Hülse, weil der Geist daraus herausgeströmt schien. Und wenige Stunden zuvor hatte ich ihm über den vorangegangenen Abend geschrieben: «Die große Sehnsucht hatte doch einen Moment ihren Hafen gefunden, sie ist bei Dir eine Weile vor Anker gegangen.»

Und an nächsten Abend war sein Gesicht entleert und schlaff, sinnlich ohne die innere Spannkraft, durch die die Sinnlichkeit sonst immer ihren dämonischen Akzent erhält, da dachte ich auf einmal, ein bisschen müde und ein bisschen befreit: Ach nein, sich an einen Menschen binden für ein ganzes Leben, bei einem Mann ein ganzes Leben lang bleiben wollen, ach nein, bei dir wollte ich auch nicht ein ganzes Leben lang bleiben. – Und genau in diesem Moment sagte er: «Sie dürfen nicht ver-ver-liebt in mich sein, wohl dann und wann, das ist schön, aber nicht auf immer, das ist gegen, das ist gegen die, die Aufgabe.» Er sagte es fast ein bisschen prahlerisch, diesen letzten Teil. Aber zum Zeit­ punkt des Abschieds hatte er sich schon wieder erholt. Und eigentlich hatte ich doch keine Abneigung gegen ihn, aber ja, das war es eigentlich, bedenke ich plötzlich: Die innere Spannkraft war bei ihm weg und daher auch die Spannung zwischen uns. Aber sein schlaffes, sinnliches, gutmüti­ ges Säuglingsgesicht offenbarte mir doch viel in diesen kurzen Momen­ ten – ein Leben wird oft am Scheideweg stehen und es wird sich entschei­

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den, ob es sich nun nach oben oder nach unten entwickeln wird. Und in diesem Augenblick sah ich so entsetzlich deutlich, was aus ihm hätte wer­ den können, wenn er sich nicht «nach oben» entwickelt hätte. Diese sinn­ liche, schlaffe Hülle zeigte auf einmal die Gefahren an, die ihn aufgrund seiner eigenen Art stets bedroht haben. Es war eigentlich sehr eindrück­ lich, so klar und deutlich vor sich zu sehen, was aus ihm geworden wäre, wenn Geist, Glaube und Liebe nicht über die Sinnlichkeit gesiegt hätten. Und das ewig Fesselnde und Ergreifende in der Landschaft seines Gesichts entsteht ausgerechnet durch diesen Kampf zwischen Sinnen und Geist, der an seinem Gesicht abgelesen werden kann. Das Sinnliche, verlagert auf die Ebene des Geistes, wird zur Dämonie. Und am nächsten Nachmit­ tag nach dem Referat sagte ich zu ihm: «Weißt Du, ich habe Dich noch mehr lieb wenn Du Stunde gibst, denn wenn Du trinkst.»

Am nächsten Morgen sagte ich ihm am Telefon ungefähr Folgendes: «Weißt du, ich habe gedacht, dass du eigentlich das Recht hast, dich jeden Abend zu betrinken. So stark, wie du deine Kräfte den ganzen Tag deinen Mitmenschen schenkst, muss das aus einer solchen inneren Spannung und Konzentration herauskommen, dass ich mir vorstellen könnte, dass du abends als Reaktion darauf gerne trinken würdest.» Und seine Antwort wäre es wert, stenografiert zu werden. Ich weiß sie nicht mehr. Sie war sehr ernst und sachlich zugleich. Es ging um ein aske­ tisches Leben, was unverzichtbar ist, wenn man immer so viel Kraft von sich selbst gibt. Und so weiter. Am Morgen las ich «Was ist Wahrheit?»74 aus dem «Evangelium der heiligen Zwölf»: Das war letzten Endes nur wie­ der ein paar Stunden nach dieser kleinen Ausschweifung. Und mittags der Einführungskurs für den hölzernen und doch liebenswürdigen Freudianer mit seiner «wandervogelartigen» Frau75 und Liesl und ich höre in stiller Andacht im Hintergrund zu. Und da habe ich ihn wieder aus tiefstem Herzen bewundert und geliebt. Sein großes Universitätspublikum, das ihm gebührt, wird er schon noch irgendwann in einem unerwarteten ­Moment erhalten. Diese konzentrierte Kraft und gleichzeitig diese große Beweglichkeit, diese Verwurzelung in der Materie, über die er spricht, und zugleich die unerwarteten, komischen Einfälle. Die reife, tiefe Erfahrung, die hinter jedem Wort steckt, und die Jugendlichkeit und Frische der Ges­ tik, mit der alles wieder vorgetragen wird. Wir kamen uns sehr privilegiert vor, Liesl und ich. Und die kleine Liesl später in Dickys Zimmer, so lustig pathetisch, ein bisschen stotternd, vielleicht ein bisschen übertrieben, aber doch sehr authentisch: «Woran habe ich das verdient, daß ich bei so etwas

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S. lachte später wieder sein gutes gesundes Lachen, als ich ihm das erzählte, und sagte: «Na, das ist doch wohl ein bissel übertrieben.» Das war am Dienstagnachmittag.

dabei sitzen darf, ich empfinde das als eine Gnade.»

Samstagmorgen [21. März 1942]. Noch eine Viertelstunde, bevor mein Enkhuizener kommt. Was fällt mir im Moment ein? Das zum Beispiel: Ich bin «hemmungslos» im Mensch­ lichen, nicht im Sexuellen oder Erotischen, in diesen Bereichen werde ich allmählich ein sehr beherrschter Mensch. Aber im Bereich des Mensch­ lichen kenne ich kein Bremsen und keine Grenzen und keine Konventio­ nen. Bei S. ist das genauso. Und ich glaube, dass das gut ist. Ich beginne jetzt allmählich zu sehen, wo und wie ich meine Haltung ge­ genüber Han innerlich revidieren muss. Lieben, aber nicht aus Schuld­ gefühlen heraus. Lieben aufgrund ehrlicher Zuneigung und auf Basis all des Guten, das in ihm steckt. Und doch mein eigenes Leben auf meine eigene Art und Weise leben, das geht nun mal nicht anders, aber mit ­einem Gefühl, nur mir selbst und niemand anderem Rechenschaft zu schulden. Eine solch unkonventionelle Ausdrucksweise darf man nur ­verwenden, wenn man wirklich ein Verantwortungsbewusstsein hat. Und ihn um seiner selbst willen lieben und nicht mehr um meinetwillen. Mir auch nichts mehr davon für mich selbst erhoffen. Und vor allem: keine Ansprüche an ihn stellen. Ihm dabei helfen, den Alterungsprozess, den er jetzt durchmacht, zu lindern. Ich möchte ihn nachts doch auch wärmen und verhätscheln mit meinem Körper, ohne eine Befriedigung für mich selbst zu verlangen. Und was nicht mehr passieren darf, nie mehr: Ich darf ihn nicht als Mittel zum Zweck verwenden, um mich abzureagieren, wenn ich mich nach einem anderen sehne oder im Allgemeinen Verlangen nach einem Mann habe. Lieben, aber nicht aus einem Schuldgefühl heraus. Mit einem Schuld­ gefühl könnte ich ihn auch anstecken, während ihm nicht einmal bewusst wäre, was eigentlich los ist. Das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Verhalten schließt übrigens Schuldgefühle aus. Ich erzählte S. an diesem Abend, als er mir ein Hafen war, auch, wie ich einmal in einer Nacht im Dunkeln in Hans Achsel76 vor lauter Verlangen nach ihm, nach S., geweint hatte. Ich beichtete ihm dann noch so einiges, erzählte auch vom ungeborenen Kind. Aus einem Gespräch mit S. über Han: Ich sagte: «Er ist noch immer

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eifersüchtig auf meine sogenannte Vergangenheit.» S.: «Ja, das entspringt dem Bedürfnis, den anderen ‹besitzen› zu wollen.» Ich: «Aber er ist zu an­ ständig, dieses Besitzen-Wollen zur vollen Größe heranwachsen zu lassen.» S.: «Aber er ist auch nicht weit genug, um sich dies bewusst zu machen und von dieser ganzen Idee des Besitzens wegzukommen.» Ich frage mich manchmal: Liegt es auch an mir oder ist er zu alt, um einen Bewusstwerdungsprozess, was ich dann darunter verstehe, durchzu­ machen? Und ich glaube Folgendes: Ich muss ihn, auch ihn, in mir selbst zur Klarheit führen. Dann brauche ich mich mit ihm nicht so viel «aus­ einanderzusetzen». Wenn ich innerlich eine klar definierte und saubere Einstellung zu ihm entwickeln werde, wird das auch in ihm eine Resonanz auslösen, wenn auch unbewusst. Solange meine innere Einstellung einer­ seits noch von Schuldgefühlen getrübt ist und andererseits von Ansprü­ chen, die auf der Intensität und Totalität unserer früheren Beziehung be­ ruhen, solange trübe ich sein Inneres auch. Und ich sage mir plötzlich: Es ist doch auch verrückt, selbst nicht mehr genau dasselbe wie früher geben zu können und vom anderen zu verlangen, dass er immer noch ganz der Gleiche ist. Es liegt vor mir also ein Bereich, in dem Klarheit geschaffen werden muss. Ich bin froh, dass ich den Weg dorthin endlich gefunden habe. Und jetzt auf den Milchmann warten und dann mein netter Samen­ händler. Sonntagmorgen [22. März 1942], halb 9. Was mir gerade einfiel: Ja, ich sollte jetzt wirklich bis 1 Uhr fasten. Die Selbstbeherrschung deines Magens erlernen. Auch was deinen Körper betrifft, musst du ler­ nen, auf deinen inneren Rhythmus zu hören. Zum Beispiel im jetzigen Augenblick: Ich habe sicher keinen Hunger, eher ein bisschen leichte ­Magenschmerzen. Aber am Sonntagmorgen sind die Dinge immer beson­ ders lecker, eine Tasse Kakao und eine Scheibe Brot, die dick mit Butter bestrichen wurde. Und meistens kann ich dann der Versuchung nicht ­widerstehen. Und hinterher fühle ich mich elend und denke: Hätte ich bloß nichts gegessen. Wenn ich «Triebe» habe, um dieses große Wort zu gebrauchen, kommen sie in diesem Bereich zum Ausdruck. Manchmal, in einem unbeherrschten und chaotischen Moment, kann ich auf einmal al­ les, was nicht niet- und nagelfest ist, essen, in einer Art mutwilligem Spaß, um meinen Magen zu verderben und dann einfach zu sehen, wie es endet.

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Und wenn ich mir meinen Magen verdorben habe, sage ich sehr demütig: Das geschieht dir ganz recht, du hättest dich einfach nicht so wahnsinnig unbeherrscht verhalten sollen. Und dann habe ich riesigen Kummer. Nicht wegen des verdorbenen Magens, sondern wegen der Unbeherrscht­ heit. In diesem Bereich muss ich noch sehr viel Disziplin entwickeln. Und ganz langsam gelingt mir das auch. Also, heute fasten bis 1 Uhr. Das ist für mich schon eine ziemliche «Aufgabe», mal sehen, ob ich es durchhalte. Es geht nicht um das Ritual des Fastens, sondern darum, dass ich spüre, dass ich eigentlich kein Bedürfnis nach Essen habe. Und in diesem Fall sollte man eigentlich auch nicht essen. Vor allem in dieser Zeit: Andere, die Hunger haben, können es dann besser nutzen. Gestern überkam es mich auf einmal wieder, dasjenige, wodurch mein Leben niemals zum Trott werden kann. Um halb 7 sollte ich S. bei Geiger abholen, d. h., ich sollte die Notizen von Leonie abholen und direkt wieder zurück, ich würde ihn also nur 5 Minuten sehen. Ich fühlte mich eigentlich den ganzen Nachmittag über nicht gut, Kopfschmerzen, Magenschmer­ zen, so ein bisschen grippeartig. Aber um halb 7 zu S. Zuerst im Badezim­ mer die bleiche Fassade ein wenig bemalt, mit der Kosakenmütze so lange vor dem Spiegel hin und her manövriert, bis mich ein ganz passables Gan­ zes daraus anblickte, und dann ging ich hinaus und schlug die Haustür hinter mir zu. Und dann auf einmal wieder so ein intensiver Moment: Ja, jetzt gehe ich zu S., aber nur 5 Minuten. Aber dennoch ist er dann ganz da. Ich streife dann durch die bewegte Landschaft seines Gesichts. Ich gehe zu S. Er ist mein Freund. Er ist mein bester Freund. Ja, wirklich wahr. Ich werde mich jetzt an seinen Strahlen erwärmen und er ist mein Freund. Er ist ganz und gar da. Er ist nicht in einem Gefängnis und nicht in einem fernen Land. Er ist hier, in der Nicolaas-Maesstraat,77 ich gehe jetzt direkt zu ihm und dort ist er dann leibhaftig, ich schaue ihn an und genieße den verlebten Kopf. Und das Beste von allem: Er ist mein Freund. Plötzlich erlebe ich dann die Wirklichkeit unserer Freundschaft wieder in vollem Umfang, und dies mit einer Dankbarkeit, mit einer Dankbar­ keit, die das Leben auf einmal wieder erneuert und verjüngt. Ich erkundigte mich voller Interesse nach seiner Orchidee, was sage ich da, eine Orchidee? 20 Orchideen an einem einzigen Ast. Ab und zu, wenn ich zu ihm ging, hatte ich das Gefühl, die Orchidee zu besuchen, er kam erst an zweiter Stelle. «O», sagte er, «ich musste heute Tulpen kaufen, ich hielt es nicht mehr nur mit dieser Orchidee aus, sie langweilt mich so, ich finde sie so degeneriert in ihrer aristokratischen Art.»

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Mir kommt plötzlich in den Sinn, dass ich diesen einen Traum von Leonie vom 20. März abschreiben sollte, es ist eine ganze Menge, na, dann mal los! – Nein, ich tippe es doch lieber: ––––.78 Noch ein paar Kleinigkeiten. Max vor ein paar Tagen am Telefon: «Und, wie ist es um das ‹Chiroskop› bestellt?» Und ich: «Du müsstest doch ein­ fach einmal kommen, Max, und wenn es nur wäre, um mir einen Gefallen zu tun.» Und er: «Also gut!» Am Donnerstagmorgen endlich wieder einmal Aimé in der Vorlesung, mit diesem verträumten und doch auf etwas Bestimmtes im Inneren aus­ gerichteten Blick, der sich mir gegenüber manchmal plötzlich öffnet und worüber ich dann so glücklich bin. Und Menschen im Griff zu haben ist etwas, das mir so eine große Befriedigung gibt. Ich sagte: Aimé, du musst Becker mehr oder weniger um Entschuldigung bitten für dein zigeuner­ haftes Verhalten, zuerst schickst du ihm Telegramme und Wunder was ­alles und dann bleibst du auf einmal wieder fern. Und er, gereizt: «Ach, all dieses gegenseitige Gerupfe der Menschen!» Und ich grinsend: «Du großer Idiot, du hast doch sicher mit ‹rupfen› angefangen. Und man kann von diesem gutherzigen 55-jährigen Männlein doch nicht verlangen, dass er nun sofort ganz kapiert, wie man in all seiner Asozialität beschaffen ist?» Nun ja, und so weiter und so fort, aber er spazierte auf alle Fälle zu Be­ ckers Lehrerpult hinunter, als dieser hereinkam, und so konnte doch noch etwas gerettet werden. Sein kantig geschnitztes, blasses Profil mit den pechschwarzen Haaren hat doch irgendwie einen ganz bestimmten Platz in meinem Leben. Ich bin froh, dass sein Blick sich ab und zu in meine Richtung öffnet, und ich hoffe, Zeugin seines Wachstums und auch des Wachstums unserer Freundschaft zu sein. Die Beziehung zu Han. Dieser Bereich ist jetzt ins Blickfeld gerückt. Das bedeutet noch nicht, dass er jetzt schon kultiviert ist. Aber dennoch: Wie entsetzlich unbewusst lebt der Mensch noch in vielen Bereichen seines Lebens. Immer wieder rückt ein neuer Bereich ins Blickfeld. Aber zumin­ dest liegt der Bereich nun vor mir. Und jetzt ist es tatsächlich schon halb 10, um halb 12 dieses raben­ schwarze, sinnliche, resolute jüdische Mädchen79 zum Russischlernen. Um 3 Uhr unser Hugo-Wolf-Nachmittag.80 Vielleicht heute Morgen noch Hetty ausarbeiten?

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abends 9 Uhr. Meine ernste schwarze Marokkanerin blickt wieder in einen Blumen­ garten, oder besser gesagt, sie schaut wie immer wieder darüber hinweg mit ihrem düsteren Blick, der erhaben und animalisch zugleich ist. Die kleinen Krokusse, gelb und violett und weiß, hängen ermattet und er­ schöpft über den Rand der Schokoladenstreusel-Dose, sie haben sich voll­ kommen kaputtgelebt seit gestern. Und dann die gelben Glockenblumen in dem durchsichtigen, grünen Kristallglas. Wie heißt ihr eigentlich? S. kaufte sie aus einer Frühlingslaune heraus. Und gestern Abend kam er schon mit diesem Strauß Tulpen an. Diese kleine rote Knospe und diese ganz kleine weiße Knospe, so ver­ schlossen, so unnahbar und doch so unbeschreiblich liebenswürdig, ich musste sie andauernd anschauen heute Nachmittag während Hugo Wolf. Das Rijksmuseum war dort ebenfalls hinter den Fensterscheiben zu sehen, so herausfordernd frisch und neu in seinen Konturen und zugleich so alt­ vertraut. Wir dürfen nicht mehr auf dem Wandelweg81 spazieren gehen und jede unselige kleine Formation aus 2 oder 3 Bäumen wurde zum Wald erklärt und dort ist dann jeweils ein kleines Schild angebracht: Für Juden verboten. Es gibt immer mehr solcher kleinen Schilder, überall. Und trotz­ dem gibt es noch genügend Raum, in dem man sich aufhalten kann, in dem man leben und fröhlich sein und musizieren und einander lieb haben kann. Glassner brachte einen kleinen Sack Kohle mit, Tide ein wenig Holz, S. Zucker und Kekse, ich hatte Tee, und unsere kleine vegetarische Schweizer Künstlerin82 kam plötzlich mit einem großen Rührkuchen an. Und S. las zuerst ein paar Dinge über Hugo Wolf vor. Und bei manchen Passagen über dieses tragische Leben erzitterte sein Mund ein wenig. Auch deshalb mag ich ihn so gern. Er ist so echt. Und jedes Wort, das er sagt oder singt oder vorliest, das lebt er auch. Wenn er also traurige Dinge vor­ liest, dann ist er auch wirklich in diesem einen Moment traurig. Und ich finde es rührend, wenn er dann so emotional ist, dass es aussieht, als ob er gleich weinen würde. Dann würde ich mit Freude mit ihm zusammen leise vor mich hin mitweinen. Und Glassner, der am Flügel immer besser wird. Ich rief ihm heute Nachmittag im Stillen zu: «Wir begleiten dein Wachstum, stiller Glass­ ner.» Es gibt Momente, in denen ich plötzlich gleichsam am eigenen Leibe begreife, wie schöpferische Künstler sich dem Trunk ergeben, sich mit Ausschweifungen übernehmen, verkommen usw. Als Künstler benötigt

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man eigentlich einen sehr starken Charakter, um moralisch nicht aus den Fugen zu geraten. Um nicht ins Uferlose zu treiben. Ich kann dies über­ haupt noch nicht beschreiben. Ich habe es ab und zu sehr stark. All meine Zärtlichkeit, all meine starken Emotionen, dieses ganze wogende Seelen­ meer, diesen Seelensee, Seelenozean, oder wie auch immer man es nennen will, würde ich dann gerne ausgießen, in ein einziges kleines Gedicht münden lassen, aber ich spüre auch, dass ich  – wenn ich das gekonnt hätte – mich dann sofort Hals über Kopf in einen Abgrund stürzen und mich betrinken wollte. Nach einem schöpferischen Akt müsste man von einem eigenen, sehr starken Charakter aufgefangen werden, von einer Halt gebenden Moral oder von was weiß ich, um nicht weiß Gott wie tief zu stürzen. Und aus welchem dunklen Drang heraus? Ich spüre das in mir, in meinen fruchtbarsten und kreativsten inneren Momenten, wie dann gleichzeitig Dämonen in mir hochkommen, wie sich zerstörende und selbstvernichtende Kräfte auf die Lauer legen. Es ist auch nicht das ­normale Verlangen nach dem anderen, nach dem Mann, es ist etwas, das kosmischer, allumfassender und unaufhaltsam ist. Aber ich spüre auch, dass ich mich selbst werde beherrschen können, auch in solchen Momen­ ten. Ich habe dann auf einmal das Bedürfnis, irgendwo in einer ruhigen Ecke niederzuknien und mich selbst im Zaum zu halten und mich zusam­ menzunehmen und darüber zu wachen, dass meine Kräfte sich nicht im Uferlosen verlieren. Gerade wurde ich am Ende des Nachmittags von diesem liebenswürdi­ gen, schweren Mund aufgefangen und stieß gegen die Schranke von S.s durchsichtigem hellgrauen Blick, der mich kurz ganz in sich aufnahm. Ich fühlte mich für einen Augenblick in diesem Blick geborgen und behütet. Aber den ganzen Nachmittag schweifte ich irgendwo in einem endlosen Raum umher, wo keine einzige Grenze mich aufhielt, und dann gelangt man auf einmal doch an eine Grenze – an diejenige Grenze, an der man seine Uferlosigkeit nicht mehr erträgt und aus Verzweiflung sich Exzessen hingeben könnte. Und dieses dunkle Astwerk in der leichten, durchsichti­ gen Frühlingsluft. Die Wipfel der Bäume fand ich morgens, als ich wach wurde, vor meinem Fenster. Und die Stämme fand ich heute Nachmittag, ein Stockwerk tiefer, vor den breiten Fensterscheiben. Die rote und die weiße Tulpenknospe, einander zugeneigt, der edle Flügel, schwarz und ge­ heimnisvoll und kompliziert, ein Wesen für sich, und hinter den Fenster­ scheiben die schwarzen Äste gegen den hellen Himmel und in einiger ­Entfernung das Rijksmuseum. Und S., jetzt einmal fremd, dann wieder

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vertraut, sehr weit weg und zugleich sehr nah, auf einmal ein hässlicher, uralter Kobold, dann wieder ein gutmütiger, Kekse essender behäbiger Onkel, dann wieder der Charmeur mit der warmen Stimme, immer wie­ der anders, mein Freund und mir doch immer wieder fern –. Es tanzt wieder eine kleine Unruhe in mir auf und ab. Und ich würde so gern stark und «gesammelt» in die neue Woche starten. Es stehen wie­ der so viele gute Dinge auf dem Programm: morgen Hetty gewissenhaft «ausarbeiten» und abends sie dann unterrichten und danach die Analyse mit ihr besprechen. O ja, und da ist noch etwas. Ich denke von mir selbst, dass ich ziemlich offen gegenüber meinen Mitmenschen bin. Aber ich er­ tappe mich oft bei Folgendem: dass ich doch eigentlich noch sehr scheu und unsicher in meinem Verhalten bin, genauer noch: in meinem Blick anderen gegenüber. Wenn ich mit jemandem rede, wirklich rede, beinahe ein Zeugnis ablege, wenn ich über ernsthafte Dinge des Lebens rede, dann tue ich dies ohne jegliche Hemmung, aber ich ertappe mich dabei, dass ich den anderen dabei nicht anschaue, dass ich irgendwie in die Ferne starre und sozusagen mehr für mich selbst als für den anderen rede. Mir wird das deshalb auf einmal so klar bewusst, weil ich wirklich das Unter­ fangen wagen möchte, mit Hetty psychologisch zu arbeiten. Und ich denke daran, wie eindringlich S.s Blick immer auf das Gegenüber gerich­ tet ist, wenn er mit ihm spricht, wie er es mit diesem Blick umfasst. Und ich traue mich noch nicht so, jemand anderes anzuschauen, traue mich noch nicht, den anderen geradeheraus mit meinem Blick zu berühren, ich weiche dem anderen noch immer aus. Was ist denn das? Ich werde doch einmal S. fragen. Doch noch Unsicherheit und Schüchternheit. Ich merkte z. B. in einer der letzten Unterrichtsstunden, wie Hetty meinen Blick suchte, wirklich bewusst suchte, und wie sie auf einmal in einem suchen­ den Vertrauen ihr Gesicht und ihre Augen mir ausliefern wollte, und ich spürte, was das für eine starke Emotion für mich war und wie ich davor noch zurückschreckte. Was ist das denn eigentlich? Jetzt, wo mir dies be­ wusst wird, merke ich, dass das oft der Fall ist. Ich spreche mit vielen Menschen, dringe direkt in ihr Inneres ein, beobachte sie mit großer In­ tensität, und doch gehe ich ihnen irgendwie aus dem Weg. Da ist doch immer noch eine Art Überempfindlichkeit – Drrring, Telefon. Und nach 20 Minuten kommt Hans grinsend wie ein Affe herein und sagt: «Ja, wenn ihr euch 2 Stunden nicht gesehen habt, dann müsst ihr zwangsläufig wieder eine halbe Stunde telefonieren.» Das war wieder ein

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wohltuendes Gespräch.  – Und die gelben Blumen heißen Freesien, das wusste er einfach. Gute Nacht, müde Krokusse und kleine Tannenzapfen – wie lange lie­ gen die dort schon?  – und anmutige Freesien. Armer Han, eine halbe Stunde sitze ich da und rede temperamentvoll, humorvoll, ausgelassen und mit Wärme mit S. und währenddessen streichle ich ab und zu mit meiner Hand über seinen Kopf auf dem weißen Kissen. Ob ein solches Gespräch ihn jetzt stört? Ich mache es doch völlig offen und ohne schlechtes Gewis­ sen. Er kann einfach nicht verstehen, dass man sich immer so viel zu erzäh­ len haben kann. Dass diese Quellen einfach niemals versiegen! Dass sie immer wieder aufsprudeln und dass man sich gegenseitig immer wieder so viel erzählen muss. Und nun gehe ich ins Bett. Noch immer so ein Anflug einer Grippe, aber ich bewältige ihn bereits ordentlich. Gute Nacht, kleine Krokusse, ich gehe wieder in mein eigenes schma­ les Bett. Wie habe ich meine einsame Nacht doch lieb! Montagmorgen [23. März 1942], 9 Uhr. Guten Morgen, kleine Krokusse, es hat bei minus 2 Grad gefroren, schaut ihr deshalb so jämmerlich und trostlos aus in dieser SchokoladenstreuselDose? Aber die grünen kleinen Halme, die an euren müden Köpfen vorbei emporklettern, sind so jung und unternehmungslustig. Und es wird heute sicher schönes Wetter. Etwas über meine Träume. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich träume, aber als ich mitten in der Nacht wach wurde, wusste ich nur noch, dass ich davon geträumt hatte, was ich gestern Abend aufgeschrieben hatte, davon, dass ich mich noch nicht ganz traue, meine Mitmenschen anzublicken. Und ich schlief sehr zufrieden ein und hatte das Gefühl: So, an diesem Thema wurde zumindest wieder weitergearbeitet heute Nacht. Neulich auch, da wusste ich nur noch, dass ich mich in meinem Traum intensiv mit Leonies Problemen beschäftigt hatte, und auch dies ver­ schaffte mir das Gefühl, dass ich ihre Probleme zu immer größerer Klar­ heit in mir selbst führe, und aus dieser eigenen Klarheit heraus kann ich ihr dann wieder zu Hilfe kommen, und heute Nacht wurde folglich daran gearbeitet. Ich habe seit Langem nicht so konzentriert und so leidenschaftlich ge­ betet wie in diesen 5 Minuten heute Morgen im Badezimmer. Es kommt mir vor, als ob ich in eine neue Phase einer immer größer werdenden inne­ ren Konzentriertheit gelange. Und dies immer wieder als Reaktion, wenn

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ich wieder einmal durch Mark und Bein die Gefahren des Treibens ins Uferlose gespürt habe. Ich habe in diesem kurzen Gebet auch darum gebe­ ten: «Und lass mich nicht eitel sein.» Ich meine Folgendes: Es kommen immer mehr Menschen auf mich zu, die ihr Inneres vor mir entblößen und mit ihren Schwierigkeiten zu mir kommen, und es sind interessante und kostbare Menschen dabei, und ich muss dafür sorgen, dass meine ­Eitelkeit nicht geschmeichelt wird, dass diese Menschen auf mich zukom­ men. Auf irgendeine Art muss man die Dinge im Unpersönlichen be­ lassen. Jedes Mal wieder die Distanz schaffen und deutlich zu verstehen geben, dass es um das menschliche Problem geht, darum, Schwierigkeiten und Konflikte zur Klarheit zu führen, die nun einmal eine zufällige Bleibe in der ein oder anderen Person gefunden haben. Man beugt sich dann gewissermaßen gemeinsam über das Problem, mit Liebe und Sorgfalt – und man schafft nicht eine persönliche Bindung, wodurch auch wieder Kräfte auf falsche Art und Weise ineinander investiert werden. Vor allem bei so einem jungen, leidenschaftlichen Mädchen wie Hetty muss ich auf­ passen, dass es nicht eine zu starke persönliche Bindung wird. Ich sagte kürzlich zu S.: Ich finde sie so schön anzusehen mit diesem jungen, leidenschaftlichen kleinen Gesicht, und so ein schönes junges Mädchen inspiriert mich viel mehr, als wenn es nicht anziehend wäre. Woraufhin S. natürlich sofort sagte: «Ja, aber das darf nicht die Haupt­ sache sein und auch nicht der Ausgangspunkt.» Er selbst ist schon so weit, dass er auch den unattraktivsten Menschen, auch denjenigen, die er selbst überhaupt nicht gerne mag, mit Hingabe und mit derselben Liebe hilft wie denjenigen, die ihm nahestehen. Und so sollte das auch sein. Vor allzu großer Eitelkeit muss ich mich nicht fürchten, eine solche habe ich doch nicht in mir, aber ich muss es mir doch immer wieder be­ wusstmachen. Und man könnte an diesem frühen Morgen kaltblütig diese These aufstel­ len: Wenn der Künstler im Menschen nicht jedes Mal, nach jedem schöp­ ferischen Akt, von einem starken und ausgeprägten Charakter aufgefan­ gen wird, geht der menschenwürdige Mensch, der moralische Mensch – nicht der schöpferische Mensch, aber der auf die Dauer vielleicht auch, das sieht man am Wahnsinn und an der Trübung des Geistes, in denen so viele Künstler enden – vor die Hunde. Das Kunstwerk ist auch Gestaltung, aber von etwas anderem als der Persönlichkeit selbst.  – Zu kompliziert, um das jetzt auszuführen. Aber

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Trunkenheit, Exzesse, Wahnsinn und Melancholie bei Künstlern, ich glaube, dass ich dies fast bis zum Ursprung ihrer Entstehung nachempfin­ den kann. Je mehr schöpferische Kräfte bei mir in letzter Zeit frei werden, desto intensiver «nehme» ich mich ab und zu «zusammen», dann ist mir, als ob ich einen Moment lang die Zügel eines wild sich aufbäumenden Pferds sehr stark anziehen würde, und das Pferd bäumt sich weiter auf, aber die Spannung, die durch das Anziehen der Zügel entsteht, ist eine Freude an sich. Es gäbe noch viel darüber zu schreiben, aber jetzt muss ich mich wirk­ lich einen Vormittag lang Hettys Analyse widmen. 27. März ’42, Freitagmorgen, halb 11. Es ist mir in den letzten Tagen ein paarmal passiert, dass ich einen Augen­ blick lang – auf der Straße oder wo auch immer – atemlos stehen blieb und darüber nachdenken musste: Ist das wirklich mein Leben? So voll, so reich, so intensiv und so schön? Ich muss mich wieder einmal ganz still an meinen Schreibtisch setzen und kurz auf diese paar Tage zurückblicken. Und es geht noch nicht einmal um die Umstände und die Menschen, auch wenn diese spannend und farbenfroh und abwechslungsreich genug sind, sondern es geht um das ganze Lebensgefühl, um die stets größer werdende Intensität des Seelenlebens. Und darum, ob die Beziehung mit S., die ich bereits nicht mehr für «steigerungsfähig» hielt, noch stets voller und größer und reicher wird. Lass mich einfach aufschreiben, was mir zufällig einfiel: Als Liesl vor Wochen an diesem eiskalten Morgen in der Küche auf einmal «Etty» sagte, klang das, als ob sie eine Festung einnehmen würde. Und ihr Mann heißt Werner und sagte heute Morgen am Telefon: «Du bist wohl wahnsinnig geworden?» Das war wegen des Korbs weißer Hyazin­ then, die da schon bei seinem Frühstück standen. Es ist doch vermutlich so, glaube ich: Der Mann muss zu seinem eige­ nen Gefühl über den Umweg des Gefühls von uns Frauen gelangen. Bei Werner war das eigentlich so. Da war etwas sehr Sanftes und Zartes zwi­ schen all diesem Harten, Intellektuellen und manchmal fast Brutalen sei­ nes Wesens verborgen. Seine eigene Frau hat dieses Sanfte früher kaum wahrgenommen und glaubte nicht daran. Und sein Gefühl blieb ein ver­ kümmertes Pflänzchen, das nirgendwo geeigneten Boden fand, um darauf

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wachsen zu können. Und nun beginnt bei Liesl allmählich der Boden bes­ ser zu werden, sodass sein Gefühl Wurzeln schlagen und wachsen kann. Und wenn das Gefühl ganz und gar entwickelt ist, wenn es eine starke Pflanze geworden ist, dann wird es vielleicht auf jedem Boden gedeihen können. Aber es geht doch zuerst um uns. Durch seine große Gehemmtheit früher fühlte ich mich ihm gegen­ über gehemmt und ein bisschen verkrampft. Aber allmählich ist es bei mir so geworden, dass bei mir der Boden sich auch dazu eignet, sein Gefühl aufzunehmen. Folglich hat seine sanfte Seite da auch ein neues Gebiet gefunden, auf dem sie sich entwickeln kann. Und dadurch wächst all­ mählich wirklich diese schöne und menschliche Atmosphäre zwischen uns dreien. Aber dafür ist es notwendig, dass ich selbst nicht verkrampft oder unnatürlich bin, ich muss mich jedes Mal wieder ganz dem Innern zuwen­ den und dafür sorgen, dass das Gebiet, in dem andere sozusagen einen Unterschlupf für ihr Gefühl finden, für ihre Seele – um dieses große Wort einmal zu verwenden –, dass dieses Gebiet so breit und so «rein» wie mög­ lich ist. Und ich glaube, dass es mit diesen Menschen eine Freundschaft fürs Leben wird. Aber auch an einer Freundschaft muss man «arbeiten», «innerlich arbeiten». Es ist jetzt noch ein Tasten und Suchen nachein­ ander, und was auch wichtig ist: Achtung voreinander haben. «Daß wir euch kennengelernt haben, das betrachten wir wirklich als ein Zugeschenk»,

sagte Liesl gestern Nachmittag ein wenig verträumt. Die große Glasschale mit Spaghetti bleibt wirklich wie ein Denkmal in meiner Erinnerung bestehen. Nicht wegen des Essens, sondern wegen der ganzen Atmosphäre drum herum. Schade, dass ich nicht über die schrift­ stellerische Begabung verfüge, in ein paar Zügen diese Atmosphäre zu skizzieren. Das rührt auch daher: S. ist eine Welt für sich, immer wieder aufs Neue, immer wieder überraschend und anders und spannend. – Spä­ ter an diesem Abend noch kurz bei ihm hereingeschneit wegen der Hafer­ flockenkekse. Ich ließ ihn zuerst noch die Briefe von Adpana83 durch­sehen, ein ganzes Stück Vergangenheit von 1933 kam da wieder zum Vorschein. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich das alles erlebt habe, beziehungs­ weise kann ich es mir sogar sehr gut vorstellen, und alles, was ich je erlebt habe, ist immer bei mir geblieben und ruht sehr tief in mir, gut verarbei­ tet, und deshalb fühle ich mich vielleicht manchmal so gesättigt und so reich und so erfüllt und so voller Erfahrung. Und eine Sättigung, die mich nicht mehr nach neuen Abenteuern ­sehnen lässt, und dadurch, dass ich nicht mehr aufgeputscht bin, ist das

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Leben zu einem großen, unerwarteten, kontinuierlichen, inneren Aben­ teuer geworden, und jede Minute des Tages und der Nacht nährt gewisser­ maßen dieses Abenteuer. Und ich ruhe mich nun auch aus: manchmal zwischen zwei tiefen Atemzügen und manchmal, indem ich mich 5 Minu­ ten lang hinknie, irgendwo an einer zufälligen Stelle in diesem Haus. Und das, was ich erlebe, auch die erschütterndsten Erlebnisse, verarbeite ich an Ort und Stelle und im selben Moment. Das heißt nicht, dass ich das Erlebte dann gleich vergesse, sondern es fügt sich direkt und keineswegs widerspenstig in den großen Strom des Lebens ein, es fließt sozusagen direkt mit dem großen Strom mit und bil­ det nicht mehr wie früher Blockaden und Dämme und Verunreinigungen im Strom des Lebens. Folgendes muss ich Leonie noch sagen: dass sie sich mehr der unendlich vielen kleinen Wellen bewusst ist als des großen Stroms, als der einen großen Welle, die alle kleinen Wellen in sich auf­ nimmt. Und sie muss ein stärkeres Bewusstsein für diesen einen großen Strom entwickeln. Und so ist mein Lebensgefühl gegenwärtig: Mein Leben fließt wie ein großer, reicher, mächtiger Strom durch mich hindurch, genährt von un­ endlich vielen kleinen Zuflüssen – usw. «Und weißt Du, was angenehm ist», sagte S., als wir am Mittwochabend kurz unten im Büro waren: «Du bist auch nett um anzugucken.» Und etwas später: «Es ist doch ganz schön, daß wir uns gefunden haben.» Und ich: «Es war nicht nur schön, es war auch notwendig, es war schicksalshaft.»

Später dachte ich auf einmal, dass das eigentlich für seine Verhältnisse eine enorme Aussage war: «Du bist nett um anzugucken.» Er sagt dies im­ mer nur mit Blicken und streichelnden Gesten seiner guten Hände, aber in Worte fassen kann er es nicht. Und wir einfältigen Frauen hängen so sehr an Worten. «Es ist ganz schön, daß wir uns gefunden haben», war eigentlich für seine Verhältnisse eine große Liebeserklärung. Später an diesem Abend – es war immer noch derselbe Mittwoch zwi­ schen den Spaghetti und den Haferflockenkeksen – war es so eine helle Frühlingsnacht, sein Gesicht wirkte so jung im Mondlicht. Wir sprachen über die falsche Art der Liebe: glücklich und lebendig und fröhlich sein, wenn man bei der geliebten Person ist, aber vollkommen leer und lustlos sein, wenn man wieder allein ist. Und ich: «Es kommt mir manchmal vor, als ob ich dich, wenn ich nicht bei dir bin, noch viel mehr liebe, als wenn ich bei dir bin. Und früher drohte immer die Gefahr, dass es – wenn ich

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dich wiedergesehen habe – jedes Mal eine kleine Enttäuschung war, weil meine Fantasie dann immer wieder auf die ein oder andere scharfe Kante der Realität stieß. Aber das ist allmählich verschwunden. Ich habe das noch nie so erlebt in meinem Leben, dass ich jemanden so sehr liebte, auch wenn er nicht bei mir war.» Und er: «Das ist doch ein Beweis dafür, dass es eher Liebe als Verliebtheit ist.» Merkwürdig, dass es so schwierig ist, ein Gespräch wiederzugeben. Selbst wenn ich es mitstenografiert hätte, dann könnte dies noch nicht ausdrücken, worum es eigentlich ging. Einen Mond kann man nicht ste­ nografieren, das Gesicht eines 55-jährigen Mannes, das im Mondlicht so jung und zugleich verlebt wirkt, auch nicht. Und das, worüber wir spra­ chen, gehört doch eigentlich zu den drängendsten und tiefgründigsten Fragen dieses Lebens: die Beziehung zwischen Mann und Frau und zwi­ schen Mensch und Mensch. Und es dauert ein ganzes Leben, bis man die richtigen Worte für diese Gedanken und Gefühle findet. Aber ich würde immer so gerne ab und zu etwas von dem vielen festhalten, das zwischen uns an Gedanken gewechselt wird, um einen kleinen, sei es noch so ärm­ lichen Anknüpfungspunkt für später zu haben oder vielleicht einen klei­ nen Anhaltspunkt und Stimulus für Tage, die vielleicht leerer sein werden als diejenigen, die ich jetzt erlebe. Er sagte, dass dies vielen als Ideal er­ schien: ein Mann und eine Frau, die nur füreinander bestimmt sind, die vollkommen ineinander und in ihrer Liebe aufgehen. Und wir denken dies: Das ist doch eine Einschränkung. Es kommt kein «Zustrom» mehr von außen. Man nährt sich gegenseitig und dies führt auf die Dauer doch zu einer Verarmung. Wenn die Liebe zu allen Menschen nicht auf irgend­ eine Art und Weise mit im Spiel ist, führt dies auf Dauer doch zu Ver­ armung und Einschränkung. Und das leben wir, wirklich, das leben wir. Hertha stört mich nicht mehr. Sie ist jetzt oft bei uns in Gedanken. Bei einer der letzten kleinen Krisen sagte er: «Ich werde Sie die Briefe der Freundin nicht mehr lesen lassen, es ist doch eigentlich auch geschmacklos.»

Später wollte ich ihn bitten: «Lass sie mich doch einfach lesen, ich muss das vertragen können.» Und außerdem: Das Leben dieses Mädchens in London erlebe ich schon auf eine bestimmte Art und Weise mit, dass ich auch weiterhin mit ihr leben möchte, ungeachtet der Tatsache, ob sie seine zukünftige Frau ist oder nicht. Aber am Dienstag kam er von selbst schon wieder mit ein paar Briefen

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von ihr an. Ich las sie in der Straßenbahn auf dem Weg zu Lippmann und Rosenthal,84 später unterhielten wir uns über allerlei Dinge daraus. Und dieses Mal reagierte ich während keines einzigen Herzschlags falsch dar­ auf. Sie wurde wieder einmal gänzlich akzeptiert. Wie das später alles ir­ gendwann einmal funktionieren wird, weiß niemand, aber es ist gut, jetzt schon innerlich zu dritt zu leben, um es der Realität später einmal leichter zu machen. Und jetzt beginne ich wieder einmal in einem neuen Heft.

HEFT 6 27. März 1942–30. April 1942 27. März 1942–30. April 1942

27. März ’42, Freitagabend, halb 10. Ich habe es mit dem Füllfederhalter in die Handfläche meiner linken Hand gekritzelt: «Süßes Rindvieh.» Dass eine Frau so großen Wert auf Worte legt! Es rutschte ihm am Telefon heraus, als ich sagte, dass ich nicht mit nach Kuba1 gehen wolle. «Und in die Schweiz?» Und ich: «Ja, in die Schweiz würde ich schon mitgehen.» Und dann ließ er eben die Worte fallen: « ­ Süßes Rindvieh!» Und ich stürzte mich auf sie und sammelte sie auf und jetzt trage ich sie mit mir herum. Dass eine Frau so großen Wert auf Worte legt! Er hat mir einmal vor sehr langer Zeit gesagt: «Ich bin Frauen gegen­ über sparsam mit meinen zärtlichen Worten, ich weiß, dass sie sich zu stark daran festklammern, obwohl wir sie manchmal nur so dahinsagen.» Aber diese Worte waren doch eine unerwartete Kostbarkeit für mich heute Abend: «Süßes Rindvieh!» Kurz noch dieses Exzerpt über Rilke fertigstellen und dann ins Bett. Rainer Maria Rilke! Ich bin davon überzeugt, dass ich in 10 Jahren ­einen eindrücklichen Aufsatz über dich schreiben werde. Im Augenblick lebe ich einfach nur mit dir und genieße dich. Und S., der mir heute Abend am Telefon auf einmal auch einige Tage­ buchauszüge von Rilke2 vorlas. Und da erinnerte er sich plötzlich daran, dass er mir eigentlich einen Brief diktieren wollte. Und daraufhin habe ich ihm empfohlen, eine separate Sekretärin für die Briefe zu engagieren und mich für das Vorlesen von Gedichten aufzusparen, dass ich dann aber eine Lohnerhöhung verlangen müsste. Und so weiter. Und nach wie vor: Das Leben ist schön! Ich würde gerne allmählich pointiertere Worte dafür finden! – Später! Süßes Rindvieh.  – Ich Idiotin, ich echtes Rindvieh. Ich mit meiner Menschenliebe, die ich wichtiger finde als die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Und überdies: Es ist so viel zwischen uns, so viel unaus­ gesprochene Zärtlichkeit, so viel Verständnis und so viel Leben, warum

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stürze ich mich dann auf einmal auf ein paar lächerliche Worte und bin darüber so glücklich? «Süßes Rindvieh.» Heute noch: Klaas Schipper.3 Der auf seine Art doch irgendwie hel­ denhaft ist. Etwas später, anlässlich einiger Zeilen bei Klatt. «Du bist ein gefährliches Mädchen», sagte er gestern, nachdem wir ein wenig

in Dickys sonnigem Zimmer herumgetollt waren. Aber er fügte sofort hinzu: «Du bist eben so gefährlich und auch eben so ungefährlich, wie ich es selber bin.» Das fiel mir plötzlich ein, als ich diese Worte las: «Es ist notwendig aus diesem Zusammenhang zu verstehen, daß Rilke da­ von überzeugt war, daß Liebe nicht zu persönlichem Gewinn eine so führende Rolle spielt, sondern um uns hörender zu machen, wesentlicher, empfänglicher für die Stimmen von weither, daß alle die in der Liebe nur sich selbst und den 4

Geliebten meinen im Irrtum sind.»

Und dies wissen wir beide und dies leben wir beide. Und die Handlun­ gen, die es zwischen einem Mann und einer Frau geben kann, sind noch ein zusätzliches Geschenk, das uns in seltenen Momenten in den Schoß fällt. Mein Verlangen reift langsam, aber sicher zu seiner Erfüllung, dachte ich kürzlich während des Abwaschens. Und vielleicht sollte man von die­ ser Erfüllung keine bestimmte Vorstellung haben: Weshalb sollten das ­gerade ein Mann und ein Bett sein? Und doch muss es das sein. Und die Erfüllung ist dann, dass Körper und Seele dann eins sind, dass der Körper nur noch der Ausdruck der Seele ist und dass man es nicht um seiner selbst willen genießt. Mir scheint manchmal, dass dieser Abstand zwischen Körper und Seele bei uns mitunter nur noch sehr gering ist, und vielleicht wächst man doch noch zu einer Einheit zusammen? Gestern Nachmittag, als ich in Dickys Zimmer auf der Couch lag, um zu schlafen, und wusste, dass er jeden Moment nach oben kommen konnte, um mich zu wecken, da fühlte ich mich so mit ihm verbunden, und ich wollte auf ihn zustreben wie niemals zuvor. Mein Körper verlor all seine Befangenheit und Schüchternheit, die er immer gegenüber einem fremden Mann hat – denn als Mann ist er mir doch letztlich noch fremd. Ich würde gerne durch seinen Mund atmen, ich hatte das Gefühl, ganz eins mit ihm sein zu können. Und ich wollte nur, dass er nach oben käme und sich ganz ruhig neben mich legen würde und dass dann ein einziger Atem durch uns beide fließen würde. Aber zugleich wusste ich: Dieser

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Moment ist der schönste, wenn ich mich so frei fühle und so verbunden mit ihm. Wenn er gleich hochkommt, ist es natürlich doch ganz anders. «Ist es natürlich doch ganz anders», aber das muss auf Dauer doch nicht sein? Und als er nach oben kam und sich über mich beugte, begann ein sinnliches Spiel für ihn, wohingegen ich mich nur danach sehnte, dass mein Körper ausdrücken würde, was in meiner Seele vorging. Und er ent­ zog sich mir andauernd wieder und sagte mit einem Mal: «Finden Sie auch nicht, daß es viel schwerer ist sich zu beherrschen als sich gehen zu lassen,

Es war ein Spiel und er kämpfte zwischendurch noch weiter gegen die eigene Sinnlichkeit an. Und hinter­ her: «Du bist ein gefährliches Mädchen.» Und ich wollte überhaupt keine gefährlichen Dinge, ich wollte einfach nur ganz und gar in ihm ruhen und wollte, dass für einen Augenblick ein einziger Atem durch uns beide fließen würde. Und wenn ich sage: Mein Verlangen reift langsam zu seiner Erfüllung, dann weiß ich doch dies: dass er dereinst genauso das Bedürfnis haben wird, den Körper Ausdruck für unsere «seelische» Beziehung sein zu lassen, und dass wir einander in ­einem solchen Augenblick finden werden. Und nun gute Nacht, ich wollte überhaupt nichts schreiben. aber daß das erstere doch schöner ist?»

Samstagmorgen [28. März 1942], 10 Uhr. Manchmal erwache ich morgens mit einem fertigen Satz in meinem Kopf. Es sind dann ein paar Worte, die ich mitten in der Nacht in halbem Traumzustand leise vor mich hingesagt habe. Woher sie kommen, weiß ich nie so genau, aber am Morgen sind sie auf einmal wieder da und ich erinnere mich an sie. Heute Morgen, als ich schon eine Weile wach war, kamen mir auf einmal diese Worte aus der Nacht in den Sinn: «Es findet ganz langsam eine Akzentverschiebung vom Physischen zum Psychischen statt.» Und das bezog sich auf meine Beziehung zu S. Tagebuchschreiben ist eine Kunst, von der ich nichts verstehe. Es ist heute Morgen schon viel passiert. Der jüngste Mitarbeiter des Büros kam triumphierend mit drei illegalen Steckrüben an, die er bei Käthe gegen Sauerkraut eintauschte. Und ich hing schon in aller Frühe am Telefon, um S. zu informieren, dass er die paar Eier rechtzeitig bei Liesl abgeben sollte, weil sie sonst nicht mehr für das Abendessen verarbeitet werden könnten. Aber er hatte sich schon darum gekümmert, dieser an alles denkende und

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sich um alles kümmernde Mann. Muss ich solche Dinge etwa auch auf­ schreiben? Man könnte ganze Bände füllen und ich glaube, dass es später sehr spannend sein könnte, diese zu lesen. Aber lass nur andere dies auf­ schreiben. Und dann nahm ich mir vor einer Woche vor, am Ende eines jeden Tages in mein Tagebuch zu schreiben, mit welchen Menschen ich an die­ sem Tag gesprochen hatte. Aber das würde schrecklich viel Papier kosten. Und ergibt das viel Sinn? Manchmal ist mein Tag randvoll mit Menschen und Gesprächen und doch habe ich das Gefühl, in vollkommener Stille und Ruhe zu leben. Und dieser Baum vor meinem Fenster ist dann abends ein größeres Abenteuer als alle Menschen zusammen. Ich denke gelegent­ lich, dass so viel in meinem Leben passiert, so viele interessante Menschen, Bücher, Gespräche, Erlebnisse; schade, dass ich das nicht alles für später aufschreiben kann. Aber ja, dennoch liegt meine Realität ganz woanders. Ich glaube, dass ich einfach endgültig davon absehen muss, alles aufzu­ schreiben, was ich erlebe. Meine Realität ist woanders. Drei Stunden warten bei Lippmann und Rosenthal. Es war Schikane und Ausplünderung. Und dennoch? Ich war schon lange nicht mehr so intensiv und friedlich mit ihm zusammen gewesen wie ausgerechnet in diesen 3 Stunden Wartezeit. Alle aufgesparten, latent vorhandenen Kräfte und die gute Laune kamen mir da zu Hilfe und es war gerade so, als ob wir in diesen Stunden noch enger zusammengewachsen wären. Und überdies: Man erlebt viel und das Leben ist randvoll mit Erlebnis­ sen gefüllt. Und trotzdem? Man trägt in gewisser Hinsicht so eine große, fruchtbare Einsamkeit in sich, man trägt sie überall mit sich mit. Und manchmal ist das Grundlegendste eines Tages die Ruhepause zwischen zwei tiefen Atemzügen und die Selbstbesinnung in einem fünfminütigen Gebet. Zum Beispiel dieser Tag, an dem ich morgens den Ehering zu L. und Ros.5 bringen musste (wirklich eine erwähnenswerte Gegebenheit von his­ torischer Bedeutung: Dieser große Kerl zu dem kleinen jüdischen Mäd­ chen, also zu mir, noch einmal sehr nachdrücklich nach diesen 3 Stunden Wartezeit: «Kann ich also damit rechnen, dass Sie mir den Ehering ­morgen bringen?»), und an demselben Tag mit Liesl zu van Meerlo6 und danach ins Café de Paris mit Herbert Nelson und Sylvia Grohs7 und Dr. Levie, der zum ersten Mal «Werner» wurde (was erfreulich ist: Ich verliere ­meinen letzten kleinen Rest an Snobismus: Früher hätte ich das fabelhaft gefunden, einfach so mit «berühmten» Menschen Kaffee zu trinken und

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zu einem Theaterdirektor «du» zu sagen; aber all diese Arten von Reaktio­ nen zeige ich jetzt nicht mehr, es ist nur noch das Menschliche ohne die ganze Maskerade übrig geblieben und ich bin dankbar dafür, dass dies so ist), also Café de Paris und abends die Spaghetti, die auf diesen Seiten nun schon viele Male verewigt wurden, und dann hier die Unterredung mit Kroonder8 über das Buch von S. und dieses intensive Gespräch zwischen S. und mir anlässlich der aufgetauchten Jugendkorrespondenz und dann der Spaziergang durch die helle Nacht, ein Abend, an dem die tiefen Ge­ fühle zwischen uns noch weiter bekräftigt und vertieft wurden, und dann bei den Levies mit Weil, diesem Frankfurter Journalisten9 mit seinem gro­ ßen, intellektuellen Kopf und seiner unterernährten Seele und seinen hungrigen Augen, gerade wie ein zitterndes kleines Äffchen, und doch mit philosophischen Knötchen an seiner linken Hand («Er kommt aus einem materialistischen Milieu und hat das Materialistische ‹aufs Geistige über­ tragen›», sagte S., der in 5 Minuten sozusagen den Mann zwischen seine Hände genommen und aufgebaut hatte – er sagte auch noch: «Ja, wenn man so viele Schicksale wie ich täglich durch seine Hände gehen läßt, dann sieht man allmählich ganz klar vor sich, wie man jeden Menschen aufbauen muß, man sieht das Gebäude vor sich, aber die Steine und die Arbeit, dafür muß der Betreffende selber sorgen»; und als er da so mit seinen ausdrucks­ starken, gestikulierenden Händen saß und sagte: «Ja, wenn man soviele Schicksale durch seine Hände gehen läßt» – da war er gerade wieder groß­ artig), und dieser Weil irritierte mich kurz durch seine eigensinnige, intel­ lektuelle Besserwisserei, aber als wir draußen waren, sagte S.: «So ein armer Kerl!»

Und auch so eine kleine Äußerung macht mich wieder reifer. Also die Levies, und dann noch dieses kurze Stückchen bis zu S.s Haus, und dann bin ich durch die helle Nacht allein nach Hause gegangen, und dann noch bis halb 1 ein Gespräch mit Han, auch über den Briefwechsel mit Adpana und darüber, dass es doch so seltsam ist, dass etwas, das ich selbst schon längst hinter mir gelassen hatte, ihn immer noch störte. Das war also ein Tag, ein langer Tag. Und das Wichtigste? Das war doch, dass die Äste des Baumes vor meinem Fenster abgeschnitten wurden. Eine Nacht zuvor hatten die Sterne noch wie glänzende Früchte in den schwarzen Ästen gehangen und eine Nacht später kletterten sie  – noch unsicher – den kahlen, verwüsteten Stamm empor. Und ja, diese Sterne: Einige Nächte lang weideten ein paar zurückgebliebene, verirrte Sterne auf der verlassenen, weiten Himmelsfläche. Ein eindrückliches Bild: wei­

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dende Sterne! Aber so musste das dieses Mal ausgedrückt werden, da ist nichts zu machen. Ich drohte einen Augenblick lang sentimental zu werden, als die Äste abgeschnitten wurden. Und für einen Augenblick war ich tieftraurig. Und da wusste ich plötzlich wieder: Das neue Landschaftsbild, das da entsteht, werde ich wieder auf seine Art lieb haben. Und nun ragen diese 2 Bäume dort hinter meinem Fenster wie magere, imposante Asketen empor. Ges­ tern Abend waren sie wie zwei Dolchstöße gegen den hellen Himmel ge­ richtet. Und am Donnerstagabend war wieder Krieg vor meinem Fenster und ich schaute ihm von meinem Bett aus zu. Bernard «ließ» neben mir Bach «laufen». Und diese Stimme klang zuerst so kräftig und strahlend. Und dann plötzlich Flugzeuge, Flakgeschütze, Schüsse, Bomben, so dröhnend wie schon lange nicht mehr. Gleich um die Hausecke, schien es. Und auf einmal wurde mir deutlich bewusst, wie viele Häuser täglich auf der gan­ zen Welt über Menschen einstürzen. Und Bach lief tapfer weiter, aber es war nur noch ein sehr schwaches Stimmchen. Und ich lag da in meinem Bett und war so seltsam gelaunt. Leuchtkugeln entlang des bedrohlichen, kahlen Stamms vor meinem Fenster. Gedröhne. Und ich dachte: Jeden Moment kann hier ein Granatsplitter durchs Fenster kommen. Das ist doch möglich. Und es ist auch möglich, dass man viel Schmerz erleiden muss. Und doch war ich so völlig friedlich und dankbar gestimmt da in meinem Bett. Und ich akzeptierte – mit einem Gefühl der Reife und De­ mut – alle Katastrophen und Schmerzen, die mir noch widerfahren könn­ ten. Und glaubte fest, dass ich das Leben dennoch weiterhin schön finden werde, immer, trotz allem. Alle Katastrophen haben ihren Ursprung in uns selbst. Und weshalb gibt es Krieg? Vielleicht weil ich ab und zu die Tendenz habe, meine Mitmenschen anzufahren. Weil wir – ich und mein Nachbar und alle – nicht genügend Liebe in uns tragen. Und man kann den Krieg und all seine Auswüchse bekämpfen, indem man in sich selbst täglich, in jedem Augenblick, diese Liebe befreit und ihr eine Chance gibt zu leben. Ich glaube, dass ich einen Menschen niemals hassen könnte für das, was man seine «Niederträchtigkeit» nennt, mich selbst würde ich des­ wegen hassen; hassen ist ein zu starkes Wort hier. Man kann nicht relativ genug sein in dem, was man von anderen verlangt, und nicht absolut ge­ nug in den Forderungen, die man an sich selbst stellt. Ich glaube, dass ich deshalb auch keine Angst habe in dieser Zeit, weil alles, was passiert, mir in gewisser Hinsicht so nahesteht, egal, welch ungeheuerliche Dimensio­

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nen das manchmal auch annimmt, aber es hat doch seinen Ursprung im­ mer im Menschen und führt immer wieder zu etwas Menschlichem zu­ rück, und dadurch sind viele Verhaltensweisen für mich nicht beängstigend, weil ich sie weiterhin immer als etwas betrachte, was seinen Ursprung in den Menschen hat, in jedem Einzelnen, in mir selbst, und deshalb ist das alles verständlich und deshalb werden Verhaltensweisen niemals zu isolier­ ten Ungeheuern, die nichts mehr mit den Menschen zu tun haben. Ja, diese Bäume, ihre Äste hingen nachts manchmal unter der Last der Sternenfrüchte schwer nach unten und nun sind sie bedrohliche Dolch­ stöße gegen den hellen Frühlingshimmel. Und in ihrer neuen Gestalt in diesem Landschaftsbild wieder unsagbar schön. Ich erinnere mich an einen Abend an einer Amsterdamer Gracht, ein verträumter Sommerabend, schon sehr lange her. Visionär. Zerstörte Städte. Ich sah Städte versinken und neue Städte emporschießen und ich dachte: Bombardiert diese Welt nur kaputt, wir werden eine neue Welt auf­ bauen, und auch diese wird wieder vergehen, und trotzdem ist das ­Leben schön, immer wieder aufs Neue schön. Und es war wie eine Vision. Städte, die in Abgründe taumelten, und neue, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erhoben, und das Leben, das so schön ist. Und auch das Landschaftsbild des malträtierten Rotterdams. Wieder eine neue, bizarre Landschaft mit ihrem eignen Reiz, die man auch wieder lieb haben könnte. Wir Menschen beschwören selbst fürchterliche Zu­ stände herauf, aber weil diese uns selbst entsprießen, können wir uns auch immer wieder daran anpassen. Erst wenn wir so werden, dass wir uns nicht mehr daran anpassen können, dass wir innerlich verschiedene Zustände nicht mehr ertragen können, erst dann werden wir damit aufhören. Flug­ zeuge, die brennend aufprallen, haben noch ihren eigenen aufsehenerre­ genden Reiz für uns – selbst aus ästhetischer Sicht gibt es hier eindrucks­ voll etwas zu genießen –, obwohl wir wissen, ja, wir wissen, dass Menschen dabei bei lebendigem Leibe verbrennen, und solange dies noch so ist, so­ lange sich nicht alles in uns sträubt, solange wir noch Anpassungsmöglich­ keiten finden, so lange werden alle Missstände noch andauern. Bedeutet dies nun, dass ich niemals traurig bin, dass ich niemals aufbe­ gehre, alles einfach akzeptiere und stets das Leben unter allen Umständen preise? So ist es doch auch nicht. Ich glaube, dass ich alle Betrübnisse und alles Aufbegehren erlebe und kenne, die in einem Menschen sein können, aber ich bleibe niemals an einem solchen Moment hängen, ich bewahre

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solche Momente nicht auf. Sie fließen durch mich hindurch, so wie das Leben wie ein breiter, ewiger Strom durch mich hindurchfließt, sie wer­ den in diesen Strom mit aufgenommen und das Leben geht wieder weiter. Und dadurch bleiben immer alle Kräfte bei mir und stehen mir voll­ständig zur Verfügung. Deshalb bleiben meine Kräfte nicht an einer ohnmächti­ gen Traurigkeit oder Aufbegehren hängen. Und schließlich: muß man der Weltentraurigkeit nicht dann und wann eine

Und zu Ilse Blumenthal werde ich eines schö­ nen Tages vielleicht sagen: «Ja, das Leben ist schön, am Ende eines jeden Tages rühme ich es, obwohl ich ja weiß, dass Söhne von Müttern, so wie du auch eine Mutter bist, in Konzentrationslagern ermordet werden. Und du musst den Kummer darüber ertragen, du kannst dich darunter zermalmen lassen, aber du wirst dich doch auch wieder erheben. Der Mensch ist so etwas Starkes, und die Trauer darüber muss sozusagen ein Bestandteil von dir selbst werden, ein Teil deines Körpers und deiner Seele. Du brauchst nicht davor wegzulaufen, ertrage es, aber wie ein erwachsener Mensch, re­ agiere deine Gefühle nicht in Hass ab, der sich an allen deutschen Müttern rächen will, die ja jetzt, in diesem Augenblick, denselben Kummer über ihre umgekommenen und ermordeten Söhne ertragen müssen wie du. Diesem Kummer musst du in dir selbst allen Raum und eine Unter­ kunft verschaffen, die ihm gebührt, und auf diese Weise wird der Kummer in der Welt vielleicht abnehmen, wenn jeder aufrichtig und loyal und er­ wachsen das trägt, was ihm auferlegt wurde. Aber wenn du dem Kummer keine aufrichtige Unterkunft gewährst, sondern den meisten Raum dem Hass und den Rachegedanken bietest, aus denen wieder neuer Kummer für andere hervorgehen wird, ja, dann nimmt der Kummer auf dieser Welt niemals ein Ende und wird sich stets vermehren.  – Und wenn du dem Kummer den Platz eingeräumt hast, der ihm kraft seiner noblen Herkunft zusteht, ja, dann darfst du doch sagen: ‹Das Leben ist so schön und so reich. Es ist so, dass du an Gott glauben könntest.›» kleine Unterkunft verleihen?

Es ist inzwischen – nach der Tasse Kaffee (den wir gegenwärtig ganz an­ dächtig trinken, denn jeden Tag könnte es der letzte Kaffee sein) am Ofen mit Käthe und dem großen und dem kleinen Hans – schon halb 12 gewor­ den. Noch das Gespräch mit Hetty abtippen, so etwas ist wahnsinnig schwierig, und auf dem Programm stehen nun: der «Idiot», den ich lange im Stich gelassen habe, und Jungs «Wandlungen und Symbole der Libido»,10 zerknautscht und kaputtgelesen in S.s Bibliothek gefunden. Und um halb

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7 heute Abend S. und dann mit Glassner und S. zu den L.s. Bin gespannt auf Liesls Kochkunst, und dann abends noch Tide. Und morgen Nach­ mittag hier Musik. Und so weiter. Sonntagabend [29. März 1942], halb 10. Ich sage zu mir selbst: Nur ruhig, bitte, Kind, weshalb lässt du dich von einer Frau mit glatt gekämmtem Bubikopf,11 mit einer Hose und durch­ dringenden blauen Augen so erschüttern, die bei dir Russisch lernen möchte? Und ihre scharfe Freundin,12 die mich so gerne näher kennen­ lernen wollte, weil sie mich so «reizvoll» fand, was der Eitelkeit natürlich schon schmeichelt. Und dann die Spiegeleier mit gebratenem Speck. So etwas wird gegenwärtig zum Abenteuer und in Kürze schreibe ich in die­ sem Heft über nichts anderes mehr als Essen. «Eine richtige Freßwoche», sagte S. heute Mittag. Und der kleinen Frau Liesl erzählte ich heute Abend am Telefon, dass ich ihr Reiskunstwerk von gestern auch auf diesen Seiten verewigt habe, was ich hiermit tue. Und dieser glatte Bubikopf, der zu S. sagte: «Guten Tag, Bubi!» Und: «Du bist doch eigentlich ein Biest.» Und all diese Madonnen an der Wand und Christus und der alte Gobelin.13 Du bist doch eigentlich ein Biest. Und dieser telepathische junge Mann,14 der letzte Woche sagte: «Sie haben ­etwas Jung-Christliches, wenn Sie an die Reinkarnation glauben, würde ich sagen, Sie kommen aus der Zeit der Apostel.»

Und dieser «Haute Sauterne» von gestern Abend und seine «Hem­ die spürbar zunahm. Und meine enorme Ehrfurcht vor ihm, dass er bei dieser starken Sinnlichkeit in ihm, dieser überwäl­tigend starken Sinnlichkeit, die ich unter Einfluss des Weins – ach Gott: zwei Gläser – wieder auf allen Seiten sprießen fühlte, dieses Leben führt, das man eigentlich beinahe asketisch nennen kann. Jawohl, eine große Ehr­ furcht. Es gäbe ganz andere Dinge zu schreiben. O, meine Ungeduld, wegen der ich noch nicht schreiben kann. Und heute Abend noch diese Ergriffenheit wegen dieser unerwartet blauen Augen von heute Nachmittag und dieses merkwürdigen Gesichts, das etwas ganz Neues für mich war. Und plötzlich hatte ich mich wieder hinter meinem Schreibtisch verschanzt und zufälligerweise sprang mir dieser Ausschnitt aus Rilkes Briefen in die Augen: mungslosigkeit»,

«… wird es mir offenbar, daß ich ihm, Rodin, folgen muß: nicht in einem bildhauerischen Umgestalten meines Schaffens, aber in der inneren Anordnung

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Tagebücher des künstlerischen Prozesses; nicht bilden muß ich lernen von ihm, aber tiefes Gesammeltsein um des Bildens willen. Arbeiten muß ich lernen, arbeiten, Lou, das fehlt mir so! II faut toujours travailler – toujours – sagte er mir einmal, als ich ihm von den bangen Abgründen sprach, die zwischen meinen guten Tagen auf­ getan sind.»

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Und auf einmal wusste ich es wieder und die Ruhe und der Ernst, die sich ja nie mehr so weit von mir entfernen wie früher, auch nicht in den emotionalsten Momenten, überkamen mich wieder. Ich sah mich mal so an meinem Schreibtisch um. Da lagen ein paar Bände mit Rilke-Briefen, ich möchte sie gerne systematisch und innerhalb nicht allzu langer Zeit gründlich durchlesen. Da lag das gerade begonnene Werk von Jung. Dann der «Идиот»16 von Dostojewski, der gründlich – was sowohl Sprache als auch Inhalt betrifft – studiert werden will; es ist die zunehmende Anzahl Schüler, die mir wieder die Verpflichtung auferlegt, die Sprache immer gründlicher und besser zu lernen. Da ist einerseits die Arbeit von S., das ständige Verfügbarsein für S., die Aufgeschlossenheit ihm gegenüber und das Mitfühlen, und von ihm kann man immer etwas lernen, immer wie­ der etwas lernen – aber andererseits will ich mein Russischstudium nicht zu kurz kommen lassen. Es gibt immer noch meine zweite Heimat, die Literatur, durch die ich meine Streifzüge unternehme. Und die Menschen, die Freunde, die vielen Freunde, zu fast niemandem mehr hat man eine zufällige Beziehung, zu allen hat man eine ausgeprägte und doch immer wieder anders nuancierte Beziehung, man darf dem einen nicht um eines anderen willen untreu sein. Man hat nicht mehr verschwendete und lang­ weilige Minuten, man muss immer besser lernen, sich zwischen zwei tie­ fen Atemzügen oder in einem kleinen fünfminütigen Gebet auszuruhen, man muss trotz der vielen Menschen, der vielen Fragen, des vielseitigen Studiums immer eine große Ruhe in sich tragen, in die man sich stets zu­ rückziehen kann, auch inmitten der größten Betriebsamkeit und mitten im intensivsten Gespräch. Man muss immer wieder aufs Neue Kräfte aus sich selbst schöpfen. Ich war nicht nur aufgewühlt durch die zwei Frauen, es kam auch viel Eitelkeit hinzu: Die kleine flotte Hagen,17 die so lustigoffenherzig zu mir sagte: «Bei diesem Kurs da bist du mir sofort aufgefal­ len, du warst doch die einzige ‹bemerkenswerte› Person.» Und noch nicht einmal Eitelkeit darüber, sondern vielleicht eher ein Gefühl des Übermuts, dass sich mir eigentlich alle Arten von Menschenschlag erschließen, dass mir kein Mensch mehr fremd ist, dass ich den Weg zu Menschen der ­unterschiedlichsten Art finde. Und letztendlich doch auch keine Eitelkeit,

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sondern Freude über all die verschiedenen Arten von Menschen, immer mehr unerwartete und niemals erahnte Landschaften von Gesichtern und die Freude darüber, dass ich stets den Weg zu all diesen verschiedenen Menschen finden kann. Und es kamen mir wieder die Worte in den Sinn, die ich schon vor Monaten in eines dieser Hefte für mich aufgeschrieben hatte, bis sie in gewisser Hinsicht wirklich in mir lebten: Stetig, beständig, geduldig. Und heute Abend fand ich es nötig, mir diese Worte wieder einmal vor Augen zu führen. Es gibt so viel Arbeit; nur wo das hinführen wird, weiß ich nicht. Und jetzt muss ich noch dies von Rilke notieren: «… in einem Gedicht, das mir gelingt, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung oder Zuneigung, die ich fühle. Wo ich schaffe, bin ich wahr, und ich möchte die Kraft finden, mein Leben ganz auf diese Wahrheit zu gründen, auf diese unendliche Einfachheit und Freude, die mir manchmal gegeben ist.»

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[Dienstag], 31. März [1942], morgens 9 Uhr. An einem solchen Tag wie heute muss ich äußerlich konzentrierter leben denn je, um mich innerlich zusammenzuhalten. Bauchschmerzen, Unlust, leichte Grippe und ein großes Programm. An einem solchen Tag sollte man jedoch nicht allzu stark darüber nachdenken, wie man sich eigentlich fühlt und was man denn nun vom Leben hält, all die kleinen Handlungen eines solchen Tages müssen haarscharf aufeinanderfolgen, sodass der ­Unlust kein allzu großer Raum zugemessen wird. Man nimmt die Dinge dann auch schwerer. Ob das wohl etwas Ernstes ist, diese Steuergeschichte von S.?19 Und dann belastet es mich auf einmal so sehr: So ein wahnsinnig strenger Tag, den er heute hat, und dann noch die Sorgen wegen der Rechtsunsicherheit. Weil ich an einem solchen Tag dann selbst nicht viel ertragen kann, fürchte ich, dass er auch weniger ertragen kann. Und dass dieses Telefongespräch mit Liesl vom Sonntagabend mich so irritiert! Ich glaube, dass ich doch kurz mit ihr darüber spreche. Es war so dumm und so sensationslüstern zu sagen: «Liesl, ich habe eine neue Schü­ lerin, eine Lesbe.» Und Liesls Stimme erstarrte und sagte: «So, ist sie jung?» Nun ja, sie war so saublöd von mir, diese Unterhaltung. Das rührt daher, dass ich so stark von diesen Madonnen beeindruckt war, von die­ sem alten Wandteppich, von den Spiegeleiern mit Speck, von diesem samtschwarzen schlanken Persönchen mit der schweren Kette aus grünen

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Perlen und von diesem Jungen mit ihren strahlend blauen Augen, die zu S. sagte: «Hallo Bubi, Du bist doch eigentlich ein Biest.» Auch das erzählte ich Liesl am Telefon. Im Nachhinein dachte ich: Doch weit unter meinem Niveau, so etwas. Aber weshalb stört mich das so schrecklich? Weil mich an Tagen wie diesem – direkt vor der Menstruation – alles stärker stört als an gewöhnlichen Tagen? Also: Zuerst einen vernünftigen Essay über Kants Imperativ20 erstel­ len, dann S.s Jugendkorrespondenz lesen, ich hätte mir gerne einen fröh­ licheren Moment dafür ausgesucht, jetzt habe ich darauf überhaupt keine Lust, dann eine Stunde unterrichten und eine Braune-Bohnen-Konfe­ renz21 abhalten, dann mich um den Lunch kümmern und dann Leonie, dann versuchen, ein Stündchen zu schlafen, probieren, vor 3 Uhr Liesl abzuholen, und ihr kurz mein Herz ausschütten – Freundschaft ist nicht etwas, das einfach so da ist, immer wieder aufs Neue muss etwas durch die vielen Momente und Stimmungen des Alltäglichen hindurch gedeihen, und sie muss immer etwas Festliches bleiben. Dann Kurs bis 5 Uhr. Dann nach Hause, noch ein wenig mit Leonie plaudern, darauf freue ich mich doch eigentlich immer, dann zu dritt bei Geiger essen und heute Abend Mischas Konzert, Leonie wird hier schlafen, es wird also spät werden. Ein schöner Tag. Tide wird wohl beten: «O Vater, sorge dafür, dass S. keinen Ärger mit der Steuerbehörde bekommt!» So etwas kann ich nicht. Ich käme mir selbst total lächerlich und profan vor. Ich neige meinen Kopf tief nach unten und fühle mich so niedergeschlagen. Ist das einfach nur dieser m ­ onatliche Bauch? Und jetzt an die Arbeit, mein Kind. Organisiere dei­ nen Tag so, dass möglichst nichts dazwischenkommen kann. Mittwochmorgen [1. April 1942], 11 Uhr. Was mich gestern Abend am meisten beeindruckt hat? Der kleine Globus oben auf dem Bücherregal, der so klein war, dass ich den ganzen Globus mitsamt Ozeanen und allem Land zwischen meine zwei Hände hätte ­nehmen können, der noch kleiner war als die lächerliche, kleine orange Lampe, die über Mischas maskenhaftem Kopf und dem rot lackierten Flü­ gel hing. Und meine Reaktion auf Mischa und seine Musik? Auf einmal mitten im Beethoven ein verzweifeltes Mitgefühl für  – meinen kleinen Bruder. Und was hilft das alles und was bringt dir dein brillantes Spiel und das entzückte, wenn auch sehr sensationshungrige Publikum, solange da dieser Leidenszug um deinen schmerzverzerrten schwachen Mund ist? So

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ein armer Junge! – Es ist wirklich so, wie Leonie sagte: Man kommt gar nicht dazu, die Musik zu genießen, weil man sich immerfort fragt, was sich eigentlich hinter diesem Flügel abspielt. Was für ein Drama, was für ein Phänomen. Und S.s Gesicht, das mir irgendwann nach der Pause in der Ferne gegenüber war – so bleich mit den transparenten, nun wieder beinahe hellgrünen Augen mit diesem enorm großen Mitleid darin. Und was auch bedeutsam war: wieder etwas Liebenswürdiges und Sanftes und «Aufgeschlossenes» in Werners Gesicht. Und ich sagte irgendwann zu Liesl so ganz nebenbei: «Hör mal, nach­ dem ich dich Sonntagabend angerufen hatte, hatte ich so ein unangenehmes Gefühl, weil ich soviel Blödsinn geredet habe.»

Und dann sagte sie: «Davon

erinnere ich mich gar nichts und wènn das mal so wäre, daß du das tätest, das würd mich nur freuen können.»

Es tut gut, wieder einmal für einen kurzen Augenblick die Leere und Unlust in sich zu spüren, nur um sich zu erinnern, wie es früher einmal war und wie es jetzt ist. Am Montagabend beim Zubettgehen sagte ich: «Nein, Gott, heute kann ich dich nicht loben, ich fühle mich wirklich nicht glück­ lich.» Dieser Baum vor dem Haus war einfach nur ein lebloses Stück Holz, das in einen öden Himmel ragte. Aber dieses Gefühl von: «Nein, ich bin wirklich nicht glücklich», dauerte nur einen kleinen Augenblick. Gestern Vormittag schien der Tag so schwierig zu beginnen. Aber nach einer Stunde ruhigen und vertieften Arbeitens war alles schon wieder gut. Und dann dieser Enkhuizener mit seinem netten Geschenk, den braunen Bohnen und der angebotenen Gastfreundschaft, der nach dem Unterricht so rüh­ rend für mich ein selbst gebackenes Weizenbrot mit Käse hervorholte und sagte: «Kosten Sie das einmal» – sicherlich denkend: «Dieses Schaf verreckt bestimmt vor Hunger» –, und sich selbst eine Pfeife anzündete. Und dann plauderten wir einfach noch ein wenig. Und danach Leonie. Dass diese «Übertragung» von ihr auf mich so schrecklich stark ist! Vielleicht lebe ich doch zu arglos und zu unbewusst mit meinen Mitmenschen, vielleicht gehe ich zu stark davon aus, dass alle innerlich genauso frei sind wie ich selbst. Aber an dieser «Übertragung» muss gearbeitet werden. «Du, mein Geliebtes, meine heißgeliebte unbezahlbare psychologische ­Privatuniversität, ich habe wieder viel mit Dir zu besprechen und von Dir zu lernen.»

Gestern Abend, als ich dort saß, unter dem Diktatorenkopf 22 des ver­ storbenen Kreuzherrn und gegenüber dem Goldfisch, der sich niemals

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e­twas zu Herzen nimmt und wirklich ein großartiges Vorbild dafür ist, seinen eigenen Weg zu gehen, – da – da war es auf einmal wieder so merk­ würdig: Ja, dort sitzt Adri, dachte ich, und dort Tide und dort die Levies und dort S. und Leonie zu meiner Linken und mein Bruder hinter dem Flügel, all meine guten Freunde um mich herum, und ich spürte diese große Verbundenheit mit jedem wieder auf eine andere Art und Weise, die dennoch keine Gebundenheit war. Und dadurch innerlich so viele freie Kräfte. So eine ganz große innerliche Freiheit und Unabhängigkeit und ich fühle mich so sehr geborgen und glücklich und stark darin. Und jetzt verwöhne ich mich vor der Kaffeepause für eine Stunde mit Rilke-Briefen, das ist ja auch arbeiten. Und wenn ich nun Worte finden müsste, die meine Stimmung in diesem Moment ausdrücken, dann borgte ich sie mir einstweilen wieder von einem anderen und greife nach den Briefen «an den jungen Dichter» und lese zum x-ten Mal dieselben Worte und habe auch wieder das Bedürfnis, sie noch einmal abzuschreiben (bis ich die eigenen Worte gefunden habe? Ja – [drei unleserliche Worte] –, Jaap sitzt am Ofen, er kam unterdessen ­herein, Strümpfe gestopft, geplaudert und nun doch noch kurz dies aufschreiben –): Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts. Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!

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Dies spüre ich sehr stark in letzter Zeit: Es entstehen «Leitmotive» in mei­ nem Leben. Ein Leitmotiv, das immer wieder auftaucht, das nach chao­ tischen oder müden oder verwirrenden Momenten immer wieder da ist, und immer wieder taucht da plötzlich ein neues «Leitmotiv» auf. Etwas später. Ich muss doch noch lernen, mich besser auf andere einzustellen. Leonie habe ich mit dieser Beschreibung des Mädchens mit dem Kopf eines Jun­ gen, mit diesen blauen Augen und der Männerkleidung zwischen diesem alten Wandteppich und der Madonna verwirrt. Sie habe sich dann – er­ zählte sie im Nachhinein  – wie ein Fräulein aus bürgerlichem Hause ­gefühlt, das mit diesem Leben nicht mithalten könne.

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Und weshalb erzähle ich Jaap eigentlich, dass ich die nächtlichen Pro­ ben des jüdischen Theaters24 besuchen werde und dass ich durch Henriëtte Davids25 ein Buch erhalten habe usw. Das beunruhigt ihn vielleicht. Ist da von meiner Seite aus doch Angeberei dabei, ein wenig Aufsehen erregen und Prahlerei: «Was habe ich doch für ein ‹interessantes› Leben», obwohl ich doch selbst weiß, dass ich meine letzten Reste an Snobismus verloren habe – oder etwa doch noch nicht, wenn ich das Bedürfnis habe, von ­diesen Dingen zu erzählen? Es ist richtig, man muss über irgendetwas sprechen und man kann nicht jedermann erzählen, dass man eine innige Freundschaft zu einem Baum hinter der Fensterscheibe hat. Aber man muss doch immer anfangen, sich zu fragen, was ein anderer bewältigen kann, und dies auf alle Fälle bei Menschen labiler und problematischer Art. Nicht nur «in-sich-hineinhören», sondern auch in andere hineinhören. Und solange um einen selbst herum noch so viel Lärm und so viele Ge­ räusche sind, die von einem selbst ausgehen, so lange ist es für viele auch schwierig, sich einem zu nähern, außer für diejenigen, die dahinter blicken und die die Unterströmung, den Lebensstrom immer spüren, der dort in der Tiefe immer weiter fließt. Aber man sollte es seinen Mitmenschen nicht immer zu schwer machen. Und nicht zu arglos und unbewusst im Umgang mit sich selbst und seinen Mitmenschen sein, sich doch mehr auf sie einstellen und wissen, was ein jeder von einem selbst aufnehmen und verarbeiten kann. Ich möchte noch kurz etwas aus einem Brief von Rilke aus dem Jahr 1902 abschreiben. «Man fühlt auf einmal, daß es in dieser weiten Stadt Heere von Kranken gibt, Armeen von Sterbenden, Völker von Toten. Ich habe das noch in keiner Stadt gefühlt, und es ist seltsam, daß ich es gerade in Paris fühle, wo (wie Holitscher

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schrieb) der Lebenstrieb stärker ist

als anderswo. Lebenstrieb ist das – Leben? Nein – Leben ist etwas Ruhiges, Weites, Einfaches. Lebenstrieb ist Hast und Jagd. Trieb, das Leben zu haben, gleich, ganz, in einer Stunde. Davon ist Paris so voll und darum so nahe am Tod. Es ist eine fremde, fremde Stadt.»

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Langsam, aber sicher sauge ich in den letzten Monaten alles in mich auf, diesen Mann und sein Werk und sein Leben: Rilke. Und dies ist vielleicht die einzige gute Art und Weise, sich mit Litera­ tur, dem Studium, Menschen oder was auch immer zu beschäftigen: sich vollsaugen, ganz langsam, es unten drin in sich wachsen lassen, bis es in gewisser Hinsicht ein Teil von einem selbst wird. Auch das ist ein Wachs­

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tumsprozess. Alles ist ein Wachstumsprozess. Und zwischendurch immer wieder Ergriffenheit und Empfindungen, die wie ein Blitz einschlagen. Aber doch das Wichtigste: das Wachsen, der organische Wachstumspro­ zess. Und dann: das plötzliche Vorhandensein von «Leitmotiven». Und sehr, sehr bescheiden sein und sehr, sehr einfach sein. Und immer wieder: sehr bescheiden sein  – und immer einfacher werden. Sehr, sehr einfach werden und sein und leben. Nicht nur für sich selbst in seinen stillen und besten Momenten die Einfachheit und Weite in sich fühlen, sondern auch im täglichen Leben, keine Empfindungen um sich herum verbreiten, nicht interessant sein wollen, darauf verzichten – ehrlich und vielleicht nach einem inneren Kampf  –, von der Außenwelt interessant gefunden werden zu wollen, sondern die Einfachheit wirklich in seinem Leben und in seiner Umgebung verwirklichen. Ja, wirklich sehr beschei­ den und einfach sein und warten und offen sein und wachsen lassen und auch arbeiten! Ja, arbeiten. Es spielt in deinem Fall nicht einmal eine Rolle, was, du hast deine feste Heimat bezüglich der Arbeit noch nicht gefunden, aber ob es nun russische Übersetzungsübungen sind oder Dos­ tojewski oder Jung lesen oder das Führen eines Gesprächs, das alles kann doch arbeiten sein. Und darauf vertrauen, dass alles zusammengeführt wird und alles irgendwohin führt. Darauf vertraue ich ja schon längst. Arbeiten und Handlungen, die ineinandergreifen und ineinanderfließen, und keine vergeblichen Lücken dazwischen und viel stetes und beständi­ ges Arbeiten. Und sehr, sehr bescheiden sein. nachmittags 4 Uhr. Mitten in diesem Telefonat von eben sagte er auf einmal: «Der Frühling ist Ihnen wohl in die Glieder gefahren?» Und dann sagte ich: «Ach nein, ich bin eigentlich so ein vernünftiges Mädchen, wissen Sie, daß ich immer vernünf­ tiger werde?»

Und dann sagte er: «Ja, wie Sie da gestern mir auf dem Kon­

zert gegenüber saßen, mit Ihrem Gesicht an die Wand gelehnt, da haben Sie mir so gut gefallen!» – «Und Sie mir auch»,

schrie ich sofort begeistert. «Er­ Und dann

zählen Sie mir erst mal, warum ich Ihnen so gut gefallen habe.»

sagte er: «Sie hatten solche ernste, expressive Augen und waren überhaupt so schön.» Ich weiß eigentlich nicht mehr genau, was er sagte, aber dies habe ich behalten: «solche ernste, expressive Augen». Und auch, dass er gedacht hatte: «Es ist doch schön einen Menschen zu haben, mit dem man so steht, so vertraut und so freundschaftlich und dass auch dieser ‹Reiz› hinzukommt.»

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Und dann folgte noch etwas Frühlingshaftes, das von ihm  – wie ich glaube – wie eine besondere Liebeserklärung gemeint war. Er sagte: «Gut, daß Sie nicht hier sind, sonst würden Sie sich sofort auf mich stürzen. Wissen Sie, es gehen manchmal solche kleine Lichtbilder in einen hinein, die sich in einem festsetzen. Gestern da hatten Sie irgendwann Ihr Bein so in die Höhe gezogen, daß man ein Stückchen sah zwischen dem Bein und dem Unterleib und das hat mir so gut gefallen, das muß ich mir nochmal näher ansehen. Das

Und ich: «Es ist doch schön, daß das auch da ist, aber man muß wissen, daß das nicht die Hauptsache ist.» Und dann erzählte ich, wie ich vor einigen Tagen morgens mit diesem Satz im Kopf aufgewacht bin: «Es findet eine langsame Akzentverschiebung vom Körperlichen zum Geistigen statt» – und dass sich dies auf die Freundschaft mit ihm bezog. Und dies ist auch zu einem Leitmotiv geworden, an dem ich festhalte: Ich möchte mit ihm zusammen sein, wenn der Körper Ausdruck der Seele ist, und nicht nur um des Körpers willen. Und darum war ich an diesem Samstagabend,28 an diesem Abend der «Haute Sauterne», so froh, dass ich nicht mit ihm allein war. Er hätte sich auf mich gestürzt, so wie er sich an diesem Abend auf jede Frau gestürzt hätte, alle Sinne waren durch den Wein «entfesselt». Und so möchte ich ihn nicht mehr. Früher schon. Die Sinnlichkeit regte damals meine Fantasie an, und ich wollte ihn schon nur als Liebhaber. Jetzt nicht mehr. Ich weiß, wie schnell die Grenzen der kör­ perlichen Möglichkeiten erreicht sind. Ich will seinen Körper nur, wenn wir dadurch etwas von unserer Freundschaft ausdrücken können. Sonst will ich ihn nicht. Das verbleibende, rein körperliche Verlangen kann ich schon kontrollieren. Dadurch, dass ich schon so viele Jahre lang so inten­ siv körperlich gelebt habe, ist bereits große Ruhe in mir eingekehrt und ich muss nicht mehr – koste es, was es wolle – nur den Körper befrie­ digen – und ich bin sehr dankbar dafür, dass es so weit gekommen ist. Ich will ihn schon, aber dann muss zwischen Körper und Seele eine Harmonie bestehen, darauf arbeite ich hartnäckig hin, und ich werde mit Geduld, Umsicht und Selbstbeherrschung diejenigen Berührungen zu vermeiden versuchen, die nicht so vollkommen und so harmonisch sein werden, wie ich das möchte. Und wenn wir diese Harmonie nicht erreichen? Ich weiß ja, dass dies manchmal ein einzelner Moment der Gnade ist, der fast nie erreicht wer­ den kann. Wenn man danach strebt, erreicht man ihn vielleicht doch! Und andernfalls? Ich bin schon milde gestimmt, auch wenn es nicht ge­ lingt. hat mich sehr gereizt.»

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Er, dieser Treue, Ausdauernde, wird Mischa anlässlich des gestrigen Abends wieder schreiben. «Es ist doch ein Jammer von dem Jungen. Er hat alles: ein fabelhaftes Gedächtnis, eine Musikalität, Virtuosität. Aber er steigert sich im­ mer mehr in das letztere hinein. Wird vergöttert und bewundert, arbeitet nur an der Virtuosität, nicht an sich selbst. Er muß einen Mentor haben, so ein Junge kann sich selbst nicht übersehen. Es tut mir so leid um den Jungen.»

weiter.

Und so

Es tut gut, alles mit einer reiferen, erfahreneren Person zu besprechen. Man darf eigentlich keine Dinge in sich weiterwuchern lassen. Ich merke manchmal, wie er mich in den kleinsten Dingen doch immer wieder führt und wie er übertriebene Ideen mit einem einzelnen Wort in eine andere Bahn lenkt oder korrigiert. Gerade noch über Leonie gesprochen. Es läuft eigentlich darauf hin­ aus, dass sie wahnsinnig eifersüchtig auf mich ist, dass sie eine Rivalin in mir sieht, dass sie gerne genauso wäre wie ich und dass sie mich sehr lieb hat. Ich muss ihr helfen, von mir loszukommen. Möglicherweise gelingt mir dies am besten, wenn ich in unserer Freundschaft den «stützenden», empfangenden Part übernehme und wenn ich nicht von mir selbst er­ zähle, was sie beunruhigt und belastet, und wenn ich meine literarische und plastische Art, von Dingen zu erzählen, einfach unterlasse. Ich fragte ihn: Ist es vielleicht überhaupt falsch, die Dinge so plastisch und episch zu erzählen, wie ich es mache? Und da sagte er, dass ich schon aufpassen müsse, wem gegenüber ich dies tue, dass er sich über meine Geschichten stets köstlich amüsiere, auch wenn er sie nicht ganz so ernst nehme. Usw. usw. Und auch dies noch über Leonie: furchtbar exaltiert, und auf der ande­ ren Seite: sehr gescheit. Sehr schwieriger Fall. Und die vielen Komplexe. Es erscheint mir manchmal wie eine Kloake, aus der immer mehr Mist herauskommt. Aber ich muss mein Verhalten ihr gegenüber doch korri­ gieren, ich muss mich zurückstellen und darf sie nicht mit meinen Erzäh­ lungen und Geschichten beunruhigen. Und noch etwas aus einem Brief von Rilke: «… Aber vor allem die Arbeit. Was man bei Rodin fühlt: sie ist Raum, sie ist Zeit, sie ist Wand, sie ist Traum, sie ist Fenster und Ewigkeit … Il faut travailler toujours  … Neulich, Sonnabend, sagte er das, und wie er das sagte, so tief überzeugt, so schlicht, so aus der Arbeit heraus, – es war nur wie ein Geräusch und ein Rühren seiner Hände.

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27. März 1942–30. April 1942 Oh, wenn ich – … – wirklich jung bin (1903, … werde ich 28! … das ist sehr, sehr viel …), aber wenn ich es trotzdem bin, dann soll um mich auch einmal nichts als Arbeit sein, und es soll nicht mehr aufhören, so zu sein. Dann soll das nicht mehr Leben heißen sondern: Arbeiten. Werde ich es können? …»

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Ich erinnere mich immer wieder daran, wie ich in meiner frühen Stu­ dentenzeit abends durch die Straßen lief, die Hände zu Fäusten geballt in den Taschen meines Mantels, meinen Kopf tief in den Kragen eingezogen, und wie ich sagte: «Ich will arbeiten, ich werde arbeiten» – und dann kam ich nach Hause und war so völlig erschöpft von diesem Arbeitenwollen, sodass ich keine Kraft mehr hatte, um wirklich zu arbeiten. Und so ist das jahrelang gewesen. Adpana rief einmal einem wegfahrenden Zug nach, in dem ich saß und nach Deventer fuhr: «Arbeiten sollst Du, kleines, arbeiten, immer arbeiten.» Und ich hörte dann in den Rädern des Zugs diesen Rhythmus: Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Und zu diesem Thema schrieb ich ihm einen rührenden Brief, aber gearbeitet habe ich auch in diesem Jahr nicht. Weil ich es nicht konnte. Jetzt im Nachhinein kann ich schon ver­ stehen, weshalb das alles so war. Und nun? Neben dem Willen liegt direkt die Möglichkeit zur Verwirklichung, der Wille fließt mühelos in die Tat über, die Barrieren, die ich früher nicht überwinden konnte, sind durch­ brochen. Und ich sage auch nie mehr: «Ja, aber ich habe meinen ‹Bereich› noch nicht gefunden.» Ich leide nicht mehr, weil ich noch kein «Instru­ ment» und noch kein «Objekt» gefunden habe, wie S. einmal sagte. Es geht nur noch um «tiefes Gesammelt sein um des Bildens willen». – Und ob ich jemals etwas «bilden» werde, auch das weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass man auch, ohne jemals ein einziges Wort zu schreiben oder ein einziges Bild zu malen, «bilden» kann, auch wenn es nur das eigene Innenleben ist. Und auch dies ist eine Handlung. Und doch frage ich mich manchmal, ob ich mich nicht auf das Finden von Worten und auf die Form meiner Gedanken und Gefühle konzentrie­ ren müsste. Ich bin darin eigentlich so bequem und müßiggängerisch und finde es noch so schwierig. Genieße die Menschen und die Dinge noch zu viel. Müsste vielleicht schon versuchen, sie in der Form einzufangen, unter Schweiß und Tränen sozusagen. Habe natürlich noch Angst vor der gro­ ßen Kluft, die zwischen dem Gesehenen und Erlebten und dem in Form Gegossenen bestehen wird. Habe noch Angst vor diesem Leidensweg. Ver­ lasse mich vielleicht noch zu stark auf die «Gnade». Neben dem orga­ nischen Wachstum muss es auch akribisches, tatkräftiges und diszipli­

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niertes Arbeiten geben. Ich schrieb dies vor Jahren einmal auf einen Zettel: Die Gnade muss bei ihren seltenen Besuchen eine gut vorbereitete Tech­ nik vorfinden. Eine Technik? Eine Form? Dem stehe ich völlig hilflos ge­ genüber. Wo muss ich mein Material suchen? Doch einfach abwarten? Doch lauschen und guten Willens sein wollen. 2. April [1942], Donnerstagmorgen, 8 Uhr. Der Morgen lag so fertig vor meinem Fenster in der Früh. Das grüne Gras des Eislaufclub-Geländes und das Rijksmuseum, das schon hellwach schien. Und meine zwei mageren Asketen, wieder drohend gegen den Himmel gerichtet. Es war ein gutes Erwachen. Gestern Abend um 8 Uhr noch Loekie mit ihrer Orange, die da in ­ihrer knallorangen Abgerundetheit und Vollkommenheit vor mir zwischen den Freesien und den drei – wie lange schon dort befindlichen? – Tannenzap­ fen liegt. Ich mag sie eigentlich wirklich sehr und würde sie gerne festhal­ ten und sie aufhalten, damit sie nicht in die Misere gerät, die vielleicht doch ihre Bestimmung ist. Wenn ich jetzt gewissenhaft mit ihr am Russi­ schen arbeite, kann das vielleicht später auch eine kleine Stütze für etwas anständigere Arbeit sein als die zufälligen Abenteuer, in die sie – fast gegen ihren Willen  – immer wieder hineingerät. Wieder ein Ekzem an ihrer Hand und eine Schwellung an ihrem Fuß, kann nirgends Gemüse bekom­ men und Buttermilch und ähnliche dringend notwendigen Dinge, weil sie keine festen Lieferanten hat. Und dennoch – sie klagt niemals und hat immer dasselbe verträumte Gesicht mit den klaren Kinderaugen. Ja, ­Loekie, ich werde später einmal eine Geschichte über dich schreiben, dann läufst du mit deinen hohen Tanzbeinen über viele Linien meines Schreib­ blocks. Um halb 10 meine neueste Schülerin. Und jetzt, wo sich die erste Auf­ regung gelegt hat – sie ist wirklich ein charmanter Junge –, frage ich mich: Wie bist du und weshalb bist du so geworden und wie lebst du und bist du glücklich? Eine Stunde lang intensiv mit ihr gearbeitet. Und natürlich dieses berühmte unsichtbare Fluidum zwischen uns. Bei mir doch eher menschlich als erotisch bedingt. Und was Letzteres betrifft: In Bezug auf das Erotische bin ich natürlich zu allen Seiten hin empfänglich, sowohl für S.s dämonischen Mund als auch für Liesls schmale Figur und wogende blonde Haare und auch für diese Frau mit ihrem schmalen flotten Gesicht eines Jungen und mit der hellen Stimme, die fast unnatürlich hell ist. Aber das Sexuelle und Erotische ist bei mir allmählich so «eingeordnet», dass es

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eine sehr untergeordnete Rolle spielt, und das Menschliche herrscht ­immer vor. Aber dieses menschliche Interesse ist dennoch genug intensiv und leidenschaftlich. Typisch, seit ich diese Frau, diesen Jungen – wie soll man das eigent­ lich nennen? – gesehen habe, träume ich regelmäßig von ihr. Sie ist an­ dauernd in meinen Träumen anwesend. Das erste Mal war es so: Ich hatte ihr Russischunterricht erteilt und danach spazierten wir gemeinsam die Straße entlang. Sie hatte zwei schwere Koffer, einen davon trug ich. Mit­ ten auf der Straße nahm sie überstürzt Abschied und ließ mich mit diesem schweren Koffer zurück. Ganz betreten und verlassen blieb ich stehen und rief ihr hinterher: «Wir haben uns noch nicht fürs nächste Mal verabre­ det!», aber sie rief zurück: «Ich rufe dich noch an.» Ich war nicht besonders gut gelaunt, da allein mitten auf der Straße mit diesem schweren Koffer zurückgelassen. S. meinte, dass ich ihr ihre Schwierigkeiten und Probleme abnehmen wolle. Und heute Nacht habe ich, glaube ich, geträumt, dass ich jemand an­ derem ganz genau erzählte, wie ich sie gestern Abend unterrichtet habe. Was meine Einstellung zu Leonie in Bezug auf unsere Auseinander­ setzungen von neulich betrifft, denke ich Folgendes: Vielleicht habe ich meine erlangte «Weisheit» und Ruhe doch zu stark vor ihr zur Schau ge­ stellt, ich wollte ihr ja damit helfen, aber habe doch selbst die eigene neue Lebensweise noch zu sehr genossen. Und ich halte dann in ein paar flüs­ sigen und einfachen Sätzen das Ergebnis eines Jahres mühsamer psycholo­ gischer Arbeit fest. Und ich vergesse vielleicht zu stark den Weg, den sie noch gehen muss, und ich muss auch bedenken, dass sie wiederum einen anderen Weg gehen muss als ich. Aber die Hauptsache: Ich redete mit ihr vielleicht zu sehr zu meinem eigenen Vergnügen, schwelgte selbst in mei­ nen eigenen Weisheiten und dachte noch zu wenig an sie. Werde mich in Zukunft ganz zurücknehmen und kleinmachen und sie nicht überhäufen. Sie ist ja auch noch sehr jung und aufgedreht, ich darf diese Aufgedreht­ heit nicht noch fördern und sie schon gar nicht durch meine eigene Ruhe so stark hervorheben. Und vielleicht war sie deshalb voller ohnmächtiger Eifersucht auf meine erlangte Ruhe und diesen Frieden, die sie noch nicht besitzt. Na ja, und so weiter, ich wollte nur dies sagen: Wenn ich mit anderen über meine inneren Erkenntnisse des letzten Jahres spreche, muss ich mich doch mehr auf den anderen einstellen und nicht selbst alles, was ich

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erzähle, so genießen. Das bezieht sich nicht nur auf Leonie, sondern auf alle. Und sollte ich jetzt noch etwas sagen? Nein, junge Frau, an die Arbeit. S.s Briefe lesen, Stella abtippen, frühstücken, Kaffeetafel im Voraus vorbe­ reiten und gegen 11 zu S. Bin so, so, so dankbar, dass das mit diesen Steuern gut ausgegangen ist. Vor einigen Tagen war ich vormittags deswegen so niedergeschlagen und unruhig und er war exakt zur selben Zeit unruhig und davon verängstigt, wie er später erzählte. Aber auch dies ist wieder außergewöhnlich gut ge­ laufen. Grauer Vormittag, Regen, Wind. Armer S., ich wünsche dir sehr viel Sonne während deiner Urlaubstage bei deinem epileptischen Grafen. Karfreitagmorgen [3. April 1942], halb 9. Als ich gestern Abend um halb 11 mein kleines Zimmer betrat, in dem der Vorhang vor dem einen großen Fenster immer gänzlich zur Seite gescho­ ben ist, stand dort wieder mein beraubter, einsamer Baum. Ein zögernder Stern kletterte an seinem mageren Asketenleib empor, ruhte einen Augen­ blick lang in der Beuge eines seiner Glieder (?! schön!) und verlor sich dann im weiten Himmel, nicht mehr in den Ästen gefangen. Das Rijks­ museum mit seinen Türmen wirkte wie eine weit entfernte Stadt mit Tür­ men. Zwischen S.s Bücherregal, das dort – groß und tief – noch immer wie ein geheimnisvoller Tempel voller Weisheit steht, und meinem schma­ len Mönchsbett ist noch genau so viel Platz, dass man sich dort manchmal hinknien kann. Etwas, das ich schon tagelang oder wochenlang aufschrei­ ben will, aber das ich aus einer Art Schüchternheit heraus – oder nach wie vor falscher Scham? – nicht formulieren kann: Durch meinen ganzen Kör­ per geht manchmal ein natürliches Verlangen zu knien, nein, es ist noch anders: Es ist, als ob die Bewegung des Kniens durch meinen ganzen Kör­ per hindurch modelliert würde, ich spüre das manchmal durch meinen ganzen Körper hindurch. Manchmal, in Momenten großer Dankbarkeit, ist es mir ein unaufhaltsames Bedürfnis niederzuknien, den Kopf tief ge­ beugt, die Hände vor dem Gesicht. Es ist zu einer Geste geworden, die sich in meinem Körper befindet, und diese Geste möchte manchmal aus­ geführt werden. Und ich erinnere mich: «Das Mädchen, das nicht knien konnte»30 und die raue Kokosmatte im Badezimmer. Und beim Schreiben dieser Dinge doch das Gefühl einer gewissen Verlegenheit, als ob man über das Intimste des Intimsten schriebe. Viel mehr Schüchternheit und

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Scham, als wenn ich über mein Liebesleben schreiben würde. Ist denn überhaupt etwas so intim wie die Beziehung des Menschen zu Gott? Und deshalb doch ein gewisser Widerwille gegen diese Oxford-Versammlung31 von neulich. So exhibitionistisch. So öffentlich mit Gott schmusen. So bacchanalartig und dann die braven kleinen Bürger und sich auf der S­ uche befindenden älteren Jungfern. Nein! Nie wieder so etwas! Als aufregende Erfahrung vielleicht einmal nett. Aber dafür wiederum zu anständig, um es sich wie ein aufsehenerregendes Schauspiel anzusehen. Noch etwas über v. W.32 In ihrem Männeranzug war sie ein lässiger, etwas provozierender Junge. Aber ich fand sie rührend und beinahe bemit­ leidenswert, als sie ihren Mantel anzog, eine weiche, dunkelblaue Teddy­ bärjacke mit einem roten Schal darunter. Da wurde sie auf einmal ein Mittelding zwischen Mann und Frau. Zuerst war sie nur ein charmanter Junge. Doch diese Jacke verlieh ihrem Körper beinahe etwas Mütterliches und etwas Schweres und etwas sehr Normales. Und darüber der schmale, glattgekämmte Bubikopf. Ich fand sie da gerade sehr liebenswürdig und rührend. Mit S. sprach ich noch kurz über sie und er sagte u. a.: «Im Grunde sind solche Menschen dòch verdorben.» Und dies vermutlich des­ halb, weil sie den Schwerpunkt auf das Sexuelle legen und dieses als den Mittelpunkt ihres Lebens betrachten und unter diesem Blickwinkel auch ihre Mitmenschen beurteilen. Und er hat recht damit, dass man dies als eine gewisse Verdorbenheit bezeichnen kann. Ich verstehe nun auch, wie eine solche Frau dazu kommt, jemandem wie S. zu sagen: «Hallo Bubi, Du bist doch eigentlich ein Biest.» Denn das ist er auch, aus ihrer Perspektive betrachtet, in der alle weiteren Horizonte verborgen sind und in der ledig­ lich dieser unglückliche Phallus im Mittelpunkt steht. Hans blaue Augen sind auch schon wieder seit Wochen so strahlend und lebhaft wie eh und je. Auch die finanziellen Sorgen werden wir über­ winden. Ich sagte vor einer Weile zu ihm: «Eigentlich muss man sich zu Beginn eines jeden Tages fragen: ‹Habe ich heute ein Dach über meinem Kopf und habe ich heute genug zu essen?› Und wenn dem so ist, muss man dankbar sein.» Und dies jeden Tag aufs Neue. Wir werden es schon schaffen. «Der Mensch leidet am meisten unter dem Leiden, das er fürch­ tet.» Es klingt abgedroschen, aber diese Wahrheit, die in bildschönen Buchstaben auf Holztafeln gemalt ist, die in so vielen liebenswürdigen bürgerlich-christlichen Familien irgendwo achtlos an einer Wand hängen, ist aktueller denn je. Gestern Abend saß ich am Ofen und las die Rilke-

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Briefe und Han saß mit einer Pfeife über seine Zeitung gebeugt. Und plötzlich sagte ich aus tiefstem Gefühl: «Hallo, mein liebes Kerlchen.» Und er hinter seiner Zeitung hervor: «Hallo, mein Mädchen!» Und dann wieder sehr langes Schweigen und Lesen. Und auch das ist gut! Die Rilke-Briefe sind für mich wie ein Meer, in das ich immer tiefer und weiter hineinschwimme. So etwas kann ich im Niederländischen überhaupt nicht ausdrücken. Und jetzt zuerst russischer Konversationsunterricht und dann ein­ kaufen und dann bei Käthe lernen, wie man «Kunstschlagsahne» herstellt, wegen Montag. Und heute Stella abtippen und die russische Übersetzung für die arme, versauerte Aleida Schot und weiter abenteuern: Jung, Rilke.

Samstagmorgen [4. April 1942], 8 Uhr. Als ich heute Morgen um halb 7 aus meinem Fenster schaute, war das Rijksmuseum noch im Halbschlaf versunken, die Eisbahn döste auch noch, aber meine zwei Bäume standen da wie grelle, hellwache Ausrufe­ zeichen. Zwei pechschwarze, deutliche Ausrufezeichen auf einer eilig be­ schriebenen Seite. Ich habe mich mit Endrine,33 Superol34 und Aspirin vollgepumpt und habe wieder ein Stündchen geschlafen. Ich habe einmal, als ich wirklich nicht wusste, wohin ich mich Hilfe suchend wenden sollte, aufgeschrieben: «Ich fühle mich deprimiert und traurig, aber das rührt vermutlich von diesem Anflug einer Grippe her.» Aber das war vermutlich nicht richtig. Ich kämpfe nun schon tagelang gegen eine Grippe, gegen Halsschmerzen, Kopfschmerzen, Erkältung, Magenschmerzen – eine rei­ zende Ansammlung an kleinen Beschwerden, die Menstruation muss auch noch ergänzt werden –, und trotzdem: Ich leide nicht oder kaum da­runter. Mein Frohsinn leidet sicher nicht darunter. Meine Geduld muss noch wachsen. Ich habe schon gelernt, geduldig darauf zu warten, was kommt; darauf zu vertrauen, dass überhaupt etwas kommt. Ich weiß nicht, ob ich schon die Geduld habe, stundenlang allein durch eine einsame Landschaft zu gehen, wochenlang allein in einem ­Fischerdorf am Meer zu leben und mich mit den eigenen Gedanken zu begnügen. Ich habe noch nicht genügend Geduld, um mit Blumen umzu­ gehen und um Musik zu hören und um mir Gemälde anzusehen und um die Bibel zu lesen. Das muss ich noch alles lernen, ein ganzes Leben lang lernen. Ich glaube aber, dass ich schon einen Anfang gemacht habe. Und ab und zu ist da schon auch diese große Geduld, die bei mir auf Dauer die Quelle sein muss, aufgrund derer ich schöpferisch arbeiten kann. Aber ich

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glaube, dass diese Geduld bei mir immer noch unerwartet von einer Un­ ruhe durchbrochen wird. Ich muss lernen, all diese Geduld, die ich in mir habe, zu sammeln, alle Fragmente der Geduld zu einer einzigen großen Geduld zusammenzufügen. Und vielleicht, vielleicht, viel später – werde ich dann auch schreiben können. – Da kommt Käthe und ich eile ihr zu Hilfe für das Frühstück, gute, treue, liebenswürdige Käthe! 9 Uhr. Wir wohnen nicht unter einem Dach. Ich bin von ihm durch 5 Straßen, eine sehr lange und 4 kürzere, durch eine Brücke und durch eine Gracht getrennt. Wenn ich von ihm weggeradelt bin, steht auf meinem Schreib­ tisch das kleine schwarze Telefon, und genau so ein Wunderwerk der Technik steht auf seinem überfüllten Arbeitstisch. Und diese verbinden uns dann wieder. Er ist mit «Wandlungen und Symbole» und mit einem Band Rilke-Briefen zum epileptischen Grafen gereist und ich bin mit «Wandlungen und Symbole» und einem anderen Band Rilke-Briefen in meinem sonnigen Wintergarten zurückgeblieben. Alles ganz beiläufig und fast zufällig. «Das ist doch eine ganz erfreuliche Sache», konstatierte ich am Donnerstagnachmittag in der Linie 24 mit Genugtuung, als ich ihn zum Bahnhof brachte. Die «erfreuliche Sache» war die folgende: Schon tagelang lag dieses Werk von Jung auf meinem Schreibtisch herum und in einer plötzlichen Anwandlung habe ich schließlich am Mittwochabend damit begonnen und habe mich eine Stunde lang intensiv darein vertieft. Als ich ihm das am nächsten Morgen erzählte, sagte er sehr überrascht: «Ach, ich habe gestern Abend auch gerade überraschend damit angefangen, es lag auch schon tagelang auf meinem Tisch und plötzlich verspürte ich das Bedürfnis, endlich damit zu beginnen.» Und solche Dinge passieren öfters. Ich erlebe jetzt eine Zeit, in der ich mich immer gründlicher und intensiver mit Rilke befasse. Ich beschäftige mich eigentlich ununterbrochen mit ihm, das passiert so ganz von allein, ich habe das früher nie so gekannt, dass man einen Autor vollständig in sich aufnimmt und mit ihm verwächst. Und eines Tages fand ich auf sei­ nem Tisch die gesammelten Werke von Rilke und er liest mir abends am Telefon ab und zu eine Zeile von ihm vor. Nur so, zufälligerweise, von sich aus. Es ist nicht so, dass wir krampfhaft und um jeden Preis das Gleiche tun möchten, dass wir unbedingt miteinander mitempfinden wollen. Nein, irgendwann sind wir rein zufällig in dasselbe vertieft. Als Jugend­ liche hatte ich solche Zukunftsträume: einen Mann heiraten, mit dem

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man zusammenarbeiten kann. Aber so, wie es jetzt ist, so hätte ich mir das niemals erträumt. Es ist alles so einfach, so anspruchslos, so natürlich, so organisch. Wir arbeiten zusammen, ich bin in jedes Detail seiner Pra­ xis eingeweiht, den Stoff, den er unterrichtet, habe ich in meinem Kopf, ­sodass ich ihn während eines Kurses mit einer einzigen Geste an etwas erinnern kann. Daneben haben wir beide unseren persönlichen Bereich, er seine Musik und ich mein Russisch. Wir wohnen nicht unter einem Dach, wir sind durch 5 Straßen, eine Brücke und eine Gracht voneinan­ der getrennt. Eine so starke Verbindung, ein Zusammenleben, ein im­ mer stärkeres Miteinander-Verwachsen und dabei doch vollkommen frei bleiben  – ich trage ein immerwährendes Gefühl der Dankbarkeit und auch des Erstaunens in mir, dass dies alles so in meinem Leben möglich wurde. Nach dem Frühstück mit Matthäus begonnen, jetzt jeden Morgen, systematisch. Gestern verstand ich dieses Gemälde von Rembrandt: Matthäus, der Kopf, in dem sich die Gesichter von Tolstoi, Beethoven und Rembrandt überlagerten;35 der kräftige, konzentrierte und auch sinnlich aufgeladene Mann, der der Stimme, dieser imaginären Stimme, zuhörte. Allmählich verstehe ich immer mehr Dinge. Es ist schon halb 10, ich muss mal ein wenig Ordnung in diesen Sau­ haufen auf meinem Schreibtisch bringen. Han aus seinem Bett werfen und das Zimmer in Ordnung bringen und noch etwas vorbereiten für mein antirevolutionäres Gemeinderatsmitglied,36 das Russisch lernt. Aber ich möchte doch auch noch kurz ein paar Worte aus einem Brief von Rilke abschreiben, den ich gestern Abend las: Sie stammen aus demselben Brief an Lou Andreas-Salomé, in dem er auch schreibt, dass in jedem Ge­ dicht, das ihm gelingt, mehr Realität steckt als in jeder Beziehung oder Zuneigung, die er zu Menschen fühlt, und wo er dann weiter sagt: «Wo ich schaffe, bin ich wahr, und ich möchte die Kraft finden, mein Leben ganz auf diese Wahrheit zu gründen, auf diese unendliche Einfachheit und Freude, die mir manchmal gegeben ist.»

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An dieser Stelle fährt er fort: «Schon als ich zu Rodin ging, suchte ich das; denn ahnungsvoll wußte ich seit Jahren von seines Werkes unendlichem Beispiel und Vorbild. Nun, da ich von ihm kam, weiß ich, daß auch ich keine anderen Verwirklichungen verlangen und suchen dürfte als die meines Werkes  … Aber wie soll ich es anfangen, diesen Weg zu gehen – wo ist das Handwerk meiner Kunst, ihre tiefste und

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27. März 1942–30. April 1942 geringste Stelle, an der ich beginnen dürfte, tüchtig zu sein? Ich will jeden Rückweg gehen bis zu jenem Anfang hin, und alles, was ich gemacht habe, soll nichts gewesen sein, geringer denn das Fegen einer Schwelle, zu der der nächste Gast wieder die Spur des Weges trägt. Ich habe Geduld für Jahrhun­ derte in mir und will leben, als wäre meine Zeit sehr groß. Ich will mich sam­ meln aus allen Zerstreuungen, und aus den zu schnellen Anwendungen will ich das Meine zurückholen und aufsparen. …»

Und der Brief endet wie folgt: «Disziplin, das Arbeitenkönnen und Arbeitenmüssen, nach dem ich mich seit Jahren sehne. Fehlt mir die Kraft? Ist mein Wille krank? Ist es der Traum in mir, der alles Handeln hemmt? Tage gehen hin, und manchmal höre ich das Leben gehen. Und noch ist nichts geschehen, noch ist nichts Wirkliches um mich; und ich teile mich immer wieder und fließe auseinander, – und möchte doch so gerne in einem Bette gehn und groß werden. Denn, nicht wahr, Lou, es soll so sein: wir sollen wie ein Strom sein und nicht in Kanäle treten und Wasser zu den Weiden führen? Nicht wahr, wir sollen uns zusammenhalten und rauschen? Vielleicht dürfen wir, wenn wir sehr alt werden, einmal, ganz zum Schluß, nachgeben, uns ausbreiten und in einem Delta münden …»

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Während ich dies schreibe, kommt mir plötzlich Folgendes – so kristall­ klar wie niemals zuvor – in den Sinn: Ich werde später als Gesandte Europas nach Russland reisen, und dann reise ich wieder nach Europa, als Gesandte Russlands. Europa bin ich selbst, das steckt in mir, und all mein Wissen und meine Erfahrung und Intuition werde ich viel später gebrauchen, um Russland zu ergründen und um wiederum Europa zu erzählen, wie es dort ist. Ich glaube ja, dass es auf Dauer darauf hinauslaufen wird, dass alles, was ich in mir sammle und zu was ich mich versammle, darauf ausgerichtet sein wird, dieses Land zu begreifen und in mich aufzunehmen und den Erfahrungen, die ich dort sammeln werde, eine Form zu verleihen. Кто знaeт?39 Ich muss noch dieses Gespräch mit S. vom Donnerstagmorgen aufschrei­ ben. Ich zögere immer bei jedem Gespräch, das so bedeutungsschwer ist, es aufzuschreiben, weil ich es noch nicht wiedergeben kann. Aber doch einfach als kleinen Anhaltspunkt, als Meilenstein, dem entlang man sich den Weg später wieder deutlicher abzeichnen sieht, sollte ich es kurz auf­ schreiben; später, wenn ich ein wenig Zeit habe.

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Ich würde z. B. auch Rilke gerne nach Russland zurückbringen. Er hat ja immer so Heimweh danach gehabt. Und Russen werde ich nach Europa bringen. Eine Vermittlerin werden zwischen diesen zwei Welten, die doch genügend Berührungspunkte haben. Aber davor zuerst selbst noch so viel lernen und reifen und verstehen. halb 6 nachmittags. Ich möchte bitte, bitte keine richtige Grippe bekommen. Ich fühle mich so komisch und mir ist so extrem schwindelig. Aber am Montag muss ich wirklich ganz fit sein, sonst wird das nichts mit meiner «Kunstschlagsahne», mit meinem Tag mit S. und meiner Nacht mit Liesl und Werner und dann hinterher am Dienstagmorgen noch ein wenig «Urlaub» mit Liesl. Ich weiß nicht, ob das gut ist, aber ich glaube, dass ich erst mal nichts mehr esse heute, man bekommt dann so ein reines Gefühl innerlich, und dann einfach früh ins Bett. Morgen früh Stella, das wird noch aufregend genug sein mit dieser aktuellen Vater-Opposition, ich scheine mich ja doch nie nur an so eine Russischlektion halten zu können, ich muss mich auch psychologisch um meine Schüler kümmern. Dann nachmittags Lout,40 der in seiner Art zu kommunizieren hoffentlich nicht41 genauso das Bild eines typischen Engländers abgibt wie eben, als ich ihm kurz auf der Straße begegnete mit seinem schwarzen steifen Hut und seiner weißen Seidenkrawatte. Schrecklich schön! Wie haben wir uns doch alle unter­ schiedlich entwickelt, obschon dies natürlich bereits so angelegt war. Und ich möchte wirklich, wirklich keine Grippe bekommen. «Ich freue mich so auf Montag.» Ich auch! 5. April [1942], Sonntagmorgen, halb 10. Als ich gestern Abend um 10 Uhr ins Bett ging, war es draußen fast ganz dunkel. Nur meine zwei Bäume waren noch zu sehen und kletterten in den Himmel wie zwei senkrecht aufsteigende Pfade, zwei Wegweiser in einer dunklen Landschaft. Den Kampf gegen die «Grippe» werde ich heute noch energisch fortsetzen, es ist alles einfach noch «merkwürdig» in meinem Bauch und meinem Kopf. Gegen Krankheit kann man am besten ankämpfen, indem man sich ihr gegenüber so passiv wie möglich verhält, indem man sich so klein wie möglich macht. Ich lebe so ein bisschen zu­ sammengekauert, nehme die Schläge demütig hin und möchte, dass es morgen vorüber ist. Draußen Regen, grau, kalt. Gestern Abend. Auf meinem Schreibtisch standen kleine weiße Nar­

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zissen, die wie strahlende Sterne meine rabenschwarze Marokkanerin be­ leuchteten. Von meinem Blumenverkäufer habe ich ein kleines Sträuß­ chen Schneeglöckchen bekommen, sie stehen hier vor mir in einer kleinen dunkelgrünen Mokkatasse, fröstelnd am kalten Sonntagmorgen. Auf dem weißen runden Tischchen steht ein großer Strauß Zweige, es sind Kätz­ chen dabei und noch andere, deren Namen ich nicht kenne. Sie stehen in einem braunen Tongefäß, und wenn ich in die Zweige blicke, ist es wie ein Wald, in den man sehr weit und tief hineingehen könnte. Die Zweige beugen sich über die «Gothischen Kathedralen», über die «Impressionisten», über Goya und den Sonnensucher Vincent. Han liegt noch dort weit ­hinter mir und schläft und atmet ruhig unter seiner blauen Diwandecke. Schon seit drei Jahren lebe ich in diesem Zimmer, ich bin dankbar für je­ den Tag, an dem ich hier lebe und arbeite. Gestern Abend noch Rilke gelesen. Wenn man ihn liest, behält man nicht immer Details, aber es ist, als ob man innerlich stets aufmerksamer würde. Es ist, als ob alles, was danach von außen auf einen zukommt, wie­ der viel aufmerksamer betrachtet und angegangen werden muss, als man das früher je getan hat, und als ob alles, was innerlich hochkommt, auf­ merksamer angehört werden müsste, immer aufmerksamer und ernsthaf­ ter. Als er die Briefe schrieb, mit denen ich mich jetzt beschäftige, war er 28 Jahre alt. Und manchmal denke ich auf einmal plötzlich – ich bin auch 28 Jahre alt – ja, 28 Jahre. Es ist eine Zahl, vor der ich mich noch immer ein wenig fürchte; ich weiß nicht, weshalb. Ich habe diese Zahl noch nicht gänzlich akzeptiert und manchmal sage ich zu anderen, dass ich 27 bin, ganz erstaunt darüber, wie kindisch ich bin! 28 – ich finde das so eine düs­ tere und schwere Zahl. – Ach, du Idiotin! Wie ging dieses Gespräch noch mal – am Donnerstagmorgen? Als mitten während irgendeines Gesprächs seine großen, guten Hände über meine nackten Oberschenkel glitten, sagte ich auf einmal: «Weißt Du, ich habe mir neulich gedacht: Du bist doch eigentlich ein ganz fremder Mann für mich.» Er blickte mich daraufhin ein wenig erstaunt an und sagte: «Meinen Sie das wirklich? Weil wir uns noch nie nackt gesehen haben? Ich empfinde das gar

Es ist bei ihm alles viel mehr ein einziges Ganzes, er kann das Körperliche und das Geistige nicht mehr trennen und ich bin ihm wohl – ganz so, wie ich bin – sehr nah und vertraut. Weil er schon viel stärker als ich in einer Einheit lebt. Und ich sagte ihm, dass ich eine gewisse Angst vor der allerletzten kör­ nicht so.»

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perlichen Annäherung habe, weil ich es nur wollte, wenn der Körper Aus­ druck der Seele war. Und dass ich deshalb an diesem Abend der «Haute Sauterne» auch so schüchtern und zurückgezogen gewesen war, weil ich damals das Gefühl hatte, dass es wirklich nur Sinnlichkeit war und dass es genauso gut eine andere Frau als ich hätte sein können. Und da wurde er sehr ernst und sagte, dass dies doch überhaupt nicht der Fall gewesen sei, dass doch ganz besonders ich es gewesen sei, die ihn gereizt hatte. Na ja, kurzum usw., ich merke schon wieder, während ich dies schreibe, dass ich gar keine Geduld dazu habe, es aufzuschreiben, weil ich das Wesentliche nicht erfassen kann. Das Gespräch lief im Folgenden darauf hinaus: Es wäre sehr gut mög­ lich, dass bei uns beim allerletzten sexuellen Kontakt ungeahnte Empfin­ dungen und Emotionen ausgelöst werden oder dass Konflikte entstehen. Aber er würde den Konsequenzen nicht aus dem Weg gehen. Aber auch: Ich bliebe für ihn doch immer dieselbe, auch wenn dieses Mann-und-Frau sich als nicht so ein Erfolg herausstellen sollte, er nimmt das alles nicht so schwer und es ist für ihn nicht von allzu großer Bedeutsamkeit. Nein – ich kann den Wert und die tiefe Bedeutung dieses Gesprächs doch noch nicht gut in Worte fassen. Ich weiß nur, dass ich ihn liebe, je­ den Tag ein bisschen mehr, und dass ich erst durch ihn zu einem echten und erwachsenen Menschen heranreife. Jeden Tag ein bisschen mehr. Gestern Abend fragte ich mich vor dem Einschlafen, ob ich nicht ver­ wegen lebte. In London wohnt ein Mädchen, das er zu seiner Frau ma­ chen will. Ich lebe innerlich unabhängig und frei von ihm und sage, dass ich meine eigenen Wege gehen werde in der Welt, aber werde ich weiter­ leben können, wenn ich nicht mehr die Wärme der Strahlen spüre, die aus seinem Zentrum kommen? Als ich mir das gestern Abend sehr intensiv vorstellte, im Bett, direkt vor dem Einschlafen, da war mir so, als ob ich nicht weiterleben könnte, da war mein Gesicht auf einmal tränennass und es war ein Verlangen in mir, so bleischwer, allein schon beim Gedanken, dass er einst weit weg von mir leben wird. Und ich dachte kurz: Lebe ich nicht doch in großer Gefahr? Ich verwachse mit ihm, jeden Tag mehr, darin steckt beinahe Verwegenheit. Nun – und es ist doch alles gut. Auch dies noch: In all den Beziehungen, die ich in meinem überlade­ nen jugendlichen Leben erlebt habe, war es über kurz oder lang immer so, dass ich mit einer gewissen Wehmut an den Beginn zurückdachte, an den abenteuerlichen, erfrischenden und vielversprechenden Beginn einer sol­

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chen Beziehung, und dass ich dachte: Schade, dass es jetzt nicht mehr so ist wie zu Beginn, so schön wird es nie wieder. Und jetzt mit S. ist es genau andersherum. Bei jeder neuen Phase unserer Beziehung blicke ich noch­ mals auf unseren Weg zurück und denke: So tief und stark, wie die Bin­ dung jetzt zwischen uns ist, war sie doch noch nie. Jeder weitere Schritt scheint an Intensität hinzuzugewinnen und die früheren Phasen scheinen zu verblassen in Anbetracht der darauffolgenden, immer vielseitiger und farbenfroher und spannender und inniger wird die Beziehung bei jedem Schritt. Ich habe einmal gesagt, das war nach dem 3. Februar, als ich ihn ein Jahr, ja, sage und schreibe ein einziges Jahr, kannte: «Ich glaube kaum, 42 daß noch eine Steigerung möglich ist.» Und es kam doch noch wieder eine Steigerung, und zwar dadurch, dass manchmal plötzlich ein noch brach­ liegendes Stück auf dem Gebiet der Freundschaft aufblühte. Und jetzt habe ich es mir schon lange abgewöhnt zu sagen: «Es wird wohl keine Steigerung mehr möglich sein.» Jegliches Wachstum auf allen Seiten ist bei uns noch möglich. Und das kommt auch dadurch, dass wir beide so voll­ kommen im Besitz unserer Kräfte sind, dass wir beinahe auf die gleiche Weise unsere Schwerpunkte legen, dass wir beide offen sind, jeden Tag wieder völlig aufs Neue offen sind, füreinander und für die ganze Welt. Dadurch, dass wir keine «Ansprüche» aneinander stellen. Dadurch, dass wir beide so gut die Kunst verstehen, die kleinen alltäglichen Dinge inten­ siv zu genießen, und dadurch, dass wir beide auf dieselbe Art und Weise an Gott glauben. Dadurch, dass wir ab und zu ineinander verliebt sind und dies als ein besonderes Geschenk akzeptieren, als eine Zugabe, ohne darauf den Schwerpunkt der Beziehung zu legen. Und ich lerne täglich von ihm und er möchte so gerne andere «belehren» und ich frage und frage und seine Antwort ist immer klar. Han fragt gerade mit einer halb verschlafenen Stimme meinen schrei­ benden Rücken: «So, schreibst du schon wieder deine Träume auf? Er­ zählst du mir mal, was du geträumt hast?» Noch immer mit diesem leicht ironischen Unterton. Und ich sage: «Ich fühle mich sehr geschmeichelt von so viel Interesse für mich am frühen Morgen.» Und nun werde ich mich mal um den Haferbrei für diese gute Seele kümmern. Gegenüber Han habe ich damals die richtige Einstellung wiedergefunden, und die Schuldgefühle sind auch verschwunden. Und ich liebe ihn auf eine Weise, die zu unserer Beziehung, die über viele Jahre gewachsen ist, passt, ohne unnatürliche Aspekte von Schuldgefühlen einzubringen. Ich frage mich schon manchmal: Mein Gott, womit habe ich es denn verdient, dass ich

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so ein gutes und schönes und reiches Leben habe? Aber ich bin dann auch deine zufriedenste Erdenbewohnerin! nachmittags 2 Uhr. Die Erlen- und Weidenkätzchen und die kleinen weißen Narzissen haben Gesellschaft erhalten. Meine kleine rabenschwarze orientalische Schülerin kam heute Morgen mit prächtigen, glatten Kastanienästen an, bei denen jegliches Leben erst noch beginnen muss, sie stehen nun in einer Ecke auf dem Boden und werfen die Schatten ihrer starken, glatten Äste gegen die weiße Tapete. Und gerade kam ein ganzes Stück Frühling an, das diesen regnerischen Nachmittag aufheiterte, mit einer Karte in dieser überaus be­ kannten und geliebten Handschrift: «Damit Sie mich nicht ganz vergessen und wissen daß ‹Pesach› ist.»

Hyazinthen, rote, violette, gelbe, rosa, weiße, umzingelt von Grün. Sie stehen jetzt da mitten auf dem weißen Tisch und zelebrieren den Frühling und die Erlen- und Weidenkätzchen breiten jetzt ihre weiten Arme in der Ecke des Zimmers auf diesem Stapel alter, dekorativer Bücher aus. Es fällt mir plötzlich auf: Seit ein starker, uneleganter Mann von über 50 Jahren, der schon beginnt, kahl zu werden, in mein Leben getreten ist, spielen Blumen so eine große Rolle in meinem Leben. Mittwochabend [8. April 1942], halb 10. Ich habe plötzlich mit einer wilden Geste zu diesem Heft gegriffen, zwi­ schen dem Abtippen einiger Briefe und schweren Kopfschmerzen. So ein Verlangen danach, ein paar Worte aufzuschreiben. Ich habe so ein Gefühl, dass ich hier auf diesen Seiten an ein und demselben Faden weiterspinne. Ein paar Kontinuitäten in meinem Leben, die meine Realität sind und die sich wie eine einzige ununterbrochene Bahn  … aber gut, ich weiß nicht, wie ich das weiter formulieren soll. Das ist beispielsweise das Mat­ thäusevangelium morgens und abends und das sind ab und zu ein paar Worte aus diesem Heft. Oder eigentlich sind es nicht einmal diese unzu­ länglichen Worte auf diesen blauen Linien, sondern das Gefühl, immer wieder an einen Ort zurückzukehren, an dem dann an ein und demselben Faden weitergesponnen wird, an dem langsam eine Kontinuität entsteht, an dem dein eigentliches Leben stattfindet. Überhaupt: ein immer größer werdender Wunsch, sich immer mehr auf den eigenen Mittelpunkt zu konzentrieren. Das Bedürfnis nach viel Selbstbesinnung, nach diszipli­ niertem Arbeiten und auf die Dauer nach Gestaltung. Schreibe ich dies

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nun nur unter dem Einfluss der Lektüre der Rilke-Briefe? Oder ergreifen mich diese Briefe dermaßen, dass ich mit einem ständigen Verlangen nach ihnen lebe und sie gleichsam mit tüchtigen Schlucken trinke, weil ich mich gefühlt im gleichen Stadium befinde wie er in diesen Briefen von 1903 und 1904? Ich verliere noch zu viel Zeit, bin noch lange nicht konzentriert genug, bin noch zu schludrig, so im Allgemeinen. Der Drang des Niederknien­ wollens schwappt manchmal wie eine Welle durch mich hindurch, ein beinahe unaufhaltsamer Drang, sich manchmal niederknien zu wollen, der Kopf so schwer, ich glaube, manchmal schwer vor lauter Andacht und dem Bedürfnis, ihn am liebsten tief sinken lassen zu wollen. Und nun noch diesen Brief von S. an Mischa abtippen. Ich bin sehr dankbar für diesen Brief. Er drängt sich mit so einer zähen Ausdauer in Mischas Leben und Mischa wird auf Dauer nicht mehr um ihn «umhin» können und viel­ leicht wird er doch noch irgendwann einmal Halt in ihm finden in einem katastrophalen Moment seines viel zu schwierigen Lebens. S. überlässt niemals Dinge dem Zufall. In gewisser Hinsicht wird er in einem Leben zu etwas «Schicksalhaftem». Donnerstagmorgen [9. April 1942], 10 Uhr. Heute Morgen kniete ich mich auf einmal im Wohnzimmer nieder, zwi­ schen den Brotkrümeln auf dem Teppich. Und wenn ich in Worte fassen müsste, was ich gebetet habe, lauteten die Worte wahrscheinlich wie folgt: «O Herr, dieser Tag, dieser Tag – er erscheint mir so schwer, mach, dass ich diesen einen Tag aus der Menge aller Tage gut zu Ende bringe. Der Tag ist vermutlich nicht schwerer als andere Tage, aber meine Kraft, um ihn zu Ende zu bringen, ist nicht so groß.» Und dann wieder diese Unruhe und Beklemmung, was wohl diese Vorladung von S. von Lippmann und Rosenthal zu bedeuten hat. «Aber Gott, hilf mir, dass ich kein bisschen Kraft an Angst oder Unruhe ver­ schwende, sondern dass mir alle Kräfte zur Verfügung stehen, um diesen Tag zu ertragen.» Es exerzierten schon deutsche Soldaten auf dem Gelände des Eislaufclubs. Und ich betete auch: «Gott, lass mich keine Kraft, kein bisschen Kraft an Hass verlieren, an sinnlosen Hass gegen diese Soldaten. Ich werde meine Kraft für andere Dinge aufsparen.» Eigentlich sollte man nicht so viel Aspirin essen, auch wenn man starke Kopfschmerzen hat. Warum sollte man nicht auch die Kopfschmerzen er­ tragen, dachte ich heute Morgen.

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Ich fühle mich so schwer, so bleischwer an Leib und Seele, wie wenn ich mit etwas schwanger ginge und nicht wüsste, womit. Oder kommt das durch das halbe Dutzend Aspirin? 13. April [1942], Montagmorgen, halb 9. In Matthäus finde ich heute Morgen diese Worte: «und ihr werdet vor Stadthalter und Könige geführt werden»43 – usw. Und überdies: «Wenn man euch vor Gericht stellt, macht euch keine Sor­ gen, wie und was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde ein­ gegeben, was ihr sagen sollt.» Ich werde S. diese Worte morgen mit auf den Weg zu L. und R.44 ge­ ben. Dass ich selbst keine Angst und Sorge kenne in dieser Zeit, liegt viel­ leicht auch daran, dass ich die Realität noch immer nicht wirklich wahr­ nehme, dass ich in einer anderen Realität lebe; aber deshalb muss man doch auch diese berücksichtigen. Ich habe tausend Dinge zu schreiben. Aber davon kann ich wahrschein­ lich doch 999 weglassen. Ich frage mich, ob ich nicht zu viel erlebe. Und daher vielleicht diese plötzliche Äußerung gegenüber S. am Donnerstag­ abend: «Wenn ich jetzt genau das machen könnte, was ich wollte, dann packte ich heimlich einen Koffer und würde mich in einem Fischerdorf am Meer vergraben.» Ich bin in der Tat einige Tage lang nach Stille und Einsamkeit ausgehungert gewesen. Aber es ist gerade so, als hätte sich das in diesem leeren, unbehaglichen, kalten Theatersaal45 «ausgeglichen», in dem ich ungefähr 7 Stunden am Stück gesessen und mich so ein bisschen in diesem probenden Irrenhaus umgesehen habe. Rilke. Ich lese jetzt seine Briefe. Jeden Tag fand er aufs Neue ein paar gute, nette und neue Worte für die Natur um ihn herum, für verschiedene Menschen. Jeden Tag findet er gleichsam neue Liebkosungen und freund­ liche Gesten, für die Luft, für den Regen, für die Sonne, für die Dinge. Und letzten Endes: Er war doch kein Mann, der nur von Blumen und Vögeln faselte, er hat immer gearbeitet, hart gearbeitet. Aber weshalb sollte man nicht jeden Tag ein paar neue gute Worte und Liebkosungen für die alltäglichen Dinge um uns herum finden und für die Luft, die wir ein­ atmen? Manchmal bekomme ich das fieberhafte Gefühl, dass ich alles, wirk­ lich alles, was ich erlebe, in mein «Tagebuch» schreiben muss, denn es wäre ja – Gott behüte – doch so schade, wenn ein interessantes Detail verloren

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ginge. Aber ich muss davon nun ein für alle Mal Abstand nehmen. Die meisten Dinge kann ich wohl weglassen. In Bezug auf mein romantisches Verlangen nach einem Fischerdorf sagte S. ganz sachlich und erhellend: «Ja, du hast viel zu extrovertiert ge­ lebt in letzter Zeit und nun kommt wieder das Verlangen nach Introver­ sion. Du darfst es eigentlich gar nicht erst so weit kommen lassen.» Es war in den letzten Tagen in der Tat so, dass ich mich nur noch morgens beim Lesen der Bibel, bei Rilke und auf diesen Linien wohlgefühlt habe. In diesen Tagen hatte ich auch so ein Gefühl: Ich werde einmal plötzlich mitten in der Nacht aufstehen und ein Buch schreiben. Und auch so ein Gefühl: Ich bin schwanger, geistig schwanger, und möchte nun endlich etwas auf die Welt bringen. Ein Verlangen nach Stille. Es ist jetzt so, dass die Stille wieder zu mir zurückgekehrt ist und dass ich sie andauernd in mir trage. Das muss ich Liesl auch noch sagen. Sie sagt, dass sie sich nur in der Natur glücklich fühlt. Man muss die Natur in sich tragen, man kann sie in einer Blume, in einer Wolke, in einem Gefühl, in seinen eigenen Adern erfahren. Die Menschen müssen das alles in sich versammeln und in sich tragen. Das geht. Es geht nur nicht immer, dass man zu den Dingen hingehen kann. Davon sollte man sich auch nicht abhängig machen. Ist das erst eine Woche her, dass ich in seinen Armen schlief, nur ein Stündchen, und dass ein einziger Atemzug durch uns hindurchfloss? Ich habe ihn jetzt drei Tage nicht gesehen und das kommt mir sehr, sehr lange vor. Meine Hyazinthe fängt an zu verschrumpeln, sie hat auch so ausgelas­ sen gelebt. Ich werde jetzt zuerst ein paar Notizen von ihm abtippen, dann werde ich eine Batterie46 kaufen gehen und lege sie zusammen mit ein paar Blumen und einigen Worten auf seinen Tisch: «Ich werde auch wieder eine gute Sekretärin werden.» Vielleicht habe ich letzte Woche doch zu undiszipliniert gelebt und bin in Bezug auf die Arbeit für ihn etwas nach­ lässiger gewesen. Aber ich bin jetzt wieder ganz auf meine eigene Mitte konzentriert und ich bin wieder für ihn da, immer für ihn bereit. Usw. 15. April [1942], Mittwochvormittag, halb 9. Ein Freudenschrei, ein Frühlingsschrei in Eile! Ich habe von seinem Mund gezehrt und habe von seinem Atem getrunken. Er ist wieder zurück. Wie übermütige Kinder springen wir in den letzten Tagen entlang der sonni­ gen Stadionkade.47 So viel Liebe, so viel Wärme, so viel kindlicher Über­ mut auch.

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Es gibt eine Menge aufzuschreiben, na ja, die Fakten spielen keine Rolle. Du gehst wieder zu spät ins Bett in den letzten Tagen, Mädchen, das geht schief. Ich lebe einfach und lebe in den letzten Tagen, in diesem Frühling mit diesem liebenswürdigen, guten Gesicht um mich herum. Und trotzdem noch so viel Aufmerksamkeit für viele andere liebenswerte Gesichter. Es ist kein körperlicher Rausch in den letzten Tagen, es gab zumindest kaum Körperkontakt, vielleicht war es noch viel mehr das in­ tensive Erleben von dessen zukünftigen Möglichkeiten. Es liegt noch ein Stück Zigeunerstoff in meinem Schrank. Unter Liesls Aufsicht werde ich daraus ein Kleid machen lassen, das auf allen Seiten für Sonne, Wind und seine Liebkosungen offen ist. Und dann im Sommer eine Heide und ich in diesem Zigeunerkleid mit braun gebrannten, nack­ ten Beinen und wehenden Zigeunerhaaren und dann ein kleiner Bauern­ hof mit einer niedrigen Balkendecke und der Duft von Äpfeln und nachts eine Aussicht über die Heide. Das alles kommt noch. Gestern Vormittag Lippmann, Rosenthal. Ausgeplündert und aufgehetzt und doch? – So viel Glück, inneres Glück, wie dieser bleichgesichtige, verkrampfte, ausplün­ dernde Beamte es sich nicht vorstellen kann. Und eigentlich deshalb dieses Gefühl eines Rausches, immer wieder: das vollkommene Zurverfügung­ stehen der eigenen Kräfte, das stetige Wachsen der Kräfte und der Liebe, nicht nur für einen einzigen Mann, für einen einzigen läppischen Mann, sondern wirklich für alle, mit denen man zufällig lebt. Noch tausend Dinge zu schreiben, aber ich lese noch kurz meinen gu­ ten Matthäus und dann zum Frühstück, russische Konversation, heute Nachmittag dieser Freudianer48 und Leonie, danach noch Liesl? Abends bei ihm ein wenig arbeiten. Ich habe von seinem Atem getrunken. nachmittags 5 Uhr. Ich denke manchmal, dass ich zu viel erlebe und dass ich den Dingen dann nicht vollkommen gerecht werde und dass viele Kostbarkeiten ver­ loren gehen. Zum Beispiel das Gespräch mit Liesl, oder besser gesagt Liesls verhaltener Monolog über ihre Jugend am Dienstagmorgen vor ­einer Woche. Ich müsste ihn verarbeiten und produktiv nutzen. Ich hatte das Gefühl, dass das Stoff war, mit dem ich mehrere Wochen verbringen könnte. Ich habe danach wieder tausend neue Dinge erlebt, und dann bin ich gelegentlich bang, dass ich Dinge vergesse und dass ich nicht aufmerk­ sam genug bin. Oder ist es vielleicht so? (Jetzt kommt gerade Leonie, jetzt also aufhören.)

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Es ist jetzt halb 12 Uhr nachts, und ich liege im Bett, das ich früher unseren «breiten Zufluchtsort der Liebe»49 nannte. Han ist gerade damit beschäf­ tigt, sein Hemd auszuziehen, und ich schmiege mich gleich wieder einmal in allem Frieden und Freundschaft an seinen vertrauten Körper. Von mei­ nen zwei Bäumen, den zwei Dolchstößen in den Sternenhimmel, habe ich gerade schon herzergreifend für eine Nacht Abschied genommen. Vor ­etwas mehr als einer halben Stunde war ich bei S. Wir haben neben der kleinen Lampe gearbeitet und geredet und es gab nur eine einzige be­ herrschte Liebkosung. Heute Mittag während des «Sechsten Kapitels» blickte ich auf seinen ausdrucksstarken Mund und sagte im Stillen zu die­ sem Mund: «Heute Abend wirst du für mich der Becher sein, aus dem ich seinen Atem trinke.» Die Art und Weise, auf die er von seiner Arbeit er­ zählte: Ich hatte das Gefühl, an einer lebensspendenden Quelle zu sitzen. Ich saß an einer Quelle, aus der mir Kräfte zuströmten. Ich liebe ihn sehr, jawohl. Ich saß heute Abend kurz auf dem Boden, an seine Beine ange­ schmiegt, und er schaute nachdenklich auf mich herab und sagte: «Ja, wie lebst du jetzt eigentlich, ist das nicht schwierig für so ein Mädchen, das doch daran gewöhnt war, mit Männern zu leben?» Er sagte unter ande­ rem: «Vor anderthalb Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass ich so ein Mädchen wie dich einfach so hätte leben lassen, ich hätte es für eine Sünde gehalten (oder so etwas), nicht mit ihr ins Bett zu gehen. Und jetzt: Ich bewundere mich selbst und bin erstaunt darüber, wie ich geworden bin. Aber sonst könnte ich auch nicht mit dieser Intensität arbeiten, wie ich das jetzt tue.» Und ich sagte: «Ich respektiere das vollkommen, wie du lebst, und habe tiefe Ehrfurcht davor.» Und ich sagte unter anderem: «Man erwirbt mehr Geduld. Es scheint mir, dass Körperkontakte oftmals erzwungen werden. Von einer einzigen Liebkosung von dir kann ich lange Zeit leben.» Usw. Und nun liege ich hier neben Han, eines meiner nackten Beine liegt zwischen seinen zwei Oberschenkeln, ich betrachte sein Profil mit den ge­ schlossenen Augen, dieses Gesicht hat einen erwartungsvollen Ausdruck, er ist mir sehr vertraut und sehr nah. Und ich weiß dies: Ich habe nun die Geduld, auf eine einzelne Liebkosung von S. zu warten, die für mein ­Leben unverzichtbar ist; aber dass ich diese Geduld entwickelt habe, ver­ danke ich Han. Durch dieses ununterbrochene Zusammenleben mit ihm während mehrerer Jahre hat sich eine gewisse Sättigung in meinem Körper eingestellt, es wurde sehr viel ausgelebt. Und das verdanke ich seinen strei­ chelnden Händen, die fortwährend um mich herum waren. Und Han

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b­ eginnt in meinem Gefühlsleben immer natürlicher einen Platz einzuneh­ men, ich sehe und fühle immer besser den Zusammenhang zwischen frü­ her und heute und die wichtige Rolle, die er gespielt hat. Es war vor einer Weile viel schwieriger und er verärgerte mich öfters, aber das ist weg. Ich liebe ihn auch sehr, anders, unsere Beziehung hat etwas Abgeschlossenes, es gibt keine neuen Möglichkeiten. Aber ich liege hier neben ihm und aus einer wirklichen, aufrichtigen Zuneigung heraus schmiege ich mich an ihn, und seinem erwartungsvollen Profil nach zu urteilen wird er mich heute Nacht wieder besitzen wollen, und auch dazu bin ich bereit – nicht für mich, sondern für ihn, aus einem Gefühl heraus, dass er ein Anrecht darauf hat, und auch aus einem Freundschaftsgefühl heraus. Und S.? Ich habe von seinem Atem aus dem Becher seines Mundes getrunken, und vielleicht war das das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich gut geküsst habe. Am nächsten Morgen [16. April 1942], 9 Uhr, bei meiner verwelkten Hyazinthe im Wintergarten. Es war natürlich nicht ganz ehrlich zu sagen: Aus reiner Freundschaft gebe ich mich ihm dann auch hin, weil ich finde, dass er aufgrund der jahre­ langen Beziehung ein Anrecht darauf hat. Es klingt so nobel, wenn ich das sage. Und die Einstellung ist schon auch so. Aber es bleibt nicht bei einem Geben von meiner Seite her aus einem Freundschaftsgefühl heraus, es ist auch wieder ein «Nehmen» aus der «Lust» heraus. Körper, die sich schon so lange kennen, bewegen sich manchmal plötzlich in einer Nacht gemäß eigenen Gesetzen und Rhythmen. Und jetzt ist es 9 Uhr morgens und ich hoffe, einen produktiven und langen Arbeitstag in diesem Wintergarten zu haben. Vielleicht ist das die einzig richtige Art und Weise, einen Mann zu küssen. Nicht nur aus Sinnlichkeit, sondern aus einem Verlangen heraus, einen Augenblick lang durch ein und denselben Mund zu atmen. Dass ein einziger Atem durch beide hindurchfließt. Und bei S. ist es das erste Mal, dass ich das so erlebe, und Han küsse ich seither nur noch platonisch. Aber ja, Körper haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Dieser Ostermontag, jetzt vor gut einer Woche. Morgens früh lag ich auf einmal bei Han im Bett und seine streichelnden Hände waren mir sehr nah und vertraut. Vielleicht im Hintergrund der etwas banale Ge­ danke: Wenn ich mich ihm jetzt hingebe, hat er einen guten Start in den Tag und erträgt es vielleicht besser, wenn ich den ganzen Tag weg bin.

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Aber ein solcher Gedanke, der doch eigentlich sehr plump und berech­ nend ist, nimmt niemals große Ausmaße bei mir an und beherrscht so eine Handlung nicht, das Menschliche überwiegt doch immer. Homo sum.50 Ich weiß, dass ich am Ende dieses Tages, der ein ganzes Leben um­ fasste, als ich nachts um 2 Uhr in Renates51 schmalem Kinderbett lag, über mich selbst erstaunt war, vielleicht auf eine gewisse Art und Weise auch gerührt, und mich selbst fragte: Was bist du eigentlich für ein Mensch? Um halb 12 an diesem Ostermorgen bin ich zu S. gegangen. Lunch, Inten­ sität, Wärme. Und nach unserem Lunch an dem kleinen Tischchen neben der Fensterbank mit den blühenden Pflanzen – er wie ein gutmütiger Pat­ riarch, aber mit dem strahlenden Blick eines verliebten Mannes in seinem großen Lehnstuhl – haben wir uns zusammen auf seiner breiten Couch ausgeruht. Und dann fand in dieser knappen Stunde ein gemeinsames ­Atmen statt, das ich schon wochenlang herbeigesehnt hatte. Ein so ver­ trautes und hingebungsvolles Ruhen in seinen Armen und dennoch diese sinnliche Spannung, aber über alledem: eine gemeinsame Atmung. Und in dieser knappen Stunde strömte eine Kraft in mich hinein, von der ich glaubte lange leben zu können. Ein Spaziergang von einigen Stunden entlang einer Landstraße. Ein schmaler Bach, Weidenbäume und Weideland und in der Ferne die Stadt. Und seine gestikulierenden Hände und sein ausdrucksstarker Kopf. Und während dieses Spaziergangs kamen wir an einem breiten, niedrig gebau­ ten Haus aus einem anderen Jahrhundert vorbei und dieses Haus bekam ein eigenes Gesicht und kam auf mich zu. Ich meine nur Folgendes: Ich hatte Kontakt zu den Dingen um mich herum, ich fühlte mich auch mit der Natur, durch die wir gingen, verschmolzen, mit einem alten niedrigen Haus, das mir plötzlich ein eigenes Gesicht zeigte und für mich zum ­Leben erwachte. Rilke. Die «Dinge».52 Und abends dieses Abendessen zu dritt. Meine 2 Freunde, S. und Han, und grüne Erbsen und Spiegeleier und «Kunstschlagsahne». Und ein aufgeregtes Mädchen, das in der Küche zwischen allen Pfannen und Töpfen herumsprang, aber es lief doch alles ausgezeichnet. Und nach dem Essen noch kurz diesen Brief an Mischa diktiert. Um halb 10 bei den Levies. Zuerst gemeinsam. Und dann begann ein neuer Teil des Lebens bis 2 Uhr in der Nacht. Der Kampf gegen Werners Rauchen. Und als ich ihm – das war, glaube ich, um halb 1 in der Nacht und es führte zu einer häuslichen Ruhestörung – seine x-te Zigarette weg­

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nahm, sprang er auf einmal wie ein verrückt gewordener, kleiner schwar­ zer Zigeuner auf mich und zu seinem Entsetzen warf ich ihn zu Boden. Ein wilder Ringkampf auf dem Boden, Liesl schaute mit philosophischer Miene zu. Am nächsten Tag beim Frühstück sagte Werner: «Ich fühle mich so herrlich ‹ausgerungen›, so gesund.» Er habe daraufhin 2 Tage lang weniger geraucht, erzählte Liesl S. später, und auch, dass er einen kleinen Schock gehabt habe wegen dieses Ringkampfs, weil er plötzlich gemerkt habe, wie sehr es mit ihm in letzter Zeit körperlich bergab gegangen sei. Er schreibt das auch dem Rauchen zu. Und als er mir gestern Nachmittag etwas aus Maimonides53 vorlas, sagte ich unverblümt direkt darauf: Es hat überhaupt keinen Wert, all solche «konstruktiven» Dinge zu tun wie Mai­ monides zu lesen und nach dem Krieg eine neue Welt erbauen zu wollen, wenn man systematisch und wider besseres Wissen sich selbst mit so vie­ len Schachteln Zigaretten am Tag vergiftet und zerstört. Und das ist ja ­eigentlich auch so. Wenn nicht das kleinste Detail in seinem täglichen Leben danach strebt, sich in Einklang mit den höheren Idealvorstellun­ gen, zu denen man sich bekennt, zu bringen, dann haben diese Ideal­ vorstellungen keinen Sinn. Mein kleiner Vater, vorgestern Abend. Er sagte: In der heutigen Zeit muss man an jedem Tag, an dem die Sonne scheint und man sich noch nicht in Haft befindet, zufrieden sein. Und er fügte etwas wehmütig und ironisch hinzu: «Ja, das sage ich jeden Tag zu anderen.» Er selbst kann das nicht mehr leben. Es liegen schon zu viele Trümmer vor den «Urquellen», die kann man bei einem Mann von über 60 Jahren nicht mehr wegschau­ feln. Aber man kann anderen jetzt helfen, damit sie im Alter von 60 Jah­ ren nicht genauso betrübt sein werden. «Man lebt dort in Deventer wie eine Kuh», sagte Vater, «nur diese Fresserei und wir sind Sklaven dieses großen Hauses.» Und Mutter sagte noch mittags zu mir: «In Deventer bin ich ein ‹мёртвьıй человек›.54 ein toter Mensch, dann bleibt keine Kraft mehr übrig für etwas anderes als den Haushalt.» Und so leben sie dort. Ich gehe nicht mehr an selbstmörderischem Mitleid, gepaart mit Schuldgefüh­ len, kaputt, wenn ich meine Eltern sehe oder an sie denke. Ich halte mir ihr Leben vor Augen, und es ist ihr Leben, das sich im Laufe der Jahre ent­wickelt hat, ich kann daran nicht viel verändern, ich kann sie nur lieb ­haben und ansonsten mein eigenes Leben leben. Es hat sich in meiner ­inneren Beziehung zu meinen Eltern viel verändert, viele beengende Bin­ dungen sind weg, und dadurch sind mehr Kräfte frei geworden, um sie wirklich lieb zu haben.

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Ja, dieser Montag, dieser Ostermontag. Liesl und Werner, nachts um 2 Uhr, die wie 2 Pariser Straßenjungen auf dem Rand ihrer improvisierten Zigeunerbetten im Wohnzimmer saßen. Und ich dann in Renates Bett. Und ich entfernte die Verdunkelungspappe vom Fenster und dort standen auf einmal ein paar Sterne am Kopfende meines Bettes. Sie waren anders als die Sterne vor meinem eigenen Fenster, aber ich konnte trotzdem Kon­ takt zu ihnen herstellen, und auf einmal war da dieses umfassende und zuversichtliche Gefühl, dass ich auf jedem Fleck auf dieser Welt Wurzeln schlagen und Sterne finden und mich hinlegen kann, in ein Bett, auf den Boden oder wo auch immer, und mich heimisch fühlen kann, überall. Und von diesem reichen, sehr reichen Ostermontag waren dies viel­ leicht doch die zwei wesentlichen Momente: dieses Haus, das mit seinem eigenen Gesicht auf mich zukam, und diese paar Sterne nachts um 2 Uhr über dem Kopfende von Renates schmalem Kinderbett. Und jetzt muss ich mich doch endlich an die Arbeit machen. 17. April [1942], Freitagmorgen, 9 Uhr. Mein Gott, was für ein Charakter! Wie sie dort auf dieser Couch herum­ springt! Sie ist sicherlich Russin. So etwas kennen wir hier in Holland nicht. Und: enfant terrible. Solche Worte setzen mir noch zu stark zu. Ich betete heute Morgen in der Frühe: Herr, erlöse mich von den kleinen Eitelkeiten. Sie nehmen zu viel innerlichen Raum ein und ich weiß doch wirklich, dass es um andere Dinge geht als darum, von den Mitmenschen für nett und liebenswürdig gehalten zu werden. Ich meine damit nur, dass das nicht zu viel deiner Aufmerksamkeit und Fantasie in Anspruch nehmen darf. Denn dann kommst du in so einen Rauschzustand und denkst: «Ach, ich bin ja so nett und humorvoll und alle finden mich so liebenswürdig.» Früher ließ ich aufgrund von Gezwungenheit den Clown heraushän­ gen und fühlte mich dabei todunglücklich. Jetzt bin ich manchmal auf­ grund von Kraftüberschuss übermütig und ausgelassen, gerade an Tagen, an denen ich innerlich am ernstesten und konzentriertesten bin, dann sprudelt manchmal auf einmal aus verborgenen Quellen eine kindische Ausgelassenheit, die an Clownerie grenzt. Und das ist nicht schlimm. Aber wenn du dann merkst, dass die anderen dich nett finden, dann darf das nicht zu viel deiner Aufmerksamkeit und Fantasie in Anspruch nehmen, dann darf das auch nicht zu sehr deiner Eitelkeit schmeicheln, weil dann doch wieder der Fokus vom Innerlichen auf das Äußerliche verlegt wird.

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Äußerliche Freude spielt in meinem Leben in letzter Zeit schon eine große Rolle und gerade an solchen Tagen muss ich innerlich «gesammelter» und ruhiger denn je sein, sonst verkommt alles zu Eitelkeit und Äußerlichkeit. Heute Abend ab 6 Uhr die Generalprobe der Csárdásfürstin,55 morgen Abend mit S. zur Premiere derselben Fürstin, nachdem ich mit S. bei ­Geiger gegessen haben werde. Am Sonntag Adris Geburtstag bei Krijn56 feiern, nachmittags ein wenig musizieren, dort essen und abends ein ­wenig tanzen usw. Nächsten Samstag hat S. Geburtstag. Zu zwölft essen bei Geiger, dann zu den Levies. Am Sonntagnachmittag hier musizieren und eventuell abends bei Glassner essen. Das sind alles Festlichkeiten, aber sie dürfen lediglich den Raum einnehmen, der ihnen zukommt. Ich darf nicht jetzt schon darüber nachdenken, was für ein Kleid ich bei den Levies anziehen werde und wie verführerisch ich tanzen werde und wie reizend sie mich wieder finden werden. Gestern traf mich dieser Satz bei Rilke: «… muß eine Zeit für mich kommen, mit meinem Erleben allein zu sein, ihm zu gehören, es umzubilden: denn schon drückt mich all das Unverwandelte und verwirrt mich».

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Ja: seinem Erleben zu gehören. Und es zu verwandeln. Danach sehne ich mich besonders stark. Und man muss sein «Erleben» mit sich umher­ tragen, man muss es in sich inmitten eines Raums der Stille platzieren und es sich dort anhören. Und das alles geht nicht, wenn man dem Enthusias­ mus, der von außen auf die Persönlichkeit einwirkt, zu viel Aufmerksam­ keit schenkt. In sich sein. Nur sein. Stille. Auch wenn sich um dich herum eine noch so geschäftige Menschenmenge befindet. Keine Eitelkeit!

22. April [1942], Mittwoch, vormittags 12 Uhr. Antwort auf die Karte von Tide: Meine Liebe, es war sehr rührend, was ich da heute Morgen von dir in meinem Briefkasten fand. Zu bestimmten Zeiten, aber in immer längeren Zeitabständen kehrt dies zu mir zurück: ein schrecklich starkes Bedürfnis, mich abzusondern und sehr lange allein zu sein. Am Sonntag kostete es mich schon so große Mühe, meinen Schreibtisch zu verlassen und zu euch zu kommen. Ist das sehr egozentrisch und asozial? Aber ich habe doch noch die gute Atmo­ sphäre genossen, die ihr um euch herum verbreitet habt, auch wenn ich mich selbst nicht allzu sehr daran beteiligt habe. Aber gestern Abend habe ich mich schrecklich unanständig verhalten: Ich habe mich in eine Ecke

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gesetzt, um zu lesen. Ich muss noch lernen, in solchen Zeiten den Mut zu finden und zu sagen: Ich bleibe zu Hause und sondere mich eine Zeit lang von euch allen ab. Aber du hast manchmal zu viel Angst davor, andere zu verletzen, obwohl es doch eigentlich viel verletzender für andere ist, wenn du doch zu ihnen kommst, aber innerlich gänzlich abwesend bist. Ich glaube, dass ich in letzter Zeit zu «extrovertiert» gelebt habe – um diesen imponierenden Fachausdruck einmal zu verwenden – und dass sich das nun an meiner eigentlich doch eher zur Introversion neigenden Art rächt. Aber ich gerate doch niemals mehr so stark aus meinem Gleich­ gewicht, wie das früher der Fall war. Die innere Harmonie verlässt mich nie mehr ganz. Deine Worte heute frühmorgens waren sehr liebenswürdig und haben mir gutgetan, Tide. Fühl dich umarmt. Und S. heute Morgen früh wieder mit seiner lieben und sanften Stimme am Telefon. Und sagte: «Das wäre doch schlimm, wenn ich jetzt noch böse wäre. Ja, gestern abend, da war ich wütend auf Sie.»

Dies ist vorerst meine Leidenschaft: Alles von Rilke, alles von ihm, jeden einzelnen Buchstaben zu lesen und in mich aufzunehmen und ihn dann wieder abzustreifen, zu vergessen und wieder von der eigenen Substanz zu leben. Wieder zu erfahren, wann ich unter starkem Einfluss von ihm lebe und wann Stimmungen von ihm und mir so zusammenfallen, dass nicht von Einfluss die Rede sein kann. Es ist beinahe ein Fieber und eine Art Ausgehungertsein immer wieder nach seiner Stimme, von der ich niemals genug bekommen kann, bevor ich nicht jedes Wort, das er jemals gespro­ chen hat, in mich aufgenommen habe. Und dann wieder vergessen. Und dann wieder von der eigenen Substanz leben. Übrigens, immer mehr dazu heranwachsen: das Leben aus sich selbst heraus. Und dafür muss man ­immer wieder alles, wirklich alles vergessen, was man jemals von anderen aufgenommen und gelesen und gehört hat. Und ich glaube, dass ich ein­ mal noch sehr, sehr lange allein sein muss, monatelang, und wenn ich diese Zeit gut überstehe, wenn ich diesen Mut finde, mit mir lange Zeit allein zu sein und mich selbst zu suchen, dasjenige, was ich mir nicht an­ geeignet habe, vielleicht werde ich erst dann sagen können, dass ich wirk­ lich geboren bin.

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abends 8 Uhr. Heute Mittag in seinem sonnigen Zimmer warf ich ein paar kindliche Arme um seinen sommerlichen Hals und ich schmiegte das Gesicht eines kleinen Mädchens an seinen breiten, gutmütigen Kopf, der so viel Sanft­ heit und Milde ausstrahlte, und sagte: «Ich hab dich so lieb, so furchtbar lieb.» Es kann dann manchmal auf einmal so eine weite, strahlende Güte von ihm ausgehen, dass ich mich hinknien möchte, weil man seine Ergrif­ fenheit auch nicht in einer Umarmung zum Ausdruck bringen kann. Er erzählte, dass er gestern Abend während des Kurses ein kleines biss­ chen mit sich selbst kämpfen musste, um mich nicht anzuschreien: «Ver­ lass bitte das Zimmer!» Aber dass er sofort zu sich selbst sagte: «Na siehst Du, so bist Du nun, da hört einer nicht zu und da bist du gekränkt.» Und dann hat er sich beherrscht und war ein paar Stunden verärgert über mein un­ ziemliches Verhalten, aber dann war es wieder vorbei. Und er sagte: «Was würde aus meiner Theorie werden, wenn ich nicht nach ihr lebte?» – oder so etwas in der Art. Er liegt so gerne auf der Erde, direkt auf Mutter Erde. Ein Bett ist doch ­eigentlich nur etwas Degeneriertes. Ich sehne mich so nach unserer gemein­ samen Heide. Manchmal kommt er mir selbst wie ein Erdklumpen vor. Leonie erzählte vor einer Weile, wie ihre Freundin in Den Haag58 über S. sagte: «Er ist ein echter Frauenheld, ein Mann für Frauen, das spürt man, sobald er dir eine Hand gibt, es geht so eine Aura von ihm aus.» Was versteht man unter einem «echten Mann für Frauen»? Auch das ist so ein abgedroschener Ausdruck. Ich glaube, dass die meisten dabei doch falsche Assoziationen haben und mehr an das Erotische und Sexuelle denken. Er ist ein Mann für Frauen, das ist wahr, aber in dem Sinne, dass er wahrscheinlich dasselbe in sich hat, wodurch so viele Frauen zu Rilke kamen und ihm ihre tiefsten Geheimnisse offenbarten. Weil er selbst so viel Weibliches an sich hat, dass er eine Frau verstehen kann. Eine Frau, die mit ihrer Seele doch meistens obdachlos bleibt, weil sie bei den Herren der Schöpfung keine Bleibe dafür findet. Und bei Männern wie ihm ­findet die «Seele» der Frauen eine Bleibe und Verständnis. Insofern: ein Mann für Frauen, ja! Das war am Samstagabend, die Csárdásfürstin. Aber das Frappanteste ­dieses Abends: dass er Werner, diesen nervösen Theaterdirektor, am Abend

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der Premiere, als er uns kurz begrüßen kam, fragte: «Sie lesen doch jetzt ‹Wandlungen und Symbole der Libido› von Jung, sagen Sie mir mal …», aber da hatte sich dieser gute Werner schon aus dem Staub gemacht. Aber die­ ses kontinuierliche, dieses ständige von einer bestimmten Sache Erfüllt­ sein (dieses Mal von Mischa)  – und das davon in einer Operette oder ­einem Theatersaal oder wo auch immer Erfülltbleiben. Bei weniger wich­ tigen Personen wäre das vor lauter Egozentrik nicht zu ertragen, bei ihm kommt es mir immer wie eine große Stärke vor. Und dann diese tropische Nacht entlang der Stadionkade mit all die­ sen Sternen über unserer Bank. Und später seine kleine Schirmlampe. Und die Frage: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Temperament, Leidenschaft und Sinnlichkeit? Ich habe alle drei. Und ich sagte unter an­ derem zu ihm: «Ich habe manchmal, wenn wir ‹zärtlich sind›, bei dir das Gefühl, dass es etwas ist, über das du eigentlich schon hinweg bist, was nicht mehr zu dir gehört. Das betrübt mich manchmal. Und andererseits sind sie noch immer dort, die Dämonen, in der unteren rechten Ecke deines Mundes.» Wenn diese kleine dämonische Wölbung nicht wäre, in der alle Leidenschaft zusammengeballt ist, dann hätte er nur einen gut­ mütigen, freundlichen Kopf. Und Zärtlichkeit hat er immer zu geben, immer, bis ins hohe Alter. Und die Leidenschaft ist auf die Arbeit übergegangen, und gegen die Sinnlichkeit, die ungezielte Sinnlichkeit, wird noch immer ein titanischer Kampf ausgefochten. Und ich sagte ihm: «Ich würde eine Ehe überhaupt nicht anders haben wollen, als wie es zwischen uns ist. Beide in einem anderen Haus, jeder hat sein eigenes Leben, geht seinen eigenen Weg, jeden Tag aufs Neue An­ näherung suchen und doch so eine innige, intensive Verbindung, wie es sich kein durchschnittlicher Bürger vorstellen kann.» Und dann kurz über den Besitzinstinkt gesprochen, der es den meisten verunmöglicht, sich mit einer solchen Ehe, die doch viel mehr Möglichkeiten zur fortwährenden Erneuerung bietet, zufriedenzugeben. Er ist eigentlich der Zement zwischen all den Fragmenten und den Freun­ den von früher. Er klebt alles zusammen und durch seine zwei kleinen Zimmer zieht meine ganze Vergangenheit. Ich finde immer wieder einmal ein Fragment, ich hebe es auf, bringe es ihm, und es passt dann plötzlich in ein großes Ganzes. Dies beispielsweise in Bezug auf Pieter und Han­ neke Starreveld,59 die dort plötzlich auftauchten. Pieter in seinem Sprech­

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zimmer mit seinem blassen, uralten lehmigen Kopf und Hanneke mit den tiefliegenden, feurigen Augen. Und in ihrem Zimmer, dort hoch über der Stadionkade, mit ihren vielen schönen selbst gemachten Dingen, fand ich auf einmal Jung und Rilke. Kleinigkeiten erweisen sich manchmal plötzlich als wichtig, und Dinge, die mir unendlich verworren und mysteriös erschienen, werden auf ein­ mal durch ein einziges Wort oder eine Geste von ihm unkompliziert und durchschaubar. Ich habe einmal geglaubt, all seine Worte als «Material» sammeln und aufzeichnen zu müssen – Material wofür weiß der Himmel –, aber so ist er doch besser, dieser Prozess: dass Worte und Auffassungen von ihm in mir anfangen zu leben, sie werden zu einem Teil meiner selbst; dies wird im­ mer stärker der Fall und das hat mehr Wert, denke ich, als wenn ich seine Persönlichkeit fortwährend aufzeichnen würde. Ich denke manchmal, dass ich ihn gänzlich kenne und durchschaue und verstehe, aber immer wieder kommt ein Augenblick, ein kleines Wort, eine einzelne Geste und ein Ge­ sichtsausdruck, wodurch er mir plötzlich noch klarer wird. Er ist ein Buch, das ich lese und nochmals lese und immer wieder aufs Neue durchblättere, es stehen stets dieselben Worte darin, aber ich lerne stets mehr, ihre tiefere Bedeutung zu verstehen. Ich lese unaufhörlicher und treuer in ihm, als ich das je in einem Buch getan habe. Und so muss ein Mensch auch für dich sein und ein Leben lang für dich bleiben: ein Buch, in dem man immer wieder aufs Neue blättert und in dem sich hinter den immer gleichen Worten doch immer größere Horizonte öffnen. Und jetzt Han. Was mache ich jetzt mit ihm? Leonie heute Mittag mit ­einem schuldbewussten Blick: «Ich würde dich doch gern kurz sprechen, ich glaube, dass ich mich dir gegenüber sehr dumm verhalten habe.» S. sagte: «Plaudert nur, ich verschwinde doch noch zehn Minuten.» Und es war wirklich keine Kleinigkeit, was mir meine Freundin auftischte. Sie hatte zu Han gesagt, einfach so in meinem Leben herumpfuschend: «Ja, und wie finden Sie nun die Beziehung zwischen Etty und S., die ist ja nicht wirklich platonisch.» Und als sie Hans verdutztes Gesicht sah, ruderte sie erschrocken zurück und sie scheint die Situation noch gerettet zu haben, zumindest hoffe ich das. Han sitzt jetzt sehr ruhig hinter einer Zigarre und einer Zeitung im Wintergarten. Und ich sagte ungefähr: «Leonie, warum belastest du so einen alten Mann mit Dingen, die er doch nicht verarbeiten

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kann? Weshalb sollte ich ihm Dinge erzählen, die für ihn etwas Wesent­ liches sind und für mich nicht? Ehrlichkeit besteht doch nicht darin, sich gegenseitig alles zu erzählen. Man muss lediglich innerlich gegenüber dem anderen verantworten können, was man tut. Und sein eigenes Leben leben und den anderen nicht schwerer damit belasten, als es nötig ist. Und das muss nicht vielerlei Leichtfertigkeiten Tür und Tor öffnen.» Und so weiter. Und jetzt gibt es noch so viel zu schreiben, aber das geht wegen dieses verdammten Bauches nicht, Verzeihung! Dieses Mal ist es sehr schlimm. Dem ist auch mein seltsames Verhalten von gestern Abend zuzuschreiben. Nur diesem Bauch. Dann habe ich plötzlich eine ganz andere chemische Zusammensetzung, für die ich mich selbst nicht mehr verantwortlich fühle. Es gären dann die sonderbarsten Prozesse in mir während dieser paar Tage der veränderten Blutzirkulation. Auch unerwartete kreative Mo­ mente, aber vor allem Verzweiflung, viel Verzweiflung, niemals etwas von dem vielen Vagen und Unklaren, das in mir steckt, zum Ausdruck bringen zu können. Und ich finde, dass ich doch schon sehr alt und immer noch ohne «Werkzeug» und ohne «Gegenstand» bin. In sich selbst hinabsteigen und die ungeformten Granitblöcke nach draußen heben und in eine Form bringen. Aber noch keine Kraft, um sie hochzuheben, und kein Werk­ zeug, um den Granit zu hauen. Und jetzt noch ein wenig «Hausaufgaben» machen für Becker für morgen. Diese grüne Epistel60 von Aimé61 kam am Sonntag, nachdem er sie wochenlang liegen gelassen hatte. Ich war sehr glücklich damit. Eine späte Reaktion auf den Besuch bei S. und auch hier wieder das Kontinuierliche, durch das das Leben erst Sinn und Bedeutung erhält. abends 11 Uhr. Typisch, dass diese Telefongespräche mit ihm von einer halben Stunde oder länger am Ende des Tages der intensivste Kontakt mit ihm sind. Dann sind da nur Stimmen, ein Zusammenleben von zwei Stimmen. Nein, das ist falsch ausgedrückt. Heute Abend waren seine Worte auf einmal wieder wie eine beruhi­ gende Hand, die sich auf meinen Kopf legte. Unter anderem sagte er: «Sie müssen nicht so abhängig von Ihrem Körper sein, Sie müssen diese Stimmun­ gen immer rascher überwinden lernen.» Das mache ich ja auch. Dies im Zusammenhang mit meinem Bäuchlein, das wirklich alles völlig durch­ einanderbringt während einiger Tage. Und wir sprachen von so viel anderem, von wirklich vielem. Und doch

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niemals eitles verbalistisches Gehabe bei ihm. Doch immer direkt auf die ernsten Dinge des Lebens ausgerichtet. Und auch wieder ohne allzu große Gewichtigkeit – so normal, wie auch das Leben ist. Aufgrund seiner Worte habe ich jetzt auch dieses Gefühl: Ich darf ­eigentlich überhaupt nicht an so etwas Dummes denken wie: Ich bin schon so alt, schon 28, und ich konnte noch nichts von dem äußern, was in mir zum Ausdruck gebracht werden will. Man muss einfach nur wachsen und reifen und nicht an Jahre denken. Vielleicht werde ich erst im Alter von 60 Jahren sagen können, was ich glaube zu sagen zu haben. Man darf auch im Leben nichts aus dem Weg gehen, man sollte sich mit allen alltäg­ lichen Kleinigkeiten und Schwierigkeiten und Kümmernissen «auseinan­ dersetzen», immer wieder Kontakt zum vollkommenen Leben suchen mit allem, was dazugehört, aber man sollte es auch immer wieder ganz von sich heruntergleiten lassen, man sollte doch immer wieder den Fängen des Kleinen entkommen. Etwas ganz anderes: Manchmal glaube ich, dass ich schreiben könnte, beschreiben könnte, aber dann werde ich auf einmal so müde und denke: «Warum so viele Worte?» Ich wünschte, dass jedes Wort, das ich jemals schrieb, geboren würde, wirklich geboren, kein einziges künstlich her­ gestellt, jedes Wort eine Notwendigkeit, sonst hat es keinen Sinn. Und deshalb werde ich auch niemals vom «Schreiben» leben können, deshalb muss ich immer einen Beruf daneben haben, um mein Brot zu verdienen. Jedes Wort aus einer inneren Notwendigkeit heraus geboren, etwas ande­ res darf das Schreiben nicht sein. 24. April [1942], Freitagmorgen, halb 10. Dieses Gesicht von Eduard Veterman62 inmitten der beisammenhocken­ den Schauspieler in der Cafeteria: Es war geradezu wie ein sanfter, freund­ licher, geheimnisvoller Mond, der über einer unruhigen Landschaft schwebte. Es war auch gerade so wie ein Lampion, der einen sanften Lichtschein ausstrahlte. Und als ich dort klein und verloren mitten auf der großen Bühne stand, mit dem gähnenden leeren Abgrund des Saals, der sich bedrohlich vor mir und unter mir befand, da wurde ich auf einmal von einem sehr undefi­ nierbaren, seltsamen Gefühl ergriffen. Ich konnte mir vorstellen, dass man nur noch aufgrund dieses gähnenden Abgrunds leben kann. Das waren eigentlich die stärksten Eindrücke dieser vielen Stunden, die ich in der Theaterwelt verbrachte. Wirklich Menschen, mit denen man

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näher in Kontakt treten wollen würde, findet man dort nicht. Ich habe in jenen Tagen erfahren, dass doch die letzten Reste von Snobismus von mir abgefallen sind. Ich muss auf einmal daran denken, wie ich mit vielleicht 15 Jahren in dem kleinen Arbeitszimmer von Vater, das unordentlich und unpersönlich war, wie eigentlich alle Zimmer in all den verschiedenen Häusern, die wir je­ mals bewohnt haben, saß und schreiben wollte. Es wollte dann etwas nach draußen brechen, aber es konnte keine Form finden. Und ich weiß noch, wie ich damals aufschrieb: «Rot, grün, schwarz. Ich sehe durch die Blätter des grünen Baumes ein Mädchen in einem knallroten Kleid.» Usw. Das war die einzige Art und Weise, wie ich all den heftigen Gefühlen, die in mir steckten, Ausdruck verleihen konnte. Auch später noch einmal im Zug nach Paris. Überwältigt vom Rhythmus des Zuges, von den vielen Eindrücken – damals saß ich auch da mit einem dürftigen kleinen Notiz­ block fest zwischen meine Finger geklemmt und wollte etwas aufschrei­ ben. Und ich schrieb damals so in etwa: grau, fahl, schwarz, aber drinnen ist es knallorange und feuerrot. Und ich schrieb damals in diesem rasen­ den Zug auch auf: «Die Welt ist doch wohl sicherlich für jeden Menschen einzeln einmal untergegangen und doch existiert sie noch immer.» Wie seltsam. Ich weiß noch, dass ich diese Formulierung eine sehr eindrucksvolle Schöpfung fand und dass sie mich für eine Weile von meinem innerlichen Krampf erlöste. Und es geht mir immer noch so: Ich würde jetzt gerne etwas aufschrei­ ben, ich würde gerne etwas Undefinierbarem in mir Ausdruck verleihen, das so gerne sprießen würde, und ich geniere mich fast für mich selbst, dass ich mit 28 Jahren noch immer keine Worte finde – ich würde dieses Papier gleichsam mit einem einzigen Wort streicheln wollen – ich könnte aufschreiben: gelbe Narzissen, kleine gelbe Sumpfdotterblumen und das südländische Gesicht meines marokkanischen Mädchens, das von oben darauf hinabschaut, und die drei Tannenzapfen von der Blaricumer Heide, die noch immer auf meinem Schreibtisch herumliegen – und dann meine Kastanienzweige, die nun die Grenze ihrer Blüte erreicht haben, die ihre vielen kleinen Hände so anmutig wie diejenigen einer Tänzerin ausstre­ cken und die gleichzeitig so beschwörend auf den Himmel gerichtet sind. Und so weiter. Viele unzusammenhängende Dinge. Aber eine Sache ist gut: Die sogenannte «Scharfsinnigkeit» von früher bin ich losgeworden.

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Ich könnte viele intelligente Formulierungen aufschreiben, die ich mir früher in Bezug auf dieses Leben mit viel Erfindungsgabe ausgedacht habe. Aber heutzutage bin ich dieser Formulierungen überdrüssig geworden. Ich frage mich manchmal, ob ich in letzter Zeit nicht zu sehr einfach nur aus meiner «Seele» heraus lebe  – und Gedanken zu gleichgültig behandle. Manchmal habe ich einen kleinen Anflug von einer guten Formulierung für dieses oder jenes, aber ich lasse sie gleich wieder fallen und finde das alles zu ausdrücklich. Ich habe ein größeres Bedürfnis, über gelbe Narzis­ sen und blühende Kastanienäste zu schreiben, als mir tiefgründige Dinge auszudenken. Der «Ausgleich» wird schon noch kommen. Geduld. Stetig, beständig, geduldig. Gestern Morgen bin ich um 6 Uhr aufgewacht, und das Erste, was mir einfiel, war: Ich müsste doch noch irgendwann einmal Niederländisch studieren und mir ein Werkzeug aus der Sprache bauen. Ich vertraue viel­ leicht zu sehr darauf, dass die Worte von selbst kommen werden, wenn die Zeit reif dafür ist. Aber vielleicht ist das mein großer Irrtum. Ich bin nichts und ich kann nichts. Und doch  – es gibt so viele Möglichkeiten, es schlummert so vieles, was gesagt werden möchte, und vielleicht arbeite ich doch innerlich härter, als man so konkret nachweisen könnte. Ich glaube, dass ich schon noch ziemlich schlimm «verstopft» bin, trotz der sehr gro­ ßen inneren Freiheit, die ich manchmal fühle. Es ist doch noch ein einzi­ ger großer, unbehauener Granitblock. Eine gute Charakterisierung eines Menschen zu erstellen, die Beschrei­ bung einer Atmosphäre – ich glaube, dass ich beim ersten Anlauf stecken bleiben würde. S. sagte einmal: «Sie genießen noch zu viel von Ihrem Talent.» Ich frage mich manchmal, ob überhaupt «Talent» vorhanden ist. Aber vielleicht verschwende ich tatsächlich noch alles zu sehr. Und ich müsste mich noch stärker auf diesen Schreibtisch und auf meine eigene Mitte konzentrieren. Alle zerstreuten Teile aus allen Ecken zusammenfegen und zu sich holen und zu einem einzigen Ganzen formen. Vielleicht zerstreue ich mich noch zu sehr wie Asche im Wind. Aber ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht gibt es irgendwann einmal einen Beginn und dann werde ich ja wissen, wie es weitergeht. Aber wie gelange ich zu diesem Beginn? Aber vor allem: beständig. Und zerbrösele deine Tage nicht zwischen den kompetenten Fingern. Die Zeit vergeht auch so schnell. Es ist schon wieder 10 Uhr. Um halb 8 aufgestanden. Mich um das Früh­ stück gekümmert. Ein paar Seiten von Rilke, eine Seite in der Bibel, ein bisschen unbeholfenes Gestammel in diesem Heft, in einer Dreiviertel­

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stunde kommt mein neuester Schüler, heute Mittag nach der Kaffeestunde muss ich wegen dieses noch immer rebellischen Bauches eine Stunde schlafen – dann wartet das Protokoll von Starreveld darauf, bearbeitet zu werden, für Kurt vorbereiten, Aimé schreiben, noch ein wenig am Russi­ schen arbeiten, heute Abend S. – Brief an Mischa. An einem solchen Tag kommt sehr viel auf dich zu. Es ist kalt und frostig heute  – ich habe meinen farbenfrohen Schal über meinen terrakottafarbenen Pullover als Kontrapunkt angezogen. Ich sitze hier jetzt so still und versunken und bin ganz bei mir selbst – und in einer Stunde werde ich ein ganz anderer Mensch sein: lebhaft und inten­ siv, und das Doofe ist, dass man nach so einer Unterrichtsstunde nicht direkt in die vorherige Versunkenheit zurückfällt  – sondern ein kleines bisschen verändert ist aufgrund des Kontakts zu einem anderen Element. Und so ist man wie ein chemischer Stoff, der den ganzen Tag Prozesse durchläuft und ständig mit anderen Stoffen vermischt wird und der kleine Veränderungen durchmacht. Ein kontinuierlicher, großer Prozess. Und wo ist der Urstoff? Was ist in dir selbst der Urstoff? Es hat fast etwas Be­ ängstigendes, wenn man das so plötzlich bedenkt. Dass man sich da ein­ fach so fortbewegt und in den vielen Stunden eines Tages lebt, und am Ende des Tages ist man wieder ein anderer, als man zu Beginn war. Aber da kommt Käthe mit dem Kaffee. nachmittags 2 Uhr. Auch dies musst du allmählich lernen: dass man an Tagen, an denen man so starke körperliche Unlustgefühle in sich verspürt, nicht um sich schlägt und kein Unheil um sich herum anrichtet. Eigentlich macht man das doch zu oft, sich ständig an der Umgebung rächen, wenn man sich selbst unglücklich fühlt. Man muss immer besser lernen, mit der eigenen Unlust klarzukommen, ohne andere zu sehr dar­ unter leiden zu lassen. Ich lerne allmählich, mich zu beherrschen. Ich fühle mich jetzt gerade wie ein Tier, das sich still irgendwo in eine Ecke ver­ kriecht und seine Pfoten dem Körper entlang ausstreckt. Ja, so ein Gefühl: nicht um sich schlagen, sondern zusammengekauert in einer Ecke liegen bleiben. Auch seine Gedanken und Gefühle nicht um sich greifen lassen. Früher war das bei mir sehr stark. Dann steckte ich alles um mich herum mit meinen Unlustgefühlen an, alles, was mir in den Sinn kam, alles, was ich zu sehen bekam. Jetzt weiß ich, wie ich diese Unlust isolieren und ak­ zeptieren kann, und ich sorge dafür, dass sie kein Unheil mehr anrichtet.

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Solche Tage sind schon sehr schwierig.  – Aber man muss doch immer unabhängiger von seinem eigenen Körper werden. Aber dennoch: Der Körper gehört dazu und ruft – auch in seinen Unlustmomenten – wieder Stimmungen und Empfindungen hervor, die einen letztendlich doch wie­ der bereichern. Diese Tage direkt vor der Menstruation unterscheiden sich immer sehr stark von allen anderen Tagen. Es ist gerade so, als ob ich eine ganz andere Zusammensetzung hätte, und auch die geistigen Prozesse sind dann ganz anders – wilder, unglaublicher, hemmungsloser auf der einen Seite, träger, langsamer, mit einer großen darunterliegenden Traurigkeit auf der anderen Seite. Und immer wieder droht an solchen Tagen die Gefahr, dass ich voll­ kommen das Gleichgewicht verliere, dass ich mich gehen lasse, dass ich meine Pflichten, die Arbeit, ja alles vergesse  – usw. Und es kostet mich eine gewaltige Anstrengung, jetzt zu mir selbst zu sagen: Und nun eine Stunde schlafen und dann ein paar Stunden arbeiten und dann dies und dann das. Eine größtmögliche äußere Disziplin ist vielleicht an solchen Tagen das Beste, obwohl es niemals ein größeres Bedürfnis nach Disziplin­ losigkeit und Treibenlassen gibt als gerade jetzt. Früher dauerten solche Prozesse – die in Richtung vollständige Selbstzerstörung gingen – Wochen, aber jetzt behalte ich mich unter Kontrolle. 4 Uhr, im Wintergarten, der sonnendurchflutet ist: Soeben, als ich schlafen ging, fragte ich mich ängstlich, ob wohl die vielen kleinen Anläufe bei mir irgendwann einmal zu einem einzigen großen Sturmlauf werden? Gleich werde ich diesen breiten, flachen Kübel, den Käthe für mich auf dem Dachboden gefunden hat, bis zum Rand mit diesen kleinen violetten Waldveilchen füllen, und das sollte dann morgen in der Frühe ein Gruß zu seinem 55. Geburtstag werden. – «Ich möchte mal wieder ein paar Worte fin­ den, die etwas zum Ausdruck bringen könnten von meinen vielen starken Ge­ fühlen für Dich. Und immer wieder kommen mir dieselben: Sei gesegnet Du!»

Morgen um 9 Uhr werde ich bei ihm frühstücken und danach wird der Tag noch viel Abwechslung und Bewegung mit sich bringen. 25. April 1942, Samstagnachmittag. Gut ist das, gerade ein paar Stunden für sich selbst zu haben in der Sonne: Dann fällt wieder eine Menge Bedrückendes von einem ab. Weshalb fühlte ich mich auf einmal so ein bisschen entwurzelt und entfremdet heute

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Morgen inmitten seines Blumengartens? Ich glaube, dass es von der einen Passage aus Tides Brief herrührte: Sie schrieb, dass sie Jasmin schicken werde und dass er dann dabei denken müsste, er käme von Hertha. Ich fühlte mich so klein angesichts dieser Geste, für so etwas bin ich noch lange nicht reif genug, ich werde das niemals können. Eigentlich ist das auch die einzige zögernde Stelle in meinem «Manuskript» vom 3. Februar an ihn: «Und dieser Deiner fernen und doch so nahen Freundin: ich hoffe ihr treu zu sein.» Neben diesem starken, jubelnden Brief von Tide (den er selbst ein wenig «überschwenglich» nannte) fühlte ich mich plötzlich so klein. Aber das ist schon wieder weg. Das kommt wahrscheinlich auch daher, dass ich mich heute wirklich körperlich schlecht fühle und dadurch etwas unsicher-ängstlich, dass ich heute Abend bei diesen Spaghetti zwi­ schen Werner und dem Eukalyptus nicht genügend Freude werde aus­ strahlen können. Doch sei immer so gut wie möglich du selbst, nicht ge­ künstelt, dann lieber ein bisschen ruhiger. Oh  – diese Blumen in seinen zwei kleinen Zimmern heute Morgen. Von allen Seiten wurden sie mit vollen Armen hineingetragen. Und dazwi­ schen sein liebenswürdiges, strahlendes, heute Morgen besonders jugend­ liches Gesicht. Gestern Abend. Ich hielt ihn eine Armlänge auf Abstand von mir – spät­ abends, als wir da auf einmal, nachdem wir einen Abend lang gearbeitet hatten, nebeneinander auf dem Boden lagen – und blickte auf sein gut­ mütiges, liebenswürdiges Gesicht, in dem der Mund so aggressiv wirkte – und ich werde ungefähr Folgendes gesagt haben: «Man kann körperlich einfach nicht ausdrücken, was man für den anderen empfindet. Und des­ halb bin ich eigentlich immer traurig, wenn wir uns körperlich wieder einmal angenähert haben. Mit einer sehr kleinen Geste kann man manch­ mal mehr sagen als in den wildesten und leidenschaftlichsten Liebesnäch­ ten.» Und ich warf mich fast verzweifelt neben ihn. Aber das ist alles nicht mehr so schlimm wie früher. Ich werde gerne von ihm umarmt, und doch ist da immer wieder die Angst, plötzlich an eine Grenze zu stoßen, hinter der es keine Möglichkeiten mehr gibt. Ich sagte ihm auch, dass ich mich ihm in einem Telefongespräch manchmal inniger und stärker verbunden fühle als in der intensivsten körperlichen Umarmung. Ist das eine Art von Übersensibilität? Dennoch liegen hier die ewigen Quellen des mensch­ lichen Leidens. Ich spüre dies nicht mehr so stark am eigenen Leibe wie früher, aber als fernes Echo ist es doch immer noch um mich herum.

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Und jetzt das: Wie ist es denn zu erklären, dass ich immer, wenn ich an einem Abend Körperkontakt mit S. gehabt habe, die Nacht bei Han ver­ bringe? Schuldgefühl? Früher vielleicht, jetzt nicht mehr. Hat S. Dinge in mir entfesselt, die noch nicht zur Ruhe gekommen sind und die dann ihr Leben bei Han fortführen? Ich glaube es kaum. Oder ist es Perversion? Eine Art Bequemlichkeit? Von den Armen des ­einen in die Arme des anderen übergehen? Was ist das denn für ein Leben, das ich führe? Als ich gestern Abend von S. nach Hause radelte, da habe ich all meine Zärtlichkeit, all die Zärtlichkeit, die man gegenüber einem Menschen, auch wenn man ihn noch so lieb hat, nicht zum Ausdruck bringen kann, in die große, weite Frühlingsnacht ausgeschüttet, die mich von allen Seiten umgab. Ich bin auf dieser kleinen Brücke stehen geblieben und habe weit über das Wasser geschaut, ich bin mit der Landschaft ver­ schmolzen und habe all meine Zärtlichkeit in diese Nacht niedergelegt und habe sie dem Himmel mit seinen Sternen und dem Wasser mit seiner kleinen Brücke zukommen lassen. Und das war für mich der beste Mo­ ment des Tages. Und ich spürte, dass dies die einzige Art und Weise war, dieses ganze, starke und zärtliche Gefühl, das man für jemand anderes in sich trägt, zu realisieren: es in der Natur niederzulegen, es unter einem freien, nächtlichen Frühlingshimmel ausströmen zu lassen und zu wissen, dass es keinen anderen Ausweg dafür gibt. Und so hätte mein Tag enden sollen, ich hätte in meinem schmalen Mädchenbett hinter dem glänzen­ den, vorhanglosen Fenster schlafen gehen sollen, die Bäume hätten dort wieder gestanden. – Aber ich kam nach Hause und traf Han an, er war allein und ein biss­ chen einsam in seinem Zimmer und damit beschäftigt, sich auszuziehen, und auf einmal sagte ich ohne allzu viel Überzeugung: «Soll ich wieder einmal bei dir schlafen?» Und Han sofort und ohne Zögern: «Ja, mach das doch wieder einmal.» Der Mensch ist etwas Erstaunliches. Man kennt ihn niemals vollständig. Plötzlich stieß ich in der vergangenen Nacht auf ein Stückchen nacktes Leben bei Han, das mich auf irgendeine Art sehr stark erschütterte. Im Zusammenhang mit seinen kleinen erotischen Annähe­ rungsversuchen an die beunruhigte Leonie führten wir tief in der Nacht unter der leuchtend blauen Überdecke ein langes Gespräch darüber, ob Treue zwischen Mann und Frau nicht ein erstrebenswertes Gut sei, auch wenn sie vielleicht noch so gegen die angeborene «Jägernatur» des Mannes sei. Bei Han ist das alles so unbewusst. Der Mann ist nun einmal ein Jäger und man muss sich nicht gegen die Natur stellen und es ist auch nicht so

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wichtig. Einen Mann muss man immer wieder aufs Neue aus nächster Nähe kennenlernen und immer wieder aufs Neue mit Erstaunen feststel­ len, dass bei ihm die Schwerpunkte im Leben ganz woanders als bei uns Frauen liegen. Und wir Frauen ruinieren vielleicht viele gute Beziehungen, indem wir etwas Wesentliches in dem suchen, was für den Mann manch­ mal kaum von Bedeutung ist. – Ich sprach noch darüber, wie sehr ich S. für seinen heldenhaften Kampf gegen das, was man seine Natur nennen könnte, bewunderte. Und Han sagte so in etwa: «Ja, aber er würde auch zugrunde gehen und seinen Beruf nicht ausüben können, wenn er dies nicht täte.» Na ja, das spielt alles keine Rolle. Plötzlich sprachen wir über so etwas Kindisches wie die «ideale» Frau. «Ja», sagte Han, «vielleicht käme man zu vollkommener Treue, wenn man die ideale Frau gefunden hätte.» «Und wo hast du denn am ehesten den Typus der ‹idealen› Frau gefun­ den?», fragte ich ihn. Und daraufhin sagte er, und das berührte mich durch die unerwartete Wendung und durch dieses «eigentlich-nie-jemandenvollständig-kennen» bis in mein Mark: «Vielleicht noch am ehesten in Dienstmädchen. Weil sie so natürlich sind. Man kann nicht mit ihnen reden und nicht mit ihnen leben, das ist schade, aber ich habe unter ihnen doch noch die ‹natürlichsten› Frauen gefunden.» Han, mit sanften graublauen Augen, die sehr unternehmungslustig in seinem fein geschnitte­ nen, gefühlvollen Gesicht aussehen können, das allmählich immer mehr die Zerbrechlichkeit eines alten Mannes bekommt, das aber doch in ge­ wisser Hinsicht noch eine jugendliche Unternehmungslust behält. Etwas, das nicht alt werden will. Ich habe manchmal auf einmal Angst, dass er einen einsamen Lebensabend haben wird. Und ich frage mich, ob es nicht meine Aufgabe wäre, mit ihm zusammen eine entsprechende Einstellung zum Leben zu erarbeiten, falls dieser einsame Lebensabend kommen sollte. Aber ich muss mich immer wieder selbst zurechtweisen und aufpassen, dass ich andere aufgrund meiner eigenen Kompliziertheit nicht kompli­ zierter und tragischer sehe, als sie sind. Han findet das Leben unkompliziert und gut und die ungewisse mate­ rielle Zukunftsaussicht beunruhigt ihn mehr als die inneren Unsicherhei­ ten. Aber manchmal erscheint er mir auf einmal so zart und so zerbrech­ lich und ich bin dann besorgt und habe gewissermaßen ein tiefes und beschützendes Mitgefühl für ihn. Die Schuldgefühle sind weg. Meine Ge­ fühle für ihn haben ihren eigenen Charakter und sind klar definiert und nicht mit Schuld oder Irritation oder was auch immer vermischt. Ich habe ihn in mein Leben aufgenommen, er ist ein Bestandteil davon geworden,

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der nicht mehr entfernt werden kann, ohne die ganze Konstruktion ins Wanken zu bringen. Und jetzt auf zu Geiger. Diese Sonne und die kleinen Kastanienblätter dort draußen an dem großen Baum. Auf Anordnung von S. ziehe ich mein Zigeunerkleid an und hoffe, ein kleines bisschen hübsch auszusehen. 26. April [1942], Sonntagmorgen, 10 Uhr. Das ist jetzt nur eine kleine, rote, heruntergekommene Anemone. Aber in vielen Jahren, wenn ich eine Matrone geworden bin, werde ich sie zwi­ schen diesen Seiten wiederfinden, und dann nehme ich diese vertrocknete Blume in meine Hände und sage ein bisschen wehmütig: «Schau, diese rote Anemone trug ich in meinem Haar am 55. Geburtstag jenes Man­ nes,63 der in meinen jungen Jahren der größte und unvergesslichste Freund war. Das war im dritten Jahr des zweiten Weltkriegs, wir aßen illegal er­ worbene Makkaroni und tranken echten ‹Bohnenkaffee› dazu, an dem sich Liesl ‹beschwipste›. Wir waren alle so fröhlich und fragten uns, wie es wohl am nächsten Geburtstag um den Krieg stünde, ob er vielleicht schon zu Ende sein wird, und ich hatte diese rote Anemone in meinen Haaren und jemand sagte: ‹Du bist jetzt genau eine Mischung aus Russisch und Spanisch!›, und irgendein anderer Mann, ein blonder Schweizer mit ­markanten Augenbrauen, sagte: ‹eine russische Carmen›, woraufhin ich ihn dann fragte, ob er nicht für uns mit seinem lustigen Schweizer Rrr ein Gedicht über Wilhelm Tell aufsagen würde.» Und später gingen wir wieder durch die bekannten Straßen von Ams­ terdam-Zuid und stiegen zuerst hoch in seinen Blumengarten. Und Liesl lief inzwischen voraus zu ihrem Haus und zog ein Kleid aus glänzender, schwarzer Seide an, eng an ihrem schlanken Körper anliegend, mit weiten Ärmeln in einem durchsichtigen Himmelblau und demselben Himmel­ blau über den kleinen weißen Brüsten. Sie ist Mutter von zwei Kindern und doch so schlank und zierlich. Und doch auch wieder: in gewisser Hinsicht diese verborgene Urkraft. Und Han sah ebenso «fesch» und unternehmungslustig aus und auf seiner Tischkarte stand denn auch: «ewig jugendlicher Liebhaber, Heldinnen­ vater», diesen Titel hat er unter Protest akzeptiert. Liesl sagte später zu mir: «In diesen Mann könnte ich mich verlieben.»

Aber der Abend gewann auf einmal – zumindest für mich – durch Fol­ gendes an Kontur: Es war gegen halb 12, Liesl saß am Klavier im Neben­ zimmer, und S. saß vor ihr auf einem Stuhl und ich lehnte mich an ihn an.

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Liesl fragte etwas, wir waren plötzlich mit der Psychologie beschäftigt, die Gesichtszüge von S. bekamen wieder dieses Intensive und Ausdrucksstarke und mit der Lebendigkeit und Bereitschaft, die ihn niemals verlässt, ­begann er ihr in klaren, lebendigen Worten etwas zu erklären. Es lag ein langer Tag hinter ihm, ein Tag mit Blumen und Briefen und Menschen und Lauferei und mit der Organisation eines Abendessens, bei dem er am Kopfende der Tafel saß, und später Wein und nochmals Wein, den er nicht besonders gut verträgt, und er wird auch sehr müde gewesen sein, aber dann kommt da plötzlich jemand mit einer zufälligen Frage zu den ernsten Dingen des Lebens und plötzlich spannen sich seine Gesichtszüge, er ist ganz «bei der Sache», er hätte ebenso gut auch an einem Rednerpult vor einem aufmerksam lauschenden Saal stehen können. Und Liesl ­bekommt plötzlich ein gerührtes Gesicht über all diesem durchsichtigen Himmelblau, schaut ihn mit großen Augen an und stottert auf ihre eigene rührende Art: «Das finde ich so erschütternd, daß Sie so sind.» Und ich lehne mich noch enger an ihn an und streichle seinen gut­ mütigen, ausdrucksstarken Kopf und sage zu Liesl: «Ja, siehst du, das ist eigentlich das größte Erlebnis mit S. Er ist stets bereit und hat immer eine Antwort für dich, und das rührt daher, dass so eine große Ruhe und Be­ reitschaft in ihm steckt, er ist immer, aber auch wirklich immer aufmerk­ sam, und deshalb hat auch jede Stunde, die man mit ihm verbringt, ihren tieferen Sinn, und deshalb vergeudet man niemals Zeit mit ihm.» Und S. schaute so ein bisschen kindlich verwundert mit einem Ausdruck, den ich noch lange nicht beschreiben kann, für den ich noch immer nach Worten suche, schon seit einem Jahr, und sagte: «Aber das ist doch bei jedem Men­ schen so?» Er küsste die kleine Liesl auf ihre Wangen und ihre Stirn und zog mich fester an sein Knie und ich musste auf einmal an Liesls Wunsch denken, den sie vor ein paar Wochen auf ihrem sonnigen Dach ausgespro­ chen hatte: «Ich möchte mal einige Tage mit S. und Dir zusammensein, ir­ gendwo draußen, auf der Heide.»

Und als wir dort gestern Abend kurz zu dritt waren, glaubte ich auf einmal, dass das gut werden könnte. Dann kamen die anderen und ström­ ten durch die Vorhänge hinein und es wurde noch die Frage gestellt, ob wir bis 4 Uhr früh bleiben dürften, aber S. sagte: «Man sollte niemals bis ans Limit gehen wollen, es sollte noch etwas für die Fantasie übrig bleiben.» Und dann rannte ich durch die mondhelle, leere Nacht nach Hause, nachdem ich im Aufgang bei einem schnellen Abschied noch kurz seinen sanften, guten Mund auf dem meinen gespürt hatte. Ich kam wieder über

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dieselbe Brücke wie auch am Abend zuvor, als ich ebenfalls von ihm kam und meine Zärtlichkeit zurückgelassen und ausgegossen hatte, aber jetzt war alles wieder anders, ich raste über die Brücke und durch die schon völlig leeren Straßen und kam atemlos um Viertel nach 12 hereingestürmt, wo mir Han mit seinen liebenswürdigen, blauen Augen schon entgegen­ kam. Und ich schlief freundschaftlich in seinen Armen ein und wir waren beide zufrieden mit dem Abend, wahrscheinlich jeder auf seine Weise. 9 Uhr abends. Gerade ein langes und klärendes Gespräch mit Han geführt. Dieser Vorfall mit Hesje vor einem Jahr, von dem er erst jetzt erzählt. Und ich sagte mit einer Art Stolz zu ihm: «Siehst du, ich bin eine Frau, die immer alles erfährt, alle erzählen mir immer alles, weil sie spüren, dass ich alles verstehen kann. Und Frauen werden immer zu mir kommen und von ihren Problemen er­ zählen, die sie mit meinem Mann haben, weil er sie nicht in Ruhe lässt oder umgekehrt und sie wissen, dass sie damit zu mir kommen können, weil ich sie immer verstehen werde und nicht meine, eine eigene Gekränktheit oder Benachteiligung in den Vordergrund stellen zu müssen.» Typisch eigentlich, so eine Hesje; die sich rühmt, die Männer zu ken­ nen, und die so viele Männer «gehabt» hat, und doch weiß sie letzten En­ des nicht, wie es eigentlich genau um einen Mann bestellt ist und wo der Schwerpunkt in einer Beziehung zwischen Mann und Frau liegt. Na ja, darüber wollte ich ja überhaupt nicht schreiben. Ich lief durch die Beethovenstraat heute Mittag, ich war unterwegs zu Tides sonnigem Zimmer und ich musste auf einmal an S. denken: Er ist wie ein alter, verwitterter Stamm und es blühen genauso viele Zärtlich­ keiten an ihm auf, wie sich grüne, kleine Blätter an einem alten Baum entfalten. Ich habe ihm einmal geschrieben: Man sollte sein einziges großes Ver­ langen nicht in hundert kleine Befriedigungen aufteilen. Und jetzt möchte ich ergänzen: Seine eine große Zärtlichkeit muss man in tausend kleine Zärtlichkeiten aufteilen, weil man sonst unter dem Gewicht dieser einzi­ gen großen Zärtlichkeit zusammenbrechen könnte. Tausend kleine Zärt­ lichkeiten: für einen Hund auf der Straße und für einen alten Blumen­ händler – und das richtige Wort finden, nach dem jemand ein Bedürfnis haben könnte. Und dann auch nicht mehr traurig sein, weil man meint, dem einen, großen, starken Gefühl, das man in sich trägt, keinen Aus­ druck verleihen zu können. Am Freitagabend, als ich von ihm durch die

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Frühlingsnacht wegradelte, habe ich die große Liebe und die übergroße Zärtlichkeit, die ich für ihn empfinde, in die Nacht hinausgegossen, habe davon etwas in die Sterne gelegt und etwas in den Sträuchern am Wasser zurückgelassen. Und auch dies: Man muss seine eigenen starken Gefühle auch tragen und ertragen und aushalten können. Man sollte nicht immer davon befreit werden wollen, man muss sie auch mit sich herumtragen können, und dabei darf man nicht darunter zermalmt werden, sondern man sollte daraus Kraft schöpfen, nicht nur für diesen einen Mann, son­ dern auch für viele andere Geschöpfe Gottes, die ebenfalls ein Anrecht auf unsere Aufmerksamkeit und unsere Liebe haben. Aber dies ist wahr: Er ist ein uralter, verwitterter Stamm voller sprie­ ßender Zärtlichkeiten; genauso viele, wie ein Baum viele kleine zarte Blätt­ chen hat. Leonie ist damit beschäftigt, in meinem Privatleben herumzustochern.64 Eigentlich sehr unanständig. Intuitiv hat sie wohl schon seit Jahren ge­ spürt, dass zwischen Han und mir «etwas ist», aber ihre Intuition ist doch nicht so weit gegangen, dass sie es fertiggebracht hätte, mich nicht nach konkreten Dingen zu fragen. Sie möchte so gerne alles über mein Leben wissen, aber wie soll ich ihr erklären – sofern sie mein Leben kennenlernen will –, dass die Realitäten, die es ausmachen, ganz woanders liegen? Es ist wahr: Ich habe heute Nacht in Hans Armen geschlafen, aber das eigent­ liche Erlebnis von heute war doch die Magnolie in der Ecke von Tides Zimmer, die mir mit ihrer geheimnisvollen Schönheit fast Angst gemacht hat. Ich habe fast 5 Minuten mit offenem Mund wie angewurzelt da­ gestanden, als ob ich nicht glauben könnte, dass so viel Schönes möglich wäre, und als könnte ich das alles nicht so schnell verarbeiten. Ich konnte mich beinahe nicht von diesen Blumen losreißen und habe mit meinen Fingern ganz vorsichtig über die Blätter gestreichelt und hätte Tide bei­ nahe gefragt: «Darf ich bitte deiner Magnolie jeden Tag kurz einen Besuch abstatten?» Und ich könnte mir vorstellen, dass ich mich danach wie nach einem lebendigen Wesen sehnen würde. Und dies war für mich eine noch viel größere Realität als dieser Mann und dieses Bett, über das diese ­unglückliche Leonie so gerne alles ganz genau wissen wollte. Ich habe ihr dann letzte Woche großherzig gesagt: «Gut, wenn du von mir als Freundin Rechenschaft wünschst über mein Leben, dann bin ich bereit, dies in ­klaren Worten zu tun und dir konkrete Fakten zu liefern.» Später war ich doch fast wütend und fand es beinahe unverschämt und dachte: «Ja, als wirklich echte Freundin müsstest du eigentlich heraus­

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fühlen, wie das Leben für den anderen ist, und ansonsten sollte man dem anderen seine völlige Freiheit lassen. Aber es ist wahrscheinlich das Beste, dies doch in die psychologische Behandlung einzubeziehen, und dadurch, dass ich ihr etwas von meinem Leben erzähle, gebe ich ihr die Gelegen­ heit, sich von mir zu befreien. Wenn ich ihr konkrete Fakten über mein Leben präsentiere, dann kommen ihre Fantasien über mein Leben viel­ leicht etwas zur Ruhe, und je realistischer und objektiver ihr Bild von mir wird, desto größer wird ihre Chance sein, sich von mir zu befreien.» Und ich bin überzeugt davon, dass Liesl, die mich erst seit Kurzem kennt, jetzt, wo sie Wegerif und mich ein paarmal zusammen erlebt hat, schon irgendwie herausfühlt, wie das zwischen uns ist, aber dass sie nie­ mals danach fragen würde. Und ich könnte ihr ganz nebenbei mit größ­ tem Vergnügen sagen: «Mit diesem Mann habe ich ein Eheleben von 5 Jahren hinter mir, und das ist auch der Grund, weshalb sich in mir diese große Ruhe ausgebreitet hat.» Heute Mittag hatte ich das Bedürfnis, ein Bildhauer zu sein, der mit großen, dunklen Flächen arbeitet. Er füllte den ganzen Stuhl mir gegen­ über, plötzlich so mächtig und imposant, ich saß etwas versunken auf der Couch ihm gegenüber und saugte ihn mit all meinen Sinnen auf, und zugleich betrachtete ich ihn objektiv-sachlich und fühlte, dass mir die Be­ schreibungsmittel fehlten, um eine sachliche Beschreibung von ihm zu erstellen, wie er dort so saß, aber dass es mir auf Dauer doch gelingen wird. Ich muss noch ein ganzes Leben lang an ihm mit dürftigen Worten «üben», mit Worten, die noch unbeholfene Schläge auf einen schweren unhandlichen Granitblock sind. Er hatte sein linkes Bein über sein rechtes geschlagen und der schwere Rumpf – die breiten Schultern und die mäch­ tige Brust – verrieten, dass er zuhörte, und darüber war der Kopf, ein wenig geneigt, der noch mehr zuhörte. Zwischen zwei Liedern von Tide las er weiter im Brief der 19-jährigen Riet. Und es fiel mir auf, wie wehrlos sein Gesicht den aufeinanderfolgenden und sich stets verändernden Emotio­ nen ausgeliefert war, die gewissermaßen von Zeit zu Zeit von innen heraus neu modelliert werden. Der schwere Kopf – die Stirn: nicht hoch, aber so konzentriert und stark, die Faun-Ohren, die Haare, die grau werden und doch noch so jung sind, über diesen Brief gebeugt, also über ein junges und blühendes, beginnendes Leben gebeugt, und sein Mund war auf ein­ mal so schlaff und so wehrlos, dass es aussah, als ob er anfangen würde zu weinen. Und er hob den Kopf ruckartig und schaute mit nachdenklichem, konzentriertem Blick nach draußen, und da war auf einmal auch wieder

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diese kleine unbezähmbare Wölbung auf seiner Unterlippe, die aus dem Zusammenhang seines Gesichts herausspringt, die fast selbst wieder ein kleiner Mund für sich ist. Es huschten heute Mittag so viele Emotionen über sein Gesicht, es war so offen und so nackt, wie ich es seit Langem nicht mehr gesehen habe. Und daneben doch immer die große Diszipli­ niertheit und die Sachlichkeit in seiner Sprechweise, sodass bei ihm nie­ mals die Gefahr der Sentimentalität besteht. Und beim Gehen kurz seine große warme Hand entlang meines Gesichts: «Na wie ist es denn, sind Sie noch melancholisch?» Und wenn ich dann so ein bisschen einfältig zu ­kichern beginne und gar keine Antwort gebe, versucht er dieses Lachen tief in seiner Kehle nachzuahmen, und wenn er mein Lachen imitiert, klingt das für mich immer wie die größte Liebkosung. Mein «Kirgisen­ lachen» nennt er das und kneift seine Augen halb zu und lacht dann mit einem sehr tiefen und warmen Klang in seiner Kehle. Immer wenn er mich imitiert, empfinde ich das als eine große Liebkosung. Die meisten Menschen sind doch eigentlich zufällige Durchgangs­ heime für die großen Gefühle: Manchmal kann in jemandem eine plötz­ liche Zärtlichkeit sein, die dann für Monate wieder verschwinden kann, und man weiß nicht, wohin sie verschwunden ist. Und so ist das mit ­allem. Aber er ist ein beständiges Gebäude, ein immer bereitstehender ­Zufluchtsort für die großen Gefühle. Er kommt mir vor wie ein riesiges Zuhause, in dem die wesentlichen menschlichen Dinge dauerhaft und ewig beherbergt sind. Und es gibt viele Räume in diesem Gebäude.65 Und nun muss ich mich wieder einmal ans Organisieren machen, wie­ der einmal das Heft in die Hand nehmen, ich bin schon lange genug hin­ ter diesem nervigen Bauch hergelaufen, es muss wieder einmal Schluss damit sein. Fühlte mich heute schrecklich rheumatisch im Nacken und in den Schultern und so müde, als ob ich niemals mehr arbeiten wollte. Aber ich muss mich doch wieder einmal hinsetzen und beständig die vielen Arbeitsrückstände, die sich angesammelt haben, abarbeiten. Das Protokoll von Pieter, zu dem dasjenige von Hanneke66 morgen noch hinzukommt, und noch das Protokoll von Jeanne L.67 Und sein Manuskript68 für den Kurs am Dienstag weiter exzerpieren und schon Russisch für Donnerstag und für die verschiedenen Schüler vorbereiten und den Brief an Mischa usw. usw. Es häuft sich ja wieder schlimm an, wenn ich es jetzt nicht mal in Angriff nehme. Und Mittwoch Aimé, wenn er antwortet. Ich legte mir heute wieder einmal darüber Rechenschaft ab, wie mir zumute wäre, wenn Hertha plötzlich käme und seine Frau würde. Ich hätte

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das Gefühl, in den entlegensten Winkel der Erde abreisen zu müssen. Und in rasenden Zügen würde ich während Tausender Kilometer Fahrt ver­ suchen, Klarheit zu erlangen. Aber jeden Tag würde ich ein Stück weiter von ihm wegreisen wollen, nicht um vor ihm abzuhauen, das wird nie wieder gehen, er ist ein Bestandteil von mir selbst geworden, sondern um Ruhe zu finden, zuerst allein, und vielleicht würde ich auch wieder einmal zurückreisen. Und deshalb fühlte ich mich gestern gerade wieder so un­ sicher und zerbröckelt neben Tide. Weil sie diesbezüglich so toll und so stark ist und für ihn im böhmischen Zimmer bei den Levies fast offen be­ tete: «Möge sie, die er liebt, später mit ihm hier wohnen dürfen.» Nein, das kann ich nicht, wirklich nicht. Und nun noch eine Kleinigkeit: Liesl erzählte mir gerade am Telefon, dass Werners erster spontaner Ausruf, nachdem wir gegangen waren, war: «Wenn ich jetzt denke an die Weiber vom Theater, die sind doch eigentlich zum Kotzen.»

Montagmorgen [27. April 1942], 8 Uhr. Aus einem Brief von Rilke aus dem Jahr 1906: «Übrigens steht mein unbedingter Entschluß dahin, mich täglich und wo und unter was für äußeren Umständen es auch sei, für soundso viele Stunden einzuschließen … um der Arbeit willen: ob sie nun wirklich kommt oder ob ich nur die dazugehörigen Gebärden mache, unangefüllt. Wußte ich denn nicht schon seit Rußland mit so großer Überzeugung, daß das Gebet und seine Zeit und seine ehrfürchtig und unverkürzt weitergegebene Gebärde die Bedingung Gottes war und seiner Wiederkehr zu dem und jenem, der es kaum erwartete und nur niederkniete und aufstand und plötzlich voll war bis an den Rand …? So will ich niederknieen und aufstehen, täglich, allein in meiner Stube, und will heilighalten, was mir darin widerfuhr: auch das Nichtgekommensein, auch die Enttäuschung, auch die Verlassenheit. Es gibt keine Armut, die nicht Fülle wäre, wenn man sie ernst und würdig nimmt und nicht zum Ärgernis macht und preisgibt.»

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Etwas später an diesem Vormittag. Seine Stimme klang gestern so unerschütterlich und stark in Tides Zim­ mer. Ich habe ihn noch niemals so tadellos und wirklich hinreißend ­singen hören. Und ich glaube, dass er am Samstag zuvor, am Tag seines Geburts­ tags, so mit Liebe und Wärme «zugefüttert», so mit Liebe von allen Seiten überschüttet wurde, dass deshalb seine Stimme so unerschütterlich und

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stark klang. Ja, so klang es: als ob seine Stimme kräftige Nahrung zu sich genommen hätte und jetzt stärker war als je zuvor. Gleich kommt Hanneke mit ihren tiefliegenden und leuchtend blauen Augen. Dass ich sie nach Jahren wieder in diesen beiden kleinen Zimmern als «Objekt» treffe, das ist ja schon sehr sinnreich. Ich hoffe, dass er zuerst seine heilenden Hände auf meine Schultern und meinen Nacken legen können wird, ich quietsche und knirsche wegen des Rheumas und fühle mich körperlich wirklich richtig krank heute. Mittwochmorgen, 29. April [1942]. Dass ich so stark lieben kann! Mein Inneres blüht in alle Richtungen auf und die Liebe wird immer stärker und größer und ich lerne auch immer besser, sie zu ertragen und nicht darunter zermalmt zu werden. Und durch dieses Ertragen fühlt man, dass man immer stärker wird. Dass ich so sehr lieben kann! Er ist ganz großartig. Dich wundert nicht des Sturmes Wucht, – du hast ihn wachsen sehn; – die Bäume flüchten. Ihre Flucht schafft reitende Alleen.70

So flüchteten die Bäume heute Morgen um 5 Uhr entlang des EislaufclubGeländes. Abgesehen von diesem einen kahlen Stamm vor meinem Fens­ ter. Der sah aus wie ein gebogener Karabiner aus einem orientalischen Märchen. Der Himmel war opalen und die Umrisse des Rijksmuseums verschwammen violett und gelb im Himmel. Ich wünschte, ich könnte jeden Tag ein neues Wort für ihn finden. Dass ich ihm jeden Tag besser Ausdruck verleihen könnte. Manchmal sitze ich in seinem kleinen Zimmer und schaue von Weitem zu ihm hinüber und dann würde ich manchmal auf einmal gerne um ihn herumgehen und ihn von allen Seiten betrachten und mit meinen Händen fühlen, aus was für einem Material er geschaffen ist. Dann ist er wie ein Ausstellungsstück eines ­Museums für mich: kompakt und geheimnisvoll und unergründ­ lich. Dann ist es gerade so, als ob ich ihn noch nie zuvor gesehen hätte, als

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ob ich ihn von Grund auf neu kennenlernen müsste. Und das ist – glaube ich – das große Wunder in unserer Beziehung, zumindest für mich: dass er immer wieder ein völlig Neuer ist, er muss immer wieder erforscht und ergründet werden, ich nehme ihn noch immer in mich auf, immer wieder in mich auf, er ist ein Material, das ich auch in vielen Jahren nicht zu Ende studiert haben werde – dies erklärt vielleicht auch, weshalb ich ansonsten viel zu wenig zum Studieren komme. Ich sagte ihm gestern Abend wäh­ rend des Telefonats, das jetzt immer unseren Tag beschließt und in dem es zu Höhepunkten unserer Freundschaft kommt, dass ich mög­licherweise erst wirklich zum Arbeiten kommen werde, wenn er einmal verheiratet ist und ich eine weite Reise ans Ende der Welt gemacht haben werde und eine ganze Menge erlitten habe – ich weiß nicht mehr, was er darauf ge­ antwortet hat, ich weiß nur, dass ich ihn sehr, sehr liebe. Am Ende unseres Gesprächs gestern Abend sagte ich: «Ist das nicht schön eigentlich, ich fühle mich krank, die ganze Woche schon, körperlich krank, aber sobald ich bei Dir bin

Und er: «Das ist das Schönste, was Sie mir heute gesagt haben.» So viel zu schreiben, keine Zeit, leider keine Zeit. Ein noch diszipli­ nierterer Tagesablauf. Nicht zu viel Zeit in die Ritzen zwischen den ver­ schiedenen Tätigkeiten des Tages fallen lassen. Umschalten von der einen zur anderen mit einer bestimmten und unbeirrbaren Bewegung. Ich ver­ zettle mich noch zu sehr zwischendurch und verliere dadurch Zeit, denke ich. Beständig. Mein Tag erscheint mir manchmal wie eine komplizierte Maschine mit vielen Hebeln. Ich muss immer besser lernen, die Hebel an dieser Maschine zuverlässig und ununterbrochen und kontinuierlich, ja, vor allem kontinuierlich, in Bewegung zu setzen. Es gibt so wahnsinnig viel zu tun. Und tief atmen zwischen zwei Handgriffen und dann ist man ausgeruht. Auf meinem Schreibtisch herrscht zu viel Chaos. Auch dies ist auf die fehlerhafte Bedienung der Maschine zurückzuführen. Und jetzt zum russischen Konversationsunterricht. oder mit Dir rede, bin ich vollkommen gesund und fühle mich gesund.»

5 Uhr nachmittags. verrückt, manche Dinge kann ich überhaupt nicht mehr auf Niederländisch sagen. An ihm sind meine schöpferischen Kräfte zum ersten Mal erwacht und an ihm werden sie auch zum ersten Mal eine Form annehmen. Er muss mich spä­ ter wieder von sich wegstoßen, in den Raum hinein. In einem einzigen klaren Augenblick sehe ich dies plötzlich sehr deutlich: dass ich mich nicht An ihm bin ich eigentlich erst schöpferisch geworden  –

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danach sehnen sollte, ein Leben lang bei ihm zu bleiben oder ihn heiraten zu wollen. An ihm bin ich zu einer Form gelangt, aber er muss sich von mir wegstoßen, sodass ich später in einem kosmischen Raum zu einer neuen Form gelangen werde, unabhängig von ihm. An diesem Sonntagnachmittag in Tides sonnigem Zimmer schlugen die Emotionen wie Wellen über sein Gesicht. Es waren die Nachwirkungen der Musik, seines eigenen Gesangs. Dieser Brief von Riet, diesem «jungen, beginnenden Leben, über den er sich beugte»,71 wie ich widerlich senti­ mental schrieb, hatte nichts damit zu tun. Von innen stiegen dort Emo­ tionen auf und formten und modellierten den weichen, nachgiebigen Ton seines Gesichts. Was ist denn um Himmels willen mit meinem Bauch los im Augenblick? Am Kaffeetisch – nur mit Han und Käthe – sagte ich plötzlich sehr über­ zeugt: «Wie fändet ihr das, wenn ich ein Kind bekäme? Ich bekomme ­sicherlich ein Kind.» Han schwieg einfältig und Käthe hatte schon eine Menge Spaß an dem Gedanken, wie wir es großziehen würden und was für eine enorme Hilfe es im Haushalt später wäre, wenn es nach mir käme. Aber ganz im Ernst. Es ist so merkwürdig in meinem Bauch. Ich bin völlig krank und fühle mich unwohl. Gestern lag eigentlich zum ersten Mal – nach 15 Monaten – seine warme Hand auf meinem nackten Körper als Wärme- und Kraftspender – nach 15 Monaten, es ist so schön, dieser ganz langsame Prozess bis hin zu einer Erfüllung. Und dieses Langsame und Vorsichtige ist so schön, gerade bei Menschen wie ihm und mir, die gerade in körperlichen Angelegenheiten – routiniert, wie man halt einmal war – meistens schnell und entschieden auf ein bestimmtes Ziel zusteuer­ ten. Und gestern Abend an meinem Schreibtisch, von ihm durch fünf Straßen, eine Brücke und eine Gracht getrennt, sagte ich ihm: «Mein Bauch hat sich heutemittag so gefreut endlich mal Ihre Bekanntschaft zu ­machen. Und jetzt, wo er die erste Schüchternheit und Verlegenheit überwun­ den hat, möchte er morgen wieder zurückkommen, er sehnt sich schon sehr

Ich fühle mich so merkwürdig und so schwindelig. Und doch dahinter diese «gesammelte Kraft». Und solche Zeiten der Krankheit und Schlaffheit sind zugleich auch wiederum die «schöpferischsten». Aber All­ mächtiger, ich hoffe ja nicht, dass dieses Theater mit heißen Fußbädern und Chininpillen nun noch einmal von vorne losgeht. Das ist auch kaum möglich. Diese eine Nacht bei Han. Das ist doch nicht möglich? Ich habe danach.»

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ihn heute Mittag verflucht und gesagt, dass ich nie wieder einen Mann ansehen werde, wenn dies wieder der Fall ist. Da liege ich nun auf der Couch, ein übles Wrack eines hysterischen Fräuleins. Ich bin unten so schwer und angespannt und in meinem Kopf so leicht. – Hinter mir die Sonne. Und meine Kastanie hebt viele kleine zierliche Hände beschwörend aus dem braunen Tonkrug heraus zum Himmel. Heute Abend zu S. Ich werde zwischen seine wärmenden, kraft­ spendenden Glieder gleiten. Vielleicht können seine magnetisierenden Hände dieses unbestimmte Schwindelgefühl, das durch meinen ganzen Körper geht, zum Verschwinden bringen. 8 Uhr abends. Es schien kurz ein Hauch von Nervosität in seiner Stimme zu sein, als er gerade quasi ironisch am Telefon sagte: «Na, und kommen Sie schon mit 72 ­Ihrem gelben Stern?» Selbst noch vor einigen Monaten schien es mir, als beträfen mich die äußerlichen, politischen Dinge in gewisser Hinsicht nicht, und ich fragte mich damals, ob das «Weltfremdheit» war, ein man­ gelnder Sinn für Realität. Jetzt würde ich mich das nicht mehr fragen. In­ nerlich sind immer mehr Kräfte gewachsen, sodass ich wirklich das Gefühl habe, diese Zeit ertragen zu können, sie zu überstehen, und ich empfinde es auch als eine historische Pflicht, sie zu überstehen. Vor einigen Mona­ ten führte ich in meiner Fantasie noch einen Kampf, wie ich mich – wenn ich es müsste – entscheiden würde zwischen diesem sonnigen Wintergar­ ten, ungestörtem Studium und Hans treuen Augen einerseits oder einem Konzentrationslager oder einem anderen Lager73 und mit S. geteilten Sor­ gen andererseits. Nun, jetzt ziehe ich das nicht einmal mehr in Erwägung. Jetzt, wo ich mich dies frage, merke ich auf einmal, dass ich innerlich derart gewachsen bin, dass es selbstverständlich ist, dass ich S. folge und seine Sorgen teile. Und dies rührt, glaube ich, daher, dass ich innerlich noch freier von ihm geworden bin und mich dadurch imstande fühle, mein Leben vorübergehend mit seinem zu verbinden, ohne dabei das Ge­ fühl zu haben, meines aufzugeben. Dies wird für viele paradox klingen, aber es ist die einzige Weisheit zwischen Mann und Frau. Und auch noch dies. Vor Monaten hatte ich vielleicht Angst, dass der Traum aufgrund eines täglich von Sorgen geprägten Daseins platzen würde. Jetzt sind irgendwie so eine starke innere Verbindung und eine Verbundenheit mit ihm entstanden, dass eine äußere Realität daran nicht viel beschädigen kann. Und dadurch, dass man die Realität immer stärker

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nach innen verlegt, wird man immer unabhängiger von äußeren Umstän­ den. Ich schreibe das jetzt an meinem vertrauten Schreibtisch, umgeben von Büchern, Kastanienzweigen und gelbem Scharbockskraut, und schräg gegenüber an der Wand ist der gezeichnete Kopf von S. Ich kann das jetzt vielleicht einfach schreiben, aber doch ist da etwas in mir, etwas sehr Kräf­ tiges und Unzerstörbares, das weiß, dass es auch andere Umstände wird ertragen können. Ich bin so froh, dass er ein Jude ist und ich eine Jüdin. Und ich werde mich bemühen, bei ihm zu bleiben und mit ihm zusammen diese Zeiten zu überstehen. Und ich werde ihm heute Abend auch sagen: Ich fürchte mich eigentlich vor nichts, ich fühle mich so stark; ob der Boden, auf dem man schläft, ein bisschen härter ist, ob man sich nur auf bestimmten Stra­ ßen74 bewegen darf statt auf allen Straßen und so weiter und so fort, das sind alles nur graduelle Unterschiede, das ist alles so unbedeutend im Ver­ gleich zu den unendlichen Reichtümern und Möglichkeiten, die wir in­ nerlich in uns tragen. Lass uns diese beschützen und pflegen und lass uns ihnen treu bleiben und unseren Glauben daran bewahren. Und ich werde dir beistehen und bei dir bleiben und dich doch völlig frei lassen und dich später wieder an das Mädchen abtreten, das du zu deiner Ehefrau machen willst. Ich werde dich unterstützten bei jedem Schritt, äußerlich und in­ nerlich, ich glaube, dass ich nach und nach reif geworden bin, eine Menge harte Dinge in diesem Leben zu ertragen und dennoch selbst nicht inner­ lich hart zu werden. Ich fühle mich so sicher und nicht im Geringsten ängstlich und in ge­ wisser Hinsicht triumphierend und nicht zu brechen und auch so voller Liebe und Zuversicht. Und wo auch immer kurz ein kleines Zögern oder eine kleine Angst in dir durchbricht, dann bin ich sofort bei dir, dann unterstütze ich dich. Ein altes Kleid, ein paar Butterbrote, ein bisschen Sonne ab und zu und ein freundlicher Blickwechsel. Eine Hand, die dann immer noch da ist und die streicheln kann. Und ein bisschen arbeiten. Unsere Arbeit können wir immer überall erledigen, wo nur ein einziger Mensch in der Nähe ist, und sei es auch ein Lageraufseher. Ich komme jetzt direkt zu dir. Ich habe einen Traum von einem neuen rosa Hemdchen angezogen und habe mich von Kopf bis Fuß mit Fliederseife gewaschen. Ich habe mich schon manchmal innerlich darüber beklagt, dass es in dei­ nen zwei kleinen Zimmern so wenig Platz für unsere körperliche Liebe gibt und wegen all der Schilder und Verbote sonst keine Möglichkeiten, zusammen irgendwo hinzugehen. Und nun erscheint es mir ein Paradies

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von Möglichkeiten und Freiheiten, dein Zimmer, deine kleine Schirm­ lampe, meine Fliederseife und deine sanften streichelnden Hände. Gott weiß, was für eine große Freiheit dies jetzt für uns bedeutet im Vergleich dazu, was vielleicht noch kommen wird. Ich habe auch keine beängstigen­ den Visionen. Man weiß nicht, wie alles sich entwickeln wird. Ich denke nicht an die ferne Zukunft. Aber wenn es schwierig für uns werden wird, bin ich parat und bereit, es zu ertragen. Donnerstag [30. April 1942], 6 Uhr. Niemals resignieren, niemals flüchten, alles verarbeiten, dann lieber leiden, das ist auch nicht schlimm, aber niemals, niemals Resignation. – Heute Mittag kurz ein klarer Moment, als ich auf der Couch lag. Ich dachte: Dadurch, dass wir beide so «großzügig» sind, S. und ich, und uns beide der großen Weiten (?)75 so bewusst sind, die wir in uns tragen, ­meinen wir es uns vielleicht erlauben zu können, bedeutende Dinge nicht so wichtig zu nehmen. Wir glauben, dass es mit uns schon wieder gut wird. Ich meinte seine Treue zu Hertha. Er denkt: «Ich bin ihr doch treu.» Er ist sich seiner starken Gefühle sicher, und in der Zwischenzeit lässt er mich eine Rolle in seinem Leben spielen, die nicht mit dieser Treue har­ moniert. Und ich weiß auch, dass Hertha existiert, und in meinen noble­ ren Momenten bin ich auch ehrlich geneigt, diese Existenz zu berücksich­ tigen. Und dann ist da für mich ja noch meine Treue zu Han – aber wir gehen unsere eigenen Wege, S. und ich, und denken, dass wir doch treu sind und meinen, dass wir so viel Platz in uns haben, dass wir uns viele Freiheiten herausnehmen können, die der durchschnittliche Mensch nicht vertragen könnte. Aber können wir uns das tatsächlich erlauben, sind wir ernst genug in Be­ zug auf die großen Werte dieses Lebens? Ich fragte ihn am Telefon und er sagte: «Du bist ein gescheites Mädchen.» – Es gibt so viel zu schreiben. Es war einmal ein Mann in der Antike – hieß er nicht Prokrustes? –, und der wurde gestreckt, bis er in ein sehr großes Bett passte. Ich fühle mich – jetzt auch wieder –, als ob ich gestreckt würde. Es ist schrecklich schmerzhaft und es übersteigt fast meine Kräfte, aber wenn ich es durchstehe, bin ich wirklich wieder ein Stückchen größer geworden. Aber niemals Resigna­ tion, sagte ich mir plötzlich mit innerer Entschlossenheit: Zieh dich nie­ mals zurück, weil du Angst hast, etwas nicht durchstehen zu können. Ich weiß von dir, dass du es schon alles verarbeitest, wenn auch unter Leiden.

27. März 1942–30. April 1942 «Du Affe»,

sagte er heute Mittag, und eine plötzliche Rührung, die seine Augen feucht werden ließ, huschte über sein Gesicht. Du Affe. Und am Telefon eine Stunde vorher hatte er gesagt: «Ich hatte so ein Mitleid mit Dir heute morgen, Du sahst so verloren aus, ob alle Schiffe von Dir weggefah­

Und ich habe ihm gesagt, dass seine Ehrlichkeit mir gegen­ über doch das großartigste Geschenk für mich sei, und wenn ein Moment, der für mich schön war, für ihn weniger schön war und er mir das sagt – wie er das heute Morgen getan hat –, dann ist diese Ehrlichkeit mir gegen­ über noch ein schöneres Geschenk, als es der schönste Moment mit ihm jemals hätte sein können. Er ist schon so weit, er kann nicht mehr unge­ straft mit den großen Werten des Lebens spielen.

ren wären.»

Nach dem Essen. Und das erklärt vielleicht auch seine Reaktion auf gestern Abend. «Es war für mich kein unfreudiges Ereignis, so war es auch wieder nicht.» Aber den­ noch heute: weniger geistig-seelische Spannung. Man sollte für zwei Per­ sonen Tagebuch führen. Es ist sonst so einseitig. Man steigert sich in seine eigenen Gefühle hinein, aber was weiß man über den anderen? Der Gedanke an die «Freundin» spielte in die Unlust hinein. «Da ist noch eine Unklarheit in mir.» Kritik an ihm, um die er heute Mittag wieder bat, könnte vielleicht hier anknüpfen und nicht an kleinen Dingen, das erscheint mir sinnlos. Aber dazu später mehr. Gestern Abend. Um Viertel vor 9 kurz bei Liesl und Werner vorbeige­ gangen. Werner saß mit einem provozierenden Zigeunergesicht in einer Ecke der Küche und drehte an der Kaffeemühle – um dem gelben Stern zusätzlichen Glanz zu verleihen, hatte er sich auf 2 Pfund echten Bohnen­ kaffee76 eingelassen, die ihm am Nachmittag angeboten wurden; er wird dafür mindestens das Gehalt einer ganzen Woche ausgegeben haben  –, und Liesl schlurfte mit einem steifen Genick herum und hatte ein kreide­ bleiches Gesicht vom Husten. Und ich saß auf der Anrichte und wir ­waren schon fast betrunken vom Geruch des Kaffees und ich schaute mit Vergnügen in der sauberen und aufgeräumten Küche umher und auf Wer­ ners Zigeunerkopf, der manchmal so spitzbübisch sein kann, und auf Liesls schlanke Figur, und ich seufzte: «Kinder, es ist so sauber und ordent­ lich bei euch und so ein klares und ordentliches Interieur und ein ­Bohemien-Paar, wie ihr es seid, das ergibt zusammen eine faszinierende Atmosphäre.» Und dann saßen wir in Lehnstühle versunken mit dem dampfenden schwarzen Kaffee vor uns und sinnierten ein wenig über das

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Mittelalter und Geschichte und gelbe Sterne und Psychologie. In vielen Jahren werden die Kinder in der Schule etwas über gelbe Sterne und Ghet­ tos und Terror lernen und vielen werden die Haare zu Berge stehen. Aber parallel zu dieser Schulbuchgeschichte findet auch eine andere statt. Ein paar bequeme Stühle – vom Versicherungsgeld gekauft, weil die eigenen Stühle, zusammen mit allen anderen Besitztümern, bei einem Bombarde­ ment komplett von dieser Erde weggefegt77 wurden –, eine Tasse Kaffee, ein paar gute Freunde, eine angenehme Atmosphäre und ein bisschen Phi­ losophieren. Und das Leben trotzdem noch schön finden. Zumindest ich behauptete, dass ich so unverschämt sei, es doch noch schön und lebens­ wert zu finden. Werner blickte daraufhin bedenklich drein. Aber wir hat­ ten es doch zu dritt so gut dort zusammen. Ausgerechnet an dem Abend, an dem der «gelbe Stern» aufgegangen war. Und ich sagte: «Es ist vielleicht doch lohnenswert, dass man selbst die Geschichte miterlebt. Man kann dann feststellen, was noch über das, was in den Schulbüchern steht, hin­ aus passiert ist.» Dieser Herr in der Beethovenstraat heute Mittag ist er­ wähnenswert. Ich schaute auf ihn so entzückt, wie man auf einen ersten Krokus blickt, der aus dem Boden kommt. Er trug einen großen goldenen Stern triumphierend auf seiner Brust. Er war ganz allein geradezu wie ein Umzug und eine Demo. Und er radelte da so vergnügt. Und all dieses Gelb, ich hatte auf einmal die poetische Empfindung, dass über ihm eine Sonne aufging, so ungeheuer strahlend und vergnügt sah es aus. – Na ja, Mädchen, so vergnügt ist das alles nicht, und du scheinst dich wirklich über alles poetisch auslassen zu können. Ich habe mich gestern wieder gefragt, ob ich wirklich «weltfremd» bin, weil all diese Maßregeln mich persönlich so wenig treffen, obwohl ich mich doch wirklich keinen Moment lang selbst über die Ernsthaftigkeit von alle­ dem im Dunkeln lasse. Aber manchmal kann ich so eine Maßregel plötz­ lich als etwas Eindrückliches empfinden wegen der historischen Merkwür­ digkeit: Jede neue Verordnung bekommt gewissermaßen unmittelbar einen Platz in ihrer Epoche zugewiesen und dann betrachte ich sie aus der Pers­ pektive eines späteren Zeitalters. Und das Leiden, das viele menschliche Leid, und der Hass und die Streitbarkeit? Ich dachte gestern plötzlich dies: Es wird immer Leiden geben, und ob man nun wegen des einen oder wegen des anderen leidet, das spielt doch eigentlich keine Rolle. Es ist wie mit der Liebe. Es sollte immer w ­ eniger um das Objekt gehen als um die Liebe selbst, wenn es echte Liebe sein soll. Man kann wegen einer überfahrenen Katze vielleicht manchmal

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schlimmer leiden als wegen einer zerbombten Stadt mit unzähligen Op­ fern. Es geht nicht um das Objekt. Es geht um das Leiden, um die Liebe, um die großen Gefühle und um die Qualität dieser Gefühle. Und diese großen Gefühle, diese elementaren Grundstimmungen werden immer wei­ ter am Brennen gehalten (– brennende «Stimmungen» sind nicht schlecht!), und jedes Zeitalter erhält die Feuer mit anderen Brennstoffen aufrecht, aber es geht um die Glut der Feuer und nicht um die Brennstoffe. Und ob das nun gelbe Sterne und Konzentrationslager und Terror und Krieg sind, das spielt erst in zweiter Linie eine Rolle. Dennoch fühle ich mich auf­ grund dieser Überlegungen nicht weniger kämpferisch, denn moralische Entrüstung und Stellungnahme gehören auch zu den «großen Gefühlen». Aber es muss tatsächliche moralische Entrüstung in einem großen mensch­ lichen Rahmen sein und nicht kleiner persönlicher Hass, der meistens als Ausrede für kleine persönliche Gekränktheiten, die vielleicht schon Jahre zurückliegen, die Ereignisse um uns herum angreift. Solche Gekränkt­ heiten sind unverarbeitete giftige Stoffe, die ins Weltgeschehen hinaus­ getragen werden. – Ja, ja, diese Psychologie, wir lassen uns nicht mehr auf falsche Fährten locken und suchen bei jedem zuerst nach der Wurzel des Hasses, um zu untersuchen, ob diese echt ist und groß und von moralischem Gehalt. – Um Himmels willen, wohin schweife ich ab? Dies alles noch anlässlich dieser Viertelstunde beim Bohnenkaffee. Es ist nun halb 9. Und ich muss noch so viel schreiben. Ich hüpfte um Viertel nach 9 von meinen zwei Bohemiens in ihren sauberen Zimmern weg und stürmte außer Atem, geräuschvoll an etwas Klebrigem lutschend, bei S. herein. O ja, Werner sagte beim Weggehen: «Ich bin gespannt, wie S. reagieren wird auf diesen gelben Stern.» Und um halb 11 rief ich Werner noch kurz aus dem Zimmer von S. an und fragte: «Kannst du mir einen guten Anwalt beim Judenrat empfehlen? Wenn ich jetzt einen deutschen Emigranten – folglich einen Staatenlosen – heirate, welche Konsequenzen wird dies haben? Werde ich sein Schicksal teilen können, wenn er zum Beispiel nach Polen geschickt wird?» Usw. Und Werners plötzlich ernst gewordene Stimme: «Das sind keine Klei­ nigkeiten.» Und ich sehr bestimmt: «Ja, ich weiß, man bekommt dann eben ein Schicksal anstatt ein Leben.»

Und in den vielen Strudeln, in die ich nach diesem Augenblick hinein­ gezogen wurde, sind diese paar Worte fast verloren gegangen. Aber ich finde sie auf einmal wieder und sie machen mich wieder ein bisschen stolz

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und sehr ernst. Statt ein zufälliges Leben zu leben, fühlst du dich, so in aller Stille, gereift für ein «Schicksal». Reif, um ein «Schicksal» auf dich nehmen zu können. Und das ist die große Veränderung des letzten Jahres. Du musst nicht mehr an deinen Gedanken herummurksen und an deinem eigenen Leben herumpfuschen, sondern es ist ein organischer Prozess im Gange. Es wächst etwas und du wirfst wieder einmal einen Blick nach innen und dann ist dort wieder ­etwas ausgewachsen, und du musst es einfach nur annehmen und auf dich nehmen und weitertragen und gedeihen lassen. Vor ein paar Monaten habe ich mich gefragt, ob ich ihm ins Exil oder wohin auch immer folgen würde. Und in meiner Fantasie haben sich damals viele herzzerreißende Szenen abgespielt. Ich musste mich zwischen diesem lieb gewonnenen Schreibtisch, dem vertrautesten Ort, den ich kenne, diesem sonnigen Wintergarten und Hans ausgeglichener, immer vorhandener Behütet­ heit – um es mal so auszudrücken – und einem entwurzelten Leben an weiß Gott was für einem unfreundlichen Flecken dieser Erde entscheiden, von der Vergangenheit und von einer Zukunft abgeschnitten, so dachte ich, usw. Und in meiner Fantasie konnte ich damals keinen Entschluss fassen. Aber ich habe doch die ergreifendsten Gebete für ihn entworfen, für den Zeitpunkt, zu dem er einst irgendwo exiliert, weit weg von mir wäre, und ich habe ihm in Gedanken Briefe geschrieben, von denen ich entschieden glaubte, dass sie – wenn ich sie geschrieben hätte – zu den schönsten Brie­ fen der Weltliteratur gezählt hätten. Usw. Und gestern senkte sich auf einmal dieser seltsame Ernst von Reife und Gewissheit auf mich nieder und ich warf wieder einmal einen Blick in mich hinein, und siehe da, da war plötzlich in diesen Monaten etwas in mir ausgewachsen, es war da und ich hatte alles einfach nur «hin zu neh­ men». Ich wusste auf einmal, dass ich mein Leben mittels einer Scheinehe mit seinem verbinden würde, um bei ihm sein zu können. Ich würde ihn «unversehrt» seiner «Freundin» übergeben, ich glaubte, dass ich ein alltäg­ liches, hartes Leben mit ihm teilen könnte, weil ich mich noch freier und losgelöster von ihm fühlte als in den Monaten zuvor. Und ich schaue ab und zu in diesem Zimmer herum und sage: «O, Etty, weißt du denn, was du tust?» Aber dieses Zimmer kommt doch mit mir mit, es ist doch auch ein Teil von mir geworden, ich hätte sowieso nicht mein Leben lang hier­ bleiben können, das wusste ich ja, und ich trage das Zimmer ja in mir und werde mich immer darein zurückziehen können. Es gehört doch auch zu

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meiner Ausbildung, es stand mir jahrelang treu zur Seite und hat mich geformt, es war immer so bereit und offen und empfänglich, manchmal mit Sonne durchflutet. Und Han? Das ist doch auch ein zwangsläufiger Prozess? Ich werde ganz langsam von ihm weggleiten und auf einmal bin ich ganz weg, und ich weiß jetzt schon, dass es mir sehr oft das Herz bre­ chen wird, wenn ich an ihn denke, wegen ihm und auch wegen mir. Aber ich trage auch ihn mit mir mit, er ist auch zu Substanz meiner Substanz geworden und hat meine Substanz «gewandelt». Es war so eine große Ge­ wissheit in mir. Scheinehe, Staatenlosigkeit, Exil oder was auch immer und eine Ehe aus Freundschaft und aus Liebe, aber aus einer anderen Liebe als derjenigen, die für eine Ehe erforderlich ist. Und ihn später wieder frei­ geben und selbst von ihm wegreisen, ich möchte ja nicht mit meiner Per­ son eine Belastung für ihn sein, ich möchte ja nicht die geringste Unfrei­ heit, für keinen von uns beiden. Gerade weil ich mich so frei fühle, würde ich es wagen, diese Not zu teilen. Mit allen damit verbundenen Risiken. Einerseits schon die Gefahr einer zu engen Bindung und andererseits ­gerade ein gegenseitiges Abstoßen und die Gefahr einer nachlassenden ­Intensität. – Aber das spielt doch alles keine Rolle? Es geht doch darum, dass man zu zweit vielleicht besser durch die große Not kommt als allein? Dass man diese schwierigen Jahre überlebt? Und darum, ob ich ihm prak­ tisch helfen kann? Und so weiter. Ein langes und ernstes und beinahe sachliches Gespräch. Und er blickte plötzlich auf mich herunter – ich saß auf dem Boden an sein Knie angelehnt  – und sah mich so forschend und zärtlich gestimmt an und fragte: «Wie ist das doch so gewachsen bei Dir?» Und später: «Du bist ein phantastisches Mädchen.»

Und es ist gut, sich einmal ganz krank und durcheinander und aufge­ löst zu fühlen, so wie heute, und sich dann wieder zu fragen: «Willst du das wirklich?» Und dann auf einmal die nackte Angst und Unsicherheit und die Frage: «Kind, worauf lässt du dich denn da ein?» Aber allmählich nimmt die Sicherheit zu. Ich bin reif geworden für ein «Schicksal» und lebe nicht mehr nur zufällig. Zuerst einmal mit diesem Anwalt sprechen. Dann mit Tide. Und mit meinen Eltern. Und bei mir überprüfen, ob diese Sicherheit zunimmt. Und darum ist es prima, dass ich jetzt 28 und nicht mehr 22 bin, ich er­ halte nun das Anrecht auf ein «Schicksal», es ist nicht mehr Romantik, es ist auch kein Hang zum Abenteuer oder Verliebtheit, die einen Menschen zu verrückten und verantwortungslosen Handlungen treibt, sondern es ist

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schrecklicher, heiliger Ernst, und es ist auch so schwer und gleichzeitig auch so unvermeidlich. – Und dann kam der zweite Akt. Der war ganz anders. Der war weniger sachlich. Und so typisch: Ich kam einmal an einem Abend, das ist schon Wochen her, in seine zwei Zimmer hinein. Das Schlafzimmer erhaschte einen Lichtschein von seinem Arbeitszimmer, das Bett war schon für die Nacht bereit, ein aufgeschlagenes weißes Bettlaken und ein weißes Kissen, am Kopfende des Bettes leuchtend gelbe Narzissen, der schwere Ast voller Orchideen bog sich vornüber ins Zimmer, neigte sich über sein Bett. Ich stand kurz mucksmäuschenstill in dem kleinen, halbdunklen Schlafzim­ mer und betrachtete das weiße Kissen, auf dem in dieser Nacht sein Kopf liegen würde, allein – und dann ging ich weiter in sein Arbeitszimmer und wir haben den ganzen Abend hart gearbeitet, vielleicht gab es eine einzige zärtliche Geste zwischen uns, aber diese paar Minuten, während derer ich dort allein bei seinem aufgeschlagenen Bett mit dem Ast voller Orchideen gestanden habe, die vermittelten mir das Gefühl, eine Liebesnacht erlebt zu haben. – Und gestern lag ich zum ersten Mal nackt in seinen Armen auf diesem Bett, und es war weniger eine Liebesnacht als jenes Mal. Und doch war es gut. Es war nicht aufregend und es war auch kein Rausch. Aber es war so lieb und so vertraut. Letzte Hemmungen fielen von mir ab und es war so unendlich schön, mit halb geschlossenen Augen seine große, ausdrucksvolle Hand auf meinem weißen Körper ruhen zu sehen. Und er fand mich schön. Und er legte seine Hand vorsichtig auf meine Brust und flüsterte fast erstaunt: «so weich. – Und wie zart Du.»

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HEFT 8 18. Mai 1942–5. Juni 1942 18. Mai 1942–5. Juni 1942

[Montag, 18. Mai 1942.] Und diese Beppie,1 die jetzt mit heruntergerutschten Strümpfen und ­ungekämmten Haaren durch Amsterdam läuft und ganze Familien in die Illegalität und ins Verderben zu treiben scheint, weil sie für die Gestapo arbeitet. Obwohl ich Max nicht alles glaube, was er erzählt, werde ich ihm nie klarmachen können und werde es auch gar nicht erst versuchen, wie groß seine Schuld an ihrem Verhalten und wie bedauernswert dieses ver­ wahrloste und verkümmerte Kind ist. Ein naives, verwahrlostes Kind, das diesen Mann nicht begreifen und verarbeiten konnte, und die ganze Ge­ stapo und die ganze Besatzung und der ganze Krieg sind für sie nur Hilfs­ mittel, derer sie sich in ihren gequälten Wahnvorstellungen bedient. Und so weiter. Ich habe wirklich nicht genug Geduld in den Fingern, um einen Ro­ man darüber zu schreiben. Ich meine nur: Es ist so unerheblich, dass sie Spionin ist, dass sie sich vom Feind bezahlen lässt, dass sie ihren einstigen Verführer und Abtrünnigen mit allem verfolgt, was ihrem verwirrten Ge­ hirn zur Verfügung steht, es ist wirklich unerheblich, verglichen mit den Dingen, um die es geht. Die Gestapo ist zufällig die Kulisse, der Krieg und die Besatzung auch, das sind alles zufällige Requisiten um sie herum, wenn es keinen Besatzungsfeind gegeben hätte, hätte sie nach anderen Instru­ menten für ihre Qual und Verlassenheit gesucht – aber um das Ganze ­abzuschließen, müsste ich hinzufügen, dass sie auch ein widerliches, ver­ logenes, geschwätziges kleines Ghetto-Mädchen ist. Aus einem billigen, nicht ernst gemeinten Abenteuer – zumindest von der Seite des Mannes – wurden in ihrer Fantasie große Werte: Liebhaberin, Mutterschaft, Frau, Kameradin. Vor Jahren sagte sie mir einmal, und es klang schon damals fast lächerlich: «Ich habe zu Max gesagt: Ich will deine Mutter, deine ­Kameradin und deine Liebhaberin sein.» Sie ist letztendlich so unglückselig und zutiefst bedauernswert, aber

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dennoch sehr gefährlich. Aber dass sein Anteil an der Schuld so groß ist, ob Max das jemals begreifen wird? Eine hehre Absicht in einem erhabenen Moment seines Lebens zu konzi­ pieren ist wirklich nicht ausreichend, man muss sie dann auch noch aus­ tragen und aufziehen. Was Leonie betrifft, so habe ich es nur bis zur ­Konzipierung gebracht, aber dabei ist es dann auch geblieben. Aus dem Durchlesen ihrer Herzensergüsse «in blutigem Ernst» ist noch nichts ge­ worden, mein Widerwille ist noch zu groß, und morgen kommt sie schon wieder – wir sollten einfach ein bisschen Urlaub von ihr nehmen. Könnte es womöglich doch nur daher kommen, dass ich ihren Mund so hässlich finde, dass ich mich nicht daran gewöhnen kann? Die Bedrohungen von außen werden immer größer, der Terror nimmt von Tag zu Tag zu. Ich ziehe das Gebet wie eine dunkle, schützende Mauer um mich herum, ich ziehe mich in das Gebet wie in eine Klosterzelle zurück und trete dann wieder hinaus, «gesammelter» und stärker und wieder zu­ sammengerafft. Mich in die abgeschlossene Zelle des Gebets zurückzu­ ziehen wird für mich zu einer immer größeren Realität und auch Notwen­ digkeit. Diese innere Konzentration errichtet hohe Mauern um mich herum, in denen ich mich wiederfinde und mich aus all den Zerstreuun­ gen wieder zu einem Ganzen zusammenraffe. Und ich könnte mir vorstel­ len, dass Zeiten kommen, in denen ich tagelang kniete, bis ich endlich fühlte, dass sich schützende Mauern um mich herum errichteten, inner­ halb derer ich nicht auseinanderfallen und mich selbst verlieren und zu­ grunde gehen könnte. Dienstagmorgen [19. Mai 1942], 8 Uhr. In der engen Abstellkammer meines Körpers sind die Gefühle vorläufig in Kisten und Ballen gestapelt. Sie liegen verpackt und unbenutzt in der Ecke und warten darauf, dass sie ausgepackt werden und einen Platz in einem belebten Raum statt in diesem unbehaglichen Lagerhaus zugewiesen be­ kommen, in dem sie jetzt liegen und warten. Dies ist übrigens überhaupt nicht wahr, aber ich fand es so ein schönes Bild am frühen Morgen. Und vielleicht ist doch etwas davon in den letz­ ten Tagen wahr gewesen? Der gestrige Regen hat, so großzügig und reich­ lich er auch war, keine Befreiung von der bedrückenden Atmosphäre ge­ bracht. So könnte ich viele Seiten schreiben und vielleicht auch keine

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Befreiung für das in die Enge getriebene Gemüt finden? Ich glaube im Grunde, dass ich eher über Bauch und Nieren als über «Gemüt» sprechen sollte. Heute Morgen habe ich auch alle wackeligen Teile meines Körpers zusammengebetet. Dann schlinge ich ein starkes Seil um einige klappernde Teile und hoffe, die Dinge so zusammenzuhalten. In meinem Magen ist Übelkeit und in meiner Schulter ist Rheuma und in meinem Bauch be­ finden sich alle möglichen Dinge, die sich danebenbenehmen, wie die Nieren und Eierstöcke – oder vielleicht befinden sie sich ja gar nicht im Bauch. Aber auf dem abgenutzten Strohsitz des Badezimmerstuhls ver­ flochten sich meine Finger wie starke Zweige und daraus schöpfte ich wie­ der Kraft und Stärke. Um 10 Uhr werde ich Leonies «Beichte» bei S. wei­ terlesen, und vorher würde ich so gerne aus einem gewissen Pflichtgefühl heraus einen vernünftigen, längeren Brief an meine мать2 und meinen отец3 schreiben. Leonie liegt mir so schwer im Magen. Oh, lieber Gott, mach mich doch ein wenig gerecht und nicht eifersüchtig und wirklich, wirklich erwachsen und mach, dass ich ein wenig über den Dingen stehe. Und weil jemand einen Mund hat, der einem zu schlaff und zu sinnlich ist, darf man ihn deshalb gänzlich als Menschen zurückweisen? Wenn dem so ist, wie steht es dann eigentlich um deine Menschlichkeit? 12 Uhr mittags. Wenn ich heute Morgen etwas mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich noch etwa Folgendes aufgeschrieben: Er hatte in den letzten Tagen so viel zu tun. Es kommt mir auch gerade so vor, als ob er mich mit seinen Gedanken für einen Moment losgelassen hätte, er ist wieder so weit weg von mir. «Es gibt Ebbe und es gibt Flut», habe ich ihm einmal in einem vernünf­ tigen und gelassenen Moment geschrieben. Und schon seit gestern denke ich: Jetzt ist wieder Ebbe. Und ich reagiere darauf nicht mehr so rebellisch und traurig, wie ich es früher tat. Und ich sage mir: Nun gut, jetzt ist Ebbe. Du musst doch sicherlich der Ebbe einen Platz in der Ordnung der Dinge einräumen? Und ich bin dann innerlich nicht mehr so radikal von ihm abgeschnitten, wie das früher der Fall war. So in etwa hätte ich das geschrieben und es wäre jetzt – ein paar Stun­ den später – schon wieder überholt gewesen. Heute Morgen saß ich wie­ der eine halbe Stunde vor seinem fröhlichen, gutmütigen Gesicht und er überschüttete mich wieder mit seiner Post, von allen Seiten, und mit Fra­ gen, und er war wieder ganz da, und da bemerkte ich, dass es an mir lag,

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an meiner körperlichen Verfassung. Im Moment fehlt mir die Kraft, ihn ganz zu tragen und zu begreifen, und plötzlich kommen mir die Worte des Dichters wieder in den Sinn: «Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt und will niemals blind sein oder zu alt, um dein schweres schwankendes Bild zu halten.»4

Und dann bin ich wirklich ein wenig zu müde, um sein schweres, schwan­

kendes Bild zu tragen, und dann muss ich ihn einen Augenblick lang nicht

beachten, dann muss ich mich kurz am Rand seines Wegs ausruhen, der gerade ist und immer weitergeht. Es ist nützlich und notwendig für mich, kurz und sachlich festzustellen: Es liegt an mir und nicht an ihm. Er lässt mich nicht los, aber ich kann ihn gerade nicht unterstützen. Ich bin ­immer wieder viel schneller, unvermittelter und unerwarteter ausgeruht, als ich selbst ahne. Aber in diesen Bereichen südlich des Zwerchfells geht es doch sehr unangenehm zu.

Ausruf: Und was will ich einzig und allein? Die Kunst. Mit dem größt­ möglichen K. Und Skizzen, die so zart und zugleich so stark wie japa­ nische Drucke sind. Und einen einzelnen flüchtigen Satz vor einem wort­ losen Hintergrund, wie ein einzelner biegsamer, dunkler Ast, der manchmal in einen eintönigen, hellen Himmel geätzt wird. Ich muss auf einmal et­ was aus einem Brief von Rilke abschreiben aus dem Jahr 1903, nachdem er Rodin flüchtig kennengelernt hatte. «Immer ist ihm das, was er schaut und mit Schauen umgibt, das Einzige, die Welt, auf der alles geschieht; wenn er eine Hand bildet, so ist sie ein Raum allein, und es ist nichts außer einer Hand; und Gott hat in sechs Tagen nur eine Hand gemacht und hat die Wasser um sie ausgegossen und die Himmel ge­ bogen über sie; und hat geruht über ihr, als alles vollendet war, und es war eine Herrlichkeit und eine Hand.»

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20. Mai [1942], Mittwochmorgen, halb 9. Dann bin ich plötzlich eine Trapezkünstlerin und befinde mich mit einem kräftigen Schwung auf dem komplizierten Trapez, das dieses Leben ist. Als S. mir um halb 1 am Telefon sagte: «Dieses Mädchen6 ist jetzt auf dem Weg zu dir, sei ein bisschen nett zu ihm, es hatte so eine Angst davor, zu dir zu gehen», da fielen plötzlich auf einen Schlag all diese Hemmun­

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gen und all diese Bazillen, die ich in meinem Unterbewusstsein gegen sie habe, von mir ab. Mein Gott, in dieser Welt, in der man sich ermordet und sich gegenseitig zu Tode ärgert! Warum sollten dann diejenigen, die noch eine kleine Vorstellung davon haben, um welche Werte es geht, diese Werte nicht auch wirklich in ihrem täglichen Leben verwirklichen? Und obwohl ich überall im Körper und im Kopf stechende Schmerzen hatte, sagte sie, als sie gerade hereingekommen war: «Du siehst aber viel, viel besser aus als letzte Woche.» Und es war ein kurzes, heiteres und intensives Treffen. Am Abend auf dem Weg zu seinem Kurs wieder so ein prächtiger Rie­ senschwung auf diesem Trapez. Ich erinnerte mich daran, wie ich mich letzte Woche müde und krank zwischen all den Schülern verkrochen und gedacht hatte: Wie furchtbar schrecklich muss es sein, wenn man jeman­ den, den man liebt, nicht begreifen, verkraften und unterstützen kann. Was für Leidensgeschichten gehen in Ehen daraus hervor, dass der eine den anderen nicht begreift. Und dann erfuhr ich am eigenen Leibe, wie schlimm das sein muss. Und gestern Morgen war mir noch, als ob ich am Rand seines geraden Wegs zurückgeblieben wäre und ein wenig ausruhen müsste. Aber gestern Abend, als ich mit dem Fahrrad zu ihm unterwegs war, spürte ich plötzlich meine Kraft wieder, sie durchschauerte den gan­ zen müden Körper. Ich konnte ihn und die ganze Welt begreifen und war auf einmal wieder so dankbar, dass ich so geschaffen war, dass ich alles, was ich in diesem Leben zulasse – und das ist auch fast alles –, annehmen, bewältigen und verarbeiten kann. Und ich spannte meinen Bizeps an. Es ist lustig zu spüren, wie der Körper parallele Ausdrucksmöglichkeiten für das findet, was im Gemüt vor sich geht. Und vielleicht habe ich in mei­ nem jugendlichen Überschwang einen zu großen Schwung auf diesem Trapez gemacht. Ich saß direkt neben ihm im Kurs und habe mich nicht zwischen den anderen verkrochen wie in der Woche zuvor, und ich sah von Zeit zu Zeit seinen Kopf von der Seite her an und fand ihn plötzlich so alt und müde. Sehr alt im Vergleich zu der Kraft, die plötzlich wieder in mir geboren war. Und er sagte am späteren Abend: «Du siehst wieder so gut aus», und mit seiner natürlichen und direkten Geste, die nichts An­ stößiges an sich hat, griff er nach meiner Brust. Und es ist ja nur «seelische Kraft». «Sie sind eine Verliebte in den Geist.»7

18. Mai 1942–5. Juni 1942 «Aber die Hauptsache ist, daß Sie mich inspirieren bleiben.»

23. Mai [1942], Samstagabend, 10 Uhr. Manchmal kristallisieren sich in einem Gespräch mit ihm die Konturen so heraus, dass man das ganze Gespräch fotografieren möchte. Manchmal komme ich nach Hause mit einem Gespräch im Kopf, das so rund und klar ist, dass mir ist, als ob ich es aus einem solchen wortreichen Abend als Ganzes herausschneiden könnte. Aber hier unterliegt man immer wieder einer Täuschung. Im Nachhinein kann man ein Gespräch nicht aus dem Kopf abfotografieren, man kann versuchen, es nachzubilden. Heute Nach­ mittag war plötzlich wieder alles in groben Umrissen deutlich. Aber dann wage ich nicht, es aufzuschreiben, aus Angst, es mit meinen Worten ­wieder undeutlich zu machen. Und es gibt eine Sache, von der ich mich endlich befreien sollte: von der Vorstellung, dass ich, wenn ich nach einem Erlebnis, von dem ich ergriffen bin, nach Hause komme, mich vor ein Blatt Papier setzen und das Erlebte sofort in einem Kunstwerk nachbilden muss. Und ich muss mich auch von der Angst befreien, dass ich es – wenn ich es nicht sofort aufschreibe – später vergessen habe. Schließlich weiß ich diese Dinge doch, aber ich muss sie auch leben, d. h., ich muss wirk­ liches Vertrauen gewinnen, damit die stärksten und wertvollsten Ein­ drücke in einem Reservoir aufbewahrt werden, aus dem ich später mit vollen Händen schöpfen werde. Aber darüber wollte ich überhaupt nicht schreiben; ich lande, glaube ich, immer wenn ich mich gehen lasse, beim Gleichen: beim «Schreiben», beim Schreibenwollen, bei der Gestaltung. Geduld und nochmals Geduld. «Ich will ein Buch schreiben», maulte ich heute Nachmittag plötzlich wie ein tyrannisches kleines Kind gegen sein Knie. In den unerwartetsten Momenten sprudelt das plötzlich in mir hoch, es kommt von ganz tief unten und ist sehr intensiv und sehr ehrlich: «Ich will ein Buch schreiben!» Und er sagte sehr beschwichtigend, aber meinte es auch so: «Na, Sie sind doch schon nahe dran, Sie sind immer noch in den Geburtswehen, aber Sie sind doch schon nahe dran.»

den Papiermangel.

Ich weiß es nicht.8 Aber denke jetzt bitte an

So etwas kann nur er sagen, ohne dass es platt klingt. Ich ging wieder ein­ mal schweigend neben ihm her, gänzlich schweigend und natürlich auch wieder einmal leidend, und plötzlich grinst er mich mitten auf der Apollo­

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laan an: «Sie onanistische Sau, im Geistigen, meine ich. Sie schweigen und schweigen und zu Hause schreiben Sie dann sicher zehn Seiten Tagebuch und nach einem halben Jahr erzählen Sie mir vielleicht mal was.»

Manchmal kommt es mir vor, als ob ich ihm und seinen Worten hin­ ten und vorne nicht gerecht werde. In einem Gespräch zwischen uns über die wichtigsten Dinge des Lebens kommen seine Worte manchmal, Schlag auf Schlag, wie Hammerschläge daher, so pointiert und so ins Herz getrof­ fen. Und in einem solchen Gespräch entsteht dann plötzlich ein Stück unseres Lebens, so stark wie eine Festung. Ich kann ja auch schlecht alles stenografieren, wenn wir manchmal über die intimsten Dinge sprechen. Aber je voller mein Herz und auch mein Kopf manchmal von einem Tref­ fen mit ihm sind, mit umso leereren Händen kehre ich zu diesem Heft zurück und ich schreibe manchmal nur ein einziges unbedeutendes Wort auf. Vielleicht finde ich es später wieder wie einen kleinen Aufhänger, an dem ich dann plötzlich einen ganzen Abend oder einen Nachmittag oder eine einzelne Stunde mit dem vollständigen, reichen Inhalt aufhängen kann. Ich könnte es fast wie eine algebraische Formel aufschreiben. Inwiefern bin ich noch der konventionellen Vorstellung verhaftet, dass man unbe­ dingt so und so oft in der Woche eine ganze Nacht zusammen unter der gleichen Decke liegen muss, um eine richtige Beziehung zu haben? Mir geht es, glaube ich, um ganz andere Dinge als um Konventionen. Und noch einmal: Wo liegt die Grenze zwischen Treue und Untreue? Aber das spielt objektiv gesehen nicht wirklich eine Rolle. Er ist treu, auf seine Weise. Und wenn er eine umfassende Beziehung mit mir eingehen würde, geriete er in solche Konflikte mit sich selbst, was die Beziehung zu Hertha betrifft, dass dies unserer Beziehung, die so intensiv und über 15 Monate hinweg stetig gewachsen ist und immer noch wächst, ernsthaft schaden könnte. Und in einer vollständigen Beziehung mit mir würde er sich mir gegenüber unfreier fühlen. «Ich denke nicht so darüber nach», sagte er, «darüber habe ich noch gar nicht so nachgedacht, aber intuitiv mache ich das so und ich glaube, dass das gut ist.» (Intermezzo: Man kann nicht Worte aus der Realität eines Gesprächs nehmen und sie auf ein Blatt Papier schreiben. Es werden dann ganz ­andere Worte. Man muss sie in einer anderen Realität nachbilden und die Atmosphäre rund um die gesprochene Realität darf man nicht nachbilden, sondern man muss sie erschaffen, und zwar mit Worten, und hier ist der Anfang der Literatur und der Scherereien.)

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«Wenn ich wüsste», sagte er, «dass sie dort ein einigermaßen zufrieden­ stellendes Leben führen und mit netten Menschen verkehren würde, dann würde ich hier vielleicht auch anders leben, was dies betrifft.» «Es hat nichts zu tun mit Begehren oder Verlangen, es ist eher, ja es ist doch Treue.»

Und er denkt auch an das «Nachher», auch für mich. Und dann hätte ich gern gesagt, dass das «Nachher» für mich sowieso schon verloren ist, weil wir sowieso schon viel zu weit gegangen sind. Beginnt in mir wieder ein neuer Prozess? Es geht überhaupt nicht um dieses Doppelbett. Ab und zu kommt da plötzlich etwas in mir hoch, was ich früher nicht gekannt habe: der Wunsch, seine Frau zu sein. Es hat nichts mit Betten und dem Familienstand zu tun und damit, ein Leben lang zusammen zu sein. Es ist ein sich vollständig zu jemandem bekennen. Und jedes Mal, wenn ich diesen Wunsch in mir verspüre, sehe ich auch wieder die vollgeschriebenen Blät­ ter mit dieser unruhigen, charakteristischen Handschrift und der Unter­ schrift vor mir: Deine Frau. Und unter jedem wilden, sehnsuchtsvollen Brief wieder: Deine Frau. Und er schreibt unter seine Briefe: Dein Mann. Und hier ist die Grenze. Und immer wieder wird einem durch dieses «Deine Frau» ein «halt!» zugerufen. Und er denkt an das «Nachher», vor ­allem für mich. Und während ich das schreibe, wird mein Hals immer dicker und ich fühle mich immer verzweifelter und alles erscheint mir ganz schrecklich. Und es ist so seltsam, dass ich mich genau in solchen Momenten diesem Heft zuwende. Dabei war die Woche, die diesem Tag vorausging, doch mit einem ganz anderen Gefühl gefüllt gewesen: ausge­ rechnet mit dem Gefühl, meinen eigenen Weg gehen zu wollen und mein Leben niemals mit seinem zu verbinden. Manchmal scheint alles über­ haupt nicht so schwierig zu sein und es scheint, als wären mir von ihm nur gute und fruchtbare Dinge zugeströmt. Aber dann ist es auf einmal wieder so, als wäre beim Bau des Hauses irgendwo ein kleiner Fehler gemacht worden, als würde daher in einem unerwarteten Moment das ganze Haus einstürzen. Und dann ist alles Positive unserer Beziehung verschwunden und mich beschleicht eine bange Vorahnung einer einzigen großen Lei­ densgeschichte. Es ist jetzt Viertel vor 11, und ich finde es fürchterlich, jetzt ins Bett zu gehen. Ich habe noch immer einen dicken Hals und der morgige Tag steht bedrohlich wie ein hoher Berg vor mir, der mit müden Beinen erklommen werden muss. Und ich bin so unzufrieden, so unzufrieden, dass ich zu bequem bin, um mir selbst die tiefste Rechenschaft abzulegen, die abzu­

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legen ist. Manchmal habe ich plötzlich den Verdacht, dass diese Dinge auf dem Grund nochmals ganz anders sind als auf der Ebene, zu der ich durchdringe. Es ist nicht so schlimm, wenn in einem ein Gefühl wächst, sich voll­ ständig zu jemandem bekennen zu wollen. Ein solches Gefühl muss nicht sofort verwirklicht werden. Du musst es nicht so tragisch nehmen, du soll­ test bestenfalls dankbar dafür sein, dass solche Urgefühle in deinem Vaga­ bundenherz möglich sind. Und dann diese Backfischfantasien, in denen du es schaffst, dich selbst zu Tränen zu rühren. Ist das noch ein Rest Masochis­ mus? Du musst den Wegen folgen, die dir das Leben im Moment weist, den schwer begehbaren Wegen dieses Stückes Geschichte, in dem wir aktu­ ell leben. Du musst dein eigenes Leben immer wieder in diesem großen Kontext sehen. Wenn sich da wirklich ein starkes Gefühl entwickelt, nun, dann lass es ruhig wachsen. Und in einem Gefühl zu weit zu gehen, wovor ich mich manchmal so fürchte, kann man nie, solange man es nie zerstöre­ risch in sich hineinschlingt und solange es einen nicht in Asche auflöst, solange man daraus wieder Leben schöpft und solange es einen wieder «schöpferisch» macht. Und natürlich sind noch Elemente dieses kleinen Weibchens vorhanden, das den Mann besitzen will. Heute Nachmittag sprachen wir auch über den Zusammenhang zwischen «Sexualität» und «Selbstgefühl». So schwer es mir auch fällt, ich muss diese «Treue» von ihm akzeptie­ ren und ich muss auch wissen, dass Untreue seinerseits – die ich auslöse – diese schöne und fruchtbare Beziehung zerstören könnte. Ich starre ein wenig vor mich hin und sage plötzlich: Er hat natürlich schon recht: Ich nehme zu wenig Rücksicht auf dieses Mädchen in Lon­ don. Das ist doch auch ein wichtiger Teil seines Lebens, diese Beziehung. Und er muss diese Beziehung in diesen schwierigen Zeiten weiterhin in­ takt halten. Ich möchte zu gern, dass seine Beziehung zu mir den Mittel­ punkt seines Lebens bildet, und vielleicht ist das bei mir noch ein wenig Intoleranz und womöglich auch noch gekränkte Eitelkeit. Aber wenn das so ist, sage ich mir geradewegs: Dann verdienst du es auch nicht, in solch einer intensiven und unbeschreiblich nuancierten Beziehung mit diesem 55-jährigen Mann zu leben, wenn sich im Hintergrund deines Gefühls noch solche kleinlichen Details befinden. Und ist da nicht auch manchmal noch: «Nun, und wenn ich dich nicht ganz kriegen kann, dann lieber gar nicht»? So banal ist es, glaube ich, nicht bei mir, aber aufgrund dessen, was zwischen uns nicht ist, übersehe

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ich dann vielleicht die vielen Dinge, die wohl zwischen uns sind und die täglich noch wachsen können. Ich weiß jetzt schon, dass ich in vielen Jahren dankbar sein werde für alles, was durch das von ihm verursachte Leiden in mir aufgewühlt wurde, denn nur ihm habe ich zu verdanken, dass die Schöpfungskräfte in mir zum Leben erwacht sind. Und obwohl ich weiß, dass ich später dankbar sein werde und auch dankbar dafür bin, dass er mich meinen eigenen Weg hat gehen lassen, muss ich das alles doch zuerst einmal erleiden. Und plötzlich bin ich so überrascht, dass dieses Wort «erleiden» immer wieder aus meiner Feder fließt. Dieses Wort wird meinem Leben nun wirklich nicht gerecht. S. sah wieder wie ein wohlgenährter römischer Kaiser aus, wie er sich da in seinem großen Lehnstuhl zurücklehnte. So muss Nero in seinen intimsten Momenten ausgesehen haben. Sein dicker Bauch – nicht einmal unangenehm dick – war für meinen schläfrigen Kopf ein Zufluchts­ ort. Und das schwere, ausdrucksstarke Gesicht, so lebenslustig, aggressiv, gutmütig und wollüstig zugleich. Und über alledem liegt immer wieder, wie eine Überdachung, diese olympische Ruhe. Und du quälst dich doch eigentlich mit etwas Unwirklichem, wenn du glaubst, dass dir etwas von ihm geraubt wird, weil dort in London ein Mädchen ist, das er später zu seiner Frau machen will. Später, ja später. Was wissen wir über später? Mein Gott. Was haben wir noch für einen sonnigen Optimismus in unse­ ren Fantasien. Die Zukunft? Eine Baracke in Drenthe, mit 36 Familien in einer Baracke? Hunger, Mord oder Exil? Auf jeden Fall solltest du keine Kräfte an Fantasien verschwenden, an nutzlose, selbstquälerische Fanta­ sien; Kräfte, die du brauchst, um diese Zeit zu überstehen. Fantasien sind sehr schön, aber sie dürfen dein eigenes Leben nicht anfressen und deine Kraft nicht wie ein Sieb durchlöchern. In mir liegen noch ganze Gebiete brach, die die elementarste Menschlichkeit noch nie betreten hat wie bei­ spielsweise meine Einstellung zu diesem Mädchen in London. Tide betet jeden Tag für sie. Dass sie zusammenkommen können. Am liebsten in Holland und im «Spier-Club» und dann schön den Spier-Club weiterfüh­ ren. Nein, wirklich, das kann ich noch nicht. Dann muss ich auf Reisen gehen. Siehst du, da beginnen die Scherereien schon wieder. Jawohl, auf Reisen! Wahrscheinlich in die Drenther Heide. Gut, das spielt keine Rolle. Ob sie kommen wird oder nicht und ob ich auf Reisen gehen werde oder nicht, was wissen wir darüber im Voraus? Aber es geht um die innere Ein­ stellung, auch zu ihr. Früher ging ich mit einem hochmütigen Gesicht an ihrem Porträt vorüber und hatte das Gefühl: Mit diesem blöden Fräulein

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habe ich nichts zu tun. Als ob sie mir etwas wegnehmen würde, auf das sie keinen Anspruch hätte. Das ist wirklich gut! Wenn hier einer rauben wollte, dann wäre das doch sicherlich ich? Aber jetzt lege ich doch ein sehr schlechtes «geistig-seelisches» Niveau an den Tag. Hier findet kein Raub, sondern nur Bereicherung statt. Sein Vorrat an Liebe ist so groß und wird immer größer und größer. Und jeder, der in sein Strahlenbün­ del kommt (wie fürchterlich werde ich mich später über all diese pathe­ tischen Worte ärgern; nur ruhig, ich verwende sie vorläufig in Ermange­ lung besserer Worte, die richtigen Worte kommen dann schon noch irgendwann), raubt nichts von der Liebe eines anderen, sondern fügt zu dieser Liebe etwas hinzu. Aber jetzt finde ich mich tatsächlich wieder im gleichen kosmischen Bacchanal wieder, das mich letztens bei Leonie so aufgewühlt hat. Eine Frau möchte manchmal plötzlich die weiten Ebe­ nen verlassen und eine enge Grenze um sich selbst und einen Mann ­herumgezogen sehen, und in diesem eingegrenzten Bereich dürfte sich nichts anderes als sie und dieser Mann befinden. Das steckt natürlich in mir auch noch, aber es ist nicht das Einzige. Als an jenem legendären Mittwochabend (ist das wirklich erst 3 Tage her, es erscheint mir jetzt wie ein großartiges und inspirierendes Abenteuer aus einer längst vergange­ nen Zeit meines Lebens) Hanneke sagte, als sie über «Gebundenheit» und «Verbundenheit» sprach: «Nein, so könnte ich nicht leben, ohne Be­ ziehungen, ohne Mann, ohne Kinder, ich könnte so nicht weiterleben», – da wusste ich, als Reaktion darauf, plötzlich in meinem Gefühl: Doch, so könnte ich schon leben, ich könnte es vielleicht längere Zeit in einer ­kahlen Zelle aushalten, jahrelang auf hartem Boden kniend, und es gäbe trotzdem ein großartiges und blühendes Leben in mir, alles, was an Leben möglich wäre, wäre in mir. Und ich fühlte mich, als wäre ich aus einem ganz anderen Holz geschnitzt als Hanneke und viele Frauen, die ohne Beziehungen nicht leben können. Er sagte heute Nachmittag beim Spaziergang: «Ich habe so ein gutes Gefühl für Sie, für die Ingredienzen Ihrer Seele. Ich habe so ein gutes Gefühl für das Wesentliche bei Ihnen. Denn im allgemeinen versteht man das in Hol­ land doch nicht gut, das russische bei Ihnen. Man hat wohl Gefühl für Ihren Witz und Ihren Geist aber für das Wesentliche hat man doch kein Verständnis»,

so oder so ähnlich zumindest sagte er es. Ich habe noch so viel zu tun, dass ich eigentlich nicht verstehe, wie ich überhaupt jemals eine Minute meines Lebens vergeuden kann. Hier liegt Jung und nach seinen Wandlungen usw. kommt die «Energetik der Seele»9

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dran. Der heilige Augustinus liegt da auch noch und die Bibel und auch von Rilke habe ich noch längst nicht alles gelesen. Seit Wochen liegt auf meinem Schreibtisch «Die Renaissance» von Walter Pater.10 Und Fürst Myschkin habe ich plötzlich seinem Schicksal überlassen. Und dann spüre ich, wie ich langsam reif für die «Gothischen Kathedralen» werde, die zu­ nächst so unbeachtet auf diesem kleinen weißen Tisch lagen und die nun immer stärker meine Aufmerksamkeit beanspruchen. Und noch so vieles, so unendlich viel mehr. Und meine Russen und die Literatur über Russ­ land sowie das Lesen der russischen Originale vernachlässige ich völlig. Aber darüber musst du dir jetzt im Klaren sein: Du darfst deine Kraft nicht von Zukunftsfantasien oder dem Erleben wilder, wüster, erschöpfen­ der Leidensgeschichten unterhöhlen lassen. Ein bisschen leiden ist nicht so schlimm, mein Kind, es gehört nun einmal dazu, und wenn du nicht so sehr leiden kannst, kannst du auch nicht so glücklich sein, wie du es manchmal, nein, eigentlich ziemlich oft bist. Und du darfst dich auch nicht so stark auf diesen einen Mann fixieren. Du darfst dein Gefühl für Proportionen nicht verlieren, indem du diesen Mann überlebensgroß in den Mittelpunkt stellst. Es geht jetzt schon auf Mitternacht zu, aber jetzt bereue ich es nicht, dass ich doch nicht früh ins Bett gegangen bin. Ich denke, dass unter all den vielen Wörtern, die ich geschrieben habe, doch eines gewesen ist, das treffend und erhellend war, denn ich fühle mich trotz dieser wirklich sehr unangenehmen Bauchschmerzen ein wenig be­ freiter und leichter als noch vor einer halben Stunde. Der Beginn eines befreienden Konzepts ist also vermutlich gefunden. Und jetzt denke ich, dass ich doch einfach zu Han ins Bett krieche. Nicht aufgrund der Schwä­ che-Anwandlungen von soeben, weil ich es in meinem schlappen Zustand nicht fertiggebracht hätte, allein zu sein, sondern einfach so, weil es ja doch gemütlich ist. Das war auch noch ein seltsamer Satz aus unserem Gespräch heute Nachmittag: «Und wenn ich jetzt darauf bestehen würde, dass du ganz mir gehörst und dass du die Beziehung zu W.11 aufgibst, das würde dich doch sicherlich auch in einen Konflikt bringen, nicht wegen dir, son­ dern wegen ihm.» Und dann fügte er noch hinzu: «Es macht doch nichts, wo das bischen hinfließt, wenn man nur schöpferisch ist», usw., und er sagte noch mehr absolut wichtige Dinge dazu, aber ich weiß es nicht mehr wortwörtlich, es muss ungefähr auf Folgendes hinausgelaufen sein: wenn man nur nicht am Geist Verrat übt. Und vielleicht habe ich deshalb manchmal ein unsicheres Gefühl, weil ich dann an die biederen Bürger denke, denen sicherlich die Haare zu Berge stehen würden, und daran,

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wie man sich zur allgemeinen Moral stellt, ich kann das dann nicht in ­einen allgemeinen Zusammenhang stellen. Und doch trifft das auf unser beider Leben zu: «Es macht doch nichts, wo das bischen hinfließt» – hier findet dann auf einmal eine so beängstigende Verschiebung von traditionellen Normen statt, dass ich für einen Moment in einem luftleeren Raum lande. Doch noch an die Konventionen gebunden? Angst davor, dass mit hohen Wer­ ten gespielt wird? Und wenn irgendwo die hohen Werte dieses Lebens gut aufgehoben sind, wo, wenn nicht bei ihm? Und meine Abstellkammer wird doch bestimmt auch immer sicherer? Und warum nicht: sich vollständig zu jemandem bekennen? Geht das nur in Form von: «Ich bin deine Frau?» Sollte es immer darum gehen? Kann sich dieses «sich vollständig zu jemandem bekennen» nicht in den Bereichen des rein Menschlichen ereignen? Bin ich doch noch zu vielen traditionellen Vorstellungen verhaftet? Und dieses Verlangen nach völliger körperlicher Hingabe, das manch­ mal so stark ist, als notwendige Ergänzung zu den starken Gefühlen für ihn? Mal ist dieses Verlangen da, mal verschwindet es wieder. Und schließ­ lich will man es nicht einmal stillen, denn man kennt ja die Gefahren, die daraus erwachsen können? Und ich habe noch dunkle Erinnerungen an dieses eine Mal. Und dieses Verlangen, erfüllt es sich nicht manchmal in einer einzigen Umarmung, in einer einzigen Geste der vollkommenen Hingabe? Ist das nicht genug? Überschätze ich in meiner Vorstellung nicht immer noch zu sehr diesen einen kleinen Moment der sexuellen Begeg­ nung? Und obwohl das Sexuelle in meinem Leben nicht einmal eine so große Rolle spielt, beeinflusst es mich nicht in gewisser Hinsicht aus einer Art konventioneller Vorstellung heraus in Bezug auf diese Dinge? Und jetzt solltest du wirklich endlich schlafen gehen, mein liebes Kind, aber bloß nicht bei Han, dem das viel zu spät ist, sondern allein. Aber es ist gut, dass ich diese dunklen und unklaren Dinge in mir schnell bei den Hör­ nern gepackt habe, sonst gehen sie wirklich wie ein wild gewordener Stier mit mir durch. Sonntagmorgen [24. Mai 1942], halb 11. Ein windiger Pfingstmorgen. Ich nehme diesen krämerischen Korinthen­ kacker-Satz zurück, für immer zurück: «Ich bin in meinen Gefühlen für ihn schon zu weit gegangen.» In der Liebe zu jemandem kann man nie­ mals zu weit gehen; wenn ich sage: «zu weit gegangen», dann meine ich,

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dass ich Angst habe, dass ich daran kaputtgehen werde. Aber das wird sich noch zeigen, bislang habe ich nur Leben und Kraft geschöpft aus meinen immer stärker werdenden Gefühlen für ihn. Die gestrige algebraische Formel lautete ungefähr wie folgt: Wenn ich eine vollständige Beziehung mit dir eingehen würde, wären der Schaden und die Konflikte, die daraus in seiner Beziehung zu Hertha entstehen würden, größer als die Bereicherung, die unsere Beziehung mit sich brin­ gen könnte.12 Und diese Konflikte in seinen Gefühlen für Hertha könnten eine verheerende Auswirkung auf unsere Beziehung haben. Und wenn für ihn dort die Grenze ist, wenn er sich wirklich erst untreu fühlt, wenn er eine gemeinschaftliche Liebesnacht in einem gemeinsamen Bett verbrin­ gen würde, dann ist das seine subjektive Grenze und die habe ich zu res­ pektieren. Und dann ist das seine Art, diesem einsamen, sich abrackernden Ding in London die Treue zu halten. Ich habe ihm gestern gesagt, dass das versteckter Selbstbetrug und Vogel-Strauß-Politik sei und dass doch irgend­ etwas nicht stimme, aber das ist wiederum mein subjektives Gefühl, wo die Grenzen gezogen werden sollten. Und weshalb sollten wir uns für diese wirklich todunglückliche, wartende und sehnsüchtige kleine Kreatur auf der anderen Seite des Kanals nicht in diesem einen kleinen Akt der Ent­ haltsamkeit üben? Er hat es gestern Nachmittag so deutlich und ehrlich ausgedrückt, dass ich dafür eigentlich sehr dankbar bin. Zu der immer größer werdenden Bewusstwerdung gehört auch, dass man seinen aktuellen Zustand nicht zu stark verallgemeinert, sondern dass man ihn als ein Bindeglied zwischen vielen anderen Bindegliedern ansieht und dass man nicht von einem gegenwärtigen Zustand allzu abhängig wird. Man muss immer so gut wie möglich den Überblick über sich selbst behalten. Gestern Abend um halb 1 im Badezimmer, nachdem ich auf diese blauen Linien geschrieben hatte, um mich zu beruhigen, sank ich plötzlich so herzzerreißend weinend neben dem Stuhl im Badezimmer nieder. In plastischen und deutlichen Szenen erlebte ich einen Abschied von ihm. Mit einer blassen Maske, mit leblosen Augen und mit dem ­Gefühl, zu Asche zu zerfallen, ging ich an einem Gewässer entlang. Na ja, und so weiter, endlos. Wenn ich in der Lage wäre, all diese Szenen, die sich in mir in vielleicht 5 Minuten abspielten, in die Form einer Novelle oder eines Romans zu gießen, dann würden viele sensible Menschen deswegen in Tränen zerfließen. Und ich fing an, mich totzuweinen. Aber zugleich wusste ich auch: Du bist wieder in den Tagen kurz vor der Menstruation.

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Oft ist es wieder dasselbe: Dann rasen Kräfte durch deinen Körper, durch dein Blut, denen du ausgeliefert bist und die deine Fantasie zu den schlimmsten selbstquälenden Vorstellungen und Szenen anregen. Und ­irgendwo, in einem Winkel deiner selbst, hast du sogar noch eine Art ­masochistisches Vergnügen an all diesen Fantasien, die so viele Tränen he­ rauspressen. Und in diesem Augenblick erscheinen plötzlich wieder diese Worte auf der Bildfläche: «sich ernst nehmen» und «sich wichtig nehmen». Dadurch, dass ich die Faktoren nicht aus den Augen verliere, die so eine vorübergehende verzweifelte Situation bestimmen, verliere ich mich nicht mehr ganz in dieser Verzweiflung und stelle diese Verzweiflung nicht mehr wie früher ins Zentrum des Kosmos, umgeben von nichts anderem als verlassenen, großen Flächen. Und ich glaube, dass dies auch Teil des Be­ wusstseinsprozesses ist: seine Zustände erkennen, weiterhin überblicken, verstehen, relativieren und nicht verabsolutieren. Ein solches Gefühl ist das dann: als ob ein verrückter Hund all seine schar­ fen Zähne in mein Herz schlagen, beißen, reißen, ziehen und schütteln würde und nicht mehr loslassen wollte. Was Rilke da an Mary Gneisenau (1906) über die Briefe der portugie­ sischen Nonne13 schreibt, hat nichts mit dem zu tun, was ich durchlebe, und dennoch möchte ich hier ein paar Sätze wegen eines einzigen Wortes, das darin steht, übernehmen: «Denn das Welken und Welksein und Sich-daran-Hingeben ist eine Schön­ heit mehr neben der Schönheit dessen, was kommt und treibt und trägt, ganz wie das Klagen eine ist, und das Bangsein, und das Sich-Preisgeben, und das unnütze und sich erniedrigende Flehen, wenn es so gewaltig kommt, so unauf­ haltsam hinstürzend über das Gefälle eines Herzens, wie es bei der portugie­ sischen Schwester geschah.» «‹ein ganz klein wenig klein und unklug› war es ja, dieses Anflehen und Sich-Verringern und -Herabsetzen in der Verschmähung, aber es war doch so reich, so schöpferisch, so sehr der Fortschritt und die Herrlichkeit dieses Her­ zens, daß es über den Gegenstand hinaus groß und gültig wurde, unerschöpf­ lich und schön …»

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Solange man selbst in seinen traurigsten und verzweifeltsten Momen­ ten kreativ wird, spielt das alles keine Rolle mehr, oder? Und mit keinem einzigen Leiden ist ein schöpferischer Augenblick zu teuer bezahlt, nicht wahr?

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Folgendes ist bei mir öfters der Fall: Plötzlich wird energisch ein neues ­Gefühl geboren und das ist dann mit einem Mal so überwältigend stark, dass es wie ein großer Sturm über das Alte hereinbricht. Alles, was einst da war, ist plötzlich nichtig und unwichtig und spielt keine Rolle mehr, es gibt nur noch das neue Gefühl, das wie ein Tyrann über allem Alten herrscht. So war es auch mit dem Gefühl, sich vollständig zu ihm beken­ nen zu wollen, mit dem Gefühl, dazu imstande zu sein, die Frau von ­jemandem sein zu wollen. Für mein unbeständiges, wanderndes Herz in der Tat eine unerwartete, gewaltige Empfindung. Aber ich habe noch nicht gelernt, ein solches Gefühl sich zunächst einmal ruhig auf sich selbst besinnen zu lassen; wie ein eigensinniger Tyrann will es die alte Ordnung durcheinanderbringen, obwohl es die alte Ordnung durchdringen sollte. Ich glaube, dass es erst dann lebensfähig und echt sein wird, wenn es sich natürlich in die bereits bestehende Beziehung einfügen kann, wenn es in der Lage sein wird, dieser Beziehung einen größeren Hintergrund und ein tieferes Relief zu verleihen. Ansonsten ist es einfach nur ein neuer Reiz und eine Empfindung. Man muss immer aufs Neue die Kraft dazu finden, die starken Gefühle, die in einem selbst entstehen, zu ertragen und auszu­ halten. Man sollte nicht nach einer unverzüglichen Umsetzung streben und nicht sofort davon erlöst werden wollen. Und man sollte es nicht als so übermächtig und alles Alte zerstörend erleben. Es ist doch eigentlich nur ein neuer kleiner farbiger Faden, der das wachsende Gewebe erweitert und vermehrt. Siehst du, so kann man den eigenen Gemütsbewegungen auch zu viel Bedeutung beimessen. Es entsteht eine neue Gemütsbewegung und alles Alte muss dafür das Feld räumen, alles gerät aus den Fugen, und wie ein plündernder Usurpator dringt das neue Gefühl in ein friedliches Gebet ein. Dabei sollte es wie ein bescheidener Gast  – wenn auch von hoher Geburt – kommen, der um Aufnahme bittet. Und es kann zu einer mäch­ tigen Position aufsteigen, vielleicht zu einer alles beherrschenden Position in diesem alten, gastfreundlichen Land, aber zuerst muss es beweisen, dass es dieser Position würdig ist. nachmittags 4 Uhr. Man muss nicht weit außer Haus gehen, um spannende Abenteuer und Begegnungen zu erleben. Ich wollte für ein Stündchen mit dem heiligen Augustinus in mein Bett steigen, aber zuerst streiften meine Hände noch ein wenig an den Bücherreihen neben meinem Bett entlang und plötzlich

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traf ich in Italien Lou Salomé,15 in Gesellschaft von Nietzsche. (Guy de Pourtalès:16 Amor Fati, Nietzsche in Italien.) Ich traf sie im Alter von 21 Jah­ ren, ± 1880, also als Rilke mit ihr durch Russland reiste, und später, als er ihr das Stundenbuch in die Hände legte (Gelegt in die Hände von Lou, 1899), da war sie also etwa 40 Jahre alt. Und als sie 1929 ihr Buch über Rilke schrieb, war sie eine alte Frau. Es war so überraschend, sie dort plötzlich zu treffen, blutjung und am Anfang. «Es handelte sich um eine junge Dame, Lou Salomé, eine Jüdin finnländi­ scher Herkunft, 21 Jahre alt, von reizvollem Äußern, rascher Auffassungsgabe und Entschlußfähigkeit; auch lebte sie in guten Verhältnissen. Sehr gebildet und vollständig unabhängig, suchte dies frei erzogene junge Mädchen sich die Zeit zu vertreiben und hätte gewiß nichts sehnlicher gewünscht, als ihren sich entfaltenden Geist dem Schicksal des umherschweifenden Gelehrten zu ver­ binden.»

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Malwida von Meysenbug18 wollte Nietzsche und Lou verkuppeln. «Inzwischen erzählte mir Malwide», teilte er (Nietzsche) mit, «das junge Mädchen habe ihr anvertraut: ‹sie hätte von frühster Jugend an nur nach Er­ kenntnis gestrebt und ihr jedes Opfer gebracht.› Das hat mich erschüttert.» Zu Malwida sagte er: «Da ist eine Seele, welche sich mit einem Hauch ein Körperchen geschaffen hat.»

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Und er schrieb einmal einem Freund über sie: «Lou … ist scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe.»

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Auf jede Frage, die man ihm stellt, erhält man immer eine direkte Ant­ wort. Bei ihm ist nie etwas verschleiert, er tut nie geheimnisvoll und er kann es sich erlauben, jederzeit und überall offen und ehrlich zu sein, ohne dabei seine Faszination einzubüßen. Gestern bin ich wieder mit allen möglichen Fragen bis zu seinem nackten Körper vorgedrungen. Und so ausgewogen, fast sachlich und für mich so beeindruckend einfach lautete eine der Antworten: «Ich onaniere nie nach dem Beten.» 26. Mai [1942], Dienstagmorgen, halb 10. Ich bin bei lauem und zugleich erfrischendem Wind an der Stadionkade21 entlanggegangen. Wir kamen an Flieder und kleinen Rosen und deutschen Soldaten auf dem Wachposten vorbei. Wir sprachen über unsere Zukunft und darüber, dass wir doch gerne zusammenbleiben würden. Ich kann es überhaupt nicht beschreiben, wie gestern alles war. Als ich abends durch die laue Nacht nach Hause ging, so leicht und so schwer

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zugleich von diesem weißen italienischen Chianti, war auf einmal wieder diese Gewissheit da, die jetzt – mit einem Federhalter in meinen Fingern – wieder völlig verschwunden ist: Ich werde später einmal schreiben. Die langen Nächte, in denen ich dasitzen und schreiben werde, das werden meine schönsten Nächte sein. Es wird dann aus mir herausströmen, lang­ sam und unaufhörlich in einem niemals mehr endenden Strom wird alles, was sich jetzt in mir ansammelt, aus mir herausfließen. Ich wollte etwas über ihn schreiben, aber ich weiß es nicht mehr. Als Liesl nach diesem Gespräch zwischen ihm und Werner so müde und er­ schöpft war, sagte er: «Das verstehe ich sehr gut, ich rede ja wie ein Beses­ sener.» Und das ist er auch: ein Besessener. Und später gingen wir zu dritt am Kai entlang: «Ein großer, häßlicher, dämonischer Mann mit zwei charmanten Frauen.»

Es ist wahr, was Liesl am Nachmittag gesagt hat. Man darf es nicht als ein «Opfer» von mir betrachten, wenn ich ihm nach Polen oder in was für eine Hölle auf Erden auch immer folgen will. Es wäre ein größeres Opfer für mich, mit der Absicht, etwas von seiner Aura und seinem Geist hier zu retten und zu bewahren, allein zurückzubleiben. Aber ich fühle mich zu diesem Opfer noch nicht in der Lage und auch noch nicht stark genug. Und nebenbei bemerkt: Es kommt, wie es kommt. Die Möglichkeiten werden in Erwägung gezogen und spielen bereits eine Rolle in unserem Leben. Die Handlung, um diese Möglichkeiten zu verwirklichen, sollte nicht erzwungen werden, sie wird vielleicht plötzlich da sein, wenn es kei­ nen anderen Weg gibt. Aus einem Gespräch: «Im Erotischen bin ich polygam, aber im Inneren, im Letzten bin ich monogam.»

Und später: «Aber wenn du feststellst, dass du polygam bist, heißt das noch nicht, dass du jetzt das Recht hast, entsprechend zu leben.» «Du hast einen römischen Bauch», habe ich am Nachmittag festgestellt. «Überhaupt nicht!», fand Liesl und untersuchte aufmerksam diesen Kör­ perteil. «Noch römisch im Schwere, aber römisch im Ausdruck.» Er sieht manchmal so aus, wie ich mir einen römischen Kaiser in seiner häuslichen Umgebung vorstelle. Und dann kann man solche großartigen, sinnreichen Dialoge führen. Als Werner aus seinem Theater nach Hause kam, saßen wir hinter dem bildhübschen Stapel belegter Brote, mit Ei und mit Toma­ ten und Wurst und Käse, Dinge, die gegenwärtig nahezu ein Recht darauf haben, besungen zu werden, und ich sagte unvermittelt: «Werner, weißt Du, daß S. einen römischen Bauch hat?» Und Werner auf seine knappe,

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­komische Art: «Wieso gerade einen römischen Bauch?» Ich sagte: «Ja, ein Bauch, wie ein römischer Kaiser in der Verfallzeit?» Und Werner, wieder ge­ nauso hartnäckig überrascht: «Wieso gerade aus der Verfallzeit?» – Usw. Ich weiß nicht, wie ich ihn gestern Abend angesehen habe, als er sich nach dem Essen auf das Sofa gelegt hatte und ich mich zum x-ten Mal an diesem Tag neben ihm fallen lassen habe. Seine Augen wurden plötzlich – nur für einen sehr kurzen Augenblick – sanft und gerührt, und er sagte: «Du darfst mich nicht so angucken.»

Und dann wurde sein Blick wieder sachlich, und ich schaute plötzlich todernst und sehr reserviert und erschrocken, und er lachte wieder sein ausgelassenes, strahlend gesundes Lachen und ein wenig später in einem Gespräch fragte ich auf einmal: «Findest Du es unangenehm wenn ich Dich so angucke?» Und er wurde plötzlich sehr nachdenklich und ernst und wieder schwappte diese Rührung wie eine kleine Welle über sein Gesicht und er sagte: «Es ist da so ein komischer Regulator in mir selber.» Liesls unerwartete kosmische Perspektive.  – Und am Abend weißer Chianti und ein privates Zimmer und vier Menschen, zwei Frauen und zwei Männer, und das Johannesevangelium. Und ist das nicht das einzig Richtige: so stark leben und leiden und aufgehen in diesem Lebensabschnitt, von Tag zu Tag, aber mit dem Geist immer auf die weiten Horizonte ausgerichtet sein, die hinter diesen Tagen und diesen Jahren liegen. Und manchmal schon etwas wie ein geläutertes Gefühl in sich haben, dieses Gefühl, das man vielleicht haben wird, wenn man nach Jahren – gereift und verändert – auf diese Zeit zurückblickt. So ganz und gar mit jedem Herzschlag in dieser reichen und in sich geschlos­ senen Gegenwart leben und doch immer um die Wege wissen, die weit und endlos geöffnet sind für die kommenden Jahre, für ferne Länder und auch für den Himmel. Und gestern war in mir alles so im Gleichgewicht und ich war so versöhnt mit allem, mit Hertha, mit seiner Beziehung zu Hertha, mit all dem Leid, das kommen wird und das ich überhaupt nicht mehr als Leiden empfand. Vielleicht weil ich gestern so eng mit ihm ver­ bunden war und – auch in ihm – die Möglichkeit einer immer größeren Verbundenheit spürte? Die Zeit, in der unsere Lebenswege sich trennen müssen, ist auch noch nicht gekommen. Wir fühlen beide, dass diese Zeit noch nicht gekommen ist. Und außerdem kann ich ja nicht immer wiederholen, dass ich noch immer von ihm lerne? Manchmal bin ich genauso ein glühender und ­andächtiger «Jünger», der an den Lippen des «Meisters» hängt. Dann sitze

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ich manchmal atemlos neben ihm und beobachte die Wellen und Bewe­ gungen, die über sein begeistertes Gesicht gespült werden, und dann weiß ich: Ich muss noch so viel von dir lernen und noch so viel an dir wachsen und ich werde noch lange nicht ohne dich auskommen können  – aber auch: Eines Tages werde ich allein gehen können und dann werde ich ­etwas von der Kraft und Begeisterung in mir weitergeben, die ich täglich in kleinen Mengen von dir erbe, aber es ist absolut notwendig, dass ich noch nicht von dir fortgehe. Und jetzt mit Liesl zur Schneiderin. Nur so an einem späten Abend. Manchmal reicht die körperliche Kraft nicht aus, um den Strom der Ge­ fühle und vieler guter Absichten zu stützen und zu tragen, und das ist immer das Schlimmste, was es gibt. Ich muss mich noch immer ein wenig dazu erziehen, mich nicht machtlos dagegen aufzulehnen, indem ich ­etwas mit aller Gewalt forcieren will, z. B. mich plötzlich durch ein sehr schweres Buch durchkämpfen zu wollen. Ich muss mich jetzt dazu zwin­ gen, alles beiseitezulegen und es zu wagen, mit meiner Kraftlosigkeit allein zu sein und nur dieses kleine Häufchen müder und uninspirierter Mensch zu sein, das ich im Moment bin, und nicht mehr. Gute Nacht. Diese Eheschließung ist für mich «jenseits des Liebens und Hassens»22; so muss es in unserem Fall zumindest sein. Ich fange an, die regelmäßig wiederkehrenden Augenblicke der Objek­ tivität bei ihm immer besser zu verstehen: Es sind immer wieder errichtete Dämme in dem ansonsten viel zu großen und starken Strom seiner ­Gefühle. «Ich würde sonst in meine Gefühle davon schwemmen.» In seinen zwischenmenschlichen Kontakten den ganzen Tag über, Stunde für Stunde, fließen sie in so großen und starken Strömungen durch ihn hindurch, die Gefühle, und er muss immer wieder Dämme bauen, um nicht von der Strömung mitgerissen zu werden. Eigentlich habe ich nur sehr wenige Worte für die vielen Dinge, die ich sagen möchte. Ob ich meinen Wortschatz vergrößern könnte? Ich denke, dass das möglich ist. Das ist harte Arbeit und es ist ein Handwerk. Ich glaube, dass ich immer noch zu stark damit rechne, dass plötzlich einmal «Gnade» über mich kommen wird und dass danach alle Worte und Bilder vorhanden sein werden. Ich mache mir manchmal Vorwürfe, dass ich nicht arbeite, nicht wirk­

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lich arbeite, obwohl ich den ganzen Tag beschäftigt bin. Dann bin ich der Meinung und habe Angst, dass ich meine Zeit verstreichen lasse und nicht mit allen Fasern, die in mir stecken, an den Dingen arbeite, die wichtig sind. Ich sage mir dann selbst tröstend, dass meine Zeit noch kommen wird, und vertraue auch darauf, dass sie kommen wird, aber bin ich nicht in gewisser Hinsicht faul und bequem oder vielleicht sogar eher: furcht­ sam angesichts der Dinge, die wichtig sind? Wichtig für mich zumindest. Ich arbeite noch nicht an dem, von dem ich in meinen inspiriertesten Momenten denke, dass es in Zukunft meine Arbeit sein wird, aber manch­ mal wird daran sehr hart in mir gearbeitet und ich lasse es zu. Dann bin ich die Werkstatt, in der das Leben mächtige Projekte ausarbeitet, meis­ tens weiß ich nicht einmal, was, aber ich höre es dort dröhnen und wach­ sen und arbeiten, aber ich bemühe mich nicht einmal darum herauszu­ finden, was sich dort abspielt, aber ich weiß es ganz sicher: Eines Tages werde ich es schon erfahren. Arbeite also einfach ruhig weiter. Tide schreibt am Morgen in ihrer «stillen Stunde» alles auf, was in ihr hochkommt. Das reicht von Gott bis hin zu Brotbezugsscheinen. Ich nehme mir oft vor, das auch zu tun, aber plötzlich weiß ich, dass ich das nie können werde, weil ich in aller Herrgottsfrühe schon anfangen würde, in allem zu ertrinken, was ich in mir hochsteigen lassen würde. Ich sitze hier seit 5 Minuten, körperlich übermüdet und nicht allzu angeregt, und starre ein wenig auf diesen unordentlichen, geliebten Schreibtisch, und wenn ich aufschreiben müsste, was sich alles in meine schreibenden ­Fingerspitzen drängelt, dann würde ich ja nie wieder aufhören können, nicht wahr? Mein Wecker ist auf 7 Uhr gestellt, ich werde ihn jetzt jeden Morgen auf diese Zeit stellen, die Morgenmomente vor dem Frühstück werden vielleicht noch zu meiner ertragreichsten Zeit werden – oder gucke ich das jetzt nur von ihm ab? Ich würde ihn eigentlich doch lieber nicht heiraten, aber ich würde trotzdem gerne sehr lange bei ihm bleiben, so mit drei Straßen, einer Gracht und einer Brücke zwischen uns. Ich glaube, dass ich doch werde allein bleiben müssen. Ich muss noch allein durch die ganze Welt gehen, in meinen Bewegungen nicht durch einen leibhaftigen Ehemann verlang­ samt, aber doch inspiriert und getrieben von einer Erinnerung, die jetzt noch jeden Tag Realität ist. Aber diese Realität kann so mächtig werden, dass man sie nie wieder verlassen will, obwohl ich in einigen lichten und

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ehrlichen Momenten weiß, dass die Erinnerung an diese zeitlich begrenzte Realität für mich eine größere und inspirierendere Realität sein wird als das Aufrechterhalten dieser Realität. Das ist wirklich ungewöhnlich tief­ sinnig und glasklar ausgedrückt, scheint mir. Gott, gib mir viel Kraft. Ich muss so stark und so scharfsinnig wie ein Mann sein, wie ein erwachsener Kerl, um für ihn in seiner Arbeit so gut wie möglich ein Gegengewicht zu bilden. Wenn ich mit ihm verheiratet wäre und wir ein Haus hätten, dann würde ich dafür sorgen, dass vernünf­ tige und intelligente Männer seines Alters zu uns kämen, Fachkollegen, die ihm ein bisschen gewachsen wären und an denen er sich messen könnte. Nun ist das nicht der Fall und ich bin nur ein kleines Mädchen. Und ich will doch so viel Stärke und Erkenntnis und Verstand haben, dass ich vorläufig alle diese Kollegen ersetzen kann. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Und doch noch ein letztes Wort: Es ist wirklich ein Vermächtnis, eine Erbschaft, die ich täglich, nach und nach, aus seinen Händen empfange. 29. Mai [1942], Freitagmorgen, halb 12. Was ist das eigentlich? Als ob ich ein Gefäß wäre, vollgefüllt mit einer kostbaren Flüssigkeit. Aber das Gefäß ist von schlechter Qualität und ab­ genutzt, und die edlere Qualität des Inhalts fühlt sich dadurch nicht gut aufgehoben an. So fühle ich mich im Moment, schon seit dem Aufstehen. Ein alter, verbrauchter Lederschlauch voller abgenutzter Stellen, der eine viel zu edle Flüssigkeit enthält. Es gibt fast ein lächerliches Missverhältnis zwischen der Hülle und ihrem Inhalt. Ich kann mir wirklich nichts ande­ res als meine schlechte körperliche Verfassung vorstellen, die mir ein so trauriges und unausgewogenes Gefühl beschert. Er sagte heute Morgen schon: «Sie sehen so verschlagen aus, ist wieder eine Krise da?» Aber beim besten Willen der Welt fiel mir nichts anderes als die überlebensgroße ­Müdigkeit und die erneuten Schmerzen in meinem Leib ein.23 Und natür­ lich ist es nicht allein das. Ich bin so oft körperlich total angeschlagen, aber mein Geist und mein Verstand gehen dann doch noch ihre eigenen Wege, voller Kraft und Sicherheit, und ich habe dann in keinem Augen­ blick das Gefühl eines Missverhältnisses zwischen Hülle und Inhalt. Und jetzt fühle ich es fast physisch: ein alter, abgenutzter Schlauch, der den viel edleren Inhalt durchdringt und durch seine schlechte Qualität angreift.

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Der ausgefranste gelbe Stern flatterte unordentlich auf seinem grauen, nicht allzu sauberen, offenen Regenmantel, er schwang einen schweren Koffer hin und her und er hatte so ein fröhliches, liebenswürdiges Gesicht: Mischa. Das Erste, womit er herausplatzte, war: «Ich stand gestern Abend auf dem Kopf.» Dies als erste Reaktion auf seinen gestrigen Abend mit S. Und später: «Er ist ein unvergleichlicher Kerl. Zuerst macht er vielleicht den Eindruck eines efficiency-man, aber das ist er eigentlich gar nicht.» Und ich erzählte ihm, dass er 25 Jahre lang im Geschäftsleben gestanden hat. «Nein», sagte Mischa sehr entschieden, «das glaube ich nicht.» Und dann sehr liebenswürdig: «Er kann nicht mal ein Buch einpacken, er ist so schrecklich ungeschickt, ich glaube wirklich nicht, dass er im Ge­ schäftsleben gestanden hat.» Und bei der Straßenbahnhaltestelle angelangt, sagte er auf einmal: «Es ist so komisch, er ist ein Riesentollpatsch, aber er macht überhaupt keinen ungeschickten Eindruck.» «Das liegt an seiner großen Disziplin», sagte ich daraufhin. «Und glaubt er wirklich, dass es mir gut gehen wird?», fragte er mich noch hoffnungsvoll. Der Handlungsspielraum ist so gering und man sollte nicht zu opti­ mistisch sein, aber zumindest hat sich noch nie jemand so um ihn geküm­ mert, weil ihm niemand gewachsen war? «Er hat einfach einen Schaden», sagte Jaap gnadenlos und eigentlich so herzlos. Aber nachdem Jaap seine unerbittliche Buchgelehrsamkeit zur Schau gestellt hatte, endete er doch mit einer hilflosen Frage: «Ja, aber wer soll ihm dann helfen?» Versuchen, ihn auf dieser Seite der Trennlinie zu halten, ihn für die Gemeinschaft und für sich selbst zu erhalten. Die Kunstfertigkeit, der schöpferische Akt muss sehr teuer bezahlt und schwer gebüßt werden, mit Schäden hier und da, mit Erschöpfungszuständen nach den Höhepunkten, von denen man glaubt, man werde sich nie mehr von ihnen erholen können. Es ist jetzt 12 Uhr, was soll ich jetzt noch machen? Der ganze Tag, der vor mir liegt, gehört mir. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich, je instabiler ich mich fühle, meine Tage umso disziplinierter und geordneter ver­ bringen und auf dem Fundament stehen bleiben muss, um nicht in viele Stücke auseinanderzufallen. Sind das jetzt nur diese Wandernieren? Ich glaube es nicht. Ich glaube, dass ich wieder schwer zu tragen habe und mit vielen Dingen schwanger gehe, von denen ich selbst noch nichts weiß. Ich bin an jeder Stelle meines Körpers und meiner Seele so mürbe und die kleinste Bewegung erfordert zu viel Anstrengung. Ich frage mich plötzlich, ob das nicht immer wieder die gleiche Bewe­

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gung und Gegenbewegung ist: dass ich an den Tagen, an denen ich mich körperlich sehr müde und kraftlos fühle, das allergrößte Bedürfnis nach kreativen Handlungen, nach produktiven Tätigkeiten habe? Liesl, die sich mit meiner auf einmal entdeckten neuen Seite «auseinander­ setzen» muss: die «Empfindlichkeit». «Und so jemand möchte heiraten!», lachte S. laut nach unserem ­Gespräch. Und ich denke auch, dass ich doch auf Dauer für jede Lebens­ gemeinschaft ungeeignet bin, weil Irritationen, Sticheleien und Unbe­ herrschtheiten im täglichen Zusammenleben niemals auszubleiben schei­ nen – auch wenn ich nie verstehe, warum das notwendig ist; ich verstehe es wirklich nicht und bin darüber immer wieder traurig überrascht, nie gekränkt oder in meinem Selbstbewusstsein angegriffen, sondern über­ rascht, wie es möglich ist, dass sich Menschen, die sich innerlich nahe­ stehen, in einem besinnungslosen und müden Moment einander durch scharfe Bemerkungen verletzen. Das tötet bei mir sofort alles Schöne, das es zwischen mir und dem anderen gibt. Dieser Welt, die so voller Disso­ nanzen ist, sollte man nicht die kleinste Dissonanz hinzufügen dürfen. Und das bedeutet nicht, dass man nicht temperamentvoll, lebhaft oder leidenschaftlich in seinen Äußerungen und offen und schonungslos ehr­ lich zueinander sein darf. Aber diese kleinen Irritationen halte ich für eine Beziehung für tödlich. Zumindest bei mir ist das der Fall und deshalb bin ich wahrscheinlich für ein Zusammenleben ungeeignet. Aber trotzdem, warum muss das so sein und muss man es akzeptieren? Wir streben nach Verständnis, Bewusstwerdung und Menschenliebe, aber so eine einzige verärgerte Äußerung, die zwischen zwei Menschen gewechselt wird, die am Vortag noch in einer so großen inneren Verbundenheit und Harmonie beieinander waren, scheint mir in so einem krassen Gegensatz zu all unse­ rem Bemühen zu stehen, dass in meinen Augen diese Bemühungen bei­ nahe wertlos werden. Wenn dieses Streben nicht den kleinsten Atemzug unseres täglichen Lebens und Handelns durchdringt, dann erscheinen mir dieses ganze Streben nach tieferem Verständnis und all diese Bemühun­ gen, eine höhere und bewusstere Ebene des Daseins zu erreichen, wertlos. Und hier übertreibe ich natürlich wieder, obwohl meine Formulierung gut ist. Ich sage: Streben und Bemühungen, und das heißt folglich: etwas noch nicht erreicht haben. Und da sind Zusammenbrüche und Abstürze jederzeit möglich, aber das sollte dich nicht so verzweifelt und unglücklich machen. Schließlich ist dieser Dienstagabend für uns alle so produktiv

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geworden, so unangenehm er an sich auch war. Und genau darum geht es: dass sich alles, was auch immer es sein mag, zur fruchtbaren Produktivität weiter entfaltet. Er sagte: «Ich bin so heilfroh darüber, daß mal wieder eine negative Seite von mir zum Vorschein gekommen ist. Ich fand es die letzten Monate schon so unbehaglich, daß gar keine negative Seite» –

usw. Und für Hanneke wurde dies der Auslöser für diesen Brief, der für sie eine kühne Tat war, und für jene unerhört fruchtbare Auseinandersetzung mit ihm, die in einem spontanen Kuss von beiden Seiten endete und über die ich mich so freue. Und Liesl, die zu ihrem Staunen plötzlich meine «Empfind­ lichkeit» entdeckte, über die sie noch mit mir reden will. Und ich habe etwas tiefer und von etwas näher in die Augen dieser eindrücklichen und verhängnisvollen Institution geschaut, die Ehe heißt und mit der ich mich in letzter Zeit immer wieder innerlich messe. Ich entdecke zwei große Strömungen in mir, die beide gleich stark sind; dieje­ nige des Wunsches, meinen eigenen Weg zu gehen, sowie des Umstandes, mich einem gemeinschaftlichen Leben nicht gewachsen zu fühlen, und diejenige des Wagnisses, das Leben mit einem anderen zusammen zu ver­ bringen und alle Konsequenzen daraus zu tragen. Und dazwischen, oder besser gesagt «jenseits», befindet sich dann unsere «Scheinehe», eine Insti­ tution für sich, eine Möglichkeit, zusammenzubleiben und diese harten Zeiten gemeinsam durchzustehen. Aber die Institution der «Ehe» ist so traditionsreich, so ehrwürdig, dass man damit nicht spielen kann. Und obwohl es sich nur um eine Scheinehe handelt, erzwingt sie dennoch eine innere Auseinandersetzung mit der echten Ehe. Und die Ernsthaftigkeit dieser Institution wird mir erst jetzt zum ersten Mal am eigenen Leibe bewusst. Ein prächtiges Thema für eine Novelle. Und meine lieben Eltern, meine Mutter hier vorgestern im Winter­ garten: «Wir finden es keine sehr erfreuliche Angelegenheit, aber letzten Endes musst du dein eigenes Leben leben. Ein abgelebter, alter Mann, der sein ganzes Leben schon hinter sich hat, so jung er auch im Geiste sein mag.»

Abends nach dem Essen. Es stellt sich immer wieder in einem anderen Bereich heraus, dass ich mich innerlich doch noch nicht ganz von ihm losgelöst habe und dass ich noch kein freier Mensch auf eigenen Beinen bin. Wenn ich mich so krank fühle wie heute, dann bringe ich das mit ihm in Verbindung. Ich meine das so: Ich fühle mich dann so kraftlos und habe dann Angst, dass ich nicht genug Kraft für ihn habe und ihm nicht genüge. Dann habe ich

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wahrscheinlich unterbewusst Angst, dass er mich langweilig finden wird, wenn ich mich so elend fühle; dann bin ich vorübergehend nicht so voller Begeisterung für alles, was ihn betrifft, und dann fürchte ich, dass unsere Beziehung an Intensität verlieren wird. Und das ist natürlich sehr dumm. Ein Mensch kann sich an manchen Tagen elender fühlen als an anderen und darauf hat er sozusagen ein Anrecht; das gehört zum Leben dazu und andere haben das auch zu akzeptieren. Ich will nur Folgendes sagen: Wenn ich mich so schlecht und unbehaglich fühle, dann muss das ein Gefühl sein, das von ihm losgelöst ist. Ich brauche es auch gar nicht erst zu ver­ stecken, es scheint ja doch durch. Ich kann doch sehr sachlich sagen: «Ich fühle mich heute völlig beschissen, in meinem Bauch, in meinem Kopf und in meinem ganzen Körper; lass mich einfach für eine Weile in Ruhe.» – Wie aufgebauscht und forciert doch vieles im Leben eines Menschen ist! Wirklich den eigenen Weg auf den eigenen Beinen gehen, in Lust und Unlust; in Krankheit und Gesundheit; in Momenten der Kreativität und in Tiefs. Und nicht immer begleitet von einem Gefühl wie: «Was wird der andere von mir denken, würde es ihn stören, würde ich ihm auf den Geist gehen?» Und denk immer wieder an den Unterschied zwischen Gebundenheit und verbundenheit! Heute noch: Michelangelo und Leonardo. Auch sie gehören zu meinem Leben, sie bevölkern mein Leben. Dostojewski und Rilke und der heilige Augustinus. Und die Evangelisten. Ich verkehre in ausgezeichneter Gesell­ schaft. Und es gibt keine Verbindung mehr zur «Schöngeisterei» von frü­ her. Jeder von ihnen hat mir auf seine Weise etwas Wahrhaftes aus un­ mittelbarer Nähe zu erzählen. Es gab einige Dinge von Michelangelo, die mich so unerwartet an der Kehle packten und die bei mir eine direkte, starke Ergriffenheit versursachten. – «Man gab sich seinen Traurigkeiten hin, maßlos bis zur Selbstvernich­ 24

Dies ist wirklich ein legendärer Satz geworden. «Dies gibt es nicht mehr.» Selbst an meinen müdesten und traurigsten Tagen lasse ich mich nie mehr so tief fallen. Das Leben bleibt ein kontinuierlicher und un­ unterbrochener Strom, der in diesen Tagen vielleicht etwas langsamer fließt und auf mehr Widerstände stößt, aber dennoch immer weiterströmt. Ich kann auch nicht mehr so wie früher von mir selbst sagen: «Ich bin so unglücklich, ich weiß mir keinen Rat mehr», das ist mir völlig fremd ge­ worden. Ich habe früher schon mal anmaßend behauptet, der unglück­ lichste Mensch auf Erden zu sein. tung.»

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Über Dinge, die mich wirklich beeindrucken, kann ich nicht schreiben. Zum Beispiel über diesen Abend bei Pieter und Hanneke. Ein solcher Abend versinkt dann in mir und ruht in mir wie etwas Schweres. Ich glaube, es liegen viele schwere Dinge auf meinem Grund. Und vielleicht fühle ich mich deshalb manchmal so schwer, so müde und so schwanger. Aber vielleicht lagern sich all diese Eindrücke und Erinnerungen in mir zu einem schweren Lehmboden ab, der vielleicht eines Tages fruchtbar sein wird für Gott weiß was für unbekannte Gewächse? Und das drängt sich mir immer wieder auf: Einen unordentlichen Schreibtisch voller Bücher und Papiere, der mir allein gehört, werde ich immer wieder dem idealsten und harmonischsten Ehebett vorziehen. Und meine Mutter würde aggressiv sagen: «Aber das eine schließt doch das ­andere nicht aus?» Aber ich glaube, dass das eine das andere tatsächlich ausschließt. Ich erinnere mich an einen Satz aus einem Roman,25 den ich vor langer Zeit gelesen hatte, es ging um irgendeine exaltierte Gräfin, die zudem eine historische Figur war, und die sagte: «Ich liebe ihn zu sehr, um ihn zu hei­ raten.» Ich dachte damals, das sei eine dumme und unbegreifliche Äuße­ rung dieser Gräfin, aber allmählich kann ich etwas damit anfangen. Später werde ich ein nicht allzu dickes Buch darüber in einer harmlosen und glasklaren Ich-Form schreiben. Aber das erst viel später. Und jetzt: jenseits des Schreibtisches und des Ehebettes, steht: die Drenther Heide, wo man verhungern kann, und Polen, wo man Diph­ therie26 bekommen zu können scheint. Das ist eine Aufgabe für sich. Und diese «Scheinehe» hat nichts mit einer echten Ehe zu tun. Aber diese Insti­ tution hat, trotz des Scheins, mit dem wir sie umgeben wollen, doch solch starke Strahlen zu mir ausgesendet, dass ich plötzlich mit der echten Ehe konfrontiert worden bin und an der Auseinandersetzung mit ihr reife. Das merke ich jetzt auch wieder: Egal wie zerschlagen, müde und er­ schöpft ich bin: Wenn ich eine Weile an diesem Schreibtisch sitze, an mei­ nem unordentlichen Arbeitsplatz, die weiße Wand der Mauer, die senkrecht vor mir aufsteigt, das Zimmer in meinem Rücken und dahinter die ganze Welt, dann fühle ich mich wieder so gelassen und so wohl, so gänzlich «hei­ misch». Aber ich weiß zur gleichen Zeit, dass die kleinste Verletzung dieser «Gelassenheit» und dieses Zuhauses alles wieder zerplatzen lässt. Es ist mitunter kaum zu verdauen und zu begreifen, Gott, was sich deine Ebenbilder auf der Erde in diesen entfesselten Zeiten gegenseitig alles

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a­ ntun. Aber ich ziehe mich nicht davor in mein Zimmer zurück, Gott, ich sehe allem weiterhin ins Auge und will vor nichts davonlaufen, sondern versuchen, selbst die schlimmsten Verbrechen irgendwie zu verstehen und zu ergründen, und ich versuche immer wieder, den nackten, kleinen Men­ schen ausfindig zu machen, der oft inmitten der monströsen Ruinen sei­ ner sinnlosen Taten nicht aufzufinden ist. Ich befinde mich hier nicht in diesem stillen Zimmer, um mich an Blumen zu ergötzen oder um mit Dichtern und Denkern Gott zu preisen, das wäre wahrhaftig keine Kunst, und ich glaube auch nicht, dass ich so «weltfremd» bin, wie meine guten Freunde liebenswürdigerweise sagen. Jeder Mensch hat nun mal seine ­eigene Realität, das weiß ich, aber ich bin keine verträumte Fantastin, Gott, und auch keine noch etwas backfischhafte «schöne Seele» (über meinen «Roman»27 sagte Werner: «von einer schönen Seele an eine große Seele»). Ich stehe deiner Welt Auge in Auge gegenüber, Gott, und flüchte mich nicht vor der Realität in schöne Träume  – ich glaube, dass auch ­neben der grausamsten Realität noch Platz für schöne Träume ist – und ich werde deine Schöpfung weiterhin preisen, Gott – trotz allem! Wenn er demnächst wieder anruft und mit seiner inquisitorischen Stimme fragt: «Na, wie geht’s Ihnen denn?», dann kann ich aufrichtigen Herzens wieder antworten: «Oben sehr gut, unten sehr schlecht!» Die meisten Probleme sind schon größtenteils gelöst, wenn man sie nur schon angeht. Zumindest in der Psychologie ist das der Fall, im «Le­ ben» ist das womöglich ganz anders. Indem mir plötzlich bewusst wurde, dass, wenn ich mich krank fühle, dies viel zu oft in Verbindung mit ihm geschieht, und indem ich das in einem recht unbeholfenen Satz nieder­ geschrieben habe, habe ich mich mit einem schlagartigen kleinen Ruck wieder etwas mehr von ihm gelöst und werde ihm bald wieder von einem neu erworbenen Stückchen Freiheit aus entgegentreten. Und so gibt es immer parallel zu dem Prozess des Zueinander-hin-Wachsens auch einen Prozess des Immer-stärker-voneinander-Loslösens. Und an solchen Tagen, an denen ich mich sehr matt und müde fühle, klammere ich mich womöglich unwillkürlich stärker an seiner Kraft fest, als ob ich Heil von dieser Kraft erwarten würde. Und gleichzeitig bringt mich diese überströmende Kraft aus der Fassung, weil ich mich ihr nicht gewachsen fühle und befürchte, nicht mehr mit ihr mithalten zu können. Weder das eine noch das andere ist die richtige Reaktion. Heilung und Regeneration müssen aus meiner eigenen Kraft erfolgen, nicht aus der sei­ nen. Und in solchen Zeiten kann mich diese ungebrochen starke Lebens­

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kraft manchmal plötzlich irritieren und ängstigen, aber das wird oft der Fall sein bei einem kranken Menschen, der auf einen gesunden trifft, und zwar aus einer Art Gefühl der Benachteiligung heraus. Plötzlich, später am später Abend, zwischen den Übersetzungen von zwei russischen Sätzen: Vor ein paar Tagen habe ich es ungefähr so ausgedrückt, dass es für mich ein größeres Opfer wäre, hier in komfortablen Verhältnissen allein zurückzubleiben, als ihm in was für eine Hölle auf Erden auch immer zu folgen. Und nach alledem, was in den letzten Tagen in mir durchgearbei­ tet wurde, glaube ich, dass es wirklich ein Opfer wäre, mit ihm wohin auch immer mitzugehen, um ihn zu unterstützen. Und so empfinde ich das jetzt: Ich gehe nicht für mich selbst mit und nicht einmal aufgrund einer Solidarität des Schicksals, sondern aus einer fast sachlichen Leiden­ schaft heraus, wenn man das so sagen kann, um zu versuchen, Material, das für die Menschheit so wertvoll ist wie dasjenige, aus dem er geschaffen ist, so gut wie möglich zu retten und zu bewahren. In mir ist wieder viel los, ich weiß immer noch nicht, ob es sich dabei um plötzliche Anwandlungen oder wirklich ausgereifte Früchte lang­samer, unterirdischer Prozesse handelt.  – Das Studium der Grammatik und Übersetzungsübungen sind eine Leidenschaft von mir. Samstagmorgen [30. Mai 1942], halb 8. Gestern Abend habe ich bereits den Frühstückstisch gedeckt und mein Wecker war heute Morgen auf 7 Uhr gestellt. Ich war am frühen Morgen schon mit dem heiligen Augustinus zusammen und möchte hier ein paar Worte festhalten. Immer überall das Gleiche, in immer anderen Nuancie­ rungen und Tonarten, aber immer das Gleiche: «… Meine Seele soll dich preisen in den Dingen, Gott, du Schöpfer des All, aber sie soll nicht an ihnen haften in sündiger Liebe mit den Sinnen des Leibes. Denn alles geht, wohin es immer ging, daß es nicht sei; und es zerreißt mit all den kranken Wünschen unsre Seele, denn die will sein und will drin in den Dingen ruhen, die sie liebt. In ihnen aber ist nicht, worin sie ruhte, denn sie bleiben nicht. Sie scheiden, und wer vermag es, ihnen zu folgen mit den Sinnen des Fleisches, und wer kann sie fassen, auch wenn sie vor ihm liegen? Denn langsam sind die Sinne des Fleisches, und wer kann sie fassen, auch wenn sie vor ihm liegen? Denn langsam sind die Sinne des Fleisches.»

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Die kahlen Stämme, die vor meinem Fenster aufragen, sind jetzt mit grü­ nen, jungen Blättchen bedeckt. Ein gekräuseltes Fell auf ihren nackten, harten Asketenleibern. Ja, wie war das gestern Abend in meinem kleinen Schlafzimmer? Ich war früh zu Bett gegangen und schaute von meinem Bett aus durch mein großes, offenes Fenster nach draußen. Und mir war wieder, als wäre mir das Leben mit all seinen Geheimnissen sehr nahe, als könnte ich es berüh­ ren. Ich hatte das Gefühl, als ob ich an der nackten Brust des Lebens ruhte und seinen leisen, regelmäßigen Herzschlag hörte. Ich lag in den nackten Armen des Lebens, und es war dort so sicher und geschützt. Und ich dachte: Wie merkwürdig das doch ist. Es ist Krieg. Es gibt Konzentra­ tionslager. Kleine Grausamkeiten häufen sich auf kleine Grausamkeiten. Wenn ich durch die Straßen gehe, dann weiß ich von vielen Häusern, an denen ich vorbeikomme: Hier ist ein Sohn im Gefängnis, hier wurde der Vater als Geisel genommen, und dort haben sie das Todesurteil eines 18-jährigen Sohns zu ertragen. Und diese Straßen und Häuser befinden sich ganz in der Nähe meines eigenen Hauses. Ich weiß, wie gehetzt die Menschen sind, ich weiß um das viele menschliche Leid, das sich häuft und häuft, ich weiß um die Verfolgung, Unterdrückung, Willkür und um den ohnmächtigen Hass und viel Sadismus. Ich weiß das alles und behalte jedes Stückchen Realität im Auge, das sich mir aufdrängt. Und dennoch: In einem unbewachten Moment, wenn ich mir selbst überlassen bin, liege ich plötzlich an der nackten Brust des Lebens, und seine Arme legen sich so sanft und so beschützend um mich und sein Herzklopfen kann ich nicht einmal beschreiben: so langsam und so regelmäßig und so leise, fast gedämpft, aber auch so treu, als ob es nie wieder aufhören wollte, und auch so gut und barmherzig. Das ist nun einmal mein Lebensgefühl, und ich glaube, dass kein Krieg oder irgendwelche sinnlosen menschlichen Grausamkeiten etwas daran zu ändern vermögen. Dort, südlich meines Zwerchfells, sind alle möglichen Dinge aus den ­Fugen geraten. Meine körperliche Hülle bedarf sicherlich einiger tiefgrei­ fender Reparaturen. Solange ich noch in diesem ruhigen, beschützenden Haus lebe, ist das alles nicht allzu schlimm, aber ich muss in jedem Mo­ ment darauf vorbereitet sein, dass mich diese freundlichen Wände nicht mehr so sicher umgeben, und dann ist das mit mir schon ein verdammt ärgerlicher Zustand. Ich will ihn beschützen und begleiten, aber er kann

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doch kaum auf seinen Wegen ein so sonderbares Wrack gebrauchen, wie ich es im Moment bin. Ich weiß im Grunde nicht genau, was ich dagegen tun soll. Wenn ich kein Salz mehr esse, wird die Niere vielleicht ein biss­ chen weniger wandern. Aber diese homöopathischen Tröpfchen und diese andauernden Aspirintabletten gehen natürlich ständig aufeinander los und liefern sich in meinem «irdischen Haus» Schlachten. Ja, mein Körper: Plötzlich sehe ich vor mir das Bild einer alten, verfal­ lenen Ruine, aber durch die vielen Öffnungen fliegen weiße Tauben, das sind meine Gedanken, es sind mehr als Gedanken, es sind die Bewegun­ gen und die Regung meines Geistes, und zwischen den Ritzen wachsen junge und neue Blumen, so reizend frisch und jung zwischen den verwit­ terten Mauern – und das sind meine Gefühle. So fühle ich mich plötzlich selbst: wie eine alte, verfallene Ruine – aber weiße Tauben fliegen durch die vielen Öffnungen und kleine leuchtende Blumen wachsen in den Rit­ zen der Mauern. Na ja, das ist jetzt sehr bildhaft, mein Mädchen, du solltest jetzt besser ein paar Tropfen schlucken, und ich werde froh sein, wenn ich einmal ein weniger verfallenes Gesicht im Spiegel sehen werde, als meines heute früh am Morgen war. Am Ende des Vormittags kurz ein paar Worte aus der Mitte eines RilkeBriefs: «… Wir stellen Bilder aus uns hinaus, wir nehmen jeden Anlaß wahr, welt­ bildend zu werden, wir errichten Ding um Ding um unser Inneres herum.»

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1. Juni ’42, Montagmorgen, 8 Uhr. Ich war schon am frühen Morgen in eigenartiger Gesellschaft: in derjeni­ gen von Casanova30 und des heiligen Augustinus. Er nimmt allmählich sehr merkwürdige Ausmaße an, dieser Prozess in meinem Körper. Ich kann schon alberne Scherze machen wie gestern Abend: «Kinder, in meine körperliche Hülle hat sich der Holzwurm einge­ schlichen oder eine Motte oder weiß Gott was; südlich meines Zwerchfells sind alle möglichen Dinge aus den Fugen geraten.»  – Aber so kann es wirklich nicht weitergehen. Um mein Herz herum bilden sich Strudel und seit drei Tagen habe ich ein Schwebegefühl bis hinunter zu meinen Hals­ wirbeln. Und übrigens, ich finde es todlangweilig, über einen Gesund­ heitszustand zu schreiben. Das Unverantwortliche an mir ist, dass es mich tief im Inneren nicht wirklich kümmert, wie ich mich körperlich fühle.

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Ich lebe einfach weiter auf meine Weise und die Klippen des körperlichen Unbehagens umschiffe ich geschickt, während mein Geist seinen eigenen Kurs und mein Gefühl seine eigene Intensität beibehält. Und bei allem behalte ich dieses Gefühl des Geborgenseins. – Telefon. Nach dem Frühstück. Die stark verästelte Geranie verblutet langsam hinter seinem Fenster. Ich sehe sie immer schon von Weitem wie ein feuerrotes Leuchtfeuer. Ich gehe die Straße hinauf, direkt auf sein Fenster zu, hinter dem S. manchmal mit ungeduldigen Gebärden steht. Dann muss ich noch dieses kleine Stück Sandfläche vor seinem Haus überqueren  – so ein kleines, ungepflegtes Stück Wüste mitten in dem gepflegten Stadtteil Amsterdam-Süd  – und dann renne ich viele Treppenstufen hinauf und bin endlich da. Und jetzt gehe ich mit meinem Strudelgefühl zum Arzt, in den ich, ganz heimlich unter uns gesagt, nicht viel Vertrauen habe. Aber heute Morgen gehe ich wirklich als Hilfesuchende dorthin. [Dienstag] 2. Juni [1942], nachmittags 6 Uhr. Aus einem Brief an Leonie, die nicht mehr reisen darf: «Jetzt werden wir schon wieder essen gehen und heute Abend gibt es ein weiteres Opfer bei den Levies mit seinem ‹Hände hoch›. Ich möchte noch eine einzige Sache aufschreiben. Heute Morgen im Badezimmer, als ich mich in Gedanken stark mit dir beschäftigte, kamen mir plötzlich diese Worte in den Sinn. Wenn ich sie wortwörtlich abschreibe, wie sie mir in den Sinn kamen, bin ich davon überzeugt, dass sie ein wenig pathe­ tisch klingen, aber sie waren dennoch aufrichtig am frühen Morgen und entsprechend traue ich mich, sie aufzuschreiben: Es wird in kommenden Jahren unser Stolz und unser Sieg sein, dass jeder vernichtende Schlag, den man uns zufügen wollte, in sein Gegenteil verkehrt wurde und unsere Stärke und Entwicklung lediglich gefördert hat. Und wie viele traurige und einsame Momente sie dir womöglich be­ scheren mag, wer weiß, wie segensreich diese vorübergehende Isolation für dich sein kann und was für ein fruchtbarer schriftlicher Kontakt sich dar­ aus ergeben kann. Und ansonsten? Vielleicht bist du nächste Woche wieder hier, aber das ändert nichts an dem hier Gesagten, denn es geht letzten Endes um die Einstellung. Und jetzt zu Tisch! Halte die Ohren steif, Kleines, und bis zum nächsten Mal.»

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Mittwochmorgen [3. Juni 1942], 9 Uhr. Das schöpferische Verlangen steigt an manchen Tagen in so hohen Flut­ wellen in mir auf, dass ich fast Angst habe, innerlich überflutet zu werden und zu ertrinken. Die Inhalte, die dort herausfließen möchten, sind so unverhältnismäßig im Vergleich zu der ihr gegenüberstehenden schwachen Form – wie ein lächerlich kleiner Damm in einem wild reißenden, großen Fluss –, dass ich, wenn solche Flutwellen des Öfteren in mir hochschlagen würden, von innen heraus untergraben würde. Und ich möchte mir selbst sagen: Anstatt in großen und vagen Bögen um diese unüberschaubaren und unbezähmbaren Inhalte zu kreisen, sollte ich an der Verstärkung dieser ach so winzigen und schwachen Form arbeiten. Ich sage stets, dass in mir ein so starkes schöpferisches Verlangen ist, und ich suche immer nach Worten und Bildern, mit denen ich dieses Verlangen charakterisieren könnte. Aber vielleicht sollte ich besser versuchen, in mi­ nutiösen und präzisen Formen dasjenige darzustellen, das dieses Verlangen hervorruft, z. B. eine Blume, eine Geste, ein menschliches Gesicht oder eine Atmosphäre, die irgendwo herrscht. Ich komme sozusagen noch nirgends dran, ich kann noch nichts erfassen, alles drängt sich mir noch so groß und stark und unübersichtlich auf. Als ich gestern Nachmittag hier an meinem Schreibtisch saß, überkam es mich fast wie eine Art Offen­barung: Hier sitze ich jetzt und könnte Dinge aus Worten erschaffen. Eine Atmosphäre, ein Verhältnis zwischen Menschen, ich müsste daraus etwas machen. Etwas mit Umrissen und klaren Konturen, wägbar und greifbar und materiell und doch letztendlich wiederum auch immateriell und ­ungreifbar. Ja, vielleicht müsste ich das tun, aber ich kann es noch nicht gut ausdrücken und inner­ lich schäme ich mich manchmal so, was natürlich sehr kindisch ist, dass ich im Alter von 28 Jahren noch so wenig zum Ausdruck bringen kann. Aber so sollte es sein: Zuerst alles kristallklar, sehr präzise und minutiös beschreiben, und erst wenn man bis in die entlegensten Winkel der zugänglichen Reali­ tät einer Sache alles dargestellt hat, dann ist die Zeit reif, in die irrealen Sphären überzugehen, erst dann kann etwas zum Symbol, zum Abbild einer immateriellen und irrealen Vorstellungswelt werden. Aber das muss über den Weg des Minutiösen und Präzisen und über den Weg der Deutlichkeit, Klarheit und Verständlichkeit laufen. Andernfalls wird alles vage und «ver­ schwommen». Mir gehen hier langsam ein paar Lichter auf. Ich möchte Dinge aus ernsten und bizarren Worten erschaffen. Wahre Verfeinerung und Zärtlichkeit können, glaube ich, nur auf einem Boden der Urkraft wachsen. Andernfalls erhält man Perversion und Dekadenz.

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7 Uhr abends. Die Tage und die guten Vorsätze zerrinnen zwischen deinen Fingern, ohne die Fruchtbarkeit zu erlangen, die man gelegentlich in einem guten Mo­ ment von ihnen erwartet. Ich muss ohnehin zuerst wieder ganz gesund werden. So geht das doch nicht, mit dieser interessanten, halben Gesundheit und der überheblichen Überzeugung zu glauben, der Geist würde schon seine eigenen Wege ge­ hen. Es ist heute so heiß und drückend, und viele zähe Stunden dieses Tages sind in mir zu einer vagen und suchenden Abneigung angeschwol­ len. Manchmal fragt man sich plötzlich, wer und was man eigentlich ist. Man fragt sich, ob man sich nicht zu weitaus größeren Leistungen berufen fühlt, als man jemals erreichen kann? Ob man sich nicht bezüglich kreati­ ver Fähigkeiten etwas vormacht? Ob man tatsächlich ein ehrlicher Mensch ist und ob man nicht in den tiefsten Tiefen doch in gewisser Hinsicht mit den Werten dieses Lebens spielt? Ob man alles in sich selbst vollkommen aufklärt? – Aber während ich hier so sitze, fühle ich wieder, wie meine Ernsthaftigkeit wie ein bleischwerer Stein in mir liegt und der fast zu schwer ist, weil ich überhaupt nichts für ihn tue, außer mich ihm hinzu­ geben. Manchmal habe ich das schuldbewusste Gefühl, dass ich meine wichtigsten Pflichten vernachlässige und in den wesentlichsten Dingen faul bin. Ich müsste eine einzige einfache Sache aus Worten erschaffen, auch wenn sie noch so mangelhaft wäre. Ich sollte den Mut haben, einige meiner schweren, vagen Ahnungen aus dem inneren Kerker zu befreien, der allmählich viel zu eng wird; ich sollte für sie eine Form suchen, in der sie ans Tageslicht treten könnten, und mich nicht schämen, wenn diese Form hässlich oder mangelhaft ist. Aber das ist es, was mich manchmal fast zur Verzweiflung bringt. Ich bräuchte Hektare an Zeit, ganze Wüsten voller Zeit, unendliche Zeiträume und Konzentration um mich herum, um die kleinste Sache zu schaffen. Und ein Tag besteht aus einem Früh­ stück, einem Mittagessen und einem Abendessen. Und dazwischen ein paar Stunden. Ein Telefongespräch, ein Schüler, eine russische Überset­ zungsübung. Und manchmal hat man eine einzige Minute in sich selbst, die aus unzähligen Tagen zu bestehen scheint, so weit und so grenzenlos. Aber man bräuchte viele Tage echter Zeit, um die Erfahrungen einer ein­ zigen Minute zu beschreiben. Und die Stunden sind zwischen den vielen täglichen Verrichtungen und kleinen Pflichten so eingeklemmt. Und wenn ich zum Schreiben kommen könnte – was etwas unendlich Schwie­ riges für mich sein wird, glaube ich  –, dann bräuchte ich Stunden mit

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e­ inem weiten Ausblick auf viele darauffolgende Stunden, die alle nur mir gehören würden. Dann müsste ich sozusagen in einem Saal der Zeit mit vielen großen Fenstern sitzen, die alle wieder einen Ausblick auf die Zeit erlauben würden, und das müsste dann alles mein eigener Bereich sein. Und deshalb habe ich manchmal das Gefühl, dass ich nichts tue und dass alle guten Inspirationen und kleinen Anläufe zu vager Träumerei und Spe­ kulation über die vielen großen Dinge zerfallen, die ich in Zukunft aus Erfahrungen und Empfindungen und dem gewonnenen bisschen Weis­ heit erschaffen werde, von denen ich glaube, dass ich jetzt noch keine Zeit dazu habe. Aber ich weiß, dass das Leben immer aus Aufstehen und Schla­ fengehen und ein paar Mahlzeiten am Tag und täglichen Pflichten beste­ hen wird, und dazwischen muss man zusehen, dass man mit den großen Dingen fertigwird, die man für wirklich wichtig hält. Und wenn ich jetzt nicht damit fertigwerde, wenn ich ihnen jetzt keinen Platz in meinem ­Leben einräume, wer sagt mir dann, dass ich das später noch tun kann? Donnerstagmorgen [4. Juni 1942], halb 10. Ich schreibe es noch einmal ab, zum x-ten Mal, ich muss es mir selbst immer wieder einprägen, immer und immer wieder: «Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts. Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!»

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An einem solchen Sommertag wie heute liegt man wie in tausend sanfte Arme gebettet. Man wird so träge und so faul, aber im Inneren brodelt eine Welt auf ein unbekanntes Ziel zu. Und was ich auch noch sagen wollte: Als er neulich den «Lindenbaum»32 gesungen hatte (ich fand es so schön, dass ich ihn bat, einen ganzen Wald voller Lindenbäume zu singen), glichen die Falten und Linien in seinem Gesicht alten, uralten Pfaden durch eine Landschaft, die so alt war wie die Schöpfung selbst. Am kleinen Ecktisch bei Geiger schob sich neulich Münsterbergers junges und fein geschnittenes Gesicht zwischen das seine und das meine, und für den Bruchteil einer Sekunde war ich fast entsetzt darüber, wie alt

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sein Gesicht doch ist, als hätte es schon viele Leben hinter sich und nicht nur sein eines Leben. Und das löste in mir eine kleine Reaktion aus, wie eine Momentaufnahme: Ich würde mein Leben nicht mit seinem für ­immer verbinden wollen, das ist etwas Unmögliches. Aber eigentlich ist eine solche Reaktion so platt und unter allem Niveau. Sie basiert auf dem konventionellen Konzept der Ehe. Mein Leben ist ohnehin an seines ­gebunden, oder besser gesagt, es ist mit seinem verbunden. Und nicht einmal unsere Leben, sondern unsere Seelen – ich gebe zu, dass ich diese Formulierung am frühen Morgen hochgestochen finde, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass ich noch nicht ganz dahinterstehe («dazu stehe»), hinter dem Wort «Seele». Und es ist so außergewöhnlich platt und kleinlich und wirklich unter allem Niveau, manchmal, wenn sein Gesicht dir besonders gut gefällt, zu denken: «Ja, ich würde ihn gerne heiraten und immer bei ihm bleiben», und in Augenblicken, in denen er dir so alt, so uralt oder gar ururalt erscheint, besonders dann, wenn du ein junges und frisches Gesicht neben seinem siehst, zu denken: «Nein, doch lieber nicht.» Das sind solche Kriterien, die ich aus meinem Leben verbannen sollte. Das ist eine Art der Reaktion, die ich, ja, ich kann es noch nicht einmal ausdrücken, als störend und behindernd für die wirklich großen Gefühle der Verbundenheit empfinde, die über alle Grenzen der Konven­ tion und Ehe hinausgehen. Und es geht hier nicht einmal um Konvention und Ehe, sondern um die Vorstellung, die man davon hat und in sich trägt. Es darf einfach nicht passieren, dass man im einen Augenblick anläss­ lich eines bestimmten Gesichtsausdrucks oder was auch immer denkt: «Ich würde ihn schon gerne heiraten.» Und im nächsten Augenblick ­reagiert man genau umgekehrt. Das dürfte wirklich nicht passieren, denn es hat nichts mit den wesentlichen Dingen zu tun, um die es geht. Schon wieder etwas, das ich nicht einmal annäherungsweise ausdrücken kann. Aber: Man muss viel in sich selbst ausreißen und ausrotten, damit ein ungeteilter weiter Raum für die großen Gefühle und Verbundenheiten in ihrer abgeschlossenen Ganzheit frei gemacht wird, ohne dass diese ständig von diesen kleinen Reaktionen niederer Ordnung durchkreuzt werden. Ich sollte mit der Chirologie ganz aufhören und die Zeit, die dadurch frei wird, für das Studium der russischen Sprache nutzen. Ich darf mich nicht mit Dingen verzetteln, die für mich nicht notwendig sind. Und ich muss den Mut haben, ihm das zu sagen. Und gestern Abend zum Beispiel bin ich mindestens eine Stunde zu lange bei Aleida Schot geblieben, ich weiß

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selbst nicht, warum, wahrscheinlich weil ich gespürt habe, dass sie es schlecht finden würde, wenn ich schon weggegangen wäre. Wenn ich es mit diesen Dingen wirklich ernst meine, sollte so etwas nicht passieren. Ich verzettele mich und verschwende meine Zeit auf Dinge, die weder für mich noch für andere notwendig sind, aber immer noch aus dieser un­ selbstständigen Angst heraus, ihn und andere zu verletzen, wobei dahinter wahrscheinlich wiederum steckt, dass ich Angst habe, dass ich anderen weniger gut gefallen werde. Und das ist letztendlich wieder eine Abhängig­ keit von anderen, von der Meinung der anderen über mich, was ja eigent­ lich die Sache der anderen ist und nicht meine. Es ist jetzt Viertel vor 11 und ich glaube, dass ich mich wieder «zusam­ mengerafft» habe. Es geht alles schon wieder. Disziplin und Ausdauer und Durchhaltevermögen und Vertrauen und Ehrlichkeit und das Bestreben, den Hauptweg so gut wie möglich zu erkennen und sich nicht auf den viel zu vielen Nebenstraßen zu verirren. Mitternacht, im Badezimmer. Ein paar Worte aus einem Gespräch von heute Abend, als wir die Treppe hinuntergingen und sein Gesicht auf dieser halbdunklen Treppe plötzlich wieder so männlich und ernst wurde, nachdem er zuerst wie ein alberner Säugling mit heftigen, unbegründeten Lachanfällen in einem himmelblauen Hemd, heiß, furchtbar heiß, hart an der Grenze zum Schwitzen, und mit völlig entspannten Gesichtszügen, die dem Gesicht dann so etwas Weiches und Sinnliches und auch etwas sehr Gutmütiges verliehen  – wo bin ich eigentlich in meinem Satz stecken geblieben? Ich weiß es nicht mehr. Na ja. Aber auf dieser halbdunklen Treppe spannten sich die Gesichts­ züge auf einmal während eines aufsteigenden Gedankens wieder an und sein eigentlich weiches und gutmütiges Gesicht wurde fast wieder männ­ lich durch die tiefe Nachdenklichkeit, die alle Gesichtszüge umgab. «Es geht doch eigentlich darum, daß jeder Augenblick des Lebens erfüllt ist und daß man doch nicht zu ich-haft wird und nur sich selber erlebt.»

Und ich erinnerte mich daran, wie ich letzte Woche zu Liesl in dieser schäbigen kleinen, mit gelben Sternen überfrachteten Eisdiele sagte: «So­ lange wir nur nicht zu selbstgefällig werden, davor müssen wir uns hüten, wir, die wir unsere innere Realität gefunden haben.» Und sich immer wieder auf andere einstellen und selbst immer wissen, wie schwierig der Weg zu dieser inneren Realität gewesen ist und wie man diesen Weg immer wieder finden muss.

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Mitten in einem Gespräch heute Abend, als meine allzu große Ver­ schlossenheit zur Sprache kam und ich sagte, dass ich nur über Dinge von mir selbst sprechen kann, die «fertig» seien, griff er mich plötzlich an, dass ich da eine falsche Vorstellung hätte, dass man niemals fertig sei und dass man auch den Mut haben müsse, sich in seiner Entwicklung zu zeigen, auch wenn man noch nicht «fertig» sei. Und ich habe dann noch kurz darüber gesprochen, dass ich manchmal in mir eine Diskrepanz empfinde zwischen meinem Temperament, meiner Spontaneität, der raschen Auf­ fassungsgabe und der Flinkheit nach außen hin und der trägen, langsamen und tiefgehenden Art und Weise, auf die meine inneren Prozesse statt­ finden. Und wenn ich etwas über mich selbst erzähle, habe ich das Gefühl, dass ich mich so zersplittere, dann fühle ich mich so «zerrissen» und bin hinterher immer sehr traurig. Und doch habe ich das Bedürfnis, mich vor anderen zu rechtfertigen, und es mag womöglich sehr geschwollen klin­ gen, wenn ich sage, dass ich mich dazu berufen fühle, meine eigenen inne­ ren Prozesse vor der Menschheit zu rechtfertigen. Nicht vor einem einzel­ nen Menschen in einem Gespräch, sondern vor der ganzen Menschheit, jawohl, vor der ganzen, in irgendeinem Kunstwerk. Das ist natürlich ­Unsinn, wie ich mich hier selbst lächerlich mache in Ermangelung der richtigen Worte, aber manchmal ist mir, als ob alles, was ich innerlich er­ lebe, nicht nur mir gehörte, als ob ich kein Recht darauf hätte, es für mich allein zu behalten, als ob ich es rechtfertigen müsste. (S. sagte ausgerechnet heute Abend, dass meine Verschlossenheit vielleicht unter anderem auch ein Hängen an «Besitz» sei.) Als ob ich in diesem kleinen Stück einer von vielen Empfängern wäre, die etwas wieder weitersenden müssen. Aber was, das weiß ich noch nicht. Wenn ich jetzt nicht schon zu schläfrig wäre, um eine Bilanz dieses ­Tages zu ziehen, wäre ich mit einer Sache unzufrieden: mit der Art und Weise, wie ich mit Hetty über die «Theaterwelt» gesprochen habe. Ihr ist es wahrscheinlich entgangen, aber mich stört es. Es schwang so ein wenig mit, dass ich die Frau sei, die in diesen Kreisen ihr zweites Zuhause hat und die so viel darüber weiß. Und einige vage Ungeheuerlichkeiten, von denen niemand etwas hat. Was S. heute Abend in dem Gespräch mit diesen sia­ mesischen Zwillingen Fein und Weyl33 sagte, die sich nach 8 Jahren immer noch siezen, war zumindest stichhaltig: Der Schauspieler, der sein ganzes Leben in diesen wenigen Minuten abends auf der Bühne immer wieder komprimiert und konzentriert, ist oft außerhalb der Bühne ein innerlich verkümmerter Mensch, der nicht an sich selbst arbeitet und «stecken

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Und er sagte noch ein paar weitere glasklare Dinge, während ich solche vagen Sensationsgeschichten auftischte, wirklich so wie eine «Einge­ weihte», und zugleich sehr eingebildet meine Missbilligung dieser Gruppe von Menschen zum Ausdruck brachte, deren Niveau ich so niedrig fand. Unmittelbar danach folgt bei mir ein Kater. Wenn ich nicht jedes Wort, das ich sage, innerlich verantworten kann, sollte ich besser gar nichts sagen. Humbug, um andere zu beeindrucken, du müsstest dich schämen, Kleines! Und deshalb ist jedes seiner Worte so eine Erquickung und Erleichte­ rung: Es ist niemals vage, jedes Wort wird geboren, nachdem es vollstän­ dig ausgetragen wurde, es ist alles so sicher, so ohne Vagheit und Tricks und Verschleierungen. Und von jedem Wort, das er äußert, lerne ich. Und selbst so ein Abend wie der heutige, an dem wir beide fast schwachsinnig von der Wärme sind und uns wie freigelassene Idioten verhalten, bringt uns doch, unmerklich, seine ausgereiften Momente, durch die man selbst im Inneren wieder etwas klarer und deutlicher wird. Aber das alles weiß dieser gute Mann selbst nicht. Gute Nacht. Freitagmorgen [5. Juni 1942], halb 9, im Badezimmer. Als ich gestern Abend auf der Stadionkade kurz zurückblickte und Werners Gesicht sah, fand ich dort plötzlich eine Ernsthaftigkeit und Entschlossen­ heit vor, die ich von diesem Gesicht noch kaum kannte. Aber diese Ernst­ haftigkeit war in dieses Gesicht gemeißelt. Und in S.s Gesicht ist das anders, während meiner Atemübungen habe ich benommen darüber nachgedacht, wie es bei S. ist. Und dann habe ich es herausgefunden: Bei ihm ist diese Ernsthaftigkeit modelliert. Gemeißelt und modelliert. So bearbeitet das Leben die Gesichter mit verschiedenen Werkzeugen. Oder besser gesagt: An S.s Gesicht «tritt» das Leben mit seinen eigenen nackten Händen ­«heran», «an» Werners Gesicht indirekter, mit einem Instrument, einem Meißel oder was auch immer. Als ich heute Morgen aufwachte, fiel mir plötzlich ein Satz ein, den ich einst als Backfisch stolz in einen kleinen Notizblock geschrieben hatte: «Mein Herz ist wie eine Ziehharmonika, es zieht sich zusammen und dehnt sich aus, und sein Spielmann ist das Leben». Freitagabend, halb 8. Heute Nachmittag habe ich mit Glassner japanische Drucke angesehen. Und plötzlich wusste ich es wieder: So will ich schreiben. Mit so viel Raum

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um ein paar Worte herum. Ich hasse viele Worte. Nur Worte, die organisch in ein großes Schweigen eingefügt sind, möchte ich schreiben, und nicht Worte, die nur dazu da sind, das Schweigen zu übertönen und ausein­ anderzureißen. Die Worte sollten eigentlich das Schweigen betonen, so wie auf dem einen japanischen Druck mit dem Blütenzweig in der unteren Ecke. Ein paar zarte Pinselstriche  – aber was für eine Darstellung des kleinsten Details – und um sie herum der große Raum, aber kein Raum, der eine Leere ist, sondern ein, sagen wir, beseelter Raum. Ich hasse die Anhäufung von Wörtern. Man kann im Grunde mit so wenigen Worten die paar großen Dinge sagen, um die es im Leben geht. Wenn ich jemals schreiben werde – was eigentlich? –, möchte ich einzelne Worte auf einen wortlosen Hintergrund pinseln. Und es wird schwieriger sein, diese Stille und dieses Schweigen darzustellen und zu beseelen, als die Worte zu fin­ den. Es wird dann um das richtige Verhältnis zwischen Worten und Wort­ losigkeit gehen, eine Wortlosigkeit, in der mehr passiert als in allen Wor­ ten, die man aneinanderreihen kann. Und in jeder Novelle – oder was auch immer es sein mag – muss der wortlose Hintergrund wieder anders gefärbt sein und einen anderen Inhalt haben, wie das auch bei diesen japanischen Drucken der Fall ist. Es geht nicht um ein vages und unergründliches Schweigen, auch dieses Schweigen wird seine eigenen kantigen Konturen und seine eigene Form haben. Und folglich sollten die Worte nur dazu dienen, dem Schweigen seine Form und seine Konturen zu verleihen. Und jedes Wort ist wie ein kleiner Meilenstein oder wie eine kleine Erhebung über endlos flachen und ausgedehnten Wegen und weiten Ebenen. Es ist so komisch bei mir: Ich könnte Bände darüber schreiben, wie ich eigentlich schreiben möchte, und es ist durchaus möglich, dass ich abge­ sehen von diesen Schreibanleitungen niemals einen Buchstaben zu Papier bringen werde. Aber auf diesen japanischen Drucken sah ich plötzlich so anschaulich, wie ich im Grunde gerne schreiben würde. Und ich möchte später einmal durch japanische Landschaften wandern, um mir dessen noch bewusster zu werden. Ich glaube überhaupt, dass ich eines Tages in den Osten ziehen werde, später, um festzustellen, dass dort täglich das gelebt wird, womit man sich hier allein fühlt und was man als Dissonanz empfindet.

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5. Juni ’42. Freitagabend, Mitternacht, im Badezimmer. «Früher lebten wir zwischen den Zitronenbäumen und den Mimosen», sagte Veterman mit ausladender Geste, «und jetzt leben wir zwischen Häusern.» «Und wir sammeln evakuierte Häuser, wir haben jetzt schon eines in Menton und eines in Blaricum.» Er hat etwas von einem Grandseigneur und etwas von einem Bohe­ mien, aber mehr von Ersterem. Und manchmal erinnert er mich auch an ein edles, philosophisches Pferd, sofern man sich darunter überhaupt ­etwas vorstellen kann. Und Max Ehrlich1 war im Vergleich zu ihm ein Sandsack von nicht allzu guter Qualität. Und ich bin wieder einmal traurig und nicht in meiner Mitte. Geh doch einfach schlafen. Du musst da jedes Mal wieder durch. Es kommt eigentlich fast nie mehr vor, aber jetzt ist es wieder da, dieses Gefühl, dass ich nicht mehr ganz zu mir stehe und mich nicht vollkommen zu allem Schweren und Ernsten bekenne, das nun einmal dazugehört und bei dem ich mir dann plötzlich so alt und verstaubt und ohne Selbstvertrauen vor­ komme. Und in solchen Momenten kann ich mich auch überhaupt nicht mehr leiden. Dann kommen die Worte so kraftlos und farblos aus mir heraus wie aus einem schüchternen Schulkind. Und das Leben in mir ist zu einem zerknüllten Spüllappen geworden. Es ist nicht einmal Traurig­ keit, denn meine Traurigkeit gehört zu mir und ist mir vertraut und ist vielleicht der fruchtbarste und echteste Teil von mir. Aber das jetzt ist ­etwas anderes. Mir ist alles abhandengekommen. Geh doch wirklich ein­ fach schlafen, vielleicht liegt alles nur daran, dass du in den letzten Tagen zu spät ins Bett gegangen bist.

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Samstagmorgen [6. Juni 1942], 8 Uhr, im Badezimmer. («Sie werden sich wohl nicht sehr gut waschen, wenn Sie sich alle solche ­Sachen ausdenken müssen.»)

Bezüglich Frau Veterman,2 aber man könnte es in Bezug auf die meis­ ten Menschen sagen: Ihre Gefühle können nicht frei bei ihnen ein- und ausgehen, sondern sind sozusagen in ihnen eingekerkert, und ihre Augen sind die schmalen Gitterfenster, durch die ihre Gefühle sehnsüchtig und manchmal verzwei­ felt nach draußen schauen. Und was die Starrevelds betrifft (und dann putze ich mir wirklich die Zähne und ziehe meine Strümpfe an): Pieters ganze Zärtlichkeit und Sanftheit fließt in seine Rehkitze und die vielen anderen Tiere, die er zeichnet, und Hanneke geht durchs Haus, sie wird kein einziges Mal liebkost und wird immer härter und schroffer. – Ich bin noch lange nicht fertig, aber das ganze Haus schreit schon vor Hunger, also zuerst Strümpfe und dann Frühstück. 11 Uhr morgens. Das war nur ein kurzer Ausflug, gestern spätabends. Ich bin bereits zu mir selbst zurückgekehrt und alle meine Gewissheiten sind auch schon wieder zu mir zurückgekehrt. Ich glaube, es war plötzlich diese große Ungewiss­ heit: «Ich bin doch bitte schön nicht zu ich-haft?» Han sagte gestern, als ich an meinem Schreibtisch saß und schrieb, mit etwas beleidigtem Gesicht: «Von all diesen vielen Seiten, die du schreibst, habe ich noch nie eine ein­ zige gelesen.» Und ich sagte: «Papi, das ist stinklangweilig für jemand ­anderen, aber ich werde dir einmal eine Seite vorlesen, damit du sehen kannst, wie wenig jemand anders davon hat.» Und dann las ich ihm vor, was ich gerade über die japanischen Drucke und das Verhältnis zwischen Worten und Wortlosigkeit geschrieben hatte und darüber, wie ich später schreiben möchte. Und danach noch die Seite, auf der ich es so bedauere, dass mir die guten Vorsätze zwischen den Fingern zerrinnen und dass man manchmal in einer einzigen Minute einen ganzen Lebensabschnitt durch­ leben kann, aber dass es auch eine ganze Menge Lebenszeit kosten würde, die Erfahrungen einer einzigen Minute wiederzugeben, was mir manch­ mal das Gefühl gibt, dass ich niemals genug Zeit haben werde. Für meine Begriffe waren das bereits sehr objektive Seiten.3 Aber Han sagte so ein bisschen «verständnislos»: «Ja, du schreibst immer nur über dich selbst, nicht wahr? Du bist immer nur mit dir selbst beschäftigt.» Und das

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­ escherte mir plötzlich so ein Gefühl der Verwirrung. Und ich versuchte b ihm klarzumachen, dass es dabei nicht nur um mich selbst geht, sondern auch um alle anderen, die ich nur verstehen kann, wenn ich mich selbst verstehe. Und es geht nicht nur um dieses Stückchen «Ich» in mir selbst, sondern um alles, dem das Leben Unterkunft in mir gewährt hat. Auch dieser Gedanke blitzte für einen Moment in mir auf: Wenn Puschkin über sich selbst schreibt, ist es doch genauso, als würde er über andere sprechen; wenn dahingegen Lermontow über andere spricht, scheint es immer so, als ob er nur von sich selbst spräche. Und es geht bei mir doch wirklich nicht um das «Ich». Aber man muss doch zuerst mit diesem «Ich» zurechtkommen, man muss damit immer wieder aufs Neue zurechtkommen, bevor man die nächsten Schritte macht. Ich habe auch versucht, Han zu erklären, dass jemand wie ich dazu ver­ pflichtet ist, sich Rechenschaft über all seine Stimmungen abzulegen, um sie auf diese Weise unter Kontrolle zu bringen und zu disziplinieren, weil sie mich sonst überwuchern würden. Und ein Tagebuch, nun ja, ein Tagebuch ist doch eigentlich nur dazu da, Klarheit über alle möglichen Stimmungen zu erlangen, zumindest bei mir ist das so. Und ich habe ihm auch gesagt, dass es bei den meisten Menschen Bequemlichkeit und «seelische» Faulheit ist, aufgrund derer sie es vorziehen, sich nicht um sich selbst zu kümmern; dass dazu auch eine Art Mut nötig ist. Und schließlich: Quelle und Ausgangspunkt von schöpferischen Handlungen wird bei mir doch immer die eigene Ge­ mütsverfassung sein. Und so weiter und so fort. – Das habe ich ihm alles gesagt, aber mehr noch habe ich es mir selbst gesagt, als müsste ich ein Plädoyer vor mir selbst halten, um mich davon zu überzeugen, dass es gut ist, so zu leben, wie ich es für richtig halte, und mir Rechenschaft abzu­ legen über jeden Schritt und mich auf mich selbst zu besinnen, mich im­ mer wieder aufs Neue auf mich selbst zu besinnen. Und vielleicht rührten die Unsicherheit und der Drang gestern Abend, vor mir selbst wegzu­ laufen, doch daher. Aber das ist doch nicht möglich? Denn jetzt bin ich schon wieder zu mir zurückgekehrt und alle Gewissheiten sind wieder da und ich habe bereits viele Kartoffeln in der Sonne geschält und inzwi­ schen gemerkt, dass es einen eigenen Ton in mir gibt und dass sich eine Melodie entwickelt, der ich eine Chance und genügend Raum bieten und der ich treu sein muss.

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Montagmorgen [8. Juni 1942]. Wie ein Niagarafall goss er am Samstagabend das Wasser seiner Beredsam­ keit über uns aus. Es wäre fast eine Naturkatastrophe geworden. Der Pro­ zess dieses Abends – um dies zu einem guten Abschluss zu bringen – war wirklich eine titanische Arbeit, ein Kampf mit dem Material, das diesmal wirklich sehr widerspenstig war. Dass in einem kleinen Raum in wenigen Stunden so viel passieren kann! Ich muss doch noch eines Tages, wenn ich Zeit habe, versuchen, etwas davon aufzuschreiben. Folgendes in Bezug auf Pieter? Und auf den Weg, den er noch zu gehen hat? «Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung Bis-am-Ende-gegangen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann. Je weiter man geht, desto eigener, desto persönlicher, desto ein­ ziger wird ja ein Erlebnis, und das Kunstding endlich ist die notwendige, unun­ terdrückbare, möglichst endgültige Aussprache dieser Einzigkeit … Darin liegt die ungeheure Hilfe des Kunstdings für das Leben dessen, der es machen muß: daß es seine Zusammenfassung ist.»

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Später am Tag, aus Stanley Jones:5 «Zunächst müssen wir feststellen, dass es eine Form der Wut gibt, die bio­ logische Bedeutung hat. Wut ist häufig ein Schutz vor dem Bösen. Die Seele rebelliert und widersteht dem Bösen mit tiefer Empörung. Nietzsche hatte wahrscheinlich Recht, als er sagte: ‹Ihre Tugend hat wenig zu be­ deuten, wenn sie sich nicht zu Wut hochpeitschen lässt.› Wenn wir nicht mehr in der Lage wären, wütend zu sein, würden wir zu ‹moralischen ­Kühen in unserer plumpen Behaglichkeit›. Jesus konnte voller Wut sein. ‹Er blickte wütend um sich herum und war betrübt über die Verhärtung ihrer Herzen.› Aber wohlgemerkt: Es war Wut, die mit Kummer vermischt war. Er war ‹betrübt›. Das ist der Unterschied zwischen legitimer und ­illegitimer Wut. Wenn die Grundlage unserer Wut moralische Verletztheit oder moralischer Kummer und nicht persönliches Ressentiment ist, dann ist diese Wut gut und wertvoll und gesund.» Usw.6 Soeben zu S. in einem Gespräch: «Wäre ich nicht so präzise und intellek­ tuell nicht so gewissenhaft, dann wäre ich mit meiner Überempfindlich­ keit zu einer ‹weinerlichen Theosophin› geworden. Denken Sie nicht?» Brül­ lend vor Lachen: «Das hätten Sie doch nie werden können, es ist doch eben die Mischung bei Ihnen.»

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abends. Und so leihe ich mir weiterhin immer wieder Worte anderer aus, um meine eigenen Gedanken, für die ich noch keine eigenen Worte habe, auszudrücken. Aus einem Brief von Rilke: «Aber das Schönste ist ein Beet La France (nämlich Rosen), dessen Boden manchmal mit abgefallenen Blättern bedeckt ist; so ein Beet möcht ich mal haben, wenn ich alt bin, und davor sitzen und es machen, aus Worten, in denen alles ist, was ich dann weiß.»

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(Wegen der hervorgehobenen Worte habe ich es aufgeschrieben.) Folgendes wollte ich vor Tagen anlässlich dieser kurzen, nicht nennens­ werten Depression schreiben, wozu ich nicht kam, wie ich überhaupt zu nichts von alledem komme, was ich gerne schreiben würde: Ich glaube, dass dies ein Anfang ist und dass ich mich allmählich die­ sem Anfang nähere: mich selbst ernst zu nehmen. An sich selbst glauben und daran glauben, dass es sinnvoll ist, die eigene Form zu finden. Man läuft so oft vor sich selbst weg – man sieht und hört dies andauernd um sich herum –, unter dem Motto: «Das ist ja nicht wichtig» oder «Es ereig­ nen sich so viele wichtige Dinge auf dieser Welt, dann kann ich doch nicht so viel Aufhebens von mir machen». Und so bleibt bei den Menschen so schrecklich vieles als unverarbeiteter Rohstoff liegen, weil sie glauben, dass ihr Rohstoff es nicht wert ist, bearbeitet zu werden. Und sie lassen sich dann durch die Mannigfaltigkeit und Vielfalt und durch die in ihren ­Augen größere Kostbarkeit und Bedeutsamkeit der Talente und Möglich­ keiten anderer verwirren. Ach, weißt du was? Lies einfach Rilke weiter, du bist doch zu faul, es selbst zu formulieren, vorläufig noch. Aber dennoch: Ich bin noch in den Lehrjahren und es gibt wieder Tage, an denen das Bedürfnis, etwas in mir aufzunehmen und zu sammeln, viel stärker ist als das Verlangen, etwas von mir zu geben. Und für jeden Tag gilt noch immer, was ich ihm seinerzeit geschrieben habe: «Formend trittst Du an mich heran.» O ja, aber das wollte ich sagen: Das hier ist der Anfang, der allererste Anfang: Sich selbst ernst nehmen und davon überzeugt sein, dass es sinnvoll ist, die eigene Form zu finden. Und Folgendes ist auch etwas, was man für andere tun kann: sie ständig zu sich selbst zurücktreiben, sie auf­fangen und von der Flucht vor sich selbst abhalten und sie dann an die Hand nehmen und sie zu den eigenen Quellen zurückbegleiten.

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Zuerst saßen wir gestern Abend einfach ganz normal im Wohnzimmer. Und dann kam Glassner und erbaute mit ein paar Klängen von Bach eine Kathedrale um uns herum, er errichtete ein Gewölbe um uns herum, und später umgab uns mit dem «Carnaval» von Schumann wieder ein anderer Raum. Und noch vieles mehr, und so weiter, und jetzt gute Nacht. 9. Juni [1942], Dienstagabend, halb 11. Heute Morgen beim Frühstück mehr oder weniger ausführliche Nachrich­ ten über die Lage im Judenviertel.8 8 Menschen in einem kleinen Raum mit allen entsprechenden «Annehmlichkeiten». Und so weiter. Es ist alles noch kaum zu überblicken und unbegreiflich und es ist kaum vorstellbar, dass sich das alles nur ein paar Straßen weiter ereignet und dass dies alles unser eigenes zukünftiges Schicksal ist. Und heute Abend auf dem kurzen Spaziergang von seinen vegetarischen Schweizern zu seinen immer wilder wachsenden Geranien fragte ich ihn plötzlich: «Sag mir doch mal, wie soll ich mit den Schuldgefühlen umgehen, die mich plötzlich plagen, wenn ich höre, dass Menschen zu acht auf engstem Raum leben müssen, wäh­ rend ich dieses eine große sonnige Zimmer für mich allein habe?» Er blickte mich von der Seite an, sicherlich ein wenig mephistophelisch, und sagte: «Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder du musst dieses Zimmer verlassen (und er sah mich so ironisch-prüfend und zugleich gutmütig von der Seite an mit einem Ausdruck, der besagte: Ich sehe dich schon gehen), oder du musst herausfinden, was im Grunde hinter diesen Schuldgefühlen steckt. Vielleicht ist es das Gefühl, dass du der Meinung bist, du arbeitest nicht hart genug?» Und da wurde mir plötzlich alles klar und ich sagte: «Ja, siehst du, in meiner Arbeit verweile ich immer in den höchsten Sphä­ ren des Geistes, und wenn ich von solchen Missständen höre, frage ich mich wahrscheinlich unbewusst und jetzt übrigens sehr bewusst: Könnte ich diese Art des Arbeitens mit derselben Überzeugung und Hingabe fort­ setzen, wenn ich mit acht hungrigen Menschen zusammen in einem schmutzigen Zimmer leben würde?» Denn diese geistige Arbeit, dieses in­ tensive Innenleben hat meiner Meinung nach nur dann einen Wert, wenn es unter allen äußeren Umständen fortgeführt werden kann; und auch wenn man es schon nicht praktisch und nicht in Taten umsetzen kann, dann doch zumindest innerlich in der Vorstellung. Sonst ist alles, was ich jetzt tue, nur «Schöngeisterei». Und vielleicht wirkt die Angst, ob ich unter solchen Umständen immer noch dieselbe wäre, dann genauso lähmend

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(in der Vergangenheit konnte mich so etwas wochenlang in meiner Arbeit lähmen, aber damals glaubte ich wahrscheinlich noch nicht an die Not­ wendigkeit dieser Arbeit). Die Unsicherheit, ob ich diese Prüfung bestehe. Die Tragfähigkeit meiner Existenz werde ich noch beweisen müssen, ich werde doch immer so leben müssen, wie ich es jetzt tue, ich bin nicht ­dafür geschaffen, Sozialarbeiterin oder politische Revolutionärin zu sein, das kann ich mir ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen, auch wenn meine Schuldgefühle mich vielleicht dazu bringen könnten, diesen Weg trotzdem einzuschlagen. – Nun ja, und so weiter. Natürlich habe ich ihm das nicht alles während dieses kurzen Spazier­ gangs gesagt. Ich sagte nur: «Vielleicht ist es die Angst davor, dass ich die Prüfung nicht bestehen werde.» Und er, sehr ernst und ganz «gefaßt»: «Diese Prüfung wird für uns alle noch kommen.» Und daraufhin kaufte er 5 kleine rote Rosenknospen, drückte sie mir in die Hand und sagte: «Sie erwarten nie etwas von der Außenwelt, gelt, und darum empfangen Sie immer etwas.»

Die Relativierung des eigenen Leidens reduziert noch nicht die Intensität dieses Leidens oder sollte es zumindest nicht tun. Etwas zu relativieren, weil man es dadurch kleiner machen möchte, ist nicht fair, es tut dem Leben Unrecht, es unterschlägt etwas von dem, was das Leben uns auf­ erlegt. Relativieren ist etwas anderes. Und Hanneke, die sich heute Nachmittag in seinen Armen ausgeweint hat, weil sie sich so leer gefühlt hat. Und Liesl, die hier am Sonntagabend Beethoven gehört hat. Der tem­ peramentvolle Kunstkenner Houthakker9 ließ sie nicht aus den Augen und sagte später zu mir: «Wie interessant diese Frau aussieht, sie hat ein mittelalterliches Gesicht.» Und Liesl, die beim Beethoven-Hören von einer Depression überwäl­ tigt wurde, dachte mit «Grauen» daran, wie ihr Mann und das gemeinsame Bett zu Hause auf sie warteten und dass sie ihrem Mann Rede und Ant­ wort stehen müsste usw. Die Menschen sind hinter den Kulissen ganz anders als davor. Mittwochmorgen [10. Juni 1942], halb 8. Er ist so berauschend und schwungvoll, mein Augustinus-auf-nüchter­ nen-Magen.

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Eine Erkältung bringt mich nicht mehr vollkommen aus dem Gleich­ gewicht, aber schön ist es trotzdem nicht. Guten Morgen, mein unordentlicher Schreibtisch. Der Staublappen schlängelt sich in lässigen Kurven um meine 5 blutjungen Rosenknospen und Rilkes «Über Gott»10 liegt halb zerquetscht unter dem «Russisch für 11 12 Kaufleute». Der Anarchist Kropotkin liegt zerfleddert in einer Ecke, er hat hier nicht mehr viel zu suchen. Ich habe ihn aus dem staubigen Bücher­ regal in meinem Zimmer geholt, um nochmals seine erste Reaktion auf die Gefängniszelle zu lesen, in der ihm etliche Jahre bevorstanden. Die Beschreibung der ersten Begegnung mit seiner Zelle kann man – übersetzt und übertragen auf eine innere Ebene – als Gleichnis dafür verwenden, wie wir auf die Verordnungen reagieren sollten, die unsere Bewegungs­ freiheit zunehmend einschränken. Man sollte von dem Raum ausgehen, der einem überlassen wird, auch wenn er noch so klein ist, und direkt seine Möglichkeiten überblicken und diese in eine bescheidene Realität umsetzen. Ich sagte zu mir: «Am meisten muss ich darauf achten, bei guter Ge­ sundheit zu bleiben, ich will hier nicht krank werden.» Ich muss mir nur vorstellen, ich wäre auf einer Arktisexpedition gezwungen, einige Jahre im hohen Norden zu verbringen. Ich würde mich so viel wie möglich körper­ lich betätigen, Gymnastikübungen machen und mich nicht von meiner Umgebung unterkriegen lassen. Zehn Schritte von einem Ende meiner Zelle zum anderen ist schon etwas; wenn ich das 150 Mal wiederhole, ist das bereits eine russische Werst. Ich nahm mir vor, täglich sieben Werst zu gehen, ungefähr 5 Meilen: 2 Werst am Morgen, 2 vor dem Mittagessen, 2 danach und eine vor dem Schlafengehen.13 – Usw. Diese eine Stunde vor dem Frühstück ist wie ein Vorderperron,14 wie eine Plattform meines Tages. Es ist so still um mich herum, obwohl die Nach­ barn das Radio anhaben und Han hinter mir liegt und schnarcht, wenn­ gleich pianissimo. Um mich herum ist noch so gar kein Gehetze. Anlässlich der Briefe von Mlle de Lespinasse15 muss ich auf einmal an die­ sen Satz von Rilke denken und ihn nachschlagen: «Es ist ganz 18. Jahrhundert mit all dem Vergnügen am Unglücklichsein, ohne die rechte Lust dazu.»

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Ich habe dies S. anlässlich seiner Charakterisierung von Hesje ange­ führt, bezüglich ihres Bedürfnisses nach Sensationen und bezüglich der

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Tatsache, dass ein Moment des Leidens wieder eine neue aufsehenerre­ gende Abwechslung war. Er sagte: In meiner Terminologie würde ich es anstelle von «die rechte Lust dazu» «die rechte Bereitschaft dazu» nennen. Ja, und so kann man am frühen Morgen auf alle möglichen Dinge kommen. Später am Tag; aus einem R.-Brief: «… vor ein paar Tagen kamen mir Übersetzungen wunderschöner chinesischer 17

Gedichte in die Hand, Li tai pes und anderer. Was für Dichter das doch waren. Sie winken, und es kommt und geht; man fühlt es nach einem Jahrtausend durch die späte, fremde Sprache hindurch: wie es leicht war, kam und ging, was sie heraufriefen; und wie alle Schwere ins Gewichtlose kam, um dort zu dauern …»

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Das ist mir auf gewisse Weise vertraut, es berührt mich sehr stark und könnte zu einem Motto werden für das, was ich später, viel später verwirk­ lichen möchte  – «und wie alle Schwere ins Gewichtslose kam, um dort zu dauern». Manchmal, wenn ich mit dem Fahrrad so durch die Straßen fahre, ganz langsam und wahnsinnig in etwas vertieft, was in mir vor sich geht, spüre ich das Potenzial einer Ausdruckskraft in mir, so zwingend und so gewiss, dass ich eigentlich überrascht bin, dass jeder Satz, den ich schreibe, so unbeholfen und schwach auf den Beinen steht. In mir bewegen sich die Worte und Sätze manchmal in einem so sicheren und überzeugenden Gang, dass es den Anschein hat, als könnten sie so aus mir herausspazieren und ihren Gang genauso sicher auf einem beliebigen Stück Papier fort­ setzen. Aber das scheint noch lange nicht der Fall zu sein. Ich frage mich manchmal einfach, ob ich meiner Fantasie nicht zu viel Spielraum in mir lasse und ihr zu wenig von außen entgegentrete und sie in Formen presse. Aber es ist keineswegs eine verwilderte, ausschweifende Fantasie. Es gibt in der Tat Dinge, die in mir Gestalt annehmen, eine immer klarer umrissene, konzentriertere und fassbarere Gestalt – und doch begreife ich noch nicht, wie das geschieht. Manchmal kommt es mir vor, als wäre in mir eine große Werkstatt, in der hart gearbeitet wird, gehämmert und weiß Gott was. Und manchmal kommt es mir vor, als wäre ich innerlich aus Granit, ein Felsblock, und starke Wasserströme donnern unaufhörlich gegen diesen Felsen und höhlen ihn aus. Eine Granithöhle, die immer stärker ausge­ höhlt wird und in die Konturen gemeißelt und geformt werden. Und viel­

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leicht werden die Formen eines schönen Tages mit klar umrissenen Kon­ turen in mir bereitliegen und ich muss einfach nur nachzeichnen, was ich in mir vorfinde? Stelle ich mir das nicht allzu einfach vor? Vertraue ich nicht zu sehr auf eine Arbeit, die für mich erledigt wird? Und ich möchte all meine Ernsthaftigkeit und Aufmerksamkeit darauf richten, und diese sind bei der «Arbeit» in meinem Namen anwesend, sie sind dort als ­Gesandte in meiner Werkstatt, aber sie sind einfach nur anwesend, es geht von ihnen keinerlei aktive Hilfe aus. Ich empfand es eigentlich als etwas unter meiner Würde, diesen Brief an Stella, der ja wahrlich kein beeindruckendes Literaturdenkmal ist, abzutip­ pen und aufzubewahren. Aber für mich war dieser Brief eine Großtat. Frü­ her umging ich die Beantwortung von Briefen stets auf hinterlistige Weise, ich wartete immer, bis sich eine Gelegenheit für eine mündliche Antwort bot. Und dahinter steckt so viel Nachlässigkeit und Feigheit, vielleicht auch die Angst, der Brief würde nicht «schön» werden. Dahinter steckt, dass man irgendwie nichts von sich preisgeben möchte. Doch es gehört zur Kultur, zur Bildung oder wie immer man es nennen will, dass man Worte, die an einen gerichtet sind, nicht im Wind verwehen lässt. Wo es Sinn macht und notwendig erscheint, muss man auf die geringste Aufforderung antworten. Fragen, die einem gestellt werden, sollte man so gut wie mög­ lich beantworten, und zwar mit derjenigen Antwort, die zufällig reif in ­einem ist. Ich denke, dass viele unbeantwortete und hilflose Fragen durch die Lüfte – zwischen den Menschen hin und her – schweben, und wenn jeder auf seine Weise und mit seinen Fähigkeiten versuchen würde, diejeni­ gen Fragen von ihrer Suche und Hilflosigkeit zu erlösen, auf die er eine Antwort, für die er ein Obdach hat, dann gäbe es nicht so fürchterlich viele obdachlose Fragen. Und dieser Obdachlosigkeit ist keine Sozialgesetz­ gebung gewachsen. Und dieser Brief war wirklich eine Großtat für mich. Er belastete tage­ lang schwer mein Gewissen, und als ich ihn endlich mit Geduld und nicht allzu geschwollen, wie ich das früher tat, beantwortet hatte, erfüllte mich das mit Zufriedenheit. Der Anfang des Briefes ist charakteristisch, er be­ ginnt mit einem Hinweis auf meinen Gesundheitszustand, was natürlich Unsinn ist. Früher habe ich alles mit meiner Gesundheit entschuldigt, so wie es meine Mutter auch heute noch macht; aber man muss sich in allem selbst erziehen. Wenn diese Erkenntnisse, die ich mir an meinem Schreibtisch im Um­

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gang mit den vortrefflichsten Geistern aneigne, nicht die kleinsten Dinge des Alltags durchdringen, wenn nicht zumindest etwas von dem großarti­ gen Bewusstsein für menschliche Werte noch den entferntesten Atemzug durchdringt, dann hat dieses «geistige Leben», das Leben im Geiste, oder wie auch immer ich das in einem aufgeklärteren Moment einmal nennen werde, keinen Sinn. Zumindest empfinde ich das so. Und man muss dafür kein schwadronierender oder weltfremder Idealist sein. Und auch darüber möchte ich später einmal schreiben, in unaufdring­ lichen, leichtfüßigen Worten. Aber wie? Das weiß ich noch gar nicht. abends, beim Lesen eines wirklich guten Romans – und doch ist alles ganz anders als in den Büchern, viel mühsamer. Ich muss später einmal alles, was ich über das Leben und die Menschen weiß, auf meine eigene Weise verarbeiten. Und bei jeder Bewe­ gung drängt sich mir in letzter Zeit ein Satz von Rilke auf, der dazu passt. Und jetzt habe ich dies in einem Brief gefunden: «Immer mehr (und zu meinem Glück) lebe ich das Dasein des Kernes in der Frucht, der alles, was er hat, um sich herum anordnet und aus sich heraus in der Dunkelheit seines Arbeitens. Und immer mehr sehe ich, es ist mein einzi­ ger Ausweg so zu leben; anders kann ich das Sauere um mich herum nicht in die Süßigkeit verwandeln, die ich dem lieben Gott von ewig her schuldig bin.»

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Es ist alles viel mühsamer, sagte ich, und ich möchte alles wieder leicht machen, ohne dass es zu einer Lüge wird. [Donnerstag] 11. Juni [1942], 9 Uhr morgens. Nicht nur wegen der eigenen Unruhe muss man ab und zu die Zügel straff anziehen, damit sie sich nicht wie ein durchgegangenes Pferd aufbäumt und zerstörend durch das ganze Wesen galoppiert, sondern auch die ­eigene Traurigkeit muss man zügeln, sonst kann sie jeden Moment wie eine stei­ gende Flut anwachsen und schließlich die mühsam bewirtschafteten Fel­ der überschwemmen. Man muss danach streben, nicht mehr so «ich-haft» zu sein, dass man jede Stimmung vollständig in sich auslebt. Man braucht seine Unruhe und Traurigkeit nicht zu verstecken, man muss sie tragen und ertragen, aber man darf sich ihr nicht so vollständig hingeben, als gäbe es nichts anderes mehr in der Welt. Man darf seine besten Kräfte nicht mehr der Traurigkeit überlassen, man muss sie vielmehr für die ­Gemeinschaft, um einmal ein so großes Wort zu verwenden, aufheben –

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zumindest auf Dauer muss man das schaffen. Und unter «Gemeinschaft» verstehe ich einen Schüler, der Russisch bei mir lernen will, einen Mit­ menschen, der mit Schwierigkeiten zu mir kommt, ein Gedicht, dessen Verständnis meine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Früher dachte ich, es sei mein gutes Recht, mich jeder Traurigkeit voll­ kommen hinzugeben, alles musste ihr weichen und nichts war mehr wich­ tig im Vergleich zu dieser immensen Schwermut, die dann mein ganzes Wesen ergriff. Jetzt ist das nicht mehr so, auch wenn es manchmal hart an der Grenze ist. An so einem Tag wie heute, an dem ich mich körperlich wirklich hundsmiserabel fühle, zudem eine Beklommenheit mich mehr und mehr bedrückt und eine Traurigkeit immer stärker in mir hochsteigt, neige ich schon dazu, mir viel zu verzeihen und meine Arbeit etwas nach­ lässig zu erledigen. Im Augenblick erschließt sich mir nicht mehr, woher ich die Energie nehmen soll, um 2 Stunden zu unterrichten, und dann heute Abend noch zur Premiere von Vetermans Stück.20 Und vielleicht bemitleide ich mich ja sogar, weil ich so ein «überladenes» Programm habe. Man stelle sich vor, jawohl: 2 Schüler und ein Theaterabend. Und dazwischen alle Zeit der Welt für mich. Es darf nicht sein, dass die Traurigkeit so viel Macht über einen hat. Zumindest jetzt nicht mehr, wenn man älter wird, nicht mehr. Man hat das alles gekannt und erlebt, aber es darf nicht immer so weitergehen, weil es auf Dauer doch «ich-haft» ist und die besten Kräfte verloren gehen. «Man läßt doch das eine wie das andere immer wieder fallen: diese Frohheit, jenes Traurigsein. Man hat beides noch nicht. Und was ist man, solang man aufsteht, und ein Wind draußen, ein Glanz, ein Stück aus Vogelstimmen in der Luft, kann einen nehmen und mit einem tun, was es will? Es ist gut, das alles zu hören und zu sehen und zu nehmen, nicht abzustumpfen dagegen, im Ge­ genteil: es immer tausendfältiger in all seiner Abwandlung zu fühlen, ohne doch daran sich zu verlieren.»

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Wenn man sich jeder Traurigkeit so vollkommen hingibt, will man sich noch zu sehr selbst spüren, sich noch zu stark selbst erleben, und darum geht es auf Dauer ja nicht. Ich werde jetzt mal meinen Text mit dem Titel «Nachtseite» abtippen. Ein so sanftmütiges Wesen, wie ich es bin, geht nachts umher und sticht Män­ nern mit wilden Bärten mit einem einzigen Dolchstoß mitten ins Gesicht.

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Ich erzählte ihm schon am frühen Morgen in einem Telefongespräch von diesem blutigen nächtlichen Mord, und er sagte: «Hör bitte auf, gleich hetzt dir noch jemand die Polizei auf den Hals.» Gestern habe ich mit einer Frau gesprochen, die Rilke mehrmals im Sanatorium Valmont getroffen hat. Und die folgenden Worte aus ihrer Charakterisierung sind mir am stärksten in Erinnerung geblieben: «Ein trübsinniger Mann, aber sehr freundlich.» Und so sollte es doch auch sein? Dass man sich wegen des eigenen Trübsinns, der Traurigkeit oder was auch immer nicht durch Unfreund­ lichkeit an anderen rächt? Wenn wir leiden, müssen wir doch andere nicht mit uns mitleiden lassen? Wenn doch nur in diesem Punkt einmal die ­Erziehung der Menschheit in Angriff genommen würde! Es ist ein Be­ wusstwerdungsprozess, den jeder Mensch allein durchlaufen muss. Aber diejenigen, die mit diesem Prozess bereits begonnen haben, müssen den anderen, den noch «Ungeborenen», den ersten Anstoß geben. Und das wird auf Dauer meine Art der «Sozialarbeit» sein, denn für alle anderen Arten bin ich ungeeignet. Und ich bin in den Lehrjahren, in den unbeschreiblich reichen Lehr­ jahren bei dem Mann, den ich – doch eigentlich nicht – heiraten möchte. Und doch lerne ich es und werde allmählich wirklich sehr erwachsen. Ges­ tern Abend nach 21 Uhr fuhr ich noch kurz zu ihm, obwohl ich nicht wirklich Lust dazu hatte. Mein Kopf war dumpf und leer und auf seine typische Bemerkung: «Ja, was wollen Sie hier denn eigentlich, Fräulein Hille­ sum?» (wie lustig, das bin ich!), erwiderte ich: «Ich bin blöd und langweilig heute abend und gehe wieder nach Hause.» Und er erzählte mir verschie­ dene Dinge von diesem Tag, ließ mich einige Patientennotizen lesen und ich schlief fast an seiner Jackentasche ein. Irgendwann sagte er ironisch: «Sie sind wohl richtig hysterisch heute, ja?» Und ich tat mein Bestes, mich mit der erforderlichen Empörung zu erkundigen: «Was verstehen Sie ­eigentlich unter hysterisch?» Er machte eine vage Geste und sagte: «So lau­ nisch und so unbestimmt. Sie können vielleicht am besten wieder nach Hause gehen.» Und ich saß ihm dort sehr ruhig und gefasst gegenüber, ganz nah bei ihm und ich wusste: In der Vergangenheit wäre eine solche Stunde für mich das Unerträglichste, Unüberwindbarste gewesen, was es nur gab. Ich war dann wirklich hysterisch und verzweifelt. Und hätte mich von ihm verraten und versetzt gefühlt, weil er mich in meiner Leere und Traurig­ keit nicht trösten konnte. Und jetzt saß ich ganz ruhig und gelassen da

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und dachte: «Du solltest nicht so ehrgeizig sein und denken, du müsstest einen Mann jede Minute seines Lebens inspirieren. Du musst selbst ak­ zeptieren, dass du dich leer fühlst und müde bist und am liebsten einfach wieder gehen möchtest. Das kommt in den besten Beziehungen vor.» Frü­ her wollte ich so eine Leere bei mir nicht «wahr haben» und unternahm dann an allen Fronten, vom Geistigen bis hin zum Erotischen und Sexuel­ len, forcierte Versuche, mit Gewalt einen Kontakt herzustellen. Und wenn das nicht klappte, feierte ich später ganz allein Orgien der Vereinsamung. Und jetzt saß ich so ruhig und gelassen und natürlich auch mehr oder weniger traurig da und dachte: «Ja, daran kann doch der gute Mensch auch nichts ändern.» In der Vergangenheit verlangte ich von ihm und auch von anderen Freunden Wunder des Trostes. Und jetzt ertrug ich meine eigene Leere, Müdigkeit und Unruhe und wusste: Das gehört auch dazu, verzweifle jetzt nicht. Und ich verbarg meinen Kopf zwischen all dem Hellgrau seines Anzuges, und als ich später zufällig aufblickte, sah ich Bewegtheit und Rührung über sein Gesicht huschen, als ob ein viel zu starkes Gefühl kurz aus ihm herausgebrochen wäre und dort einen kurzen Abendspaziergang entlang seiner gefühlsgeladenen Gesichtszüge gemacht hätte. Was es war, weiß ich nicht, und ob er sich dessen bewusst war, dass sein Gesicht auf einmal so eine starke Ergriffenheit widerspiegelte, weiß ich auch nicht, aber ich las diese Rührung in seinem Gesicht und nahm sie in Besitz, als ob sie für mich bestimmt gewesen wäre. Und das war gut so. Manchmal genügt einem ein Gesichtsausdruck, das kann manchmal aus­ reichend Nahrung für mehrere Tage sein, man braucht nicht immer unge­ stüme und leidenschaftliche Gesten, die einen davon überzeugen müssen, dass man wirklich begehrt wird. Und wo es wieder nur um die Wahrneh­ mung des eigenen Ich geht. Während ich jetzt schreibe, geht es mir schon wieder besser. Nach diesen äußerst heißen Tagen ist plötzlich die Kälte zurückgekehrt und der Körper hat Mühe, sich wieder anzupassen. Viel­ leicht ist das auch der Grund, weshalb ich mich mehr als unwohl und fast krank fühle. Aber man darf doch nicht so abhängig von atmosphärischen Einflüssen sein. Und gerade an solchen Tagen, an denen man vor lauter Müdigkeit und Unlust in alle Richtungen auseinanderfällt, muss man disziplinierter und pflichtbewusster leben als je zuvor. So, ich habe gerade mit einer entschlossenen Geste meinen terrakotta­ farbenen Winterpullover aus dem Schrank geholt und darüber meine dunkelblaue Wolljacke angezogen, dabei haben wir schon seit einer Weile

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Juni. Ich werde heute bis 6 Uhr fasten, um diesen Magen wieder ein wenig in den Griff zu bekommen, und dann kann ich in der Mittagszeit ein ­wenig schlafen, das spart wiederum Zeit, und ich möchte mich auch wie­ der auf meine zwei Schüler, auf diese alberne Premiere mit Liesl – wenn ich nur diesen Pullover anbehalten darf  – freuen. Und den Roman von Grete von Urbanitzky,22 «Eine Frau erlebt die Welt», mit dem ich den Vor­ mittag überstehen wollte, werde ich mir für einen wohlverdienteren Mo­ ment aufsparen und stattdessen einmal mit dem «Russisch für Kaufleute» anfangen, nachdem ich meinen Traum von heute Nacht abgetippt habe. Noch eine Kleinigkeit von gestern Abend. Als ich so ein bisschen vage quengelte, ich sei «gestorben» und ginge jetzt wieder nach Hause, fragte er inquisitorisch: «Ja, wie fühlen Sie sich denn, beschreiben Sie mir das doch mal genau.»

Und ich antwortete sphinxhaft, mit vielen undefinierbaren Gesten und undurchdringlichem Gesichtsausdruck: «Ich weiß es eigentlich nicht.» Und dann sagte er: «Ja, sehen Sie, das ist es, was Sie für andere so interes­ sant macht, daß Sie nie etwas sagen, aber ich  – ich finde es totlangweilig.»

Und da brach ich plötzlich in ein befreiendes Gelächter aus, so unbefan­ gen, aufrichtig und furchtbar richtig klang seine Bemerkung. Und er fragte belustigt: «Habe ich Recht oder nicht?» Und auch wenn ich es gestern Abend noch nicht gedacht habe, so denke ich doch jetzt, dass ich mich in der Vergangenheit aufgrund einer solchen direkten, fast groben Äußerung von ihm vielleicht verletzt und unsicher gefühlt hätte und dass mein Selbstvertrauen dann wohl offensichtlich zugenommen hat, wenn ich eine solche Äußerung nur noch als etwas sehr Erfrischendes und Aufschluss­ reiches empfinde. Je stärker man versucht, nur das eigene kleine «Ich» in den eigenen Stim­ mungen zu erleben und nicht das Kosmische, desto mehr verschließt man sich allen Eindrücken, die auf einen Menschen einwirken, und desto mehr verarmt man auf Dauer. Am späten Abend. Eine Komödie und ein Publikum mit dürftigem Wortschatz: reizend, ent­ zückend, zauberhaft und noch einmal reizend. Die Tränen liefen mir in Strömen über die Wangen und ich werde wieder einmal am lautesten ­gelacht haben im ganzen Saal, aber ich weiß auch nichts anderes zu sagen als: reizend. Und die Tatsache, dass ich nur ein paar Worte zur Verfügung

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habe, sogar überhaupt immer nur ein paar Worte, macht mich traurig. Früher blieb ich immer so bleischwer sitzen, wenn nach einer Komödie der Vorhang zum letzten Mal fiel. Jetzt schon etwas weniger schwer. Aber ich verspürte doch das Bedürfnis, vor diesen verwechselten und lautstarken Ehepaaren schnell zum strengen heiligen Augustinus wegzulaufen. Gerade so, als ob ich bei ihm Zuflucht vor allen Komödien der Welt suchen müsste. Der Mensch ist schon etwas Seltsames. Alles in allem bin ich mit diesem Tag sehr zufrieden. Am frühen Morgen ließ ich ihn fast aus Un­ achtsamkeit und Unlust aus den Händen gleiten, ich dachte, ich hätte viel zu wenig Kraft, um ihn bis an sein Ende zu schleppen. Aber als ich dann erst einmal an meinem Schreibtisch saß und anfing, mir alle möglichen Fragen zu stellen, stellte sich doch rasch heraus, dass das körperliche Unbe­ hagen nicht der entscheidende Faktor war. Vielmehr befindet sich überall allerhand psychologischer Staub, Staubkörner, die das Getriebe unge­ schmeidig machen. Dagegen kann man ziemlich viel tun. Und die Kraft wächst, wenn man sie nutzt und darauf vertraut, dass sie vorhanden ist. Es ist so kalt und mein Kopf ist so schwer und hoffentlich ist er jetzt nicht nur mit Watte gefüllt? Entwickelt sich zwischen Liesl und mir etwas? In den letzten Tagen glaube ich manchmal, ich werde einmal mit einer unkontrol­ lierten, leidenschaftlichen Geste, die ich von mir selbst gegenüber einer Frau noch nicht kenne, die aber doch in mir steckt, ihren schmalen Körper an mich ziehen. Und was ich dann damit machen werde, weiß ich nicht. In letzter Zeit scheint es, als würde diese Geste in mir wachsen. «Das zwischen euch ist noch eine sehr merkwürdige Sache», sagte S. ges­ tern Abend und schaute von einer zur anderen, aber wir taten beide so, als hätten wir nichts gehört, Liesl und ich. Ich hatte es schon gehört, aber ich blickte starr geradeaus. Drang es eigentlich zu ihr durch, was er gesagt hatte? Vor ein paar Nächten extrem erotisch und auch sexuell von ihr ge­ träumt, wurde von einem Orgasmus aufgeweckt. Will ich das wirklich oder nicht? Ich habe keine Theorien darüber, und was zählt, ist, dass ich sie wirklich sehr liebe. Und das Erotische ist nicht das Wesentliche an unserer Beziehung, aber manchmal ist es plötzlich da, aber es ist für mich nicht problematisch. Diese unverhofften Augenblicke der Verliebtheit sind ein kleines zusätzliches Geschenk des Lebens, sie haben eigentlich eher poe­ tischen Charakter und gehen niemanden etwas an. Der Reiz, den sie auf mich ausübt, ist ein zusätzliches Geschenk, muss aber nicht in die Realität umgesetzt werden, auch wenn meine Hände manchmal gerne nach ihr greifen würden. Gute Nacht!

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Freitagmorgen [12. Juni 1942], 8 Uhr. Traurig, niedergeschlagen, bedrückt, unsicher; ein Haufen Sand, in den der Erstbeste nur seinen Fuß zu setzen braucht, um ihn in alle Richtungen auseinanderstieben zu lassen. S. ist in meinen Gefühlen seit einigen Tagen so weit weg, als wäre in mir etwas abgestorben. Und liegt das alles nur an der Erkältung? Ich muss noch viel lernen. Zum Beispiel, dass es nicht not­ wendig ist, ständig lichterloh zu brennen. Vielleicht ist sogar das ein «Sen­ sationsbedürfnis». Lass ihn und auch dich und eure Beziehung einfach mal in Ruhe. Lass einfach mal alles ein wenig ruhen und lass alles los, und du darfst dich ruhig für eine Weile leer fühlen, diese Leere wird nur dann auf­ gebauscht, wenn du anfängst, über alle möglichen katastrophalen Dinge nachzudenken. Es muss in einer Beziehung Platz sein für alles, auch für Leere, so paradox das auch klingen mag. Du solltest es nur nicht drama­ tisch nehmen oder ungeduldig sein. Nach dem Frühstück mit wieder einmal einem neuen Tee-Ersatz. Eine kleine Leere in einem sollte man nicht zu einer Wüste der Leerheit aufblähen. Ich glaube, dass es nach diesem kurzen Telefonat auch schon wieder vorüber ist. Übrig bleibt nur noch die Erkältung; es ist, als ob mein Kopf nicht atmen kann, nicht meine Lunge, sondern mein Kopf; alles unter meiner Schädeldecke möchte sich dann so gerne weit ausdehnen, aber das geht nicht, die Schädeldecke ist zu eng und lässt keinen Platz für eine solche sich dehnende Bewegung. Der Monat Juni ist so pflichtverges­ sen wie nur etwas. Es ist, als hätte der Sommer es sich nach einem kurzen überschwänglichen Anfang plötzlich anders überlegt und als wäre er in hohem Tempo zum Herbst zurückgeeilt. Ein Wollpullover und eine Woll­ weste übereinander, mitten im Juni. Gerade eben habe ich Adri als ständige Einwohnerin Amsterdams23 am Telefon begrüßt. Sie sagte u. a.: Ich habe gestern von dieser Freundin von v. Wermeskerken24 von dir gehört; sie ist so begeistert von dir, nicht nur, «weil du so schlau bist, sondern auch, weil du es so gut erklären kannst». Das ist doch ermutigend. Aber eigentlich weiß ich das schon. Und dann: «Ich mache mir nichts daraus.» Aber auch: Ich habe auch keine Minderwertigkeitskomplexe. Was dies betrifft, lebe ich genau in der Mitte, die Waage neigt sich weder in die eine noch in die andere Richtung. Ich finde mich überhaupt nicht so ­besonders schlau oder intelligent, wie die anderen immer behaupten, zu­

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mindest verschwende ich nicht unnötig Zeit, um hin und wieder zu den­ ken: «Ach, wie schlau bin ich doch.» Ich denke eigentlich nie bewusst, dass ich etwas leiste, ich brauche das auch nicht für mein Selbstwertgefühl. Aber zugleich passiert es mir auch nie, dass ich das Gefühl habe: Dafür oder dafür bin ich zu dumm, das kann ich nicht. Was das betrifft, lebe ich mit beiden Füßen auf dem Boden. Solche Gefühle rauben unnötig viel Zeit und Kraft und sind ohnehin nicht notwendig, man muss nur einfach seinen Weg gehen und das ist alles. Es ist fast bestürzend, von Menschen auf Schritt und Tritt zu hören: Ich bin zu dumm dafür, na ja, und so wei­ ter, diese ständige Demonstration irgendeines Minderwertigkeitsgefühls. Als wir neulich zu den Starrevelds gingen, benahm Tide sich plötzlich wie ein Backfisch, es war auch ein wenig gespielt, aber das, was dahinter­ steckte, war echt: «Ich habe einfach Bauchschmerzen, ich fühle mich viel zu dumm für diese Gesellschaft. Es macht mich wirklich ganz nervös.» Und ich wurde aufrichtig fuchsteufelswild und auch verwundert und sagte: «Tide, wie kannst du nur so blöd sein, solche Dinge zu sagen?» Ein ständi­ ges Knabbern der Menschen an ihrem eigenen Selbstwertgefühl. Und auf der anderen Seite: die Überheblichkeit. Beides ist unnötig oder sollte zu­ mindest unnötig sein – auf alle Fälle für diejenige, die ihr Leben ernst nimmt und weiß, dass es kurz ist und dass es viel zu tun gibt. Ich habe noch kein Wort über das Gemüse verloren, ja, das Gemüse. Wim brachte zwei Gurken aus Heemstede25 mit, ein Göttergeschenk. Und Menschen in Warteschlangen, stundenlang. Dann doch lieber die Bohnen aus dem Vorrat. Ich bin nicht gut darin, über solche Dinge zu schreiben, zu wenig Geduld. Und jetzt scheint es so weit zu sein, dass die Juden Ge­ müseläden nicht mehr betreten dürfen; sie müssen die Fahrräder26 abge­ ben; und dürfen nicht mehr in die Straßenbahn;27 und müssen am Abend ab 8 Uhr zu Hause sein.28 Wenn mich diese Maßnahmen deprimieren wie heute Morgen, als sie mich kurz wie eine bleierne Bedrohung zu ersticken trachteten, dann geht es im Grunde doch nicht um die Maßnahmen an sich. Dann ist einfach nur eine große Traurigkeit in mir und die sucht dann nach Stoff um sich herum, an dem sie sich festmachen kann. Und eine unliebsame Unter­ richtsstunde, die ich abhalten sollte, flößt mir dann genauso viel Angst und Beklemmung ein wie die schlimmste Maßnahme unserer Besatzungs­ macht. Es sind nie Dinge der Außenwelt, es ist immer das Gefühl in mir, Niedergeschlagenheit, Unsicherheit oder was auch immer, das den äußeren Dingen ein trauriges oder bedrohliches Antlitz verleiht. Es geht bei mir

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immer von innen nach außen, nie von außen nach innen. Für gewöhnlich zerschellen die bedrohlichsten Verordnungen  – und es gibt ihrer gegen­ wärtig eine Menge – an meiner inneren Sicherheit und meinem Vertrauen; und, in mir verarbeitet, verlieren sie viel von ihrer Bedrohlichkeit. In meinem Notizblock noch eine kurze Passage in Stenografie: ein Aus­ schnitt aus einem Gespräch zwischen S. und Werner, das S. mir später nacherzählte: W: «Es ist doch auch eine effektive Bedürfnisfrage, ein Mann kann doch schließlich nicht immer ohne körperliches Ausleben leben, nicht für immer.» S.: «Es ist aber doch wohl möglich, daß bei Ihnen, – bei denen ein Minder­ wertigkeitsgefühl in dieser Beziehung besteht und andererseits, daraus fol­ gend, ein fortwährendes sich-beweisen-wollen durch die körperliche Betäti­ gung – das ursprünglich wirkliche und natürliche Bedürfnis gar nicht so groß ist, wie die Vorstellung, daß es da sein muß. Und das spielt, im Unbewußten, hin­ ein.»

Und später: «Es wäre doch grotesk und lächerlich und jammervoll, wenn so eine Ehe scheitern würde an dem sexuellen Fragestück.»

Etwas über Pieter: «Er ist schlecht angepaßt, d. h. er stellt sich der Umwelt nicht und deswegen muß er auch ein möglichst negatives Bild der Umwelt vor sich aufrecht erhalten, um seine schlechte Anpassung und sein Ausweichen für die Umwelt, zu motivieren.»

Etwas später an diesem Vormittag. Beim Durchstöbern eines alten Stenogrammblocks stoße ich auf eine ge­ kritzelte Notiz von mir. Ich «trage» sie hier kurz «ein». Ich erinnere mich plötzlich daran, dass ich sie in seinem von Adri gepolsterten patriarcha­ lischen Stuhl vor dem Fenster geschrieben habe, als er den Raum für einen Moment verließ und ich wieder so voll war, dass ich einfach etwas für ihn aufschreiben musste: «Er kann es sich erlauben, andauernd offenherzig zu sein, ohne an Interessantheit einzubüßen. Nur wenn man sehr tiefgründig und gehaltvoll ist, wird eine Offenheit wie seine nicht langweilig. Und obwohl man sagen kann, dass er einen mystischen Einschlag hat, ist bei ihm alles so glasklar und auskristallisiert, dass er keinerlei Unklarheit oder Ungenauigkeit ausstrahlt.» Ich muss auch zusehen, dass ich mit der Kälte und der Unbehaglich­ keit fertigwerde, denn sie fressen meine Energie und meinen Arbeitseifer.

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Ich muss mich noch gänzlich von der Vorstellung lösen, dass ich, weil ich an einer Erkältung, an Schnupfen und einer verstopften Nase leide, das Recht habe, mich einfach ein wenig gehen zu lassen und weniger gut zu arbeiten. Ich würde fast sagen, im Gegenteil, obwohl man auch hier nichts forcieren sollte. Aufgrund der sich verschlechternden Lebensmittelsitua­ tion werden wir uns auch immer weniger gegen die Erkältungen wehren können, zumindest bei mir ist das bereits der Fall. Und dabei hat der Win­ ter noch nicht einmal angefangen. Trotzdem muss man immer weiter­ machen und produktiv bleiben. Ich glaube, dass ich mich jetzt schon dar­ auf einstellen muss, diese körperliche Beeinträchtigung miteinzubeziehen, damit sie nicht jedes Mal wie ein unerwartetes Hindernis von außen auf­ taucht und mich für kürzere oder längere Zeit lahmlegt. Vielmehr muss ich sie sozusagen an meinen täglichen Zustand, an meine eigene Wenig­ keit anpassen, damit ich sie im Griff habe und nicht mehr unter ihr leide; sie darf folglich nicht ein stets wieder in Erscheinung tretender hemmen­ der Faktor sein, bei dem ich jedes Mal aufs Neue zusehen muss, dass ich mit viel Zeit- und Kraftaufwand mit ihm fertigwerde, sondern ein Faktor, der bereits innerlich in mir verarbeitet ist, sodass ich ihm nicht immer wieder aufs Neue Aufmerksamkeit schenken muss und meine Aktivitäten ungestört fortsetzen kann. Das ist sicherlich saumäßig unbeholfen formu­ liert, aber ich weiß ganz genau, was ich damit meine. Samstagmorgen [13. Juni 1942]. So müde, niedergeschlagen und erschöpft wie eine alte Jungfer. Und so trostlos wie dieser nasskalte Nieselregen draußen. Und so kraftlos. Dann sollte ich aber auch nicht bis 1 Uhr nachts im Badezimmer lesen, wenn ich die Augen schon fast nicht mehr offen halten kann vor lauter Schläfrig­ keit. Aber das ist natürlich nicht der eigentliche Grund. Eine zunehmende Unlust und Müdigkeit. Vielleicht ist es doch rein körperlich? So viele kleine Splitterteilchen des eigenen Ichs, die den Weg zu offeneren Ge­ bieten versperren. Das begrenzte Ich mit seinen Wünschen, die nur auf Befriedigung dieses äußerst beschränkten Ichs aus sind, ausrotten und aus­ löschen. Je müder und kraftloser ich mich fühle, desto verwirrter bin ich angesichts seiner Kräfte und seiner Liebe, die immer und überall für alle vorhanden ist. Dann bin ich einfach fassungslos darüber, dass er in Tagen wie diesen so viele überschüssige Kräfte hat. Für einen einzelnen Menschen ist es normalerweise schon genug, wenn zuerst sein Neffe29 verhaftet wird, weil er sich in einem Boot auf

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dem Wasser befand, und gestern wurde seine Schwester festgehalten, ein­ fach zur Seite geschafft, weil sie die Grenzen der Höflichkeit gegenüber unserer Besatzungsbehörde in einer Unterhaltung, über die wir noch nichts wissen, überschritten zu haben scheint. Und es gibt auch noch Ge­ schäftliches wie Hypotheken und ein nicht gemeldetes Familienvermö­ gen,30 die ihn das Leben kosten könnten. Zudem kann man jederzeit in eine Baracke in Drenthe geschickt werden und an den Gemüseläden hän­ gen Schilder mit der Aufschrift «Für Juden verboten». Dem Durchschnitts­ menschen reicht so etwas heutzutage völlig. Er aber empfängt auch noch 6 Patienten und verbringt mit jedem intensive Stunden, er dringt in ihr Inneres ein, holt den Eiter heraus und bohrt die Quellen an, wo sich bei vielen Gott verbirgt, ohne dass sie es selbst wissen. Er arbeitet so intensiv mit ihnen, bis schließlich in ihren ausgetrockneten Seelen das Wasser wie­ der zu fließen beginnt; die Lebensbeichten stapeln sich auf seinem kleinen Tisch und fast jede endet mit: «O, hilf mir doch!» Und er ist für alle da und hilft. Gestern Abend las ich in meinem Roman im Badezimmer Fol­ gendes über einen Priester: «Er war als Mittler zwischen Gott und den Men­ schen gestanden. Nichts vom Alltag hatte ihn berühren können. Und gerade darum verstand er die Not aller Werdenden so gut.»

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Es gibt Tage, an denen ich nicht mithalten kann, aufgrund von Müdig­ keit oder was auch immer. Dann wünschte ich, seine Aufmerksamkeit und Liebe gälten nur mir allein. Dann bin ich nur noch dieses beschränkte Ich und die kosmischen Räume in mir sind dann für mich verschlossen. Und natürlich verliere ich dann den Kontakt zu ihm. Dann wünschte ich, dass auch er nur ein beschränktes «Ich» wäre, das nur für mich da ist. Ein sehr verständlicher weiblicher Wunsch. Aber ich bin schon ein ganzes Stück diesen Weg vom eigenen «Ich» weggegangen und ich werde diesen Weg auch weitergehen. Und Rückschritte gehören zu diesem Weg dazu. Früher habe ich manchmal spontan niedergeschrieben: «Ich liebe ihn so sehr, ich liebe ihn so unendlich.» Aber dieses Gefühl ist jetzt verschwunden. Viel­ leicht fühle ich mich deshalb so schwer, traurig und erschöpft. Beten kann ich in den letzten Tagen auch nicht. Und ich kann mich nicht leiden. Diese drei Dinge werden wohl zusammenhängen. Und dann bin ich plötzlich so störrisch wie ein Esel, der auf einem felsigen Pfad keinen Schritt mehr vorwärts machen will. Wenn mein Gefühl für ihn dann wie tot ist – keinen Raum und keine Kraft, um ihn in mir und um mich in ihm zu erleben –, frage ich mich plötzlich: Hat er mich auch vorüber­ gehend losgelassen? Werden seine Kräfte von den vielen, die ihn täglich

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brauchen, so sehr verbraucht, dass er sich für eine Weile von mir abwen­ den musste? Etty, du widerst mich an. So egozentrisch und so kleinlich. Statt ihm mit deiner Liebe und Anteilnahme zur Seite zu stehen, fragst du dich wie ein quengeliges Kind, ob er dir verdammt noch mal genügend Aufmerksamkeit schenkt. Es ist die kleine Frau, die die ganze Aufmerk­ samkeit und Liebe für sich einfordert. Gerade eben ein kurzes, sachliches und langweiliges Telefongespräch mit ihm. Und ich glaube, dass es bei mir auch Folgendes ist: ein sich «hin­ einsteigern» in ein sogenanntes tragisches Gefühl. Sich nicht nur immer unglücklicher fühlen, sondern sich auch immer unglücklicher fühlen wol­ len. Dramatische Situationen auf die Spitze treiben und dann so herrlich darunter leiden. Ein Rest meines Masochismus? Und es hilft nichts, wenn man in seiner «oberen Schicht» vernünftig und erwachsen argumentiert, solange man nicht in der unteren Schicht giftig wuchernde Pflanzen mit der Wurzel ausrottet. Er würde wahrscheinlich lauthals lachen, wenn er wüsste, dass ich fantasiere, meine Gefühle für ihn seien «tot». Er würde ganz sachlich, gelassen und ernst sagen: «In allen Beziehungen gibt es Tief­ punkte, die muss man gelassen vorüberziehen lassen, es wird alles wieder gut.» Ich nehme solche Momente wieder viel zu schwer. Und es ist auch so verdammt lächerlich, mich unglücklich zu fühlen in dieser Zeit, die so viel Energie frisst, nur weil die Spannung zwischen mir und einem Mann ein wenig nachgelassen hat. Von großem Selbstvertrauen zeugt das auch nicht gerade. Wenn dein Gefühl ein paar Tage lang nicht so intensiv ist wie sonst, musst du nicht so viel Aufhebens davon machen, als wäre die ganze Liebe gestorben und du kämst Gott weiß wie zu kurz. Du, die nicht stun­ denlang in der Schlange zu stehen braucht. Das Essen steht jeden Tag auf dem Tisch, Käthe kümmert sich darum. Und der Schreibtisch mit den Büchern wartet jeden Morgen einladend auf dich. Und der wichtigste Mann in deinem Leben wohnt ein paar Straßen weiter und ist noch er­ reichbar und nicht abgeholt worden. Schlafe doch lieber erst einmal aus. Und schäme dich in Grund und Boden. Mache es mit dir selbst aus und malträtiere die anderen nicht mit deiner Gereiztheit, denn selbst wenn du sie nicht zeigst, ist sie trotzdem in dir, deshalb musst du dort auch erst einmal ordentlich aufräumen. Und gib dich nicht dermaßen einer einzi­ gen Stimmung und einem Moment hin, vor allem nicht, wenn er so ver­ schlafen ist, sondern behalte weiterhin die Hauptlinie und den richtigen Weg im Auge. Sei dann meinetwegen traurig, einfach und ehrlich traurig,

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aber mach nicht so ein Drama daraus. Auch in seiner Traurigkeit muss der Mensch einfach werden, sonst ist es nichts als Hysterie. Und dann ziehe ich den armen Han auch noch in meine Stimmungen hinein, einen 60-jährigen Mann. Ich wollte doch eigentlich gar nicht bei ihm schlafen, wenn ich ganz ehrlich wäre zumindest. Aber aus einer Art Müdigkeit und dem Wunsch heraus, nicht allein zu sein und verhätschelt zu werden, wäre ich doch gern bei ihm geblieben. Und er sagte: «Es ist zu spät, geh doch besser in dein eigenes Bett.» Und ich bauschte dann mein Gefühl zu einer entsetzlichen Einsamkeit auf und fühlte mich im Stich gelassen, und mit einer tieftragischen Maske und einem eindrucksvollen Schweigen verließ ich dann sein Zimmer und setzte mich mit einem ­Roman ins Bad. Und er kam hinterher, war ein bisschen hilflos, streichelte mich und wusste nicht so recht, was er mit mir anfangen sollte, wie ich da so mitten in der Nacht mit gesenktem Kopf und Tränen hinter den Bril­ lengläsern im Bad saß und einen Roman las. Und er gab schüchtern zu verstehen, dass ich doch zu ihm kommen soll. Aber ich driftete immer weiter in ein Gefühl der Vereinsamung und der Vernachlässigung hinein, hielt den Kopf gesenkt, ließ ihn wieder ein wenig hilflos weggehen und blieb noch eine halbe Stunde auf diesem Korbstuhl sitzen im Wissen, dass ihn das Licht aus dem Badezimmer störte, aber ich blieb vor allem, um die Situation so dramatisch wie mög­ lich zu gestalten. Und schließlich ging ich in mein Bett und war eigentlich froh, allein zu sein, und merkte, dass alles nur Hysterie war. Und ich muss allein bleiben, ganz allein, bis ich alles mit mir selbst ausgemacht habe und bis die Atmosphäre in mir wieder geklärt ist. Dieses ganze Theater, das ich veranstalte, ist vielleicht nichts anderes als der Versuch, die Außenwelt dazu zu zwingen, mir das zu geben, was ich mir im Moment selbst nicht geben kann. Und mit so etwas kann man seine besten Beziehungen ver­ derben. Du solltest dich in eine kahle Zelle einschließen und so lange mit dir allein sein, bis du wieder vernünftig geworden wärst und all diese Hysterie sich gelegt hätte. Und bis du dich nicht mehr von jedem Wort von S., das sich zu nüch­ tern anhört, gekränkt und im Stich gelassen fühlst. Das sind Ansprüche, die du stellst und die aus einem Gefühl der Kraftlosigkeit heraus entste­ hen. Du versuchst dann, mit der Außenwelt zu ergänzen, was bei dir fehlt. Seine Traurigkeit muss man auch mit einer gewissen Würde tragen und man muss sie selbst und ganz allein aushalten. Und in ihrer reinsten und

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einfachsten Form. Und nur dann birgt sie auch einen Ewigkeitswert und kann von innen her erneuern. Man darf sie nicht auf verschiedene Arten in allerlei Kostüme stecken. Es gibt viel, wirklich viel zu tun in diesem Leben, und es geht um große und ernste Dinge, aber man darf die Zu­ fahrtswege zu ihnen nicht durch Schutt, der von eigenen baufälligen Fan­ tasiegebilden stammt und immer wieder zerbröckelt, versperren lassen. Ich werde jetzt zuerst einmal eine Stunde schlafen. Und ich werde schon wieder zu mir finden und auch wieder einfacher werden, auch in meiner Traurigkeit, und ich werde aufhören, mich so komisch aufzuführen. Gestern Abend bei den Levies. «Was auf diesen Mann alles einstürmt», sagte Liesl, als seine inhaftierte Schwester zur Sprache kam. «Und dann habe ich ihn heute auch noch belästigt», sagte Werner. Und dann sagte ich: «Es ist ja sein Leben und seine Freude um von Menschen wie Dir belästigt zu

Dieser formvollendet formulierte Satz zielte ganz bewusst auf ihn ab und er traf ihn auch. Sein Gesicht leuchtete plötzlich auf und Liesl warf mir einen dankbaren Blick zu. Sie war wie ein zitternder kleiner ­Vogel und schmiegte sich im Flur fast an mich, als ich mich verabschie­ dete, und flehte mich an: «Komm doch bitte oft, damit wir Fühlung haben in werden.»

dieser Zeit.» «Das haben wir ja dòch»,

sagte ich. «Ja, aber trotzdem, man braucht ein­ Und Werner streichelte mit der Hand, die sich wie die Krallen eines Greifvogels anfühlt, über meine Wange und sagte nicht viel. Die Zeit, in der wir leben, lastet mit ihrem ganzen Gewicht auf ihnen. Ich hätte gerne noch gesagt: «Kinder, geht nicht so niedergeschlagen und be­ klommen ins Bett. Nehmt euch noch kurz ein gutes Buch, und wenn es nur die Bibel ist.» Aber mir fehlte die Überzeugungskraft, um es zu sagen. Und ich hätte Werner gerne auch Folgendes gesagt: «Wenn du eine Bilanz des heutigen Tages ziehen würdest, dann umfasste diese doch nicht nur die Durchsuchung durch die Polizeibeamten im Café de Paris und den abtransportierten 19-jährigen Jungen,32 sondern auch die Stunde bei S. Du warst zum ersten Mal bei ihm und es scheint für dich sehr ertragreich und wichtig für deine weitere Entwicklung gewesen zu sein. Das darf man doch nicht außer Acht lassen. Warum den schweren und bedrückenden Alltag die Oberhand über einen gewinnen lassen und diese gute Stunde vergessen? Unsere Entwicklung sollte doch darauf ausgerichtet sein, dass in unserem Leben die guten Momente, das innere Wachstum über die tägliche Beklommenheit und Bedrohung siegen.» Und wie sie gestern Abend so dasaßen, völlig niedergeschlagen und ander so.»

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deprimiert angesichts der bedrohlichen Zeiten, war diese eine Stunde, die doch die beste des Tages gewesen war, völlig untergegangen und spielte keine Rolle mehr. Und eigentlich darf man sich so eine Nachlässigkeit nicht erlauben. Aber das konnte ich alles nicht sagen, dafür war ich selbst zu kraftlos, zu müde und für mein Gefühl zu wenig überzeugend. Und doch werde ich auf Dauer immer wieder auf diese Dinge zurückkommen müssen, immer wieder und überall – aber dafür muss ich zuerst selbst wie­ der ein Vorbild sein können. Was ich zu Beginn des Vormittags geschrieben habe, hat schon wieder seine scharfen Spitzen verloren, denn durch das Aufschreiben von Dingen fallen sie auch von einem ab. Ich schlage mich durch einen Dschungel von Wörtern, viele Worte sind überflüssig und viele sind unpassend und falsch, aber es geht nicht um die Worte, sondern darum, dass man sich durch­ schlägt, und dann gelange ich plötzlich wieder auf eine Lichtung mit Blick in alle Richtungen und in den Himmel und bin wieder ein Stückchen wei­ tergekommen. Und am Ende eines solchen chaotischen Selbstgesprächs merke ich wieder, dass ich nicht so winzig, unreif und mickrig bin, wie ich anfangs dachte. Und meine Sehnsüchte, meine Gedanken und Wünsche werde ich ihm für eine Weile ersparen, um ihn und mich nicht damit zu verunreini­ gen. In meiner Müdigkeit möchte ich dann etwas, was ich, wenn ich ehr­ lich zu mir selbst bin, überhaupt nicht will. Ich werde meine Wünsche und Sehnsüchte wie quengelige, lästige Kinder, die sich zu weit von zu Hause entfernt haben, wieder hereinrufen. Sie gehören nach Hause, damit ich sie erziehen kann, und wenn sie wieder zur Besinnung gekommen sind, dürfen sie wieder frei herumlaufen. Aber so richten sie Schaden an, undiszipliniert und ungeformt, wie sie sind, und ohne zu wissen, was sie eigentlich wollen. Am Ende des Vormittags. Ich habe an diesem regnerischen, trüben Morgen viele Umwege und ein Wortdickicht benötigt, um zu einem einfachen und klaren Verständnis der Dinge zu gelangen. Unter den viel zu vielen, aber doch unverzicht­ baren Worten heute Morgen habe ich auch so ungefähr geschrieben: ­Einen vorübergehenden Mangel an inneren Kräften versucht man zu kompensieren, indem man Forderungen an die Außenwelt stellt und in­ dem man von ihr ungerechtfertigterweise verlangt, die eigene Kraft aufzu­ frischen.

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Aber ich hätte dem Folgendes hinzufügen müssen: In Zeiten, in denen keine Liebe in mir ist, zumindest wenn ich sie nicht lebendig in mir spüre, versuche ich das zu kompensieren, indem ich von meinen Nächsten zu­ sätzliche Liebesreserven verlange. Und ich könnte es gerade so gut lassen, denn selbst wenn sie mich mit noch so viel Liebe überhäufen würden, ich wüsste damit doch nichts anzufangen und würde es nicht einmal als Liebe empfinden, weil sie keine Resonanz in mir findet. Und dann fängt ein Prozess an, in dem man immer fordernder wird. Man kann es fast auf eine kurze algebraische Formel bringen: Ein Mangel oder Fehlen an Liebe in mir veranlasst mich dazu, eine doppelte Menge an Liebe von der Außen­ welt zu fordern. Und selbst wenn man mir diese geben würde, wüsste ich trotzdem nichts damit anzufangen. Aber – und das ist eine neue Frage – wie kommt es dann, dass man vorübergehend ohne Liebe ist? Aber das ist ein Kapitel für sich, und viel­ leicht ist es auch viel einfacher, als ich denke, aber jetzt muss ich zuerst für meinen Bohnenmann ein paar Sätze für die Übersetzungsübung vorbe­ reiten. Montagmorgen [15. Juni 1942], 8 Uhr. Ich muss aus diesem letzten Tief sehr viel lernen, damit ich es nie wieder in dieser Form erlebe, denn nur dann haben solche Tage einen Sinn. «Wenn er nicht das Leben eines Mönchs führen würde und all seine Kräfte bei sich behielte, könnte er nicht mit so atemberaubender Intensität und Effizienz mit anderen arbeiten», sagte ich am Samstagabend in belehren­ dem Tonfall zu Jan Polak. Und warum muss sich meine junge Leidenschaft immer auf den Weg zu seinen Tagen und Nächten der Enthaltsamkeit machen? Und wie viele fal­ sche Vorstellungen machen das Leben auch in dieser Hinsicht wieder zu einem Labyrinth? Ich will ihn doch lieber als Lehrer haben denn als Lieb­ haber, nicht wahr? Und ich weiß doch auch, dass Letzteres für jemanden wie ihn nicht wesentlich ist, oder? Und rührt es nicht von einer Art ­Überlieferung der Menschheit her, von der traditionellen Vorstellung, die höchste Vereinigung von Mann und Frau bestehe darin, miteinander zu schlafen, dass ich unsere Beziehung als etwas Unvollständiges und Ver­ stümmeltes empfinde? Zumindest in meinen labilsten Momenten ist ­dieses Gefühl immer da. Gestern Abend dachte ich für einen Augenblick,

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wieder über alle Tiefpunkte hinweg zu sein. Das Rijksmuseum in der Ferne sah aus wie ein Kalifenpalast, und wenn ich diesen Mitternachts­ himmel, der nicht nachtschwarz wurde, sondern zwischen vielen Blau­ tönen oszillierte, zu beschreiben versuche, merke ich erst, wie wortarm meine Palette ist. Und mein aufrechter, rauer Baumstamm erinnerte mich plötzlich an eine Palme; wenn ich ihn mitten in der Nacht vor meinem Fenster vor einem exotischen Himmel aufragen sehe, dann hat er oftmals etwas von einer Palme. Dann liege ich in meinem Bett und schaue aus dem offenen Fenster in die Nacht hinein, immer wieder in eine andere Nacht hinein, und weiß, dass ich nie werde reisen müssen, weil mich alle Landschaften der Erde nachts in diesem sich ständig verändernden Him­ mel vor meinem Fenster besuchen. Und als ich dachte – das war gegen 4 Uhr morgens  –, dass ich zur Ruhe gekommen sei und Klarheit und Raum zurückgewonnen hätte, stieg plötzlich eine verlassene, kleine Flut­ welle in mir auf und überschwemmte und zerstörte das bisschen Einsicht, das ich in den letzten Tagen glaubte errungen zu haben. Und man hätte mein ganzes Bett auswringen können, so viele Tränen vergoss ich, und ich sagte ein wenig bitter zu mir selbst: «Was für ein außerordentlich reizender Mensch bist du doch, Junge, Junge.» Da war sie wieder, die Verzweiflung, in einen Raum eingesperrt zu sein, mich an einer von ihm errichteten stählernen Wand flügellahm zu machen. Und ich weiß, ich weiß ganz ­sicher, dass dies nur eine imaginäre Wand ist, die nur in meiner von tradi­ tionellen Vorstellungen geleiteten Fantasie existiert. Schließlich hat man diese Flügel, um über alle Wände hinaus zu fliegen und in einen Luftraum einzudringen, der keine künstlichen Grenzen kennt. Aber ist es nicht so, als ob ich vorsätzlich, aus einer Art Selbstquälerei heraus, immer wieder gegen eine kleine Wand fliegen und daran zerschellen möchte? Ich finde es so beschämend, dass ich immer noch mit solchen Problemen zu kämpfen habe, in einer Zeit wie unserer, in der man einander mit allen Kräften, die man hat, beistehen muss, um sie durchzustehen. Er rief gerade an und teilte mit, dass Hulle33 nach Amersfoort34 transportiert worden sei. Und es geht das Gerücht um, dass man die Schreie der Misshandelten bis weit über die Heide hört. Und es ist mehr als nur ein Gerücht. Und wo seine Schwester, Hulles Mutter, ist, weiß man nicht. Und es geht nicht nur um Hulle und seine Mutter, es geht auch um die Tausenden und Abertausen­ den von anderen, für die man den ganzen Tag lang um Kraft beten sollte und die man keine einzige Sekunde am Tag vergessen darf. Ich finde es sehr beschämend für dich, Etty, dass du dich wieder so in Wünsche und

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Sehnsüchte verwickelt hast, die du nicht einmal wirklich hast. Ich muss damit erst einmal fertigwerden, bevor ich wieder Teil der großen Gemein­ schaft werden kann, zu der ja auf Dauer jeder von uns durch die Befreiung von der eigenen «ich-haftigkeit» gelangen sollte. Viele bedienen sich in die­ ser Zeit einer Vogel-Strauß-Politik: Unter Berufung auf die Belastung und den Ernst «dieser Zeit» lassen sie ihre eigenen kleinen Probleme ungelöst und liederlich in allen Winkeln ihres Wesens herumliegen. Es bedarf einer besonderen Art von Mut, eigene kleine und angeblich unwichtige Prob­ leme angesichts wichtiger Ereignisse wirklich ernst zu nehmen. Aber ­haben die Ereignisse, die sich groß und bedrohlich außer und über uns abspielen, mit denen wir aber einen inneren Kontakt spüren sollten, nicht letztendlich ihren Ursprung in uns selbst? Und so weiter. Siehe Jung, Seite soundso. Und warum stellt sich dann bei mir manchmal dieses Gefühl der Verstüm­ melung und der Verzweiflung in Bezug auf unsere Beziehung ein? Dass ich mich nicht ganz entfalten kann, indem ich mich ihm öffne, weil er mir ir­ gendwo Einhalt gebietet? Da stoße ich auf seine Treue, die bis über den Kanal über viele Jahre hinwegreicht. Aber ist es nicht letztendlich – gib es doch ehrlich zu  – eine Art gekränkte weibliche Eitelkeit, dass du dieses Band der Treue nicht zerreißen kannst? Tide betet jeden Abend für Hertha und für ihre Wiedervereinigung, und ich liebe und bewundere sie dafür, dass sie so ist. Und ist dieses «Zerreißen des Bands der Treue» nicht eine der vielen kleinbürgerlichen fixen Ideen aus schlechten Romanen? Diese mit kürzeren oder längeren Abständen stets wiederkehrenden Krisen, die ein verzweifeltes Gefühl in mir auslösen, an unserer Freund­ schaft stimme strukturell etwas nicht, spielen die sich nicht auf einer Ebene ab, die weit unter meiner Würde ist und die zugleich auch nicht diejenige Ebene erreichen kann, auf der sich seine Vorstellungswelt ab­ spielt? Manchmal fühle ich mich wie ein beleidigtes, drängelndes Kind, das eine Tür öffnen will, die – nicht einmal verschlossen ist. Und spiele ich nicht manchmal ein kindisches Spiel mit mir, indem ich gerade so tue, als ob die Tür verschlossen wäre, nur um das Gefühl des Unglücklichseins zu verstärken? Ich weiß es alles nicht so genau. Irgendetwas stimmt nicht. Nicht in unserer Beziehung, sondern in meinen Gefühlen und wahr­ scheinlich eher noch in der Art und Weise, wie ich mir die Dinge vorstelle. Eine gewisse Klischeevorstellung davon, wie es zwischen einem Mann und einer Frau aussehen sollte, wobei ich aber jegliche Wirklichkeit außer Acht

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lasse. Dabei würde ich gerne mit einem kühnen Schlenker aus der Misere herauskommen. Mit einem einzigen Sprung würde ich dieser ganzen kräf­ teraubenden Problematik, in die ich verstrickt bin, entkommen, um dann zusammen mit ihm in seinem kosmischen Raum produktiv und kreativ zu sein. So wie ich in den letzten Tagen bin, so blass, gleichgültig und müde (was ja wohl nicht nur von meiner schlechten körperlichen Verfassung herrührt?), bin ich für ihn doch eher eine Belastung als eine Stütze und Inspiration. Man sollte nicht den Ehrgeiz haben, jemandes Inspiratorin zu sein, man sollte überhaupt nichts sein wollen, man sollte einfach nur so sein, wie es die eigenen besten Möglichkeiten hergeben, und wenn ich das bin, nun, dann bin ich inspirierend genug, nicht nur für ihn, sondern auch für viele andere. Vielleicht sollte ich mich dazu erziehen, auf jeden Körperkontakt mit ihm zu verzichten? Ohne dabei irgendeinen Groll ge­ gen ihn in mir zu hegen? Ich glaube nicht, dass ich das schaffe heute Mor­ gen. Im Moment fühle ich mich viel verwirrter und tränenreicher als zu Beginn dieser Seiten. Gestern Nachmittag dachte ich plötzlich: Man kann doch von Men­ schen nichts verlangen, was sie nicht geben können, nicht wahr? Man kann sich doch nicht in seine eigenen Fantasien darüber hineinsteigern, was andere für einen bedeuten müssten? Ich denke, dass ich etwas Un­ mögliches von ihm verlange, dass ich zuweilen, oft unbewusst, Forderun­ gen an ihn stelle, die er nicht erfüllen kann. Forderungen, die mir meine Kräfte rauben und unsere Beziehung trüben. Ich erinnere mich an eines unserer Gespräche über Sinnlichkeit und Leidenschaft, das wir vor langer Zeit geführt hatten. «Du bist beides», sagte er, «sinnlich und leidenschaft­ lich. Ich bin nur sinnlich, und leidenschaftlich bin ich im Geistigen.» Und so ist es bei ihm, glaube ich, auch wirklich. Sein Geist lodert in unabläs­ siger Leidenschaft und Begeisterung, die zur Besessenheit werden kann. Von seinen Händen und Berührungen geht eine Zärtlichkeit aus, die von der Seele und nicht vom Körper herkommt. Und das, was noch für ihn und für den Partner, rein körperlich, an reiner Sinnenlust übrig bleibt, ach, das ist nicht so viel, nachdem er sich immer schon so vollkommen verschenkt hat, immer und immer wieder. Und hier, in diesem Moment, setzen meine Forderungen und Fantasien ein. In dem Moment, in dem er alles gegeben hat, was er an Leidenschaft und Zärtlichkeit besitzt, stelle ich auch noch eine rein körperliche Forderung und möchte, dass sich die Leidenschaft seines Geistes auch auf seinen Körper überträgt und dass die­ ser Körper dann mir gehört. Und hier beginnt meine Fiktion und damit

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meine Leidensgeschichte. Der Körper ist für ihn nicht mehr wichtig, er überwindet ihn immer mehr, während ich möchte, dass er ihm weiterhin wichtig ist. Weshalb eigentlich? Aus einer Art Angst heraus, das Leben könnte mich doch irgendwie benachteiligen? Haben wir nicht oft genug über den Zusammenhang zwischen Sexualität und Selbstbewusstsein ge­ sprochen? Oder fehlt mir nur der Mut, die alte, traditionelle Bewertung der Rolle, die der Körper in der Liebe spielt, aufzugeben? Ist das, worin ich ihm in Gesprächen und auch in meinen besten Momenten schon lange zustimme, schon tief in meiner Lebenseinstellung verankert? Stehe ich erst jetzt wirklich an der Schwelle zu einem neuen Prozess? Und das Groteske dabei ist: Wenn sein Körper gelegentlich seinen ­eigenen sinnlichen Gesetzen gehorcht, mag ich ihn nicht einmal so sehr. Ich will seine Sinnlichkeit gar nicht, ich will seine Zärtlichkeit und seine Leidenschaft. Und die – die habe ich doch eigentlich immer? Und dann gibt es noch die Momente, die kleinlichsten und beschämendsten, in ­denen ich leide, weil ich diese Zärtlichkeit und Leidenschaft mit nieman­ dem teilen möchte. Und ich muss sie mit der ganzen Schöpfung teilen. Aber mein eigenes Lebensgefühl geht doch auch in diese Richtung, nicht wahr? Aber der Mensch kann nicht immer so überlegen sein wie in seinen großartigsten Augenblicken. Aber es muss eine Zeit kommen, in der die schlimmsten Kleinlichkeiten in meinem Leben keinen Platz mehr finden können. Ich glaube nicht, dass zwischen ihm und mir alles so kompliziert ist, ich glaube nur, dass ich es von Zeit zu Zeit verderbe, indem ich ganze Komplexe von eingerosteten Vorstellungen in unsere schöne, fruchtbare Verbindung schiebe. Und vielleicht ist der hartnäckigste Teil davon der Rest einer Groschenroman-Romantik: Alles oder nichts. Und so gilt es in dir immer wieder neue Gebiete zu kultivieren. Er soll mich einfach noch ein paar Tage in Ruhe lassen, ich werde das schon schaffen. Ich werde wieder einmal streng mit mir sein müssen und meine mit mir durchgehenden Fantasien und Wünsche auf ihren Wert und ihre Echtheit hin kontrollieren. Es ist nun 10 nach elf. Ich gehe in mein kleines Zimmer und knie mich in der Ecke vor seinem Bücherregal nieder – es ist sehr lange her, dass ich das getan habe. Ich werde wieder streng sein müs­ sen mit mir und mich unter Kontrolle halten. Streng sein allein reicht nicht aus. Man muss zuerst geduldig untersuchen, wo all die Ruhelosig­ keit, die Unlust und der sinnlose Energieverbrauch ihren Ursprung haben. Aber mit dem Finden des Ursprungs darf man sich nicht zufriedengeben;

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eine neue Erkenntnis muss dann auch ihren Weg in den Alltag finden, sie muss von der Höhe dieses einen erleuchteten Augenblicks herabsteigen, um ihre Alltagstauglichkeit zu beweisen. Und jetzt darfst du dich nicht mehr so verzetteln wie in den letzten Tagen, du musst dich, dein Leben und deine guten Vorsätze jetzt wirklich wieder ernst nehmen. Nach der Meditation vor dem Bücherregal aus Birnbaumholz: Man darf niemals einen Menschen, selbst wenn es ein noch so geliebter Mensch ist, zum Ziel seines Lebens machen. Es geht wieder um Zweck und Kausalität. Das Ziel ist das Leben selbst in all seinen Ausprägungen. Und jeder Mensch vermittelt nur zwischen dir und dem Leben. Das L ­ eben ver­ leiht seine Gebärden, seinen Inhalt und seine Formen an die Menschen und in jedem Menschen lernen wir das Leben wieder in einer anderen Form kennen. Und wir wiederum bringen den Menschen in unserem ­Leben etwas bei, damit sie das Leben besser kennenlernen, aber dann müs­ sen wir sie wieder loslassen und dem Leben zurückgeben, so schwer uns das auch fällt. Und durch diejenigen, die wir am stärksten lieben, können wir das Leben womöglich am besten kennenlernen. Oder eben gerade nicht? Versperrt uns die Liebe nicht den Blick auf das Leben? Ja, aber nur, wenn diese Liebe den geliebten Mitmenschen zum eigentlichen Ziel macht. Jetzt ist es schon nach halb 12 und der Rest des Tages wird dem Stu­ dium der Muttersprache meiner Mutter gewidmet sein. Ich weiß, dass ich in diesem Bereich zukünftig eine Aufgabe haben werde, eine Vermitt­ lungsaufgabe zwischen Russland und dem Westen. In meinem kleinen Schülerkreis versuche ich bereits, diese Aufgabe so gut wie möglich zu er­ füllen, indem ich ihnen nicht nur Grammatik beibringe, sondern auch versuche, ihnen eine Vorstellung von diesem rätselhaften Land im Osten zu vermitteln. Aber muss ich dafür nicht noch viel mehr wissen? Ich werde Becker demnächst nach ein paar kulturhistorischen Werken fragen. Ich muss noch so viel lernen, und ich möchte das auch, sodass ich kaum ver­ stehen kann, weshalb ich mich immer wieder von mir selbst – im engsten Sinne des Wortes – von meinem Weg abbringen lasse. Aber ich werde mir immer wieder den Weg freiräumen und ihn dann auch wirklich gehen. 16. Juni [1942], Dienstagabend, halb 10. Natürlich hat er es sehr bewusst gesagt, weil er die Wirkung von Worten kennt. Die Tür war schon fast geschlossen, wir standen je auf einer Seite des Türspaltes, wir hatten uns auch schon verabschiedet, da sagte er plötz­

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lich: «Wenn Sie noch lange krank sind, können Sie nicht mehr meine Sekre­ tärin und meine Freundin bleiben.» Als er mich als «Freundin» bezeichnete, schien es, als verleihe er mir eine sehr wertvolle Auszeichnung. Ich war fast versucht, ganz demütig zu fragen: «Bin ich denn wirklich Ihre Freundin?» Aber stattdessen sprang ich ihm mit zehn Nägeln in sein provozierendes Gesicht und sagte sehr hochmütig: «Das will ich auch gar nicht.» Daraufhin rannte ich die vielen Treppenstufen hinunter. Als ich auf der Straße war, lehnte er sich bereits aus dem Fenster, ich streckte ihm  – so weit ich konnte  – die Zunge heraus und bekam eine Kusshand zurück und am Ende der Straße sah ich noch seinen Arm aus dem Fenster winken. Und jetzt lerne doch daraus, lerne jetzt ein für alle Mal daraus. Und drama­ tisiere so ein kleines Tief nicht. Da war er wieder, ganz und gar, und ich liebe ihn so sehr. Wir müssen diese Zeit gemeinsam ertragen und durch­ stehen, und wir müssen einander in allem unterstützen und lieben und so weiter und so fort. Der Tag begann heute Morgen so gut, mit starken Kopfschmerzen, Schwindel und mit dem Gefühl, so krank zu sein wie noch nie zuvor. Aber plötzlich war meine Geduld wieder da. Vor ein paar Tagen hatte ich mich bei mir selbst beschwert, dass es so eine Kluft zwischen der Beweglichkeit meines Geistes und der Trägheit, der Müdigkeit meines Körpers gibt. Aber es ist keine wirkliche, produktive Beweglichkeit des Geistes. Es handelt sich nur um Unruhe und Ungeduld. Man muss auch krank sein können und sich selbst dabei in Geduld üben. Kaum hatte ich diese Geduld aufge­ bracht, ging es mir wirklich besser und ich konnte sogar meinen Unter­ richt ziemlich gut geben. Und um halb 1 betrat ich mit einem großen Strauß blauer Kornblumen sein Zimmer. Alles war wieder gut. Ich möchte noch schnell etwas von seinen Notizen über Leonie über­ nehmen: «Schaffende Kraft muß in eine Form gegossen werden, so, daß doch im­ mer das Schöpferische lebendig bleibt. Im Gegenteil kann man sagen, daß die richtige Formung erst das Schöpferische im Menschen zum Ausdruck bringen kann, der auch andere in seiner Umgebung erreicht. Ohne Formung ist es eine Art narzistisches Genießertum; man berauscht sich an seinem eigenen Gefühl, Leidenschaft. Aber erst die Formung dringt alle diese Kräfte zur Weiterwirkung, und da­ durch wieder in der Rückwirkung zu neuer Befruchtung.»

Natürlich kann ich jetzt sagen, dass alles, was ich am Montag über unsere

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Beziehung geschrieben habe, mir jetzt unwirklich erscheint und das ­Wesentliche überhaupt nicht trifft. Und dennoch ist es gut, dass ich ein­ mal darauf näher eingegangen bin. Denn damit habe ich schon etwas «vor­ weggenommen», wenn die nächste Depression ansteht. Und jetzt etwas Selbstdisziplin. Es ist 10 Uhr und ich werde meinen Wunsch (der jetzt nur aus einer Müdigkeit erwächst, die ich nicht einge­ stehen will), noch etwas zu lesen oder ein wenig herumzubummeln, über­ winden und geduldig ins Bett gehen und schlafen, um morgen wieder frisch zu sein und ein paar Stunden intensiv mit ihm zu arbeiten. Diszip­ lin, Charakterformung und Geduld. Und wenn ich jemals ein Lebens­ motto hätte, bestünde es aus einem einzigen Wort: Geduld. Gute Nacht. Mittwochmorgen [17. Juni 1942], halb 8. Es scheinen nur winzige Kleinigkeiten zu sein, aber man muss ziemlich viel kämpfen und an der Selbstdisziplin arbeiten, damit sie von der Theo­ rie über die Disziplin und die Gestaltung in das tägliche Leben übergehen. Zum Beispiel sich abends rechtzeitig und ohne allzu viel Widerstand vom Tag verabschieden, statt noch stundenlang in allerlei Büchern zu blättern oder aus purer Unruhe und Unzufriedenheit über die Tagesleistung durch das Haus zu rennen. Früher war das oft der Fall. Da erwartete ich noch ein Wunder im letzten Moment, das den Tag zu etwas Besonderem machen würde. Ein P. S., in dem alles stünde, was am Tag selbst fehlte. Jetzt ist das nicht mehr so schlimm, nur noch ab und zu. Früher waren die Übergänge für mich viel abrupter: vom Tag zur Nacht, von der Arbeit zum Nichts­ tun, vom Alleinsein zum Zusammensein mit anderen, das verlief alles ruckartig. Jetzt gleitet alles mehr ineinander über, weil ein innerer Rhyth­ mus entstanden ist, der mir und nur mir allein gehört. Es mag übertrieben erscheinen, aber es ist wirklich so: Um rechtzeitig ins Bett zu gehen, um den Tag freiwillig loszulassen, ist eine Menge Diszi­ plin notwendig. Man muss sich das zuerst einmal ganz bewusst machen, damit dies später alles selbstverständlich und zum eigenen Lebensrhyth­ mus wird. Noch so eine Kleinigkeit, für die man auch das große Wort Disziplin gebrauchen kann: Am Abend habe ich manchmal schrecklich Lust auf ein Butterbrot, nicht einmal so sonderlich aus Hunger, sondern aus «Lustge­ fühlen» (sic!)35 heraus, und ich weiß, dass ich mich am nächsten Morgen,

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wenn ich aufwache, viel wohler fühle ohne dieses Butterbrot im Magen. Und doch esse ich meistens abends ein Butterbrot. Das ist der «Trieb», ja­ wohl! Und kaum hat das Ding meine Speiseröhre passiert, bereue ich es auch schon. Nennt man das jetzt «Trieb» und «Vernunft», die im Wider­ spruch zueinander stehen? Wie auch immer: Gestern Abend habe ich die­ ses Butterbrot nicht gegessen, obschon ich große Lust darauf hatte, und es hat mich sicherlich ein wenig Selbstbeherrschung gekostet. Das gehört ­alles zur Entwicklung des Menschen, der nach der ihm gemäßen Lebens­ gestaltung sucht, da bin ich mir sicher; wenn man Kraft für die kleinen Dinge hat, hat man sie auch für die großen. Und später läuft alles von selbst und alle Kräfte werden freigesetzt sein für diejenigen Dinge, um die es eigentlich geht. Ja? Den krampfhaften Griff um den Tag lockern. Ich glaube, dass viele Menschen noch einen Teil des Tages gierig / begierig umklammern, selbst nachts. Es müsste jeden Abend aufs Neue einen Moment der Hingabe und der Entspannung geben: den Tag loslassen mit allem, was er mit sich ge­ bracht hat. Und sich mit allem abfinden, was man an diesem Tag nicht zu einem guten Abschluss gebracht hat im Wissen, dass wieder ein neuer Tag kommen wird. Mit anderen Worten nachts mit leeren, offenen Händen da­ liegen, mit Händen, aus denen man den Tag freiwillig weggleiten ließ. Nur so kann man sich wirklich ausruhen. Und in den ausgeruhten und leeren Händen, die nichts festhalten wollen und in denen es überhaupt keine Be­ gierde mehr gibt, empfängt man beim Aufwachen einen neuen Tag. Ist der neue Tag bei mir nicht gelegentlich mit den Eigenschaften des vorhergehenden erblich schwer vorbelastet? Und kann sich nicht ein neuer Tag manchmal kaum entfalten, schon halb unter dem Schutt des Vortags begraben? Es ist 8 Uhr morgens. Es ist Mitte Juni und ich trage einen di­ cken Winterpullover. Und es geht mir so gut wie nie zuvor. Dieser Schurke aller Schurken, er wusste genau, was er sagte: «Wenn Sie nicht bald gesund werden können Sie nicht mehr meine Sekretärin und meine Freundin sein.»

Früher hätte ich misstrauisch gedacht, er hätte das aus therapeutischen Überlegungen heraus gesagt. Aber jetzt weiß ich, dass dies nicht aus thera­ peutischen Gründen war. Vielmehr wusste er genau, welche Worte er wie einen zielgerichteten Schuss auf mich richten musste, damit sie mich mit­ ten im Herzen trafen. «Meine Freundin.» Als ob er mir eine wertvolle Medaille auf die Brust gesteckt hätte. Und das Herz machte einen kleinen Sprung vor lauter Stolz und Freude.

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Ich fühle mich noch nicht so richtig «gesund», aber auch die weniger ­guten Tage und die Krankheitstage muss man mit einer gewissen Würde und Geduld ertragen, und vor allem sollte man sie nicht antreiben, damit sie besonders schnell wieder guten Tagen weichen, das hilft nämlich auch nicht viel. Vor allem jemand wie ich, der es körperlich oft schlecht geht, muss lernen, dieses Gefühl des Krankseins gewissermaßen organisch bei sich «einzuordnen», damit es einen nicht jedes Mal unangenehm über­ rascht. Und man sollte sich nicht gekränkt fühlen, wenn man sich weniger gut fühlt. Oder benachteiligt. Ich mache das nicht bewusst, aber unbe­ wusst wäre gut möglich. Und dieses Unwohlsein sollte man so organisch in das tägliche Handeln und den Alltag einfügen, dass man keinen ein­ zigen zusätzlichen Gedanken oder Unlustgefühle darauf verschwenden muss. Sich mäßigen, um dann wieder maßlos sein zu dürfen, ohne dadurch zer­ stört zu werden. Die gelbe Teerose, die aufgegangen ist. Schon allein wegen dieses Gelbs, das eigentlich gar kein Gelb ist, muss man an Gott glauben. Hundert Pfund kleine, glatte weiße Bohnen in einem Jutesack. Sie sind im Büro. Und sie kosten 35 Cent pro Pfund. (Auf dem «Schwarz­ markt» werden dafür ƒ 1,50 verlangt.) Ich sagte am Samstagnachmittag zu Vis36 mit seinem blassen Gesicht: «Nach dem Krieg wird man oft erbittert von Wucherpreisen und Kriegsgewinnlern reden, aber dann können zu­ mindest wir bezeugen, dass wir jemanden wie Sie kannten, der keinen Ge­ winn aus den täglichen Lebensmitteln schlagen wollte. Das ist sehr tröst­ lich, wissen Sie, Herr Vis, ganz abgesehen von der großen, praktischen Wohltat, die Sie uns damit erweisen.» Die Menschen sind im Grunde so undankbar und maßlos in ihren Forderungen. Samstag und Sonntag waren für mich so schwere Tage, vol­ ler Selbstmitleid, Aufbegehren, Traurigkeit und Unzufriedenheit mit mir selbst. Aber waren diese Geste von Vis am Samstagnachmittag mit dem Angebot, mir 200 Pfund Bohnen zu schicken, um Juden zu helfen, die keine Gemüseläden mehr betreten dürfen – und auch am Sonntag dieser Blick, mit dem Tide mich forschend und liebevoll ansah, als ich plötzlich in Tränen ausbrach –, nicht ausreichend, um diese beiden Tage schön zu machen? Und jetzt zu meinem russischen Konversationsunterricht.

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nachts halb 1. Jetzt muss ich wieder meinen Griff um einen Tag lockern, der gut war. Mit der wirklich kontinuierlichen und vertieften Arbeit hat es noch nicht ge­ klappt. Aber das wird schon noch. Denn die Art und Weise, wie ich von Tag zu Tag weiterwachse und robuster werde, garantiert mir die Möglich­ keit des kontinuierlichen und konzentrierten Arbeitens in der Zukunft. An einem Tag wie heute fühle ich mich wieder wie der Kutscher vieler ungestümer Pferde. Aber ich habe sie unter Kontrolle. Ein Gefühl der Kraft, der Fülle und der inneren Bewegung bei gleichzeitiger großer Be­ herrschtheit. Als er hereinkam, ging er entzückt zu den Erdbeeren, die ein guter Geist auf seinen kleinen Tisch gelegt hatte. Und plötzlich überkam mich das Gefühl: Wenn du später nicht mehr alles bekommen kannst, was du brauchst, klaue ich es für dich, mach dir da keine Sorgen. Pfui, ein ehr­ würdiger Psychologe mit Brille, der bei einem kleinen Mädchen solche unsozialen Gefühle weckt. So, und jetzt muss ich ins Bett, um Himmels willen. Ich würde diesem Tag gerne noch ein sinnreiches Abschiedswort mitgeben, aber ich will mich jetzt nicht mehr aufregen. Das passierte mir früher oft: Im letzten Moment des Tages wollte ich viele starke Gefühle in wenigen Worten bündeln. Langsam, ganz langsam jedoch beginne ich, eine Vorstellung von und ein Gefühl für die Trägheit (um zu vermeiden, das Wort «langsam» ein drittes Mal im gleichen Satz zu verwenden) in­ nerer Prozesse zu entwickeln. Der Tag gleitet in die Nacht über und die Nacht verwandelt sich langsam in den Tag und immer so weiter, man kann sich nicht plötzlich am Abend an den Schreibtisch setzen und ­sagen: «So, jetzt werde ich all diese schweren und fantastischen Dinge aufschreiben, bevor ich ins Bett gehe.» Gerade so, als ob dies vor einer bestimmten Frist abgeliefert werden müsste. Ich glaube, ich fange allmäh­ lich an, mich an mich selbst anzupassen, so verworren das auch klingen mag. Es gibt keine Teile mehr von mir, die wie durchgehende Pferde vor­ wärtspreschen, es gibt keine Teile und Gedanken mehr, die plötzlich aus dem großen Zusammenhang ausbrechen. Es ist, als versammelten sich alle Teile immer enger um das Zentrum herum und als bewegte sich alles zusammen im selben Rhythmus vorwärts. Die inspirierende Kraft, die von meinem Zentrum ausgeht, erreicht auch allmählich die äußersten Peripherien, hier schließt sich allmählich der Kreis, besonders nach ein paar Tagen der Niedergeschlagenheit spüre ich das doppelt so stark. Ein starkes ­Lebensgefühl und eine Liebe zum Leben verbreiten sich immer

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gleichmäßiger in meinem ganzen Wesen und durchdringen auch die kleinsten täglichen Handlungen. Und jetzt muss ich meine Hände entspannen und den Tag loslassen, das erfordert mühsame Anstrengung – jawohl, Entspannung erfordert zu­ erst Anstrengung  –, aber zuerst möchte ich doch noch kurz diese paar Worte von Chambers37 aufschreiben: «Es gibt Zeiten ohne Glanz und Sensation – nur alltägliche Routine, die übliche Arbeit. Die Routine ist Gottes Weg, uns zwischen Zeiten geistiger Hochspan­ nung zur Entspannung zu verhelfen. Erwarte nicht, dass Gott dich ständig an Seinen hohen Feiertagen teilnehmen lässt, sondern lerne, den Alltag mit Gottes Kraft zu meistern.»38 18. Juni [1942], Donnerstagmorgen, 8 Uhr. Dies ist mein Schmierheft. Eine Art Mülleimer für alle Arten von Abfall­ produkten meines geplagten Gemüts. Nicht mehr so schrecklich geplagt. Früher schon. Und wenn alle Abfallprodukte entsorgt sind, wer weiß, bringe ich es vielleicht irgendwann mal zu etwas Positivem auf diesen blauen Linien? «Sie sind sau-sau-seelisch geizig», sagte er mir mit vielen «s» und in ganz entrüstetem Tonfall, «daß Sie mir nie zeigen, was Sie schreiben.» Doch mir scheint, das wäre für ihn nur Zeitverschwendung. Für mich hingegen ist es später einmal vielleicht interessant, weil es mir Anknüpfungspunkte zu mir selbst bietet, um verschiedene Prozesse rekonstruieren zu können. Erst vor ein paar Tagen habe ich in einer Panikstimmung aufgeschrie­ ben, dass sich unsere Beziehung für mich so verstümmelt und unvollstän­ dig anfühlte. Jetzt kann ich mir dieses Gefühl nicht einmal mehr an­ nähernd vorstellen. Solche Krisen wird es ab und zu wieder geben und vielleicht werde ich dann wieder ein wenig Abfälle los. Ich glaube, es geht hier vielmehr um einen Überrest von falschen Vorstellungen, die ich in meinen widerstandslosesten Augenblicken in mir selbst zu weiß Gott was für Orgien dramatischer Gefühle aufpeitsche. Jetzt bin ich sozusagen wie­ der ganz in unsere Beziehung eingebettet, ich werde von ihr rundum um­ strömt und spüre noch tagtäglich das große Entwicklungspotenzial. Aber sobald eine Fantasie, die mit traditionellen Vorstellungen darüber vorbe­ lastet ist, wie es zwischen einem Mann und einer Frau sein sollte, ihre ­eigenen unkontrollierten Wege geht, kann sie eine ganze Wirklichkeit mit all ihren vielfältigen Möglichkeiten überfluten und zerstören.

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«Bin ich noch sehr ‹ich-haft›?», habe ich ihn gestern mitten auf der Straße im Regen gefragt. Er blieb stehen, sah mich nachdenklich an und sagte: «Ich glaube eigentlich nicht, dass du immer noch sehr ich-haft bist. Du bist doch für die anderen da.» Usw. «Vielleicht bist du doch noch etwas ich-haft», sagte er, «insofern du Menschen, die dich nicht besonders interes­ sieren oder die dich nicht anregen, links liegen lässt.» Aber in diesem Punkt habe ich ihm widersprochen: «Beispielsweise unterrichte ich alle meine Schüler mit der gleichen Intensität, mit ebenso viel Freude und Hingabe (um einmal ein großes Wort zu verwenden), unabhängig davon, wie lang­ weilig oder interessant ich sie finde. Ich stelle übrigens fest, dass ich immer wieder aufs Neue für die lernende Person und den Lehrstoff Feuer und Flamme bin (schon wieder so große Worte, aber ich gebe wirklich mein Bestes beim Unterrichten, ich bringe ihnen nicht einfach nur Vokabeln und Sätze bei, sondern stelle einen intensiven menschlichen Kontakt her, der sich wahrscheinlich auf die ganze Unterrichtsstunde positiv auswirkt).» Usw. Der einzige Bereich, in dem ich wahrscheinlich ab und zu noch «ichhaft» bin, ist die Beziehung zu ihm. Vielleicht sollten wir doch einmal da­ rüber sprechen. Vielleicht habe ich diesbezüglich doch noch allerlei vage Vorstellungen in meinem manchmal grübelnden kleinen Kopf, die er mit einem einzigen klaren Wort und einem einzigen Lachen wegweht. Zwischen meiner Schreibmaschine, einem Taschentuch und einer Spule schwarzem Garn verwelkt meine Teerose. Sie ist schon fast unerträglich schön und zart. In einem sanften, schicksalsergebenen Verwelken scheidet sie allmählich aus diesem kurzen, kalten Leben. Sie ist so zart, so anmutig und von einer solchen Grazie in ihrem langsamen Erlöschen, es bricht mir fast das Herz. Man sollte auch so eine Teerose in Ruhe sterben lassen, statt sie leidenschaftlich und verzweifelt zurückhalten zu wollen. Früher konnte ich angesichts einer verwelkenden Blume untröstlich und unvorstellbar unglücklich sein. Aber man muss auch lernen, das Verwelken in der Natur ohne Widerstand zu akzeptieren. Und wissen, dass es immer wieder ein neues Blühen geben wird.

«Wann darf ich Sie nun endlich einmal heiraten, eigentlich?»,

abends halb 12. fragte ich plötz­

lich mitten in unserem Gespräch. Jawohl, dieses Bett mit der Cretonnedecke ist für dieses Fräulein auf

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dem Schrank mit ihrem starrenden Blick und leblosen Lächeln. Für mich ist der harte Boden. So könnte ich schmollen. Ich muss ins Bett. Wenn ich den Mut hätte, den Mut, einen solchen Abend wie den heu­ tigen mit unerbittlicher Ehrlichkeit und Klarheit bis ins letzte Detail zu beschreiben, dann wäre das, und was davon an Werten noch übrig bliebe, das einzig Wahre. Die Unzulänglichkeit des Körpers, Gefühle auszudrücken – man sollte sich das gegenseitig ehrlich eingestehen und dann sehen, was noch übrig bliebe. Wir leben in einer ernsten und schwierigen Zeit. Wir können nicht mehr so ausgelassen und ausschweifend leben. Jede Ausschweifung, die auf Kosten der Nachtruhe geht, raubt Kräfte, die man am nächsten Tag gerade für die unerwarteten Schwierigkeiten braucht, vor die das Leben einen stellt. Es kam lange nicht mehr vor, dass wir ein einziger Mund ­waren und uns so sehr umarmten. Ich habe Liebe für tausend andere, für die ganze Schöpfung und für ein ganzes mit Studium und Produktivität gefülltes Leben – wie, das weiß ich noch nicht. Und er ist ein alter Mann. Und ich will ihn nicht heiraten, um mein Leben an seines zu binden, sondern um diese Zeit mit ihm durchzustehen. Wir müssen sie durchstehen. Und zwar sinnreich. Durch ihn erlebe ich alle Probleme, die es zwischen einem Mann und einer Frau geben kann, durch ihn, aber nicht mit ihm, weil es für ihn in diesem Bereich keine Probleme mehr gibt. Deshalb kann ich auch nicht mit ihm darüber reden. «Wir sind also sicher darauf angewiesen, uns am Äußersten zu prüfen und zu erproben, aber auch wahrscheinlich gebunden, dieses Äußerste nicht vor dem Eingang in das Kunstwerk auszusprechen, zu teilen, mitzuteilen: denn als Ein­ ziges, was kein anderer verstehen würde und dürfte, als persönlicher Wahn­ sinn sozusagen hat es einzutreten in das Werk, um drin gültig zu werden und das Gesetz zu zeigen, wie eine angeborene Zeichnung, die erst in der Transpa­ renz des Künstlerischen sichtbar wird. – Zwei Freiheiten der Mitteilung gibt es trotzdem, und es scheinen mir die äußerst möglichen zu sein: die angesichts des vollbrachten Dinges und jene innerhalb des eigentlichen täglichen Lebens, in dem man sich zeigt, was man durch die Arbeit geworden ist und sich da­ durch gegenseitig hält und hilft und (im demütigsten Sinn verstanden) bewun­ dert. Aber im einen wie im andern Fall muß man sich Ergebnisse zeigen, und es ist kein Mangel an Vertrauen, keine Entbehrung aneinander und kein Aus-

5. Juni 1942–3. Juli 1942 schluß, wenn man sich nicht die Werkzeuge des Werdens vorlegt, die so viel Verwirrendes, Quälendes und nur für die persönliche Verwendung Gültiges an sich haben.»

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Jawohl, meine Dame, du hast also den Anspruch, Kunstwerke zu schaffen. Und du glaubst, unter diesem Motto eine Art seelischen Geiz hegen zu dürfen. Du denkst: Später übergebe ich all meine Schätze der Gemein­ schaft. Und natürlich auf der anderen Seite die Unsicherheit, ob du tat­ sächlich «Kunstwerke» zu geben haben wirst. 28 Jahre und noch keine Form gefunden. Und doch – und doch. Mein Leben fängt gerade erst an. Ich habe alles gelebt, was es zu leben gab, und jetzt erst fängt es richtig an. Und jetzt ist es schon nach Mitternacht und ich gehe ins Bett. 19. Juni [1942], Freitagmorgen, halb 10. Weißt du, wovor mir graust bei dir, mein Kind? Dass deine Aufrichtigkeit so halbherzig ist und dein Ton oft so hochgestochen. Gestern Abend wollte ich noch ein paar Worte schreiben, aber eigentlich war es nur schwammiger Unsinn. Manchmal habe ich Angst davor, die Dinge beim Namen zu nennen. Weil dann vielleicht nichts mehr davon übrig bleibt? Die Dinge müssen es ertragen können, dass man sie präzise beim Namen nennt. Wenn sie es nicht ertragen können, haben sie keine Daseinsberech­ tigung. Man versucht, mit einer Art vager Mystik vieles im Leben zu ret­ ten. Mystik muss auf kristallklarer Ehrlichkeit beruhen, nachdem man die Dinge zuerst bis zur nackten Realität durchforscht hat. Menschenskinder, das ist ja mal wieder alles ganz klar. Und immer wieder muss ich dich auf dasselbe aufmerksam machen. Du kommst abends nach Hause, du hast einiges erlebt, ein Gespräch, eine Umarmung, vielleicht hat sich auch zögernd eine neue Erkenntnis ange­ bahnt, du hast das Tagebuch gelesen, das ihm eine Patientin anvertraut hatte und das auch wieder viel Anlass zum Nachdenken gab. Ich habe in äußerst pittoresker Stellung ein Stenogramm aufgenommen, er saß in sei­ nem Sultanssessel am Fenster hinter der verblutenden Geranie und ich saß auf dem Boden, zwischen seine Beine gequetscht, und benutzte seinen Bauch als Schreibtisch. Einen Teil von Leonies Beichte hatte ich ihm an einen unsittlichen Ort zwischen die Knöpfe seiner Hose gesteckt, wo ­dieser wie eine Friedensfahne flatterte. Und so weiter. Eigentlich passiert an solchen Abenden eine Menge zwischen uns, auch wenn seine Haut grau und von Müdigkeit gealtert ist und ich lieber an seinen gemütlichen

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Bauch gelehnt geschlafen als ein Stenogramm aufgenommen hätte. Wenn ich dann jeweils nach Hause komme, bin ich mir sicher, ganz großartige Dinge erlebt zu haben, für die ich dann noch schnell eine unsterbliche Formulierung finden will. Ich möchte nicht in einfachen und notfalls ­unbeholfenen Worten niederschreiben, was ich erlebt habe, denn dazu ist ein Tagebuch ja eigentlich da, sondern am liebsten aus den simpelsten Er­ lebnissen direkt Aphorismen und ewige Weisheiten schöpfen. Mit weniger gebe ich mich sicher nicht zufrieden. An diesem Punkt fangen schon die Unbestimmtheit und die Verallgemeinerung an. Ich finde es weit unter meiner hochgeistigen Würde, über meinen Bauch zu schreiben (was für eine seltsam plumpe und derbe Bezeichnung eigentlich für diesen höchst wichtigen Körperteil). (Als er fragte, wie es mir eigentlich gehe, sagte ich: «Ich kann doch sicher nicht Tagebuch führen über meinen Bauch.» – «Das soll­ ten Sie ja tun», sagte er, «gerade das.») Wenn ich etwas über meine Stim­ mungen am gestrigen Abend schreiben wollte, müsste ich zuerst ganz ehr­ lich und objektiv schreiben: Es war einen Tag vor der Menstruation und dann bin ich nur halbwegs zurechnungsfähig. Hätte mich Han nicht um halb eins ins Bett gejagt, säße ich jetzt noch am Schreibtisch. Und ich glaube nicht, dass es sich dabei um wirklich schöpferische Momente han­ delt, sondern nur um scheinbar schöpferische Momente. Alles in mir ist dann in Aufruhr und Bewegung. Und dann überkommt mich eine Un­ ruhe, eine Unkonzentriertheit und manchmal auch eine Verwegenheit, die auf diesen monatlichen, leider in meinem Fall 3-wöchentlichen Vor­ gang südlich meines Zwerchfells zurückzuführen ist. Und derselbe Vor­ gang bestimmte bei mir auch verschiedene Reaktionen gestern Abend. An diesen Tagen kurz vor der Menstruation tut es am meisten weh, vielleicht nicht direkt weh, aber dann kann ich mich am schlechtesten gegen meine erotischen Fantasien wehren. Am Nachmittag habe ich mich nach meinen Schülern und nach Dicky mit den Erdbeeren und nach Pfarrer Schipper und seinen Negern in Süd­ amerika ein wenig auf diese blaue Diwandecke gelegt und mich ausgeruht, und ich muss zugeben: Es waren wilde Gedanken. Und in solchen Fanta­ sien fühlt man sich vollständiger und mit größerer Hingabe körperlich mit dem geliebten Mann verschmolzen, als dies in der Realität der Fall sein kann. Das wissen wir jetzt aber allmählich auch. Und an einem solchen Tag vor der Menstruation bin ich häufig un­ ruhiger als sonst. Aber es ist eine Unruhe, die nicht aus wirklichem Elan und Leidenschaft entspringt, sondern eher aus Müdigkeit und Unausge­

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glichenheit. Und jetzt wird mir plötzlich auch klar, dass die Gesten und Handlungen, die aus einer solchen Unruhe entspringen (eigentlich ent­ springen sie nicht, sondern sie werden künstlich erzeugt), nicht lebensnot­ wendig sind (ist das wirklich Niederländisch, zum Donnerwetter?). Gerade an Tagen wie diesen bin ich manchmal auf Körperkontakt aus, aber es wird mir plötzlich klar, dass ich gerade an solchen Tagen dem nicht nachgeben darf, weil das Verlangen nach diesem Kontakt nur einem körperlichen Be­ dürfnis entspringt, und für das Verlangen einer Frau ist das nicht ausrei­ chend, wirklich nicht. Hinzu kommt noch, dass der Körper zwar in solchen Augenblicken Forderungen40 in die Welt hinausschickt, diese Forderungen jedoch, sollten sie wider Erwarten erfüllt werden, gar nicht rechtfertigen kann. Hinter diesen Wünschen und Sehnsüchten, die in einem unbeobach­ teten Moment aus diesem ruhelosen Körper herausbrechen, scheinen nicht einmal wirkliche Lebenskraft und wirkliche Hingabe zu stehen. Diese zer­ mürbende Unruhe führt dich dann auf Irrwege und ab einem bestimmten Punkt musst du nicht mehr jedes Mal in die Falle tappen. Als ich mich gestern Abend von ihm verabschiedete, streichelte er  – mit einer fast achtlosen Bewegung – meine Brust und er sagte (auf Net­ tys41 Tagebuch Bezug nehmend, das viele aufregende Erzählungen über das Streicheln von Brüsten enthält) so in etwa: «Auf Sie (das ‹Sie› in sol­ chen Situationen ist wirklich pikant) macht das doch sicher nicht so einen großen Eindruck, was? Sie sind doch nicht noch lange nachher erregt davon, gelt?» Natürlich bin ich das nicht. Seine streichelnden Hände sind letzten Endes Teil unserer alltäglichen Kommunikation; selbst wenn er mir einen Geschäftsbrief diktiert, streicheln seine Hände, diese unablässigen Leiter von Wärme und Zärtlichkeit, meine Oberschenkel, meine Brust, meine Haare oder meine Wimpern. Es ist unsere alltägliche Kommunikation und ich wäre unehrlich, wenn ich behaupten würde, dass mich das in ständige Erregung versetzen würde. Aber ich stelle mir [manchmal vor, dass e]r mich erregt und aufreizt, und d[ass er mich da]nn mittendrin stehen lässt, ohne die Ko[nsequ]enzen tragen zu wollen. Aber – und dar­ auf komme ich immer wieder zurück  – dies resultiert aus einer falschen Vorstellung, aus einer Art Idée fixe, die im Grunde spießbürgerlich ist, so paradox das auch klingen mag. Ich will ja im Grunde meines Herzens nicht einmal ein sexuelles Verhältnis. Mein Körper verlangt schon ständig nach Zärtlichkeit und diese finde ich bei ihm immer wieder aufs Neue, und meine sexuellen Ansprüche, nun ja, sie sind nicht so quälend; in den wenigen Fällen, in denen sie aufleben, kann ich sie überwinden.

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Es ist, glaube ich – Ruhe, ich glaube, dass ich mich jetzt dem Ursprung nähere: Man hat irgendwo im Hintergrund seines Denkens oder Fühlens oder wovon auch immer eine Vorstellung davon, was es alles braucht, da­ mit das Leben vollständig ist. Und der Faktor der Sexualität gehört natür­ lich auch dazu. Man meint, man sei dem Leben gegenüber verpflichtet und das Leben sei uns gegenüber verpflichtet, diese Sexualität zu befrie­digen. Und, um ganz ehrlich zu sein, für einen selbst vielleicht auch das Ge­ fühl: Bin ich denn ein normaler und vollständiger Mensch, wenn in eine Beziehung der Faktor der Sexualität nicht auch «hineinbezogen» wird? Und vielleicht habe ich deshalb manchmal dieses Gefühl der Unvoll­ ständigkeit und «Verstümmelung» in Bezug auf unsere Beziehung. Nur weil dieser eine Faktor fehlt? Und spielt da dann nicht auch dieses Kli­ schee-Gefühl (in unserer Beziehung wirklich ein Klischee-Gefühl) eine Rolle: «Dann liebt er mich sicherlich nicht so sehr, wenn er mich nicht ganz will.» Ich muss es mir immer wieder aufs Neue sagen: Es handelt sich um eine viel zu starke Betonung unwesentlicher Aspekte. Aber ich glaube, dass ich allmählich darüber hinwegkomme und davon befreit werde. Aber wo in Gottes Namen bin ich mit meiner Ausführung gelandet? Ach ja, er fragte mich also, ob ich davon sehr lange erregt bleibe. «Nein, sicher nicht», lachte er darauf unbekümmert. Und ich hätte natürlich genauso unbekümmert sagen müssen: «Natürlich nicht!», und das hätte der Wahr­ heit entsprochen, und dann wäre ich mit meinem rumpelnden Bauch nach Hause gegangen und hätte ausgeschlafen. Aber ich sagte sehr sphinxhaft: «Ach, was wissen Sie eigentlich von mir», und ich starrte ein wenig geheim­ nisvoll an ihm vorbei in die Ferne, d. h., ich blickte auf die Tage, die hinter mir lagen und an denen ich so viel «gelitten» hatte wegen meiner Gefühle. Und plötzlich waren wir in ein kleines spielerisches Rangeln verwickelt, unsere Körper stürzten sich aufeinander und auf den Boden und unsere Münder verschmolzen zu einem einzigen Mund und wollten sich nicht mehr trennen, und sein Körper streckte sich meinem entgegen und schickte seinen kleinen Abgesandten, den ich in meine streichelnden Hände nahm und von seiner übermäßig schweren Last befreite. «Bei einem Mann ist das eine Art Mechanismus», sagte er neulich ein­ mal, «bei einer Frau ist es ein Prozess.» Deshalb muss die Frau in einer Liebesbeziehung die führende und erziehende Rolle übernehmen. Und in solchen Momenten wie gestern Abend ist mein Mund gerade zur Hingabe bereit, aber mein Körper noch lange nicht, es ist wirklich ein Prozess. Bei einem Mann ist das anders, die Sexualität durchdringt nicht sein ganzes

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Wesen, sie befreit ihn kurz und dann vergisst er es schon wieder, es geht alles schneller. Er nimmt schneller, manchmal hat sein Körper, der eigenen mechanischen Gesetzen gehorcht, schon genommen, noch bevor er sich in seinem Gefühl dessen bewusst ist. Bei uns Frauen hingegen – um jetzt einfach mal zu verallgemeinern – steht der Moment der Hingabe am Ende eines langsamen Prozesses, in dem das ganze Seelenleben eine mindestens ebenso große Rolle spielt wie der Körper an sich. Wir sollten deshalb die Tatsache, dass ein Mann eine Frau nimmt, nicht überbewerten. Für uns ist das ein Akt, der eine Beziehung vielleicht krönt und vollendet, für einen Mann ist es ein Moment, der nicht so organisch in das Ganze verwoben ist. Wir sollten seine Liebe zu uns nicht zu sehr an seinem körperlichen Verlangen nach uns messen. Dies geschieht manchmal aufgrund eigener mechanischer Gesetze. Nach seiner Liebe müssen wir woanders suchen. Für unser weibliches Selbstwertgefühl sollte es kein Maßstab sein, ob und wie oft sein Körper den unseren begehrt. Sein Körper wird nahezu automatisch auf den Körper jeder Frau re­ agieren, der sich seinem entgegenstreckt, bei ihm sind diese Dinge anders. Und ich glaube, dies ist eine Quelle vieler Missverständnisse zwischen Männern und Frauen: die Tatsache, dass die Frau einem Moment zu viel Bedeutung beimisst, der für den Mann lange nicht so bedeutend ist; ­zumindest kann man daraus nicht viel über sein Gefühlsleben erfahren. Ich weiß, dass ich alles noch unklar aufschreibe, aber mir selbst wird es allmählich ganz klar, so klar, dass vielleicht wieder viel Überflüssiges von mir abfallen wird und dass der Weg für wirklich produktives Arbeiten und Leben immer freier und freier wird. Ich hoffe jetzt, einmal «endgültig» mit diesen Dingen abschließen zu können, damit ich sie nicht wie Ballast die ganze Zeit mit mir herumschleppen muss. Wir lagen dann noch eine Weile auf dem harten Boden und plauder­ ten miteinander in der Ecke seines Zimmers, in die wir zufällig gefallen waren. Und wir sprachen noch eine ganze Weile. Da fragte er sich plötz­ lich: «Ob ich meine Kinder jemals wieder sehen werde?42 Es ist schon drei Jahre her» – usw. Und ein wenig später: «Ihr in Eurem Kreis denkt wohl oft, daß ich ein einsamer Mann bin?» «Ich fühle mich aber nie einsam»,

sagte er. «Und würdest Du Dich auch

nicht einsam fühlen allein in einer Gefängniszelle?» «Ich glaube es auch nicht»,

sagte er, «aber man kann das nicht im voraus wissen, das muß man noch be­ weisen.» – Und so weiter und so fort.

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Dann ging ich mit einer Tomate und einem Stück Marzipan, das ver­ mutlich aus weißen Bohnen hergestellt wurde, nach Hause, und im Regen wartete um halb 12 in der Nacht mein Fahrrad auf mich. Ich war weder zufrieden noch unzufrieden, ich war nur ein bisschen unschlüssig, ein bisschen müde und ein bisschen gar nichts. Und ich dachte daran, dass diese Umarmung auf dem harten Boden nicht an den Umarmungen aus meinen erotischen Fantasien auf der blauen Sofadecke an diesem Nach­ mittag hätte gemessen werden können, da die Wirklichkeit sich nun ein­ mal nie mit der Fantasie messen darf, aber dafür hat man dann das Privi­ leg, dass etwas Wirklichkeit geworden ist. Und als ich nach Hause kam, hätte ich natürlich ins Bett gehen sollen, aber meine Ruhelosigkeit (und nicht das wirkliche Bedürfnis, mich aus­ zudrücken) trieb mich an diesen Schreibtisch. Und das muss ich auch endlich ein für alle Mal lernen: Dieser menstruellen Ruhelosigkeit darf ich nicht nachgeben. Dahinter steckt keine wirkliche Lebenskraft. Ich muss mich dann mit höchster Selbstbeherrschung «zusammennehmen», um nicht in alle Richtungen zu zerspringen und um nicht meine Zeit rücksichtslos mit einem unbestimmten Nichts zu verplempern. Meiner Meinung nach waren die Reaktionen auf diesen kurzen, aber intensiven Moment des Körperkontaktes gar nicht so intensiv; es kam weder zu in­ tensiver Heiterkeit noch zu intensiver Traurigkeit. Und aus diesem Grauin-Grau wollte ich plötzlich tiefgründige Wahrheiten erschaffen, aus diesem durchgedrehten Blutkreislauf wollte ich zeitlose Weisheiten ­ schöpfen, aus derselben Ruhelosigkeit, die mich auch schon in dieses Rangeln mit ihm getrieben hatte, hinter dem gestern Abend eigentlich keine wirkliche Leidenschaft steckte, vielleicht zwar schon in meinen Ge­ fühlen, aber mein Körper konnte eigentlich nicht die notwendigen Kräfte für diese Leidenschaft aufbringen, die daher eigentlich unbegründet war. Und genauso unbegründet war mein plötzlicher Wunsch, etwas zu schrei­ ben. Und in solchen Momenten muss man die Zügel der Selbstbeherr­ schung ergreifen und merken, dass hinter dieser Ruhelosigkeit und Ge­ triebenheit keine echte Lebenskraft steckt, der du nachgeben solltest, sondern dass sie nur von einem etwas wild gewordenen Blutkreislauf in den Tagen vor der Menstruation herrührt. Und es ist überhaupt nichts mystisch daran. Etwas über Ironie. Auch hier hängt alles davon ab, ob man sie als Waffe zum Selbstschutz oder als eine von vielen Möglichkeiten, sich dem Leben

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zu nähern, einsetzt. Rilke, der an seinen jungen Dichter schrieb, drückte es besser aus: «… Ironie: Lassen Sie sich nicht von ihr beherrschen, besonders nicht in unschöpferischen Momenten. In schöpferischen versuchen Sie es, sich ihrer zu bedienen, als eines Mittels mehr, das Leben zu fassen. Rein gebraucht, ist auch sie rein, und man muß sich ihrer nicht schämen; und fühlen Sie sich ihr zu vertraut, fürchten Sie die wachsende Vertraulichkeit mit ihr, dann wenden Sie sich an große und ernste Gegenstände, vor denen sie klein und hilflos wird. Suchen Sie die Tiefe der Dinge: dort steigt Ironie nie hinab, – und wenn Sie so an den Rand des Großen führen, erproben Sie gleichzeitig, ob diese Auf­ fassungsart einer Notwendigkeit Ihres Wesens entspringt. Denn unter dem Einfluß ernster Dinge wird sie entweder von Ihnen abfallen (wenn sie etwas Zufälliges ist), oder aber sie wird (so sie wirklich eingeboren Ihnen zugehört) erstarken zu einem ernsten Werkzeug und sich einordnen in die Reihe der Mit­ tel, mit denen Sie Ihre Kunst werden bilden müssen.»

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«Demnächst werden wir hier Fettflecken auf deinen Büchern und Tinten­ kleckse auf dem Butterbrot haben», sagt Pa Han, «du wärst dazu im­ stande.» Die Familie isst noch zu Mittag, ich habe meinen Teller beiseite­ geschoben und schreibe über Rilke, mitten zwischen den außergewöhn­ lichen Erdbeeren und dem sonderbaren Kaninchenfutter, das wir essen … Und jetzt ist das Zimmer leer, ich bin mit Krümelchen auf dem Tisch­ tuch und einem einsamen Radieschen und ein paar schmutzigen Serviet­ ten zurückgeblieben. Käthe wäscht bereits in der Küche ab. Es ist jetzt halb 2. Und jetzt ist es schon 10 vor 2. Zuerst einmal kurz abwaschen mit ­Käthe. Und jetzt sitze ich wieder hier mit meinem Rilke zwischen den Krümelchen und den schmutzigen Servietten und diesem einen roten R ­ adieschen, wahrlich sehr malerisch. Ich werde jetzt eine Stunde schlafen, bis sich die schlimmsten Bauchschmerzen gelegt haben. Um 5 Uhr kommt ein von Becker gesandter Mann, der vermutlich Russischunterricht neh­ men will. Heute Abend noch ein Stündchen mit Hetty, um Puschkin zu lesen. Ich muss nicht in Schlangen stehen und brauche mich kaum um den Haushalt zu kümmern. Ich glaube nicht, dass es in Holland einen einzigen Menschen gibt, der unter solchen guten Bedingungen wie ich lebt, zumindest kommt es mir so vor. Ich fühle schwer die Pflicht auf mir lasten, all diese Zeit, die ich für mich verwenden darf und in der ich nicht von Sorgen um alltägliche Dinge aufgefressen werde, gut zu nutzen, in

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jeder Minute. Tag für Tag finde ich erneut, dass ich nicht konzentriert und intensiv genug arbeite. Ich habe wirklich Pflichten, moralische Pflichten. abends 10 Uhr. Ich habe Hannekes blaues Schulheft44 vor mir liegen, in dem sie sich  – wahrscheinlich zum ersten Mal seit Jahren – nach dieser ersten Analyse­ stunde bei S. noch sehr schüchtern diesen blauen Linien anvertraut. Und die ersten Zeilen vom 28. April lauten: «Ich fühle mich unbeholfen, hölzern angesichts dieses Hefts. Angetrie­ ben vom Ratschlag eines anderen, dem ich halb abwesend zuhörte, sodass zuweilen die Worte gar nicht zu mir durchdrangen, von denen aber etwas ausging, das ich als wahren Teil der einzigen Lebensform erkannte, die in dieser Welt von Bedeutung ist.» Ich schreibe dies wegen des Unterstrichenen hier ab. Ich musste daran denken, als auf einmal dieser blonde, offenherzige Junge45 hier in meinem Zimmer saß, der vorbeikam, um mir die Grüße von Leonie aus Den Haag auszurichten. In dieser einen Stunde, die er mit S. verbracht hatte, hatte er etwas erkannt, das er genauso dringend benötigte wie Brot. «Für mich sind alle uninteressant und langweilig», sagte er, «und ich habe das Gefühl, dass ich bei diesem Mann etwas finden kann, was ich suche. Wir Intellek­ tuellen …» usw. Leider gibt es immer noch zu wenige, die so sind wie er. Plötzlich spürte ich wieder ein großes Verantwortungsbewusstsein, ihm niemals ­etwas von seiner Kraft zu rauben, weil er für so viele, für so schrecklich viele Menschen so wichtig ist wie Brot und weil er in der heutigen Zeit eine wirkliche Berufung hat. Für diesen Jungen muss auch eine Stunde Zeit pro Woche gefunden werden. Es muss einfach eine gefunden werden. Heute Nachmittag noch Mischa. Berichtete in so ruhigen, wohlbedach­ ten und unverblümten Worten von seinen Reaktionen auf die Massenver­ haftungen. «Man ist entsetzt darüber, dass es solche Menschen tatsächlich gibt», sagte er. «Es waren Jungen in meinem Alter und ich war schockiert, als ich ihre ausdruckslosen Gesichter sah. Die sind jetzt für nichts zu­ gänglich, weißt du, selbst wenn ich sagte, meine Mutter liege im Sterben, hätte sie das kaltgelassen. Ein Jude ist für sie kein Mensch. Und sie sahen aus, als hätten sie jederzeit Lust auf ein Blutbad. Mitten auf der Bree­ straat46 sagte einer von ihnen: ‹Wenn du wegläufst, schieße ich dich über den Haufen.›»

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Er muss in dieser kurzen Zeit sehr gelitten haben, besonders, weil er an Vater und Mutter dachte. Der Junge ist überhaupt viel zu «leidensfähig». Deshalb bricht es mir manchmal auch fast das Herz bei einigen seiner Worte, Gesten und Gesichtsausdrücke. Ich habe Hannekes ganzes Heft mit solcher Faszination und ohne Unter­ brechung durchgelesen, dass ich mich freuen kann, mich so sehr konzen­ trieren zu können. Es ist ein großer Akt des Vertrauens von S., mir regel­ mäßig Einblick in all das zu gewähren, was andere ihm als ihre intimsten Dinge anvertrauen. Das ermöglicht mir einen Blick hinter die Kulissen des Äußeren von Menschen und dabei lerne ich mehr als aus vielen ­Büchern und Studien. Und wenn ich diese Menschen selbst sehe, habe ich vergessen, wirklich vergessen, was ich über sie gelesen habe. Hinter dem Wunsch, alles von anderen lesen zu wollen, steckt keine Sensationslust. Es ist eine Schule, die ich durchlaufe, und ich bin dankbar dafür, dass er mich so stark teilhaben lässt an allem, was ihm anvertraut wird. Wie ich hier so sitze, glaube ich nicht, dass ich jemals in der Lage sein werde, etwas zu schreiben. Ich glaube nicht, dass ich in diese Richtung begabt bin. Diese Erkenntnis macht mich nicht unglücklich. Das Leben ist so sehr in mir wie ein starker, ununterbrochener Strom, es wird immer stärker ausgeformt und füllt mich, mein ganzes Dasein, meine Tage und mein Denken so vollkommen aus, dass ich mich nach nichts anderem sehne, als so weiterzumachen. Siehst du, das ist jetzt wieder das Gleiche wie gestern Abend, einfach in einer etwas anderen Form. Ich habe mich in das Leben eines anderen Menschen vertieft, habe das ganze blaue Schulheft durchgelesen, hatte Hanneke immerfort vor Augen, wie ich sie in verschiedenen Phasen ihres Lebens gekannt habe, doch nur von außen. Vor allem, wie sie zu uns, zu S. und mir kam an jenem Abend, als sie den Brief abgab: mädchenhaft schüchtern mit etwas sehr Sanftem und beinahe Feuchtem in ihren ­Augen, die ganze Härte und Kantigkeit hatte sie verloren. Jetzt habe ich also heute Abend tiefe Ergriffenheit gespürt und würde diese gerne sofort in ein paar äußerst beeindruckende Worte umwandeln. Aber das kann ich nicht. Und deshalb habe ich geschrieben: Ich habe kein Talent zum Schreiben. Das ist zumindest auch etwas Beeindruckendes. Gute Nacht.

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Doch noch nicht gute Nacht. Eigentlich ist es wie folgt, denke ich plötz­ lich: Ich habe wahrscheinlich wirklich kein Schreibtalent. Habe nur das Talent, wenn man das überhaupt so nennen darf, all das zu erleben, was man in diesem Leben als Mensch erleben, fühlen und erfahren kann; nicht nur auf meine eigene Art und Weise, sondern auch auf diejenige vieler anderer. Die größten Laster sind mir nicht fremd, aber daneben kenne ich auch das größte Gottvertrauen, Opferbereitschaft und Menschenliebe. Und ich erlebe alles selbst an Leib und Seele, mit blutigem Ernst und durch und durch. Ich denke nicht, dass ich ein flottes Schreibtalent habe. Ich könnte vielleicht – wenn ich müsste – flotte und witzige Dinge schrei­ ben, Spielereien, aber die haben nichts mit meinem tieferen Wesen zu tun, das sind die leichten Schaumkronen – aber darunter befindet sich doch das Meer? Ich kann nicht schreiben, aber ich erlebe dieses Leben in jeder Minute in all seinen Windungen, Aspekten, Farben und Klängen an Leib und Seele. Ich erlebe die Menschen und ich erlebe auch das Leiden der Menschen. Und aus solcher Erfahrung heraus werden sich vielleicht eines Tages mühsam Worte hochkämpfen, die ich aussprechen muss und die einer so wahren Quelle entspringen, dass sie ihren Weg finden müssen. Vielleicht werden es sehr unbeholfene Worte sein, aber sie werden gesagt werden wollen. Ich habe auch Angst vor einer gewissen Leichtigkeit in meinem Schreiben. Ich glaube, dass ich dazu in der Lage wäre, aber es ist, als ob ich mich dagegen sträuben würde, weil ich damit doch nicht an diejenigen Dinge herankommen werde, um die es geht. Ich werde meine Worte schon noch finden, oder, besser gesagt, meine Worte werden mich vielleicht eines Tages finden; vielleicht trifft meine Erfahrung irgendwann einmal die Worte, die sie befreien werden. Ich kann zwar nicht schreiben, aber ich kann leben. Und aus meinem wahren Leben werden auch eines Tages Worte entstehen. Samstagabend [20. Juni 1942], halb 1. Es war ein guter Tag. Nicht viel gearbeitet. Frühmorgens bei S. Und so weiter. Und jetzt stehen die Fenster des Wintergartens sperrangelweit ­offen und der Sommerabend befindet sich mitten im Raum. Auf meinem Schreibtisch stehen stolz und leuchtend japanische Lilien. Die kleine Tee­ rose daneben ist so zerbrechlich, unscheinbar und lebensmüde. Zum ersten Mal seit langer Zeit war es wieder ein schöner, vertrauter Abend mit Han. Ohne allzu viele Worte. Gewelltes graues Haar über einem zerbrechlichen Gesicht. Ich finde, dass er in letzter Zeit stark gealtert ist.

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Und so erlebt man in seinem jungen Leben, dass man zusieht, wie ein feuriger und verliebter Liebhaber allmählich zu einem alten Mann wird. Wenn es mir gelingt, mich innerlich von jeglichen Forderungen an ihn gänzlich zu befreien, merke ich, dass ich ihn sehr liebe. Wir saßen heute Abend mit einer Zeitung, einer Pfeife, einem Buch und einer Tasse Scho­ kolade in Frieden und Freundschaft vor den geöffneten Fenstern des Win­ tergartens, als wären wir seit 25 Jahren verheiratet. Ich habe ein Buch über Russland gelesen.47 Allmählich verstehe ich dieses Land immer mehr und ich fange auch an, auf meine Art zu ergrün­ den, was es Europa bieten kann. Das ist Studienmaterial für ein ganzes Leben. Ich werde schon noch dazu kommen. Und ich werde auch durch Russland hindurchziehen. Westeuropa, das kenne ich – das bin ich selbst. Aber ich habe auch einen Teil von Russland im Blut. Ich werde dieses Land sicherlich bis in den letzten Winkel bereisen, seine Menschen be­ trachten und ergründen, und dann werde ich Europa davon erzählen. Manchmal kommt es mir vor, als ob sich alles in mir auf Russland vor­ bereiten würde. Als ob ich dafür mein gesamtes gesammeltes Wissen und mein Einfühlungsvermögen, insbesondere Letzteres, benötigte. Aber es entwickelt sich in diese Richtung. Ich habe eigentlich gar keine Zukunfts­ visionen dazu, nur ein wachsendes Vertrauen und die Gewissheit, dass in diesem Bereich zukünftig eine Aufgabe für mich bereitliegt. Ich gehe jetzt ins Bett. Es war so ein guter Tag, trotz der Tatsache, dass ich nicht gerade viel gearbeitet habe, heute Nachmittag meine Zeit ver­ schlafen, den Vormittag verquatscht und starke Kopfschmerzen habe. Vielleicht kann ich meine heutige Verfassung am besten charakterisie­ ren, indem ich sage, dass der Himmel in mir genauso weit aufgespannt war wie derjenige draußen an diesem vollkommen stillen Sommerabend. Zum Erniedrigen braucht es immer zwei. Einer, der erniedrigt, und einer, den man erniedrigen will, und vor allem: der sich erniedrigen lässt. Wenn Letzterer fehlt, dann ist die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann lösen sich die Erniedrigungen in Luft auf. Was übrig bleibt, sind nur lästige Verordnungen, die das tägliche Leben beeinflussen, aber keine Er­ niedrigungen oder Unterdrückungen, die die Seele bedrücken. Man muss die Juden zu dieser Einstellung erziehen. Ich radelte heute Morgen die Stadionkade entlang, genoss den weiten Himmel am Stadtrand und ­atmete die frische, nicht rationierte Luft ein. Und überall Schilder, die den Juden die Wege in die freie Natur versperrten. Aber über diesem Teil des

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Wegs, der uns noch bleibt, erstreckt sich auch der gesamte Himmel. Man kann uns nichts anhaben, man kann uns wirklich nichts anhaben. Man kann es uns ein wenig schwermachen, man kann uns ein wenig der mate­ riellen Güter und unserer äußeren Bewegungsfreiheit berauben, aber letz­ ten Endes betreiben wir selbst den größten Raubbau an uns, wir berauben uns selbst unserer besten Kräfte durch unsere falsche Einstellung. Weil wir uns verfolgt, gedemütigt und unterdrückt fühlen. Durch unseren Hass. Durch Angeberei, die unsere Angst verbirgt. Man darf gewiss manchmal traurig und niedergeschlagen über das uns Angetane sein, das ist mensch­ lich und verständlich. Aber trotzdem: Den größten Raubbau an uns be­ treiben wir selbst. Ich finde das Leben schön und ich fühle mich frei. Der Himmel ist in mir genauso weit aufgespannt wie derjenige über mir. Ich glaube an Gott und ich glaube an die Menschen, und allmählich traue ich mich, dies offen und ohne falsche Scham zu sagen. Das Leben ist schwer, aber das ist nicht schlimm. Man muss beginnen, sich selbst ernst zu neh­ men, der Rest ergibt sich dann von selbst. Und «an sich selbst arbeiten» ist wirklich kein krankhafter Individualismus. Der Frieden kann erst zu ­einem wirklichen Frieden werden irgendwann später, wenn zuerst jedes Individuum in sich selbst Frieden schließt und den Hass gegen die Mit­ menschen, welcher Rasse oder welchen Volkes auch immer, in sich ausrot­ tet, besiegt und in etwas verwandelt, das kein Hass mehr ist, vielleicht auf lange Sicht sogar in Liebe, oder ist das etwa zu viel verlangt? Dennoch ist es die einzige Lösung. Und so könnte ich noch seitenweise fortfahren. Ich kann auch auf­ hören. Dieses Stückchen Ewigkeit, das man in sich trägt, kann man so­ wohl in einem einzigen Wort als auch in zehn dicken Standardwerken abhandeln. Ich bin ein glücklicher Mensch und preise dieses Leben, ja­ wohl, im Jahre des Herrn, noch immer des Herrn, 1942, dem wievielten Kriegsjahr? Und jetzt gute Nacht, ich hoffe, morgen früh um 8 Uhr wie­ der bei meinen japanischen Lilien und meiner sterbenden Teerose zu sein. Sonntagmorgen [21. Juni 1942], 8 Uhr. Wie war das heute Morgen, bevor ich aufgewacht bin? Ein fast greifbares Gefühl. Es war, als wären in mir alle Räume und Weiten verschlossen, die nach außen ausbrechen wollten, um sich zu weiteren, zu immer weiteren Räumen und Weiten zu entfalten. Es war, als wären diese Weiten greifbare Dinge, die ich herauslassen müsste. Sie waren in mir wie scharrende Pferde in einem zu engen Stall. Dieses Raumgefühl in mir ist sehr stark, und

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heute Morgen, kurz bevor ich aufwachte, war es stärker und greifbarer denn je. Als dehnten sich in mir endlose Steppen aus; ich sehe sie, ich fühle sie und ich bewege mich über sie fort. Könnte dieses Gefühl heute früh in mir so stark gewesen sein wegen dieses Buches über Russland, das ich gestern Abend gelesen habe? «Die russische Leistung» von Karl Nötzel. Ich möchte einige Sätze daraus übernehmen: «Seine menschheitliche Aufgabe scheint ja tatsächlich darin zu liegen, der übrigen Menschheit vorzumachen, bis zu welchen Grenzen materieller Be­ drängtheit, Bedrohtheit und Unsicherheit der Mensch sich immer noch als Mensch zu behaupten vermag, und wie weit demnach die Möglichkeit besteht, den Menschen durch reine Gewaltmittel zu beherrschen, ohne seinen Lebens­ willen zu brechen.»

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Und jetzt hör auf mit dieser Abschreiberei, ich könnte ja das ganze Buch abschreiben, und es ist doch auch mein Eigentum, nicht wahr? Was ich schön finde, möchte ich immer gerne abschreiben. Ich schreibe dann klarer und sorgfältiger als sonst und verweile bei jedem Wort lange und andächtig. Ich halte jedes Wort einen Moment lang in meinen Händen, dann lasse ich es wieder los und gehe zum nächsten Wort über. Mein Frühstück steht neben mir: ein Glas Buttermilch, zwei Scheiben Graubrot mit Butter, Gurke und Tomate. Ich habe bewusst auf den Be­ cher Kakao verzichtet, den ich mir am Sonntagmorgen jeweils heimlich genehmige, und will mich zu einem mönchischeren Frühstück erziehen, weil es mir besser bekommt. Auf diese Weise spüre ich meine «Gelüste» in den verborgensten und unscheinbarsten Bereichen und rotte sie aus. Es ist besser. Wir müssen lernen, völlig unabhängig, immer unabhängiger von den körperlichen Bedürfnissen zu werden, die über das Allernotwendigste hinausgehen. Wir müssen unseren Körper dazu erziehen, dass er nicht mehr als das Allernötigste verlangt, vor allem im Bereich der Ernährung, denn es sieht so aus, als würden die Zeiten in dieser Hinsicht hart werden. Nicht werden, sie sind es bereits. Und doch bin ich der Meinung, dass es uns immer noch erstaunlich gut geht. Aber man kann sich in Zeiten ver­ hältnismäßigen Überflusses leichter zu einer gewissen Enthaltsamkeit er­ ziehen, freiwillig, als in Zeiten der Knappheit, gezwungenermaßen. Was man freiwillig an sich verändert hat, hat ein stabileres Fundament und ist beständiger als das, was unter Zwang zustande gekommen ist. (Erinnere dich an Professor Becker und seine kleine Schachtel mit mickrigen Ziga­ rettenstummeln.) Wir müssen so unabhängig von materiellen und äußeren Dingen werden, dass der Geist unter allen Umständen seinen Weg weiter­

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verfolgen und seine Arbeit verrichten kann. Und deswegen: keine Schoko­ lade, sondern Buttermilch. Jawohl! Meine japanischen Lilien mit ihren weit geöffneten orange-roten Kel­ chen stehen dort, so kapriziös und bizarr wie geheimnisvolle Drachen aus einem Märchen, die sich später als verzauberte Prinzen entpuppen. Die kleine verwelkte Teerose daneben wirkt jetzt wie ein schwindsüchtiges, fahles Mädchen aus einer bettelarmen Familie. Was gibt es doch auf mei­ nem Schreibtisch viel zu tun. Die Geranie von Tide, die sie mir letzte Woche (war das wirklich erst letzten Sonntag?) nach diesem plötzlichen Tränenausbruch mitgegeben hat, steht da auch noch. Und mein schwarzes marokkanisches Mädchen versteckt sich hinter einer rosa Wolke aus win­ zigen zarten Blümchen, deren Namen ich nicht kenne. Und dazwischen liegen noch die Tannenzapfen herum, ich erinnere mich noch daran, wann ich sie gesammelt habe. Das war in der Heide, direkt hinter dem kleinen Landhaus von Frau Rümke.49 Es war, glaube ich, das erste Mal, dass ich einen ganzen Tag mit ihm in der freien Natur verbrachte. Wir führten ein Gespräch über das Dämonische und Undämonische, ich weiß noch genau, in welchem Kontext; ich erzählte ihm von der Szene mit Klaas und Jopie aus der Kriegszeit, wie Klaas seine Tochter halb totgeschlagen hatte, weil sie ihm kein Gift mitgebracht hatte, und wie ich die ganze Um­ gebung nach Hilfe abgesucht hatte, in Cafés, bei einem Brückenwärter, bei Polizisten und Rote-Kreuz-Männern, aber niemand wollte zu Hilfe kommen. Ich erinnere mich noch ganz genau daran. Und dann sagte ich: «Geben Sie mir jetzt mal einen undämonischen Kuß.» Und plötzlich lagen wir Mund an Mund auf der sonnigen offenen Heide und sehr viel später sagte er: «Nennen Sie das undämonisch?» Wir werden die Heide jetzt sehr lange nicht mehr sehen, selten, in schwierigen Momenten, empfinde ich das als etwas Bedrückendes und Verarmendes, aber meistens ist mir be­ wusst: Auch wenn uns nur eine enge Straße bleibt, auf der wir gehen dür­ fen, so wölbt sich doch darüber der ganze Himmel. Und die drei Tannen­ zapfen werden mich begleiten, wenn es sein muss, sogar bis nach Polen. Ach du lieber Himmel, dieser Schreibtisch. Er sieht aus wie die Welt am ersten Schöpfungstag. So ein Chaos und so viel Durcheinander. Außer den exotischen japanischen Lilien, der Geranie, den dahingeschiedenen Teero­ sen, den Tannenzapfen, die zu heiligen Reliquien geworden sind, einem ­marokkanischen Mädchen mit einem Blick, der noch immer animalisch und erhaben zugleich ist, liegen da noch der heilige Augustinus, die Bibel und einige russische Grammatiken und Wörterbücher herum sowie Rilke

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und unzählige kleine Notizblöcke mit weiß Gott was für wichtigen Auf­ zeichnungen, zudem liegen da Stifte, eine Flasche Limonadenersatz, Schreib­ maschinenpapier, Kohlepapier und Rilkes gesammelte Werke, nun ja, und Jung. Und das ist nur das, was gerade so zufällig herumliegt, daneben sind auch noch die festen Stammgäste dieses Schreibtisches an die Wand ange­ lehnt. Und das Beste daran ist, dass auch noch Platz für mich und dieses Heft frei ist. Hinter mir liegt Han und atmet gleichmäßig und auf der anderen Seite der Wand höre ich das Badewasser der Nachbarn laufen. Es ist noch nicht einmal 9 Uhr, es ist Sonntagmorgen und seit 7 Uhr mor­ gens habe ich schon wieder ein ganzes Leben hinter mir und heute habe ich noch 3 Leben vor mir. Ich beginne jetzt mit diesem bescheidenen Frühstück. Um 10.40 Uhr (ja, ausgerechnet, der Herr nimmt es genau) werde ich S. abholen, bis da­ hin bleibt noch viel Zeit für Karl Nötzel übrig. Um halb 12 Uhr kommt mein Westinder Max,50 vielleicht kann ich seiner schlappen Schwermütig­ keit einmal einen kräftigen Tritt geben. Heute Mittag wollte ich eigentlich bei Liesl ein wenig in der Sonne liegen, aber es sieht nicht so sehr nach Sonne aus, vielleicht verschlägt es mich trotzdem noch für ein Stündchen zu ihr. Und dann würde ich heute Nachmittag gerne noch ein bisschen lesen oder arbeiten. Und heute Abend musizieren bei Tide. Spiegelenberg.51 Löwenstein und Wissbrun.52 nachmittags 3 Uhr. Selbst an deinen besten Tagen schleichen sich manchmal noch kurze ­Momente der Niedergeschlagenheit ein. Du könntest bestimmt ihren Ur­ sprung ausfindig machen, wenn du dir nicht sicher wärst, auf solche Bana­ litäten zu stoßen, dass du es lieber lässt. Ein plötzlicher kleiner Anflug von Eifersucht zum Beispiel, weil er heute mit Tide statt mit mir einen Nach­ mittagsspaziergang in der Sonne macht  – obwohl ich es ja vorziehe, an einem Sonntag alleingelassen zu werden? Die Gemütsbewegung war fast zu flüchtig, um sie aufzuschreiben. Wie ich bereits sagte, man trifft auf solche Banalitäten. Die Sonne brennt jetzt vom Himmel und ich krieche auf Liesls Dach, obwohl ich eigentlich lieber hier am Schreibtisch bliebe, wo es kühl ist und die Sonne doch immer im Hintergrund anwesend ist. Aber man sollte auch dazu bereit sein, etwas für die Freundschaft zu tun, und wenn es diese kleine Frau nun einmal schön findet, dass ich komme …?

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22. Juni [1942], Montagabend, 9 Uhr. Gestern Abend habe ich eine Menge erlebt. Zuerst haben Celloklänge mein Herz losgelöst und sind dann mit ihm durch den Raum geschwebt. Das war ein merkwürdiger Anblick. Sie nahmen mein Herz in ihre Mitte, hielten es von allen Seiten her fest und stiegen damit weit über mich ­empor. Und ich schaute ihm zu, wie es durch den Raum tanzte, und es war mir fantastisch zumute. Dein Herz, das über dir in der Luft tanzt, umgeben von Celloklängen – ein fantastisches Gefühl, wirklich. Ich glaube, ich wäre zu den merkwürdigsten Ekstasen fähig. Das zweite Abenteuer war eher irdischer Natur: Ich lag in eine Ecke des Diwans versunken und hörte der Musik zu, als plötzlich etwas mit meinem Körper passierte, ich kann nicht genau zum Ausdruck bringen, was. Er war plötzlich so leicht und schwerelos, eine Kleinigkeit, die Gott im Flug achtlos fallen gelassen hatte. Ich hätte ihn mit einer einfachen Bewegung jemandem zuschieben und anbieten können. «Jemandem» ist natürlich vage. Ich fand meinen Körper plötzlich so schön und attraktiv, ich hätte ihn ihm so gerne ganz beiläufig geschenkt, ich hätte auf einmal so leicht darauf verzichten können. Es ist ein Gefühl, das mir den ganzen Tag über geblieben ist. Irgendwie gab es immer noch etwas, das meinen Körper krampfhaft festhielt und seine verschiedenen Haltungen und seine Wirkung bei unter­ schiedlicher Beleuchtung kontrollierte usw. Es muss ein Gefühl der Min­ derwertigkeit gewesen sein. In allen Romanen haben Mädchen junge spitze Brüste. Solche Brüste schwebten mir auch immer als Ideal vor. Meine «sind wie schwere Weintrauben», sagte Han einmal, «sie wiegen manchmal wie schwere und reichhaltige Weintrauben in den Händen ­eines Mannes».53 In meinen Träumen lief ich früher oft mit karikaturenhaft schweren Brüsten herum, was aber schon seit längerer Zeit nicht mehr der Fall ist. «Du hast ja stark übertrieben mit dem Gewicht», sagte S. einmal, «deine Brüste sind wie die eines Mädchens auf Tahiti.» Ich erinnere mich noch genau daran, er sagte es in der Linie 25 an diesem unglückseligen Morgen nach der Nacht, in der ich zum ersten Mal nackt auf seiner Cre­ tonnedecke lag. Was für eine lächerliche Unterhaltung auf einmal mit mir selbst, wie bin ich darauf gekommen? Ach ja, gestern Abend. Als ob ein Bann über meinem Körper gebrochen worden wäre. Er lag plötzlich so leicht und schwerelos da und wollte mit einer kleinen und einfachen Geste verschenkt werden. Und er wollte zu ihm. Inmitten eines unschuldigen und gemütlichen Gesprächs zwischen uns wird es sicherlich einmal auf die

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bekannte malerische Art und Weise herausbrechen: «Ach, nimm mich doch bitte endlich einmal.»

Als ich gestern Abend nach Hause kam, war ich völlig übermüdet. Man ist dann am widerstandslosesten gegen heranschleichende und einen zerfressende Fantasien. Es ist interessant, so einen Prozess zu verfolgen. Es kommt dann wieder das Gefühl hoch, von ihm vernachlässigt zu werden. In wilden und immer wilderen Szenen entwerfe ich dann ganze Leidens­ geschichten, in denen ich dann natürlich das unglückselige Opfer bin. Ich kann mich dann wirklich so schön unglücklich machen und mich in etwas «hineinsteigern». Gestern wollte dieser Film gerade wieder in meinem übermüdeten Kopf ablaufen, aber gerade noch rechtzeitig kniete ich vor meinem Bett nieder, was schon lange nicht mehr passiert war, und sagte entschlossen: «Nein, Gott, so viel Unsinn ist doch unter meiner Würde, nimm ihn doch von mir weg.» Und ich sprach einige harte und einfache Dinge zu mir selbst und dann war es vorbei mit den kräfteraubenden Fan­ tasien und ich bin brav schlafen gegangen. Als ich gestern Nachmittag die Treppe bei Liesl hinaufstieg, durch­ zuckte es mich wie ein paradoxaler Blitz: Man muss einem Menschen ver­ zeihen können, wenn er einem einmal sehr gut gefallen hat. Ich meine, man darf nicht die ungerechte Forderung stellen, dass er einem immer gleich gut gefällt. Und man sollte es sicherlich niemandem im Herzen, nicht im unauffälligsten und kleinsten Winkel des Herzens vorwerfen, wenn er einem einmal weniger gut gefällt. Es ist eine ewige Tragödie in den menschlichen Beziehungen. Das Leben gibt, das Leben nimmt. Es gibt einem manchmal das Gefühl, jemanden sehr zu lieben, vorüberge­ hend in jemanden verliebt zu sein, von jemandem fasziniert zu sein, aber es nimmt einem diese Geschenke dann in einem unerwarteten Augenblick auch wieder weg. Und derjenige, für den man einst Feuer und Flamme war, steht dann plötzlich so schäbig und beraubt vor einem. Aber er kann daran meistens auch nichts ändern. Und vielleicht hat man ihn zu blind und mit zu wenig Blick für die Realität geliebt. Und dann ist da plötzlich eine Realität, in die diese Liebe nicht mehr passt. Und der andere kann nichts daran ändern. Man kann selbst auch nicht immer viel daran än­ dern. Aber man sollte es sich nicht gegenseitig vorwerfen. Wir sollten dem Leben für die inspirierenden Momente dankbar sein, die es uns manchmal mit anderen erleben lässt, aber wir müssen auch in der Lage sein, uns da­ mit abzufinden und es zu akzeptieren, wenn sie wieder verschwinden, und vor allem dürfen wir es dem anderen nicht vorwerfen. Es hat nichts mit

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dem anderen zu tun, sondern mit dem Leben an sich. Und man kann hier nichts erzwingen. Wie ein starker, kräftiger Baum, der ein verdorrtes Blatt fallen lässt, kann ich manchmal plötzlich Menschen, die mir innerlich nahestehen, mit einer fast gleichgültigen und gelangweilten Geste loslassen. Das wird sich schon wieder geben und andere werden es nie bemerken. Vielleicht habe ich sie in letzter Zeit ein wenig zu oft gesehen, die Levies. Und dann noch etwas anderes. Ich gehe als Einzelgängerin durchs Leben, nichts be­ hindert meinen Flug. Diese wenigen Seiten in dem kleinen Buch über Russland haben mir in den letzten Tagen plötzlich den Geist beflügelt. Mit einem kräftigen Ruck bin ich vorwärtsgerast und habe wieder eine Menge hinter mir gelassen: Haushalte mit Gemüseproblemen. Und selbst die Eheprobleme von Liesl und Werner erschienen mir langweilig und altbekannt, weil ich so plötzlich mit einer einzigen Wendung in ein neues oder besser gesagt erneuertes Gebiet hineingerast bin. Das geht schon wie­ der vorüber, es wird sich wieder legen. «Ich habe das beste Leben von allen in Europa und Asien», vertraute ich S. heute Nachmittag auf seinem son­ nigen Kieseldach an. Und ich meine das ernst. Ich würde mit niemandem tauschen wollen. Aber es muss mir immer bewusst sein, dass ich in privi­ legierten Verhältnissen lebe, ich muss nicht in einer Schlange für Gemüse anstehen – und selbst wenn ich das müsste. Ich bin eine Einzelgängerin und kann so hoch und so schnell fliegen, wie ich möchte. Ich stehe erst am Anfang, aber der Anfang ist da, das weiß ich sicher. Es ist das Sammeln aller Kräfte, die in einem Menschen existieren, es ist ein Leben mit Gott und in Gott und Gott in mir. (Ich finde das Wort Gott manchmal so pri­ mitiv, es ist doch einfach nur ein Gleichnis, eine Annäherung an unser größtes und unaufhörlichstes inneres Abenteuer; ich glaube, dass ich das Wort «Gott» nicht einmal brauche, es kommt mir manchmal wie ein pri­ mitiver Urklang vor. Eine Hilfskonstruktion.) Und wenn ich manchmal nachts das Bedürfnis verspüre, mit Gott zu sprechen, und ganz kindlich sage: «Gott, so kann das doch mit mir nicht länger weitergehen», und manchmal können meine Gebete ganz verzweifelt und Hilfe suchend sein, dann ist es so, als würde ich zu etwas sprechen, das in mir ist, als ob ich versuchte, einen Teil meiner selbst zu beschwören. Und nun muss ich ins Bett. Gab es nicht noch eine ganze Menge zu schreiben? Dies und das? Es war ein guter Tag, an dem ich ständig beschäftigt war, ein Tag des ge­ räuschlosen Wechsels von einer Aktivität zur nächsten und doch war es so, als wäre der ganze Tag eine ununterbrochene Handlung. Heute Morgen

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bin ich in der beginnenden Hitze des Sommertages mit dem Fahrrad lang­ sam um das Eislaufclub-Gelände herumgefahren, und ich hatte das Ge­ fühl, den ganzen Tag in der freien Natur geradelt zu sein, es spielt doch keine Rolle, ob man 20 Bäume in 10 Minuten oder 50 000 Bäume an ­einem ganzen Tag sieht? Es geht um die Qualität und nicht um die Quan­ tität, würde Leonie hier treffend sagen. Ich habe eine Stunde lang auf dem Dach in der Sonne gesessen, zuerst 20 Minuten mit ihm, er in einem Lie­ gestuhl und ich auf den Kieselsteinen in einem Zigeunerkleid, bei dem alles, was sich am Hals und an den Ärmeln befand, abgeschnitten worden war. Seine Hand lag auf meinem Hals, wir saßen da 20 Minuten in der Sonne und sprachen über unsinnige und ernste Dinge, und ich füllte seine Taschen mit Kieselsteinen und sagte, dass ich später ein eigenes Haus auf der Krim haben würde, und er versprach, mich dort zu besuchen, und ich sagte ihm, dass ich der glücklichste Mensch in ganz Europa und Asien sei. «Auch Asien?», fragte er. Und ich sagte, dass ich es mit der Geografie nie so genau genommen habe und dass es obendrein wahr sei, und sein Lachen, sein nicht salonfähiges, befreiendes Lachen dröhnte gegen die Schorn­ steine um uns herum. Wir saßen dort 20 Minuten lang und ich erlebte sozusagen einige Flitterwochen an einem Luxusstrand in Miami. Und spä­ ter lag ich noch eine Stunde allein in der Sonne und das reichte aus, um mir das Gefühl zu geben, einen langen Urlaub zu haben. Ich kann mich zwischen zwei tiefen Atemzügen ausruhen, ich lerne mehr und mehr, wie man es anstellt, dass einem eine Stunde Sonne wie ein ganzer Sommer­ urlaub vorkommt. Ich werde ein sehr arbeitsreiches Leben führen und so viel Urlaub und Freiheit haben, wie Außenstehende nicht vermuten wür­ den. Ich könnte nicht ganze Tage lang nichts tun, denn für mich wäre das gleichbedeutend mit jahrelang nichts tun. Ich bekomme so sehr meinen eigenen Rhythmus und mein eigenes Tempo, dass ich für das Gemein­ schaftsleben ziemlich ungeeignet werde. Selbst wenn ich allein bin, lebe ich dennoch in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft, aber wirklich in einer Gemeinschaft zu leben würde mich vielleicht zu einer unangeneh­ men Einzelgängerin machen, wie paradox. Es ist jetzt Viertel vor 11, um 11 Uhr will ich in meinem Bett liegen, um 7 Uhr wieder aufstehen und dann endlich damit anfangen, den Brief von Netty v. d. Hof 54 zu beantworten. Mein literarischer Anspruch ist größer als meine literarischen Leistungen. Dies wird sich schon noch ins Gegenteil verkehren.

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Später werde ich ihm dafür dankbar sein, dass er mich so lange auf sich zusprießen ließ. Auf sich zu? Die Zeit wird es zeigen. Und vielleicht möchte ich deshalb manchmal einen vollständigen Kontakt erzwingen, weil ich Angst habe, dass die Zeit mir nicht recht geben wird? Wenn das Verlangen keinen langen Atem hat, ist es nicht notwendig, es zu erfüllen. Das Verlangen muss zuerst langsam all seiner überflüssigen Bekleidung entledigt werden, und wenn es nackt, fordernd und unaufhaltsam vor dir steht und bei dir bleibt und wächst, wenn es trotz allen Widerwillens und trotz aller Alltäglichkeit immer weiterwächst, nun, dann werden wir sehen. Dienstagmorgen [23. Juni 1942], halb 9. Mir fehlt jegliches Werkzeug, um die Ziselierarbeit an den Worten, mit denen ich in Gedanken so oft beschäftigt bin, zu vollenden. Bei dieser Arbeit bleibe ich ständig mittendrin stecken, weil mir sämtliche Worte fehlen. Ich kann nichts auf dieser Erde beim Namen nennen. Keine Städte, keine Blumen, keine Heiligen, keine Fürsten, keine Sterne, nichts. Ich brauche die ganze Welt als Gleichnis für das, was sich mit so viel Kraft und Farbigkeit aus meinem Geist heraufdrängt und nach einer Rahmung verlangt. Ich muss noch viel lernen, die Namen, die die Menschen ihren Städten, ihren Blumen und ihren Sternen im Laufe der Zeit gegeben ­haben, damit ich diese Namen wie viele Farben meiner dürftigen Wort­ palette hinzufügen kann. Vor ein paar Tagen war ich eines Abends noch fast rachedurstig und belei­ digt, heute Morgen lag ich in meinem Bett und lachte auf einmal lauthals über so viel infantilen Irrsinn. Neulich stand ich vor der Kommode, vor Herthas starrem Blick und dem beständigen Lächeln, sein Bett war bereits mit dieser leichten Blumendecke, die dereinst in einem meiner berühm­ testen Romane eine Hauptrolle spielen wird, für die Nacht hergerichtet. Ich stand an der Tür und wollte mich verabschieden. In einer etwas primi­ tiven Umarmung hatten wir auf dem harten Boden gelegen, wo wir nach einem unerwarteten und spielerischen Ringen, vielleicht zwei Meter von diesem Bett entfernt, zufällig hingefallen waren. Ich verabschiedete mich und stand schon an der Tür, mit einem Auge schielte ich auf dieses für mich schon 16 Monate andauernde Lächeln, mit dem anderen Auge auf das aufgeschlagene Bett mit der Cretonnedecke und mit noch einem ­weiteren Auge auf unseren Ort des Ringens, wo unsere Begierden, unsere müden Begierden in einem letzten Aufflackern aufeinander losgegangen

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waren, und ich dachte fuchsteufelswild, traurig und vereinsamt zugleich: «Ja, das farbige Bett dort ist für dieses stinklangweilige Fräulein mit ihrem leblosen Lächeln auf der Kommode und dieses Stück harter Boden ist für mich.» Sein dröhnendes Lachen würde wahrscheinlich von allen Wänden widerhallen, wenn er diesen gekränkten weiblichen Herzenserguss läse. Arme Hertha, wie ungerecht ich dir gegenüber bin! Und so herzlos. Als ob du für mich das letzte Hindernis wärst, das ich zerstören müsste, um den ganzen Mann in meinen Besitz nehmen zu können. Arme Hertha. Manch­ mal durchfährt mich plötzlich die Frage, wie du dort in London wohl lebst. Ich frage mich das manchmal, wenn ich mit dem Fahrrad in seine ruhige Straße einbiege und in der Ferne seine aus dem Fenster gelehnte Gestalt und das ungeduldige Winken seines Arms sehe. Er beugt sich dann über die weitverzweigte Geranie, die vor seinem Fenster am Verbluten ist. Dann laufe ich die Steintreppe hoch zur Eingangstür des Hauses, die er bereits für mich geöffnet hat, und muss nur noch ein paar Stufen hinauf­ gehen und stürze außer Atem in seine beiden kleinen Zimmer. Manchmal steht er in der Zimmermitte und sieht so großartig und imposant aus, als wäre er aus dem grauen Stein eines Felsens gehauen, der bereits am dritten Schöpfungstag existierte. Und manchmal ist er über­ haupt nicht imposant, sondern gutmütig und plump wie ein tollpatschi­ ger Bär und lieb, so lieb, wie ich nie geglaubt hätte, dass ein Mann es sein könnte, ohne dabei jemals unangenehm oder weibisch zu sein. Gelegent­ lich modelliert ein Gedanke plötzlich seine Gesichtszüge, die sich dann wie Schiffssegel im Wind spannen, und dann sagt er: «Hören Sie mal …», und dann folgt etwas, woraus ich meistens etwas lerne. Und immer sind da seine großen und guten Hände, diese ständigen Wärmeleiter einer Zärtlichkeit, die nicht aus dem Körper, sondern aus der Seele kommt. Arme Hertha dort in London. Von den Gemeinsamkeiten in unserem ­Leben fällt mir der größte Anteil zu. Ich werde dir später viel über ihn er­ zählen können. Durch das Leiden lerne ich es auch zu akzeptieren, dass man seine Liebe mit der ganzen Schöpfung, mit dem ganzen Kosmos ­teilen muss. Aber dadurch erhält man selbst auch Zugang zum Kosmos. Aber der Preis für diese Eintrittskarte ist sehr hoch und man muss sie sich lange mit Blut und Tränen zusammensparen. Aber der Preis ist nicht zu hoch, nicht eine Pein, nicht eine Träne ist zu viel. Und du wirst das alles von vorne durchzustehen haben. In dieser Zeit werde ich wie eine Wahn­ sinnige in der Welt herumreisen, weil ich noch nicht ganz in den Kosmos aufgenommen sein werde und in gewisser Hinsicht immer eine kleine

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Frau bleiben werde. Und du wirst wahrscheinlich einen ähnlichen Weg gehen müssen wie ich, denn dieser Mann ist dermaßen von allen Seiten von Ewigkeit durchtränkt und durchweht, dass er sich in seinem Leben nicht mehr stark verändern wird. Und ich denke, dass du und ich viel ge­ meinsam haben, sonst wäre diese Freundschaft zwischen ihm und mir ja nicht entstanden, nicht wahr? Du wirst womöglich etwas schüchterner und einsamer sein, als ich es jetzt bin. Du dürftest etwas gewichtiger sein, während bei mir mehr Bizarrheiten zu finden sind. Aber wir beide haben doch diese große Ernsthaftigkeit gemein. Du musst im Moment auf all das verzichten, was mir täglich in überschäumendem Überfluss zuströmt. Und meine Entbehrungen werden mit deinem physischen Eintritt in ­unser Leben beginnen. Er fände diese Worte albern, denn sein Überfluss reicht für mehr als einen Menschen, bei ihm braucht niemand Entbeh­ rungen zu befürchten. Aber wir Frauen sind nun mal so merkwürdig ­gestrickt. Mein Leben kreuzt sich oft mit dem deinen, weißt du das? Wie wird es später in Wirklichkeit sein? Wenn wir uns jemals in der Realität begegnen sollten, müssen wir uns bereits jetzt darauf einigen, einander freundlich gesinnt zu sein, wie auch immer es kommen mag. Denn das würde bedeuten, dass die Geschichte denjenigen Lauf nimmt, der es uns wieder erlauben würde, frei zu atmen und zu leben. Und das gemeinsame Erleben dieses großen Gutes sollte alle Gegensätze zwischen den einzelnen Menschen zum Verschwinden bringen. Bist du nicht manchmal verzwei­ felt, dort drüben auf der anderen Seite des Ärmelkanals? Natürlich bist du das, ich kenne ja alle deine Briefe. Und dass du kleines Mädchen das alles in dieser großen bombardierten Stadt allein aushalten musst, wie schaffst du das? Eigentlich bewundere ich dich, und wenn ich anfangen würde, Mitleid mit dir zu haben, würde das gar kein Ende mehr nehmen. In Amsterdam lebt eine Frau, die jeden Abend für dich betet, das ist wirklich stark von dieser Frau, denn sie liebt ihn, neben Gott, mit einer Liebe, die die erste und letzte in ihrem Leben ist. Ich bin froh, dass je­ mand für dich betet, dein Leben wird dadurch beschützter, und ich wäre dazu noch nicht in der Lage. Ich bin nicht wirklich stark, außer vielleicht in wenigen erleuchteten Augenblicken, aber ansonsten bin ich mit allen Untugenden ausgestattet, die die Schritte des Menschen auf seiner Reise zum Himmel erschweren. Eifersucht und kleinlicher Unwille und was im­ mer du willst. Aber es ist alles nicht so schlimm, wie ich es hier schreibe, täglich fällt eine Menge Kleinlichkeit von mir ab und ich kenne die weni­ gen großen Dinge, die im Leben wichtig sind, und vielleicht wird doch

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noch ein Abend kommen, an dem ich für dich beten werde, von allen kleinlichen Hintergedanken und Eifersucht befreit. Und an jenem Abend wirst du dich plötzlich so wohl und mit dem Leben versöhnt fühlen wie schon lange nicht mehr, und du wirst selbst nicht verstehen, woher dieses Gefühl kommt. Aber so weit bin ich noch nicht. Und jetzt muss ich mich an die Arbeit machen. Was machst du wohl jetzt gerade? Es ist 10 Uhr morgens. Dein täglicher Kampf um die Existenz ist so viel schwieriger und härter als meiner, dass ich dir gegenüber Schuldgefühle bekommen könnte, wenn ich nicht jede Minute meiner Tage nutzen würde. Ich sammle in der Zeit, in der andere in langen Schlangen vor den Gemüseläden stehen, geistige Reichtümer, lebe aber im ständigen Bewusstsein, dass ich dies nicht nur für mich selbst tue. Gestern Nachmittag saß ich zwischen den Kieselsteinen auf einem sonnigen Dach, er blickte aus einem bequemen Liegestuhl auf mich herab und ich machte plötzlich eine ausladende Geste und sagte: «Ich habe das beste Leben von allen in ganz Europa und Asien zusammen.» Und sein gesundes Lachen – erinnerst du dich noch an dieses Lachen? Es ist lange her, seit du es zum letzten Mal gehört hast – dröhnte gegen alle Schornsteine, weil ich mit einigen Kontinenten so großzügig umging. Aber wirklich, ich meine es ernst. Aber dieses Bewusstsein, das beste Leben zu haben neben so vielen Arbeitstieren mit täglichen Sorgen, schafft große moralische Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten und täglich nimmt meine Kraft, die diese Verantwortung immer zuverlässiger trägt und mich zwischen vielen bedrohlichen Klippen hindurchlotst, zu. Eine meiner Hauptbeschäftigungen ist das Studium der russischen Sprache und des großen, geliebten Landes, in dem diese Sprache gespro­ chen wird. An dem Tag, an dem du deinen Fuß hier an Land setzt, laufe ich blindlings zum Bahnhof und löse eine Fahrkarte, die mich direkt ins Herz dieses Landes führt. Was sagst du zu so viel kindlicher Romantik am frühen Morgen? In einer Zeit wie dieser? Ja, sicher, ich schäme mich dafür, aber die Wahrheit ist, dass es in meiner Fantasie manchmal so aussieht. Oder vielleicht gehe ich doch nicht zum Bahnhof und bleibe  …? Ach, Hertha, wenn du nur wüsstest, wie bedroht unser Leben hier ist. Ich schreibe an diesem sonnigen Morgen so arglos «den Fuß an Land setzen» und «uns begegnen», aber vielleicht sind wir bis dahin längst in einem unwirtlichen Lager umgekommen? Obwohl ich mir so etwas kaum vor­ stellen kann, denn es steckt so viel Lebenskraft in ihm, und was er vielen, sehr vielen noch zu geben hat, benötigen diese wie das tägliche Brot. Des­ halb glaube ich nicht an ein sinnloses Ende seines Lebens, dafür hat es, so,

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wie er es Minute für Minute lebt, zu viel Sinn und Inhalt. Aber unser ­Leben ist hier von Tag zu Tag immer stärker bedroht und wie das alles enden wird, wissen wir nicht. Ich habe vor einiger Zeit mit ihm darüber gesprochen, mein Leben per Gesetz mit seinem zu vereinen, um nicht durch ein blindes Schicksal auseinandergerissen zu werden und um gemeinsam die große Not dieser Zeit besser zu überstehen. Was hältst du davon? Wenn unbewusst viel­ leicht schon einmal eine heimliche Versuchung von der Idee ausgegangen ist, seine Frau zu sein – wenn auch nur vor dem Gesetz –, so hat sie diesen Reiz inzwischen gänzlich verloren. Es geht hier um wichtigere Dinge als dieses ewige Mann-Frau-Spiel. Es wäre eine Ehe «jenseits der Liebe und 55 des Hasses», um es mit einem halben Plagiat auszudrücken. Ihr einziger Zweck wäre es, diese schwere Zeit gemeinsam zu überstehen. Gibst du mir deine Erlaubnis? Ich liebe ihn sehr, wenn die Sonne wie heute scheint, noch viel mehr, als wenn es so kalt ist wie letzte Woche. Die Menschen sind einfach sehr ­unentschlossen und wechselhaft. Dass so etwas wie die Liebe sogar von klimatischen Einflüssen abhängig ist! Irgendwo muss man doch in sich selbst an einen Punkt stoßen, an dem man immer gleich ist und auf den man sich ein für alle Mal verlassen kann? Und solange man noch nicht zu diesem Punkt vorgedrungen ist, sollte man mit den eigenen Gefühlen vor­ sichtig sein und darauf achten, nicht mit Ungestümsein zu viel Schaden um sich herum anzurichten, der sich später als unbegründet erweist. Mittwochnachmittag [24. Juni 1942]. Täglich von jemandem lernen, ohne dabei in Imitation zu verfallen. Nach einem Gespräch mit ihm heute Nachmittag, in dem er sagte, dass Weglaufen, wenn sie käme, von Feigheit zeugen würde – muss ich mich wirklich zuerst den spitzesten Seiten des Lebens aussetzen, bis aufs Blut, um es pathetisch zu sagen, aber deshalb nicht weniger aufrichtig fühlend, bevor ich zu dieser olympischen Ruhe gelange, die jetzt schon in manchen Augenblicken Teil von mir ist? Und wird mir keine einzige Schramme er­ spart bleiben? Ich rebelliere fast schon. Aber wenn ich nun einen winzigen Ewigkeitswert daraus schöpfen könnte? Heute Nachmittag während des Gesprächs war ich mir plötzlich wie­ der – eigensinnig und unerschütterlich – sicher: Sobald sie hier ist, laufe

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ich weg, dann reißt durch einen scharfen Schnitt alles, was zwischen uns ist, senkrecht in der Mitte durch, und wie ich es dann schaffen werde, weiß ich nicht. Aber was für einen Sinn hat denn unsere Beziehung jetzt, wenn ich das Gefühl habe, dass dann alles enden wird? Bin ich immer noch so unzulänglich, was mein Verhalten im Kosmos, dem für Frauen so schwer zugänglichen Kosmos, betrifft? Die Zeit wird es zeigen. Ich weiß bereits jetzt, dass ich in diesem Bereich nichts aus dem Weg gehen werde, selbst wenn ich verblute, jawohl. Und wenn ich jetzt Zeit hätte, schriebe ich trotz der Papierknappheit wieder 20 Seiten über Besitzinstinkte, über wahre Liebe, über ihn und über mich. Wieder kurz dieses Gefühl, dass sich ein Fehler in die Struktur meines Lebens eingeschlichen hat. Aber eher vom letzten Mal nachgefühlt, als dass ich wirklich daran glauben würde. Führe auch ein irres Leben. Gestern habe ich ihm einen Brief in die Hand gedrückt, der genauer betrachtet eigentlich ein verzweifelter Lie­ besbrief war, und dann sitze ich an einem Sommerabend mit ihm auf dem Dach und liebe ihn sehr, und ein paar Stunden später falle ich nackt, zärt­ lich und weiß in die Arme eines ebenso nackten Mannes und erlebe einen kurzen Sommernachtsrausch, doch meine Gedanken sind noch bei dem Mann auf dem Dach. Und beide Männer sind über ein halbes Jahrhun­ dert alt. Es ist ein verrücktes Leben, doch es geht nicht um die kleinen Ereignisse von Tag und Nacht, sondern ––––––––––– die Glocke zum Abendessen. Donnerstagnachmittag [25. Juni 1942]. Aus einem Brief meines Vaters in seinem unnachahmlichen Humor: «Heute ist hier das fahrradfreie Zeitalter angebrochen. Ich habe ­Mischas Fahrrad persönlich abgeliefert. Wie ich in der Zeitung lese, dür­ fen in Amsterdam die Juden noch Rad fahren.56 Was für ein Privileg! Wir müssen jetzt nicht mehr Angst haben, dass unsere Fahrräder gestohlen werden. Für unsere Nerven ist das bestimmt von Vorteil. In der Wüste mussten wir seinerzeit auch 40 Jahre lang ohne Fahrräder auskommen.» «Und wenn ich eifersüchtig wäre, wäre es dann nicht ob ich nicht sicher von Ihnen war im Gefühl?»

Man sollte sich keine Revuen ansehen,57 selbst wenn es nur ein Höflich­ keitsbesuch ist.

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Ich würde gerne ein ganzes Buch über einen Kieselstein und über ein vio­ lettes Veilchen schreiben. Ich könnte sehr lange mit einem einzigen Kiesel­ stein leben und das Gefühl haben, in Gottes mächtiger Natur zu leben. Ich habe diesen Kieselstein ja erst an diesem Nachmittag auf dem Dach in der Sonne entdeckt, er stammte direkt aus den Schöpfungstagen, und meine Verwunderung darüber, dass ich plötzlich so viele Ewigkeiten in einem einzigen kleinen Kieselstein entdeckt habe, hat bis heute noch kein Ende gefunden. Ich saß im Foyer des jiddischen Theaters,58 schaute mir mal so die Ge­ sichter an und dachte mir meinen Teil dazu. Ich musste dann an seine Schwester denken, die jetzt wahrscheinlich in einer Zelle sitzt, und ich redete ihr im Stillen tröstend zu: «Bilde dir bloß nicht ein, dass du hier etwas verpasst.» – Nun ja. Gestern Abend war ein Abend, über den ich, als ich nach Hause kam, sagte: Das war der schönste Abend meines Lebens. Ich habe viele solcher Abende mit ihm erlebt, von denen ich sagte: Das war der schönste. Und doch kommt immer wieder ein Abend, über den ich voller Überzeugung sage: Das war der schönste. Ich gehe jetzt ins Bett, ich habe versucht, mit dem heiligen Augustinus diesen schalen Geschmack der Revue wegzuspü­ len. Ein solcher Abend ist eine Kleinigkeit, aber trotzdem: Jedes Bild prägt sich mir vollständig ein, zuerst die Brücke über der Amstel in den Farben des Abends, da war noch alles gut, aber dann kamen diese tristen Figuren hinter den Kulissen hervor, von denen ich zu viel weiß, um mich an ihren Späßen noch erfreuen zu können. Und die ganze Atmosphäre dieses Ortes durchdringt mich dann auch. Und jetzt werde ich tief schlafen, morgen gibt es wieder viel zu tun. Die vielen Aktivitäten meiner Tage gleiten so reibungslos ineinander über, dass mein Tag aus einer einzigen ununter­ brochenen Handlung zu bestehen scheint. Bis heute Abend um 9 Uhr war der Tag noch so abgerundet und so intakt, und jetzt ist er so bröckelig, aber das ist nicht schlimm, ich scheine in einer Phase meines Lebens ange­ langt zu sein, in der sich alles produktiv auswirkt und in der es die starke und solide Struktur meines Tages vertragen kann, dass an irgendeiner Ecke etwas davon abbröckelt. Ich glaube, dass ich später, wenn der Krieg vorüber ist und wir wieder überall frei hingehen können, trotzdem nicht mehr viel Zeit mit Ausgehen verbringen werde, mit der leichten Muse, ich glaube, es ist bei mir endgültig vorbei, dass ich glaube, im Leben etwas zu verpassen, wenn ich nicht alles im Unterhaltungsbereich miterlebe. Gute Nacht.

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Freitag [26. Juni 1942], kurz vor dem Essen, nur so, wild drauflos. Vor ein paar Tagen sagte Käthe: «Ich fühle mich so müde und schläfrig, aber das rührt von diesem komischen Wetter her.» Und ich blickte er­ staunt auf und dachte: das Wetter? Früher habe ich doch auch immer ­unter dem «Wetter» gelitten? Mein Gesundheitsempfinden schwankte mit jeder klimatologischen Veränderung und war dadurch bedingt. Und we­ gen Käthes Bemerkung merkte ich plötzlich, dass ich vom Wetter nichts mehr merkte. Und ich dachte beeindruckt: Ich habe in mir mein eigenes Klima und meine eigenen Wetterbedingungen und bin unabhängig von denjenigen außerhalb von mir. Die Tatsache, dass man seine eigenen Jah­ reszeiten und Landschaften in sich trägt, verschaffte mir plötzlich so ein herrliches Gefühl der Unabhängigkeit. Jetzt mach aber mal halblang, Mädchen, im Winter wirst du höchstwahrscheinlich an Kälte sterben, denn jetzt, Mitte Juni, läufst du noch ab und zu zitternd in deinen Win­ terkleidern herum. Eine Beziehung zwischen zwei Menschen, zwischen einem Mann und ­einer Frau, die sich nicht innerhalb bestimmter Normen wie der Ehe etc. abspielt – und eigentlich dürfte das in keiner einzigen Beziehung der Fall sein –, kann man nur nach ihren Früchten, nach ihren Auswirkungen be­ urteilen. Und ist unsere Beziehung denn nicht perfekt, danach bewertet? Ich ließ ihn neulich den Brief von Netty v. d. Hof lesen, er freute sich darüber, zeigte auf den Brief und sagte: «So etwas ist doch viel schöner als das da» – und dann machte er eine realistische Gebärde, die sich durch seine für ihn typische Unverblümtheit auszeichnete: Er machte eine Hin-undher-Bewegung zwischen unseren beiden Unterleiben. – Essen – Glocke. 9 Uhr abends. Direkt vor dem Abendessen hätte ich gerne noch Folgendes geschrieben: Erst vor ein paar Tagen habe ich einer Freundin geschrieben: «Das Leben ist ein großartiges und fesselndes Abenteuer.» Und jetzt, mit wachsenden Kopfschmerzen zwischen meinen Schläfen und einem kalten Unbehagen in meinem Körper, könnte ich erstaunt auf diese Worte zurückblicken, wenn ich mich nicht im Laufe des letzten Jahres so entwickelt hätte, dass ich von meinen besten Zeiten doch immer noch etwas mitnehme, auch an meinen weniger guten Tagen, selbst wenn es zuweilen nur ein winziger Rest ist. Aber es ist nie mehr so, dass mir alles entgleitet.

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Bei den meisten Menschen sind die besten Augenblicke des Lebens separat, also ohne Bezug zum Leben, und sie durchdringen die Tage nicht. Und das sage ich mir immer wieder: Wenn von unseren höheren Erkennt­ nissen, unseren großartigsten Momenten des Lebens nicht etwas, auch wenn es manchmal noch so wenig ist, unseren geringsten Atemzug durch­ dringt, ist alles sinnlos. Schlecht formuliert, ich werde noch ein wenig lesen und dann zu ­Mischa, der bei Glassner ist. «Ich freue mich, wenn Sie kommen», sagte er heute Morgen, und dann werde ich mich auch einfach freuen. Und doch, ja doch, mein größtes Abenteuer dieser Woche: dieser Kie­ selstein. Ich staune innerlich noch immer über diesen Kieselstein: dass in einem einzigen kleinen Kieselstein so ein gewaltiges Stück Schöpfung ­untergebracht ist. Das Leben ist so schön, ich glaube, ich beginne es erst jetzt langsam zu entdecken. Und vielleicht werde ich eines Tages in der Lage sein, alles, was ich mit diesem Kieselstein erlebt habe, in Worte zu fassen. Mein großer Lehrmeister in diesen Tagen ist, neben S., Rilke. Er ist keine Entspannung für die Zeit nach der Arbeit, sondern er durchdringt meine Tage und formt etwas in meinem Wesen. Eine ganze Generation wird ihn wieder neu entdecken müssen. Und es ist so wahr, was Lou Andreas über ihren Freund sagt: «Irgendwo war dieser Dichter des Überzartesten robust.»59 Zärtlichkeit, die niemals Verweichlichung werden kann (was ihm zu­ weilen vorgeworfen wird), wenn die Grundlage Stärke ist. Und stark und mutig ist er, dieser Zarte. Etwas später. Bevor ich jetzt weggehe, muss ich noch etwas aus einem Brief abschreiben: «Gestern waren wir zusammen da. (Nämlich im «Salon d’Automne».) Cézanne

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ließ uns zu nichts anderem kommen. Ich merke immer mehr, was

das für ein Ereignis ist. Denk dir aber mein Erstaunen, als Fräulein V., ganz ­malerisch geschult und schauend, sagte: ‹Wie ein Hund hat er davorgesessen und einfach geschaut, ohne alle Nervosität und Nebenabsicht.› Und sie sagte noch sehr Gutes in bezug auf seine Arbeitsart. ‹Hier›, sagte sie, auf eine Stelle zeigend, ‹dieses hat er gewußt, und nun sagt er es (eine Stelle an einem Apfel); nebenan ist es noch frei, weil er das noch nicht ge­ wußt hat. Er machte nur, was er wußte, nichts anderes.› – ‹Was muß er für ein ­gutes Gewissen haben›, sagte ich. ‹O ja: glücklich war er, ganz innen ­irgendwo …›.»

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Das ist auch für mich geschrieben, als Motto.

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12 Uhr nachts. Noch einmal zu Rilke: Eine Zärtlichkeit, die in einem Urgrund der Stärke und Strenge sich selbst gegenüber verwurzelt ist. Und jetzt gleitet mir ein Tag mit einer müden Bewegung von den Schul­ tern. Die Rosen auf meinem Schreibtisch sind so weit aufgeblüht, dass sie nicht weiter aufgehen können. Morgen werden ihre abgefallenen Blüten­ blätter zwischen meinen Büchern liegen. Ich gehe jetzt schlafen. Netty v. d. Hof schrieb irgendwo in ihrem Tagebuch: «Gestern Etty Hillesum gese­ hen. Ein temperamentvolles Geschöpf. Raffiniert?» Jetzt gehe ich in mein kleines Zimmer, den Tag, der noch wie ein bunter Umhang um mich her­ umhängt, lasse ich von meinen Schultern gleiten, damit ich für die Nacht ganz nackt bin. Dann knie ich nieder, und die weiße Wand, an der mein Bett steht, erhebt sich so schlicht und bescheiden wie die einer Kloster­ zelle. Meine Ernsthaftigkeit, die einst von so viel Zweifel und Selbstironie durchlöchert war, erholt sich allmählich von den vielen angegriffenen Stellen und schlägt immer mehr Wurzeln in alle Windrichtungen meines Wesens. Gute Nacht. 27. Juni [1942], Samstagmorgen, halb 9. Mit mehreren Leuten in einer engen Zelle. Ist es dann nicht unsere Auf­ gabe, inmitten der übel riechenden Ausdünstungen unserer Körper den Duft unserer Seelen zu erhalten? Ich finde es so merkwürdig und verstehe es immer weniger, wie manche Menschen sich damit abhetzen, aus ihrem eigenen Körper und den Kör­ pern der anderen immer wieder ein Maximum an Genuss herauszuholen. Ich habe es ihm vor ein paar Tagen in einem Augenblick der Offenherzig­ keit gesagt: «Früher bin ich in vielen Nächten mit einem Mann im Bett herumgesprungen, nächtelang, und jetzt kommt mir der Gedanke, dass es wirklich schade ist und Verschwendung, so viel Zeit und Energie für das eigene körperliche Vergnügen aufzuwenden.» Aber vielleicht kann man so etwas nur sagen, wenn man schon viele Liebesnächte hinter sich hat? Und jetzt geht es mir so: Ab und zu spüre ich die starke Bereitschaft und die Fähigkeit, mich dem Mann, den ich liebe, hinzugeben. Und darum geht es doch, um die Bereitschaft? Und ob man dann einmal pro Woche eine Liebesnacht erlebt oder einmal im Halbjahr, das spielt doch keine Rolle?

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Am kleinen Bahnhof in Enkhuizen sprach der Samenhändler Vis einen Angestellten des großen Samenhändlers Sluis  & Groot an und fragte: «Говорите ли Вьı по-русски?»62 Und der junge Angestellte63 antwortete: «немного.»64 An einem kleinen Bahnhof im Norden unseres Landes stammeln ein paar starre Calvinisten gebrochen ein paar Laute der Mut­ tersprache meiner Mutter, ist das nicht von historischer Bedeutung? Und ich bin die Anstifterin zu diesen Lauten. Mischa und «Eukalyptus» mit ihren einfältigen, bebrillten Profilen und der Beherrschung ihrer Hände. Nach einem vierhändigen Stück von Schu­ bert und einem anschließenden von Mozart sagte S.: «Bei Schubert habe ich denken müssen an die Grenzen des Klaviers, bei Mozart an die Vorzüge.»

Und Mischa, zögernd und nach der richtigen Formulierung suchend, aber schließlich exakt auf den Punkt bringend: «Ja, Schubert mißbraucht in diesem Stück das Klavier um Musik zu produzieren.»

Währenddessen war ich mit einer komplizierten Rechenaufgabe be­ schäftigt. Ich dachte, was für eine sonderbare Familie wir doch sind, frü­ her hätte ich gesagt: eine degenerierte? Doch warum solch große Worte, die niemandem etwas nützen? Jaap, Mischa und ich sind zusammen 26 + 21 + 28 Jahre = 75 Jahre alt. Und unsere Partner65 haben zusammen das ehrwürdige Alter von fast eineinhalb Jahrhunderten erreicht, sie sind nämlich 42, 40 und 63 Jahre alt. Und so kann man weiterrechnen. Meine 28 Jahre mit den 123 Lebensjahren meiner zwei Freunde zusam­ men, die beide über ein halbes Jahrhundert alt sind. «Es ist merkwürdig», sagte ich gestern Abend zu S. auf unserem kurzen Spaziergang entlang des Kais auf dem Weg zu seinem Haus, «dass wir alle drei Partner gewählt haben, mit denen wir keine Zukunftsaussichten ­haben.» Und er antwortete: «Zumindest, wenn man das Konzept Zukunft in so einem materialistischen Sinne auffasst.» Wir unterhielten uns noch ein wenig unten in seiner ruhigen Straße in der Dunkelheit des Abends und plötzlich bahnte sich meine Hand gewalt­ sam einen Weg durch allerlei Knöpfe seines Hemdes und blieb dann auf seiner behaarten Brust liegen. Und er sagte: «Komisch, das macht die Tide­ man auch immer bei mir, komisch, daß Ihr beide das macht.» Es wird sicher­ lich wieder einmal einen unproduktiven Augenblick in meinem Leben geben, in dem ich glaube, darunter leiden zu müssen, dass Tideman sich eine solche Gebärde in Bezug auf seinen Körper erlaubt, und in dem ich

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das in falschen Proportionen sehe. Nun ja, die Tide macht das also auch, ich finde das ganz ausgezeichnet. Und meine Hand wanderte weiter über seine behaarte, nackte Brust. Dann riss er sich von mir los, holte den Hausschlüssel aus seiner Tasche und ging die Treppe hoch. Und plötzlich stürmte ich, nachdem wir uns bereits eingehend verabschiedet hatten, noch einmal alle steinernen Treppenstufen hoch ihm nach und küsste seine guten Hände und diesen einen wilden Vorposten seines gütigen Mundes und rannte dann wieder genauso schnell alle Treppenstufen hin­ unter und er rief mir nach: «Sie, russisches Mädchen.» «Ohne Kaffee und ohne Zigaretten kann man leben», sagte Liesl rebel­ lisch, «aber ohne die Natur, das geht doch nicht, die darf man doch nie­ mandem wegnehmen.» Ich sagte: «Stell dir doch mal vor, wir müssten eine Gefängnisstrafe verbüßen, notfalls für etliche Jahre, und lebe mit diesen paar Bäumen dort gegenüber deinem Hause so, als wären sie ein Wald. Und für ein Gefängnis haben wir noch vergleichsweise viel Bewegungs­ freiheit.» Liesl, manchmal ist sie wie eine kleine Elfe, die in warmen Sommer­ nächten im Mondlicht badet. Aber sie putzt auch drei Stunden am Tag Spinat und steht in der Schlange für Kartoffeln an, bis sie fast ohnmächtig wird. Und manchmal stößt sie kleine Seufzer aus, die ganz tief unten in ihr entstehen und dann diesen schlanken Körper bis obenhin erzittern lassen. Sie hat eine große Schüchternheit und Keuschheit an sich, obwohl die Umstände ihres Lebens überhaupt nicht so keusch klingen, und zu­ gleich etwas Kräftiges, eine ursprüngliche Naturgewalt. Dieses kurze Ge­ fühl der Niedergeschlagenheit ihretwegen war von sehr flüchtiger Natur. Und sie wäre sehr erstaunt, wenn sie wüsste, was ich hier geschrieben habe: Eigentlich ist sie meine einzige weibliche Freundin. «Ich weiß, es wird sicherlich wieder einmal einen Moment der Krise in meinem Leben geben, einen Moment, in dem ich so kleinlich sein werde, dass ich leiden werde, weil du jetzt nicht eifersüchtig bist, weil ich vergan­ gene Nacht mit einem anderen Mann geschlafen habe», sagte ich an jenem Abend, als wir am Kai entlanggingen. Und er schaute überrascht, aber auch ein wenig verständnisvoll und sagte in etwa: «Wenn sich heute Abend auch nur die geringste Spur der Eifersucht eingeschlichen hätte, wäre er doch nicht so schön und fruchtbar geworden, wie das jetzt der Fall ist?» Und dann: «Wenn ich eifersüchtig wäre, würde das dann nicht bedeuten,

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dass ich mir in meinen Gefühlen für dich unsicher wäre? Und ich verstehe es ja auch, oder? Du kannst den alten Mann ja nicht plötzlich im Stich lassen? Und wenn ich eifersüchtig wäre, dann würdest du ihm vielleicht nicht gerecht werden, weil du Angst hättest, ich würde darunter leiden.» Dies war der Beginn eines dieser außergewöhnlichen Gespräche zwischen uns, an die ich mich später nicht mehr wortwörtlich erinnern kann, die aber zu meinen schönsten Erinnerungen an ihn gehören werden. Immer mal wieder wird uns ein solches Gespräch als unerwartetes Geschenk zu­ teil. Er überblickt dann sozusagen von einem Wachturm aus sein ganzes Leben und dieses Leben fließt dann in einfachen Worten auf mich zu. Worte sind dann nicht soundso viele Hindernisse, die überwunden wer­ den müssen, um sich vollkommen zu verstehen; vielmehr sind sie lautlose Vermittler, die einen ganzen Lebensstrom zu mir führen. Ich stehe dann mit ihm auf seinem Wachturm und die verschiedenen Landschaften seines Lebens, seiner Erkenntnisse und seiner Einsichten entfalten sich zu unse­ ren Füßen. Seine Worte kommen dann fast nachdenklich und gedanken­ voll, ohne jegliches Pathos. Und wie sein Gesicht dann aussieht, kann ich noch nicht beschreiben. So, wie es dann ist, mag ich es am liebsten. Fast schmal und fast asketisch, als hätte sich jede sinnliche Rundung daraus zurückgezogen. Und es ist dann auch so, als würde er sein Gesicht in den stürmischen Wind halten, der ihn von allen Seiten umweht – und doch war ja wirklich kein Lüftchen am sommerlichen Kai zu erkennen. Und muss man viel erlebt haben, um ein wenig zu verstehen? Ist es nicht eher so, dass man nur wenig erlebt haben sollte, um viel verstehen zu können? Es kommt auf die Intensität an. Und weil er selbst viel, sehr viel in seinem Leben erlebt hat, auch alles Hässliche und Unproduktive, kann er alles verstehen und viel verzeihen. «Ich kam doch auch öfters nach einer intimen Situation nach Hause zu meiner eigenen Frau und fing mit ihr noch einmal an, wenn ich Lust dazu hatte? Ich ging von einem Erlebnis zum nächsten. Doch auf Dauer ent­ wurzelt dies die Schaffenskraft, es nagt an den Wurzeln der schöpferischen Kräfte. Und von den vielen Erlebnissen sind es doch die geistigen, die mir geblieben sind, die anderen sind fast aus dem Gedächtnis verschwunden. Und weil ich all das schon hinter mir habe, nehme ich eure Erlebnisse vielleicht zuweilen nicht ernst genug, ihr leidet an Dingen, an denen ich schon längst nicht mehr leide», sagte er nachdenklich. «Aber auf der ande­ ren Seite ist es auch wieder eine Hilfe für euch, wenn ich es nicht so schwernehme wie ihr, sonst würde ich mich mit euch zusammen in viele

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Dinge ‹hineinsteigern›.» Und so weiter, ich kann es sowieso nicht wieder­ geben, es gibt 100 Details und es gibt diesen einen großen, ewigen Hinter­ grund. Es wäre nicht schlecht, wenn ich mich jetzt endlich an die Arbeit machen würde. O ja – und noch über diese Augenblicke der Eifersucht gesprochen: Das sind Atavismen, die gelegentlich in einem aufsteigen und die man ausmer­ zen muss. Wir Menschen tragen die Last einer mächtigen Tradition, von einem erstarrten Komplex an Vorstellungen darüber, wie alles sein sollte, wenn es vollkommenes Glück zwischen einem Mann und einer Frau ge­ ben sollte. Und diese Tradition und diese Klischeevorstellungen muss je­ der Einzelne mithilfe seiner eigenen Beziehung, die sich nach einmaligen Gesetzen entwickeln sollte, durchbrechen. Jede menschliche Beziehung muss den Gesetzen ihrer eigenen Möglichkeiten folgen. So sollte es sein. Und Besitzinstinkte, Klischeevorstellungen von «Treue», die man zuerst auf ihre Tauglichkeit hin prüfen sollte – das sind so viele Atavismen, die man in sich selbst ausmerzen muss. Und man muss alte Jahrhunderte in sich zerstören, um ein frisches Jahrhundert zu beginnen. Später am Tag. Folgendes noch zu Cézannes Werk, aber gilt das nicht für jeden in jedem Bereich? «Auch fiel mir gestern sehr auf, wie manierlos verschieden sie (nämlich die Gemälde von C.) sind, wie sehr ohne Sorge um Originalität, sicher, in je­ der Annäherung an die tausendartige Natur sich nicht zu verlieren, viel mehr an der Mannigfaltigkeit draußen die innere Unerschöpflichkeit ernst und gewis­ senhaft zu entdecken.»

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Samstagabend, Viertel nach 10. Mein Enkhuizener legte 2 Zwiebackkarten67 auf meinen Schreibtisch, «weil wir ja hier in Amsterdam verhungerten», und dann war da plötzlich Wils mit dem schwarzen Samtumhang um den kleinen armlosen Rumpf. Später begleitete ich sie auf einem kurzen Stück des langen Weges durch die Stadt, den sie noch vor sich hatte, und dann kaufte ich blaue Korn­ blumen und Gartenwicken, die nicht rot, aber auch nicht nicht rot sind – ich könnte stundenlang davorsitzen und fände noch immer keine Worte, mit denen ich die Farbe beschreiben könnte –, und die Müdigkeit, die den ganzen Nachmittag über in mir gewachsen war, stieg plötzlich zu einer

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solchen Stärke an, dass es fast so war, als ob ich unter Narkose stünde. Ich hatte schon Angst, der Abend sei für mich verloren, aber ich erhole mich gegenwärtig schnell von solchen unerwarteten Tiefs. Bis halb 9 geschlafen und danach noch ein paar produktive Stunden. Ein paar Seiten in Nöt­ zels Werk weitergekommen. Mein Studium ist noch mehr ein Erfahren als ein sachliches Verarbeiten, die sachlich zusammenfassende Übersicht und der klare Überblick über die verschiedenen Bereiche müssen sich bei mir später noch entwickeln. Ich finde immer noch überall die Bestäti­ gung eigener vager Vermutungen, und damit bin ich vorläufig zufrieden. Diese Bestätigung verstärkt etwas in mir, aber es bleibt alles noch undefi­ nierbar. Kommt später alles noch. Muss auch noch kommen, um später allem, was ich jetzt noch als Vorarbeit empfinde, schärfere Konturen zu verleihen. Ich verabschiede mich nun widerwillig von diesem Tag, es ist noch früh, aber ich werde versuchen, mit einer langen Nacht dieser schlei­ chenden Müdigkeit etwas von ihrer Kraft zu rauben. Diese Gartenwicken machen mich mit ihrem aufregenden, undefinierbaren Rot fast verrückt. Auf die gleiche Weise kann eine schöne Frau, die man in ihrem Undefi­ nierbaren, das ihre Schönheit ausmacht, nicht besitzen kann, jemanden verrückt machen. Man sollte nicht alles besitzen und begreifen wollen – ist das Begreifen nicht ein Besitzen im Geist? –, man sollte auch einmal alles einfach erfah­ ren können. Vielleicht ist das für uns Menschen im Westen das Schwie­ rigste und dafür fehlt uns die große Geduld und auch diese wertvolle Komponente des Glaubens: die Demut – etwas erfahren können ohne Widerstand. – Gute Nacht. Nach einem letzten Blick auf die Gartenwicke: Schönheit ist auch et­ was, das man ertragen können muss. Sonntagmorgen [28. Juni 1942], 9 Uhr. Mal sehen, was der Geist heute von diesem widerspenstigen und sabotie­ renden Körper erobern kann. In den südlichsten Regionen haben wieder Unruhen begonnen und es ist gut, dass ich morgen früh wieder zu mei­ nem Homöopathen68 gehe. Es ist schon angenehmer, im vollen Besitz sei­ ner körperlichen Kräfte zu sein, das habe ich in den letzten Tagen gemerkt. Mit 5 Kohletabletten und einem Pfefferminzbonbon auf nüchternen Magen das erste Kapitel des Buches Genesis gelesen. Wirklich beeindru­ ckend finde ich: «Und die Erde war wüst und öde, und Finsternis lag auf der Urflut, und der Geist Gottes bewegte sich über dem Wasser.»69 Und

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womöglich ist das unverschämt, aber ansonsten finde ich das 1. Kapitel so naiv. Vor allem die «großen Walfische»70 fand ich rührend. Ich habe bereits aus verschiedenen Richtungen versucht, gewaltsam in die Bibel einzudringen. Einmal über Johannes, ein anderes Mal über die Psalmen usw. Und jetzt habe ich mir vorgenommen, ganz vorne mit dem Alten Testament zu beginnen und jeden Morgen mache ich auf nüchter­ nen Magen einen Schritt weiter. Ich muss meinen bibellesenden Freund doch einmal fragen, weshalb ich das erste Kapitel auf gewisse Weise so rührend naiv finde. Ein Gedanke, der von dieser Gartenwicke und Karl Nötzel herrührt: Gestern Abend erlebte ich die fast unerträgliche Schönheit dieser rosaroten Gartenwicke zwischen meinen Büchern. Wenn ich genügend Worte zur Verfügung gehabt hätte (und glücklicherweise hatte ich das nicht), hätte ich mich hingesetzt und eine ästhetische Abhandlung geschrieben. Und damit hätte ich das Gewicht, unter dem mich diese Schönheit fast erdrückt hätte, von mir abgewälzt. Aber mir fehlten die Worte und so schrieb ich ziemlich demütig: «Schönheit ist auch etwas, das man ertragen können muss.» Man muss Dinge ertragen können und sie bis zum Ende mit ihrer vollen Last ertragen. Und ich fragte mich auf einmal: Ist das nicht der Unterschied zwischen den Russen und uns Menschen im Westen? Der Russe erträgt Dinge bis zum Ende und schultert das volle Gewicht der Emotionen und leidet zutiefst. Wir hingegen hören auf halbem Wege auf, etwas zu ertragen, und befreien uns durch Worte, Beobachtungen, Philo­ sophien, theoretische Abhandlungen, was immer wir wollen. Inmitten des Erlebens von Emotionen hören wir auf und können sie nicht länger ertra­ gen und erdulden, unser Verstand eilt uns zu Hilfe, nimmt uns die Lasten ab und stellt seine Theorien auf. Und könnte das nicht der Grund sein, weshalb Westeuropa so viel an Philosophien etc. hervorgebracht hat und in Russland in diesem Bereich großes Schweigen herrscht? Und was dann aus Russland kommt, sind Schreie, direkt aus der Seele, und es spielt keine Rolle, ob das alles sehr logisch und schlüssig ist, es wurde dort bis an die äußerste Grenze erlebt, und darauf kommt es an. Bei den Menschen im Westen müssen die Theorien und Systeme viel besser zusammenpassen, weil sonst ihr Leben nirgendwo eine schlüssige und stabile Basis hat. Sie erfahren, erleben, erdulden und ertragen nicht alles so intensiv, hier befin­ det sich eine Schwäche in ihrer Lebenskraft, eine Schwäche in ihrer Fähig­ keit, Dinge zu ertragen. Und deshalb ist es für sie von weitaus größerer

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Lebensnotwendigkeit, dass ihre Theorien schlüssige Einheiten bilden und nicht voller Widersprüche sind. Für die Russen spielt das keine Rolle. Tie­ risch schlecht formuliert. Es wird mir schon noch alles klarer werden. Wir berauben uns des letzten Leidens und wälzen es mit Worten von uns ab. Der Russe erträgt es bis zum Ende, und wenn er nicht daran zu­ grunde geht, wird er immer stärker. Den Rest, den wir nicht mehr ertragen wollen, wandeln wir in Worte über das Leiden, über die Schönheit um, und deshalb sind wir fruchtbarer in den Schöpfungen unseres Geistes. – Ich werde es vorerst dabei belassen, ich werde für mich selbst noch öfters darauf zurückkommen. Nun ja, so weit bin ich gestern Abend im Bett ungefähr gekommen und dann habe ich mich hingelegt und über das Telefon nachgedacht, jawohl, über das Telefon nachgedacht. Dass das Telefon spätabends nicht dasselbe Klingeln hat, das man Dutzende Male am Tag hört und das immer das Gleiche ist, und dass es spätabends wie eine Stimme durch die Nacht ist und dass ich immer schon im Voraus weiß, ob er am anderen Ende der Leitung ist oder ein beliebiger anderer. Und gerade, als ich mit diesen poetischen Gedanken über das Telefon, das wie eine deutlich erkennbare Stimme einer bestimm­ ten geliebten Person sein kann, fertig war, da rief er tatsächlich am späten Abend an. Genau in diesem Moment. Und ich sprang aus dem Bett und sagte: «Guten Morrrgen!» Und er sprach über Marzipan, das ich heute Abend nicht anbieten müsste, weil eine freundliche Dame für Kekse sorge. Und ich sagte, dass ich schon in einem intensiven Gespräch mit meinem Baum gewesen sei und bereits in meinem Bett gelegen hätte. Ob ich denn wirklich manchmal laut mit dem Baum spräche? «Ja, wirklich», sagte ich, «dieser Baum schreibt später eine Biografie über mich, er kennt mich am besten von allen, ein verrücktes Mädchen im Pyama.» Und dann hatten wir ein pikantes Gespräch über Pyjamas. Und am Montagmorgen werden sie bei ihm inspiziert. Und ich liebe ihn so sehr. Und all dieser überschwängli­ che Unsinn, den ich ihm gestern Abend verzapfte, entsprang der Freude über diesen ertragreichen und ernsten Abend an meinem Schreibtisch. Je ernster und konzentrierter ich innerlich bin, desto größere Überschwäng­ lichkeiten und größeren Wahnsinn kann ich in einer Art Unbekümmert­ heit hervorbringen, die nicht aus Gedankenlosigkeit, sondern ganz im Ge­ genteil aus einem Gefühl der inneren Stärke und Ernsthaftigkeit entsteht. Tanzende, leichte Schaumkronen, aber unter ihnen verbirgt sich das ganze Meer mit all seinen Tiefen, und das ist es doch schließlich, worum es geht?

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später. «Dieses Aufbrauchen der Liebe in anonymer Arbeit, woraus so reine Dinge entstehen.»

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abends. Ich fühle mich so hundeelend, so geht das doch nicht mehr weiter. Ich glaube jetzt, es wird höchste Zeit, dass wir heiraten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass auf diesen Abend ein guter Tag folgen wird, aber bei mir kann man das nie wissen. Also einfach mal schla­ fen gehen. – Montagmorgen [29. Juni 1942], 10 Uhr. Diese hochadelige Frau72 mit der reichen Fülle blonder Locken auf der Stirn sang wie ein japanischer Kanarienvogel unter Geburtswehen. Und das Mozart-Adagio dieser betagten, jedoch sehr jungfräulichen Leiterin des Tuberkulose-Sanatoriums73 glich mit diesem Stuhl auf dem Tisch als Geigenständer eher einem Trapezakt als Musik. Und für S. gilt: etwas 74 ­weniger wäre mehr gewesen. Und da er gestern, aus einer Art Lustlosig­ keit heraus, ziemlich «wenig» gab, war es eigentlich sehr viel und ich genoss einige seiner Lieder sehr. Wenn er all seine Gefühle in ein Lied packen will, dann gibt er zu viel, dann gibt er manchmal so viel, dass die Zuhörer sich peinlich geniert fühlen. In dieser Hinsicht bleiben wir doch alle im Herzen mehr oder weniger Calvinisten, wir würden lieber darauf verzichten, nein, was sage ich: Wir rebellieren, wenn jemand in der Öffentlichkeit seine Seele entblößt und plötzlich nackt dasteht. Und manchmal steht er splitternackt da, dieser Schatz. Und er singt über Rosen und Täubchen, und all die Zärtlichkeit, die man dabei spüren kann, spiegelt sich dann in seinen falschen Zähnen wider. Und wenn es sich um «geh, gehorche meinen Winken» und «Amboß 75 oder Hammer sein» handelt, dann erzittern die Wände unseres Hauses und einiger Nachbarhäuser. Ein Chauffeur aus der Garage76 unten sagte neulich voller Ehrfurcht zu Käthe: «Nun, da wird manchmal ganz ernste Musik gemacht bei Ihnen oben.» Ich fühle mich «sau schlecht» und «hunde-elend», in der Frühe noch schlimmer als jetzt. Gestern Abend im Bett fühlte ich mich ebenso ganz krank und fast verzweifelt. Und dann dachte ich plötzlich: Warum sollte ich auch damit nicht allein fertigwerden können, auch unsere Erkrankun­ gen sind wie eine Aufgabe und wir müssen zusehen, dass wir sie allein be­

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wältigen, ohne andere allzu viel mitgenießen zu lassen, und ich bin mucks­ mäuschenstill, ganz geduldig und ohne allzu viel Auflehnung liegen geblieben und ich glaube, dass es nach einer Weile doch ging. Und nach dem grauen, kühlen Tag gestern ist diese milde, wirklich milde Sonne ein unerwartetes Geschenk. Man kann sich in diesen Tag wie in ein lauwar­ mes und wohltuendes Bad plumpsen lassen und man sollte versuchen, davon etwas für die kalten Tage aufzusparen, die noch kommen werden. Gott ist uns keine Rechenschaft schuldig, aber wir ihm. Ich weiß, was uns noch bevorstehen kann. Ich bin jetzt von meinen Eltern getrennt und kann sie nicht erreichen, auch wenn sie nur zwei Stunden Reisezeit von mir entfernt sind. Aber ich weiß immerhin noch genau, in was für einem Haus sie leben, dass sie keinen Hunger leiden und dass viele wohlgesinnte Menschen um sie herum sind. Und sie wissen auch, wo ich bin. Aber ich weiß, dass eine Zeit kommen kann, in der ich nicht mehr weiß, wo sie sind, in der sie weiß Gott wohin deportiert sein werden und irgendwo elendiglich umkommen, so wie schon jetzt so viele elendiglich umkom­ men. Ich weiß, dass das kommen kann. Die neueste Nachricht ist, dass alle Juden aus Holland über Drenthe nach Polen wegtransportiert wer­ den.77 Und der englische Sender hat berichtet, dass seit April letzten Jahres 700 000 Juden in Deutschland und den besetzten Gebieten umgekom­ men sind.78 Und wenn wir am Leben bleiben, sind das ebenso viele Wun­ den, die wir unser ganzes Leben lang mit uns mittragen müssen. Und dennoch finde ich das Leben nicht sinnlos, Gott, ich kann es nicht ändern. Und Gott ist uns auch keine Rechenschaft schuldig für die vielen Sinnlosigkeiten, die wir selbst anrichten, wir sind Rechenschaft schuldig. Ich bin schon in tausend Konzentrationslagern tausend Tode ge­ storben, ich weiß das alles und neue Nachrichten beunruhigen mich nicht mehr. Irgendwie ist mir das schon alles bewusst. Und dennoch finde ich das Leben schön und sinnreich. In jeder einzelnen Minute. Und ich werde bis zur letzten Minute an diesem Schreibtisch sitzen und an jedes Gedicht glauben, das ich lese ––––– Schüler ––––– kommt jetzt –––––– 79

Mitten am Tag.

Es wird bestimmt alles gut gehen!

später. Ich beschäftige mich jetzt hauptsächlich damit:

5. Juni 1942–3. Juli 1942 Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge; Die Russische Leistung von Karl Nötzel; Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben.80

[Mittwoch] 1. Juli [1942], morgens. Mein Verstand hat alle Geschehnisse der letzten Tage verarbeitet – die ­Gerüchte sind bisher erdrückender als die Tatsachen, zumindest die Tat­ sachen, die uns betreffen, in Polen scheint das Massaker in vollem Gange zu sein –, aber mein Körper offenbar noch nicht. Er ist in tausend Stücke zersplittert und jedes Stück hat einen anderen Schmerz. Komisch, wie mein Körper die Dinge nachträglich noch verarbeiten muss. Ich habe so viel zu schreiben, ganze Bücher voll, über die letzten Tage. Rilke hat noch immer Gültigkeit, auch jetzt. Ich schreibe diese Worte von ihm ab, die ich heute frühmorgens gelesen habe, und sie gelten noch immer, auch jetzt: «Ach, wir rechnen die Jahre und machen Abschnitte da und dort und hören auf und fangen an und zögern zwischen beidem. Aber wie sehr ist, was uns begegnet, aus einem Stück, in welcher Verwandtschaft steht eines zum ande­ ren, hat sich geboren und wächst heran und wird erzogen zu sich selbst, und wir haben im Grunde nur dazusein, aber schlicht, aber inständig, wie die Erde da ist, den Jahreszeiten zustimmend, hell und dunkel und ganz im Raum, nicht verlangend, in anderem aufzuruhen als in dem Netz von Einflüssen und Kräf­ ten, in dem die Sterne sich sicher fühlen.»

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Wie oft habe ich gebetet, es ist noch kein Jahr her: «O Herr, mach mich doch ein bisschen einfacher.» Und wenn mir dieses Jahr etwas gebracht hat, dann ist es sicherlich diese große innere Einfachheit. Und ich glaube, dass ich auch später in der Lage sein werde, die schwierigen Dinge dieses Lebens in ganz einfachen Worten auszudrücken. Später – ?? Ich will jetzt mal die Energie aufbringen, diesen Traum von vorgestern Nacht einmal ganz zu Papier zu bringen, diesen Traum, der ja doch auch sehr ein Teil meiner selbst ist: S. wurde verhaftet, er war in Drenthe, und ich ging am EissportvereinGelände vorbei, trauriger, als ich es jemals in Worte werde fassen können. Ich traf einen deutschen Soldaten, blickte ihm mitten ins Gesicht und fragte ihn geradeheraus: «Haben Sie eine Verlobte in der Heimat?» Er bejahte und ich sagte: «Dann wird diese Verlobte im Moment gerade so traurig sein, wie ich es jetzt bin.» Wir wurden Freunde, der Soldat und ich, wie, zeigte

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sich in diesem Traum nicht ganz klar, aber wir sprachen mehrmals mitein­ ander und berichteten uns gegenseitig von den Untaten, die die Deut­ schen begingen. Und wir sagten: «Wir müssen uns dem stellen und müs­ sen uns trotzdem versöhnen, bei uns beginnt die Versöhnung.» Und ich sagte ihm auch: «Ich werde natürlich bei dir an einen Punkt gelangen, an dem ich sagen werde: Das ist doch typisch deutsch. Aber warum sollte ich dich dann hassen? Ich muss das als etwas Unveränderliches akzeptieren.» Er versuchte,  S. zu befreien, und es gelang ihm,  S. wusste es noch nicht, aber ich wollte in Assen auf ihn warten. Ich sagte zu Käthe in Be­ fehlston: «Ich brauche eine Brotmarke von dir», ich bekam eine und kaufte frische Brötchen gleich um die Ecke, belegte sie mit Käse, packte sie ein und dachte mir dabei: Wenn S. jetzt doch nicht freikommt, dann wird der herzzerreißendste Moment sein, dass ich am Bahnhof in Assen mit einer Tüte frischer Brötchen stehe, die er nicht essen kann. Und zugleich ging mir durch den Kopf, und das war fast das Merkwürdigste am ganzen Traum: Ich dachte mir, dass ich später eine Geschichte schreiben könnte mit dem Umstand als Höhepunkt, dass jemand meint, eine geliebte Per­ son aus dem Gefängnis abholen zu können, und ihn mit einer Tüte fri­ scher Brötchen abholt, und es stellt sich heraus, dass es ein Missverständ­ nis ist, und dann steht er da mit seinen Brötchen. Diese Geschichte wird die ganze Welt zum Weinen bringen, aber ich werde mit solch plumpen Effekten wie diesen Brötchen arbeiten müssen, ich werde nie so schreiben können wie Rilke, so einfach. Und ich stieß in diesem Traum sozusagen an die Grenze meiner Fähigkeiten, meiner zukünftigen Fähigkeiten als Schrift­ stellerin, und ich glaube nicht, dass es mich sehr froh stimmte, aber daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Es gab noch einen ähnlichen Moment in demselben Traum: Ich schrieb in meinem Tagebuch so in etwa Folgendes: «Wenn er mich am Ende des Abends plötzlich noch fünf ­Minuten in den Arm nimmt und ich ihn dann verlasse, kommt es mir vor, als steckte mir eine Liebesnacht in allen Gliedern.» Und ich dachte mir dabei mit einem elenden Gefühl: Ich werde es in poetischer Hinsicht nie­ mals weiter bringen als zu solchen Äußerungen, das ist doch alles sehr kümmerlich, und ich dachte wieder an Rilke. Der Traum ging weiter, ich weiß nicht, wie die Teile genau zusammen­ gehörten, aber Folgendes kam auch darin vor: Ich stand mit meinem Sol­ daten auf dem Vorderperron der Straßenbahn und er gab mir plötzlich zu verstehen, er wolle eine vollständige Beziehung zu mir eingehen. Und ich sagte ihm, ich erinnere mich wortwörtlich daran: «Denkst du, dass in

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­ ieser hochgeistigen (ist das Holländisch, wenn ich fragen darf?) Bezie­ d hung, in der wir leben, ein körperlicher Kontakt noch etwas Neues brin­ gen kann? Und glaubst du, dass ich dir noch etwas geben könnte, das ich dir nicht schon gegeben habe?» Und dann sprang ich von diesem Vorder­ perron herunter. Ich fände es bildschön und so ein hübsches abgerundetes Ganzes, wenn dieser Traum, in dem so viele meiner Probleme verborgen sind, hier zu Ende wäre. Bis dahin war er so erhaben. Aber lass mich ehr­ lich sein. Ich sprang also, nach all diesen hochstehenden Worten (die in der Tat auch eine Errungenschaft von mir sind), von diesem Vorderperron herunter und verspürte plötzlich den Impuls, zurückzugehen und ihm noch zu sagen: «Mit S. habe ich ja auch kein Verhältnis.» Und ich wusste, dass er darüber sehr erstaunt wäre und es überhaupt nicht verstehen würde. Und ich ging mit einem leichten Gefühl der Unzufriedenheit wei­ ter, obwohl ich das eigentlich nicht zugeben wollte, und tat, als wäre alles in bester Ordnung. Und ich sagte zu mir selbst: Aber ich kenne doch diese Männer wirklich, auch wenn ich kein Verhältnis mit ihnen habe. Ich ging in Gedanken weiter, fühlte mich ganz alt und auch ganz mild und dachte darüber nach, dass ich schon so ein langes Leben hinter mir hatte und dass ich ja eigentlich das ganze Leben schon kannte – aber trotzdem blieb ir­ gendwie diese Unzufriedenheit bestehen –. Und jetzt kann ich kein Körperglied mehr rühren und keinen Gedan­ ken mehr in meinem Schädel fassen, dermaßen kaputt bin ich körperlich. Es ist jetzt Viertel vor 1. Nach dem Kaffee werde ich versuchen, ein wenig zu schlafen, und um Viertel vor 5 zu S. Mein Tag besteht manchmal aus hundert Tagen. Jetzt bin ich kaputt. Heute Morgen gegen 7 Uhr hatte ich einen Augenblick lang eine höllische Unruhe und Hektik in mir wegen all dieser neuen Verordnungen,82 und das ist gut so, ich kann dadurch etwas von der Angst der anderen nachempfinden, denn diese Angst ist mir immer fremder geworden. Um 8 Uhr war ich schon wieder die «Frömmigkeit» und die Ruhe selbst. Und ich war fast stolz darauf, dass ich trotz dieser geräderten kör­ perlichen Verfassung doch noch diese 1 ½ Stunden russischen Konversa­ tionsunterricht abhalten konnte, früher hätte ich ihn unter Berufung auf meinen Zustand telefonisch abgesagt. Und heute Abend ist wieder ein neuer Tag, dann kommt wieder ein Mensch mit Schwierigkeiten, ein katholisches Mädchen. Als Jude einem Nichtjuden mit seinen Schwierigkeiten gegenwärtig helfen zu können ver­ leiht einem ein sonderbares Gefühl der Stärke.

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nachmittags, Viertel nach 4. Sonne im Wintergarten und ein leichter Wind durch den weißen Jasmin. Siehst du, jetzt hat schon wieder ein neuer Tag für dich begonnen, der wie­ vielte seit heute Morgen um 7 Uhr? Ich bleibe noch 10 Minuten beim Jas­ min, dann mit dem uns erlaubten Fahrrad zu meinem Freund, der seit 16 Monaten zu meinem Leben gehört und bei dem es mir vorkommt, als würde ich ihn schon seit 1000 Jahren kennen, und der doch manchmal plötzlich wieder so neu für mich ist, dass mir vor Verwunderung der Atem kurz stockt. O ja, dieser Jasmin. Wie ist das möglich, mein Gott, er steht da eingezwängt zwischen der farblosen Mauer der Nachbarn und der Garage. Er schaut über das flache, dunkle, dreckige Garagendach. Zwischen diesem Grau und diesem dreckigen Dunkel ist er so strahlend, so rein, so über­ schwänglich und so zart, eine übermütige junge Braut, die sich in ein Elends­ viertel verirrt hat. Ich verstehe diesen Jasmin nicht. Das muss man auch nicht verstehen. Man kann selbst im 20. Jahrhundert immer noch an Wun­ der glauben. Das ist ein Wunder. Und ich glaube an Gott, selbst wenn mich die Läuse in Polen bald aufgefressen haben. Dieser Jasmin, er macht mich sprachlos. Er steht schon lange dort, aber erst jetzt macht er mich sprachlos. 2. Juli [1942], Donnerstagmorgen, halb 8. Als mein Wecker um 7 Uhr klingelte und ich die Augen öffnete, stand der Morgen auch sofort riesengroß in meinem kleinen Zimmer und vor dem Fenster. Unten war die Stadt, das konnte ich am Geräusch der Straßen­ bahn erkennen. Später kam der Gesang von Soldaten hinzu. Aber vor mei­ nem Fenster sind nur Wolken und wogende Baumwipfel, in einem großen Kreis um mein Fenster geschart, und darunter dieser eine Baum, mein persönlicher Baum. In der vergangenen Nacht tanzte ein einzelner Stern um seinen Stamm. Nur Himmel und Grünes vor meinem Fenster und da unten ab und an ein kleines Geräusch der Stadt. Ich werde mich hüten, übermütig zu werden. Gestern Nachmittag nach dem Jasmin war das fast der Fall. Denn es blieb nicht bei dem Jasmin. Auf dem Weg zu ihm begeg­ nete ich dunkelroten Rosen, die an der Wand eines Hauses hochkletter­ ten, das in einer langen Häuserreihe stand. Und ich wollte mein unbestän­ diges Herz schon wieder ganz diesen Rosen schenken, doch dann sah ich plötzlich viele Veilchen auf einer niedrigen Gartenmauer wachsen. Und später fragte ich S.: «Ist es nicht fast gottlos, in einer Zeit wie dieser noch so sehr an Gott zu glauben? Und ist es leichtsinnig», fragte ich ihn, «das Leben immer noch so schön zu finden?»

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Leiden ist nicht unter der Würde des Menschen. Ich meine: Man kann menschenwürdig und menschenunwürdig leiden. Ich meine: Die meisten Menschen im Westen verstehen die Kunst des Leidens nicht und erleben stattdessen tausend Ängste. Das ist kein Leben mehr, wie die meisten ­leben: Angst, Resignation, Verbitterung, Hass, Verzweiflung. Mein Gott, man kann alles so gut verstehen. Aber wenn ihnen dieses Leben genommen wird, wird ihnen doch nicht viel genommen? Und ich frage mich, ob es so einen großen Unterschied macht, hier von tausend Ängsten oder in Polen von tausend Läusen und Hunger zerfressen zu werden? Man muss den Tod als einen Teil des Lebens akzeptieren, auch den schrecklichsten Tod. Aber erleben wir nicht jeden Tag ein ganzes Leben, und spielt es eine große Rolle, ob wir ein paar Tage mehr oder weniger leben? Ich bin jeden Tag in Polen, auf den Schlachtfeldern, wenn man es so nennen will, manchmal drängt sich mir eine Vision von giftgrünen Schlachtfeldern auf; ich bin jeden Tag bei den Hungernden, bei den Misshandelten und Sterbenden, aber ich bin auch hier beim Jasmin und bei dem Stück Him­ mel vor meinem Fenster, es gibt Platz für alles in einem einzigen Leben. Für den Glauben an Gott und für einen elenden Untergang. Man muss auch die Kraft haben, allein zu leiden und andere nicht mit den eigenen Ängsten und Sorgen zu belasten. Das müssen wir noch lernen und man sollte einander dazu erziehen, und wenn es nicht mit Milde geht, dann mit Strenge. Wenn ich sage: Ich habe auf gewisse Art und Weise mit dem Leben abgeschlossen, dann ist das keine Resignation. «Alles gerade ist Mißverständnis.» Wenn ich gelegentlich so etwas sage, dann wird es anders aufgefasst, als es gemeint ist. Es ist keine Resignation, ganz sicher nicht. Was meine ich dann genau damit? Vielleicht: Ich habe das Leben schon tausendfach gelebt und bin schon tausendfach gestorben, sodass nichts Neues mehr kommen kann? Ist das eine Art Blasiertheit? Nein. Es geht darum, das Leben tausend­ fach in jeder einzelnen Minute zu leben, und dazu gehört auch: dem Lei­ den einen Platz einzuräumen. Und es ist wirklich nicht wenig Platz, den das Leiden derzeit beansprucht. Und spielt es letztendlich eine Rolle, ob es in dem einen Jahrhundert die Inquisition ist und in einem anderen Kriege und Pogrome sind, die die Menschen leiden lassen? Sinnloses Leiden, wie sie selbst sagen? Das Leiden hat immer seinen Platz und seine Rechte ein­ gefordert, und spielt es eine große Rolle, in welcher Form es auftritt? Es kommt darauf an, wie man es erträgt und ob man es in sein Leben inte­ grieren kann und dennoch das Leben weiterhin akzeptiert. Theoretisiere

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ich jetzt am Schreibtisch, wo jedes Buch mich mit seiner eigenen Vertrau­ lichkeit umgibt, und mit diesem Jasmin da draußen, diesem nicht zu be­ sänftigenden, übermütigen und zarten Jasmin? Ist das alles nur Theorie, noch nicht in der Praxis erprobt? Ich glaube kaum. Ich habe Schmerzen in meinem Körper und nachher laufe ich mit S. zum anderen Ende der Stadt und wir werden viele Straßenbahnen an uns vorbeifahren sehen, die uns schneller als unsere Beine dorthin hätten bringen können, und bald schei­ nen wir wirklich registriert83 zu werden, jetzt die Holländer und ebenfalls die Mädchen («Sie dürfen nicht weg», sagte S. gestern bestimmt; und ­Käthe zeigte auf ihre eingemachten Erdbeeren und sagte: «Ich hoffe, dass du davon auch noch etwas genießen kannst», ja, solche Dinge schleichen sich in die alltäglichen Gespräche ein), und Mischa musste gestern zum Bahnhof laufen, und sie werden sich zu Hause an diesen langen Sommer­ abenden nach 8 Uhr vermutlich niedermetzeln, ich denke an die zwei klei­ nen blassen Kindergesichter von Mirjam und Renate und an die Sorge vieler, ich weiß darum, um alles und in jedem Augenblick, ich weiß auch um die Ängste der Menschen, und manchmal muss ich auf einmal den Kopf unter einer großen Last senken, die sich mir in den Nacken legt, und während ich dann meinen Kopf senke und weiß, was alles los ist und wie es um diese Zeit steht, habe ich zugleich das Bedürfnis, mit einer fast ­automatischen Gebärde die Hände zu falten. So könnte ich dann stun­ denlang sitzen bleiben, ich weiß um alles und kann auch alles tragen und werde immer stärker im Tragen und zugleich ist da die Gewissheit: Ich finde das Leben so schön, so lebenswert und auch sinnreich, trotz allem. Und das bedeutet nicht, dass man immer in erhabenster und gläubigster Stimmung ist. Man kann von einem langen Fußmarsch, vom Warten in einer Schlange hundemüde sein, aber auch das gehört zum Leben, und irgendwo in dir ist etwas, das dich nie mehr verlassen wird. 3. Juli 1942, Freitagabend, halb 9. Es ist wahr, ich sitze noch am selben Schreibtisch, aber mir ist, als müsste ich unter das Vorangegangene einen Strich ziehen und in einem neuen Ton weiterschreiben. Man muss einer neuen Gewissheit in seinem Leben eine Bleibe verschaffen, man muss einen Platz dafür finden: Es geht um unseren Untergang und unsere Vernichtung, da braucht man sich keiner­ lei Illusionen mehr zu machen. Man ist auf unsere völlige Vernichtung aus, damit muss man sich in seinem Leben abfinden und dann geht es wieder weiter. Heute überkam mich zum ersten Mal eine große Nieder­

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geschlagenheit und ich muss zusehen, jetzt damit fertigzuwerden. Und vielleicht, oder besser gesagt sicherlich, liegt das auch an den 4 Aspirin von gestern. Und wenn wir vor die Hunde gehen, dann so anmutig wie mög­ lich. Aber so platt wollte ich es gar nicht ausdrücken. Warum erst jetzt dieses Gefühl? Wegen der Blase an meinem Fuß von diesem langen Fuß­ marsch durch diese heiße Stadt, in der so viele wund gelaufene Füße ­haben, seit sie nicht mehr mit der Straßenbahn fahren dürfen, wegen Re­ nates blassem Gesichtchen, weil sie mit ihren kurzen Beinchen zur Schule laufen muss in der Hitze, eine Stunde hin und eine Stunde zurück? Weil Liesl stundenlang in der Schlange ansteht und dennoch kein Gemüse ­bekommt? Wegen so schrecklich vielem, an sich alles Kleinigkeiten, aber alles kleine Teile des großen Vernichtungskampfes gegen uns. Und alles andere ist vorläufig nur grotesk und kaum vorstellbar: dass S. dieses Haus nicht mehr besuchen darf, in dem sich sein Flügel und seine Bücher befin­ den, dass ich nicht mehr zu Tide gehen darf etc. Ich füge hier noch an, was Netty S. geschrieben hat. Es gilt nach wie vor: die Gewissheit in mir zu tragen, dass mein Wunsch erfüllt wird, dass ich eines Tages nach Russland gehen werde, dass ich einmal eines der vielen Bindeglieder zwischen Russland und Europa werde. Das ist eine Gewiss­ heit in mir, die durch diese neue Gewissheit nicht erschüttert wird: dass man unsere Vernichtung will. Auch das akzeptiere ich. Ich weiß es nun. Ich werde anderen nicht mit meinen Ängsten zur Last fallen, ich werde nicht verbittert sein, wenn andere nicht verstehen, worum es bei uns Ju­ den geht. Die eine Gewissheit darf von der anderen weder angegriffen noch entkräftet werden. Ich arbeite und lebe mit der gleichen Überzeu­ gung weiter und finde das Leben sinnreich, trotzdem sinnreich, auch wenn ich mich kaum noch traue, dies in Gesellschaft zu sagen. Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an den wund gelau­ fenen Füßen und der Jasmin hinten in meinem Garten, die Verfolgungen, die unzähligen sinnlosen Grausamkeiten, all das, ja wirklich all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich akzeptiere alles als ein Ganzes und beginne immer besser zu verstehen, nur für mich selbst, ohne es bis­ lang jemandem erklären zu können, wie sich alles zueinander verhält. Ich möchte lange leben, um später alles noch einmal erklären zu können, und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird es jemand anderes tun, dann wird jemand anderes mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde, und deshalb muss ich es so gut, so vollkom­

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men und so überzeugt wie möglich bis zum letzten Atemzug weiterleben, damit derjenige, der nach mir kommt, nicht wieder ganz von vorne anfan­ gen muss und es nicht mehr so schwer hat. Ist das nicht auch eine Tat für die Nachwelt? Bernards jüdischer Freund84 ließ mich nach den letzten Verordnungen fragen, ob ich noch immer nicht der Meinung sei, sie müssten alle umgebracht werden, vorzugsweise Stück für Stück filetiert.

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[Freitag, 3. Juli 1942.] Und ich dachte: Es wäre in der Tat für unsere persönliche Verbitterung und unsere Rachegefühle das Befriedigendste, aber weshalb den billigsten und einfachsten Weg wählen? Warum nur an die Befriedigung des eigenen Egos denken? Denn das ist es doch im Grunde eigentlich? Dann sind die­ jenigen, die nach uns kommen, noch genauso weit entfernt davon und müssen wieder von vorne anfangen; warum können wir nicht versuchen, einen kleinen Schritt vorwärts zu machen? Und dabei geht es nicht um Theorien, sondern um tägliche Übungen. Zum Beispiel meine plötzliche Gereiztheit und Aggressivität gegenüber Käthe, weil ich plötzlich spüre, wie sie innerlich ihr Land verteidigt, das Gute, das es ja auch in ihrem Land gibt, weil dort Menschen wie wir leben. Das ist doch so? Man kann theoretisieren, was man will, es sind Menschen wie wir, daran müssen wir uns trotz allem festhalten und wir müssen es verkünden, um dem Hass entgegenzuwirken. Ach, wir haben ja alles in uns: Gott und den Himmel, Hölle und Erde, Leben und Tod und Jahrhunderte, viele Jahrhunderte. Die Kulissen und die Handlung der äußeren Umstände wandeln sich. Aber wir tragen alles in uns, und die Umstände sind ja nicht das Entscheidende, niemals, weil es immer Umstände geben wird, gute und schlechte, und die Tatsache, dass es gute und schlechte Umstände gibt, muss man akzeptieren, was ­einen nicht daran hindert, sein Leben der Verbesserung des Schlechten zu widmen. Aber man muss wissen, aus welchen Gründen man diesen Kampf führt, und man muss bei sich selbst anfangen, jeden Tag aufs Neue bei sich selbst. Früher dachte ich, ich müsse jeden Tag eine Menge genialer Gedanken entwickeln, und jetzt bin ich manchmal wie ein brachliegendes Feld, auf

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dem nichts wächst, über dem aber ein hoher, stiller Himmel hängt. Und so ist es besser. Einer Vielzahl von sprudelnden Gedanken gegenüber bin ich gegenwärtig misstrauisch, ich liege lieber brach und warte manchmal ab. In den letzten Tagen ist in mir so schrecklich viel passiert, und jetzt hat sich endlich etwas herauskristallisiert. Unserem Untergang, unserem wahrscheinlich elenden Untergang, der jetzt schon beginnt, sich in vielen kleinen Dingen des täglichen Lebens bemerkbar zu machen, habe ich ­direkt ins Auge geblickt und dessen Eventualität einen Platz in meinem Lebensgefühl eingeräumt, ohne dass mein Lebensgefühl dadurch an Kraft verloren hätte. Ich bin weder verbittert noch rebellisch, ich bin auch nicht mehr mutlos und schon gar nicht resigniert. Mein Wachstum geht ge­ nauso ungehindert weiter, Tag für Tag, obwohl ich die Möglichkeit der Vernichtung ständig vor Augen habe. Ich werde nicht mehr mit Worten kokettieren, die doch nur Missverständnisse hervorrufen: Ich habe mit dem Leben abgerechnet, mir kann nichts mehr passieren, und es geht ja nicht um mich persönlich, es spielt doch keine Rolle, ob ich zugrunde gehe oder ein anderer, dass überhaupt jemand zugrunde geht, darum geht es. Ich sage das zwar manchmal zu anderen, aber es hat wenig Sinn und verdeutlicht doch nicht, was ich meine, und auch das ist nicht wichtig. Wenn ich sage «mit dem Leben abgerechnet», meine ich damit: Habe den Tod so völlig in mein Leben aufgenommen, mein Leben gleichsam um den Tod erweitert, blicke dem Tod ins Auge und akzeptiere ihn; für mich gehört der Untergang, jegliche Art von Untergang, zum Leben dazu. Man sollte also nicht jetzt schon einen Teil des Lebens gleichsam dem Tod ­opfern aufgrund der Angst vor dem Tod und weil man den Tod nicht ak­ zeptiert, denn dadurch, dass die meisten den Tod nicht akzeptieren, und aufgrund all dieser Ängste haben sie nur noch ein armselig verkümmertes Restchen Leben behalten, das man kaum noch Leben nennen kann. Es klingt fast paradox: Wenn man den Tod aus seinem Leben ausschließt, führt man kein vollständiges Leben, und indem man den Tod in sein ­Leben einbezieht, erweitert und bereichert man das Leben. Dies ist meine erste Konfrontation mit dem Tod. Ich konnte mit dem Tod nie so recht etwas anfangen. Ich stehe dem Tod noch so jungfräulich gegenüber. Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Man stelle sich das mal vor: In dieser Welt, die mit Millionen von Leichen übersät ist, habe ich mit meinen 28 Jahren noch nie einen Toten gesehen. Ich habe mich zwar manchmal gefragt: Wie stehe ich eigentlich zum Tod? Aber auf mich selbst bezogen bin ich nie so tief darauf eingegangen, dafür war die Zeit noch

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nicht reif. Und jetzt ist der Tod da in voller Lebensgröße und zum ersten Mal, und doch wie ein alter Bekannter, der zum Leben dazugehört und akzeptiert werden muss. Es ist alles ganz einfach. Es besteht keine Not­ wendigkeit für tiefsinnige Betrachtungen. Plötzlich ist der Tod in mein Leben getreten, groß, einfach, ganz selbstverständlich und fast lautlos. Er nimmt jetzt seinen Raum darin ein und ich weiß jetzt, er gehört zum ­Leben dazu. So, jetzt kann ich ruhig schlafen gehen, es ist 10 Uhr abends. Heute habe ich nicht viel getan, ich war gedanklich bei all den Füßen mit Blasen in der heißen Stadt und bei noch mehr solcher Kleinigkeiten und dies musste erlitten und verarbeitet werden. Danach überkam mich große Mutlosigkeit und Unsicherheit. Dann bin ich kurz zu ihm gegangen. Er hatte Kopfschmerzen und war deswegen beunruhigt, denn sonst funktio­ niert immer alles vortrefflich in seinem kräftigen Körper. Ich lag für einen Moment in seinen Armen und er war so weich und so lieb, fast wehmütig. Es scheint mir eine neue Ära in unserem Leben anzubrechen. Noch ernsthafter, noch intensiver und noch mehr Konzentration auf das Aller­ notwendigste. Es fällt eine Menge Kleinlichkeit von einem ab, von Tag zu Tag mehr. «Es geht auf unsere Vernichtung das ist ja klar, darüber brauchen wir uns nicht zu täuschen.» Morgen Abend werde ich in Dickys Bett schla­ fen, ein Stockwerk tiefer wird er schlafen und mich morgens aufwecken. All dies ist noch möglich. Und wie wir einander in diesen Zeiten beistehen können, das wird sich schon noch zeigen. Und ob wir heiraten oder nicht, wie das gehen soll, das wird sich schon zeigen. Alles gedeiht noch immer, auch wenn alles sinnlos erscheint. Und nun gehe ich schlafen. Ein wenig später. Selbst wenn mir dieser Tag nichts gebracht hätte, selbst wenn es nicht noch im letzten Moment diese gute und umfassende Konfrontation mit dem Tod und dem Untergang gegeben hätte, hätte ich diesen koscheren deutschen Soldaten mit seiner Tüte Karotten und dem Blumenkohl am Kiosk nicht vergessen dürfen. Zuerst drückte er dem Mädchen in der Stra­ ßenbahn1 einen Zettel in die Hand, und später kam dieser Brief, den ich irgendwann einmal lesen muss: Sie erinnerte ihn so sehr an die ver­storbene Tochter eines Rabbiners, die er auf ihrem Sterbebett in England tage- und nächtelang noch pflegen durfte. Und heute Abend ist er bei ihr zu Besuch. Und als Liesl mir das alles erzählte, wusste ich auf einmal: Für diesen deutschen Soldaten werde ich heute Abend auch beten müssen. Eine der vielen Uniformen hat jetzt ein Gesicht bekommen. Es wird noch mehr

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solche Gesichter geben, aus denen wir etwas werden ablesen können, das wir verstehen. Und er leidet auch. Es gibt keine Grenzen zwischen leiden­ den Menschen, man leidet auf beiden Seiten aller Grenzen und man muss für alle beten. Gute Nacht. Seit gestern bin ich wieder älter geworden, auf einen Schlag um viele Jahre älter und ernsthafter. Die Mutlosigkeit ist von mir gewichen und an ihre Stelle ist eine größere Kraft als einst getreten. Und auch dies: Indem man seine eigenen Schwächen und Unzuläng­ lichkeiten kennenlernt und akzeptiert, steigert man seine Kraft. Es ist alles so einfach, mir selbst wird das immer klarer und ich möchte lange leben, um es anderen auch klarzumachen. Und nun wirklich gute Nacht. Samstagmorgen [4. Juli 1942], 9 Uhr. Es ist, als ob in mir große Veränderungen stattfinden würden, und ich glaube, dass es mehr als nur Stimmungen sind. Gestern Abend kam es zu einem großen Durchbruch einer neuen Er­ kenntnis, zumindest wenn man so etwas als Erkenntnis bezeichnen will, und heute Morgen war ich wieder gelassen und auch heiter und ich hatte eine Gewissheit wie schon seit Langem nicht mehr. Kam das etwa alles durch diese eine kleine Blase an der linken Fußsohle? Mein Körper ist ein Aufbewahrungsort für viele Schmerzen, sie wer­ den in allen Winkeln gelagert, wobei einmal der eine Schmerz zum Vor­ schein kommt und dann wieder ein anderer. Auch daran habe ich mich gewöhnt. Und ich bin selbst erstaunt, wie gut ich bei alledem arbeiten und mich konzentrieren kann. Aber ich muss mir auch vor Augen halten, dass man mit geistiger Stärke allein auch nicht weit kommt, wenn es ernst für uns wird. Der kleine Spaziergang zur Steuerbehörde und zurück hat es mich gelehrt. Zunächst liefen wir wie fröhliche Touristen durch eine sonnige, schöne Stadt. Seine Hand erhaschte beim Gehen immer wieder meine und sie hatten es so gut zusammen, unsere Hände. Als ich zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr müde wurde, war es doch ein sonderbares Gefühl, dass man in dieser großen Stadt mit ihren endlosen Straßen in keiner dieser Straßenbahnen und auch nicht kurz in einem Straßencafé sitzen durfte (von vielen Straßencafés konnte ich ihm etwas erzählen: Schau, dort habe

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ich vor 2 Jahren mit vielen Freunden gesessen, um meinen Hochschul­ abschluss zu feiern usw.2). Da dachte ich, nein, eigentlich dachte ich es gar nicht, es war eher eine Empfindung: In allen Jahrhunderten hat es müde Menschen gegeben, die sich in Kälte und Hitze die Füße auf Gottes Erde wund gelaufen haben, auch das gehört zum Leben. In letzter Zeit spüre ich immer stärker, dass sich ein Hauch von Ewigkeit bis in die kleinsten alltäglichen Handlungen und Empfindungen einschleicht. Ich bin nicht die Einzige, die müde, krank, traurig oder ängstlich ist, sondern ich teile das Los von Millionen anderen Menschen aus vielen Jahrhunderten. Das ist alles Teil des Lebens und das Leben ist trotz allem schön und auch sinn­ reich. Es ist selbst in seiner Sinnlosigkeit sinnreich, wenn man nur allen Dingen einen Platz im Leben einräumt und das ganze Leben als eine Ein­ heit in sich trägt, sodass es auf gewisse Weise ein abgeschlossenes Ganzes bildet. Und sobald man Teile davon beseitigen und nicht akzeptieren will, sobald man eigenmächtig und willkürlich die einen Dinge im Leben ak­ zeptieren will, die anderen jedoch nicht, ja, dann wird es tatsächlich sinn­ los, weil es keine Einheit mehr bildet und alles willkürlich wird. Und am Ende unserer langen Tour erwartete uns ein sicheres Zimmer mit einem Diwan, auf den man sich werfen konnte, nachdem man die Schuhe ausgezogen hatte, und ein herzlicher Empfang, denn Freunde hat­ ten einen Korb Kirschen aus der Betuwe3 geschickt. Früher war ein gutes Mittagessen eine Selbstverständlichkeit für uns, jetzt wird es zum uner­ warteten Geschenk, und obwohl das Leben einerseits härter und gefähr­ deter geworden ist, ist es andererseits auch reicher, weil man keine An­ sprüche mehr hat und alles Gute zu einem unerwarteten Geschenk wird, das man dankbar annimmt. Zumindest mir ergeht es so und ihm ergeht es genauso, wir sagen manchmal zueinander, wie seltsam es ist, dass wir über­ haupt keinen Hass, keine Empörung und Verbitterung empfinden. Man kann das nicht mehr so offen in Gesellschaft aussprechen und wir stehen mit dieser Einstellung vermutlich schrecklich allein da. Während des Spaziergangs wusste ich, dass uns am Ende unseres ­Weges ein sicheres Haus erwartete, aber zugleich war mir bewusst, dass eine Zeit kommen wird, in der kein Haus mehr auf uns wartet und in der man nicht mehr einfach durch die Straßen wird gehen können, und dass es eine Baracke geben wird, in der man mit vielen anderen zusammen um­ kommt. Mir war das alles bewusst, während ich ging, ich wusste, dass es nicht nur mir, sondern auch allen anderen so ergehen würde, und ich habe es akzeptiert.

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Und noch etwas hat mich dieser Spaziergang gelehrt, was ich mir vor Augen halten muss: Nur von diesen zwei Stunden Spaziergang bekam ich Kopfschmerzen, so schlimm, dass mein Schädel in allen Fugen krachte und an seinen Nähten zu platzen drohte. Und meine Füße waren so wund, dass ich dachte: Wie soll ich jemals wieder laufen können? Und die vielen Aspirintabletten, die ich genommen hatte (ich glaubte, dass das sein müsste, weil ich sonst sofort ins Bett hätte gehen müssen, aber sollte man nicht allmählich lernen, seine Schmerzen auch ohne künstliche Gegen­ mittel zu ertragen?), hielten mich den ganzen nächsten Tag in einem ­gedämpften und vergifteten Zustand gefangen. Für mich war das nicht schlimm, in keinem Augenblick, mein Leben war deshalb weder weniger intensiv noch weniger schön, aber ich musste doch objektiv betrachtet feststellen: Du taugst zu nichts, Mädchen. Dein Körper ist vollkommen untrainiert und widerstandslos, in einem Arbeitslager wirst du nach drei Tagen das Zeitliche segnen, alle geistige Stärke der Welt wird dich dort nicht retten können, wenn du jetzt schon nach einem gemütlichen Spa­ ziergang von nicht einmal zwei Stunden mit solchen Kopfschmerzen und solcher Müdigkeit reagierst, obwohl du noch allen Komfort im Hinter­ grund hast. Für mich ist das alles nicht schlimm. Ich strecke mich auf dem Boden aus und gebe mich hin, und dann ist es vorbei und dennoch werde ich das Leben und Gott noch preisen, zumindest glaube ich das jetzt. Aber da war wiederum die Angst und Traurigkeit, anderen zur Last zu fallen und wie eine Last an den anderen zu hängen, sodass ihr Weg noch mehr erschwert wird. Früher habe ich es anderen immer verheimlicht, wenn ich mich körperlich weit über meine Kräfte hinaus angestrengt hatte, ich wollte nicht zur Last fallen, ich spazierte mit, ich feierte mit, ich ging auch spät ins Bett, ich habe an allem teilgenommen. Aber steckte da nicht auch ein bisschen Ehrgeiz dahinter? Die Angst, dass die anderen einen nicht mehr so mögen würden, verärgert wären und einen fallen lassen würden, wenn man ihre Vergnügungen mit dem Gewicht seines müden Körpers belastete? Das war der Ursprung eines meiner Minder­ wertigkeitskomplexe. Und nach diesem Spaziergang kam auch noch dies hinzu: Er hatte mit mir vereinbart, morgen früh ins Judenviertel zu ge­ hen, um einige Adressen aufzusuchen, wo wir vielleicht Hilfe anbieten können, aber das ist noch viel weiter zu gehen als zur Steuerbehörde am Donnerstagmorgen. Bis gestern Abend fand ich nicht den Mut zu sagen, dass ich diese Strecke nicht laufen könne. Denn ich weiß, dass ein solcher Spaziergang für ihn eine Erholung ist. Und ich muss so in etwa gedacht

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haben: Mit Tide kann er stundenlang laufen, dann muss ich das doch auch können? Es ist doch immer diese kindische Angst, sich in gewisser Hinsicht ein bisschen Liebe zu verspielen, wenn man sich nicht ganz und gar nach dem anderen richtet. Aber ich beginne, mich mehr und mehr von diesen ­Dingen zu befreien. Man muss in der Lage sein, seine Unzulänglichkeiten, auch körperlicher Art, einzugestehen, und man muss es akzeptieren kön­ nen, dass man nicht ganz das für einen anderen sein kann, was man gerne sein möchte. Schwächen einzugestehen bedeutet nicht, sich darüber zu beklagen, denn damit würde das Elend erst beginnen, auch für den ande­ ren. Ich glaube, das bewog mich am meisten dazu, gestern Abend kurz vor 8 Uhr noch zu ihm zu rennen und gegen meine Gewohnheit sogar einem Schüler telefonisch abzusagen, nur um noch für eine Weile bei ihm zu sein. Und als ich neben ihm auf dem Diwan lag, sagte ich ihm unver­ sehens, dass ich so betrübt darüber sei, dass dieser Spaziergang mich so ermüdet habe. Mich selbst hat es nicht gestört, aber ich konnte daran er­ messen, wie wenig Illusionen ich mir über meine körperliche Verfassung machen darf. Und er sagte sofort, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt: «Dann ist es wahrscheinlich auch besser, wenn wir am Sonntag­ morgen diese Strecke nicht zu Fuß gehen.» Und da schlug ich vor, ich könnte mein Fahrrad mitnehmen und mich auf dem Rückweg draufset­ zen. Es scheint eine solche Kleinigkeit zu sein, aber für mich ist es eine Leistung. Sonst hätte ich mir vielleicht die Füße wund gelaufen, nur um ihm diesen Gefallen zu tun und um nicht Gefahr zu laufen, dass er fürch­ terlich verärgert wäre, weil ich ihm diesen Spaziergang verdorben hätte. Alles Dinge, die natürlich nur in meiner Fantasie existieren. Und jetzt sage ich ganz einfach und selbstverständlich: «Schau, so weit reichen meine Kräfte und nicht weiter, ich kann es nicht ändern, du musst mich so neh­ men, wie ich bin.» Für mich ist dies ein weiterer Schritt in Richtung Reife und Selbstständigkeit, denen ich jetzt jeden Tag näher zu kommen scheine. Viele, die derzeit über Ungerechtigkeiten empört sind, sind eigentlich nur empört, weil diese Ungerechtigkeiten ihnen widerfahren. Es handelt sich also nicht um eine echte, tief verwurzelte Empörung. Ich weiß, daß ich in einem Arbeitslager in drei Tagen sterben werde, ich werde mich hinlegen und sterben und das Leben trotzdem nicht ungerecht finden.

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Am späten Vormittag. Es ist jedes Mal, wenn ich mir ein sauberes Hemd anziehe, wie eine Art Feier. Auch wenn ich mich im Badezimmer, das mir eine halbe Stunde lang ganz allein gehört, noch mit duftender Seife wasche. Es ist, als würde ich bereits andauernd Abschied nehmen von all diesen Errungenschaften der Zivilisation. Und wenn ich sie später einmal entbehren muss, werde ich doch immer noch wissen, dass es sie gibt und dass sie das Leben ver­ schönern können, und ich werde sie als Vorzüge des Lebens preisen, selbst wenn sie mir nicht mehr zuteilwerden. Denn dass sie mir jetzt zufälliger­ weise noch zuteilwerden, darum geht es ja nicht? Man muss alles verarbeiten, was auf einen zukommt. Auch wenn jemand in Gestalt eines vermeintlichen Mitmenschen auf einen zukommt, wenn man gerade eine Apotheke4 verlässt, in der man Zahnpasta gekauft hat, einen mit dem Zeigefinger anstupst und mit dem Gesicht eines Inquisi­ tors fragt: «Dürfen Sie dort einkaufen?» Und ich erwiderte schüchtern, aber bestimmt und mit meiner üblichen Freundlichkeit: «Ja, mein Herr, das ist nämlich eine Apotheke.» «Soso», antwortete er dann sehr kurz und misstrauisch und ging weiter. Ich bin nicht sehr schlagfertig. Schlagfertig bin ich nur in einem geistreichen Dialog mit meinesgleichen. Dem Pöbel auf der Straße, um es mal ganz krass auszudrücken, bin ich vollkommen wehrlos ausgeliefert. Ich werde dann verlegen und bin traurig und er­ staunt, dass Menschen so miteinander umgehen können, aber eine schnip­ pische Antwort innerhalb der Grenzen des Erlaubten, um mir so etwas nicht bieten zu lassen, kommt mir nicht in den Sinn. Dieser Mann hatte sicherlich nicht das Recht, mich dies zu fragen. Das war bestimmt so ein Idealist, der eines Tages mithelfen wird, die Gesellschaft von jüdischen Elementen zu säubern. Jedem sein Pläsierchen im Leben. Aber so ein klei­ ner Kontakt mit der Außenwelt muss doch verarbeitet werden. Ich habe innerlich nicht das geringste Interesse daran, in den Augen irgendwelcher Verfolger in der Außenwelt eine gute Figur zu machen, und deshalb werde ich mich nie dazu zwingen. Und meinen Kummer dürfen sie sehen und ebenfalls, dass ich ihnen völlig hilflos ausgeliefert bin. Ich habe kein Bedürfnis, nach außen hin eine gute Figur abzugeben, ich habe meine innere Stärke und das reicht, der Rest ist unwichtig. Und heute Abend die Starrevelds, der Kirschkuchen, sein kleines Zimmer und Dickys Bett. Dass noch so viel möglich ist!

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Viertel vor 1 Uhr nachts, in Dickys Zimmer. Man sollte nicht in den müdesten und schwächsten Momenten die Bilanz seines Lebens ziehen wollen, man macht sich dann unglücklicher als ­nötig. Er hat gerade ganz rührend und fürsorglich mein Bett gemacht und dann genauso sanft seinen Mund auf meinen gelegt, dann ging er weg und ich blieb mitten in diesem fremden Zimmer wie ein hilfloses, schüchternes Schulmädchen zurück und konnte gerade noch meine Tränen zurück­ halten. Dann warf ich mich in voller Länge auf Dickys Bett und glaubte, noch nie so traurig gewesen zu sein wie jetzt gerade, so eine schmerzliche, laue Traurigkeit, die körperliche Schmerzen im Herzen hervorruft. Er be­ ginnt in den letzten Tagen Anzeichen von Müdigkeit und Erschöpfung zu zeigen, ich mache mir Sorgen und habe solche Angst, dass ich nicht genü­ gend Kraft habe, um ihn zu unterstützen. So müde und völlig erschöpft wie jetzt habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, als ob ich mich nie wieder davon erholen könnte. Welche Erwartungen habe ich an diesen Abend gestellt? Doch noch begehrende und geschmacklose? Dennoch ist alles besser so. Ich bin sogar zu müde, um ihn zu lieben. Muss auch nicht die ganze Zeit sein. Dieses Zimmer fühlt sich um mich herum schon ver­ traut und sicher an, ich glaube, ich könnte darin sogar beten. Der Unter­ gang ist auch Teil des Lebens. Vielleicht hat mich diese starke und ein­ drückliche Konfrontation mit dem Untergang gestern Abend und heute Morgen derart meiner Kräfte beraubt. Und nach einem sehr starken Ein­ druck wirkt alles andere viel matter und farbloser. Ich sehne mich wieder nach vielen ruhigen Stunden des Arbeitens an meinem Schreibtisch. Aber unser tägliches Leben erfordert jetzt so viel Kraftanstrengung. Was mich auch müde macht, ist zum Beispiel, dass er mir erzählte, dass jemand ­denunziert hat, dass ihm das Essen von Geiger gebracht wird. Und jetzt bringen es Dicky und Adri unter Lebensgefahr. Und er hat sich zweimal pro Woche zu Liesl eingeladen und Liesl ist verzweifelt, weil sie nicht weiß, was sie ihm vorsetzen soll. Und dennoch? Wir haben heute Abend über den Künstler, das Leben und über die Seele und den Geist gespro­ chen, über die paar Themen, um die es immer wieder geht. Und wir wer­ den dies auch weiterhin tun. Und der Untergang ist Teil des Lebens. Werde ich morgen wohl immer noch so müde sein? Dann ist es ein verlorener Tag. Auch seine Müdigkeit muss man «wahrhaben» wollen. Ich verkrieche mich dann still und traurig mit einem Buch in eine Ecke. Heute Morgen musste ich plötzlich so tief auf der rauen Kokosnussmatte im Badezimmer niederknien, dass mein Kopf fast auf meinem Schoß

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ruhte. Ich könnte tagelang so liegen bleiben, mein Körper ist dann wie die sicheren Wände einer kleinen Zelle um mich herum und beschützt mich, während ich mich darin befinde. Ich werde schon wieder ruhiger. Viel­ leicht wird man uns eines Tages so weit bringen, dass es eine Erleichterung sein wird, in einer Zelle eingesperrt zu sein und sich nicht mehr um die täglichen Dinge kümmern und keine Verantwortung mehr tragen zu müs­ sen. Dann liegt die Verantwortung bei ihnen. Diese Tiefs muss man auch durchleben, man darf sich keine Illusionen über die Außenwelt machen. Werner wird den Hin- und Rückweg zu Fuß zum Theater5 nicht mehr lange durchhalten können. Ich werde nie gerne mit anderen zusammen­ leben wollen, mit Freunden schon gar nicht. Hier allein an diesem kleinen Tischchen mit der Schirmlampe, allein in der Nacht, komme ich schon wieder allmählich ein wenig über den größten Tiefpunkt hinweg. Ich muss so viel allein sein und der Raum nimmt stetig ab, wir Juden werden auf immer kleinerem Raum zusammen­ gepfercht. Diese Müdigkeit von heute Abend wird nicht ewig anhalten. Ich werde ein bisschen Zeit haben, mich davon zu erholen. Aber jeden Tag können alle Arten von Unannehmlichkeiten über mich hereinbrechen. Man sollte nicht zu weit vorausdenken. Dort steht ein Bett mit sauberen Laken. Und morgen früh werde ich ein Frühstück und fließend warmes und kaltes Wasser haben und er ruft mich wieder. Für den morgigen Tag ist gesorgt. Weiter muss ich nicht denken. Früher hätte mich so eine ­bleierne Müdigkeit zur Verzweiflung gebracht. Ich dachte, sie ginge nie wieder vorüber, und projizierte sie gewissermaßen auf die folgenden Tage, und natürlich blieb ich dann auch müde. Ich werde schlafen gehen und vielleicht ist morgen wieder alles anders. Früher bin ich wahrscheinlich so lange müde geblieben, weil ich tagelang unverarbeitetes Material und un­ verstandene Trauer mit mir herumgeschleppt habe, aber jetzt verstehe ich bereits etwas von meiner Traurigkeit. Sie setzt sich aus so vielen Elementen zusammen und ich habe sie jetzt schon wieder teilweise verarbeitet. Heute Abend wurden viele gute Dinge gesagt. Es verleiht mir manchmal ein ­Gefühl von Unzulänglichkeit, dass ich nichts davon wiedergeben kann. Es muss in mir zuerst alles noch «verwandelt» werden. Heute Abend dachte ich auch plötzlich: Ich bringe alle Widersprüchlichkeiten in mir immer mehr in Einklang, ich durchlebe meine Schwierigkeiten und bewege mich auf eine Lösung zu, und viele Dinge werden für mich immer einfacher und klarer, ich vollbringe sozusagen Gestaltungsarbeit, künstlerische ­Arbeit an meinem Seelenleben. Aber wird dies nicht zur Folge haben, dass

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ich irgendwann so von Harmonie und Ausgeglichenheit erfüllt bin  – manchmal ist das schon der Fall –, dass ich nicht mehr zu weiterer schöp­ ferischer Arbeit komme, weil ich kein Bedürfnis mehr danach verspüre? Es ist jetzt schon Viertel nach 1, ich muss schlafen gehen. Vom morgigen Tag verlange ich gar nichts, ich erwarte auch nichts von ihm. Das Essen bei Adri verleiht mir jetzt schon ein Gefühl der Unsicher­ heit. Das ist das Schlimmste an solcher Müdigkeit: Mein Humor ist ver­ schwunden. Und mein Humor ist meine Widerstandskraft, besonders in Zeiten wie diesen. Der Untergang ist auch Teil dieses Lebens, das ist eine große und niederschmetternde Wahrheit, ich habe ihm ins Auge geblickt und akzeptiere ihn; bin ich vielleicht deshalb so müde? Wenn ich das ges­ tern nicht durchgemacht hätte, hätte ich jetzt wahrscheinlich seitenweise über ihn und mich geschrieben und darüber, dass er jetzt ein Stockwerk unter mir schläft, dass ich nicht bei ihm schlafe und noch mehr solches dumme Zeug. Aber das hatte ich nach 2 Minuten hinter mir gelassen. Es wäre eine große Geschmacklosigkeit in diesem sauberen Haus der Nethes gewesen. Bei mir zeichnet sich eine Akzentverschiebung ab, die von ­großer Traurigkeit und der immer wiederkehrenden eigenen Erfahrung begleitet wird, dass ich eigentlich allein sein sollte. Und das Gefühl, vor dem Mann und vor jeglicher Gemeinschaft fliehen zu wollen. Und doch nicht zu ­fliehen, weil man weiß, dass man auch da durchmuss. Er darf nicht krank oder schwächer werden. Wir sind diesem «irdischen» Leben ganz schutzlos ausgeliefert. Aber wir werden es schon schaffen. Und wir müssen unserem Geist auch erlauben, von Zeit zu Zeit zu ermüden und sich auszuruhen und uns zu verlassen, wir müssen darauf vertrauen, dass er immer wieder zurückkommt. Wir sollten ihm gegenüber bei vorübergehenden Tiefs nicht so misstrauisch sein. Dennoch möchte ich später Geschichten ­schreiben, kurze pointierte, prägnante Geschichten. Ein Stockwerk tiefer liegt er und wird sicherlich schon schlafen? Ich muss auch zusehen, dass ich mit meiner extremen Übermüdung klarkomme. Ist das nicht meine größte Stärke? Dass ich mit allem und mit allem allein klarkomme? Mit den Mühen des Körpers und der Seele? Die ganze Welt ist in mir, und selbst wenn ich müde, traurig oder ängstlich bin, ist die ganze Welt trotz­ dem in mir, sie ist immer da und wächst in mir weiter. «Welt» ist natürlich falsch ausgedrückt, es ist viel mehr als das. Und im letzten Jahr ist etwas in mir entstanden, das mich nie wieder verlässt. Aber er muss gesund blei­ ben. Und unversehrt. Sie dürfen ihn nicht mitnehmen, nein, das dürfen sie nicht. Ich werde dann trotzdem weiterleben müssen, und aus allen

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Winkeln meines Körpers und meiner Seele werde ich die Kräfte zu einem einzigen großen und unaufhörlichen Gebet für ihn zusammensammeln. Aber es darf ihm nichts passieren, ich wüsste wirklich nicht, wie dann alles weitergehen sollte. Und all die vielen Menschen, die jetzt schon nicht mehr wissen, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll, und diejenigen, die noch leben und dennoch schon großenteils gestorben sind. Aber man darf nicht sterben, obwohl man noch lebt, man muss das Leben bis zum Schluss durchstehen. Selbst wenn ihm etwas zustößt? Ja, dann muss man in seinem Geist weiterleben und für ihn beten, Tag und Nacht. Es ist mir so seltsam zumute. Alles, was bislang so unwirklich war, wird allmählich immer mehr zur Wirklichkeit, bis jetzt zu einer inneren Wirklichkeit. Als ob sich ganze Geburtsprozesse in mir abspielten. Verschiebungen. Und von außen scheint alles gleich zu bleiben. Und man kann nicht über diese Verschiebungen sprechen, die sich in seinem Innern abspielen, weil man die eigene Stimme noch nicht unter Kontrolle hat und weil sie zu groß und fast unerträglich klingen würde. Eines ist jedoch sicher: Wir müssen dazu beitragen, den Liebesvorrat auf dieser Erde zu vergrößern. Jedes kleine bisschen Hass, das man dem bereits existierenden vielen Hass hin­ zufügt, macht diese Welt noch unwirtlicher und unbewohnbarer. Und ich habe viel Liebe, sehr viel, so viel, dass sie wirklich schon eine Rolle spielt und nicht mehr unzureichend ist. Und jetzt muss ich wirklich schlafen gehen. Die Traurigkeit wird jetzt von dem Mann-Frau-Bett-Problem ab­ gelenkt, auch in dieser Hinsicht entwickle ich mich wirklich weiter und bin nicht mehr so kindisch. Unsere Zeit wird kommen, wenn sie kommen muss. Und nun gute Nacht. [Sonntag, 5. Juli 1942] halb 9 morgens. Er trug einen hellblauen Pyjama und machte ein verlegenes Gesicht, als er hereinkam. Er sah ganz goldig aus. Und dann saß er auf der Bettkante und wir redeten. Jetzt ist er weg und es wird eine Stunde dauern, bis er fertig ist: waschen, turnen, «lesen». «Lesen» darf ich mit ihm zusammen. Als er sagte: «Jetzt brauche ich noch eine Stunde», wurde ich so traurig, als müsste ich mich für immer von ihm verabschieden: In solchen Momenten werde ich plötzlich von Traurigkeit überschwemmt. Oh, jemanden, den man liebt, ganz loszulassen, ihm ganz sein eigenes Leben zu lassen, ist das Schwierigste, was es gibt. Ich lerne es, ich lerne es von ihm. Draußen eine wahre Orgie von Vogelstimmen, ein Flachdach mit Kie­ selsteinen und eine Taube vor meinem weit geöffneten Fenster. Und schon

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in der Frühe die Sonne. Er hustete heute Morgen, er hat auch immer noch diese schmerzende Stelle am Kopf und er sagte: «Erschöpfungszustand». Wir werden nicht bei Adri essen gehen, er hatte so einen merkwürdigen Traum, den er einen «Warnungstraum» nannte. Um halb 6 war ich wach. Um halb 8 habe ich mich ganz nackt gewaschen, ein bisschen Gymnastik gemacht und dann bin ich wieder unter die Decke geschlüpft. Dann kam er zögernd in seinem hellblauen Pyjama herein, war verlegen, hustete und sagte «Erschöpfungszustand». Wir gehen heute Morgen zum Arzt, anstatt diesen weiten Spaziergang zu machen. Ich werde mich heute zurückziehen und mich in meiner inneren Stille ausruhen. In dem inneren Raum der Stille, in dem ich jetzt um Gastfreundschaft für einen ganzen Tag bitte. Vielleicht werde ich mich dann ausruhen. Körper und Kopf sind sehr müde und in schlechter Verfassung. Aber ich muss heute nicht arbeiten und es wird schon gehen. Die Sonne scheint auf das Flachdach, es gibt eine Orgie von Vogelgezwitscher und dieses Zimmer umgibt mich schon so sehr, dass ich darin beten könnte. Wir haben beide ein ziemlich wildes Leben hinter uns, er mit Frauen, ich mit Männern. Er saß in einem hellblauen Pyjama auf meiner Bett­ kante und ließ seinen Kopf eine Weile auf meinem nackten Arm ruhen, wir unterhielten uns ein wenig und dann ging er wieder weg. Das ist ­eigentlich ganz rührend. Keiner von uns hat die Geschmacklosigkeit, eine günstige Gelegenheit auszunutzen. Wir haben ein wildes und ungebunde­ nes Leben in vielen fremden Betten hinter uns und wir können doch jedes Mal wieder aufs Neue schüchtern sein. Ich finde das sehr schön und freue mich darüber. Jetzt ziehe ich meinen bunten Morgenmantel an und gehe nach unten, um mit ihm zusammen in der Bibel zu lesen. Danach werde ich den ganzen Tag über in einer Ecke dieses Raumes der Stille sitzen, den ich in mir trage. Ich führe immer noch ein sehr privilegiertes Leben. Ich muss heute nicht arbeiten, weder im Haushalt noch Unterricht geben. Mein Frühstück liegt hier in Papier verpackt und Adri bringt uns unser warmes Essen. Ich bleibe einfach nur in dieser stillen Ecke sitzen, hocke wie ein Buddha da mit dem gleichen Lächeln, innerlich wohlgemerkt; wie schön für die hart arbeitenden Menschen, so eine grinsende Visage anzu­ schauen. Weshalb diese plötzliche schroffe Ausdrucksweise jetzt wieder nötig ist, ist mir unklar. Ich muss heute sehr viel schreiben, wirklich sehr viel. Ich habe Dickys Blumen frisches Wasser gegeben und das Wasch­ becken gereinigt, und zwar alles mit der Vorsicht, die man in einem frem­

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den Haus walten lässt. Ich fühle mich hier sehr wohl, oder besser gesagt: Ich fühle mich bei mir sehr wohl und daher also überall. Viertel vor 10. Das war eine gute Speise auf nüchternen Magen, diese paar Psalmen, ­denen man jetzt im täglichen Leben einen Platz einzuräumen weiß. Wir haben jetzt zusammen den Tagesbeginn erlebt, das war sehr schön. Und es war äußerst stärkende Nahrung. Nur wieder dieser dumme Stich in mei­ nem Herzen, als er sagte: «Jetzt werde ich turnen und mich anziehen.» Und ich hatte das Gefühl: Jetzt muss ich wieder nach oben in mein Zim­ mer gehen, als ob ich plötzlich wieder ganz verlassen und allein auf der Welt wäre. Ich habe einmal geschrieben: Ich möchte meine Zahnbürste mit ihm teilen. Das Verlangen, mit jemandem zusammen zu sein, selbst in den unbedeutendsten Alltagsaktivitäten. Trotzdem ist diese Distanz gut und bereichernd. Man findet immer wieder von Neuem zueinander; gleich holt er mich fürs Frühstück an seinen kleinen runden Tisch neben der Geranie, die noch immer von Tag zu Tag weiter verblüht. O, diese Vögel und die Sonne auf dem Dach mit den Kieselsteinen. Und in mir ist so eine große Sanftmütigkeit und Gelassenheit. Und eine Zufriedenheit, die in Gott ruht. Vom Alten Testament geht so etwas wie eine Urkraft aus und es enthält auch etwas «Volkstümliches». Prachtkerle kommen darin vor. ­Poetisch und streng. Die Bibel ist im Grunde ein wahnsinnig spannendes Buch, derb und zärtlich, naiv und weise zugleich. Nicht nur fesselnd ­wegen dem, was gesagt wird, sondern auch, weil man diejenigen kennen­ lernt, die es sagen. Ganze Stämme unentdeckter Gestalten kommen darin vor. Weil ich 10 Minuten mit ihm zusammen gelesen habe, schlug mir plötzlich so schrecklich viel aus diesem Buch entgegen. Und alle Strömun­ gen, die jetzt durch den Geist und das Herz der Menschen fließen, die sich zu -ismen, unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Spaltungen aus­ kristallisiert haben, gibt es auch schon in der Bibel. Ich muss nun zu mei­ nen eigenen farblosen und noch kraftlosen Worten zurückkehren, nach­ dem ich mich mit dieser farbenfrohen und zärtlichen Kraft gestärkt habe. Die kostbaren, aber einfachen Gefäße aus Worten, in die ich mein Gefühl schütten kann, werde ich im Laufe meines langen Lebens noch zusam­ menschmieden müssen. Im Moment muss ich mich noch mit den unge­ schliffenen, unbearbeiteten und den armseligen Worten zufriedengeben, die zufälligerweise vorhanden sind. Jetzt höre ich seine Schritte auf der Treppe. Die Wände dieses Raumes

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umhüllen mich bereits wie ein vertrautes und gut passendes Kleidungs­ stück. Ich könnte hier leben und arbeiten. Kunscht. Eine Sanftmut, die heute am liebsten für sich bleiben würde.  – Es waren doch nicht seine Schritte. Vielleicht wird uns später, viel später doch noch irgendwann ein ruhiger Raum vergönnt sein? Wenn wir alles überlebt und überstanden haben, aufrichtig, ohne Dingen aus dem Weg gehen zu wollen und ohne es besser haben zu wollen als andere in diesen Zeiten. Wenn wir alles, was jetzt kommen muss, überstanden haben, bekommen wir vielleicht doch noch irgendwann in späteren Jahren einen ruhigen Raum mit ein wenig Komfort und das Gefühl, dass wir uns das verdient haben? Und wenn es nicht so kommen wird? Dann ist das ja nicht das Allerwichtigste. Dieser ruhige Raum ist immer irgendwo in einem Winkel unseres Seins gegen­ wärtig und wir werden ihn von Zeit zu Zeit betreten können. Diesen Raum wird man uns ja schließlich nicht wegnehmen können, nicht wahr? Seit einem Jahr baue ich jetzt schon diese Stille in mir auf und sie ist zu seinem Saal geworden, greifbar gegenwärtig. nachmittags, Viertel nach 3. Am Ende eines Tages wie dem heutigen hätte Tide fast sachlich gesagt: «Lieber Gott, ich danke dir für diese leckeren Kirschen, für die Sonne und dafür, dass ich den ganzen Tag mit ihm verbringen durfte.» Und man muss es ja auch nicht immer in solchen – ––––– ––––– 10 Uhr abends. Nur noch dies: Jede Minute dieses Tages ist sozusagen im Handumdrehen verjährt, der ganze Tag ruht weiter in mir als vollständiges und trostreiches Ganzes, als eine Erinnerung, die man noch irgendwann brauchen wird und die man wie eine ständig gegenwärtige Realität mit sich trägt. Aber auf jede Phase dieses Tages folgte eine neue, die alles, was davor war, in einem einzigen Augenblick verblassen und verjähren ließ. Man sollte sich weder auf ein Wunder noch auf den Untergang einstellen. Beide sind als extreme Möglichkeiten vorhanden, aber auf keine von beiden sollte man sich einstellen. Entscheidend sind die tausend Dinge des Alltags. Wir sprachen gestern Abend über Arbeitslager. Ich sagte: «Ich brauche mir kei­ nerlei Illusionen zu machen, ich weiß, dass ich in drei Tagen tot sein werde, weil mein Körper nichts wert ist.» Werner war in Bezug auf sich derselben

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Meinung. Liesl jedoch sagte: «Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, dass ich doch durchkommen werde.» Ich kann ihr Gefühl gut verstehen, ich hatte es früher auch. Ein Gefühl unzerstörbarer Urkraft. Und dieses Ge­ fühl ist bei mir im Kern immer noch vorhanden. Aber auch das sollte man nicht zu materialistisch auffassen. Entscheidend ist nicht, ob dieser untrai­ nierte Körper durchhalten wird, das ist eine ziemliche Nebensächlichkeit; die Urkraft besteht vielmehr darin, dass man, selbst wenn man jämmerlich umkommt, bis zum letzten Augenblick für sich selbst weiß, dass das L ­ eben sinnreich und schön ist, dass man alles in sich verwirklicht hat und dass das Leben gut war so, wie es war. Ich kann das nicht so gut ausdrücken, ich benutze immer wieder dieselben Worte. Montagmorgen [6. Juli 1942], 11 Uhr. Vielleicht kann ich jetzt einmal eine Stunde lang ununterbrochen über die notwendigsten Dinge schreiben. Rilke schreibt irgendwo über seinen ge­ lähmten Freund Ewald: «Aber es gibt auch Tage, da er altert, die Minuten 6 gehen wie Jahre über ihn.» So gingen gestern auch die vielen Stunden des Tages über uns hinweg. Beim Abschied schmiegte ich mich für einen Moment an ihn und sagte: «Ich möchte doch noch so lange wie möglich mit Dir zusammensein.» Und sein Mund lag so sanft und wehrlos und wehmütig in seinem Gesicht und er sagte beinahe verträumt: «Ja, so wird wohl jeder noch seine Privat­ wünsche haben??» Und jetzt frage ich mich: Sollten wir uns nicht auch jetzt schon von diesen Wünschen verabschieden? Wenn man anfängt zu akzeptieren, sollte man dann nicht alles akzeptieren? Er lehnte sich an die Wand von Dickys Zimmer und ich schmiegte mich sanft und sacht an ihn. ­Äußerlich gab es keinen einzigen Unterschied zu unzähligen solchen M ­ omenten in unserem Leben, aber es kam mir plötzlich so vor, als spannte sich über uns ein Himmel wie in einer griechischen Tragödie. Einen Mo­ ment lang verschwamm alles vor meinen Sinnen und ich stand mit ihm zusammen inmitten eines unendlichen Raumes, der von Bedrohungen, aber auch von Ewigkeit durchdrungen war. Vielleicht war dies gestern der Moment, in dem sich in uns eine große Veränderung für immer vollzogen hat. Er blieb noch eine Weile an die Wand gelehnt stehen und sagte mit fast klagender Stimme: «Ich muß heute abend an meine Freundin schreiben, die schon bald Geburtstag hat, aber was muß ich ihr schreiben, mir fehlt die

Und ich sagte zu ihm: «Du musst jetzt schon an­ fangen zu versuchen, sie mit dem Gedanken zu versöhnen, dass sie dich

Lust und die Inspiration.»

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nie wieder sehen wird. Du musst ihr für ihr weiteres Leben Halt geben. Du musst sie darauf hinweisen, dass ihr all die Jahre – trotz der physischen Trennung – miteinander weitergelebt habt und dass sie die Pflicht hat, in deinem Geist weiterzuleben und auf diese Weise etwas von deinem Geist für die Welt zu bewahren, darauf kommt es doch letztlich an.» Ja, so spricht man gegenwärtig miteinander und es klingt nicht einmal mehr unwirklich, wir sind in eine neue Wirklichkeit eingetreten, in der alles andere Farben und andere Akzente bekommen hat. Und zwischen unseren Augen und Händen und Mündern fließt nun ein ununterbrochener Strom von Sanftheit und Zärtlichkeit hin und her, der jede kleinliche Begierde zu löschen scheint, es geht jetzt nur noch da­ rum, gut zueinander zu sein mit all der Güte, die noch in uns ist. Und ­jedes Zusammensein ist auch ein Abschiednehmen. Heute Morgen rief er an und sagte beinahe verträumt: «Es war schön gestern», und: «Wir sollten tagsüber noch so viel wie möglich zusammen sein.» Und gestern Mittag, als wir zwei verwöhnte «Junggesellen», die wir beide immer noch sind, an seinem kleinen runden Tisch ein üppiges Mittagessen aßen, ein Mittag­ essen, das wie aus der Zeit gefallen war, und ich dann sagte, dass ich ihn nicht verlassen wolle, wurde er plötzlich streng und gebieterisch und sagte: «Vergessen Sie ja nicht alles, was Sie immer sagen, Sie dürfen das nicht ver­

Und ich hatte nicht einmal mehr das Gefühl, als kleines Mäd­ chen eine Rolle in einem Theaterstück zu spielen, das mein Auffassungs­ vermögen bei Weitem überstieg (wie dies früher oft der Fall war), sondern es ging hier um mein Leben und mein Schicksal und ich konnte es tragen, und mein Schicksal mit allen Bedrohlichkeiten und Unsicherheiten, Glauben und Liebe umschloss mich und passte mir wie ein Kleidungs­ stück, das extra für mich maßgeschneidert wurde. Ich liebe ihn mit all der Selbstlosigkeit, zu der ich fähig bin, und ich werde ihm nicht die geringste Last meiner Ängste und Sehnsüchte aufbürden. Sogar den Wunsch, bis zum letzten Moment bei ihm zu bleiben, werde ich aufgeben. Mein Wesen verwandelt sich allmählich in ein einziges großes Gebet für ihn. Und ­warum nur für ihn? Warum nicht auch für alle anderen? Es werden auch 16-jährige Mädchen in die Arbeitslager geschickt.7 Wir Älteren werden sie unter unsere Fittiche nehmen müssen, wenn das dem­ nächst bei unseren holländischen Mädchen auch der Fall sein wird. Gestern Abend wollte ich plötzlich noch zu Han sagen: «Weißt du, dass auch 16-jährige Mädchen einen Aufruf erhalten?» Und ich hielt die Frage gerade noch zurück und dachte: «Warum sollte ich nicht auch gut gessen.»

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zu ihm sein, warum ihn noch stärker belasten, als er es ohnehin schon ist? Ich kann diese Dinge doch allein verarbeiten? Jeder muss wissen, was ge­ schieht, das ist wahr, aber man sollte auch gut zu anderen sein und ihnen nicht immer wieder diejenige Last aufbürden, die man doch sehr gut ­allein tragen kann.» Vor wenigen Tagen dachte ich noch: «Das Allerschlimmste wird für mich sein, wenn mir kein Bleistift und Papier mehr erlaubt sind, um mir selbst ab und zu ein bisschen Klarheit zu verschaffen, das ist für mich wirklich das Allerwichtigste, sonst wird auf Dauer etwas in mir zersprin­ gen und mich innerlich zerstören.» Und jetzt weiß ich: Wenn man einmal damit anfängt, seine Forderungen und Wünsche zurückzustellen, kann man auch auf alles verzichten. In diesen wenigen Tagen habe ich das ­gelernt. Vielleicht kann ich noch einen Monat hierbleiben, und dann wird ­dieses Schlupfloch in den Verordnungen8 auch entdeckt worden sein. Ich werde meine Papiere in Ordnung bringen und jeden Tag Abschied neh­ men. Der tatsächliche Abschied wird dann nur noch eine kleine äußer­ liche Bestätigung dessen sein, was sich innerlich bereits Tag für Tag in mir vollzogen hat. Mir ist so seltsam zumute. Bin das wirklich ich, die hier mit so einer großen Ruhe und Reife sitzt und schreibt, und könnte das jemand verste­ hen, wenn ich sagte, dass ich mich so seltsam glücklich fühle, überhaupt nicht forciert oder dergleichen, sondern ganz einfach glücklich darüber, dass in mir von Tag zu Tag eine Sanftmut und ein Vertrauen wachsen? Weil all das Verwirrende, Bedrohliche und schwer zu Ertragende, das auf mich zukommt, bei mir in keinem Augenblick zu einer geistigen Um­ nachtung führt? Weil ich das Leben weiterhin in all seinen Konturen so klar und deutlich betrachte und erlebe. Weil nichts in meinem Denken und Fühlen getrübt wird. Weil ich alles ertragen und verarbeiten kann und weil das Wissen um all die guten Dinge, die es im Leben und auch in meinem Leben gab, nicht von allem anderen verdrängt, sondern immer stärker in mir verwurzelt wird. Ich traue mich kaum noch weiterzuschrei­ ben, ich weiß nicht, was das ist, gerade so, als ginge ich in meiner Ent­ rückung von allem, was die meisten fast in den Wahnsinn treibt, schon fast zu weit. Wenn ich wüsste, ganz sicher wüsste, dass ich nächste Woche sterben werde, könnte ich noch die ganze Woche an meinem Schreibtisch sitzen und in aller Seelenruhe weiterstudieren, ohne dass dies eine Flucht wäre, denn ich weiß jetzt, dass Leben und Sterben sinnreich miteinander

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verbunden sind. Es wird ein Hinübergleiten sein, selbst wenn das Ende in seiner äußerlichen Form trist oder grässlich ist. Wir müssen noch eine Menge erdulden. Wir werden bald bettelarm sein, und wenn diese Entwicklung noch lange andauert, verelenden, von Tag zu Tag verfallen unsere Kräfte, nicht nur wegen der Ängste und Un­ sicherheiten, sondern auch wegen so ganz einfacher Kleinigkeiten wie, dass wir zunehmend Geschäfte nicht mehr betreten dürfen und dass wir alle Strecken zu Fuß zurücklegen müssen, was viele, die ich kenne, jetzt schon erschöpft. Von allen Seiten schleicht sich unsere Vernichtung im­ mer näher heran und bald wird der Kreis um uns geschlossen sein, sodass auch gutwillige Menschen uns nicht mehr helfen können. Es gibt jetzt noch viele Schlupflöcher, aber sie werden gestopft werden. Was ist der Mensch doch für ein seltsames Wesen! Jetzt ist es regnerisch und kühl. Als ob man vom Plateau einer schwülen Sommernacht über ­einen steilen Abhang in ein frostiges und feuchtes Tal hinabgefallen wäre. Das letzte Mal war es auch ein kantiger Übergang von Wärme zu Kälte, als ich die Nacht bei Han verbracht hatte. Als ich gestern Abend vor dem ­offenen Fenster mit ihm über die letzten und schwersten Dinge sprach, um die es jetzt geht, und in sein schmerzlich verzogenes Gesicht blickte, hatte ich auf einmal das Gefühl: Heute Nacht werden wir uns in den ­Armen liegen und weinen. Wir lagen uns zwar in den Armen, haben aber nicht geweint. Erst als sein Körper in der letzten Ekstase über meinem lag, da stieg auf einmal eine Flutwelle der Trauer, urmenschlicher Trauer in mir hoch und überflutete mich kurz; ich hatte Mitleid mit mir selbst und allen und bedauerte, dass alles so sein musste, wie es war. Aber ich konnte mei­ nen Kopf im Dunkeln an seiner nackten Schulter verbergen und habe meine Tränen ganz allein ausgekostet. Und dann musste ich plötzlich an diese Torte von Frau Witkowski9 heute Nachmittag denken, wie diese plötzlich mit einer Schicht Erdbeeren bedeckt war, und ich musste da­ rüber mit einem Gefühl fast strahlenden Humors still vor mich hin grin­ sen. Und jetzt muss ich mich um das Mittagessen kümmern, und um 2 Uhr gehe ich zu ihm. Ich könnte noch schreiben, dass es meinem Magen nicht gut geht und dass noch mehr in meinem Körper nicht in Ordnung ist, aber ich habe mir vorgenommen, nicht mehr über meine Gesundheit zu schreiben, es kostet zu viel Papier und ich komme damit schon klar. Früher musste ich viel darüber schreiben, weil ich nicht immer gut damit zurechtkam, aber das ist jetzt überwunden. Jedenfalls glaube ich das. Bin ich also doch leichtsinnig und übermütig? Ich weiß es nicht.

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7. Juli [1942], Dienstagmorgen, halb 10. Mien rief soeben an, um mitzuteilen, dass Mischa gestern für Drenthe10 gemustert wurde. Ergebnis noch unbekannt. Mutter sei fertig, sagte sie, und Vater lese viel, er habe viel innere Stärke. Die Straßen, durch die man radelt, sind auch nicht mehr wie früher, der Himmel hängt so tief und bedrohlich darüber und wirkt wie ein Ge­ witterhimmel, selbst bei strahlendem Sonnenschein. Man lebt jetzt Seite an Seite mit dem Verhängnis oder wie man es auch immer nennen will, man findet auch einen Weg des täglichen Umgangs damit, aber alles ist ganz anders, als wir es früher in allen Büchern lesen konnten. Was mich betrifft, so weiß ich jetzt: Man muss sogar die Sorgen um die anderen, die man liebt, loslassen. Ich meine damit Folgendes: All die Kraft und Liebe und das Gottvertrauen, die man besitzt und die bei mir in letz­ ter Zeit so erstaunlich herangewachsen sind, muss man für alle bereithal­ ten, die uns auf unserem Weg zufällig begegnen und die sie brauchen. «Ich habe mich schlimm an Sie gewöhnt», sagte er gestern. Und Gott weiß, wie schlimm ich mich an ihn «gewöhnt» habe. Und doch muss ich auch ihn loslassen. Ich meine damit: Aus meiner Liebe zu ihm muss ich Kraft und Liebe für alle schöpfen, die sie nötig haben, aber meine Liebe für ihn und meine Sorge um ihn dürfen mich nicht so sehr aufzehren, dass ich all ­meiner Kräfte beraubt werde. Denn selbst das ist «ich-haft». Und selbst aus dem Leiden kann man Kraft schöpfen. Und mit der Liebe, die ich für ihn empfinde, kann ich mich und andere ein ganzes Leben lang nähren. Man muss bis zum Ende konsequent sein. Man kann zwar sagen: «Bislang kann ich alles ertragen, aber wenn ihm etwas zustößt oder wenn ich ihn ver­ lassen muss, kann ich nicht mehr weitermachen.» Doch auch dann muss man in der Lage sein, weiterzumachen. Heutzutage geht nur das eine oder das andere: Entweder man kann nur noch «rücksichtlos» an sich selbst und an den eigenen Selbsterhaltungstrieb denken, oder man muss auf alle per­ sönlichen Wünsche verzichten und sich hingeben. Und für mich bein­ haltet diese Hingabe nicht eine Resignation, kein Absterben, sondern den Versuch, dort, wo Gott mich zufällig platziert, noch zu unterstützen, so gut ich kann, und nicht nur mit meinem eigenen Kummer und Verlust erfüllt zu sein. Mir ist immer noch so seltsam zumute. Ich könnte fast ­sagen: als ob ich schwebte und nicht ginge, als ob ich mich nicht in der Realität befände und nicht genau wüsste, was vor sich geht. Vor ein paar Tagen habe ich noch geschrieben: Ich möchte gerne Stunden an meinem Schreibtisch verbringen und nur so vor mich hin

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studieren. Das gibt es nicht mehr. Das heißt, es wird schon noch vorkom­ men, aber der Anspruch darauf muss aufgegeben werden. Man muss alles aufgeben und stattdessen Tag für Tag die tausend kleinen Dinge für ­andere tun, die es zu tun gibt, ohne sich in ihnen oder an sie zu verlieren. Werner sagte gestern: «Wir ziehen doch nicht um, es lohnt sich nicht mehr.» Und er sah mich an und sagte: «Wenn wir nur wenigstens zusammen wegkom­ men.» Der kleine Weyl blickte traurig auf seine dünnen Beine und sagte: «Ich muß mir diese Woche noch zwei lange Unterhosen beschaffen, wie komme ich daran», und zu den anderen: «Wenn ich nur mit euch in ein Coupé komme.»

Nächste Woche, um halb 2 in der Nacht, ist die Abreise, und die Bahn­ fahrt ist kostenlos,11 ja, wirklich kostenlos, und sie dürfen keinen leben­ digen Hausrat mitnehmen. Das stand alles im Aufruf.12 Auch dass man Arbeitsschuhe mitnehmen müsse und zwei Paar Socken und einen Löffel, aber keinen aus Gold, ­Silber oder Platin, nein, das nicht, aber den Ehering, das ist rührend, den darf man noch behalten. «Ich nehme keinen Hut mit», sagte Fein, «son­ dern eine Mütze, die wird uns gut stehen.» Ja, so sitzen wir also bei unserem Aperitif. Als ich gestern Abend von unserem traditionellen Schnapsstündchen nach Hause kam, dachte ich unterwegs: Wie um Himmels willen soll ich jetzt noch eine Stunde Unter­ richt geben, und über diese anderthalb Stunden mit van Wermeskerken mit ihrem glatt gekämmten Bubikopf und ihren großen, herausfordern­ den blauen Augen könnte ich auch ein ganzes Buch schreiben. Ich hoffe, ich kann mir alles aus dieser Zeit merken und später darüber berichten. Es ist alles ganz anders, als es in den Büchern steht, ganz anders. Ich kann nicht auch noch über die tausend Einzelheiten schreiben, die ich täglich erlebe, ich möchte sie mir gerne merken. Ich stelle an mir fest: Meine Be­ obachtungsgabe erfasst alles so einwandfrei und sogar mit einer seltsamen Freude. Trotz all dieser Dinge, die ich erdulden muss, trotz meiner Müdig­ keit, des Leidens, und trotz allem bleibt immer noch dies: meine Freude, die Freude einer Künstlerin, die Dinge wahrzunehmen und daraus im Geist ein eigenes Bild zu gestalten. Ich werde von Sterbenden interessiert den letzten Gesichtsausdruck ablesen und in mir aufbewahren. Ich teile das Leid derjenigen, mit denen ich jetzt jeden Abend spreche und die nächste Woche an irgendeinem gefährlichen Ort auf dieser Erde, in einer Munitionsfabrik oder weiß Gott wo, arbeiten werden  – wenn sie denn überhaupt noch arbeiten dürfen –, aber ich erfasse jede kleine Geste, jede

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kleine Äußerung, jeden Gesichtsausdruck, und ich tue dies mit einer fast kühlen und objektiven Sachlichkeit. Ich habe die Haltung einer Künstle­ rin und ich glaube, dass ich später – wenn ich spüren werde, dass es not­ wendig ist, von allem zu berichten – auch genügend Talent dazu haben werde. mittags. Ein Freund von Bernard13 begegnete einem deutschen Soldaten auf der Straße, der ihn um eine Zigarette bat. Es entwickelte sich ein Gespräch, in dem sich herausstellte, dass der Soldat ein Österreicher und früher Profes­ sor in Paris war. Ich möchte einen Satz aus dem von Bernard nacherzähl­ ten Gespräch festhalten, er sagte: «In Deutschland sterben mehr Soldaten in den Kasernen als durch den Feind.» Dieser Börsenmakler am Sonntagmorgen auf der Terrasse bei Leo Krijn:14 «Wir sollten von ganzem Herzen beten, dass etwas Besseres kommt, so­ lange wir noch an etwas Besseres glauben. Denn wenn unser Hass uns zu solchen wilden Bestien entarten lässt, wie sie es sind, dann hilft alles nichts mehr.» Die größten Sorgen bereiten mir immer noch meine unbrauchbaren Füße. Ich hoffe, dass meine Blase bis dahin völlig restauriert sein wird, sonst werde ich für die eng zusammengepferchte Gemeinschaft der ­Zukunft sicher eine lästige Person sein. Außerdem werde ich endlich mal zum Zahnarzt gehen müssen, alle notwendigen Dinge, die man ein ­Leben lang aufgeschoben hat, müssen jetzt endlich dringend erledigt werden, glaube ich. Und das Herumstochern in der russischen Grammatik lasse ich jetzt auch sein, für meine Schüler ist mein Wissen für die nächsten Monate ausreichend, ich lese besser noch «Der Idiot» zu Ende. Exzerpte aus Büchern mache ich auch nicht mehr, weil es zu viel Zeit kostet und ich all das Papier sowieso nicht werde mitschleppen dürfen. Ich werde mir nun in meinem Geist alles Wesentliche einprägen und für magere Zeiten aufsparen. Ich werde mich auch besser an den Gedanken gewöh­ nen können, von hier wegzugehen, wenn ich mir mittels verschiedener kleiner Handlungen diesen Abschied immer stärker vergegenwärtige, da­ mit es mich «letzten Endes» nicht doch noch wie ein allzu schwerer Schlag trifft: die Briefe, die Papiere und den ganzen Kram auf meinem Schreib­ tisch beseitigen. Ich glaube doch, dass Mischa als untauglich eingestuft wird.

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Ich muss auch früher ins Bett gehen, sonst bin ich tagsüber zu schläfrig und das ist nicht gut. Diesen Brief unseres koscheren deutschen Soldaten muss ich mir noch schnappen, bevor Lizzy15 nach Drenthe geht, um ihn als «Document humain» aufzubewahren. Nach diesem ersten grandiosen und niederschmetternden Vorspann hat die Geschichte viele kuriose Wen­ dungen genommen. Das Leben ist so witzig und so überraschend und so unendlich vielfältig, und nach jeder Straßenkurve plötzlich wieder eine ganz andere Aussicht. Die meisten Menschen haben Klischeevorstellun­ gen über das Leben im Kopf, aber man muss sich innerlich von allem be­ freien, von jeder verfestigten Vorstellung, jeder Parole, jeder Gebunden­ heit, man muss den Mut haben, alles loszulassen, jede Norm und jeden Halt an Konventionen, man muss den großen Sprung in den Kosmos ­wagen, und dann, erst dann ist das Leben so unendlich reich und über­ fließend, selbst im tiefsten Leid. Ich hätte gerne noch alles von Rilke gelesen, bevor die Zeit kommt, in der ich vielleicht lange kein Buch mehr in die Hände bekomme. Ich iden­ tifiziere mich sehr stark mit dieser kleinen Gruppe von Menschen, die ich zufällig bei Werner und Liesl kennengelernt habe, die nächste Woche ­deportiert werden, um unter Polizeiaufsicht in Deutschland zu arbeiten. Heute Nacht habe ich geträumt, dass ich meinen Koffer in Ordnung brin­ gen musste. Es war eine nervöse Nacht, vor allem das Schuhwerk ließ mich verzweifeln, alle möglichen Schuhe taten mir weh. Und wie soll das mit der Unterwäsche und allem und Proviant für 3 Tage und Decken ge­ hen, alles in einem einzigen Koffer oder Rucksack? Und es wird wohl hof­ fentlich irgendwo noch ein Plätzchen für die Bibel sein? Und wenn mög­ lich für Rilkes «Stundenbuch» und «Briefe an einen jungen Dichter»? Und ich würde so gerne meine beiden kleinen russischen Wörterbücher und «Der Idiot» mitnehmen, um die Sprache nicht zu vergessen. Das könnte in mei­ nem Fall noch zu einer ganz merkwürdigen Situation führen, wenn ich bei unserer Registrierung als Beruf Russischlehrerin angebe. Es wird wohl ein «Einzelfall» sein und die Konsequenzen daraus sind noch schwer abzu­ sehen. Vielleicht komme ich doch noch weiß Gott wie irgendwann über erzwungene Umwege nach Russland, wenn sie mich mit meinen Sprach­ kenntnissen und allem in ihre Klauen kriegen. Später am Nachmittag. Vielleicht könnte ich ein paar meiner Tagebuch-Hefte mitnehmen, und sei es nur wegen der Zitate und um von Zeit zu Zeit zu schauen, ob ich

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mir selbst treu bleibe. Dann möchte ich auch diese Worte aus Maltes ­Tagebuch festhalten: «… Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Wider­ wärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung gibt es nicht.»

Und ein wenig später:

«Glaube nur nicht, daß ich hier an Enttäuschungen leide, im Gegenteil. Es wundert mich manchmal, wie bereit ich alles Erwartete aufgebe für das Wirk­ liche, selbst wenn es arg ist.»

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8 Uhr. Siehst du, jetzt klappt ein Deckel über allem Lärm des Tages zu, und die­ ser Abend gehört mir, mit all der Ruhe und Konzentration, die in mir steckt. Auf meinem Schreibtisch steht eine gelbe Teerose zwischen zwei kleinen Vasen mit violetten Veilchen. Die Schnapsstunde ist vorbei. S. fragte völlig erschöpft: «Wie halten die Levies das nur jeden Abend aus, ich kann nicht mehr, bin vollkommen erledigt.» Aber jetzt lasse ich alle Ge­ rüchte und Tatsachen hinter mir, jetzt wird den ganzen Abend lang stu­ diert und gelesen. Was ist das eigentlich bei mir: Keine der Sorgen und drohenden Gefahren des Tages ist an mir haften geblieben, ich sitze hier an meinem Schreibtisch, so «unberührt» und neugeboren, so vollkommen auf das Studium fokussiert, als ob in der Welt nichts los wäre. Es ist alles ganz von mir abgefallen, nichts hat eine Spur hinterlassen und ich fühle mich so «aufnahmefähig» wie nie zuvor. Nächste Woche werden wahr­ scheinlich alle Niederländer auf ihre Tauglichkeit hin gemustert.17 Von Minute zu Minute fallen immer mehr Wünsche und Sehnsüchte und Bin­ dungen zu anderen von mir ab, ich bin zu allem bereit, ich gehe an jeden Fleck auf dieser Erde, an den Gott mich schicken wird, und ich bin bereit, in jeder Situation und bis zum Tod zu bezeugen, dass das Leben schön und sinnreich ist und dass es nicht Gottes Schuld ist, dass es jetzt so ist, wie es ist, sondern unsere. Wir haben alle Fähigkeiten bekommen, um alle Paradiese zu erreichen, aber wir werden noch lernen müssen, mit unseren Fähigkeiten umzugehen. Es ist, als fielen in jedem Augenblick immer mehr Lasten von mir ab, als wären alle Grenzen, die es derzeit zwischen Menschen und Völkern gibt, für mich aufgehoben. Es ist, als könnte ich das Leben durchschauen und das menschliche Herz ebenso; ich schaue und schaue und verstehe immer mehr, und ich werde innerlich immer friedlicher und ich habe ein Gottvertrauen, das mich anfangs durch sein schnelles Wachstum fast ängstigte, das aber immer mehr zu einem Teil von

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mir wird. Und nun an die Arbeit. Zuerst aber noch ein Ausschnitt aus Jungs «Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben». Ein wenig später, nur so zwischendurch. Das muss ich plötzlich loswerden: Heute Morgen habe ich ihm am Telefon gesagt, dass Mischa gestern gemustert wurde. Ich spürte, wie er für einen Moment vor Schreck den Atem anhielt, und ich hörte, wie er fast zu sich selbst sagte: «Ist ja toll, ist ja toll.» Warum muss ich ihm so etwas sagen? Wenn Mischa für untauglich erklärt wird, war es ein überflüssiger kleiner Hieb zu viel. Jaap hätte ich es auch nicht sagen müssen. Ich habe selbst am Telefon gemerkt, wie ihm der Atem stockte. Man muss die Menschen scho­ nen und sie nicht mit mehr belasten als unbedingt nötig. Die Menschen belasten sich gegenseitig schon so schwer, den ganzen Tag lang, mit ihren Ängsten und Vermutungen und den Gräueltaten, die sie den ganzen Tag lang hören. Man muss wissen, was in der Welt geschieht, das ist eine mora­ lische Pflicht, aber Menschen, die einem nahestehen, die man liebt und die schon genug zu bewältigen haben, muss man schonen, wo man kann. später. Ich lernte die Frau dieses Telepathen18 mit rötlich-roten Locken kennen, aber vor ein paar Wochen scheint sie noch eine rassige Zigeunerin mit ­rabenschwarzen Haaren gewesen zu sein. Und jetzt hat sie rot-blonde Haare, um unterzutauchen, wenn man sie abtransportieren wollte. Das klingt abenteuerlich und gefährlich, oder nenne es, wie du willst. Liesl ­erzählte mir später mit einem fast mütterlichen Ausdruck auf ihrem schmalen Gesichtchen: «Sie ist noch so ein junges Ding, weißt du, und ich glaube, sie wollte gerne zur Abwechslung einmal rote Haare haben.» Warum schreibe ich solchen Unsinn kurz vor dem Schlafengehen auf? Wahrscheinlich, damit ich mir später dank dieser paar Worte dieses Ge­ sichtchen und all die anderen Gesichter um sie herum, die dort jeden Abend in diesem gastfreundlichen Raum zusammenkommen, vergegen­ wärtigen kann. All diese Gesichter müssen sich irgendwie in mir setzen und später fördere ich sie wieder zutage. Und jetzt noch ein wenig Malte lesen. Bernard sagte heute Abend am Tisch: «Jetzt kann man allmählich auch auf den Gesichtern der Menschen auf der Straße etwas sehen, man kann jetzt das Elend von ihnen ablesen.»

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Mittwochmorgen [8. Juli 1942]. Seine Stimme am frühen Morgen am Telefon klang noch vibrierender und schmeichelnder als sonst. Er sagte irgendwann: «Ich habe Ihren letzten Brief nochmals durchgelesen, den Tagebuchbrief.

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Sie sind doch ein fabelhaftes

Ich sagte: «Was ich dort geschrieben habe, könnte ich jetzt nicht mehr schreiben, es ist bereits zur Legende geworden.» Man wird j­eden Tag so viele Jahre älter, dass das, was noch vor wenigen Wochen war, vor hundert Jahren geschah. «Ja, aber es kann mal wieder kommen», sagte er. Und er hat natürlich recht, dieser Menschenkenner. Mischa wurde für Drenthe für untauglich erklärt und Jaap wird ver­ suchen, als Pfleger im Jüdischen Krankenhaus eingesetzt zu werden.20 – Heute Abend standen die Bäume vor meinem Fenster wie Zypressen in einer Tropennacht. Das ist vielleicht aus botanischer Sicht nicht ganz korrekt, aber es war eine märchenhafte Nacht. Heute muss ich eine Stunde unterrichten, und zwar gleich meinen sentimentalen Westinder. Ich muss noch ein paar Kleinigkeiten tippen, um 12 Uhr mache ich mit ihm einen kleinen Spaziergang an unserem Kai entlang, dann noch zu Jaap und ansonsten gehört der Tag mir. Möge er fruchtbar sein, meine Lust am Lernen ist intensiver denn je. Ich könnte meine Arme um diesen regnerischen Tag schlingen und ihn erdrücken. Rindvieh.»

abends. Tides Augen stehen wie Soldaten auf Posten in ihrem Gesicht und wanken und weichen nicht. Da ist wieder diese plötzliche, fast chemische Veränderung in meinem Blutkreislauf, die von einer Minute zur anderen zu erfolgen scheint. Ich werde einfach ins Bett gehen, aus dem geplanten Lernen wird nicht viel. Das sind solche Momente, in denen ich mich früher am liebsten leise in eine schlammige Gracht hätte sinken lassen, das schien mir damals das Erlösendste zu sein, was es gab. Meiner Menstruation geht entweder eine große Unruhe voraus, ein Feuerwerk in meinen Gedanken oder diese ganz große Unlust und Energielosigkeit. Einfach über mich ergehen lassen und ins Bett gehen.

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Donnerstagmorgen [9. Juli 1942], halb 10. Worte wie Gott und Tod und Leiden und Ewigkeit muss man wieder ver­ gessen. Und man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das Ge­ treide, das wächst, oder der Regen, der fällt. Man muss einfach nur sein. Bin ich wirklich selbst schon so weit, dass ich ganz ehrlich sagen kann: «Ich hoffe, dass ich ins Arbeitslager komme, um dort etwas für die 16-jäh­ rigen Mädchen tun zu können, die auch mitgehen müssen?» Um im Vor­ aus den zurückbleibenden Eltern sagen zu können: «Macht euch keine Sorgen, ich werde auf eure Kinder aufpassen.» Wenn ich zu anderen sage: «Fliehen oder Verstecken hat nicht den ge­ ringsten Sinn, es gibt kein Entkommen, lasst uns mitgehen und ver­ suchen, für andere noch zu tun, was wir tun können», dann klingt das viel zu sehr nach Resignation. Dann schwingt da etwas mit, das ich überhaupt nicht meine. Für dieses ungebrochene und strahlende Gefühl in mir – das auch alles Leiden und alle Traurigkeit einschließt – finde ich noch nicht den richtigen Ton. Ich spreche immer noch in so einem philosophischen Gelehrtenton, als hätte ich mir eine trostvolle Theorie ausgedacht, um mir das Leben ein wenig zu verschönern. Ich täte besser daran, vorläufig schweigen zu lernen und zu sein. Freitagmorgen [10. Juli 1942]. Das eine Mal ist es ein Hitler, ein anderes Mal meinetwegen Iwan der Schreckliche, in dem einen Jahrhundert ist es die Inquisition, in dem an­ deren sind es Kriege oder Pest, Erdbeben und Hungersnot. Letztendlich kommt es darauf an, wie man das Leiden, das doch im Leben eine wesent­ liche Rolle spielt, trägt und erträgt und bewältigt, und dass man trotz ­allem einen Teil seiner Seele unversehrt erhalten kann. später. Ich denke und denke und grüble und versuche, die drückenden alltäg­ lichen Sorgen in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen, und innen hakt e­ twas, das bei jedem Atemzug schmerzt. Man rechnet und sucht und gibt das Studium während eines Teils des Vormittags auf, man tigert rastlos im Zimmer auf und ab, hat auch Bauchschmerzen usw. Und plötzlich kommt wieder die Gewissheit in einem auf: Später, wenn ich alles überlebt habe, werde ich Geschichten über diese Zeit schreiben, die sich wie dünne Pinsel­

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striche vor einem großen wortlosen Hintergrund von Gott, Leben, Tod, Leiden und Ewigkeit abheben. Manchmal befallen einen die vielen Sorgen wie Ungeziefer. Nun ja, dann muss man sich einfach ein bisschen kratzen, das macht zwar den Körper hässlicher, aber man muss es auch wieder von sich abschütteln. Die kurze Zeit, die ich hier noch werde sein können, betrachte ich als ein besonderes Geschenk, als eine Art Urlaub. In den letzten Tagen gehe ich durchs Leben, als ob ich eine Fotoplatte in mir trüge, die alles um mich herum einwandfrei, bis ins kleinste Detail aufzeichnet. Ich bin mir dessen bewusst, alles dringt in mich mit scharfen Konturen «hinein». Spä­ ter, viel später vielleicht, werde ich alles einmal entwickeln und drucken. Um den neuen Ton zu finden, der zum neuen Lebensgefühl passt. Man sollte schweigen, bis man diesen Ton gefunden hat. Doch man muss vielmehr versuchen, ihn während des Sprechens zu finden, Schweigen geht doch nicht, das wäre auch eine Flucht. Dem Übergang vom alten zum neuen Ton muss man auch in all seinen Abstufungen folgen. Ein schwerer Tag, ein sehr schwerer Tag. Man muss lernen, ein «Massen­ schicksal» mitzutragen und alle persönlichen Kindereien zu beseitigen. Und jeder, der sich noch retten will und der zugleich wissen muss, dass, wenn er nicht geht, jemand anderes an seiner Stelle gehen muss. Und spielt es eine große Rolle, ob ich es bin oder ein anderer, ob dieser oder jener? Es ist jetzt ein «Massenschicksal» geworden und das muss man wis­ sen. Ein sehr schwerer Tag. Aber ich fange mich immer wieder im Gebet. Und das werde ich ja auch weiterhin immer tun können, auch auf kleins­ tem Raum: beten. Und den Teil des «Massenschicksals», den ich tragen kann, schnalle ich wie ein Bündel immer kräftiger und fester auf meinen Rücken, verwachse damit und gehe jetzt schon damit durch die Straßen. Und diesen schlanken Füllfederhalter sollte ich jetzt wie einen Ham­ mer schwingen und die Worte sollten wie ebenso viele Hammerschläge von einem Schicksal und von einem Stück Geschichte zeugen, wie es noch nie eines gegeben hat. Nicht in dieser totalitären, massenorganisierten Form, die sich über ganz Europa erstreckt. Es müssen doch ein paar Men­ schen überleben, um später die Chronisten dieser Zeit zu sein. Ich möchte später gerne so eine kleine Chronistin sein. Sein bebender Mund, als er sagte: «Dann werden Adri oder Dicky mir auch kein Essen mehr bringen dürfen.»

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11. Juli 1942, Samstagmorgen, 11 Uhr. Über die letzten und schwersten Dinge des Lebens darf man eigentlich erst sprechen, wenn die Worte so einfach und natürlich wie Wasser aus einer Quelle aus einem emporsprudeln. Und wenn Gott mir nicht weiterhilft, dann muss ich eben Gott helfen. Die gesamte Erdoberfläche wird allmählich zu einem einzigen großen Lager und kaum jemand wird draußen bleiben können. Es ist eine Phase, durch die wir hindurchmüssen. Die Juden hier erzählen sich schöne Dinge: dass sie in D[eutsch]land eingemauert oder mit Giftgas ausgerottet werden. Es ist nicht so klug, sich solche Geschichten zu erzählen, und ­abgesehen davon: Wenn dies tatsächlich alles in der einen oder anderen Form geschieht, nun, dann liegt das doch nicht in unserer Verantwortung? Seit gestern Abend fast sintflutartige Regenschauer. Ich habe bereits eine Schublade meines Schreibtisches ausgeräumt. Ich habe das Foto von ihm wiedergefunden, das ich vor fast einem Jahr verlegt hatte, von dem ich aber immer ganz sicher wusste: Ich finde es wieder. Und da lag es plötzlich auf dem Boden einer unordentlichen Schublade. Und das ist typisch für mich: Von bestimmten Dingen, ob groß oder klein, weiß ich, es wird schon wieder. Vor allem bei materiellen Dingen ist das sehr stark. Ich mache mir nie Sorgen um den nächsten Tag. Ich weiß zum Beispiel, dass ich bald von hier wegmuss, und ich habe keinen blassen Schimmer, wo ich landen werde, und mit dem Geldverdienen läuft es miserabel, aber ich mache mir nie Sorgen um mich selbst, ich weiß, dass es irgendwie weitergehen wird. Wenn man allerlei zukünftige Dinge von vornherein mit seinen Sorgen belastet, können sie sich nicht organisch entwickeln. In mir ist so ein gro­ ßes Vertrauen. Nicht ein Vertrauen, dass es mir im äußeren Leben immer gut gehen wird, sondern ein Vertrauen, dass ich, auch wenn es mir schlecht geht, das Leben noch akzeptiere und gut finde. Ich ertappe mich dabei, wie sehr ich mich in Kleinigkeiten schon auf ein Arbeitslager einstelle. Gestern Abend ging ich mit ihm am Kai spa­ zieren, ich trug ein Paar bequeme Sandalen und dachte plötzlich: «Die Sandalen werde ich auch mitnehmen, dann kann ich sie ab und zu gegen die schwereren Schuhe austauschen.» Was geht denn im Moment in mir vor? Woher rührt diese leichte, fast ausgelassene Heiterkeit? Gestern war ein schwerer, ein sehr schwerer Tag, an dem ich innerlich viel durchleiden und verarbeiten musste. Und ich habe alles, was auf mich eingestürmt ist, verarbeitet, und ich kann schon

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wieder etwas mehr ertragen als gestern. Und das verleiht mir wahrschein­ lich diese innere Heiterkeit und Ruhe: Ich merke immer wieder, dass ich mit allem fertigwerde, ganz allein fertigwerde, und dass mein Herz dabei nicht vor Verbitterung verdorrt und dass selbst Momente tiefster Traurig­ keit und auch der Verzweiflung fruchtbare Spuren in mir hinterlassen und mich stärker machen. Ich mache mir nichts vor, wie unsere Situation ­tatsächlich aussieht, und selbst den Anspruch, anderen zu helfen, gebe ich auf. Ich werde immer versuchen, Gott so viel wie möglich zu helfen, und wenn mir das gelingt, nun, dann werde ich auch für andere da sein. Aber man sollte sich darüber keine heroischen Illusionen machen. Und was würde ich nun wirklich machen, frage ich mich, wenn ich den Aufruf nach D[eutsch]land bereits in der Tasche hätte und in einer Woche aufbrechen müsste? Angenommen, die Karte käme morgen, was würdest du dann tun? Ich würde damit beginnen, niemandem etwas da­ von zu sagen, ich würde mich in die ruhigste Ecke des Hauses zurück­ ziehen, mich in mich selbst zurückziehen und aus jedem Winkel meines Körpers und meiner Seele Kräfte sammeln. Ich würde mir einen Bubikopf schneiden lassen und meinen Lippenstift wegwerfen. Ich würde versuchen, in dieser Woche noch die Rilke-Briefe zu Ende zu lesen. Aus dem schweren Wintermantelstoff, den ich hier noch habe, würde ich mir eine lange Hose und eine kurze Jacke machen lassen. Natürlich würde ich meine Eltern noch besuchen wollen und ihnen viel von mir erzählen, viel Tröstliches. Und in jeder Minute, die mir verbliebe, würde ich ihm schreiben, dem Mann, von dem ich jetzt schon weiß, dass ich vor Sehnsucht nach ihm sterben werde. Wie ich bereits jetzt in manchen Augenblicken glaube ster­ ben zu müssen, wenn ich daran denke, dass ich ihn verlassen muss und nicht mehr wissen werde, was aus ihm wird. In ein paar Tagen werde ich zum Zahnarzt gehen, um meine vielen hohlen Backenzähne füllen zu las­ sen, denn es wäre wirklich grotesk, wenn ich unter Zahnschmerzen leiden würde. Ich werde zusehen, einen «Rucksack» zu ergattern und nur das ­Allernötigste mitzunehmen, aber es muss alles von guter Qualität sein. Ich werde eine Bibel mitnehmen, und die zwei dünnen Bändchen «Briefe an einen jungen Dichter» und das «Stundenbuch» werde ich doch hoffentlich irgendwo in einer Ecke des Rucksacks unterbringen können? Ich nehme keine Porträts von meinen Lieben mit, sondern werde an den ausgedehn­ ten Wänden meines inneren Wesens die vielen Gesichter und Gesten, die ich gesammelt habe, aufhängen, und so werden sie immer bei mir sein. Und diese zwei Hände kommen mit ihren ausdrucksstarken Fingern, die

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wie kräftige, junge Zweige sind, mit mir mit. Und oft werden die Hände sich im Gebet schützend über mir falten und mich bis zum Ende nicht verlassen. Und die dunklen Augen werden mich mit ihrem guten, sanften und forschenden Blick begleiten. Und wenn meine Gesichtszüge durch zu viel Leid und zu harte Arbeit hässlich und zerstört sind, wird sich mein ganzes Seelenleben immer noch in meine Augen zurückziehen können und alle Überreste werden sich in meinen Augen sammeln. Und so weiter und so fort. Das ist natürlich eine Stimmung von vielen, die man unter diesen neuen Umständen von sich kennenlernt. Aber es ist auch ein Teil von mir, eine meiner Möglichkeiten. Ein Teil von mir, der immer mehr den Ton angibt. Aber übrigens: Ein Mensch ist nur ein Mensch. Schon jetzt trai­ niere ich mein Herz darin, dass ich trotzdem weitermachen werde, wenn ich von denjenigen getrennt bin, ohne die ich nicht leben zu können glaube. Ich löse mich in jedem Augenblick äußerlich immer mehr von ­ihnen, indem ich mich immer stärker auf ein inneres gemeinsames Weiter­ leben und Verbundenbleiben konzentriere, auch wenn ich noch so sehr von den anderen getrennt bin. Aber zugleich: Wenn ich so Hand in Hand mit ihm am Kai entlangspaziere, wo es gestern Abend herbstlich und stür­ misch war, oder wenn ich mich in seinem kleinen Zimmer an seinen herz­ lichen und gutmütigen Gesten erwärme, dann beschleicht mich doch wie­ der die äußerst menschliche Hoffnung und der Wunsch: Warum können wir nicht doch zusammenbleiben? Alles andere spielt keine Rolle, wenn wir nur zusammenbleiben können, ich will ihn nicht verlassen. Aber manchmal denke ich mir auch: Es ist womöglich noch leichter, aus der Ferne für jemanden zu beten, als ihn an seiner Seite leiden zu sehen. Direkte Verbindungswege von Mensch zu Mensch führen in dieser wild durcheinandergewirbelten Welt nur über das Innere. Äußerlich wird man auseinandergerissen und die Wege zueinander sind so unter Trüm­ mern verschüttet, dass man in vielen Fällen den Weg zueinander nie mehr finden kann. Nur innerlich sind noch ein unzerbrochener Kontakt und ein gemeinsames Weiterleben möglich, und bleibt nicht immer die Hoff­ nung, dass man sich auf der Erde doch noch irgendwann wiedertrifft? Ich weiß natürlich nicht, wie es mir gehen wird, wenn ich tatsächlich vor der Tatsache stehe, dass ich ihn verlassen muss. Ich habe noch immer seine Stimme vom Telefonat heute Morgen im Ohr und heute Abend werde ich mit ihm zusammen an einem Tisch essen, und morgen früh gehen wir spazieren und dann essen wir zusammen bei Liesl und Werner

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und am Nachmittag musizieren wir. Er ist immer noch da. Und in mei­ nem tiefsten Innern glaube ich vielleicht noch nicht einmal daran, dass ich ihn und auch die anderen verlassen muss. Ein Mensch ist schließlich nur ein Mensch. In dieser neuen Situation wird man sich selbst erst einmal ganz neu kennenlernen müssen. Viele werfen mir Gleichgültigkeit und Passivität vor und sagen, dass ich einfach nur kapituliere. Und sie sagen, jeder, der ihren Fängen entgehen könne, müsse es versuchen, das sei Pflicht. Und ich müsse etwas für mich selbst tun. Aber das ist eine Rechnung, die nicht aufgeht. Im Moment kümmern sich alle vor allem um sich selbst und schauen, wie sie darum herumkommen, und doch müssen viele, sehr viele sogar gehen. Und das Verrückte ist: Ich fühle mich nicht in ihren Fängen, weder wenn ich bleibe noch wenn ich abtransportiert werde. Ich finde das alles so klischeehaft und primitiv, ich kann dieser Argumentation überhaupt nicht mehr fol­ gen, ich fühle mich in niemandes Fängen, ich fühle mich nur in Gottes Armen, um es einmal bildhaft überhöht auszudrücken, und ob das jetzt hier an diesem furchtbar lieb gewonnenen und vertrauten Schreibtisch ist oder nächsten Monat in einem kargen Raum im Judenviertel oder viel­ leicht in einem Arbeitslager unter SS-Bewachung, ich glaube, ich werde mich immer in Gottes Armen fühlen. Man wird mich vielleicht körperlich zugrunde richten können, aber mir weiter nichts anhaben können. Und ich werde vielleicht der Verzweiflung und Entbehrungen zum Opfer fallen, die ich mir in meinen abstrusesten Fantasien nicht hätte vorstellen können. Und doch ist all dies äußerst belanglos, gemessen an der unermesslichen Weite des Vertrauens in Gott und der inneren Erlebnisfähigkeit. Mög­ licherweise unterschätze ich das alles. Jeden Tag lebe ich mit all den harten Eventualitäten, die für meine Wenigkeit jederzeit Wirklichkeit werden können und die für viele, für viel zu viele schon zur Wirklichkeit geworden sind. Ich lege mir bis ins kleinste Detail über alles Rechenschaft ab, und ich glaube, dass ich bei meinen inneren «Auseinandersetzungen» doch mit bei­ den Füßen auf dem härtesten Boden der härtesten Realität bleibe. Und meine Akzeptanz ist weder Resignation noch Willenlosigkeit. Es bleibt ­immer noch Raum für die elementare moralische Entrüstung über ein Re­ gime, das so mit Menschen umspringt. Aber die Ereignisse, die uns über­ rollen, sind zu groß und zu dämonisch geworden, als dass man darauf noch mit persönlichem Zorn und Verbitterung reagieren könnte. Das erscheint mir so kindisch und wäre diesem «schicksalhaften» Ereignis nicht ange­ messen.

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Die Leute regen sich oft darüber auf, wenn ich sage: «Es ist doch nicht entscheidend, ob ich gehe oder ein anderer, die Hauptsache ist doch, dass so viele Tausende gehen müssen?» Und es ist keineswegs so, dass ich mit einem gelassenen Lächeln dem Untergang geradeheraus in die Arme lau­ fen möchte, so ist es auch wieder nicht. Es ist ein Gefühl des Unabwend­ baren und eine Akzeptanz des Unabwendbaren in dem Wissen, dass uns letztendlich nichts genommen werden kann. Ich will nicht aus einer Art Masochismus heraus unbedingt mitgehen und von meiner Existenzgrund­ lage der letzten Jahre weggerissen werden, aber ich weiß nicht einmal, ob ich mich gut fühlen würde, wenn ich von demjenigen verschont bliebe, was so viele erleiden müssen. Man sagt mir: «Jemand wie du ist dazu ver­ pflichtet, sich in Sicherheit zu bringen, du hast im Leben später noch so viel zu tun, du hast noch so viel zu geben.» Alles, was ich zu geben oder nicht zu geben habe, ich werde es geben können, ganz egal, wo ich bin, ob hier im Freundeskreis oder irgendwo anders in einem Konzentrations­ lager. Es ist eine seltsame Selbstüberschätzung, sich selbst zu wertvoll zu finden, um ein «Massenschicksal» mit anderen gemeinsam zu erleiden. Und wenn Gott meint, dass mir noch viel zu tun bleibt, nun, dann werde ich das auch noch tun, nachdem ich alles durchgestanden habe, was an­ dere auch durchstehen können. Und ob ich ein wertvoller Mensch bin, wird sich erst zeigen, je nachdem, wie ich mich unter den veränderten Umständen verhalte. Selbst wenn ich es nicht überlebe, das Wie meines Sterbens wird entscheidend sein für die Frage, wer ich bin. Es geht nicht mehr darum, sich um jeden Preis aus einer bestimmten Situation heraus­ zuhalten, sondern darum, wie man sich in welcher Situation auch immer verhält und weiterlebt. Die Dinge, die sinnvollerweise zu tun sind, werde ich auch tun. Meine Nieren schweben immer noch und meine Blase ist nicht koscher und darum werde ich mir ein Attest ausstellen lassen, wenn ich eines bekommen kann. Man rät mir auch dazu, mich um einen Scheinposten beim Judenrat21 zu bemühen. Sie haben letzte Woche mit einer Genehmigung 180 Menschen eingestellt und seither drängeln sich dort die Verzweifelten in Scharen. Wie ein Stück Treibholz auf dem un­ endlichen Ozean nach einem Schiffbruch, an dem sich noch so viele wie möglich festklammern wollen. Aber diesbezüglich etwas zu unternehmen finde ich sinnlos und unlogisch. Und es ist auch nicht meine Art, gute Beziehungen auszunutzen. Übrigens scheint dort ziemlich intrigiert zu werden und die Verbitterung gegen dieses merkwürdige Vermittlungsorgan wächst von Stunde zu Stunde. Und außerdem werden sie früher oder

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s­päter sowieso auch an die Reihe kommen. Aber bis dahin könnten die Engländer schon gelandet sein.22 Das sagen zumindest diejenigen, die noch eine politische Hoffnung haben. Ich glaube, man sollte jegliche Er­ wartung an die Außenwelt aufgeben und nicht damit anfangen, Berech­ nungen über die Dauer und so weiter anzustellen. Und jetzt werde ich den Tisch decken. Gott sei Dank hat schon wieder ein Schüler telefonisch abgesagt, sodass der ganze Nachmittag mir gehört, und nach 8 gehört der Abend auch wieder mir. Ich hoffe, dass ich in Schu­ barts Buch23 und mit Jung vorankomme. Und dann muss ich zusehen, dass ich für die aufgeregte Leonie in ihrem Brief den richtigen Ton finde, den ich an bestimmten Stellen ganz rührend finde, aber an anderen uner­ träglich übertrieben und  – sagen wir mal  – unkünstlerisch und lärmig. Auch wenn sie in ihren Aufzeichnungen für S. schreibt, dass sie die wahre Ruhe in sich entdeckt habe, die sie ganz großschreibe, klingt das in mei­ nen Ohren so lärmig. Wir müssen alle unsere großen Worte wieder ver­ gessen, beginnend bei Gott und endend mit dem Tod, und wir müssen wieder so einfach wie reines Quellwasser werden. Und vor allem etwas wortloser. Aber ja, wenn sich in ihr nun mal der Prophet ein wenig regt? Sonntagmorgengebet [12. Juli 1942]. Es sind beängstigende Zeiten, mein Gott. Heute Nacht lag ich zum ersten Mal mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln und viele Bilder mensch­ lichen Leidens zogen an mir vorbei. Ich werde dir eines versprechen, Gott, aber nur eine Kleinigkeit: Ich werde meine Sorgen um die Zukunft nicht wie beschwerende Gewichte an die Gegenwart hängen, aber das erfordert ein gewisses Maß an Übung. Jetzt ist jeder Tag an sich schon schwer ge­ nug.24 Ich werde dir helfen, Gott, dass du nicht in mir zugrunde gehst, aber ich kann im Voraus für nichts garantieren. Aber eines wird mir im­ mer klarer: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst. Und das ist das Einzige, was wir in dieser Zeit bewahren können, und auch das Einzige, auf das es ­ankommt: ein kleines Stück von dir in uns selbst, Gott. Und vielleicht können wir auch mithelfen, dich in den geplagten Herzen anderer zutage zu fördern. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst du nicht viel än­ dern zu können, sie sind nun einmal auch Teil dieses Lebens. Ich ziehe dich auch nicht zur Rechenschaft, du kannst uns später dafür zur Rechen­ schaft ziehen. Und fast mit jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und dass wir die

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Bleibe in uns, in der du wohnst, bis zum Ende verteidigen müssen. Es gibt Menschen, das ist wirklich wahr, die noch im letzten Moment Staub­ sauger in Sicherheit bringen und Silbergabeln und Silberlöffel statt dich, mein Gott. Und es gibt Menschen, die ihren Körper in Sicherheit bringen wollen, der aber nur noch ein Gehäuse für tausend Ängste und Verbitte­ rungen ist. Und sie sagen: Mich werden sie nicht in ihre Fänge bekom­ men. Und sie vergessen, dass man in niemandes Fängen ist, wenn man in deinen Armen liegt. Ich werde allmählich schon wieder ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir. Ich werde in naher Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise daran hin­ dern, vor mir zu fliehen. Du wirst wohl auch noch karge Zeiten in mir erleben, mein Gott, in denen du nicht so stark durch mein Vertrauen ge­ nährt wirst, aber glaube mir, ich werde mich weiterhin für dich einsetzen und dir treu bleiben und dich nicht aus meinem Revier verjagen. Für das große, heroische Leiden habe ich genug Kraft, mein Gott, aber es sind mehr die tausend kleinen Alltagssorgen, die einen manchmal plötz­ lich wie stechendes Ungeziefer befallen. Na ja, vorläufig kratze ich mich einfach ein bisschen und sage mir jeden Tag aufs Neue: Für den heutigen Tag ist noch gesorgt, die schützenden Wände eines gastfreundlichen Zu­ hauses umhüllen meine Schultern noch wie ein oft getragenes, vertrautes Kleidungsstück, für heute ist noch genügend Essen da und das Bett mit den weißen Laken und den warmen Decken wartet heute Nacht auf mich, also darf ich heute kein bisschen Energie an die eigenen belanglosen mate­ riellen Sorgen verschwenden. Nutze und schätze jede einzelne Minute die­ ses Tages, koste sie aus und mache den Tag zu einem fruchtbaren Tag, zu einem weiteren starken Stein im Fundament, auf das unsere zukünftigen kargen und beängstigenden Tage sich noch ein wenig stützen können. Der Jasmin hinter dem Haus ist nun durch den Regen und die Stürme der letzten Tage völlig verwüstet, die weißen Blüten treiben verstreut in den schmutzigen, schwarzen Pfützen auf dem niedrigen Garagendach. Aber irgendwo in mir blüht dieser Jasmin ungestört weiter, genauso üppig und zart, wie er immer geblüht hat. Und er verbreitet seine Düfte in der Bleibe, in der du wohnst, mein Gott. Du siehst, ich sorge gut für dich. Ich bringe dir nicht nur meine Tränen und ängstlichen Vorahnungen dar, ich bringe dir an diesem stürmischen, grauen Sonntagmorgen sogar duften­ den Jasmin. Und ich werde dir alle Blumen bringen, denen ich auf mei­ nem Weg begegne, mein Gott, und das sind wahrlich viele. Du sollst es wirklich so gut wie möglich bei mir haben. Um nur einmal ein beliebiges

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Beispiel zu nennen: Wenn ich in einer engen Zelle eingesperrt wäre und eine Wolke zöge am kleinen Gitterfenster vorbei, brächte ich dir diese Wolke dar, mein Gott, zumindest wenn ich die Kraft dazu hätte. Ich kann im Voraus für nichts garantieren, aber die Absichten sind die besten, wie du siehst. Und jetzt werde ich mich diesem Tag widmen. Ich werde heute vielen Menschen begegnen und die schlimmen Gerüchte und Bedrohungen wer­ den mich wieder bestürmen wie viele feindliche Soldaten eine unein­ nehmbare Festung. 14. Juli [1942], Dienstagabend. Bevor seine Briefe verblassen, schreibe ich sie ab, und dabei nehme ich gewissermaßen jeden Brief einzeln in die Hand: «Es ist 9.55, ich habe wirklich gerade das Telephon

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in die Hand genom­

men, aber statt des wohlvertrauten, wohllautenden Getüte ist eine düstere Stille darin! Das ist traurig und ich bin auch tottraurig: es ist in mir als würde ich all das Leid, all das Weh, all die Angst der Tausenden mitfühlen und tragen! Ich hätte gerne Deine liebe, zarte, sonore Stimme noch einmal gehört, sie ist mir so unendlich vertraut und ich hab noch Deine mich sehr rührende Tagebuch­ aufzeichnung im Sinn! Du, es ist mir schwer ums Herz und doch ist alles so weich und weit voll Liebesfülle und»

kann ich nicht lesen). Gute Nacht.

(ich werde ihn morgen fragen, das

Der arische Stafetten-Dienst26 hat bisher trotz aller Razzien hervorragend funktioniert. Ich habe ihm heute Morgen unter anderem geschrieben: «Meine Ohr­ muschel ist wüst und leer ohne Deine vibrierende und zärtliche Stimme am

Und dann schrieb ich noch: «Ich trage Dich in mir herum wie mein ungeborenes Baby, nur nicht im

Morgen.»

Bauch trage ich Dich sondern in meinem Herzen, das ist auch ein anständigerer Platz.»

Jeder Tag besteht aus hundert Tagen und an jedem dieser Tage wird man 10 Jahre älter, berechne einfach selbst. Dantes «Inferno» ist im Vergleich dazu eine vergnügliche Operette. Es gelang ihm, mich heute Nachmittag von einem Telefon aus der Nachbarschaft zu erreichen, und er sagte unter anderem: «Wir müssen heute abend schwer beten.» Und am Nachmittag gab ich Gera in aller Eile

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einen Notizzettel mit, auf den ich gekritzelt hatte: «Jede Minute müssen wir jetzt beten, nicht nur heute abend. Es ist ob etwas in mir sich verdichtet hat zu einem ständigen Gebet, es betet immer weiter in mir, auch wenn ich lache oder Witze mache. Und auch: es ist so eine große Zuversicht in mir.»

Und nach Hause schrieb ich heute: «Schnell ein Gruß von Jaap und mir und die Nachricht, dass wir den heutigen Tag überlebt haben, was man durchaus als Glücksfall bezeichnen könnte. Und ich sage es euch zum x-ten Mal: Um mich müsst ihr euch niemals Sorgen machen, egal in welche Situation ich gerate. Ich habe nun einmal die natürliche Neigung zu einem grenzenlosen Gottvertrauen, durch das ich mich jeder Situation gewachsen fühle.» Die Autobrille des kleinen Weyl. Und trotzdem bin ich heute Abend noch schnell zu ihm gerannt. Als ob wir uns seit 10 Jahren nicht mehr gesehen hätten. Wie 2 junge, verrückt gewordene Hunde sprangen wir umeinander herum. Das Gesicht war so durchlitten, wieder fast asketisch und gleichzeitig so jungenhaft. Ich würde gerne bei ihm bleiben, ja, das würde ich gerne. Man darf nichts mehr wollen. Irgendwie hege ich immer noch eine große Zuversicht in mir. Nicht für mich persönlich, nicht das Gefühl, dass für mich alles gut ausgeht, sondern nur so ein Gefühl der Ergebung. Heute Nacht hatte ich im Traum plötzlich das Gefühl, ich sei eine Garn­ rolle, die immer mehr abgespult wird. Und das symbolisierte sozusagen die immer weiter reichende Geste, mit der ich mich allem, was noch kom­ men wird, hingebe. Warum können die Menschen einfach nicht verstehen, dass Akzeptanz eine elementare moralische Entrüstung und einen prinzipiellen Kampf­ geist nicht ausschließt? Jeder muss nun mal nach dem Lebensstil leben, der zu ihm passt. Ich kann nicht aktiv handeln, um mich quasi selbst zu retten, es erscheint mir so sinnlos und macht mich unruhig und unglücklich. Dieses Bewerbungs­ schreiben an den Judenrat auf Jaaps dringenden Rat brachte mich heute kurz aus meinem heiteren und doch auch todernsten Gleichgewicht. Als ob das irgendwie eine unwürdige Handlung wäre. Dieses Drängeln um das eine kleine Stück Treibholz auf dem endlosen Ozean nach einem Schiffbruch. Und dann einfach retten, was zu retten ist, und sich gegen­ seitig wegstoßen und in den Tod durch Ertrinken treiben, so unwürdig alles, und das Gedränge mag ich auch nicht. Ich werde zu den Menschen gehören, die es vorziehen, sich noch ein wenig auf dem Rücken mit dem

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Blick zum Himmel gerichtet auf dem Ozean treiben zu lassen, und die dann gelassen und ergeben versinken. Ich kann einfach nicht anders. Meine Kämpfe werden im Inneren mit meinen eigenen Dämonen aus­ gefochten, aber inmitten Tausender angsterfüllter Menschen gegen wild gewordene und zugleich eiskalte Fanatiker zu kämpfen, die unseren ­Untergang wollen, nein, das liegt mir nun einmal nicht. Ich habe auch keine Angst, ich weiß nicht, warum, ich bin so gelassen, manchmal kommt es mir vor, als stünde ich auf den Zinnen des Palastes der Geschichte und blickte über entfernte Gebiete. Das Stück Geschichte, das wir jetzt er­ leben, kann ich auch sehr gut tragen, ohne darunter zusammenzubrechen. Ich weiß, was alles vor sich geht, und trotzdem behalte ich einen klaren Kopf. Aber manchmal ist es, als würde eine Ascheschicht über mein Herz gestreut. Und manchmal scheint es mir auch, als ob vor meinen Augen sein Gesicht verwelkt und vergeht, seine Gesichtszüge sind so grau, dass es ist, als würden Jahrhunderte an ihnen abgleiten und in den Abgrund stür­ zen, alles zerfällt vor meinen Augen und mein Herz lässt schon alles los. Es sind nur flüchtige Momente, danach finde ich alles wieder und mein Kopf ist wieder so klar und ich kann dieses Stück Geschichte ganz und gar tra­ gen, ohne darunter zusammenzubrechen. Und wenn man einmal begonnen hat, mit Gott zu wandern, ja, dann wandert man einfach immer weiter, das ganze Leben ist dann eine einzige Wanderschaft, so ein eigenartiges Gefühl. Ich verstehe ein wenig von der Geschichte und den Menschen. Ich schreibe jetzt nicht gerne, es ist, als verblasste jedes Wort sofort und alterte unter den Händen und bäte um ein weiteres Wort, das noch lange nicht geboren wurde. Wenn ich vieles von dem, was ich denke und fühle und was mir manchmal blitzartig über das Leben, die Menschen und Gott klar wird, aufschreiben könnte, dann könnte daraus etwas sehr Schönes werden, des­ sen bin ich mir sicher. Ich werde weiterhin immer wieder Geduld haben und alles in mir reifen lassen. Man geht viel zu weit in seinen Ängsten um diesen unglücklichen Kör­ per. Und der Geist, der vergessene Geist verschrumpelt irgendwo in einer Ecke. Man lebt falsch, man verhält sich nicht würdig. Man hat zu wenig historisches Bewusstsein. Man kann auch mit historischem Bewusstsein zugrunde gehen. Ich hasse niemanden. Ich bin nicht verbittert. Sobald sich diese allgemeine Menschenliebe in einem entfaltet, wächst sie ins ­Unermessliche.

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Viele würden mich für eine wirklichkeitsfremde Närrin halten, wenn sie wüssten, wie ich fühle und denke. Und dennoch lebe ich mit all den Tatsachen, die jeder Tag mit sich bringt. Der westliche Mensch akzeptiert das «Leiden» nicht als Teil des Lebens. Und deshalb kann er niemals posi­ tive Kräfte aus dem Leiden schöpfen. Ich werde wieder einmal die paar Sätze aus dem Brief von Rathenau suchen, die ich früher schon einmal abgeschrieben habe. Da sind sie ja schon. Das werde ich später vermissen: Ich brauche nur eine Hand auszustrecken und schon finde ich die Worte, die Fragmente, mit denen sich mein Geist in diesem Moment gerne ­nähren möchte. Aber ich muss alles in mir tragen. Man muss auch ohne Bücher und ohne alles leben können. Es wird immer und überall ein klei­ nes Stückchen Himmel zu sehen sein, und es wird immer so viel Platz um mich herum sein, dass sich meine beiden Hände zum Gebet falten können. Hier ist es: «Jede Gewalt in der Welt wirkt fort, wie jede Tat. Wir sind dazu da, um vom Leiden der Welt etwas auf uns zu nehmen, indem wir unsere Brust darbieten, nicht es zu vermehren, indem wir Gewalt tun. Ich weiß, daß Sie leiden und fühle Ihr Leiden mit Ihnen. Seien Sie gütig gegen dies Leiden, es wird gegen Sie gütig sein. Durch Wünsche mehrt es sich und durch Unwillen; durch Milde schläft es ein wie ein Kind.»

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Es ist jetzt halb 12 Uhr nachts. Weyl schnallt nun seinen Rucksack um, der viel zu schwer für seinen schmächtigen Rücken ist, und wird zum Haupt­ bahnhof laufen.28 Ich gehe mit ihm mit. Man sollte eigentlich heute Nacht kein Auge zumachen und nur noch beten. Mittwochmorgen [15. Juli 1942]. Anscheinend habe ich gestern Nacht doch noch nicht gut genug gebetet. Erst als ich heute Morgen seinen kurzen Brief gelesen hatte, brach es aus mir heraus und überwältigte mich. Ich war mit dem Frühstückstisch be­ schäftigt, und plötzlich musste ich innehalten und mitten im Zimmer meine Hände falten und meinen Kopf tief neigen, und Tränen, die sich schon lange in mir aufgestaut hatten, überströmten mein Herz; es steckte so viel Liebe und so viel Mitleid und so viel Sanftheit und auch so viel Kraft in mir, dass es ein bisschen helfen können muss. Als ich seinen kur­ zen Brief gelesen hatte, war ich kurz von tiefstem, äußerstem Ernst er­ füllt.

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Es mag seltsam klingen, aber diese wenigen blassen, unordentlichen Bleistiftkritzeleien sind für mich der erste echte Liebesbrief. Ich habe Kof­ fer voll sogenannter Liebesbriefe und Männer haben mir schon so viele Worte geschrieben, leidenschaftliche und zärtliche, beschwörende und ­begehrende, viele Worte, mit denen sie versuchten, sich und mich zu wär­ men, und zuweilen war es nur ein Strohfeuer. Aber diese Worte von ihm, gestern: «Du, es ist mir schwer ums Herz», und heute Morgen: «Liebes, ich will weiter beten!» Das sind die kostbars­ ten Geschenke, die meinem verwöhnten Herz je dargebracht wurden. Malte Laurids schreibt irgendwo: «Und ich will es jetzt noch einmal schreiben; denn so habe ich es länger, als wenn ich es lese, und jedes Wort dauert an und hat Zeit zu verhallen.»

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Ich nehme nun jedes seiner Worte in die Hand und lege sie an mein Herz, wo sie dann bleiben werden: Dienstagabend. Es ist halb elf. Ich habe eben lange vor meinem Sessel gekniet und ganz innig und inbrünstig stille gebetet. Schutz und Hilfe erfleht für all die angsterfüllten, innerlich unvorbereiteten armen Menschen, die jetzt die letzten Stunden in ­ihrer Behausung zubringen. Ach und wie ich das alles mitfühlen kann, mein Herz ist so schwer und so voll Liebe, ich möchte sie alle damit umfassen und sie trösten wie einen seine Mutter tröstet! Es war so schön, dich heute abend plötzlich zu sehen! Du bist mir doch sehr ans Herz gewachsen und ich hatte gerade heute abend Sehnsucht nach Dir! Hab vergessen Dir die gestern abend beim Chokolademann für Dich gekaufte Pfefferminz zu geben. Liebes, ich will weiter beten!

abends. Nein, ich glaube nicht, dass ich zugrunde gehen werde. Heute Nachmit­ tag dieser kurze Moment großer Verzweiflung und großen Kummers, nicht wegen allem, was geschieht, sondern einfach wegen mir selbst; der Gedanke, ihn alleinlassen zu müssen, nicht einmal Kummer um die Sehnsucht, die ich nach ihm haben werde, sondern Kummer um die Sehnsucht, die er nach mir haben wird. Noch vor ein paar Tagen dachte ich, es würde mir nichts mehr ausmachen, wenn mein Aufruf kommen sollte, weil ich alles schon im Voraus durchlitten und durchlebt hätte, aber heute Nachmittag schien mir plötzlich, als werde mich alles doch viel mehr erschüttern, als dies schon der Fall war. Das war sehr schwer.

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Ich bin dir für einen Moment untreu geworden, Gott, aber doch nicht ganz. Es ist gut, solche Momente der Verzweiflung und des vorüber­ gehenden Erlöschens durchzumachen, eine andauernde Gelassenheit wäre fast übermenschlich. Aber jetzt weiß ich wieder, dass ich jede Verzweif­ lung überwinden kann. Ich hätte mir heute Nachmittag nicht vorstellen können, dass ich heute Abend wieder so ruhig und konzentriert an die­ sem Schreibtisch sitzen könnte. Alles war für einen Moment in mir vor Verzweiflung erloschen und viele Zusammenhänge waren abhanden­ gekommen und da war so ein ungeheuer großer Kummer. Und dann ­wieder die tausend kleinen Sorgen, schmerzende Füße nach einer halben Stunde Gehen und Kopfschmerzen, die so stark zunehmen können, dass sie einen von innen heraus erdrücken können, und so weiter. Nun ist wieder alles vorbei. Ich weiß, dass ich noch öfters erschöpft und wie zer­ schmettert auf Gottes Erde liegen werde. Aber ich glaube auch, dass ich sehr zäh bin und immer wieder werde aufstehen können. Obschon ich heute Nachmittag einen Abhärtungs- und Abstumpfungsprozess durch­ machte und erlebte, was extreme Umstände über Jahre hinweg mit einem machen können. Aber jetzt ist mein Kopf wieder klarer denn je. Ich gehe heute früh ins Bett und werde morgen ganz ausgeruht sein. Ich muss morgen ausführlich mit ihm über unser Schicksal und über unsere Ein­ stellung sprechen. Jawohl! Die Rilke-Briefe30 von 1907–1914 und von 1914–1921 wurden mir ge­ bracht, ich hoffe, sie noch zu Ende lesen zu können. Und Schubart auch. Jopie31 hat sie mitgebracht. Und ihren Pullover aus reiner Schafwolle, der gegen Regen und Kälte schützt, riss sie sich wie ein zweiter Sankt Martin vom Leib. Das ist schon mal ein Kleidungsstück für die Reise. Ob ich zwischen meinen Decken wohl doch diese beiden Bände von «Der Idiot» und meine kleinen Langenscheidt-Wörterbücher32 mitnehmen kann? Ich würde gerne etwas weniger Essen mitnehmen, wenn diese Bücher dafür reinpassen würden. Weniger Decken geht nicht, weil ich sowieso schon fast erfriere. Hans’ Rucksack lag heute Nachmittag im Flur, ich habe ihn heimlich anprobiert, es war nicht allzu viel drin, aber ehrlich gesagt wog mir das Ding schon so zu viel. Wie auch immer, ich bin ohnehin in Gottes Hand. Mein Körper mit all seinen Gebrechen auch. Wenn ich einmal niedergeschlagen und be­ stürzt bin, muss ich doch irgendwo im kleinsten Winkel meiner Seele wis­ sen, dass ich wieder aufstehen werde, sonst wäre ich verloren. Ich gehe einen Weg und werde auf diesem Weg geführt. Ich fange

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mich immer wieder und weiß dann besser denn je, wie ich handeln muss. Nicht, wie ich handeln muss, sondern dass ich es bei jeder Gelegenheit wissen werde. «Liebes, ich will weiter beten.»

Ich liebe ihn so sehr. Und wieder einmal frage ich mich heute: Wäre es nicht noch einfacher, für jemanden aus der Ferne zu beten und innerlich mit ihm weiterzu­ leben, als ihn an seiner Seite leiden zu sehen? Es kommt, wie es kommt, meine einzige Gefahr ist, dass mein Herz eines Tages aus Liebe zu ihm zerbrechen wird. Jetzt möchte ich noch ein wenig lesen. Wenn ich bete, bete ich nie für mich selbst, sondern immer für andere, oder ich führe einen irrsinnigen, kindischen oder todernsten Dialog mit dem Allertiefsten in mir, das ich der Einfachheit halber Gott nenne. Für sich selbst um etwas zu bitten finde ich so kindisch, ich weiß auch nicht. Ich muss ihn morgen doch einmal fragen, ob er gelegentlich für sich selbst betet. Aber gut, wenn ich für ihn bete, bete ich doch eigentlich für mich selbst. Darum zu bitten, dass es jemand anderem gut gehen möge, finde ich genauso kindisch, man kann nur beten, dass der andere die Kraft ­haben wird, auch Schweres zu ertragen. Und wenn man für jemanden betet, schickt man ihm etwas von seiner eigenen Kraft. Und das ist für viele das größte Leiden: die völlige innere Unvorbe­ reitetheit, an der sie jetzt hier schon jämmerlich zugrunde gehen, noch bevor sie ein Arbeitslager gesehen haben. Diese Haltung macht unsere Katastrophe vollkommen. Wirklich, wirklich, damit verglichen ist Dantes Inferno eine leichte Operette. «Dies ist die Hölle», sagte er kürzlich ganz einfach und sachlich. Ab und zu ist mir, als wäre ein Heulen und Krei­ schen und Pfeifen um mich. Und der Himmel hängt so bedrohlich tief. Und doch steigt ab und zu wieder dieser leichte und tänzerische Humor in mir auf, der mich auch nie verlässt und der dennoch kein Galgenhumor ist, zumindest glaube ich das nicht. Ich bin im Laufe der Zeit fast unmerk­ lich in diese Momente hineingewachsen, sodass ich nicht fassungslos dar­ über bin und mit einem klaren Blick auf die Dinge weiterleben kann. Es waren doch nicht nur «Literatur» und Schöngeisterei, was ich hier in den letzten Jahren an meinem Schreibtisch getrieben habe. Und diese letzten anderthalb Jahre, sie könnten ein ganzes Leben v­ oller Leid und Verderben aufwiegen. Sie sind mit mir verwachsen, diese andert­ halb Jahre sind zu einem Teil von mir geworden und haben in dieser Zeit

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einen Vorrat in mir gebildet, von dem ich ein Leben lang zehren kann, ohne allzu viel Not zu leiden. später. Ein Satz aus einem Brief von Rilke: «So kommt alles und kommt, und man hat nur mit dem ganzen Herzen dazusein.»

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später. Ich möchte mir etwas für meine schwersten Momente merken und es nie vergessen: Dostojewski verbrachte 4 Jahre im Bagno in Sibirien mit der Bibel als einziger Lektüre. Er durfte nie allein sein und die Hygiene war auch nicht so toll.34 Es ist Viertel vor 11. Morgen werde ich den ganzen Tag bei ihm sein, das ist ein kostbares Geschenk in dieser Zeit: Ein ganzer Tag bei einem gelieb­ ten Mann, es ist fast unbescheiden viel für einen einzelnen Menschen. Gute Nacht. Ob er jetzt wieder vor seinem Stuhl kniet? Wenn ich mir dieses Bild vergegenwärtige, dieser kniende, gute Mann in seinem kleinen Zimmer, dann quillt mir das Herz über, und mit diesem Bild in mir kann es mir nie mehr schlecht gehen. «Man muss nicht meinen, dass man in einem solchen Lager viele ‹see­ lische Vorteile› erwirbt», sagte Werner heute, «man wird eine ‹harte Rinde› um sich herum bekommen, das ist alles.» Eine «harte Rinde» passt nicht zu mir, ich werde wehrlos und offen für alles bleiben. Mein Gott, wie wird es mir ergehen? Nein, ich werde dich nicht im Voraus fragen, jeden Moment werde ich so, wie er kommt, tra­ gen, selbst den unvorstellbarsten, und wenn du in mir fällst, werde ich dich wieder hochheben. Ich hoffe, es mit dir zusammen durchzustehen. Nochmals, gute Nacht. [Donnerstag] 16. Juli [1942], halb 10 abends. Hast du doch andere Pläne mit mir, Gott? Kann ich das annehmen? Ich bin aber weiterhin bereit. Morgen gehe ich in die Hölle, ich muss mich gut ausruhen, um die Arbeit dort bewältigen zu können. Von diesem ­einen heutigen Tag werde ich später ein ganzes Jahr lang erzählen können. Jaap und Loopuit,35 der alte Freund, der sagte: «Ich lasse sicher nicht zu, dass Etty H. nach D[eutsch]land verschleppt wird.» Ich sagte zu Jaap, nachdem Leo de Wolff 36 uns wieder einmal einige Stunden des Wartens

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erspart hatte: «Ich werde später sehr viele gute Taten für andere Menschen vollbringen müssen, um das alles wiedergutzumachen. Es geht nicht mit rechten Dingen zu in unserer Gesellschaft, es ist nicht gerecht.» Liesl sagte sehr geistreich: «Dann bist Du eben das Opfer der Protektion.» Und ich habe doch noch dort im Korridor in der Beengtheit und im Gedränge ein paar Rilke-Briefe gelesen, ich mache trotzdem auf meine Art und Weise weiter. Die Todesangst auf diesen Gesichtern. All diese Gesich­ ter, mein Gott, diese Gesichter. Ich gehe nun ins Bett. Ich hoffe, dass ich dort in diesem Irrenhaus ein Ruhepol sein kann. Ich werde früh aufstehen, damit ich mich im Voraus darauf konzentrieren kann. Gott, was hast du mit mir vor? Ich konnte diesen Aufruf nicht einmal zu mir durchdringen lassen, nach ein paar Stunden war ich ihn auch schon wieder los. Wie konnte das so schnell geschehen? Er sagte: «Ich habe heute Nachmittag dein Tagebuch gelesen, und als ich es gelesen hatte, wusste ich: Dir wird nichts passieren.» Ich muss etwas für Liesl und Werner tun, ich muss. Nicht überstürzt. Gefasst und konzentriert, aber schnell Loopuit einen Brief in die Tasche stecken. Es ist ein Wunder geschehen, und auch das muss ich akzeptieren, muss ich ertragen können. Sie sind sehr unergründlich, deine Wege, mein Gott. 19. Juli [1942], Sonntagabend, 10 vor 10. Ich hätte viel mit dir zu besprechen, mein Gott, aber ich muss ins Bett. Ich bin jetzt wie betäubt, und wenn ich um 10 Uhr nicht im Bett liege, werde ich morgen einen solchen Tag nicht überstehen können. Und übrigens: Ich werde zuerst eine ganz neue Sprache finden müssen, um über all das zu sprechen, was mein Herz in den letzten Tagen bewegt. Ich bin noch lange nicht fertig mit dir, mein Gott, und mit dieser Welt. Ich möchte gerne noch sehr lange leben und ich werde alles durchstehen, was uns auferlegt wird. Diese letzten paar Tage, mein Gott, diese letzten paar Tage! Und diese Nacht. Er atmet genauso, wenn er läuft. Und ich sagte unter der Decke: «Lass uns gemeinsam beten.» Nein, ich kann nicht darüber sprechen, was alles in den letzten Tagen und gestern Nacht los war. Und doch bin ich eine Auserwählte von dir, mein Gott, dass du mich so intensiv an allem in diesem Leben teilhaben lässt und dass du mir so viel Kraft verliehen hast, um alles tragen zu können. Und dass mein Herz

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auch so große und starke Gefühle ertragen kann. Als ich gestern Nacht um 2 Uhr endlich in Dickys Zimmer hinaufging und fast nackt mitten im Zimmer niederkniete, völlig «aufgelöst», sagte ich plötzlich: «Ich habe doch heute wieder Großes erlebt, am Tag und in der Nacht, mein Gott, hab Dank, dass ich das alles tragen kann und dass du so wenig an mir ­vorübergehen lässt.» Und jetzt muss ich ins Bett. 20. Juli [1942], Montagabend, halb 10. Unbarmherzig, unbarmherzig! Aber umso barmherziger müssen wir in­ nerlich sein, das ist doch das Einzige, was zählt. Darauf lief mein Gebet heute früh hinaus: Mein Gott, dieses Zeitalter ist zu hart für zerbrechliche Menschen wie mich. Ich weiß auch, dass danach wieder ein anderes Zeitalter kommt, das humaner sein wird. Ich möchte so gerne weiterleben, um die ganze Menschlichkeit, die ich trotz allem, was ich täglich erlebe, in mir bewahre, in dieses neue Zeitalter hinüberzuretten. Die einzige Möglichkeit, uns auf diese neue Zeit vorzubereiten, ist, sie jetzt schon in uns vorzubereiten. ­Irgendwie bin ich innerlich so leicht, ohne jegliche Verbitterung, und habe so viel Kraft und Liebe in mir. Ich möchte so gerne weiterleben, um dabei zu helfen, die neue Zeit vorzubereiten und um das Unzerstörbare in mir wohlbehalten in diese neue Zeit, die sicher kommen wird, hinüber­ zuretten, sie wächst schließlich jeden Tag in mir, das spüre ich doch? So etwa lautete, glaube ich, das Gebet heute Morgen. Ich kniete ganz spontan auf der harten Kokosmatte im Badezimmer nieder und die Trä­ nen strömten über mein Gesicht. Das Gebet hat mir, glaube ich, Kraft für den ganzen Tag verliehen. Und jetzt werde ich noch eine kleine Novelle lesen. Ich werde meinen eigenen Lebensstil beibehalten, komme, was wolle, selbst wenn ich tau­ send Briefe am Tag von 10 Uhr morgens bis 7 Uhr abends tippe37 und mit wund gelaufenen Füßen um 8 Uhr nach Hause komme, um dann noch zu essen. Ich werde immer eine Stunde für mich finden. Ich bleibe mir selbst ganz treu und werde weder resignieren noch mich zermürben lassen. Ich wäre doch überhaupt nicht in der Lage, diese Arbeit durchzuhal­ ten, wenn ich nicht jeden Tag aus der großen Ruhe und der Gelassenheit in mir Kraft schöpfen könnte? Ja, mein Gott, ich bin dir sehr treu, durch dick und dünn, und ich werde nicht zugrunde gehen, ich glaube immer noch an den tieferen Sinn

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dieses Lebens und ich weiß, wie ich weiterleben muss, und es gibt so große Gewissheiten in mir und … und dir wird das unbegreiflich sein, aber ich finde das Leben so schön und ich bin so glücklich. Ist das nicht erstaun­ lich? Ich würde mich auch nicht trauen, dies jemandem so ausdrücklich zu sagen. 21. Juli [1942], Dienstagabend, 9 Uhr. Heute Nachmittag auf meinem langen Heimweg, als mich die Sorgen plötzlich wieder überfielen und kein Ende zu nehmen schienen, sagte ich mir plötzlich: Wenn du schon behauptest, an Gott zu glauben, musst du auch konsequent sein, dann musst du dich ihm gänzlich anvertrauen und Vertrauen haben. Dann darfst du dir auch keine Sorgen um den morgigen Tag machen.38 Und als ich kurz mit ihm am Kai entlangging – ich danke dir, mein Gott, dass dies immer noch möglich ist; selbst wenn ich nur fünf Minuten am Tag bei ihm sein könnte, würde es sich immer noch lohnen, dass ich den ganzen Tag hart dafür gearbeitet hätte –, da sagte er: «O, die Sorgen, die man alle hat», und dann sagte ich ihm auch: «Wir müssen konsequent sein, wenn wir dieses Vertrauen erst einmal haben, dann müssen wir auch volles Vertrauen haben.» Ich fühle mich wie der Aufbewahrungsort eines Stücks kostbaren Lebens mit all der damit verbundenen Verantwortung. Ich fühle mich verant­ wortlich für das schöne und große Lebensgefühl, das ich in mir habe, und ich muss versuchen, es durch diese Zeit hindurch unversehrt in eine bes­ sere Zeit hinüberzuretten. Das ist das Einzige, was zählt. Ich bin mir des­ sen ständig bewusst. Und es gibt Momente, in denen ich glaube, ich müsse aufgeben oder ich breche sonst zusammen, aber immer wieder siegt das Verantwortungsgefühl, dass ich das Leben, das in mir steckt, auch wirklich am Leben erhalte. Jetzt werde ich noch ein paar Rilke-Briefe lesen und dann sehr früh ins Bett gehen. Was mein persönliches Leben betrifft, so geht es mir bis zum heutigen Tag doch noch so unendlich gut. Und zwischen den tausend Anträgen, die ich heute in einer Umgebung, die halb Hölle, halb Irrenhaus ist, getippt habe, habe ich doch noch Fol­ gendes von Rilke gelesen, es hat mich wieder genauso angesprochen, als hätte ich es in der Abgeschiedenheit dieses ruhigen Zimmers gelesen: «… Aber ich habe wenigstens in mir die Gebärde entdeckt, mit der man

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3. Juli 1942–29. Juli 1942 Großes zu Großem stellt, nicht um das Schwere loszuwerden, das in allem Gro­ ßen groß und in allem Unbegreiflichen unendlich ist: sondern um es wiederzu­ finden, immer an derselben erhabenen Stelle, an der es sein Leben weiterlebt, abgesehen von unserer verwirrten Trauer, über die es maßlos hinauswächst.»

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Und dann wollte ich noch etwas sagen: Ich glaube, dass ich allmählich die Einfachheit erlangt habe, nach der ich mich immer gesehnt habe. [Mittwoch] 22. Juli [1942], 8 Uhr morgens. Gott, gib mir Kraft, nicht nur geistige, sondern auch körperliche Kraft. Ich möchte es dir in einem schwachen Moment ehrlich eingestehen: Wenn ich dieses Haus verlassen muss, weiß ich mir keinen Rat. Aber ich möchte mir nicht einen Tag vorher Sorgen darüber machen. Nimm mir also diese ­Sorgen ab, denn wenn ich sie zu allem anderen auch noch tragen müsste, könnte ich doch überhaupt nicht mehr leben. Ich bin heute schon sehr müde, am ganzen Körper, und ich habe nicht viel Mut, mich der ­Arbeit dieses Tages zu stellen. Ich bin nicht so richtig von dieser Arbeit überzeugt, wenn sie noch lange dauerte, würde ich, glaube ich, ganz mürbe und resig­ niert. Dennoch bin ich dir dankbar dafür, dass du mich nicht an diesem ruhigen Schreibtisch hast sitzen lassen, sondern mich mitten in das Leiden und die Sorgen dieser Zeit gestellt hast. Es wäre keine Kunst, mit dir allein idyllisch in einem abgeschirmten Arbeitszimmer zu sitzen, sondern jetzt geht es darum, dass ich dich unversehrt mit mir trage und dass ich dir, komme, was wolle, treu bleibe, wie ich es dir immer versprochen habe. Wenn ich so durch die Straßen gehe, muss ich viel über deine Welt nach­ denken, nachdenken kann man es eigentlich nicht nennen, es ist ­vielmehr ein Versuch, sie mit einem neuen Sinnesorgan zu ergründen. Es kommt mir häufig so vor, als könnte ich diese Zeit wie eine Epoche der Geschichte überblicken, deren Anfang und Ende ich schon sehen kann und die ich auch schon in das Ganze «einordnen» kann. Und hierfür bin ich so dankbar: dass ich nicht im Geringsten verbittert oder voller Hass bin, sondern dass so eine große Gelassenheit, die keine Resignation ist, in mir herrscht und dass ich auch eine Art Verständnis für diese Zeit habe, so eigenartig das auch klingen mag. Man muss diese Zeit genauso verstehen können, wie man die Menschen versteht, denn sie ist schließlich aus uns selbst entstanden. Und doch ist sie so, wie sie eben ist, und folglich muss sie auch verstanden wer­ den können, so fassungslos man ihr ab und zu auch gegenübersteht. Ich gehe in gewisser Hinsicht meinen eigenen inneren Weg, der immer

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einfacher und unkomplizierter wird, der aber mit Sanftmut und Zuver­ sicht gepflastert ist. – [Mittwochnachmittag 2 Uhr. Mein Herz ist heute schon wieder mehrmals gestorben, aber es ist auch wieder auferstanden. Ich nehme in jeder einzelnen Minute Abschied und reiße mich von allem Äußerlichen los. Ich kappe die Seile, die mich noch festhalten, ich hole alles an Bord, von dem ich denke, dass ich es für die Reise mitnehmen sollte. Ich sitze jetzt an einer stillen Gracht, meine Beine baumeln über der steinernen Ufermauer, und ich frage mich, ob mein Herz nicht einmal so müde und abgenutzt sein wird, dass es nicht mehr wie ein freier Vogel dort hinfliegen wird, wo es hinmöchte. Voormalige Stadstimmertuin.40 Fasset eure Seelen mit Geduld. Jawohl. Jeder Mensch hat nun einmal seinen eigenen Rhythmus, das wird in Polen (eine Art Sammelbegriff für alles Unbekannte der Zukunft) genauso sein wie hier.]42 41

23. Juli [1942], Donnerstagabend, 9 Uhr. Meine roten und gelben Rosen sind ganz aufgegangen. Während ich dort in der Hölle war, haben sie hier ruhig weitergeblüht. Viele sagen: Wie kann man jetzt noch an Blumen denken? Als ich gestern Abend mit der Blase am Fuß den langen Weg durch den Regen gegangen war, bin ich am Ende doch noch einmal ums Karree gegangen, um nach einem Blumenwagen zu suchen, und kam mit einem großen Rosenstrauß nach Hause. Und da stehen sie. Sie sind genauso real wie all das Elend, das ich an einem Tag erlebe. In einem einzigen Leben ist für viele Dinge Platz. Und ich habe so viel Platz, mein Gott. Als ich heute durch diese überfüllten Korridore ging, verspürte ich plötzlich den Drang, mitten auf dem Steinfußboden inmitten all dieser Menschen niederzuknien. Die einzige menschenwürdige Gebärde, die uns Menschen in dieser Zeit noch geblieben ist: das Knien vor Gott. Jeden Tag lerne ich etwas Neues über die Menschen und sehe auch immer deutlicher, dass Menschen einander nicht helfen können und dass man immer stärker auf die eigenen inneren Kräfte angewiesen ist. «Der Sinn des Lebens ist nicht nur das Leben an sich», sagte er, als wir am Kai darüber sprachen, wie wichtig es sei, den Sinn des Lebens nicht zu verlieren.

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«Es ist ein einziger großer Mist hier», entfährt es mir oft. Aber heute dachte ich plötzlich: Warum sollte ich das Wort «Mist» so oft verwenden? Es verbreitet sich auch in der Atmosphäre und macht es auch nicht ­schöner. Das Deprimierendste ist zu merken, dass sich bei fast niemandem von denjenigen, mit denen ich arbeite, durch das Leiden dieser Zeit der innere Horizont erweitert. Sie leiden auch nicht wirklich. Sie hassen und sie sind in Bezug auf ihre eigene Wenigkeit optimistisch verblendet; sie intrigieren, sie sind immer noch ehrgeizig in ihrem armseligen Job, es ist ein großes, scheußliches Durcheinander und es gibt Momente, in denen ich meinen Kopf mutlos auf meine Schreibmaschine fallen lassen und sagen möchte: Ich kann so nicht mehr weitermachen. Aber es geht doch immer wieder weiter und ich lerne immer mehr über die Menschen. Es ist nun 10 Uhr. Eigentlich müsste ich ins Bett. Aber ich würde noch so gerne ein wenig lesen. Mir geht es noch so fantastisch gut. Liesl, die tapfere, kleine Liesl, bleibt bis 3 Uhr morgens auf und näht Taschen für eine Fabrik43 und Werner hat seit 60 Stunden seine Kleider nicht ausge­ zogen. Es sind in unserem Leben sehr seltsame Dinge passiert, Gott, gib uns allen Kraft. Und vor allem lass ihn zuerst wieder gesund werden und nimm ihn mir nicht weg. Heute plötzlich die Angst, dass ich ihn verlieren könnte. Mein Gott, ich habe dir versprochen, dir zu vertrauen, und ich habe meine Ängste um ihn wieder vertrieben. Am Samstagabend werde ich bei ihm sein. Ich kann nicht dankbar genug sein, dass so etwas noch möglich ist. Dieser Tag war wieder sehr schwer, aber ich konnte ihn trotzdem er­ tragen, ich möchte jetzt noch etwas sehr Schönes sagen, ich weiß nicht, warum, etwas über diese Rosen oder über meine Liebe zu ihm. Ich werde noch ein paar Rilke-Briefe lesen und dann ins Bett gehen. Samstag nehme ich mir frei. Das Erstaunlichste ist, dass körperlich bei mir alles so gut funktioniert: keine Kopfschmerzen, keine Magenschmerzen mehr usw. Manchmal zwar ein Anflug davon, aber dann ziehe ich mich so sehr in meine eigene innere Ruhe zurück, bis das Blut wieder gleichmäßig durch meine Adern fließt. Meine Beschwerden waren vermutlich doch «psychologisch bedingt». Es ist auch keine erzwungene Ruhe, wie viele von mir denken, oder ein Zeichen von Überanstrengung. Wenn mir vor einem Jahr widerfahren wäre, was jetzt alles passiert, wäre ich sicherlich nach 3 Tagen zusammengebrochen oder hätte Selbstmord begangen oder hätte eine unechte Vergnügtheit

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vorgetäuscht. Jetzt habe ich so eine große Ausgeglichenheit, so eine Belast­ barkeit und eine Ruhe sowie einen Überblick über die Dinge, und ich ­erahne Zusammenhänge, ich weiß nicht, was das ist, aber trotz allem: Es geht mir sehr gut, mein Gott. Ich kann jetzt doch nicht mehr lesen, ich bin zu müde, ich stehe morgen früh auf und setze mich noch ein wenig an den Schreibtisch. Als wir heute darüber sprachen, dass wir zusammenbleiben wollen, habe ich wieder gedacht: Du siehst schon so schlecht und zerfallen aus, ich liebe dich so sehr, aber das Schlimmste wäre, wenn ich dich an meiner Seite leiden und entbehren sehen müsste, ich würde lieber aus der Ferne für dich beten. Ich werde alles so akzeptieren, wie es kommt, mein Gott. Ich glaube nicht wirklich an Hilfe von außen, ich rechne auch nicht da­ mit, weder mit den Engländern oder Amerikanern noch mit Revolutionen oder mit weiß Gott was. Daran darf man sein Herz nicht hängen. Was kommt, ist gut. – Gute Nacht. 24. Juli [1942], Freitagmorgen, halb 8. Ich möchte gerne noch eine Stunde intensiv studieren, bevor ich diesen Tag beginne, ich habe ein großes Bedürfnis danach und auch die Konzen­ tration dafür. Als mich in aller Frühe die Sorgen wieder überfielen, bin ich einfach aufgestanden. Gott, nimm sie mir ab. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn er einen Aufruf erhält, auf welchen Wegen ich ihm dann helfen kann. Eines ist sicher: Man muss alles im Voraus akzeptieren und auf alles vorbereitet sein und wissen, dass einem das Letzte im Inneren nicht ­genommen werden kann, und aus dieser Ruhe heraus, die man dadurch innerlich erlangt, kann man die notwendigen praktischen Schritte unter­ nehmen, die getan werden müssen. Nicht ängstlich grübeln, sondern ruhig und klar denken. Im entscheidenden Augenblick werde ich schon wissen, was ich zu tun habe. Und jetzt: «Europa und die Seele des Ostens». Ein kleines Fragment daraus, bevor ich aufbreche: «Die Verkümmerung des Rechtsgefühls seit der Tartarenzeit hat unerwartet auch eine günstige Wirkung gehabt, freilich nur in den erlauchtesten Geistern der russischen Kultur. Sie machte den Weg für die Erkenntnis frei, daß der Rechtsgedanke nicht das oberste Prinzip der Ethik ist, daß sich über ihr der Lie­ besgedanke erhebt, der jenseits von Recht und Unrecht, von Schuld und Rache mit einer großen Gebärde alles vergebender, alles bereinigender Güte die Quelle des Menschenzwists für immer schließt und dadurch das Gottesreich

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3. Juli 1942–29. Juli 1942 auf Erden ermöglicht. Diese Kernidee des Christentums, die zur Zeit seiner Ent­ stehung wie in unseren Tagen auf allerheftigste Widerstände stößt, ist gerade von der sittlichen Elite Rußlands leichter aufgenommen und mit größerem Ernst gepflegt worden als im Europäischen Westen, der an der Überschätzung des Rechtsprinzips krankt, sodaß er nicht darüber hinauszuschreiten v­ ermag. Viel­ leicht ist es der Wille der Vorsehung, das Rechtsbewußtsein der Russen herab­ zudrücken, damit die Lehre Christi vom Primat der Liebe wenigstens an einer Stelle der Erde – dann und wann einmal – verwirklicht werden kann.»

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Meine Rosen stehen noch da. Ich werde Jaap das halbe Pfund Butter bringen. Ich bin sehr müde. Ich kann diese Zeit tragen, ich verstehe sie sogar ein wenig. Wenn ich diese Zeit überlebe und dann sagen werde: «Das Leben ist schön und sinnreich», dann wird man mir wohl glauben müssen. Wenn all dieses Leiden nicht zu einer Horizonterweiterung, zu einer größeren Menschlichkeit führt und dazu, dass alle Kleinigkeiten und ­Nebensächlichkeiten dieses Lebens von einem abfallen, dann war es um­ sonst. Heute Abend esse ich mit ihm im «Café de Paris», es ist fast grotesk, jetzt noch auszugehen. Liesl sagte: «Es ist doch eine Gnade, daß wir das alles tragen dürfen.»

Liesl ist eine großartige Frau, eine wirklich großartige Frau, ich möchte sie eines Tages beschreiben. Wir werden es schon überstehen. 25. Juli [1942], Samstagmorgen, 9 Uhr. Ich habe den Tag blöd angefangen, indem ich über die «Situation» gespro­ chen habe, als ob man dafür überhaupt Worte finden könnte. Das kost­ bare Geschenk dieses einen freien Tags muss ich gut nutzen. Nicht reden oder die Menschen in meinem Umfeld traurig stimmen. Heute Morgen werde ich meinen Verstand ein wenig zusätzlich nähren, ich merke, dass ich immer stärker das Bedürfnis verspüre, meinem Geist widerspenstiges Studienmaterial zu verarbeiten zu geben. Die letzte Woche war eine sehr große Bestätigung für mich. In diesem Irrenhaus gehe ich meinen eigenen inneren Weg. 100 Menschen beraten sich durcheinander in einem kleinen Raum, Schreibmaschinen klappern, und ich sitze irgendwo in einer Ecke und lese Rilke. Mitten am Vormittag mussten wir gestern plötzlich umziehen, Tische und Stühle wurden unter

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einem weggezogen, wartende Menschen kamen in Scharen in den Raum, jeder gab Befehle und Gegenbefehle, selbst über den geringfügigsten Stuhl, aber Etty saß in einer Ecke auf dem dreckigen Boden zwischen ihrer Schreibmaschine und einer Tüte Sandwiches und las Rilke. Ich kümmere mich dort um meine eigene Sozialgesetzgebung, und komme und gehe, wann ich es für richtig halte. Inmitten dieses ganzen Chaos und Elends lebe ich so sehr nach meinem eigenen Rhythmus und kann mich jederzeit zwischen dem Tippen von 100 Briefen in Dinge vertiefen, die mir wichtig sind. Es ist keine Abschottung vor all dem Leid um mich herum, auch keine Abstumpfung. Ich trage alles mit und bewahre alles in mir auf, aber ich gehe unbeirrbar meinen eigenen Weg. Gestern war ein dummer Tag. Ein Tag, an dem mein fast satanischer Humor überhandnahm und ich mich auf einmal wieder wie ein übermütiges Kind fühlte. Gott, bewahre mich vor einer Sache: Lass mich nicht in ein Lager kommen mit den Men­ schen, mit denen ich jetzt tagtäglich arbeite. Darüber werde ich später hundert Satiren schreiben. Und dann gibt es doch noch viele abenteuerliche Möglichkeiten in diesem Leben: Gestern habe ich mit ihm gebratene Flunder45 gegessen, unvergesslich, was sowohl den Preis als auch die Qualität betrifft. Und heute Nachmittag um 5 Uhr werde ich zu ihm gehen und bis morgen früh bleiben. Wir werden ein wenig lesen und schreiben und einen Abend, eine Nacht und ein Frühstück zusammen verbringen. Ja, so etwas gibt es noch. Ich fühle mich seit gestern wieder so stark und heiter. Ganz ohne Ängste, auch nicht mehr um ihn. Völlig befreit von allen Sorgen. Ich bekomme von dem vielen Laufen sehr starke Beinmuskeln. Viel­ leicht wandere ich doch noch irgendwann durch ganz Russland? Er sagt: «Dies ist eine Zeit, um das hier in die Tat umzusetzen: ‹Liebt eure Feinde.›»46 Und wenn wir das sagen, muss man doch glauben, dass so etwas möglich ist? Ich möchte noch etwas von Rilke abschreiben, das mich gestern be­ rührte, weil es auch mich betrifft, wie so vieles von ihm: « … in meiner Natur eine große, fast leidenschaftliche Neigung zu jeder Art Geben besteht: ich kenne, seit Kindheit, keine stürmischere Freude, als nichts zurückzubehalten und bei dem Liebsten mit dem Verschenken anzufangen. Ich weiß, daß das mehr eine Art Haltlosigkeit und beinah sentimentaler Genuß­ sucht ist und durchaus keine Güte. Damit daraus eine Tugend würde, muß ich die Kraft erwerben, nur in dem Einen, Schweren, Mühsamen all mein Geben zusammenzufassen: in der Arbeit.»

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In mir ist ein übergroßes Schweigen, das weiterwächst. Und drum herum werden so viele Worte angeschwemmt, die einen ermüden, weil man da­ mit nichts ausdrücken kann. Man muss immer mehr nichtssagende Worte sammeln, um die wenigen zu finden, die man braucht. Und aus dem Schweigen muss eine neue Ausdrucksmöglichkeit erwachsen. Es ist nun halb 10. Bis 12 Uhr will ich hier an diesem Schreibtisch sit­ zen bleiben; die Rosenblätter liegen zwischen meinen Büchern verstreut. Eine der gelben Rosen ist voll aufgeblüht und schaut mich groß und ge­ öffnet an. Diese 2 ½ Stunden, die ich vor mir habe, kommen mir wie ein Jahr der Abgeschiedenheit vor. Ich bin so dankbar für diese paar Stunden und auch für die Konzentration, die ständig in mir wächst. später. Ich werde schon noch meine eigenen Worte finden für die Dinge, die ich zu sagen habe, jetzt leihe ich sie mir noch von Rainer Maria. «… daß es eigentlich keine Entschlüsse gibt. Das ist wahr. Denn wenn in­ nen immer wieder so natürlich eins aus dem anderen tritt, ungewaltsam, so bleibt kein Raum für einen Entschluß. Die Kette entrollt sich, Glied um Glied, und eines hängt im andern, leicht und doch fest umschlossen, beweglich und doch in unendlichem Zusammenhang.»

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später. «… vielleicht weil ich in Übergängen bin, die mich die Tatsache der Häßlichkeit leugnen lehren (wie, entsprechend, ihr Gegenteil: die Schönheit), um mir alles neuer, gerechter, namenloser wiederzugeben mit der Zeit.»

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später. Bei Jung finde ich eine Definition von «normal»: «Normal ist nämlich derjenige Mensch, der schlechthin unten allen Umstän­ den, die ihm überhaupt das nötige Minimum an Lebensmöglichkeit gewähren, existieren kann.»

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27. Juli 1942, Montagvormittag, 8 Uhr. Man muss in jedem Augenblick seines Lebens dazu bereit sein, sein ganzes Leben zu ändern und an einem anderen Ort ganz von vorne anzufangen. Ich bin verwöhnt und undiszipliniert. Möglicherweise bin ich trotz allem noch zu sehr darauf aus, das Leben zu genießen. So wie ich jetzt schon seit gestern Abend gelaunt bin, kann ich nicht anders, als mir zu sagen: Du

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bist doch eigentlich sehr undankbar. Es gab so viel Gutes an diesem ­Wochenende. So vieles, von dem ich wochenlang zehren könnte, selbst wenn diese Wochen nichts als Unheil brächten. Ich bin in der Tat unkol­ legial gegenüber den Tippfräuleins dort. Ich finde die Arbeit nun einmal stumpfsinnig und sinnlos und versuche, mich so gut wie möglich davor zu drücken. Ich bin an diesem frühen Morgen so unzufrieden, traurig und unsicher wie schon lange nicht mehr, und es geht hier keineswegs um das große «Leiden», sondern um die eigene kleine Unzufriedenheit und Unzu­ länglichkeit. Und ich bin so traurig darüber, dass die vielen wertvollen und guten Dinge dieses Wochenendes unter einer Lappalie begraben und erstickt wurden. Als ich nämlich um 5 Uhr heimlich die Beine in die Hand nehmen wollte, sagte ein etwas vulgäres Tippfräulein, das den Chef spielen wollte: «Nein, das ist unmöglich, die Richtlinie muss noch ab­ getippt werden, das ist sehr unkollegial, dass du schon fortwillst.» Und weil nur 5 Durchschläge in meine Maschine passen und wir 10 Exemplare des Leitfadens benötigten, musste ich also alles zweimal abtippen. Und du möchtest so gerne zu deinem Freund, hast Rückenschmerzen und alle Zel­ len deines Körpers rebellieren. Du hast eine falsche Einstellung. Du musst bedenken, dass du aufgrund deiner Anstellung noch in Amsterdam bei den Menschen bleiben kannst, die dir lieb und teuer sind. Und du machst es dir wirklich schon leicht genug. Gestern Nachmittag fiel mir plötzlich auf, wie grau, wie trostlos und unwürdig und ohne Perspektive dieser ganze Betrieb ist. «Ich bitte erge­ benst um Freistellung vom Arbeitsdienst in Deutschland, weil ich hier schon so hart für die Wehrmacht arbeite und unentbehrlich für euch bin.» Es ist völlig trostlos. Und zugleich war mir auch bewusst: Wenn wir dem Grau hier nichts entgegensetzen, etwas Strahlendes und Starkes, das irgendwo an einem ganz anderen Ort wieder ganz von Neuem beginnt, dann sind wir verloren, endgültig und für immer verloren. Ich werde den Weg zu diesem Strahlenden und Neuen schon wieder finden, auch wenn er jetzt verschüttet ist. Ich bin müde und niedergeschlagen. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit und möchte gerne tagelang schreiben, bis ich alles, was mich jetzt so plötzlich bedrückt, von mir abgewälzt habe. Ich muss zuerst wieder durch sehr viele enge, dunkle unterirdische Gänge gehen, ehe ich plötzlich wieder ans Licht komme. Gestern Nachmittag wartete ich in einem engen, mit Menschen über­ füllten Korridor 1 ½ Stunden auf Werner. Ich saß auf einem Hocker an die Wand gelehnt und die vielen Menschen gingen um mich herum, über

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mich hinweg und an mir vorbei. Und ich saß da mit Rilke auf dem Schoß und las. Ich las wirklich, konzentriert und vertieft. Und ich fand etwas, das für viele Tage reichen könnte. Ich schrieb es sofort ab. Und später fand ich einen Mülleimer in der Sonne auf dem Hof hinter unseren neuesten Arbeitsplätzen,51 ich setzte mich darauf und las Rilke. Und Samstagabend: Der Kreis unserer Beziehung hat sich geschlossen, ganz einfach und natür­ lich. Als hätte mich nachts noch nie etwas anderes als eine geblümte D ­ ecke zugedeckt. Und immer wieder die Grachten, an denen ich entlanggehe, die ich mir immer stärker einpräge, sodass ich nie mehr ohne sie sein werde. Und könnte eine einzige Stunde, die du länger arbeitest, auch wenn es eine stumpfsinnige Arbeit ist, gegen die du dich auflehnst, dich all dessen berauben? Dich in einen solchen Zustand versetzen, dass es scheint, als ob alles andere nie gewesen wäre? Die Ängste sitzen tiefer und ich könnte auch dahinterkommen, aber ich habe jetzt keine Zeit dazu. Das hier noch schnell abschreiben: «Mir geht es oft so, daß ich mich frage, ob die Erfüllung eigentlich etwas mit den Wünschen zu tun hat. Ja, solang der Wunsch schwach ist, ist er wie eine Hälfte und braucht das Erfülltwerden wie eine zweite Hälfte, um etwas Selbständiges zu sein. Aber Wünsche können so wunderbar zu etwas Ganzem, Vollem, Heilem auswachsen, das sich gar nicht mehr ergänzen läßt, das nur noch aus sich heraus zunimmt und sich formt und füllt. Manchmal könnte man meinen, dies gerade wäre die Ursache der Größe und Intensität eines Lebens gewesen, daß es sich mit zu großen Wünschen einließ, die von innen wie ein Ressort Aktion auf Aktion, Wirkung nach Wirkung ins Leben hinaus trieben, die kaum mehr wußten, worauf sie ursprünglich gespannt waren, und nur noch elementar, wie ein starkes, fallendes Wasser, sich in Handlung und Herzlich­ keit, in unmittelbares Dasein, in frohen Mut umsetzten, je nachdem das Ge­ schehen und die Gelegenheit sie einschaltete.»

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Ich werde nun wieder an den vielen Grachten entlanggehen und ver­ suchen, innerlich ganz ruhig zu sein und in mich hineinzuhorchen, was in mir eigentlich passiert ist. Ich werde mich an diesem Tag noch sehr stark «verwandeln» müssen. Und nun noch eine Sache: Ich glaube doch, dass ich einen inneren Regulator habe. Ich werde jedes Mal gewarnt, wenn ich durch eine «Ver­ stimmung» auf einen falschen Weg geraten bin. Und wenn ich jetzt nur offen und ehrlich bleibe und den guten Willen erhalte, wirklich diejenige zu werden, die ich sein sollte, und das zu tun, was mir mein Gewissen in

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dieser Zeit vorschreibt, dann wird alles gut werden. Ich glaube, dass das Leben sehr große Anforderungen an mich stellt und große Pläne mit mir hat, aber ich muss offen für meine innere Stimme bleiben und ihr auch folgen, ich muss offen und ehrlich bleiben und das Schwere auch nicht abschütteln wollen. abends halb 11. «Zuversichtlich und bereit sein.»

Ich werde mich jetzt um meinen Rucksack kümmern. An diesem einen Tag heute habe ich Jahre der Abstumpfung durchlebt, einen jahrelangen Abstumpfungsprozess habe ich durchgemacht. Der Ge­ danke an Selbstmord tauchte plötzlich wieder aus einer verborgenen Tiefe auf, aber er ist schon wieder verschwunden. Heute Morgen fühlte ich mich einen Moment lang so bleiern vor Traurigkeit, dass ich meinte, nie wieder froh werden zu können. Aber dann sprudelte plötzlich aus ver­ borgenen Quellen eine Kraft empor, die mich lehrte, dass ich noch lange nicht am Ende bin. Ach, wenn man nur sein Herz wie einen freien Vogel durch alle Ereig­ nisse hindurchfliegen lassen könnte. Am meisten fürchte ich mich vor der Abstumpfung und vor den Men­ schen, mit denen ich zusammen sein werde. Jemand muss doch übrig bleiben, um später bezeugen zu können, dass Gott auch in dieser Zeit noch gelebt hat. Und warum sollte nicht ich diese Zeugin sein? Man darf nicht mit Tagen rechnen, sondern mit Jahren. Heute gab es einen Moment, in dem ich glaubte, am Ende all meiner Kräfte zu sein, es war ein Tag, der Jahre umfasste. Aber jetzt weiß ich, dass ich an so einem schweren Tag nicht aufgeben darf. Ich muss mit einem jahrelangen schwe­ ren Leben rechnen. Und versuchen, es auszuhalten, und versuchen, ein kleines Stückchen von Gott zu retten. Aber ich werde oft denken, dass ich am Ende meiner Kräfte angelangt bin, das habe ich heute gemerkt. Und jetzt spüre ich wieder diese immense Sicherheit und Kraft in mir. Und die Bereitschaft zu allem. Ich rief Hesje an und fragte, ob sie mir ­einen Rucksack besorgen könne. Und dann dieser Zahnarzt. Und so wei­ ter. Und es wird wahrscheinlich dennoch mein Schicksal sein, allein zu gehen und nicht in völliger Verzweiflung an einen anderen gekoppelt zu sein. Wenn seine halbarischen Kinder53 nicht helfen und er vor mir gehen

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müsste, ginge ich freiwillig mit ihm mit, aber ich würde nicht wollen, dass er mit mir mitginge, so dankbar ich ihm auch für seine Worte von heute Nachmittag bin, dass er mit mir mitgehen wollte. Ich habe das Gefühl, dass ich mit jedem Wort, das ich sage, sparsam umgehen muss. Als ob ich nur noch die allernötigsten Worte sprechen sollte. Und als ob ich alles, was mir hier lieb und teuer ist, in mir verstauen müsste, um eine ganze unveräußerliche Welt in mir mitnehmen zu kön­ nen. Nur das Allernötigste sagen und sich ansonsten immer mehr auf sich selbst konzentrieren. Jetzt, da wir fast überrollt werden vom Rad der Zeit, die man vielleicht später einmal als großes Zeitalter bezeichnen wird, kommt es doch darauf an, Gott wie ein Banner hoch über die tausend Ängste und Bedrückungen und die Niedergeschlagenheit des Alltags hinaus zu erheben. Ich wusste ja heute Morgen, dass ich viele «Wandlungen» durchmachen muss, ich bin wieder «gewandelt». Wieder eine Heiterkeit, Leichtigkeit, Entschlossenheit und völlige Hingabe. Und jetzt muss ich schlafen gehen. Ich hoffe, zwischen den vielen Briefen morgen eine ganze Menge von Jung durcharbeiten zu können. Ich muss mich halt in Gottes Namen damit «abfinden», dass ich dort stumpfsinnige Arbeit erledige und von etwas ­primitiven und eingebildeten Bürofräuleins mit Organisationswut ange­ schnauzt werde, aber es bleibt mir zwischendurch viel Zeit, die ich nutzen werde, statt mich in einer Art machtloser Wut traurig machen zu lassen. Mir geht es wieder sehr gut. Mir wäre es doch lieber, er bliebe hier, statt mit mir mitzukommen. Ich würde ihn nicht gerne an meiner Seite leiden sehen. Obwohl: Ein einziger Blick, unter was für quälenden Umständen auch immer gewechselt, könnte mir vielleicht für lange Zeit wieder Kraft geben. Ich werde ihn in mir einschließen, ihn sicher in mir tragen und mit ihm zusammen sein, sooft ich will. Herr, es wird so schwer sein, aber jetzt, wo ich den Tag nach diesem mühevollen Start wieder überwunden habe und so vertrauensvoll und fast glücklich an diesem Schreibtisch sitze, weiß ich auch, dass ich noch lange nicht am Ende meiner Kräfte bin. Ich habe begonnen, meine Tagebuch-Hefte noch einmal zu lesen, und ich muss sagen, dass ich mich ab und zu für diesen pubertären Nonsens geniere. Ich wollte sie alle zerreißen. Aber plötzlich dachte ich, ich müsste sie vielleicht trotzdem aufheben, um später wieder bei mir selbst anknüp­ fen zu können. Es ist natürlich möglich, dass mich eine große Abstump­ fung überkommt. Das habe ich heute erlebt und ich weiß, wie schlimm

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das ist. Aber vielleicht wird wieder einmal eine Zeit kommen, in der uns das Leben wieder etwas gewährt, und dann müsste man auch wieder das Leben in sich wecken, denn vielleicht stirbt ja doch etwas ab, ich weiß es nicht; so wie ich es heute durchlitten habe, ganz sicher. Und dann können mir meine eigenen Notizen vielleicht etwas von mir selbst zurückgeben. Ich war heute 10 Minuten mit ihm allein und diese 10 Minuten mach­ ten einen ganzen Tag wett. Aber ich hatte meine Kraft und meine Zuver­ sicht bereits auf dem Weg zu ihm zurückgewonnen. Sein bewegtes und leidendes Gesicht bei dem Gedanken, dass ich ihn vielleicht bald verlassen müsste, seine heftige und wilde Gestik: «Sie dürfen mir nicht wegkommen, Sie müssen bei mir bleiben.»

Und dann weiß ich, dass ich später seine und auch meine Einsamkeit und Verlassenheit tragen muss. Und Han, der so sehr altert, von Tag zu Tag altert. Und meine Eltern, meine lieben guten Eltern. Ich komme schon damit zurecht, mein Gott. Ich danke dir, dass du mich so leidens­ fähig gemacht hast. Und nun gute Nacht. später. Noch etwas: Ich habe heute eine wichtige Sache gelernt: Dort, wo der Zufall einen hinstellt, muss man auch mit ganzem Herzen präsent sein. Wenn man mit dem Herzen woanders ist, bringt man nicht genug in die Gemeinschaft ein, in der man sich zufälligerweise befindet, und die Ge­ meinschaft verarmt dann dadurch. Ob das nun streberische Büromädchen oder weiß Gott was sind, man muss doch ganz präsent sein und man wird dann auch bei ihnen etwas finden. 28. Juli [1942], Dienstagmorgen, halb 8. Ich werde die Kette dieses Tages sich Glied für Glied abwickeln lassen, ich werde nicht eingreifen, sondern einfach vertrauen. Ich werde dir deine Ratschlüsse überlassen, mein Gott. Heute Morgen fand ich eine Druck­ sache im Briefkasten. Ich sah, dass ein weißes Papier darin war. Ich war ganz ruhig und dachte: Mein weißer Aufruf, schade, jetzt kann ich nicht einmal mehr meinen Rucksack packen. Hinterher merkte ich, dass meine Knie zitterten. Es war ein Formular54 für die Angestellten des Judenrats. Ich habe noch nicht einmal eine Identifikationsnummer. Ich werde die wenigen Schritte unternehmen, die ich meiner Meinung nach wohl tun muss. Vielleicht muss ich lange warten, Jung und Rilke werden mitkom­ men, ich hoffe, heute viel arbeiten zu können.

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Und wenn mein Geist später viele Bilder nicht mehr festhalten kann, so werden doch immerhin diese letzten zwei Jahre am Horizont meiner Erinnerung aufleuchten wie ein wunderschönes Land, in dem ich einst zu Hause war und das noch immer mir gehört. Der gestrige Tag hat mir wieder so viel Mut gemacht. Denn er hat mich gelehrt, dass Gott meine Kräfte stets erneuert. Ich spüre, dass ich immer noch durch tausend Fasern mit allem hier verbunden bin. Ich werde sie Stück für Stück losreißen müssen und alles an Bord holen, damit ich beim Weggehen nichts zurücklasse, sondern alles mit mir trage. Es gibt Momente, in denen ich mich wie ein kleiner Vogel fühle, ge­ borgen in einer großen, schützenden Hand. Noch ein paar Worte von Rilke: «Ich fürchte die Härte dieser Lehrjahre nicht: mein Herz sehnt sich, ge­ hämmert und geschliffen zu sein: wenn es nur meine Härte ist, die, die zu mir gehört, und nicht, wie während so vieler Jahre meiner Jugend, eine unnütze Grausamkeit, aus der ich nichts lernen konnte. (Und vielleicht doch gelernt habe, – aber mit wieviel Kraftverlust.)»

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Gestern war mein Herz ein in der Falle gefangener Vogel. Jetzt ist es wie­ der ein freier Vogel, den nichts an seinem Flug hindern kann. Heute scheint die Sonne. Und jetzt mache ich mein Brot fertig und mache mich auf den Weg. halb 2 nachmittags, an seinem kleinen Tisch. Gott, mein Gott, du wirst mich ja sicher nicht gehen lassen, solange er noch krank ist. Er liegt jetzt ruhig atmend im Zimmer nebenan unter seiner hellen geblümten Decke. Die Gefahr einer Lungenentzündung ist vorbei, sagt der Arzt. Eine Viertelstunde später. Jetzt, da ich sein lächelndes, liebes Gesicht mit den Bartstoppeln gesehen habe und wir ein wenig geredet haben, ist die schlimmste Beklommenheit gewichen. «Du darfst nicht weg», sagte er. Ich gehe auch noch nicht weg. Gott wird mich keinen Tag früher als nötig gehen lassen. Meine Identifikationsnummer habe ich zügig bekommen und dann habe ich mir für den Zahnarzt freigenommen, und statt beim Zahnarzt sitze ich jetzt an diesem kleinen Tisch.

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Wenn ich durch die Straßen gehe, halte ich meine Augen fast geschlos­ sen, um all die Bilder gleichsam noch konzentrierter in mich aufzuneh­ men. Ich werde meinen Rucksack packen und in einem kleinen versteck­ ten Winkel wird sicherlich ein Plätzchen für das Alte und das Neue Testament sein. Ich bin so bereit, wie ich nur irgendwie sein kann, mein Gott, aber du nimmst mich ihm doch noch nicht weg? Das geht wirklich noch nicht. Jedes Mal, wenn ich den Brief von Tide noch einmal lese, spüre ich eine Menge Tränen in mir, die mir über die Wangen fließen wollen. Jetzt ist mein Herz wieder ganz hier, in diesen beiden kleinen Räu­ men. Und mein Gebet auch. Heute Morgen war es bei all denen, die ich auf meinem Weg getroffen habe. Es muss immer ganz dort sein, wo man sich gerade zufälligerweise befindet. Ich bin heute Morgen drei Stunden gelaufen und jetzt darf ich doch ein wenig müde sein? Ich bin weder trau­ rig noch ängstlich. Ich werde Geduld haben, unendliche Geduld, sie wird in jeder Minute auf die Probe gestellt und deshalb nimmt sie in jeder Minute zu. (Ich sitze jetzt auf dem Boden gegenüber seinem Bett, einge­ klemmt zwischen zwei kleinen Schränken. Wenn ich aufblicke, sehe ich sein liebes und gutmütiges Gesicht. Du bist immer noch sehr gut zu mir, mein Gott.) Ich wollte nächste Woche hier in Dickys Zimmer übernach­ ten, aber die gute und tapfere Frau Nethe sagte, es wäre vielleicht besser, das nicht zu tun, weil es hier in der Nachbarschaft bereits nächtliche Raz­ zien56 gegeben habe. Gut, dann eben nicht. Wenn er nur gesund bleibt und ich noch nicht wegmuss und selbst wenn ich ihn nur 5 Minuten am Tag sehen würde. Er liegt dort 2 Meter von mir entfernt unter seiner ge­ blümten Decke. Das graue, faltige, gealterte Gesicht mit den durchschei­ nenden, hellen Augen. Ich könnte ihm jetzt einen Liebesbrief schreiben. Auf meinen langen Fußmärschen durch die Stadt heute habe ich ihm in Gedanken viele Liebesbriefe geschrieben. Wenn ich gehen muss, wäre es mir lieber, er käme nicht mit. Mein Herz wird ihm von jedem Fleck die­ ser Erde wie ein suchender Vogel entgegenfliegen und es wird ihn auch immer finden. «Ich gucke Dich so gerne an», sagt er gerade, «es wäre schön, wenn wir zusammenblieben und noch eine ruhige Zeit erlebten, aber das ist

Ich habe ihm rote und gelbe Rosen mitgebracht, sie stehen jetzt neben seinem Bett und er lässt sie nicht mehr aus den Augen.

wohl kaum vorstellbar.»

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Schon wieder, viel später. Er sagte gerade noch einmal sehr bestimmt: «Du bist halb-Arisch und dann Es wäre vielleicht noch einen Versuch wert, es mit den verschwundenen Eltern meiner russischen Mutter zu probie­ ren.57 «Willst Du mich denn heiraten?», fragte ich. «Ja, aber nur um zusam­ menzubleiben, nicht um wirklich zu heiraten.» Und er fuhr ernst fort: «Ich kann ich Dich auch heiraten.»

habe mir die letzten Tage überlegt, daß ich keine jungen Menschen an mich binden darf. Ich werde die Hertha auch davon abhalten mich zu heiraten.»

Und ich sagte: Das spielt doch alles gar keine Rolle, ich kann trotzdem bei dir bleiben. Mir ist so seltsam zumute: so ruhig und ernst und entschlossen und so erfüllt von einem ernsten, aber auch heiteren Leben. Ich weiß in diesem Augenblick sicherer denn je, dass ich in diesem Leben eine Aufgabe habe, eine kleine «Aufgabe», extra für mich. Und ich werde alles durchstehen müssen. Ich bin dankbar dafür, dass mich das Schicksal nicht in einen seiner vielen kleinen Fänge gekriegt hat, z. B. in ein Gefängnis wegen ver­ steckten Silbers,58 ja, so etwas gibt es auch, sondern dass ich vom breiten Strom mitgerissen werde. Ich möchte später die Chronistin unseres Schick­ sals sein. Ich werde in mir eine neue Sprache zurechtschmieden und sie in mir aufbewahren, falls ich nicht mehr die Gelegenheit haben werde, etwas aufzuschreiben. Ich werde abstumpfen und wieder zum Leben erwachen, hinfallen und wieder aufstehen, und vielleicht werde ich eines Tages, viel später, wieder einmal einen ruhigen Raum um mich herum haben, der nur mir gehört, und dann werde ich so lange dort sitzen bleiben, selbst wenn es ein Jahr wäre, bis das Leben wieder in mir sprudelt und bis die Worte zu mir kommen, die Zeugnis ablegen werden von dem, was be­ zeugt werden muss. 4 Uhr nachmittags. Der Tag ist ganz anders verlaufen, als ich dachte. halb 9 abends. Abgesehen vom historischen Aspekt, um es einmal ganz kühl auszudrü­ cken, war dies ein Tag voller Abenteuer, Pflichtvergessenheit und Sonnen­ schein. Ich habe die Arbeit geschwänzt und bin an den Grachten spazieren gegangen, und ich habe mich in einer Ecke seines Zimmers gegenüber seinem Bett hingehockt. Es stehen jetzt wieder 5 Teerosen in der kleinen Zinnvase.

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Es gibt einen Unterschied zwischen abgehärtet und verhärtet. Das wird heutzutage häufig verwechselt. Ich glaube, dass ich jeden Tag abgehärteter werde, abgesehen von dieser undisziplinierten Blase, aber verhärtet werde ich niemals, ich habe auch keinerlei Bedürfnis, es zu werden. Allmählich zeichnen sich alle möglichen Dinge klarer in mir ab. Zum Beispiel, dass ich nicht seine Frau werden will. Ich möchte es jetzt ganz nüchtern und sachlich feststellen: Der Altersunterschied ist zu groß. Ich habe bereits einen Mann während einiger Jahre vor meinen Augen altern sehen.59 Ich sehe ihn jetzt auch altern. Er ist ein alter Mann, den ich liebe, unendlich liebe, und mit dem ich immer innerlich verbunden sein werde. Aber «heiraten», was der brave Bürger Heiraten nennt, muss ich jetzt end­ lich einmal ganz nüchtern und ehrlich sagen, das würde ich nicht wollen. Und es verleiht mir sogar ein Gefühl der Stärke, dass ich meinen Weg ­allein gehen muss. Von Stunde zu Stunde genährt von der Liebe, die ich für ihn und für andere in mir trage. Unendlich viele Paare verbinden sich, sie verbinden sich im letzten Moment in Eile und Verzweiflung.60 Dann möchte ich doch lieber allein und für alle da sein. Es wird natürlich nie wiedergutzumachen sein, dass ein kleiner Teil der Juden mithilft, die übergroße Mehrheit abzutransportieren. Die Ge­ schichte wird später ihr Urteil darüber fällen müssen.61 Und dennoch immer wieder: Das Leben ist so «interessant», trotz allem. Immer wieder gewinnt bei mir ein fast dämonisches Beobachten von al­ lem, was geschieht, die Oberhand. Der Wunsch, zu sehen und zu hören und dabei zu sein, dem Leben alle Geheimnisse zu entlocken, die Ge­ sichtsausdrücke der Menschen in ihren letzten Zuckungen auf kühle Art und Weise zu beobachten. Und auch plötzlich wieder mit sich selbst kon­ frontiert zu sein und viel aus dem Schauspiel zu lernen, das die eigene Seele in dieser Zeit darbietet. Und später die Worte dafür zu finden. Ich werde jetzt in meinen alten Tagebüchern weiterlesen. Ich werde sie doch nicht zerreißen. Vielleicht helfen sie mir später, wieder zu mir selbst zurückzufinden. Zeit, uns auf die gegenwärtigen katastrophalen Ereignisse vorzuberei­ ten, hatten wir genug, volle 2 Jahre. Und ausgerechnet das letzte Jahr war das entscheidende Jahr meines Lebens, mein schönstes Jahr. Und ich bin sicher, dass es eine Kontinuität geben wird zwischen meinem Leben jetzt und dem Leben, das nun kommen wird. Denn es ist ein Leben, das sich in

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den inneren Bereichen abspielt, und die Kulisse wird dann immer un­ wichtiger. Abgehärtet: leicht zu unterscheiden von verhärtet. 29. Juli [1942], Mittwochvormittag, 8 Uhr. Seit ich die Augen geöffnet habe, habe ich bereits eine ganze Palette von Stimmungen durchlebt. Jetzt bin ich wieder ruhig. Man muss immer ein­ facher werden. Als ich Samstagnacht um 2 Uhr in Dickys Zimmer landete, nach die­ sem allzu vertrauten Beisammensein unter der hell geblümten Decke, las ich noch ein wenig in Rilke und fand Folgendes; die Worte sprangen mir entgegen, als wären sie sehr nahe Verwandte von mir: «… und auf einmal meint man, wie durch klare Tränen, die ferne Einsicht zu ahnen, daß man selbst als ein Liebender das Alleinsein nötig hat, daß einem Weh, aber nicht Unrecht geschieht, wenn es einen mitten in einem zu einem geliebten Menschen hinstürzenden Gefühl überfällt und einschließt: ja daß man sogar dieses scheinbar Gemeinsamste, das die Liebe ist, nur allein, abgetrennt, ganz ausentwickeln und gewissermaßen vollenden kann; schon deshalb, weil man im Zusammenschluß starker Neigungen eine Strömung von Genuß ­erzeugt, die einen hinreißt und schließlich irgendwo auswirft; während dem in seinem Gefühl Eingeschlossenen die Liebe zu einer täglichen Arbeit wird an sich selbst und zu einem fortwährenden Aufstellen kühner und großmütiger Anforde­ rungen an den anderen. Wesen, die einander so lieben, rufen unendliche Gefah­ ren um sich auf, aber sie sind sicher vor den kleinen Gefährlichkeiten, die so viele große Gefühlsanfänge ausgefranst und zerbröckelt haben. Da sie einander immerfort daß Äußerste wünschen und zumuten mögen, kann keiner dem an­ deren durch Beschränkung unrecht tun, im Gegenteil, sie erzeugen sich gegen­ seitig unaufhörlich Raum und Weite und Freiheit …»

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Am Sonntagmorgen saß ich in meinem wild gestreiften Morgen­ mantel, in einer Ecke seines Zimmers verkrochen, auf dem Boden und stopfte Strümpfe. Es gibt zuweilen Gewässer, die so klar sind, dass man bis auf den Grund alles erkennen kann. Kannst du das noch ekelhafter for­ mulieren, wenn ich fragen darf? Ich wollte damit Folgendes sagen: Es war, als wäre das Leben mit tausenderlei Einzelheiten und Drehungen und Wendungen für mich so klar und transparent geworden. Als stünde ich vor einem Ozean, auf dessen Grund ich durch das kristallklare Wasser blicken konnte. Werde ich jemals wirklich schreiben können, daran ver­

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zweifle ich – oder doch nicht? Es könnte möglicherweise sehr lange dau­ ern, bis ich einen solchen Moment meines Lebens, einen wahren Höhe­ punkt, beschreiben kann. Man sitzt in einer Ecke auf dem Boden im Zimmer des geliebten Mannes und stopft Strümpfe, und zugleich sitzt man am Ufer eines gewaltigen, großen Gewässers, das so kristallklar und durchsichtig ist, dass man bis auf den Grund schauen kann. Und das ist dann irgendwann dein Lebensgefühl und das ist unvergesslich. Und jetzt glaube ich wirklich, dass ich auch noch die Grippe oder so etwas bekomme. Das darf nicht passieren, ich bin prinzipiell dagegen. Und meine noch nicht sehr trainierten Beine sind heute nach den langen Märschen von gestern sehr müde. Und jetzt muss ich Werners Identifikationsnummer ergattern. Ich werde dort oben in dem kleinen Raum mit derselben freundlichen Unerschütterlichkeit auftreten wie gestern für mich selbst. Und für den Zahnarzt wird es auch höchste Zeit. Und ob es heute viel Arbeit geben wird? Ich mache mich jetzt auf den Weg. Man weiß nie, was der Tag bringt, aber das spielt auch keine Rolle, man ist nicht mehr davon abhängig, was der Tag bringt, selbst in dieser Zeit nicht. Übertreibe ich nicht? Und wenn jetzt morgen der weiße Aufruf kommt? Es scheint, dass die Transporte in Amsterdam vorläufig gestoppt wurden. Man beginnt jetzt in Rotterdam.63 Stehe ihnen bei, mein Gott, stehe den Rotterdamer Juden bei.

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15. September 1942, Dienstagmorgen, halb 11. Vielleicht war das alles zusammen doch ein bisschen viel, mein Gott. Jetzt werde ich daran erinnert, dass der Mensch auch einen Körper hat. Ich hatte gedacht, mein Geist und mein Herz könnten alles allein tragen, aber jetzt meldet sich mein Körper und sagt: Halt. Und erst jetzt spüre ich, wie viel du mir zu tragen gegeben hast. So viel Schönes und so viel Schweres. Und das Schwere hat sich, sobald ich mich bereit dazu gezeigt habe, es zu tragen, immer wieder in etwas Schönes verwandelt. Und das Schöne und Große war manchmal noch schwerer zu ertragen als das Leiden, weil es so überwältigend war. Dass ein kleines Menschenherz so viel erleben kann, mein Gott, dass es so sehr leiden und so sehr lieben kann, ich bin dir so dankbar dafür, mein Gott, dass du gerade mein Herz in dieser Zeit aus­ erwählt hast, all das durchmachen zu lassen, was es durchgemacht hat. Vielleicht ist es gut, dass ich krank geworden bin, aber ich habe mich noch nicht mit diesem Umstand versöhnt; ich bin ein bisschen benommen, ver­ loren und hilflos, aber gleichzeitig versuche ich jetzt schon wieder, aus ­allen Winkeln meines Wesens ein wenig Geduld zusammenzukratzen, es muss eine ganz neue Art von Geduld für eine ganz neue Situation sein, das spüre ich schon. Ich werde wieder auf das altbewährte Verfahren1 zurück­ greifen und ab und zu ein wenig auf diesen blauen Linien mit mir selbst sprechen. Mit dir sprechen, mein Gott. Ist das denn richtig? Ich habe nur noch das Bedürfnis, mit dir zu sprechen, nicht mehr mit den Menschen. Ich liebe die Menschen so sehr, weil ich in jedem Menschen einen Teil von dir liebe, mein Gott. Und ich suche dich überall in den Menschen und finde oft einen Teil von dir. Und ich versuche, dich in den Herzen der anderen zutage zu fördern, mein Gott. Aber jetzt brauche ich viel Geduld, viel Geduld und Besinnung, es wird sehr schwer werden. Und ich muss nunmehr alles ganz allein machen. Der beste und edelste Teil meines Freundes, des Mannes, der dich in mir erweckt hat, ist jetzt schon bei dir.

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Nur ein seniler, entkräfteter Greis ist in diesen zwei kleinen Zimmern ­zurückgeblieben, in denen ich die größten und tiefsten Freuden meines Lebens erlebt habe. Ich habe an seinem Bett gestanden und stand da vor deinen letzten Rätseln, mein Gott. Schenke mir noch ein ganzes Leben, um alles zu verstehen. Während ich hier sitze und schreibe, fühle ich: Es ist gut, dass ich hier­ bleiben muss. Ich habe in den letzten Monaten so intensiv gelebt, scheint mir plötzlich im Nachhinein: Ich habe den Vorrat eines ganzen Lebens in wenigen Monaten verbraucht. Vielleicht war ich zu leichtsinnig in mei­ nem inneren Erleben, das über alle Ufer trat? Ich bin nicht zu leichtsinnig gewesen, wenn ich jetzt auf deine Warnung höre. nachmittags 3 Uhr. Da steht wieder dieser Baum, der Baum, der meine Biografie schreiben könnte. Und doch ist es nicht mehr derselbe Baum, oder kommt es mir nur so vor, weil ich nicht mehr dieselbe bin? Und da steht sein Bücher­ regal, einen Meter von meinem Bett entfernt. Ich brauche nur meinen linken Arm auszustrecken, dann habe ich schon Dostojewski oder Shake­ speare oder Kierkegaard in der Hand. Aber ich strecke die Hand nicht aus. Mir ist so schwindelig. Du stellst mich vor deine letzten Rätsel, mein Gott, ich bin dankbar dafür, dass du mich vor sie stellst, ich habe auch die Kraft, vor ihnen zu stehen und zu wissen, dass es keine Antwort gibt. Man muss deine Rätsel ertragen können. Ich glaube, ich sollte tagelang schlafen gehen und geistig alles loslassen. Der Arzt sagte gestern, ich führe ein zu intensives Innenleben, ich lebe zu wenig auf der Erde und schon fast an der Grenze zum Himmel und meine körperliche Verfassung halte das alles nicht aus. Vielleicht hat er recht. Die letzten 1 ½ Jahre, mein Gott! Und die beiden letzten Monate, die an sich schon ein ganzes Leben waren. Und habe ich nicht Stunden erlebt, von denen ich sagte: «Diese eine Stunde ist ein ganzes Leben gewesen, und wenn ich gleich ums Leben käme, dann ist diese eine Stunde das ganze Leben wert gewesen»? Und ich habe viele solcher Stunden erlebt. Warum darf ich nicht auch im Himmel leben? Der Himmel ist doch da, warum sollte man nicht auch in ihm ­leben? Aber eigentlich ist es ja vielmehr so: Der Himmel lebt in mir. Alles lebt in mir. Ich muss an ein Wort aus einem Gedicht von Rilke denken: 2 Weltinnenraum. Und jetzt muss ich alles loslassen und schlafen gehen. Mir ist so schwindelig. Und mit meinem Körper stimmt etwas nicht. Ich möchte

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gerne bald wieder gesund werden. Aber ich nehme alles aus deinen Hän­ den hin, mein Gott, wie es kommt. Ich weiß, dass es immer gut ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man all das Schwere, wenn man es trägt, zum Guten wenden kann. Siehst du, ich leide immer noch an demselben Übel, ich kann mich nicht dazu entschließen, mit dem Schreiben aufzuhören: Ich möchte noch im letzten Moment die eine erlösende Formel für alles finden. Für alles, was in mir ist, für dieses übervolle und überreiche Lebensgefühl, möchte ich dann das eine Wort finden, mit dem ich alles ausdrücken könnte. ­Warum hast du mich nicht zur Dichterin gemacht, mein Gott? Doch, du hast mich schon zu einer Dichterin gemacht, und ich werde geduldig warten, bis die Worte in mir herangewachsen sind, die all das bezeugen können, was ich bezeugen muss, mein Gott: dass es gut und schön ist, in deiner Welt zu leben, trotz allem, was wir Menschen einander antun. Das denkende Herz der Baracke. Dienstagnacht, 1 Uhr. Ich habe einmal geschrieben, dass ich dein Leben bis zur letzten Seite lesen möchte. Jetzt habe ich dein Leben zu Ende gelesen.3 Es ist so eine seltsame Freude in mir über alles, wie es gekommen ist, und so ist es sicherlich gut, sonst wäre nicht diese Kraft und Freude und Gewissheit in mir. Da liegst du nun also in deinen beiden kleinen Zimmern, du Lieber, Großer, Guter. Ich habe dir einmal geschrieben: Mein Herz wird immer wie ein freier Vogel dir entgegenfliegen, von jedem Fleck dieser Erde aus, und es wird dich immer finden. Und auch dies, ich habe es in Tides Tage­ buch geschrieben:4 Während meines Lebens bist du schon so sehr zu ­einem Teil des Himmels geworden, der sich über mir wölbt, dass ich nur meine Augen zum Himmel aufschlagen muss, um bei dir zu sein. Und wenn ich in einer unterirdischen Zelle säße, würde sich dieses Stückchen Himmel in mir ausbreiten, und mein Herz würde wie ein freier Vogel in diesen Himmel auffliegen, und deshalb ist alles so einfach, weißt du, alles so furchtbar einfach und schön und sinnreich. Ich hatte noch tausend Dinge, die ich dich fragen und von dir lernen wollte, von nun an muss ich alles allein machen. Ich fühle mich so stark, weißt du, ich weiß, dass ich mein Leben meistern werde. Die Kräfte, die mir zur Verfügung stehen, hast du in mir freigesetzt. Du hast mich g­ elehrt, den Namen Gottes unbefangen auszusprechen. Du warst der Vermittler

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zwischen Gott und mir, und jetzt bist du, mein Vermittler, fortgegangen und jetzt führt mein Weg geradewegs zu Gott; das ist gut so, ich spüre es. Und ich werde wiederum selbst die Vermittlerin für all die anderen werden, die ich erreichen kann. Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch im Licht der kleinen Lampe. Ich habe dir von diesem Ort aus so oft geschrieben und hier auch über dich geschrieben. Ich muss dir noch etwas Sonderbares erzählen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen. In dieser Welt, in der jeden Tag Tausende sterben, habe ich noch nie einen Toten gesehen. Tide sagt: «Es ist nur eine ‹Hülle›.» Ich weiß das schon. Aber dass du jetzt der erste Tote bist, den ich sehen werde, empfinde ich als etwas sehr Sinnreiches und Großartiges. Gegenwärtig wird an den großen und letzten Dingen des Lebens so oft stümperhaft herumgespielt und herumgepfuscht. Viele Menschen machen sich krank oder stellen sich krank aus Angst, verschleppt zu werden. Viele bringen sich auch selbst um, ebenfalls aus Angst. Ich bin dankbar dafür, dass dein Leben ein natürliches Ende gefunden hat. Und dass auch du ­einen Teil des Leidens zu tragen hattest. Tide sagt: «Dieses Leiden wurde ihm von Gott auferlegt, und nun ist ihm das Leiden erspart geblieben, das ihm die Menschen auferlegt hätten.» Du verwöhnter, lieber Mann, du ­hättest es ja wahrscheinlich nicht ertragen können? Ich kann es ertragen, und indem ich es ertrage, lebst du in mir fort und ich vermittle dein Leben weiter. Wenn man erst einmal den Punkt erreicht hat, das Leben als sinnreich und schön zu empfinden, auch in dieser Zeit und gerade in dieser Zeit, dann ist es so, als ob alles, was kommt, genau so hätte kommen müssen und nicht anders. Dass ich jetzt wieder an meinem Schreibtisch sitze! Und morgen kann ich nicht zurück nach Westerbork,5 jetzt werde ich noch ein einziges Mal mit all meinen Freunden zusammen sein, wenn wir deine ­irdischen Überbleibsel gemeinsam in der Erde verbuddeln werden. Ach ja, weißt du, solche Dinge müssen nun einmal geschehen, es ist eine hygienische Gepflogenheit des Menschen. Aber wir werden alle zu­ sammen sein und dein Geist wird mitten unter uns sein, und Tide wird für dich singen. Wenn du nur wüsstest, wie glücklich ich bin, dass ich dabei sein kann. Ich kam gerade noch rechtzeitig zurück, ich habe noch deinen ausgedörrten, sterbenden Mund geküsst, du hast noch einmal meine Hand genommen und an deine Lippen geführt. Du sagtest einmal, als ich dein Zimmer betrat: «Das reisende Mädchen.» Du sagtest auch ein­ mal: «Ich habe so merkwürdige Träume, ich habe geträumt, daß Christus mich

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Ich stand mit Tide vor deinem Bett, wir dachten einen ­Moment lang, dass du sterben würdest und dass deine Augen brachen. Tide hatte ihre Arme um mich gelegt und ich küsste ihren lieben, reinen Mund, und sie sagte ganz leise: «Wir haben uns gefunden.» Wir standen vor deinem Bett, wie glücklich wärst du gewesen, wenn du uns, ausgerech­ net uns beide, dort gesehen hättest. Vielleicht hast du uns auch gesehen, auch wenn es in einem Moment war, in dem wir dachten, du würdest sterben? Und dafür, dass deine letzten Worte waren: «Hertha, ich hoffe»,6 bin ich auch sehr dankbar. Wie musstest du kämpfen, um treu zu bleiben, aber deine Treue hat über alles andere gesiegt. Und ich habe es dir manchmal sehr schwer gemacht, ich weiß, aber von dir habe ich auch gelernt, was Treue ist und was Kämpfen und was Schwäche ist. Alles Schlechte und alles Gute, das in einem Menschen sein kann, war in dir. All die Dämonen, all die Leidenschaften, all die Güte, all die Men­ schenliebe, du, großer Verstehender, Gottsucher und Gottfinder. Überall hast du Gott gesucht, in jedem Menschenherz, das sich dir öffnete – und wie viele sind das gewesen –, und überall fandest du ein Stückchen Gott. Du hast nie aufgegeben, bei Kleinigkeiten konntest du so ungeduldig sein, aber in großen Dingen warst du so geduldig, so unendlich geduldig. Und dass es wieder ausgerechnet Tide war, die heute Abend zu mir kam und es berichtete, Tide mit ihrem liebenswürdigen und strahlenden Gesicht. Wir saßen eine Weile zusammen in der Küche. Und im Wohn­ zimmer saß mein Waffenbruder.7 Und später stand Vater Han im hinteren Teil des Zimmers. Und Tide griff in die Tasten deines Flügels und sang ein kurzes Lied: Auf, auf mein Herz in Freuden.8 Es ist jetzt 2 Uhr nachts. Es ist so still im Haus. Ich muss dir etwas Seltsames sagen, aber ich denke, du wirst es schon verstehen. Dort an der Wand hängt ein Porträt von dir. Ich würde es am liebsten zerreißen und wegwerfen und hätte das Gefühl, dir dadurch näher zu sein. Wir haben einander nie beim Namen genannt. Wir sagten sehr lange «Sie» zuein­ ander und später, sehr viel später sagtest du: «Du!» Und dieses «Du» von dir war für mich eines der zärtlichsten Worte, die ein Mann je zu mir gesagt hat. Und ich war wirklich einiges gewohnt, das weißt du ja. Du hast deine Briefe immer mit einem Fragezeichen unterschrieben, ich meine auch. Du hast deine Briefe begonnen mit: «Hören Sie mal  …!», dein charakteristi­ sches: «Hören Sie mal», und über deinem letzten Brief stand: «Liebstes.» Aber du bist für mich namenlos, so namenlos wie der Himmel. Und ich getauft hat.»

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möchte all deine Porträts weglegen und sie nie wieder anschauen, das ist alles noch viel zu viel Materie. Namenlos will ich dich in mir weitertragen, und ich möchte das, was du mir vermittelt hast, in einer einzigen neuen und zärtlichen Geste weiterreichen, die ich früher noch nicht kannte. Mittwochmorgen [16. September 1942], 9 Uhr (im Sprechzimmer des Arztes). Oft, wenn ich in Westerbork zwischen den lärmenden, zankenden und den aktiven, allzu aktiven Mitgliedern des J. R.9 herumlief, dachte ich: Ach, lasst mich doch ein Stückchen eurer Seele sein. Lasst mich die Aufnahme­ baracke des Besseren in euch sein, das sicherlich in jedem von euch steckt. Ich muss nicht viel tun, ich will einfach nur da sein. Lasst mich doch in diesem Körper die Seele sein. Und in jedem der Menschen entdeckte ich manchmal eine Geste oder einen Blick, die weit über ihr eigenes Niveau hinausgingen und deren sie sich wahrscheinlich selbst kaum bewusst ­waren. Und ich fühlte mich als deren Hüterin. 16. September, 3 Uhr nachmittags, Mittwoch. Jetzt gehe ich noch einmal in diese Straße. 3 Straßen, eine Gracht und eine kleine Brücke trennten mich immer von ihm. Er ist gestern um Viertel nach 7 gestorben, genau an dem Tag, an dem meine Reisegenehmigung10 abgelaufen ist. Jetzt gehe ich noch einmal zu ihm. Gerade eben war ich im Badezimmer. Ich dachte: Jetzt gehe ich das erste Mal zu einem Toten. Ich konnte damit eigentlich nichts anfangen. Ich dachte: Ich muss etwas ­Feierliches, etwas Außergewöhnliches tun. Und ich kniete auf der alten Kokosmatte im kleinen Badezimmer nieder. Und dann dachte ich: Das ist so konventionell. Wie sehr lässt sich der Mensch doch von Konventionen leiten, wie sehr ist er von vielen Vorstellungen von Handlungen bestimmt, die er in einer bestimmten Situation glaubt verrichten zu müssen. Manchmal, in einem unerwarteten Moment, kniet plötzlich jemand in einem Winkel meines Wesens nieder. Manchmal, wenn ich auf der Straße gehe oder mitten in einem Gespräch mit jemandem. Und wer da nieder­ kniet, das bin ich selbst. Und jetzt liegt da nur noch eine sterbliche Hülle auf dem vertrauten Bett. Oh, diese Cretonnedecke! Ich habe eigentlich gar kein Bedürfnis, da noch einmal hinzugehen. Alles spielt sich irgendwo in meinem Inneren ab, alles, es gibt weite Hochebenen ohne Zeit und Grenzen in mir, und dort spielt sich alles ab. Und jetzt gehe ich wieder durch die paar Straßen.

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Wie oft bin ich sie gegangen, auch mit ihm zusammen, immer in einem spannenden und fruchtbaren Dialog. Und wie oft werde ich noch durch diese paar Straßen laufen, ganz gleich, auf welchem Fleck der Welt ich mich befinde, auf den Hochebenen in mir, wo sich mein eigentliches ­Leben abspielt. Wird jetzt von mir erwartet, dass ich ein feierliches oder trauriges Gesicht mache? Ich bin ja nicht traurig? Ich möchte meine Hände falten und sagen: Kinder, ich bin so glücklich und so dankbar, und ich finde das Leben so schön und sinnreich. Jawohl, schön und sinnreich, obwohl ich hier am Bett meines toten Freundes stehe, der viel zu jung ge­ storben ist, und obwohl ich jeden Moment in eine unbekannte Gegend deportiert werden kann. Mein Gott, ich bin dir so dankbar für alles. Mit demjenigen Teil der Toten, der ewig lebt, werde ich weiterleben, und dasjenige, was in den Lebenden tot ist, werde ich wieder zum Leben erwecken, und so wird es nichts als Leben geben, ein einziges großes ­Leben, mein Gott. Tide wird noch einmal für ihn singen, und mit Freude sehe ich dem Moment entgegen, in dem ich ihre strahlende und ausdrucksvolle Stimme höre. Joop, mein Waffenbruder, ich fahre jetzt mit dir mit. Ach nein, ich fahre eigentlich gar nicht mit dir mit, aber ich spreche ab und zu mit dir und beschäftige mich viel mit dir in Gedanken, und ich bin so dankbar dafür, dass ich dir von all dem, was ich weitergeben muss, etwas abgeben darf – denn ich kann nicht anders. Es ist so sinnreich, dass du in mein Leben getreten bist, es hätte gar nicht anders kommen können. Lebe wohl. 17. September [1942], Donnerstagmorgen, 8 Uhr. Das Lebensgefühl ist so groß und stark und ruhig in mir und es macht mich so dankbar, dass ich gar nicht mehr probieren werde, es in einem einzigen Wort auszudrücken. In mir ist ein so vollkommenes und voll­ ständiges Glück, mein Gott. Es lässt sich doch wieder am besten in seinen Worten ausdrücken: «ruhen in sich». Und damit ist mein Lebensgefühl wohl am vollkommensten ausgedrückt: Ich ruhe in mir selbst. Und dieses Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, nenne ich «Gott». In Tides Tagebuch bin ich oft auf diesen Satz gestoßen: «Nimm ihn sanft in deine Arme, Vater.» Und so fühle ich mich, immer und unauf­ hörlich: als ob ich in deinen Armen läge, mein Gott, so behütet und so

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geborgen und so von einem Gefühl der Ewigkeit durchdrungen. Es ist, als ob jeder meiner geringsten Atemzüge von einem Gefühl der Ewigkeit durchdrungen wäre, als ob die unbedeutendste Handlung und das belang­ loseste Wort sich vor diesem großen Hintergrund abspielten und einen tieferen Sinn hätten. In einem seiner ersten Briefe an mich schrieb er: «Und wenn ich von all dieser überströmenden Kraft abgeben kann bin ich sehr froh.» Es ist sicherlich gut, dass du meinen Körper hast «halt» rufen lassen, mein Gott. Ich muss ganz gesund werden, um all das tun zu können, was ich tun muss. Oder ist dies vielleicht eine weitere konventionelle Vorstellung? Selbst wenn der Körper krank ist, kann doch der Geist weiterwirken und fruchtbar sein? Und lieben und «hineinhorchen» in sich und in andere und in die Zusam­ menhänge des Lebens und in dich. «Hineinhorchen», ich wünschte, ich könnte dafür einen guten niederländischen Ausdruck finden. Eigentlich ist mein Leben ein einziges unablässiges «hineinhorchen», in mich selbst, in an­ dere, in Gott. Und wenn ich sage: Ich «horch hinein», dann ist es eigentlich Gott in mir, der «hineinhorcht». Das Wesentlichste und Tiefste in mir, das auf das Wesentlichste und Tiefste im anderen horcht. Von Gott zu Gott. Wie groß ist doch die innere Not deiner Geschöpfe auf dieser Erde, mein Gott. Ich danke dir, dass du so viele Menschen mit ihren inneren Nöten zu mir kommen lässt. Sie sitzen ruhig und arglos da und reden mit mir, und plötzlich bricht ihre Not in ihrer ganzen Nacktheit aus ihnen heraus. Und auf einmal sitzt da ein verzweifeltes Häufchen Mensch, das nicht weiß, wie es weiterleben soll. Und dann beginnen für mich die Schwierigkeiten erst. Es reicht nicht aus, dich nur zu verkündigen, mein Gott, dich zu anderen hinauszutra­ gen, um dich in den Herzen von anderen zutage zu fördern. Man muss den Weg zu dir bahnen in anderen, mein Gott, und dazu muss man ein großer Kenner der menschlichen Seele sein. Ein geschulter Psychologe muss man sein. Verhältnis zu Vater und Mutter, Jugenderinnerungen, Träume, Schuldgefühle, Minderwertigkeitsgefühle, nun ja, und der ganze Kram. Bei jedem, der zu mir kommt, beginne ich eine behutsame Erkun­ dung des Inneren. Das Werkzeug, das mir zur Verfügung steht, um den Weg zu dir in anderen freizulegen, ist noch sehr unzureichend. Aber es sind immerhin schon ein paar Werkzeuge vorhanden und ich werde sie langsam und mit Geduld verbessern. Und ich danke dir, dass du mir die Gabe geschenkt hast, in anderen zu lesen und einen Weg in ihnen zu fin­

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den. Die Menschen sind für mich manchmal wie Häuser mit offen ste­ henden Türen. Ich gehe hinein und streife durch die Gänge und Räume, und jedes Haus ist ein wenig anders eingerichtet, und doch sind sie alle gleich, und aus jedem Haus sollte man eine heilige Bleibe für dich ­machen, mein Gott. Und ich verspreche dir, ich verspreche dir, ich werde in so vielen Häusern wie möglich eine Unterkunft und eine Bleibe für dich suchen, mein Gott. Das ist eigentlich eine lustige Vorstellung. Ich werde mich auf den Weg machen, um eine Bleibe für dich zu suchen. Es gibt so viele leer stehende Häuser, in denen ich dich als wichtigsten Kost­ gänger unterbringe. Verzeih mir diese nicht allzu subtile Vorstellung. Da komme ich schon wieder mit Rilke daher: «Denn wahrlich, auch die Größe der Götter hängt an ihrer Not: daran, daß sie, was man ihnen auch für Gehäuse behüte, nirgends in Sicherheit sind als in unserem Herzen.»

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abends gegen halb 11. Gott, gib mir Ruhe und lass mich alles «bewältigen». Es ist so viel. Ich muss endlich wirklich anfangen zu schreiben. Aber ich muss damit begin­ nen, diszipliniert zu leben. Jetzt geht gerade das Licht in der Männer­ baracke12 aus. Aber sie haben doch nicht einmal Licht, oder? Wo warst du denn heute Abend, kleiner Waffenbruder? Manchmal überfällt mich plötzlich ein Anflug wilder Traurigkeit, dass ich nicht aus der Tür meiner Baracke gehen und dann plötzlich vor der großen Heide13 stehen kann. Dann laufe ich ein wenig auf dem Gelände umher und es dauert nicht lange, bis von der einen oder anderen Seite mein Waffenbruder mit seinem braun gebrannten Gesicht und mit dieser senkrechten, fragenden Falte zwischen den ???? Augen herbeigelaufen kommt. Ich kann noch nicht das richtige Adjektiv finden. Wenn es zu dämmern beginnt, höre ich aus der Ferne die ersten Töne von Beethovens Fünfter. Ich wünschte, ich könnte alles mit Worten bewältigen, diese zwei ­Monate hinter dem Stacheldraht, die zu den intensivsten und reichsten Monaten meines Lebens gehören und die wirklich eine Bestätigung der letzten und höchsten Werte meines Lebens waren. Ich habe dieses Wester­ bork so lieb gewonnen und ich habe Heimweh danach. Und wenn ich dort auf meiner schmalen Pritsche einschlief, hatte ich Heimweh nach dem Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze und schreibe. Ich bin dir dankbar da­ für, mein Gott, dass du mein Leben auf jedem Fleck dieser Erde so schön machst, dass ich Heimweh danach habe, wenn ich davon entfernt bin. Aber das macht das Leben manchmal auch hart und schwierig. Siehst du,

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jetzt ist es nach halb elf, in der Baracke geht das Licht aus, ich glaube, ich sollte jetzt ins Bett gehen. «Patientin muss ein ruhiges Leben führen», heißt es in dem beeindruckenden Attest. Und ich muss Reis und Honig essen und noch andere solche sagenhaften Dinge. Plötzlich muss ich an diese Frau mit ihren schneeweißen Haaren um das edle, ovale Gesicht denken, die ein Päckchen Toast in ihrem Brotbeutel hatte. Das war das Einzige, was sie für die Reise nach Polen bei sich hatte, denn sie war auf einer stren­ gen Diät. Sie war furchtbar lieb und ruhig und hatte eine mädchenhafte, hochgewachsene Gestalt. Ich verbrachte mit ihr einen Nachmittag auf dem Gras in der Sonne vor den Durchgangsbaracken.14 Ich habe ihr noch ein kleines Buch gegeben, das ich aus Spiers Bibliothek mitgenommen hatte: «Die Liebe» von Johannes Müller,15 über das sie sehr glücklich war. Sie sagte zu ein paar jungen Mädchen, die sich später zu uns setzten: «Denkt daran, morgen früh, wenn wir abreisen, darf jede von uns nur dreimal weinen.» Und eines der Mädchen antwortete: «Ich habe meinen Bezugsschein fürs Weinen noch nicht erhalten.» Es ist gegen elf. Wie schnell dieser Tag vergangen ist, ich werde jetzt doch ins Bett gehen. Morgen wird Tide ihr hellgraues Kostüm anziehen und in der Friedhofshalle singen: «Auf, auf mein Herz mit Freude.» Ich werde zum ersten Mal in meinem Leben in einem Wagen mit schwarzen Gardinen sitzen. Ich habe noch so viel zu schreiben, tage- und nächtelang. Gib mir Geduld, mein Gott, eine ganz neue Art von Geduld. Der Schreib­ tisch ist mir wieder vertraut geworden und der Baum vor meinem Fenster ist schon nicht mehr schwindelerregend. Du wirst dir schon etwas dabei gedacht haben, dass du mich jetzt wieder an diesem Schreibtisch sitzen lässt; ich werde mein Bestes geben. Und nun wirklich gute Nacht. Ich habe solche Angst, dass du es dort sehr schwer hast, Jopie, und ich würde dir so gerne helfen. Und ich werde dir auch helfen. Tschüss! Freitagmorgen, 18. September [1942]. Deine Lektionen sind hart, Gott, lass mich deine gute und geduldige Schülerin sein. Ich fühle mich als einer von vielen Erben eines großen geistigen Vermächt­ nisses. Ich werde dessen treue Hüterin sein. Ich werde davon so viel wie nur möglich austeilen. Ich ertappe mich dabei, dass ich so vage, zerbrech­ liche und fragile Gesten mache, ich fühle mich so leicht und schwebend in meinem Körper, aber mein Geist ist so sicher und stark.

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Ich werde meinen Schreibtisch aufräumen. Ich muss auch weiterhin in den äußeren Dingen Ordnung halten, gerade in den äußeren Dingen, sonst wachsen sie mir über den Kopf. Wenn ich etwas irgendwo hinlege, weiß ich eine Minute später nicht mehr, wo es abgeblieben ist, und dann kostet alles so viel Zeit, es wiederzufinden, und mit dieser Zeit könnte man etwas Besseres anfangen. Ich werde mein Bestes tun und meinen Schreibtisch aufräumen. 20. September [1942], Sonntagmorgen, 10 Uhr. Wie kann ich dir nur danken, mein Gott, für all das Gute, das du mir ununterbrochen zuteilwerden lässt. Für alle Freundschaft, für die vielen fruchtbaren Gedanken, für dieses große Gefühl der Liebe, das ich in mir trage und das ich bei jedem Schritt anwenden kann, für alles. Manchmal glaube ich fast, dass es zu viel ist, dann weiß ich nicht, wie ich das alles jemals wiedergutmachen kann. Aber es ist so, als ob diese große Liebe ­alles, was man tut, fruchtbar werden lässt, vielleicht werde ich das irgend­ wann einmal ausdrücken können. Sonntagabend. In Wort, Klang und Bild umsetzen. Viele Menschen sind für mich noch Hieroglyphen, aber ich lerne allmäh­ lich, sie zu entziffern. Es ist das Schönste, was ich kenne: das Leben aus Menschen herauslesen. In Westerbork war es manchmal so, als stünde ich vor dem nackten Gerüst des Lebens. Das innerste Skelett des Lebens, ohne jegliche Verklei­ dung. Ich danke dir, mein Gott, dass du mir das Lesen immer besser bei­ bringst. Ich weiß, dass ich mich irgendwann entscheiden muss. Es wird sehr schwie­ rig sein. Wenn ich schreiben will, wenn ich versuchen will, alles aufzu­ schreiben, was immer dringender in mir zum Ausdruck gebracht werden muss, werde ich mich viel mehr von den Menschen zurückziehen müssen, als ich das jetzt tue. Dann werde ich wirklich meine Tür abschließen müs­ sen und den blutigen und zugleich selig machenden Kampf mit einer ­Materie aufnehmen, die mir kaum zu bewältigen zu sein scheint. Dann muss ich mich aus einer kleineren Gemeinschaft zurückziehen, um mich einer größeren zuwenden zu können. Es geht vielleicht nicht einmal da­

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rum, sich einer Gemeinschaft zuzuwenden. Es ist der reine dichterische Drang, etwas von dem inneren Bilderreichtum materialisieren zu wollen, es ist, ja, es ist so grundlegend, dass man eigentlich nicht einmal erklären muss, was es ist. Ich frage mich manchmal, ob ich das Leben nicht bis zur Neige aus­ koste; ich lebe und genieße und verarbeite es so bis aufs Äußerste, dass überhaupt kein Rest mehr übrig bleibt. Und vielleicht braucht man, um schöpferisch sein zu können, doch einen übrig bleibenden Rest, der nicht zu Ende gelebt wird, wodurch eine Spannung erzeugt wird, die der Antrieb für schöpferische Arbeit ist? Ich spreche viel mit Menschen, sehr viel in letzter Zeit. Im Moment spreche ich noch viel bildhafter und pointierter, als ich es je schreiben könnte. Manchmal denke ich, ich sollte nicht zu viel Zeit mit gesproche­ nen Worten vergeuden, sondern mich zurückziehen und meinen eigenen stillen Weg auf dem Papier suchen. Ein Teil von mir will das auch. Ein anderer Teil kann sich noch nicht dazu entschließen und verliert sich in Worten unter den Menschen. «Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.»

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Ich werde später einmal ein Heft haben, in dem ich versuchen werde zu schreiben. Das ist etwas, mit dem ich allein fertigwerden muss, meine per­ sönliche Front, es wird manchmal zum Verzweifeln sein. Es wird in die­ sem Heft aussehen wie auf einem blutigen Schlachtfeld von Worten, die miteinander ringen und sich gegenseitig bekämpfen. Und vielleicht erhebt sich dann über diesem Schlachtfeld eines Tages, rein wie der Mond, eine kleine Geschichte, die hier und da wie ein besänftigendes Lächeln über einem unsteten Leben schweben wird. «Ich würde dir gerne in dieses Lager folgen», sagte Klaas erbittert und ver­ zweifelt. Wir standen vor dem Fenster meines kleinen Zimmers und blick­ ten auf das üppige Grün hinaus. Es war das Postskriptum einer langen Nachmittagsunterhaltung und in diesem PS stand auf einmal das Wesent­

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liche, wie dies bei einem PS meist der Fall ist. «Tief in meinem Herzen bin ich verzweifelt», sagte Klaas, «es stimmt etwas nicht in meinem Leben, ich schleppe es mit mir herum und komme nicht damit zurecht. Dass ich nicht der Kerl großen Formats war, der ich hätte sein müssen und für den ich mich immer gehalten habe. Ich hätte als Arbeiter in einer Fabrik in D[eutschland] arbeiten sollen. Und jetzt kann ich zwar sagen: Ich arbeite nicht für die Wehrmacht und das ist auch viel besser so, aber das ist ­eigentlich nur eine Ausrede.» Ich sagte: «Es ist genau dasselbe wie bei den Juden, die untertauchen: Sie sagen manchmal, dass sie das tun, weil sie nicht für die D[eutschen] arbeiten wollen. Aber so heldenhaft und revo­ lutionär sind sie nicht. Tatsächlich entziehen sie sich mit einer schön klingenden Ausrede einem Schicksal, das sie mit anderen zusammen hät­ ten tragen müssen. Und es wird viele geben, die, wenn sie weitergeschickt werden, mit dem Einwand aufwarten würden: ‹Wir sind hier für die Wehrmacht unentbehrlich, dürfen wir bleiben?›» Er kämpfte mit vielen Worten, sprach halb mit sich selbst, halb mit mir vor diesem Fenster. Es war ein atemberaubendes Schauspiel. In Klaas’ Fach ausgedrückt: Hörspiel.17 Du schenkst mir immer so großartige Schauspiele, mein Gott, ich bin dir so dankbar dafür. Die nackten Seelennöte, ihre letz­ ten Fragen stehen so oft nackt vor mir, und von dem, was sich in deinen Geschöpfen abspielt, mein Gott, versuche ich mit all meinen Sinnen etwas aufzufangen. Ich halte das für eine großartige Zeit, ich halte das trotz allem für eine großartige Zeit, ich werde dir später einmal sagen, weshalb. Morgendliche Begegnung mit K.18 zwischen den Baracken nach jenem Nachttransport.19 «Wir kennen bloß die Zusammenhänge nicht.» Frage an K.: «Kann ich was für Sie mitbringen aus A.?» K.: «Ja, die Liebe kön­ nen Sie mir mitbringen.» Ich: «Die Liebe kann man einem nicht mitbringen, die muß man selber haben.» K.: «Wissen Sie das auch schon, woher haben Sie das alles doch erfahren?»

Fr.:20 «Man soll denen allen die Beine brechen. Jawohl, ich weiß, Sie werden sagen, es gibt auch anständige D. Gut, die werden nur erschossen werden.» «Wird dem da die Beine gebrochen oder wird er erschossen?» Fr. großmütig: «Der wird nur erschossen. H. können, meine Vaterstadt, können sie plattbom­ bardieren. Vor einigen Wochen hat man von da meine 83-jährige Mutter ver­ schleppt. Jetzt darf es platt. Ja, so weit ist es schon mit uns gekommen.»

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K. und der Mangel an Kritik. Ich konnte mir plötzlich vorstellen, weshalb Könige sich Hofnarren hielten. Schwester Mendes da Costa aus dem Karmeliterkloster21 mit 4 portugie­ sischen Großeltern. Und der Pater mit den ungetrübten Augen und den groben Händen,22 der die kom[munistische] Revolution vorhergesagt hatte. Seit 15 Jahren hatte er sein Kloster nicht mehr verlassen. Und die beiden Nonnen aus dieser streng orthodoxen, reichen, hochbegabten ­Familie aus Breslau23 mit Sternen auf ihren Ordenstrachten. Sie kehrten zu ihren Jugenderinnerungen zurück. «Hast du das gesehen, Max,24 die taubstumme Frau im 8. Monat mit ­ihrem epileptischen Ehemann?» Max: «Wie viele Frauen im 9. Monat wer­ den in diesem Moment in Russl[and] aus ihren Häusern vertrieben und greifen noch nach einem Gewehr?» Mein Herz ist eine Schleuse für eine nicht enden wollende Flut des Leids. Jopie, unter dem großen Sternenhimmel auf der Heide sitzend, während eines Gesprächs über Heimweh: «Ich habe kein Heimweh, ich bin doch zu Hause.» Daraus habe ich damals so viel gelernt. Man ist «zu Hause». Un­ ter dem Himmel ist man zu Hause. Auf jedem Fleck der Erde ist man «zu Hause», wenn man alles in sich trägt. Ich habe mich oft wie ein Schiff gefühlt, das eine kostbare Fracht an Bord verstaut hat, und fühle mich immer noch so; die Taue werden ge­ kappt und nun fährt das Schiff, so frei und durch alle Länder und es führt alle kostbare Fracht mit sich. Man muss sich selbst eine Heimat sein. Ich habe damals mehrere Abende lang gebraucht, bis ich es ihm erzäh­ len konnte, das Intimste des Intimsten. Und ich wollte es ihm doch so gerne sagen, wie wenn ich ihm ein Geschenk machen würde. Ja, weißt du, dann bin ich nachts aus meiner Baracke herausgegangen. Es war so schön, weißt du. Und dann habe ich, dann habe ich, oh, es war so schön. Und erst einen Abend später konnte ich es ihm sagen: Dann habe ich mich vor der großen Heide niedergekniet. Er war völlig atemlos und still, er sah mich an und sagte: «Wie schön du bist!» Dieser Arzt hatte natürlich nicht recht. Früher hätte mich so etwas wo­

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möglich verunsichert, aber jetzt habe ich gelernt, die Menschen zu durch­ schauen und Worte mit meiner eigenen Einsicht zu durchleuchten. «Sie leben zu sehr geistig, Sie leben sich nicht genug aus, Sie verzichten auf die elementaren Dinge des Lebens.» Fast hätte ich gefragt: «Soll ich mich etwa hier zu Ihnen auf den Diwan legen?» Das hätte nicht besonders taktvoll geklungen, aber eigentlich ging sein Monolog in diese Richtung. Und da­ nach: «Sie leben nicht genügend in der Realität.» Und später dachte ich: Das stimmt doch eigentlich alles nicht, was so ein Mann behauptet. Ja­ wohl, die Realität. Die Realität ist, dass an vielen Orten dieser Welt Män­ ner und Frauen nicht zusammenkommen können. Die Männer sind an den Fronten. Das Lagerleben. Die Gefängnisse. Das Getrenntsein von­ einander. Das ist die Realität. Und damit muss man fertigwerden. Und man muss sich doch nicht nur vergeblich sehnen und Onans Sünde bege­ hen? Könnte man nicht jetzt diese Liebe, die man nicht einem Einzigen des anderen Geschlechts geben kann, in eine Kraft umwandeln, die der Gemeinschaft zugutekommt und die man vielleicht auch wiederum Liebe nennen könnte? Und wenn man das anstrebt, steht man nicht gerade dann auf dem Boden der Realität? Eine Realität, die nicht so greifbar ist wie ein Bett mit einem Mann und einer Frau darin. Aber es gibt doch auch andere Realitäten? Es wirkt ein wenig albern und ausgehungert, wenn ein älterer Mann in dieser Zeit, mein Gott, in dieser Zeit von «sich ausleben» spricht. Ich hätte es mir gerne plastisch erzählen lassen, was er damit genau meint. «Daß es eine ästhetische Meinung gab, die die Schönheit zu fassen glaubte, hat Sie irregemacht und hat Künstler hervorgerufen, die ihre Aufgabe darin ­sahen, Schönheit zu schaffen. Und es ist immer noch nicht überflüssig gewor­ den, zu wiederholen, daß man Schönheit nicht ‹machen› kann. Niemand hat je Schönheit gemacht.» «… daß alles, was man machen kann, ist: eine auf bestimmte Weise geschlos­ sene, an keiner Stelle zufällige Oberfläche herzustellen, eine Oberfläche, die, wie diejenige der natürlichen Dinge, von der Atmosphäre umgeben, beschattet und beschienen ist, nur diese Oberfläche, – sonst nichts. Aus allen den großen anspruchsvollen und launenhaften Worten scheint die Kunst auf einmal ins Ge­ ringe und Nüchterne gestellt, ins Alltägliche, ins Handwerk. Denn was heißt das: eine Oberfläche machen? Aber lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, ob nicht alles Oberfläche

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Tagebücher ist, was wir vor uns haben und wahrnehmen und auslegen und deuten? Und was wir Geist und Seele und Liebe nennen: ist das nicht alles nur eine leise Veränderung auf der kleinen Oberfläche eines nahen Gesichts? Und wer uns das geformt geben will, muß er sich nicht an das Greifbare halten, das seinen Mitteln entspricht, an die Form, die er fassen und nachfühlen kann? Und wer alle Formen zu sehen und zu geben vermöchte, würde der uns nicht (fast ohne es zu wissen) alles Geistige geben? … … … Denn alles Glück, vor dem je Herzen gezittert haben; alle Größe, an die zu denken uns fast zerstört; jeder von den weiten umwandelnden Gedanken: es gab einen Augenblick, da sie nichts waren als das Schürzen von Lippen, das Hochziehn von Augenbrauen, schattige Stellen auf Stirnen: und dieser Zug um den Mund, diese Linie über den Lidern, diese Dunkelheit auf einem Gesicht – vielleicht waren sie genau so schon vorher da: als Zeichnung auf einem Tier, als Furche in einem Felsen, als Vertiefung auf einer Frucht …»

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«Nach diesem Krieg wird neben einer Flut des Humanismus auch eine Flut des Hasses über die Welt hereinbrechen.» Und da wusste ich wieder: Ich werde gegen diesen Hass zu Felde ziehen. [Dienstag] 22. September [1942]. Man muss mit sich selbst leben, als lebte man mit einem ganzen Volk von Menschen. Und in sich selbst lernt man dann alle guten und schlechten Eigenschaften der Menschheit kennen. Und man muss zuerst lernen, sich selbst seine schlechten Eigenschaften zu vergeben, wenn man anderen ver­ geben will. Das ist womöglich das Schwierigste, was ein Mensch lernen muss; ich stelle das so oft bei anderen fest (früher auch bei mir selbst, jetzt nicht mehr): sich selbst seine Fehler und Irrtümer verzeihen. Dazu gehört zu­ allererst: akzeptieren können, großmütig akzeptieren, dass man Fehler macht und Irrtümer begeht. Ich möchte gern so wie die Lilien auf dem Feld26 leben. Wenn man diese Zeit richtig verstünde, könnte man es von ihr lernen: wie eine Lilie auf dem Feld zu leben. Ich habe früher einmal in eines meiner Tagebücher geschrieben: Ich möchte mit meinen Fingerspitzen die Konturen dieser Zeit abtasten.27 Ich

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saß damals an meinem Schreibtisch und wusste nicht genau, wie man das Leben direkt angehen sollte. Das lag daran, dass ich noch keinen Zugang zu meinem eigenen Leben gefunden hatte. Ich habe es geschafft, das ­Leben in mir zu erreichen, obwohl ich noch an diesem Schreibtisch saß. Und dann wurde ich plötzlich in einen Brennpunkt menschlichen Leidens ge­ schleudert, an eine der vielen kleinen Fronten, die es in ganz Europa gibt. Und dort erlebte ich plötzlich dies: Aus den Gesichtern der Menschen, aus Tausenden Gesten, kleinen Äußerungen und Lebensgeschichten, begann ich diese Zeit – und noch viel mehr als nur diese Zeit – herauszulesen. Weil ich gelernt hatte, in mir selbst zu lesen, bemerkte ich, dass ich auch in anderen lesen konnte. Es kam mir da wirklich vor, als ertastete ich mit empfindlichen Fingerspitzen die Konturen dieser Zeit und des Lebens. Wie kommt es nur, dass mir dieses mit Stacheldraht umzäunte Stück Hei­ deland, wo so viele Schicksale und so viel menschliches Leid an- und weg­ gespült wurden, fast lieblich in Erinnerung geblieben ist? Wie kommt es, dass mein Geist dort nicht getrübt, sondern vielmehr erleuchtet und er­ hellt wurde? Ich habe dort etwas von dieser Zeit, die mir nicht sinnlos er­ scheint, gelesen und verstanden. An diesem Schreibtisch zwischen meinen Schriftstellern, Dichtern und Blumen habe ich das Leben so sehr geliebt. Und dort inmitten der Baracken voller aufgescheuchter und verfolgter Menschen habe ich die Bestätigung für meine Liebe zum Leben gefunden. Das Leben in jenen zugigen Baracken stand keineswegs im Gegensatz zum Leben in diesem geschützten, ruhigen Zimmer. Ich war keinen Augen­ blick lang von dem Leben abgeschnitten, das angeblich vorbei ist, es ­bestand eine große, sinnreiche Kontinuität. Wie soll ich das alles irgend­ wann beschreiben? So, dass auch andere nachempfinden können, wie schön und lebenswert und gerecht, ja gerecht, das Leben doch im Grunde ist. Vielleicht gibt mir Gott irgendwann diese wenigen einfachen Worte? Auch farbenfrohe und leidenschaftliche sowie ernste Worte. Aber vor ­allem: einfache. Wie zeichne ich mit ein paar dünnen / zarten und doch kräftigen Pinselstrichen dieses kleine Barackendorf zwischen Heide und Himmel? Und wie kann ich andere in diesen vielen Menschen, die wie Hieroglyphen entziffert werden müssen, mitlesen lassen, Zeile für Zeile, bis man schließlich ein einziges großes lesbares und verständliches Ganzes vor sich sieht, eingerahmt zwischen Heide und Himmel? Eines weiß ich schon jetzt sicher: Ich werde es nie so aufschreiben können, wie es das Leben mir selbst in seinen lebendigen Buchstaben aufgeschrie­

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ben hat. Ich habe alles gelesen, mit meinen eigenen Augen und vielen Sinnen. Ich werde es niemals so nacherzählen können. Das könnte mich zur Verzweiflung bringen, wenn ich nicht gelernt hätte zu akzeptieren, dass man mit den unzureichenden Kräften vorliebnehmen muss, die man besitzt, aber dass man mit ihnen so gut wie möglich arbeiten muss. Ich gehe an den Menschen vorbei, als ob sie Setzlinge wären, und schaue, wie hoch die Saat der Menschlichkeit gewachsen ist. Dieses Haus hier, ich spüre es, fängt langsam an, mir von den Schultern zu gleiten. Das ist gut so, die Trennung davon wird jetzt vollständig voll­ zogen. Sehr vorsichtig, mit großer Wehmut, auch mit der Gewissheit, dass es gut ist und nicht anders sein kann, lasse ich es gleiten, Tag für Tag. Und mit einem Hemd am Körper und einem Hemd in meinem Ruck­ sack  – wie ging noch einmal Kormanns Märchen von dem Mann ohne Hemd? Der König, der in seinem ganzen Reich nach dem Hemd seines glücklichsten Untertanen suchte, und als er endlich den glücklichsten Menschen gefunden hatte, stellte sich heraus, dass er gar kein Hemd be­ saß – und mit der winzigen Bibel, vielleicht kann ich auch noch meine russischen Wörterbücher und die Volkserzählungen von Tolstoi28 mitneh­ men, und vielleicht, wer weiß, ist noch genug Platz für einen Band von Rilkes Briefen übrig. Und dann der Pullover aus reiner Schafwolle, von ­einer Freundin eigenhändig gestrickt, wie viel ich immer noch besitze, mein Gott, und so jemand will eine Lilie auf dem Feld sein? Also, mit dem einen Hemd in meinem Rucksack gehe ich in eine «unbekannte Zukunft». So wird das genannt. Aber ist es denn nicht überall dieselbe Erde unter meinen umherirrenden Füßen und derselbe Himmel, mal mit dem Mond und mal mit der Sonne, und nicht zu vergessen all die Sterne über meinem begeisterten Kopf? Warum also von einer unbekannten Zukunft sprechen? [Mittwoch] 23. September [1942]. «Und der Hass bringt uns doch nicht weiter, Klaas, die Dinge sind in Wirklichkeit doch ganz anders, als wir sie in unseren künstlichen Sche­ mata sehen wollen. Zum Beispiel gibt es einen Mitarbeiter29 bei uns. Ich sehe ihn oft in Teilen vor mir. Das Auffälligste an ihm ist sein starrer, auf­ rechter Nacken. Er hasst unsere Verfolger mit einem Hass, für den er – wie ich annehme – triftige Gründe hat. Aber er selbst ist ein Leuteschinder. Er würde einen vorbildlichen Leiter eines Konzentrationslagers abgeben. Ich

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habe ihn oft beobachtet, wenn er am Lagereingang stand, um seine ge­ hetzten Rassegenossen zu empfangen, es war nie sonderlich erfreulich. Ich erinnere mich, wie er einmal einem weinenden dreijährigen Kind ein paar ekelhafte schwarze Lakritzbonbons auf den Holztisch knallte und äußerst väterlich-streng hinzufügte: ‹Pass auf, dass dein Maul nicht schmutzig wird.› Im Nachhinein glaube ich, dass es eher Unbeholfenheit und Ver­ legenheit als böser Wille war, er konnte den richtigen Ton nicht treffen. Übrigens war er einer der brillantesten Juristen Hollands und seine scharf­ sinnigen Artikel waren immer hervorragend formuliert. (Dieser Mann, der sich schließlich im Krankenhaus erhängt hat: ‹Denke daran, dass wir ihn aus der ‹Hopla›-Kartei30 streichen›.) Wenn ich ihn so mit seinem ge­ raden Nacken, seinem Herrscherblick und seiner ewigen Stummelpfeife zwischen den Menschen herumgehen sah, dachte ich immer: Ihm fehlt nur noch eine Peitsche in der Hand, die würde wunderbar zu ihm passen. Und doch konnte ich ihn nicht verabscheuen, dafür interessierte er mich zu sehr. Ich hatte im Grunde sogar hin und wieder ganz schreck­ liches Mitleid mit ihm. Er hatte so einen unzufriedenen Mund, genau ge­ nommen einen todunglücklichen Mund. So einen Mund eines 3-jährigen Kindes, das seinen Willen bei seiner Mutter nicht durchsetzen konnte. Er war inzwischen über 30, ein gut aussehender Mann, ein bekannter Jurist und Vater von zwei Kindern. Aber sein Gesicht hatte den Mund eines unzufriedenen und quengelnden dreijährigen Kindes behalten, natürlich nur etwas gröber und größer geworden im Laufe der Jahre. Wenn man ihn genauer betrachtete, war er eigentlich überhaupt kein gut aussehender Typ. Siehst du, Klaas, im Grunde war es eigentlich so: Er war so voller Hass gegen jene, die wir unsere Peiniger nennen könnten, aber was für ein her­ vorragender Henker und Verfolger von Wehrlosen wäre er doch selbst ge­ wesen. Und doch tat er mir so leid. Kannst du das irgendwie verstehen? Es gab nie einen freundlichen Kontakt zwischen ihm und seinen Mitmen­ schen, und er konnte so verstohlen hungrige Blicke auf andere werfen, wenn sie freundlich miteinander umgingen. (Schließlich konnte ich ihn immer sehen und wahrnehmen, das Leben dort war ohne Wände.) Später erfuhr ich von einem Kollegen, der ihn schon seit Jahren kannte, ein paar Details über ihn. Während des Krieges war er aus dem dritten Stock auf die Straße gesprungen, aber es war ihm nicht gelungen, sich umzubringen, was ja anscheinend seine Absicht gewesen war. Später hatte er einmal ver­ sucht, sich von einem Auto überfahren zu lassen, aber auch das misslang. Er

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verbrachte danach ein paar Monate in einer Irrenanstalt. Es war Angst, nichts als Angst. Er war ein so brillanter und intelligenter Jurist, in Debat­ ten mit Professoren und anderen Gelehrten hatte er immer das letzte und entscheidende Wort. Aber im entscheidenden Moment sprang er vor Angst aus dem Fenster. Ich hörte auch über ihn, dass seine Frau auf Zehen­spitzen durch das Haus gehen musste, wenn er da war, weil er keinerlei Geräusche ertragen konnte, und auch, dass er seine Kinder immer anschnauzte und wie sehr sie sich vor ihrem Vater ängstigten. Ich hatte tiefes, tiefes Mitleid mit ihm, denn was ist ein solches Leben denn für ein Leben? Klaas, ich wollte dir eigentlich nur sagen: Wir haben noch so viel mit uns selbst zu tun, dass wir es nicht einmal dazu kommen lassen sollten, unsere sogenannten Feinde zu hassen. Wir sind einander noch feind genug. Und ich habe es noch nicht zu Ende gedacht, wenn ich sage, dass es unter unseren eigenen Leuten auch Peiniger und schlechte Elemente gibt.31 Ich glaube nämlich nicht an die Existenz dessen, was man als ‹schlechte Men­ schen› bezeichnet. Ich möchte diesen Mann in seinen Ängsten erreichen, ich möchte bei ihm die Quelle dieser Angst aufspüren, ich möchte eine Treibjagd auf ihn machen und ihn in sein eigenes Inneres treiben, das ist das Einzige, was wir in dieser Zeit tun können, Klaas.» Und Klaas winkte müde und mutlos ab und sagte: «Aber was du willst, dauert so lange, so viel Zeit haben wir doch nicht?» Und ich antwortete: «Aber mit dem, was du willst, beschäftigt man sich jetzt schon seit zwei­ tausend Jahren unserer christlichen Zeitrechnung, abgesehen von den vie­ len Jahrtausenden zuvor, in der es die Menschheit ja auch schon gab. Und was hältst du von dem Ergebnis, wenn ich fragen darf?» Und ich wiederholte mit derselben Leidenschaftlichkeit wie immer, obwohl ich mir allmählich selbst langweilig vorkam, weil es bei mir im­ mer wieder auf das Gleiche hinauslief: «Es ist wirklich die einzige Mög­ lichkeit, Klaas, ich sehe keinen anderen Weg, als dass sich jeder von uns auf sich selbst besinnt und in sich all das ausrottet und vernichtet, um dessentwillen er andere vernichten zu müssen glaubt. Wir müssen durch­ drungen sein von der Überzeugung, dass jedes Fünkchen Hass, das wir dieser Welt hinzufügen, sie noch ungastlicher macht, als sie ohnehin schon ist.» Und Klaas, der alte und verbissene Klassenkämpfer,32 sagte entsetzt und erstaunt zugleich: «Ja, aber das – aber das wäre ja wieder das Christen­ tum!»

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Und ich, über so viel plötzliche Verwirrung amüsiert, sagte ganz kalt­ schnäuzig: «Ja, warum eigentlich auch nicht – das Christentum?» Lass mich gesund und stark bleiben! Wie die Baracke dort manchmal nachts unter dem Mond aus Silber und Ewigkeit dalag: wie ein Spielzeug, das Gottes schusseliger Hand entglitten ist. [Donnerstag] 24. September [1942]. «Zumindest einen Trost gibt es», sagte Max mit seinem derben, flegel­ haften Grinsen, «der Schnee bildet dort im Winter so hohe Verwehungen, dass er die Fenster der Baracken bedeckt, nun, dann ist es dort tagsüber auch dunkel.» Er kam sich dabei ziemlich geistreich vor. «Aber dann wer­ den wir es wenigstens schön warm haben, die Temperatur wird nie unter null sinken können.» «Und in den Arbeitsbaracken haben wir zwei kleine Öfen bekommen», fuhr er begeistert fort, «diejenigen, die sie brachten, berichteten, dass sie so gut brennen, dass sie beim ersten Mal schon einen Riss kriegen.» Wir werden im Winter eine Menge zusammen zu ertragen und mitein­ ander zu teilen haben, wenn wir es denn auch wirklich tragen und ein­ ander tragen helfen: die Kälte, die Dunkelheit und den Hunger. Und zu­ gleich muss uns bewusst sein, dass wir diesen Winter mit der gesamten Menschheit zusammen ertragen müssen, auch mit unseren sogenannten Feinden, wenn wir uns dann auch wirklich in ein großes Ganzes eingebet­ tet fühlen und wissen, dass wir eine der vielen Fronten sind, die über die ganze Welt verstreut sein werden. Es wird eine Holzbaracke unter freiem Himmel geben mit Betten von der Maginot-Linie,33 drei übereinander und ohne Licht, weil das Kabel aus Paris immer noch nicht kommen will. Und selbst wenn es Licht gäbe, hätten wir immer noch kein Verdunkelungspapier. – Ich breche alles mit­ tendrin ab und jetzt ist es schon wieder Abend. Mein Körper führt sich heute verdammt unerfreulich auf. Unter meiner Stahllampe steht ein klei­ nes rosarotes Alpenveilchen. Heute Abend viel mit S. zusammen gewesen. Ich spürte plötzlich eine einsetzende Traurigkeit, doch auch das gehört zum Leben dazu. Und dennoch bin ich dir dankbar dafür, mein Gott, ich bin sogar fast stolz darauf, dass du mir deine letzten und größten Rätsel

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nicht vorenthältst. Ich kann noch das ganze Leben lang darüber nach­ denken. Aber heute Abend hatte ich plötzlich so viele Fragen an ihn, auch über ihn selbst, auf einmal war mir so vieles nicht klar. Ich muss nun selbst die Antworten finden. Was für eine verantwortungsvolle Aufgabe. Aber ich muss sagen: Ich fühle mich ihr gewachsen. Komisch, wenn das Telefon klingelt, wird es nie wieder seine Stimme sein, die am anderen Ende halb gebieterisch, halb zärtlich sagt: «Hören Sie mal?» Es wird manchmal doch sehr schwer sein. Wie lange ich Tide nicht mehr gesehen habe! In den letzten Tagen haben mich die Vögel des Himmels und die ­Lilien auf dem Feld34 und Matthäus 6,33 bereichert: «Trachtet vielmehr zuerst nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles dazugegeben werden.»35 Und morgen eine Verabredung mit Ru Cohen36 im Café de Paris, und fünf Leute waren auf dem Adama v. Scheltemaplein37 im Nachthemd und in Pantoffeln, es wird schon allmählich so kalt, und jetzt wurde auch ­jemand mitgenommen, der Krebs im Endstadium38 hatte, und gestern Abend ist ein Jude in der Van Baerlestraat, also gleich hier um die Ecke, erschossen worden, weil er weglaufen wollte. Es werden in diesem Moment viele Menschen auf der ganzen Welt erschossen, während ich diese Zeilen hier bei meinem rosaroten Alpenveilchen im Licht meiner stählernen Schreibtischlampe schreibe. Meine linke Hand ruht während des Schrei­ bens auf der kleinen, aufgeschlagenen Bibel, ich habe Kopfschmerzen und Bauchschmerzen, und auf dem Grunde meines Herzens liegen die sonni­ gen Sommertage auf der Heide und das gelbe Lupinenfeld, das sich bis zur Entlausungsbaracke39 erstreckte. Es ist noch keinen Monat her, dass Joop mir am 27. August um Mitter­ nacht schrieb:40 «Da sitze ich nun, meine Beine baumeln nach draußen und ich lausche der gewaltigen Stille. Das Lupinenfeld, jetzt ohne fröh­ liche Farben, nicht in das grell-strahlende tröstliche Sonnenlicht getaucht. Jetzt ist alles so feierlich und friedlich, was mich ganz still und ernst wer­ den lässt. Ich springe aus dem Fenster, mache ein paar Schritte im locke­ ren Sand und schaue zum Mond auf.» Und dann beendet er den nächt­ lichen Brief mit seiner geschlossenen, konzentrierten Handschrift auf dem gewöhnlichen Papier: «Ich verstehe, dass jemand sagen kann: Hier kann man nur eine Gebärde machen: niederknien. Nein, ich habe es nicht ge­ tan, ich halte das nicht für notwendig, ich kniete im Fenster sitzend und ging dann schlafen.» Es ist so sonderbar, wie dieser Mann plötzlich fast lautlos, belebend

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und beseelend mitten in mein Leben trat, während der große Freund, der Geburtshelfer meiner Seele, mit Schmerzen in seinem Bett lag und kin­ disch wurde.41 Ich frage mich manchmal in einem schwierigen Moment wie heute Abend, was du für Absichten mit mir hast, mein Gott. Und vielleicht hängt es davon ab, was ich für Absichten mit dir habe? Alle nächtlichen Nöte und Einsamkeiten einer leidenden Menschheit zie­ hen nun plötzlich mit quälendem Schmerz durch mein kleines Herz. Was gedenke ich denn in diesem Winter auf mich zu nehmen? Später möchte ich durch die verschiedenen Länder deiner Welt reisen, mein Gott, ich spüre einen Drang in mir, der alle Grenzen überschreitet und der in all deinen unterschiedlichen und sich bekämpfenden Geschöp­ fen auf der ganzen Erde doch etwas Gemeinsames entdeckt. Und über diese Gemeinsamkeit möchte ich sprechen, mit einer ganz kleinen und leisen Stimme, aber unaufhörlich und überzeugend. Gib mir die Worte und die Kraft dazu. Aber zuerst möchte ich an den Fronten inmitten der leidenden Menschen sein. Aber dann werde ich doch auch ein Wörtchen mitzureden haben? Es steigt immer wieder wie eine kleine, wärmende Welle in mir auf, immer und immer wieder, auch nach den schwersten Momenten: Wie schön das Leben ist! Es ist ein unerklärliches Gefühl. Es wird auch nicht durch die Realität gestützt, in der wir jetzt leben. Aber es gibt doch noch andere Realitäten außer denen, die man in der Zeitung und in den gedankenlosen und hitzigen Gesprächen aufgeschreckter Men­ schen findet? Es gibt auch noch die Realität dieses kleinen rosaroten ­Alpenveilchens und des großen Horizonts, die man doch immer wieder hinter dem Lärm und dem Wirrwarr dieser Zeit entdecken kann? Gib mir täglich eine kleine Gedichtzeile, mein Gott, und wenn ich sie nicht immer aufschreiben kann, weil es kein Papier und kein Licht mehr gibt, werde ich sie abends deinem großen Himmel zuflüstern. Aber gib mir ab und zu eine einzige kleine Gedichtzeile. [Freitag] 25. September [1942], 11 Uhr abends. Tide erzählte mir, eine Freundin habe ihr einmal nach dem Tod ihres Mannes gesagt: «Gott hat mich in eine höhere Klasse versetzt, die Bänke sind schon noch ein bisschen zu groß.» Und als wir darüber sprachen, dass er nicht mehr ist und wie seltsam es sei, dass wir beide überhaupt keine Leere, sondern vielmehr eine solche

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Fülle empfanden, zog Tide ihren Kopf ein und sagte mit einem tapferen Lächeln: «Ja, die Bänke sind noch ein bisschen zu groß, es ist ab und zu schon schwer.» Matthäus 5,23: «Wenn du nun deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dort einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24. dann lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen und geh, versöhne dich zuerst mit deinem Bruder; dann komm und bring deine Gabe dar.» Es ist einmal eine Silberflotte im Ozean versunken. Die Menschheit hat seither immer wieder versucht, die versunkenen Schätze aus dem Wasser zu heben. In meinem Herzen sind schon so viele Silberflotten unterge­ gangen und ich werde mein ganzes Leben lang versuchen, etwas von den vielen versunkenen Schätzen, die dort liegen, an die Oberfläche zu brin­ gen. Ich habe noch nicht das richtige Werkzeug dafür. Ich muss es aus dem Nichts erschaffen. Ich trippelte neben Ru her, und nach einem sehr langen Gespräch, in dem wieder einmal alle «letzten Fragen» aufgeworfen wurden, blieb ich plötz­ lich regungslos an seiner Seite stehen, mitten in der engen und eintönigen Govert Flinckstraat, und sagte: «Ja, und weißt du, Ru, dann habe ich noch so eine kindliche Eigenschaft, dank der ich das Leben immer wieder so schön finde und dank der ich vielleicht alles so gut tragen kann.» Ru schaute mich erwartungsvoll an und ich sagte, als wäre es die normalste Sache der Welt (– und ist es das nicht eigentlich auch?): «Ja, siehst du, ich glaube an Gott.» Ich glaube, er fand es ziemlich verwirrend und er sah mich an, als gäbe es etwas Geheimnisvolles in meinem Gesicht zu lesen, aber im Nachhinein fand er es doch schön für mich. Vielleicht fühlte ich mich deshalb für den Rest des Tages so strahlend und kraftvoll? Weil es so unvermittelt und einfach mitten in dem grauen Arbeiterviertel aus mir herausbrach: «Ja, siehst du, ich glaube an Gott.» Es ist gut, dass ich ein paar Wochen hiergeblieben bin. Ich gehe mit erneu­ erten Kräften wieder zurück. Ich habe doch nicht den rechten Gemein­ schaftssinn, ich war viel zu bequem. Zu den alten Leuten, den Boden­ heimers,42 hätte ich natürlich auch gehen sollen und mich nicht mit der Ausrede davor drücken sollen: Ich kann sowieso nichts für sie tun. Und so gibt es viele Dinge, bei denen ich versagt habe. Ich bin zu sehr meinen

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e­ igenen Vergnügungen nachgejagt. Ich schaute abends auf der Heide so gerne in ein Augenpaar. Es war sehr schön, und doch habe ich in jeder Hinsicht versagt. Auch den Mädchen in meinem Saal gegenüber.43 Ab und zu warf ich ihnen ein Stückchen von mir zu und rannte dann wieder weg. Das war nicht richtig. Und doch bin ich dankbar, dass es so war, es war so schön, so bezaubernd schön, und ich bin auch dankbar dafür, dass ich es wiedergutmachen kann. Ich glaube, ich werde ernster und konzentrierter zurückkehren und weniger auf Jagd nach meinem eigenen Vergnügen ge­ hen. Wenn man moralisch auf andere einwirken will, muss man damit anfangen, mit der eigenen Moral Ernst zu machen. Ich bin den ganzen Tag mit Gott beschäftigt, als wäre das ganz selbstverständlich, aber dann muss man auch dementsprechend leben. Ich bin noch lange nicht so weit, o nein, noch lange nicht, aber manchmal tue ich gerade so, als ob ich es schon wäre. Ich bin verspielt und bequem, ich erlebe die Dinge oft mehr als Künstlerin denn als ernsthafter Mensch, etwas Bizarres und Abenteuer­ liches und Willkürliches steckt auch in mir. Aber während ich hier spät­ abends so an diesem Schreibtisch sitze, spüre ich auch wieder, dass eine gebieterische, lenkende Kraft in mir ist, eine große, wachsende Ernsthaf­ tigkeit, die manchmal wie eine lautlose Stimme ist, die mir sagt, was ich zu tun habe, und die mich schließlich auch ganz ehrlich niederschreiben lässt: Ich habe in jeder Hinsicht versagt, meine eigentliche Arbeit muss erst noch beginnen. Bis jetzt war alles hauptsächlich Spielerei. [Samstag] 26. September [1942], halb 10. Ich danke dir, mein Gott, dass ich eines deiner Geschöpfe so vollständig an Leib und Seele erfahren habe. Ich muss dir noch viel mehr überlassen, mein Gott. Dir auch keine Be­ dingungen stellen: Wenn ich nur gesund bleibe, dann … Selbst wenn ich nicht gesund bin, geht das Leben doch sicherlich auch weiter, und zwar so gut wie möglich, nicht wahr? Ich kann doch keine Forderungen stel­ len? Ich werde es auch nicht tun. Und in dem Moment, als ich alles «aus der Hand» gab, wurden meine Magenschmerzen auch plötzlich viel ­besser. Ich habe am frühen Morgen ein wenig in meinen Tagebüchern geblättert, tausend Erinnerungen sprangen mir wieder entgegen. Was für ein über­ wältigend reiches Jahr! Und auch: Welch neue Reichtümer jeder Tag bringt!

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Und auch: Ich danke dir, dass du mir so viel Raum gegeben hast, damit ich all diese Reichtümer aufbewahren kann. Ich bemerke immer mehr, wie sehr Rilke einer meiner großen Erzieher des letzten Jahres gewesen ist. [Sonntag] 27. September [1942]. Dass man ein solches Funken sprühendes Feuer sein kann! Alle Worte und alle Ausdrücke, die ich einmal verwendet habe, erscheinen mir in diesem Augenblick grau, verblasst und farblos, verglichen mit dieser intensiven Lebensfreude und Liebe und Kraft, die aus mir herausbricht. Mein 21-jähriger Klavier spielender kleiner Bruder schreibt aus einer Irren­ anstalt im wievielten? Kriegsjahr: «Henny,44 auch ich glaube, ich weiß, dass es ein anderes Leben nach diesem gibt. Ich glaube sogar, dass manche Menschen es bereits zeitgleich mit diesem Leben sehen und erfahren können. Das ist eine Welt, in der die ewigen Einflüsterungen der Mystik zu lebendiger Wirklichkeit gewor­ den sind und in der gewöhnliche, alltägliche Gegenstände oder Äußerun­ gen eine höhere Bedeutung erlangt haben. Es ist gut möglich, dass die Menschen nach dem Krieg offener dafür sein werden als bisher, dass sie gemeinsam von einer höheren Weltordnung durchdrungen sein werden.» «Und wenn ich all meine Habe verschenke, … aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts.»45 Du musst jetzt nicht mehr leiden, du Verwöhnter, ich kann dieses biss­ chen Kälte und dieses bisschen Stacheldraht gut vertragen und ich lasse dich in mir weiterleben. Was von dir unsterblich war, lebt in mir weiter. Wie der Mensch doch am Materiellen hängt: Tide hat mir einen klei­ nen zerbrochenen rosa Kamm von ihm gegeben. Fotos von ihm möchte ich eigentlich nicht einmal haben, vielleicht werde ich sogar seinen Namen nie wieder aussprechen, aber dieser schmuddelige kleine rosa Kamm, mit dem ich ihn 1 ½ Jahre lang sein schütteres Haar habe kämmen sehen, be­ findet sich jetzt in meiner Brieftasche zwischen den wichtigsten Papieren und ich wäre wahnsinnig traurig, wenn ich ihn je verlieren sollte. Der Mensch ist doch ein seltsames Wesen.

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[Montag] 28. September [1942].

Audi et alteram partem.

Der Giftgasbandit mit dem geänderten Namen und die Maiglöckchen und die verführte Krankenschwester.47 Es hat mich damals schon stark beeindruckt, als der flirtende Internist48 mit den melancholischen Augen zu mir sagte: «Sie leben geistig zu inten­ siv, das ist schlecht für Ihre Gesundheit, Ihre körperliche Verfassung kann das nicht verkraften.» Als ich es Jopie erzählte, sagte er nachdenklich und beipflichtend: «Er hat wahrscheinlich recht.» Ich habe lange darüber nachgedacht und weiß mit immer größerer ­Gewissheit: Er hat nicht recht. Es stimmt, ich lebe intensiv, manchmal kommt es mir vor, als sei es eine dämonische und ekstatische Intensität, aber ich erneuere mich von Tag zu Tag am Urquell, am Leben selbst, und ich ruhe mich von Zeit zu Zeit in einem Gebet aus. Und diejenigen, die sagen: «Du lebst zu intensiv», wissen nicht, dass man sich in ein Gebet wie in eine Klosterzelle zurückziehen kann und dann mit erneuerter Kraft und wiedergewonnener Ruhe weitergeht. Es ist, glaube ich, ausgerechnet die Angst der Menschen, sich zu sehr zu verausgaben, die ihnen die meisten Kräfte raubt. Wenn man nach einem langen und mühsamen Prozess, der täglich voranschreitet, zu den Urquel­ len in sich vorgedrungen ist, die ich nun einmal Gott nennen möchte, und wenn man dafür sorgt, dass dieser Weg zu Gott frei bleibt und nicht ver­ barrikadiert wird – und das geschieht durch «Arbeit an sich selbst» –, dann erneuert man sich immer wieder an dieser Quelle und dann braucht man auch keine Angst zu haben, sich zu sehr zu verausgaben. Ich glaube nicht an objektive Feststellungen. Unendliches Zusammenspiel menschlicher Wechselwirkungen. Man sagt, du seist zu früh gestorben. Nun denn, dann wird eben ein Psy­ chologiebuch weniger geschrieben, aber es ist ein bisschen mehr Liebe in die Welt gelangt. [Dienstag] 29. September [1942]. Du sagtest oft: «Das ist Sünde an dem Geist, das rächt sich. Jede Sünde an dem Geist rächt sich.» Ich glaube auch, dass sich jede «Sünde» gegen die Menschenliebe rächt, am Menschen selbst und an der Außenwelt.

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Ich will es noch einmal für mich aufschreiben, Matthäus 6,34: «Sorgt euch also nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last.»49 Man muss sie täglich bekämpfen wie Flöhe, die vielen kleinen Sorgen um die kommenden Tage, die die besten schöpferischen Kräfte des Men­ schen anfressen. Man versucht, in Gedanken Vorkehrungen für die kom­ menden Tage zu treffen – und dann kommt alles anders, ganz anders. ­Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last. Die Dinge, die getan werden müssen, müssen getan werden, und ansonsten darf man sich nicht von den vielen kleinen Ängsten und Sorgen anstecken lassen, jede einzelne ein Misstrauensvotum gegen Gott. Es wird mit der Aufenthaltsbewilligung und auch mit den Bezugsscheinen schon gut gehen, in diesem Augenblick hat es keinen Sinn, darüber zu grübeln, ich mache besser eine Überset­ zungsübung aus dem Russischen. Das ist eigentlich unsere einzige mora­ lische Pflicht: in sich selbst große Flächen der inneren Ruhe zu kultivieren, immer mehr Ruhe, damit man diese Ruhe wiederum auf andere ausstrah­ len kann. Und je mehr Ruhe in den Menschen herrscht, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt. Gerade ein kurzes Telefongespräch mit Toos.50 Jopie schreibt: «Keine Päckchen mehr schicken. Dort ist alles Mögliche im Gange.»51 Haanen52 schrieb in einem Brief an seine Frau: «zu wenig, um etwas davon zu kapie­ ren, und zu viel, um nicht darüber beunruhigt zu sein.» Usw. Und dann kommt plötzlich etwas in mir in Bewegung, was auch nicht in Ordnung ist. Man muss das bekämpfen. Man muss sich von all den fruchtlosen Gerüchten, die wie eine ansteckende Krankheit um sich greifen, zurück­ ziehen. Annähernd kann ich dann wieder nachempfinden, wie es in all diesen Menschen aussehen muss. Armes, karges Leben. Ja, und dann ge­ langt man dahin zu sagen, wie ich es schon von vielen hörte: «Ich kann kein Buch mehr lesen, ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren.» «Früher hatte ich das Haus immer voller Blumen, aber zurzeit, nein, jetzt habe ich keine Lust mehr darauf.» Verarmtes, armes Leben. Ich weiß schon wieder, wogegen ich Stellung beziehen muss. Könnte man den Menschen beibringen, dass man daran «arbeiten» kann, den Frieden in sich selbst zu erobern? Innerlich produktiv und vertrauensvoll weiterzuleben, sich über alle Ängste und Gerüchte hinwegzusetzen? Dass man sich zwingen kann, in der entferntesten und ruhigsten Ecke des eigenen Inneren niederzu­ knien und dort so lange knien zu bleiben, bis der Himmel über einem wieder klar ist und sonst nichts? Seit gestern Abend habe ich wieder ein­

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mal am eigenen Leib erfahren, was die Menschen gegenwärtig erleiden müssen; es ist gut, sich das immer wieder bewusst zu machen und sich immer wieder selbst beizubringen, wie man dagegen ankämpfen muss. Und dann wieder unbehelligt durch die weiten und unverstellten Land­ schaften des eigenen Herzens zu gehen. Aber so weit bin ich noch nicht. Jetzt zuerst einmal zum Zahnarzt und heute Nachmittag zur Keizers­ gracht.53 «Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: die Freiheit eines Lieben nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen: denn daß wir uns halten, das fällt uns leicht, und ist nicht erst zu lernen.»

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[Mittwoch] 30. September [1942]. Treu sein, allem, was man in einem spontanen, einem allzu spontanen Moment manchmal, begonnen hat. Treu sein jedem Gefühl, jedem Gedanken, der zu keimen begonnen hat. Treu im umfassendsten Sinne des Wortes. Treu sein sich selbst, Gott, den eigenen besten Momenten. Und dort, wo man ist, ganz und gar sein, zu hundert Prozent sein. Mein «Tun» wird darin bestehen, zu «sein». Und wo meine Treue noch wachsen muss und wo ich am meisten versage: dem treu zu sein, was ich als mein «schöpferisches Talent» bezeichnen möchte, so gering es auch sein mag. Wie auch immer: Es gibt vieles, was von mir noch gesagt und niedergeschrieben werden möchte. Ich müsste es auch allmählich tun. Ich schaffe es mir auf alle möglichen Arten vom Halse, hierin versage ich. Ich weiß es ja: Auf der anderen Seite muss ich auch die Geduld haben, das, was von mir gesagt werden muss, in mir wachsen zu lassen. Aber ich muss ihm auch helfen und entgegenkommen. Es ist immer wieder dasselbe: Man möchte sofort etwas ganz Besonderes und «Geniales» aufschreiben, man geniert sich für die eigenen Belanglosigkeiten. Aber wenn ich eine wirkliche Pflicht im Leben, in dieser Zeit, in dieser Phase meines Lebens habe, dann ist es diese: schreiben, notieren, festhalten. Währenddessen verarbeite ich es auch. Ich lese mir das Leben zusammen und ich weiß: Ich kann es lesen, und ich denke jetzt in meinem jugendlichen Übermut und meiner Bequemlichkeit, dass ich mir alles auf diese Art und Weise Gele­ sene schon merke und es später nacherzählen kann. Aber kleine Anknüp­

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fungspunkte sollte ich mir doch schaffen. Ich lebe das Leben bis zur Neige, aber ich bekomme immer stärker das Gefühl: Ich bekomme allmählich Verpflichtungen dem gegenüber, was ich meine Talente nennen möchte. Aber wo beginnen? Mein Gott, es ist so viel. Man darf auch nicht den Fehler machen, alles, was man so intensiv erlebt, unmittelbar aufs Papier schludern zu wollen. Darum geht es auch nicht. Wie ich das alles irgend­ wann einmal «bewältigen» soll, weiß ich noch nicht, es ist sehr viel. Ich weiß nur: Ich werde es ganz allein tun müssen. Und ich weiß auch: Ich habe genug Kraft und Geduld, es allein zu schaffen. Ich muss auch treu sein, ich darf nicht mehr auseinanderstieben wie Sand im Wind. Ich teile mich auf und verteile mich auf die vielen Betroffenheiten und Eindrücke und Menschen und Rührungen, die auf mich einprasseln. Ich muss ihnen allen treu sein. Aber es muss eine neue Treue hinzukommen, die Treue zu meinem Talent. Es reicht nicht mehr aus, alles allein zu erleben, es muss jetzt noch etwas mehr hinzukommen. Es ist, als sähe ich immer deutlicher, in welchen gähnenden Abgrün­ den die schöpferischen Kräfte und die Lebensfreude der Menschen ver­ schwinden. Es sind Löcher, die alles verschlucken, und diese Löcher sind im eigenen Gemüt. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last. Und: «Der Mensch leidet am meisten unter dem Leiden, das er fürchtet.» Und die Materie, immer wieder ist es die Materie, die allen Geist an sich zieht, statt umgekehrt. «Du lebst zu sehr aus dem Geist.» Warum, Osias? Weil ich meinen Körper nicht sofort deinen gierigen Händen preisgab? Wie selt­ sam Menschen doch sind. Wie viel ich gerne schreiben würde! Irgendwo tief in mir: eine Werkstatt, in der Titanen die Welt neu schmieden. Ich schrieb einmal verzweifelt: Es ist, als müsste ausgerechnet in meinem klei­ nen Kopf, unter meiner engen Schädeldecke die Welt zur Klarheit durch­ dacht werden. Auch jetzt denke ich noch manchmal mit einem fast satani­ schen Übermut daran. Ich weiß auch, weshalb: Alle meine schöpferischen Kräfte – ich danke dir, mein Gott, dass du mir so viele gegeben hast – sind bei mir intakt und unversehrt. Es gelingt mir immer wieder, sie den Fän­ gen der alltäglichen Sorgen und Ängste zu entreißen, es gelingt mir immer besser, sie aus der Gefangenschaft der materiellen Nöte zu befreien, die aus der Vorstellung von Hunger, Kälte und Gefahren erwachsen. Schließlich ist es ja immer die Vorstellung und nicht die Realität. Die Realität ist etwas, das man auf sich nehmen muss, all das Leiden, das damit verbunden ist, all die Schwierigkeiten, man muss sie auf sich nehmen und tragen, und während des Tragens vergrößert sich die Tragkraft. Doch die Vorstellung

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vom Leiden (die kein wirkliches «Leiden» ist, denn Leiden an sich ist fruchtbar und kann das Leben zu etwas Kostbarem machen) muss man zerschlagen. Und wenn man die Vorstellungen zerschlägt, in denen das Leben wie hinter Gittern gefangen ist, dann befreit man das wirkliche Leben und die Kräfte in seinem Inneren und dann wird man auch die Kraft haben, das wirkliche Leiden im eigenen Leben und in dem der Menschheit zu tragen. Freitagmorgen [2. Oktober 1942], im Bett. Ich werde das Risiko auf mich nehmen, ich bin jetzt nicht ganz ehrlich zu mir selbst. Auch diese Lektion werde ich noch lernen müssen, und sie wird die schwerste sein, mein Gott: jenes Leid auf mich zu nehmen, das du mir auferlegst, und nicht das, was ich mir selbst ausgesucht habe. Ich brauche in den letzten Tagen so viele Worte, um mich und andere davon zu überzeugen, dass ich wieder fortgehen muss und dass mein ­Magen nicht der Rede wert ist – vielleicht ist er das auch wirklich nicht –, aber wenn man so viele gewichtige Argumente benötigt, stimmt etwas nicht. Irgendetwas stimmt in der Tat nicht. Und jetzt kann ich doch wie­ der laut zu mir sagen: Nun ja, aber das haben doch derzeit alle gelegent­ lich, dass sie sich ein paar Tage schwindelig und schlapp fühlen, wenn das vorbei ist, ist es vorbei, und dann macht man wieder weiter, als ob nichts geschehen wäre. Es kommt mir vor, als müsste ich nur die Finger meiner Hand spreizen und schon hielte ich ganz Europa und Russland im Griff. So klein und übersichtlich und vertraut, so mit einer Hand zu umfassen ist für mich alles geworden. Alles erscheint mir so nahe. Sogar in diesem Bett. Merke dir das: sogar in diesem Bett. Selbst wenn ich wochenlang still und ­regungslos darin liegen müsste. Es ist immer noch zu schwer für mich. Ich kann mich noch nicht mit dem Gedanken versöhnen, dass ich im Bett bleiben müsste. Ich verspreche dir, ich werde nach meinen besten schöpferischen Kräf­ ten an jedem Ort leben, an dem du mich festhalten zu müssen glaubst, aber ich möchte am Mittwoch so gerne gehen, und sei es auch nur für zwei Wochen. Ja, ich weiß schon, es gibt Risiken: Es kommt immer mehr SS ins Lager und es wird immer mehr Stacheldraht darum herum ge­zogen, alles spitzt sich immer mehr zu, vielleicht können wir in zwei Wochen

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nicht einmal mehr weg, so etwas ist immer möglich. Kannst du dieses Ri­ siko eingehen? Schließlich hat mein Arzt nicht gesagt, dass ich das Bett hüten müsse, er war überrascht, dass ich noch nicht nach Westerbork zurückgekehrt war. Aber mit diesem Arzt habe ich doch nichts zu tun? Selbst wenn hundert Ärzte der Welt mich für kerngesund erklären, wenn mir eine innere Stimme sagt, dass ich nicht gehen sollte, nun, dann sollte ich nicht gehen. Ich werde abwarten, ob du mir noch ein Zeichen gibst, mein Gott, ich nehme mir jetzt fest vor zu gehen. Ich werde mit dir verhandeln: Würdest du mir einen Gefallen tun? Darf ich am nächsten Mittwoch für 2 Wochen zurück in die Heide, und wenn es mir dann immer noch nicht gut geht, werde ich hierbleiben und gesund werden. Lässt du dich auf einen solchen Handel ein? Ich glaube, eigentlich nicht. Aber trotzdem würde ich am Mittwoch gerne gehen. Und alle Gründe, weshalb ich gehen will, haben doch wirk­ lich ihre Berechtigung. Ich werde jetzt erst einmal schlafen, ich habe aber längst noch nicht alles mit dir besprochen. Aber ja, ich weiß schon: Meine wahre, tiefste Geduld hat mich verlassen. Aber ich weiß, dass sie wieder zur Stelle sein wird, wenn ich sie brauche. Und meine Ehrlichkeit wird mir wohl immer bleiben. Aber im Moment ist es sehr schwierig. Ich gebe mir bis Sonntag Zeit, und wenn sich dann herausstellt, dass es nicht nur ein vorübergehendes Schwindelgefühl war, dann werde ich ver­ nünftig sein müssen und nicht weggehen. Ich gebe mir drei Tage Zeit. Aber dann muss ich auch Ruhe bewahren. Mädchen, mach keine Dummheiten. Verlebe nicht ein ganzes Leben in ein paar Wochen. Die Menschen, die von dir erreicht werden müssen, werden bestimmt erreicht. Es kommt doch nicht auf die paar Wochen an, setze doch nicht dein kostbares Leben aufs Spiel. Fordere jetzt nicht vor­ sätzlich die Götter heraus, sie haben alles so wunderbar für dich arran­ giert, zerstöre jetzt nicht ihr Werk. Ich gebe mir noch drei Tage Zeit. später. Ich habe das Gefühl, dass es noch nicht zu Ende ist, mein Leben dort, noch kein abgerundetes Ganzes. Ein Buch, und was für ein Buch, in dem ich mittendrin stecken geblieben bin. Ich möchte so gerne weiterlesen. Es war dort in manchen Momenten so, als sei mein ganzes Leben eine einzige große Vorbereitung auf das Leben in dieser Gemeinschaft gewesen – ob­ wohl mein Leben doch eigentlich immer ein Leben in Abgeschiedenheit war?

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später. Früchte und Blüten zu tragen auf jedem Fleckchen Erde, auf das man ge­ pflanzt wurde, wäre das nicht das Ziel? Und sollten wir nicht dazu bei­ tragen, dieses Ziel zu verwirklichen? Ich glaube schon, dass ich es lernen werde. All den Bezeichnungen, die gut für die Fachleute sind, sollte man ent­ sagen. Ob man nun Magenblutung oder Magengeschwür oder Blutarmut sagt, man braucht nicht zu wissen, wie es bezeichnet wird, um Bescheid zu wissen. Ich werde wahrscheinlich eine Weile flach liegen müssen, ich will es nur noch nicht wahrhaben, ich denke mir die schönsten Scheinbeweise aus, um mir einzureden, dass es nicht schlimm ist und dass ich am Mitt­ woch bestimmt abreisen kann. Ich bleibe dabei: Ich gebe mir noch drei Tage Zeit. Und wenn ich dann noch immer ganz in dem Panzer der Schwäche gefangen bin, den ich jetzt um mich spüre, dann gebe ich es vorläufig auf, d. h., dann gebe ich mein eigenwilliges Programm auf. Und wenn ich mich am Montag wieder fit fühle? Dann gehe ich zu Neuberg55 und sage auf meine eigene einnehmende Weise – jawohl, ich sehe es schon vor mir, wie ich ihn mit einem neuen, goldgeränderten Backenzahn aus Porzellan anlächle: «Herr Doktor, ich komme, um mit Ihnen von Freund zu Freund zu sprechen, schauen Sie, so stehen die Dinge und ich möchte so gerne gehen, halten Sie das für vertretbar?» Und ich weiß jetzt schon, dass er «Ja» sagen wird, denn ich werde ihn «Ja» sagen lassen, so suggestiv werde ich es ihm erläutern. Ich werde ihn dazu bringen, mir die Antwort zu geben, die ich gerne hören möchte. So leben die Menschen eben. Sie benutzen andere, um sich selbst von etwas zu überzeugen, an das sie im Grunde ihres Herzens nicht glauben. Sie suchen in den anderen ein Ins­ trument, um die eigene innere Stimme zu übertönen. Wenn doch jeder etwas mehr auf seine eigene innere Stimme hörte, wenn man doch nur versuchte, sie in sich selbst erklingen zu lassen – dann gäbe es viel weniger Chaos. Ich glaube, ich werde schon noch lernen, meinen Anteil, wie auch im­ mer dieser aussehen mag, auf mich zu nehmen. Wie viel habe ich an die­ sem einen Vormittag, an dem ich krank im Bett liege, schon gelernt! Tatsächlich empfinde ich immer wieder eine solche Genugtuung, wenn ich sehe, wie sich ein scharfsinnig erdachter menschlicher Plan plötzlich als Eitelkeit entpuppt, nichts als Eitelkeit. Wir hätten heiraten sollen, wir

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hätten die Not der Zeit gemeinsam ertragen. Nun liegt ein ausgemergelter Körper unter einem Stein – wie sieht dieser Stein überhaupt aus? – in der hintersten Ecke des großen, blumengeschmückten Friedhofs Zorgvlied, und ich liege in einem Panzer der Schwäche in dem kleinen Raum, der jetzt schon seit fast 6 Jahren mein Zimmer ist. Eitelkeit der Eitelkeiten – aber was nicht eitel war, war die Entdeckung in mir selbst, dass ich im­ stande war, mich vollständig zu jemandem zu bekennen, mich an ihn zu binden und die Not mit ihm zu teilen – das war keine Eitelkeit. Und an­ sonsten? Er hat mir doch den direkten Weg zu Gott frei gemacht, nach­ dem er ihn mir erst mit seinen unvollkommenen Menschenhänden ge­ bahnt hatte. Nein, Mädchen, so wie sich dein Körper unter den Decken anfühlt, das gefällt mir überhaupt nicht. Nicht beweglich sein zu können ist ganz schlimm. Und wie beweglich ich war, mein Gott, wie war ich beweglich! Ich war selbst erstaunt und er­ freut darüber, wie ich mit einem Rucksack auf meinem ungeübten Rücken auf deinen unbekannten Wegen dahinzog. Es war für mich ein großes Wunder. Plötzlich waren für mich Ausfalltore in «die Welt» entstanden, zu der es, wie ich geglaubt hatte, für mich keinen Zugang gab. Und ob ich Zugang hatte! Doch jetzt bin ich grässlich krank, ich muss es ganz ehrlich zugeben. Noch 2 ½ Tage Zeit gebe ich dir. Wenn nachher Jopie kommt und mich mit seinen ehrlichen, ernsthaf­ ten Augen so durchdringend anschaut, werde ich keine solchen Geschich­ ten mehr erzählen: «Ach, ich bin ja so gesund und werde am Mittwoch mit dir mitgehen», sondern ich werde sagen: «Lass mich noch ein wenig mit mir selbst kämpfen, und dann werde ich schon herausfinden, was das Beste für mich ist.» Und doch möchte ich am Mittwoch so gerne noch einmal gehen! Du verlangst zu viel, Mädchen. Werde nicht übermütig. Möchtest du dich erst zugrunde richten und dich dann hier wiederherstellen lassen? Ich glaube wirklich, dass du das möchtest. Es ist dort alles so «unfertig», ich muss noch so viel fertigstellen. Und was ist mit jenen, die unerwartet aus ihren Häusern und mitten aus ihren Aktivitäten («unerwartet» kann man das gegenwärtig nicht mehr wirklich nennen) herausgerissen werden und die auch ein «unfertiges» Gefühl haben werden? Aber sollte man sein ­Leben nicht so leben, dass man es als abgeschlossenes und abgerundetes Ganzes in sich trägt, sodass es immer fertig ist, in jedem Moment gänzlich fertig?

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Ich möchte sie alle später aufsuchen, einen nach dem anderen, all die Tau­ senden, die auf diesem Stück Heide durch unsere Hände gegangen sind. Und wenn ich sie nicht finde, dann werde ich ihre Gräber finden. Ich werde hier nicht mehr ruhig an meinem Schreibtisch sitzen können. Ich möchte durch die Welt ziehen, um mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, wie es allen ergangen ist, die wir haben gehen lassen. 56 «Nur gesund, mein Kind, nur gesund», sagte Dr. Fränkel, als ich nach dem letzten Urlaub nicht mehr zurückgehen konnte, und es war das Erste, was ich ihn mit echter Leidenschaft sagen hörte. Am späten Nachmittag. Ein bisschen durch das Haus spaziert. Ach, wer weiß, vielleicht ist es doch nicht so schlimm, es ist wohl nur ein bisschen generelle Blutarmut, die ich dort mit ein paar Arzneimitteln auskurieren kann. Aber übrigens: Man sollte nicht kurzsichtig sein und nicht kurzfristig leben. Und nun scheine ich «gesperrt»57 zu werden. «Nun muss ich sicherlich vor Freude in die Luft springen?», fragte ich den Notar mit dem einen kürzeren Bein.58 Ich will all die Papiere, um die sich die Juden gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen, ja überhaupt nicht haben, warum fallen sie mir dann von selbst zu? In allen Lagern in ganz Europa würde ich gerne sein, an allen Fronten möchte ich sein, ich will ja gar nicht in sogenannter ­«Sicherheit» sein, ich will doch dabei sein, ich möchte ein bisschen Ver­ brüderung an jedem Ort, wo ich bin, zwischen all den sogenannten Fein­ den herbeiführen, ich will verstehen, was geschieht, ich wünsche mir, dass so viele Menschen wie irgend möglich – und ich weiß, dass ich viele er­ reichen kann, mach mich gesund, o Gott – das Weltgeschehen so begrei­ fen wie ich. Und was ist das dann alles noch, wenn ich keine Liebe habe? Mach mich ein bisschen gesund, ganz gesund muss ich gar nicht sein, das bin ich noch nie gewesen. Und dieser Schmerz, den ich jetzt in meinem Körper spüre, den habe ich vor Monaten doch schon einmal gehabt und damals ist er auch wieder weggegangen. Aber jetzt ist es mehr diese allgemeine Schwäche. Noch 2 ¼ Tage Zeit gebe ich dir. Samstagmorgen [3. Oktober 1942], halb 7, im Badezimmer. Ich fange an, unter Schlaflosigkeit zu leiden, das darf nicht sein. In aller Herrgottsfrühe sprang ich aus dem Bett und kniete vor meinem Fenster

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nieder. Totenstill stand der Baum dort im grauen, bewegungslosen Mor­ gen. Und ich habe gebetet: Mein Gott, gib mir dieselbe große und ge­ waltige Ruhe in meinem Inneren, die sich auch in deiner Natur findet: Und wenn du mich leiden lassen willst, gib mir dann das große, alles um­ fassende Leiden, aber gib mir nicht die tausend aufzehrenden kleinen Sor­ gen, die von einem Menschen nichts übrig lassen. Gib mir Ruhe und Zu­ versicht. Lass mich ein wenig mehr sein, lass mich an jedem Tag ein wenig mehr sein als die Summe der tausend Sorgen um das alltägliche Dasein. Und all die Sorgen, die wir uns um das Essen, um die Kleidung, um die Kälte, um unsere Gesundheit machen, sind das nicht ebenso viele Miss­ trauensvoten gegen dich, mein Gott? Und du bestrafst uns ja direkt dafür? Mit Schlaflosigkeit und einem Leben, das ja eigentlich kein Leben mehr ist? Ich möchte noch ein paar Tage ruhig liegen bleiben, aber danach möchte ich ein einziges großes Gebet sein. Eine einzige große Ruhe. Ich muss wieder meine eigene Ruhe mit mir herumtragen. «Patientin muss ein ruhiges Leben führen.» Sorge du für meine Ruhe, mein Gott, an je­ dem Ort. Es kann sein, dass ich keine Ruhe mehr habe, weil ich womög­ lich die falschen Dinge tue. Vielleicht – ich weiß es nicht. Ich bin so sehr ein Gesellschaftsmensch, mein Gott, ich wusste nie, wie sehr. Ich möchte mitten unter den Menschen sein, inmitten ihrer Ängste, ich möchte alles selbst sehen und begreifen und später davon erzählen. Aber ich möchte so gerne gesund sein. Ich grüble jetzt zu viel über meine Gesundheit nach, und das ist natürlich nicht gut. Lass in mir dieselbe große Bewegungs­ losigkeit sein, die heute früh in deinem grauen Morgen war. Lass meinen Tag ein wenig mehr sein als nur die Sorge um den Körper. Das ist immer meine letzte Zuflucht, aus dem Bett zu springen und in einer verborgenen Ecke des Zimmers niederzuknien. Ich will dich auch nicht zwingen, mein Gott, mich in zwei Tagen ge­ sund zu machen. Ich weiß, dass alles wachsen muss, dass alles ein lang­ samer Prozess ist. Es ist jetzt kurz vor 7 Uhr. Ich werde mich von Kopf bis Fuß mit kaltem Wasser waschen und mich dann wieder still in mein Bett legen, totenstill, ich werde nicht mehr in dieses Heft schreiben, ich werde nur versuchen, zu liegen und ein Gebet zu sein. Es erging mir schon so oft so, dass ich mich ein paar Tage lang so elend fühlte, dass ich glaubte, mich wochenlang nicht erholen zu können, und nach ein paar Tagen war dann alles wieder weg. Aber im Moment lebe ich nicht richtig, ich will etwas erzwingen. Wenn es irgendwie geht, würde ich doch gerne am Mittwoch

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fahren. Ich weiß es ja: So wie es mir jetzt geht, hat die Gemeinschaft nicht viel von mir, ich möchte am Mittwoch gerne wieder ein bisschen gesund sein. Wirklich, ich brauche nur ein bisschen Gesundheit, das reicht mir schon. Aber wenn ich etwas mit aller Gewalt will, dann wird der Rhyth­ mus völlig aus dem Takt gebracht. Ich darf die Dinge nicht wollen, ich muss die Dinge in mir geschehen lassen. Und genau das tue ich im ­Moment nicht. Nicht ich will, sondern dein Wille geschehe.59 Ein wenig später. So, jetzt habe ich mich gewaschen, ich habe einen Brief geschrieben, von dem ich dachte, es sei notwendig, ihn zu schreiben, ich habe die Runde durchs Haus gemacht und mein Zimmer ein wenig hergerichtet und jetzt, mein Gott, um es einmal ganz trivial auszudrücken, jetzt gehe ich zu ­deiner Kasse und tausche das viele klimpernde und schwere Kleingeld, das ich habe, gegen eine einzige glatte, ungebrauchte Banknote. Was sagst du zu so viel Poesie auf nüchternem Magen? Aber jetzt komme ich zu dir, um meine vielen kleinen beunruhigenden Sorgen gegen eine einzige große ­innere Ruhe einzutauschen. Meine Eltern, mein Gott, meine Eltern! Natürlich, es ist die vollständige Vernichtung, aber lasst sie uns doch zu­ mindest mit Anmut ertragen. Es ist kein Dichter in mir, aber es gibt ein Stückchen Gott in mir, das zu einem Dichter heranwachsen könnte. In einem solchen Lager muss es doch einen Dichter geben, der das Leben dort, ja, auch dort, als Dichter erlebt und der davon singen können wird. Wenn ich nachts dort so auf meiner Pritsche lag, inmitten leise schnar­ chender, laut träumender, heimlich weinender und sich herumwälzender Frauen und Mädchen, die tagsüber so oft sagten: «Wir wollen nicht den­ ken», «Wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt», war ich bis­ weilen unendlich gerührt, ich lag wach da und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages an mir vorüberziehen und dachte: «So lasst mich denn das denkende Herz dieser Baracke sein.» Ich möchte es wieder sein. Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Kon­ zentrationslagers sein. Ich liege jetzt so geduldig und ruhig hier, ich fühle mich auch schon ein bisschen besser, nicht weil ich es erzwingen will, son­

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dern – wirklich besser; ich lese Rilkes Briefe «Über Gott»,60 jedes Wort da­ von ist bedeutungsschwer für mich, ich hätte sie selbst geschrieben haben können, und wenn ich sie geschrieben hätte, hätte ich sie genau so und nicht anders geschrieben. – Ich spüre jetzt auch wieder die Kraft in mir, um wegzugehen, ich denke auch nicht mehr über Pläne und Risiken nach, es kommt, wie es kommt, es ist gut, so wie es kommt. – «Christus mochte recht haben, wenn er in einer von abgestandenen und ent­ laubten Göttern erfüllten Zeit schlecht vom Irdischen sprach, obwohl es (ich kann es nicht anders denken) auf eine Kränkung Gottes hinauskommt, in dem uns hier Gewährten und Zugestandenen nicht ein, wenn wir es nur genau ­gebrauchen, vollkommen bis an den Rand unserer Sinne uns Beglückendes zu sehen! Der rechte Gebrauch, das ists. Das Hiesige recht in die Hand nehmen, herzlich liebevoll, erstaunend, als unser, vorläufig, Einziges: das ist zugleich, es gewöhnlich zu sagen, die große Gebrauchsanweisung Gottes, die meinte der heilige Franz von Assisi aufzuschreiben in seinem Lied an die Sonne, die ihm im Sterben herrlicher war als das Kreuz, das ja nur dazu dastand, um in die Sonne zu weisen.»

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Samstagnachmittag, 4 Uhr. Jetzt ergebe ich mich wirklich ganz. Ich sehe mich schon am Mittwoch auf diesen wackeligen Beinen gehen. Das ist sehr betrüblich. Aber ich bin so dankbar, dass ich hier in Ruhe krank liegen bleiben darf und dass man sich um mich kümmern will. Ich muss zuerst wieder ganz gesund werden, sonst falle ich der Gemeinschaft nur zur Last. Ich glaube, ich bin doch ein bisschen krank, von Kopf bis Fuß krank, eingezwängt in einen Panzer aus Schwäche und Schwindel. Ich habe jetzt auch das Gefühl, dass ich nicht mehr mit nur ein paar Stun­ den Ruhe auskomme. Ich fühle mich im Moment wie eine Schuhsohle, auf der man so lange herumgelaufen ist, dass sie völlig abgenutzt ist. Ich darf wirklich nicht kindisch oder ungeduldig sein. Warum habe ich es so eilig, alle Nöte mit anderen hinter Stacheldraht zu teilen? Und was sind schon 6 Wochen in einem ganzen Leben? Um meinen Schädel herum spannt sich ein eisernes Band und das Gewicht einer ganzen Stadt in Trümmern lastet auf meinem Kopf. Ich möchte kein krankes, verdorrtes Blatt sein, das vom Stamm der Gemeinschaft herabfällt.

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3. Oktober [1942], Samstagabend, 9 Uhr. Wenn du wirklich gesund werden willst, musst du anders leben, als du es jetzt tust. Du solltest tagelang nicht sprechen, dich in dein Zimmer ein­ schließen und keine Menschen hereinlassen, das ist der einzige Weg. Es ist nicht gut, so wie du dich jetzt verhältst. Vielleicht wirst du doch noch vernünftig. Man sollte beten, Tag und Nacht, für die Tausenden. Man sollte nicht eine einzige Minute ohne Gebet sein. Ich weiß, dass ich eines Tages sprachgewaltig genug sein werde. 4. Oktober [1942], Sonntagabend. Heute Morgen zuerst Tide. Am Nachmittag Prof. Becker. Danach Jopie S.62 Mit Han gegessen. Schwindelig und schwach. Gott, du gibst mir so viel Kostbares zur Aufbewahrung, lass mich gut darauf aufpassen und lass es mich gut verwalten. All diese Gespräche mit Freunden sind im Moment nicht gut für mich. Ich verschleiße meine Kräfte völlig. Ich bin noch nicht stark genug, um mich zurückzuziehen. Irgendwann einmal die richtige Balance zwischen meiner introvertierten und extrovertierten Seite zu finden, das ist meine große Aufgabe. Sie sind beide gleich stark in mir. Ich bin gerne mit Men­ schen in Kontakt. Mir ist, als holte ich mit meiner intensiven Aufmerk­ samkeit das Beste und Tiefste in ihnen zum Vorschein, sie öffnen sich mir, jeder Mensch ist für mich eine Geschichte, die mir vom Leben selbst er­ zählt wird. Und meine entzückten Augen lesen einfach nur. Das Leben vertraut mir so viele Geschichten an, ich werde sie weitererzählen müssen und sie jenen Menschen nahebringen, die nicht selbst so direkt im Leben lesen können. Gott, du hast mir die Gabe verliehen, lesen zu können, wirst du mir auch die Gabe verleihen, schreiben zu können? Aber ich stehe mir selbst im Weg, meine andere Seit– abends halb 12. Das ist typisch für mich: Ich beende Sätze nie. Ich muss dafür sorgen, dass das nicht typisch für mich bleibt. Heute Abend Jopie. Wie schön du das menschliche Auge gemacht hast, mein Gott. Er hatte recht, mein Waffenbruder.63 Er sagte: «Wenn du so unvernünftig weitermachst, frage ich mich, ob es dir wirklich ernst da­ mit ist, gesund werden zu wollen.» Habe ich mich unbewusst doch schon

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wieder an mein bequemes Bett und eine gute Versorgung gewöhnt? Das Westerbork, in das ich in ein paar Wochen zurückkehren werde, ist ein anderes W. als das, was ich verlassen hatte. Ich muss mir dies immer wie­ der aufs Neue vergegenwärtigen. Ich muss mich wiederum verabschieden und mir ganz bewusst darüber werden, worum es jetzt überhaupt geht. Wie ich heute mit mir selbst umgesprungen bin, ist im Grunde fürch­ terlich leichtsinnig. Ich sitze jetzt an meinem Schreibtisch und fühle mich überall wie gerädert, vor allem am Rücken. Aber mein Geist ist immer noch so klar und frisch, und solange das der Fall ist, schleppt er den Kör­ per noch mit sich mit. Aber du bist sehr leichtsinnig. Und nun gute Nacht und beginne morgen einfach ein «neues Leben». Auf einmal mitten in der Nacht. Gott und ich sind jetzt noch allein zurückgeblieben. Es gibt sonst nie­ manden mehr, der mir helfen kann. Ich habe eine Verantwortung, aber ich habe sie mir noch nicht auf meine beiden Schultern geladen. Ich spiele immer noch zu viel und bin undiszipliniert. Ich fühle mich dadurch keineswegs verarmt, eher bereichert und ­ruhig: Gott und ich sind jetzt ganz allein zurückgeblieben. Gute Nacht. 8. Oktober [1942], Donnerstagnachmittag. Ich bin jetzt krank, ich kann es nicht ändern. Später werde ich dort alle Tränen und alles Grauen einsammeln. Ich mache das eigentlich ja auch schon jetzt, hier im Bett. Vielleicht ist mir auch deshalb so schwindelig und fiebrig? Ich möchte nicht die Chronistin von Gräueltaten werden. Es wird genug andere geben. Auch nicht die Chronistin von Sensationen. Heute Morgen sagte ich noch zu Jopie: «Und doch komme ich immer wieder zum selben Schluss: Das Leben ist schön. Und: Ich glaube an Gott. Und ich möchte inmitten dessen sein, was die Menschen ‹Gräueltaten› nennen, und dennoch sagen: ‹Das Leben ist schön.›» Und jetzt liege ich mit Schwindel und Fieber in einer Ecke und kann nichts tun. Ich wachte soeben auf und fühlte mich ganz ausgetrocknet, ich griff nach einem Glas Wasser und war so dankbar für den einen Schluck frisches Wasser und dachte: Wenn ich nur dort herumlaufen könnte, um einigen von den zu­ sammengepferchten Tausenden, die es am dringendsten brauchen, einen Schluck Wasser zu geben. Immer wieder überkommt mich dasselbe Gefühl: Ach, es ist doch alles nicht so schlimm, sei einfach ruhig, es ist nicht so schlimm. Wenn wieder

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einmal eine Frau oder ein hungriges Kind hinter einem unserer Registrie­ rungstische weinte, dann lief ich dorthin und stellte mich beschützend hinter sie, meine Arme vor der Brust verschränkt, lächelte ein wenig und sagte still in mir zu diesem zusammengesunkenen und erschütterten Häufchen Mensch: Es ist doch alles nicht so schlimm, es ist wirklich nicht so schlimm. Und ich blieb einfach stehen und war nur da, etwas tun konnte man ja nicht? Manchmal setzte ich mich neben jemanden hin und legte den Arm um eine Schulter, ich sagte nicht viel und blickte in die Gesichter. Es war mir nie etwas fremd, kein einziger Ausdruck mensch­ lichen Kummers. Alles kam mir so vertraut vor, als ob ich schon alles wüsste und alles früher schon einmal erlebt hätte. Manche sagen mir: «Du musst Nerven aus Stahl haben, dass du das aushalten kannst.» Ich glaube nicht, dass ich Nerven aus Stahl habe, sondern vielmehr sehr empfind­ liche, aber «aushalten» kann ich es trotzdem. Ich wage es, jedem Leiden direkt ins Auge zu blicken, ich habe keine Angst davor. Und am Ende eines jeden Tages war immer wieder dieses Gefühl da: Ich liebe die Menschen so sehr. Ich empfand nie Verbitterung über das, was ihnen angetan wurde, sondern immer Liebe für die Art und Weise, wie die Menschen die Dinge zu ertragen vermochten, trotzdem zu ertragen ver­ mochten, egal wie wenig sie innerlich darauf vorbereitet waren, etwas zu ertragen. Der blonde Max mit dem kahl geschorenen Kopf, auf dem zag­ haft ein leichter Flaum nachwuchs, und den sanften, blauen Träumer­ augen. Er wurde in Amersfoort dermaßen misshandelt,64 dass er nicht wei­ ter «auf Transport» konnte und in unserem Krankenhaus zurückblieb. Eines Abends erzählte er die ausführliche Geschichte seiner Misshand­ lungen. Andere werden später die Details zu Papier bringen, das ist vermutlich auch erforderlich, um die Geschichte dieser Zeit der Nachwelt vollständig zu überliefern. Ich habe kein Bedürfnis nach vielen Details – Am nächsten Tag [Freitag, 9. Oktober 1942]. Dann kam unerwartet Vater und es herrschte große Aufregung. «Süßliche Begine» und «Donquichotterie» und «Herr, mach mich nicht so begierig, dass ich verstanden werden will, sondern mache, dass ich verstehe». Es ist 11 Uhr morgens. Jopie müsste inzwischen in Westerbork ange­ kommen sein. Es kommt mir vor, als wäre jetzt ein Teil von mir dort. Ich habe mich heute Morgen schon wieder durch viel Ungeduld und Nieder­ geschlagenheit durchgerungen wegen der Rückenschmerzen und des

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schweren Gefühls in meinen Beinen, die so gerne in die Welt hinaus­ wandern würden, es aber noch nicht können. Wird schon wieder. Man sollte nicht so materialistisch sein. Und während ich hier liege, reise ich nicht auch durch die Welt? Durch mich hindurch fließen breite Flüsse und in mir erheben sich hohe Gebirge. Und hinter dem Gestrüpp meiner Unruhe und Verwirrun­ gen erstrecken sich die weiten Ebenen meiner Ruhe und Hingabe. Alle Landschaften sind in mir vorhanden. Es ist auch Platz da für sie alle. In mir ist die Erde und in mir ist auch der Himmel. Und dass Menschen so etwas wie die Hölle erfinden konnten, ist mir auch völlig verständlich. Die Hölle in mir selbst erlebe ich gar nicht mehr – ich habe sie früher für ein ganzes Leben im Voraus erlebt –, aber die Hölle der anderen kann ich sehr inten­ siv miterleben. Das muss auch so sein, man würde sonst vielleicht selbst­ gefällig werden. Und so paradox es vielleicht klingen mag: Wenn man es sich allzu hart­ näckig in den Kopf setzt, mit einem geliebten Mitmenschen körperlich zusammen zu sein, wenn man all seine Kraft in dieses Verlangen nach diesem Mitmenschen steckt, dann wird man ihm eigentlich nicht gerecht. Denn dann hat man keine Kraft mehr übrig, um wirklich mit ihm zu­ sammen zu sein. Ich werde wieder den heiligen Augustinus lesen. Er ist so streng und lei­ denschaftlich. Und so passioniert und voller Hingabe in seinen Liebes­ briefen65 an Gott. Eigentlich sind das die einzigen Liebesbriefe, die man schreiben sollte: Liebesbriefe an Gott. Ist es sehr hoffärtig von mir, wenn ich sage, dass ich viel zu viel Liebe in mir trage, um sie einem einzigen Menschen geben zu können? Ich finde den Gedanken ziemlich kindisch, dass man sein Leben lang nur e­ inen einzigen Menschen lieben sollte und niemand anderes. Darin steckt etwas ganz Armseliges und Dürftiges. Wird man auf Dauer lernen, dass die Liebe zum Menschen viel glückbringender und fruchttragender ist als die Liebe zum anderen Geschlecht, die der Gemeinschaft die Säfte raubt? Ich falte die Hände zu einer mir lieb gewordenen Gebärde und sage dir alberne und ernste Dinge durch die Dunkelheit und flehe einen Segen auf deinen ehrlichen, lieben Kopf herab, man könnte das alles zusammen in einem einzigen Wort «beten» nennen. Gute Nacht, mein Lieber!

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Samstagabend [10. Oktober 1942]. Ich glaube, ich kann alles in diesem Leben und in dieser Zeit tragen und verarbeiten. Und wenn mein Ungestüm zu groß ist und ich überhaupt kei­ nen Rat mehr weiß, dann bleiben mir immer noch zwei gefaltete Hände und ein gebeugtes Knie. Es ist eine Gebärde, die bei uns Juden nicht von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ich musste sie mühsam erlernen. Es ist mein kostbarstes Erbe von jenem Mann, dessen Namen ich schon fast vergessen habe, dessen bester Teil aber in mir weiterlebt. Was war das im Grunde für eine seltsame Geschichte von mir: Von dem Mädchen, das nicht knien konnte. Oder als Variation: Von dem Mädchen, das beten lernte. Es ist meine intimste Gebärde, intimer als jede Gebärde im Zusammensein mit einem Mann. Schließlich kann man doch nicht seine ganze Liebe über einem einzigen Menschen ausgießen? Sonntagnachmittag, 11. Oktober [1942]. Aus «Der Schauende»: Wie ist das klein, womit wir ringen, was mit uns ringt, wie ist das groß; ließen wir, ähnlicher den Dingen, uns so vom großen Sturm bezwingen, wir würden weit und namenlos. Was wir besiegen, ist das Kleine, und der Erfolg selbst macht uns klein.66

Dieses Gedicht endet mit den Worten: Sein Wachstum ist: Der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein.

Zwischen zwei Mittagsschläfchen. Dass es eine Substanz, oder wie auch immer ich es nennen sollte, in mir gibt, die ein Eigenleben führt und aus der man Dinge gestalten kann – dessen werde ich mir immer stärker bewusst. Aus dieser Substanz kann ich sehr viele Leben erschaffen, die alle aus mir gespeist werden. Ich verwalte diese Substanz noch lange nicht gut genug. Vielleicht habe ich noch zu wenig Vertrauen in ihr Eigenleben, in ihre eigenen Leben. Ich selbst habe

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nichts anderes zu bieten als den Raum, in dem sich diese Leben entfalten können, und ich selbst habe nichts anderes zu verleihen als die Hand, die die Feder führen wird, um diese Leben mit ihren eigenen Anschauungen und Erfahrungen aufzuzeichnen. [Montag] 12. 10. 42. Viele Eindrücke liegen wie funkelnde Steine auf dem dunklen Samt mei­ ner Erinnerung. Das Alter der Seele ist ein anderes als das Alter, das im Standesamt einge­ tragen ist. Ich glaube, dass die Seele bei der Geburt bereits ein bestimmtes Alter hat, das sich nicht mehr verändert. Man kann mit einer Seele gebo­ ren werden, die 12 Jahre alt ist, und wenn man 80 ist, ist diese Seele noch immer 12 Jahre alt und nicht älter. Man kann auch mit einer tausendjähri­ gen Seele geboren werden, und es gibt manchmal 12-jährige Kinder, denen man anmerkt, dass ihre Seele 1000 Jahre alt ist. Ich glaube, dass die Seele jener Teil des Menschen ist, der ihm am wenigsten bewusst ist, vor allem bei den Westeuropäern, ich meine, dass die Menschen im Osten viel stär­ ker ihre Seele «leben», die Menschen im Westen wissen eigentlich nicht wirklich, was sie damit anfangen sollen, und schämen sich für diese Seele, als wäre sie etwas Unsittliches. Seele ist wieder etwas anderes als das, was wir «Gemüt» nennen. Es gibt Menschen, die zwar viel «Gemüt» haben, aber nur wenig Seele. – Gestern erkundigte ich mich bei Maria67 über jemanden: «Ist sie intel­ ligent?» «Ja», antwortete Maria, «aber nur in ihrem Gehirn.» S. sagte immer über Tide: «Sie hat ‹seelische Intelligenz›.» Wenn S. und ich manchmal über unseren großen Altersunterschied spra­ chen, sagte er immer: «Wer sagt mir, daß Ihre Seele nicht älter ist als meine.» Manchmal lodert es plötzlich wieder in hellen Flammen in mir auf, von allen Seiten, wenn, wie jetzt, diese Freundschaft und dieser Mann und das vergangene Jahr in voller überwältigender und dankbarer Größe in mir aufsteigen. Und jetzt bin ich, was man krank und blutarm und mehr oder weniger

15. September 1942–13. Oktober 1942

bettlägerig nennt, und doch ist jede Minute randvoll und ertragreich; wie wird das erst sein, wenn ich wieder gesund bin? Ich muss es dir immer wieder aufs Neue zujubeln, mein Gott: Ich bin dir so dankbar, dass du mir so ein Leben schenken wolltest. Eine Seele ist etwas, das aus Feuer und Bergkristallen gemacht ist. Sie ist etwas sehr Strenges und alttestamentarisch Hartes, aber auch so sanft wie die Gebärde, mit der seine sanften Fingerspitzen manchmal meine Wim­ pern streichelten. abends. Und dann kommen wieder Augenblicke, in denen das Leben so entmuti­ gend und schwierig ist. Dann bin ich ungestüm und ruhelos und müde zugleich. Heute Nachmittag Momente sehr starken schöpferischen Er­ lebens. Und jetzt ein Zustand der Erschöpfung wie nach einem Samen­ erguss. Und jetzt habe ich nichts anderes zu tun als das: bewegungslos unter meinen Decken zu liegen und Geduld zu haben, bis die Mutlosigkeit und innere Auflösung in viele Richtungen von mir weichen. Früher habe ich in einem solchen Zustand verrückte Dinge getan: mit Freunden getrunken oder über Selbstmord nachgedacht oder nächtelang in Hunderten von Büchern herumgelesen. Man muss auch akzeptieren, dass man seine «unschöpferischen» Mo­ mente hat, je ehrlicher man dies akzeptiert, desto schneller ist ein solcher Moment vorbei. Man muss den Mut zu einer Pause haben. Man sollte es auch einmal wagen, leer und mutlos zu sein. – Gute Nacht, lieber Sand­ dorn. Früh am nächsten Morgen [Dienstag, 13. Oktober 1942]. Ich fuchtle mit einem kleinen Bleistift wild herum wie mit einer Sense, aber ich kann die vielen Auswüchse meines Geistes nicht niedermähen. «Manche Menschen trage ich wie Blütenknospen in mir und lasse sie in mir aufblühen. Andere trage ich wie Geschwüre in mir, so lange, bis sie aufplatzen und eitern.» (Frau Bierenhack68). «Vorwegnehmen». Ich kenne kein gutes niederländisches Wort dafür. So, wie ich jetzt hier seit gestern Abend liege, verarbeite ich ständig ein bisschen von dem vielen Leiden, das auf der ganzen Welt verarbeitet wer­ den muss. Ich bringe bestimmt schon einen Teil des Leidens des kommen­

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den Winters unter Dach und Fach. Man kann das sowieso nicht alles auf einmal schaffen. Es wird heute ein schwerer Tag für mich. Ich bleibe ein­ fach still liegen und «nehme» etwas von all den schweren Tagen «vorweg», die noch kommen werden. Wenn ich wegen der Wehrlosen leide, geht es dann nicht um das Wehr­ lose, das in mir selbst ist? Ich habe meinen Körper wie Brot gebrochen und ihn unter den Männern ausgeteilt. Warum auch nicht, sie waren ja so hungrig und hatten es schon so lange entbehrt? Er war der mächtige Stamm, um den sich unsere Frauenleben rankten. Immer wieder komme ich auf Rilke zurück. Es ist so sonderbar, er war ein zerbrechlicher Mann und schrieb viele seiner Werke innerhalb der Mauern gastfreundlicher Schlösser,69 und vielleicht wäre er unter Umständen wie denen, unter denen wir jetzt leben müssen, zugrunde gegangen. Aber zeugt es nicht von einer guten Ökonomie, dass sensible Künstler in ruhigen Zei­ ten und unter günstigen Umständen ungestört nach der schönsten und passendsten Form für ihre tiefsten Einsichten suchen können, an der sich Menschen, die in bewegteren und kräftezehrenderen Zeiten leben, auf­ richten können und in der sie eine sichere Zufluchtsstätte für ihre Verwir­ rungen und Fragen finden können, die sie selbst noch nicht in eine eigene Form bringen und lösen können, weil die tägliche Energie für die täg­ lichen Nöte beansprucht wird? In schweren Zeiten pflegt man gelegent­ lich mit einer verächtlichen Geste die geistigen Errungenschaften von Künstlern aus sogenannten leichteren Zeiten (Künstlersein ist ja an sich schon so schwierig?) über Bord zu werfen mit der bissigen Bemerkung: Was sollen wir denn jetzt damit anfangen? Das mag verständlich sein, aber es ist kurzsichtig. Und eine unendliche Verarmung. Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– man muss seine pausen wahrhaben wollen!!!70

BRIEFE 1941–1943

BRIEFE VON ETTY HILLESUM

Briefe von Etty 1941–1943 Hillesum

An Hans Lakmaker. Amsterdam. Undatiert; wahrscheinlich vor 1940. Hallo, Hans,1 «eine Atmosphäre schaffen» und «Geschirr spülen» sind zeitraubende Angelegenheiten. Statt selbst zu kommen, schicke ich dir darum eine kurze Notiz. Kommst du am komm. Mittwochabend zu Prof. Sinzheimer,2 Rubens­ str. 36, um 8 Uhr? Er gibt eine Einführung in Nietzsches «Wille zur Macht».3 Mit ihm hat man einen geeigneten Vortragenden gefunden, der Tee ist auch sehr ordentlich, und wenn du dich für große Männer interessierst: Konrad Heidin4 ist üblicherweise auch dort. Hoffentlich wächst dein Studiengeld? Vor einigen Tagen habe ich Hein v. Wijk5 gesprochen, der noch an Henriëtte Roland Holst6 und an noch jemanden geschrieben hat, aber ich habe dahingehend noch nichts gehört. Die Leute, die ich dann doch hin und wieder spreche, tun gerade so, als stünden sie alle kurz vor dem Ruin. Seeehr schlimm. Jetzt fällt mir nichts mehr ein. Tschüss! Etty Grüße an deine Eltern, und verzeih das unansehnliche Papier. Der Augen­ blick ist gerade günstig.

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Briefe von Etty Hillesum

An Julius Spier. Amsterdam. Undatiert; wahrscheinlich Dienstag, 5. August 1941. Dienstagabend. Ein halbes Jahr kenne ich Dich nun. Du komisches, Du liebes, Du schrecklicher Mensch, da bist Du nun in unser kleines Land hineingejagt von der Welt­ geschichte, da lebst Du in einer stillen Straße, in zwei kleinen Zimmern, die nur freundlich und schön sind, wenn Du da bist. Ein kolossaler Einbruch in das ­Leben verschiedener holländischer Frauen bist Du gewesen. Du lehrst uns: Die Liebe zu allem ist schöner als die Liebe zu Einem. Und das ist gut, daß Du uns dazu erziehst. Frauen streben ja nur immer zu dem Einen und nicht zu der Menschheit: Die wahre Frauenemanzipation muß ja erst noch anfangen. Viel­ leicht ist die Frau als Mensch noch gar nicht geboren. Weißt Du, Du hast mir viele Kräfte gegeben, Du kostest mich auch viele Kräfte. Innerlich setze ich mich fortwährend mit Dir auseinander, als Mensch und als Mann und wenn es mir letzten Endes gelingen wird ein wirklich klares Verhältnis zu Dir zu bekom­ men, dann wird zugleicherzeit auch viel geklärt sein in meinem Verhältnis zu allen Männern und zu der Menschheit. Ich wachse und reife durch die inner­ liche Auseinandersetzung mit Dir, aber manchmal ist es eine schwierige Sache, weißt Du? Du hast mal gesagt, ich sei für Dich eine Aufgabe, aber Du bist es für mich auch. Es ist gut daß Du da bist. Auf Wiederrrsschaun.

An Julius Spier. Fragment. Amsterdam. Undatiert; vermutlich Anfang August 1941. daß ich mich noch nicht ganz akzeptiere. O, ich muß noch sovieeeel lernen, noch soviel wachsen, noch soviel reifer werden, lieber Herrr Sjpièärrr, mein lie­ ber Herr Lehrer und Meister. Alles ist wieder so schwer in mir heute und ich möchte so gern leicht sein, und ich habe zwei Aspirin «gegessen», ich fühle mich wie eine zusammengeballte Faust. Am 13. März abends um 9 Uhr habe ich mich ganz anders gefühlt, hör nur:

Lieber Himmel, was bin ich früher doch für ein armes Ding gewesen im Vergleich zu jetzt. Ich muss mir das noch kurz vergegenwärtigen, denn bald wird es für mich der Normalzustand sein (– Was sagen Sie wohl zu

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ler Lebenskraft und glücklich, ohne «Überschwenglichkeit», beinahe sach­ lich glücklich. Es ist, als wären in meinem Inneren auf einer unermesslich weiten Fläche wilde Horden durcheinandergejagt, und die wären nun ge­ ordnet worden, durch eine starke Hand ordnend aufgestellt, und nun geht davon eine Kraft aus, eine ruhige Energie, etwas Sicheres und etwas Star­ kes; harmonisch, organisch, Selbstvertrauen, alles ist plötzlich da drinnen vorhanden. Kopfschmerzen und Müdigkeit sind weg, auch wenn ich noch nicht das bin, was man einen Muskelprotz nennt. Früher fürchtete ich je­ den Moment, dass meine Kräfte mich im Stich lassen würden, und dann ließen sie mich natürlich auch im Stich; nun denke ich darüber nicht mehr nach, und die Kräfte erneuern sich für jede kleine Aufgabe, die ich auf mich nehme, wieder von selbst. Es ist eine Art Wunder mit mir ge­ schehen. Und ich denke mit einer ruhigen, tiefen Liebe, die nicht erotisch und keine Verliebtheit ist, an den Menschen S.7 Ich war doch auch noch einen Abend als Objekt in Deinem Montagabendkurs, wo ich mich so verrückt benommen habe. Das war noch in der Zeit, wo Du mich fortwährend bedrohtest mit Deinem Gesicht, Deinem Körper, wo ich Dich jedesmal mit Gewalt aus meinen Gedanken und Phantasien fortstoßen mußte, weil ich sonst nicht arbeiten konnte. Da hinter meinem Bureau haben dann manchmal Poesjkin oder Lermontow oder sonst irgendein Russe und Du ­verzweifelte Feldschläge in mir geliefert. Ich wollte mich mit einem Russen beschäftigen, aber Du kamst fortwährend dazwischen, «Du frecher Hund» (Ich bitte sofort tausend Mal um Entschuldigung). Also Montagabend war ich da und Dienstagmorgen um halb 11 hörte ich plötzlich mit der Arbeit auf und schrieb:

Man bekommt nichts umsonst. Schwere innerliche Anstrengung. Hin­ ter Lermontow taucht immerzu das graue Gesicht voller Furchen von S. auf, wie er da gestern am Tisch saß, in sich selbst versunken, zusammen­ geballte Kraft, der kluge Blick schaute aus der warmen Kraft nach draußen, aus dieser in sich geschlossenen, fesselnden Welt, die er selbst ist. Hm, hm, wie schön formuliert, aber ich schreibe es einfach auf, so wie es zufällig aus meinem Stift kommt, scheint mir das Beste. Und das ist es

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Briefe von Etty Hillesum

An Julius Spier. Fragment. Amsterdam. Dienstag, 26. August 1941. irgend einen Abdruck mit mir durchstudieren? Und kann ich gelegentlich mal das Tagebuch der Juliana lesen? Ich möchte mal genau sehen, wie so ein Pro­ zeß während einer Behandlung von Dir bei einem durchschnitts-bürger-­ Mädchen (das ist nicht denigrierend gemeint) vor sich geht. Und was wollte ich 8

noch mehr sagen? Ich habe Papier gekauft, Robert ist sehr ruhig die letzte Zeit, bin noch nicht bei Nethes gewesen, habe nur telephoniert mit ihnen, ich 9

gehe diese Woche noch hin. Von dem Brief der Gelderen haben sie nichts ge­ sagt durchs Telephon, wohl, daß sie einen Brief von Dir erhalten haben. Heute­ morgen habe ich mein «Persoonsbewijs»

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geholt. Es steht ein großes J. dar­

auf, eine zivilisiertere Form des gelben Flecks, wodurch wir in alten Zeiten unser Judentum nach außen demonstrieren mussten.

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Na gut, genug jetzt. Ich muß nur noch eines sagen: Ich finde, daß wir das letzte halbe Jahr sehr viel zusammen erlebt haben, finden Sie das auch? Bis später

An Hanneke Starreveld. Amsterdam. Undatiert; nach 1941. Freitagnachmittag. Sag, Hanneke,12 du nimmst es mir doch nicht übel? Ich möchte dir noch einige Dinge sagen. Und bitte achte mehr auf die gute Absicht als auf die praktische Umsetzung – ich weiß gar nicht genau, wie ich es sagen soll. Ich kenne von dir ein so viel entspannteres und glücklicheres Gesicht als das, was ich die letzten Male an dir gesehen habe, dass es mir ein ehrliches und großes Bedürfnis ist, mit dir zu reden. Ich denke manchmal, dass du wieder auf dem falschen Weg bist. Wie soll ich diese großen Worte aber verantworten? Vielleicht drücke ich mich übertrieben aus, wenn ich sage, dass du an einem Nachmittag wie heute aussiehst, als würdest du dich ständig an etwas stoßen, an etwas, was dir Schmerzen bereitet. Du siehst dann aus, als würdest du die ganze Zeit krampfhaft etwas suchen, es aber nicht finden können (wobei du es wahrscheinlich inzwischen schon längst gefunden hast), nein, du siehst dann nicht besonders glücklich aus – und

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dabei kenne ich ein ganz anderes Gesicht von dir. Darum habe ich doch schließlich auch dieses Bedürfnis, dir zu schreiben? Ein Außenstehender, der dich heute Nachmittag gesehen hätte, würde sicher zu mir sagen: Was willst du eigentlich, das ist doch eine lebhafte junge Frau, die mit ihrem kleinen Sohn13 spazieren geht und Gedichte mag, warum sollte die un­ glücklich sein? Sofort nach deinem Aufbruch schoss das Folgende in meiner unleser­ lichen Kritzelschrift aus meinem Füller – jetzt, wo ich es noch einmal lese, finde ich es ganz eindeutig nicht treffend formuliert, aber die Absicht ist gut zu erkennen, und darum geht es doch: «Hinter diesem ‹Weiterwach­ senwollen› von Hanneke steckt eine so große Antriebskraft und ein so großer Ehrgeiz. – Es geht nicht darum, so schnell wie möglich weiterzu­ wachsen, sondern darum, sich langsam zu entfalten. Ich glaube nicht, dass der Höhepunkt oder die Vollendung einer Person direkt vor ihr liegt. Man hat das manchmal, mitten im Leben oder in der Jugend, erlebt, und man hat es verpasst. Und weiterwachsen, heißt das nicht versuchen, sich in seinen eigenen besten Augenblicken zu verwirklichen? Man schaut nach vorn, aber sollte man manchmal nicht eher zurück und nach innen schauen?» Ich denke manchmal, Hanneke, dass du durch eine Art Ehrgeiz, des­ sen Wurzeln ich nicht kenne, oft deine eigenen besten und tiefsten Au­ genblicke verpasst und einen großen Teil echten Lebensglücks verspielst. Ich denke manchmal, dass du von der Vorstellung besessen bist, dir geis­ tige Gewinne zu sichern (durch neue Ideen, Bücher und Vorträge), wäh­ rend du, wenn du nur einmal kurz geduldig dem lauschen würdest, was sich in deinem Inneren abspielt, erleben würdest, dass du innerlich viel weiter bist, als du gerade selbst vermutest. (Ich wünschte nur, ich könnte in zehn Jahren diese Dinge genauso einfach sagen, wie ich sie jetzt er­ lebe.) Versteh mich nicht falsch, Hanneke, ich werde nie behaupten, dass man keine Bücher lesen oder neue Einsichten zu gewinnen versuchen soll, aber ich denke manchmal, dass du es mit einer Einstellung tust, die dei­ nem persönlichen Wachstum eigentlich mehr im Weg steht, als es zu för­ dern, wodurch du in der Tiefe deines Wesens doch unbefriedigt bleiben musst. Ich kenne das doch so gut von mir selbst, von früher? Wenn ich dieses spontane Briefchen jetzt beende, dann geschieht das in einem Augenblick, in dem ich eigentlich erst anfangen müsste, aber für heute belasse ich es

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trotzdem hierbei. Du bist mehr als einfach nur irgendeine Besucherin für mich, und es beschäftigt mich so sehr, wenn ich zu spüren glaube, dass du nicht in dir selbst «ruhst», obwohl das doch genau das ist, wonach wir streben? Deshalb: Achte bitte nur auf das, was ich sagen will, und das ver­ stehst du auch, nicht wahr? In Freundschaft Und wenn ich ganz und gar danebenliege, dann verzeih deiner Etty

An Aimé van Santen. Amsterdam. 25. Januar 1942. Amsterdam, 25. Januar 1942. Sonntagmorgen, 8 Uhr.

Guten Morgen, Aimé! Dieses schlampige und einigermaßen wilde Stenogramm habe ich jetzt endlich ausgearbeitet. Es ist ein kostbares Zeugnis. Nutze es zu deinem Vorteil. Was dieser Mann sagt, nach dreißigjähriger Erfahrung, darauf kannst du Gift nehmen (entschuldige die nicht gerade feine Ausdrucks­ weise). Schön, dass du da warst. Mit deinem Rucksack, deiner kaputten Sohle und einer Mappe voller Gedichte. Mir bleibt von diesem letzten Mal eine gute Erinnerung an dich. Es war, als wäre die nervöse und unruhige Maske der vergangenen Male von dir abgefallen, und ein beruhigtes und reiferes Gesicht kam zum Vorschein. Und mir war auch, als wären eine ganze Menge kindischer Verhaltensweisen von dir abgefallen. Während der letzten Male in Leiden, als ich mit dir sprach, hast du ständig mit deinem Schicksal gegrollt, manchmal auf beinahe komischkindliche Weise. Du hast gerade so getan, als wäre van Wijk nur gestorben, um dich zu ärgern. Und du fühltest dich so sehr vom Leben misshandelt und ins Unrecht gesetzt, dass du das Recht zu haben glaubtest, alles einfach so seinen Gang gehen zu lassen. Und so weiter. Und das war nun alles weg. Und was deine Gedichte angeht: Am Abend, als ich mir Rechenschaft über den Tag ablegte, hatte ich das Gefühl, etwas Besonderes und etwas Gutes erlebt zu haben. Verschiedene Sätze sind mir noch lange durch den Kopf gegangen. Wie komme ich an den Zar Saltan?14 Eine kleine Gruppe, der du deine Gedichte vorlesen könntest, ist mir noch nicht eingefallen.

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Ich spreche auch mit zu wenig Leuten, als dass ich eine solche Gruppe zusammenbekommen könnte. Aber irgendwann kommt es schon noch dazu. Ich habe ein altes Tagebuch15 ausgegraben, das aus der Zeit meiner ers­ ten Besuche bei Spier stammt. Verschiedene Aussprüche von ihm habe ich darin festgehalten, und die marschieren da über die Seiten, genauso sicher und «in sich ruhend», wie es der Mann selbst ist. Ich übernehme ein paar davon für dich, um dieses Protokoll zu ergänzen. «Depressionen sind, wenn sie nicht konstitutionell bedingt sind, vom Unbe­ wußten eingelegte Pausen des zu angestrengten Tagesbewußtsein, und sie müssen daher vom Unbewußten her wieder abklingen; deswegen ist es not­ wendig, daß man diese Pausen passiv abklingen läßt.»

Das Wort «abklingen» ist für mich damals so etwas wie eine erlösende Formel gewesen. «Pessimistische Depressionen sind als schöpferische Pausen zu betrachten, in denen sich die Kräfte wieder herstellen. Wenn man sich hiervon bewußt ist, so werden die Depressionen schneller vorüber gehen. Man soll sich nie deprimiert fühlen über eine Depression.» «Wenn ein Mensch Zentrum hat, so finden alle Eindrücke von Außen dort einen Halt (müssen dort halt machen). Wer kein Zentrum hat, unsicher ist, läßt sich von jedem Eindruck aus dem Gleichgewicht bringen, wird stets unsicherer, während das Zentrum des ersteren sich bei jedem Eindruck stets mehr bewahrt.» «Der in sich ruhende Mensch rechnet nicht mit Zeit. Entwicklung darf nicht mit Zeiten rechnen.» «Wenn man meint, man empfänge nicht genug Anerkennung vom Andern, so ist man eben an ihn gebunden und durch diese Bindung unselbständig. Je ­weniger man erwartet, um so mehr empfängt man.»

Hast du noch ein wenig Geduld? Ich finde immer wieder noch etwas, was mich berührt und was ich dann unbedingt abtippen muss. «Das, was man von andern, als von außen erwartet, hat man unbewußt in sich. Statt es von außen zu erwarten, soll man es in sich entwickeln, indem

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Briefe von Etty Hillesum man es in sich bewußt macht. Die Seele ist nicht zeitgebunden, sie ist ewig. Man soll sich in sie vertiefen, sie ins Bewußtsein heben, d. h. sich entwickeln.» «Der Mensch kriegt seine Seele in Verwaltung (Siehe auch: 2 Korinther, 5:5) und soll sie gut verwalten; aus seinen Seelenkräften leben, beseelt sein.» «Sich ärgern und unzufrieden sein ist unproduktiv; wirklich leiden um etwas ist produktiv und zwar deswegen, weil in der Unzufriedenheit, in dem sich ärgern eine aktive Passivität liegt und in dem wirklichen Leiden eine passive Aktivität. Die aktive Passivität der Unzufriedenheit liegt darin, daß ein Widerstand, eine Auflehnung gegen etwas Unabänderliches geleistet wird, der die übrigen Kräfte des Menschen lahm legt. Die passive Aktivität beim richtigen Leiden besteht darin, daß etwas Unabänderliches ertragen und akzeptiert wird und gerade dadurch neue Kräfte frei werden.»

Und dazu habe ich geschrieben: Früher hätte ich das vielleicht für eine sehr schöne, lesenswerte Geschichte gehalten. Aber das Merkwürdige und das Wichtige ist jetzt, dass diese Worte tatsächlich aus meinem Kopf in meinem Herzen, im Bewusstsein oder Gott weiß wo gelandet sind, auf jeden Fall dort, wo sie mit mir mit atmen und ein Stück meiner selbst ge­ worden sind. Und es ist fast überwältigend und noch immer eine Quelle des erstaunten Entzückens für mich, wie viele Kräfte in mir frei geworden sind und noch immer frei werden. Der Prozess, den ich in diesem letzten Jahr durchlaufen habe, ist eigentlich so einfach, aber ich glaube, dass er für das ganze weitere Leben ausschlag­ gebend ist. Der Kosmos ist aus meinem Kopf in mein Herz umgezogen, oder meinetwegen ins Zwerchfell, jedenfalls aus meinem Kopf in eine an­ dere Region. Und als Gott einmal in mir seine Wohnung genommen hatte und dort eingezogen war, wo er nun noch immer wohnt, ja, da hatte ich plötzlich keine Kopfschmerzen und keine Magenschmerzen mehr! Und jetzt bediene ich mich schon wieder der Worte eines anderen, diesmal C. G. Jung:16 «… Auch ‹Gott› in diesem Sinne ist eine Theorie, eine Anschau­ ung, ein Bild, das der menschliche Geist in seiner Beschränktheit sich erschafft, um ein unausdenkbares, unaussprechbares Erlebnis auszudrücken. Das Erleb­ nis ist das einzig Wirkliche, das nicht Wegzudisputierende. Bilder aber können beschmutzt und zerrissen werden» …

Und jetzt kann ich wegen meiner kalten Finger nicht weitertippen.

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Dass es 8 Uhr am Sonntagmorgen ist, steht nicht um des literarischen Effekts willen über diesem Brief, sondern weil ich in aller Frühe mit einem Gefühl aufgewacht bin: Jetzt oder nie, wenn ich diesem Mann in Leiden jetzt nicht schreibe, wird die ganze Woche nichts daraus. Hast du es dort ein bisschen warm? Du sitzt doch bitte nicht die ganze Zeit in einem ­kalten Zimmer? Ich hoffe, dass wir einander in nicht allzu unabsehbarer Zeit wieder sprechen; wir haben voneinander noch eine ganze Menge zu lernen, glaube ich. Leider ist es um die Gastfreundschaft in diesem Haus im Augenblick traurig bestellt, ich kann dich zu meinem Bedauern nicht hierher einladen. Es ist nun einmal nicht meine eigene Wohnung. Später, wenn ich eine eigene Wohnung habe, wird dort immer ein Plätzchen für dich reserviert sein, aber das ist nur eine vage Wiedergutmachung für den Augenblick. Lieber Aimé, lass es dir weiterhin gut gehen, und auf Wieder­ sehen.

An Hans Lakmaker. Amsterdam. 25. Januar 1942. Sonntagmorgen, 25. Jan. 1942. Lieber Hans! Das war seit Langem wieder einmal eine aufmunternde Nachricht in der unerfreulichen Zeitung unserer Zeit: die Mitteilung darüber, dass du dein Examen bestanden hast. Ich erlebe aus der Ferne alles mit dir mit, mein Guter. Werde ich denn bald Details darüber erfahren, wie das Exa­ men war und wie es jetzt mit dir weitergeht?17 Bitte gratuliere doch auch deinen Eltern in meinem Namen. Deinem Vater18 gegenüber habe ich ein schlechtes Gewissen. Es ist noch immer nicht zu einem Besuch bei ihm gekommen, ich habe so wahnsinnig viel zu tun zurzeit, aber ich gehe bestimmt irgendwann einmal auf einen Schwatz zu ihm. Jetzt empfindest du sicher ein Gefühl der Befriedigung? Gern bis bald. Tschüss! Etty

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An Gera Bongers. Amsterdam. Freitag, 6. Februar 1942. Amsterdam, 6. Februar 1942. Freitagmorgen, halb 10. Siehst du, Geertje, da sitze ich jetzt also an meiner Schreibmaschine, und es müssen schon weltbewegende Dinge geschehen, um mich hier wegzu­ jagen, bevor jetzt endlich einmal ein Brief an dich fertiggeschrieben ist. Wenn ich im Augenblick gegenüber irgendjemandem ein schlechtes Ge­ wissen habe, dann bist du das. Es hatte bereits so eine traurige Legenden­ bildung um dich arme Kranke begonnen: Du lagst in einem eiskalten Zimmer und hattest Abszesse am ganzen Körper, sodass du dich beinahe nicht bewegen konntest, und dann warst du auch noch durch den ganzen Schnee so unerreichbar. Ich hatte schon mehrere Male vor, zu dir zu eilen, aber immer wieder kam etwas dazwischen, sodass es doch nicht ging. Dank Loes haben wir jetzt zumindest eine etwas bessere Vorstellung von deinem Zustand. Wir wissen, dass es noch freundliche Nachbarn gibt, die ein paar Kohlen übrig haben, und dass eine Gemeindekrankenschwester kommt und dass du deinen Arm wieder bewegen kannst und dass Bloe­ mendaal bis obenhin voller Bekannter ist. Was ist denn da plötzlich alles mit dir los? Sobald die Steppen und Puszten etwas begehbarer werden und mein Kopf nicht mehr so verstopft ist, komme ich ganz bestimmt und schaue nach dir. Ja, was soll ich dir nun erzählen? Weißt du, dass ich am Dienstag, dem 3. Februar, meinen ersten Geburtstag gefeiert habe? Genau vor einem Jahr, am 3. Februar 1941, wurde ich nämlich zur Welt gebracht, von einem un­ heimlichen Kerl in einer grünen Pluderhose und mit einer Antenne auf dem Kopf und von einer kraushaarigen, jungenhaften jungen Frau, die, wie sich später herausstellte, Adri Holm hieß. Und am Dienstag war ich also ein Jahr alt und ich bin, auch wenn ich das selbst sage, ein sehr glück­ liches Baby; ich kann schon ganz allein laufen. Und ich kann auch schon Lachs essen, aber das gehört woanders hin, darüber gleich mehr. Wir ­haben diesen Geburtstag wirklich herrlich gefeiert, mein geistiger Papa, seine enthusiastische «Schülerin» und ich, und ich werde versuchen, dir einen kleinen Bericht davon zu geben. Um halb neun Uhr morgens saß ich auf dem Fahrrad und bin durch den ganzen Schnee und die Kälte (13 Grad minus) in die mir nur zu gut bekannte freundliche Straße durchgebrochen, bewaffnet mit einem Strauß

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roter und gelber Tulpen und mit einem großen gelben Umschlag, in dem sich meine «Jahresbeichte» befand, unter Blut und Tränen in Schönschrift auf 15 Notizblockblättern festgehalten. Damit habe ich seinen Frühstücks­ tisch geschmückt und bin dann wieder heimlich verschwunden, damit Ome ungestört in seinem morgendlichen Sinnieren versunken bleiben konnte. Um 11 Uhr kam ich zurück, diesmal als Objekt, und rief mit der glei­ chen schüchternen Stimme von vor genau einem Jahr nach oben: Hier ist das Objekt für Herrn Spiehier?! Und Adri brüllte in ihrem männlich-kräf­ tigen Ton nach unten: Kommen Sie nur nach oben! Und als ich oben war, ganz sachlich: Es ist nicht üblich, dass man sich hier einander vorstellt. Und dann betrat ich, genauso beklommen und bedröppelt wie im vergan­ genen Jahr, im selben Wollkleid, die beiden kleinen Zimmer, die so klos­ terartig und gemütlich zugleich sind. Und dann erschien der Chirologe, in derselben grünen Pluderhose, durch die er mir schon im vergangenen Jahr so rätselhaft vorkam, auch wenn das im Übrigen nicht nur an dieser Hose gelegen hat. Und dann wieder dieses Zeremoniell der schwarzen Tinte und des Butterbrotpapiers, bei dem ich mich natürlich wieder genauso ungeschickt und erstaunt zeigte. Und dann: Halten Sie die Hände jetzt mal ganz locker, und darauf folgte eine äußerst interessante Analyse von an­ derthalb Stunden, bei der Spier selbst zu zwei neuen Entdeckungen und Formulierungen gelangte, aber das ist zu kompliziert zum Aufschreiben, das erzähle ich dir bei Gelegenheit mündlich. Ein paar lustige Dinge: Mein linker Daumen ist nicht mehr undynamisch, die Schicksalslinie ist kräftig geworden und beginnt jetzt langsam der «Berufslinie» zu weichen, und all die kleinen Dramen aus meinem «Milieuraum» sind verschwun­ den.19 Wir haben den neuen Abdruck neben den vom letzten Jahr gelegt, und es war wirklich spannend, die Veränderungen in der Landschaft wahr­ zunehmen. Es war eine wunderbar angenehme Sitzung, die sich zwischen kindlicher Ausgelassenheit und wissenschaftlichem Ernst bewegte. Im ­einen Augenblick taten wir gerade so, als würden wir einander zum ersten Mal begegnen, und im nächsten holten wir gemeinsame Erinnerungen aus dem letzten Jahr hervor. Es ist alles sehr bemerkenswert; ich schrieb an diesem Tag u. a. Folgendes an Adri: Ich kam da letztes Jahr so durch Zufall und voller Sensationslust in die beiden kleinen Zimmer und verbrachte dort diese eine Stunde; das wurde der erste Anlauf zu einem Jahr, das sich zum reichsten und fruchtbarsten meines bisherigen Lebens entwickeln sollte. Ich habe noch vergessen, Bernard an diesem Tag Blumen zu schicken,

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denn der war in seiner Unschuld derjenige, der uns zusammengebracht hat. Nun ja, und so weiter und so fort. Wir haben an diesem Tag nicht nur von Erinnerungen gelebt, es gab auch substanziellere Herrlichkeiten. Unser guter Mann hatte seine letzte Dose Lachs und seine letzte Flasche echte Mayonnaise geöffnet, und Adri erschien mit ein paar Marmeladengläsern voller Müsli, und Frau Nethe mit einem Topf voller echtem Tee, und alles zusammen schmeckte so, dass es einen Menschen mit Gottesfurcht erfüllen musste, sofern er die noch nicht besaß. Und nach dem Lunch lehnte Adri ihren schafswollenen Kopf an meine blauwollene Schulter, und wir teilten uns schwesterlich Onkel’s terrakottafarbenen Ruheplatz und ihre Erkältungsbazillen. (Letzteres wurde zu einem der Gründe, warum ich dich immer noch nicht besucht habe.) Dann machte Ome ein Nickerchen, und Adri und ich gingen in Dickys Zimmer. Und als hätte das Schicksal selbst begriffen, dass an ­diesem Tag etwas Besonderes vor sich ging, sagten mehr oder weniger all seine Schüler und Patienten telefonisch ab. Adri ging um halb vier mit ­ihrer erkälteten Grog-Stimme zum Singen, und ich ging wieder nach ­unten, diesmal in der Funktion einer Sekretärin. Um 6 Uhr bin ich mit zu einer berühmten Adresse zum Essen gegangen, was so dermaßen gut war, dass die Seele davon Schaden nähme, wenn man jeden Tag so äße; man fühlte sich dort so schrecklich «erdgebunden», und ich sagte zu Spier, dass ich meinem Tagebuch eine Extrabeilage hinzufügen würde, in der für spä­ tere Generationen verzeichnet stünde, was wir an diesem Tag alles ge­ gessen hatten. Oh, eine historische Zeit! Und genau um zehn vor halb 8 machte ich mich zum dritten Mal, und nun zum letzten Mal an diesem Tag, aus der Courbetstraat auf. Und durch eine fantastische und unvergessliche Schneelandschaft watete ich nach Hause und kam genau 5 Minuten nach der vorgeschriebenen Zeit dort an. (Du weißt doch, dass wir wieder unartig waren und um 8 Uhr drinnen sein müssen. Und ehrlich gesagt: Das hat auch seine guten Seiten.) Siehst du, meine Kleine, jetzt ist diese Geschichte vorbei, ich hoffe, ich habe dich ein klein wenig für den verschobenen Besuch schadlos gehalten. Sobald dein Zustand das erlaubt, musst du wirklich ein paar Worte von dir hören lassen.

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An Klaas Kort. Amsterdam. Februar 1942 Амстердам, среда, ? февраля ’42. Многоуважаемый господин Корт,20 Очень жаль! Я думала, что мой друг21 имеет ещё много табаку, я спрашивала его, но теперь он ничего не имеет. Он всё отдавал (?). Действительно, очень жаль. Если Вы опять будете здесь мы ещё поговорим об этом. С совершенным почтением и до свидания Э. Гиллесум.22

Kalverstraat Links vom Munt Moderne23

An Julius Spier. Amsterdam. Donnerstag, 16. April 1942. 16 April 1942. Was mir zufällig über das Gespräch mit Mischa, anläßlich Ihres Briefes

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ein­

fällt: Psychologen sind meistens keine Menschenkenner, sie haben eine Theorie und die wenden Sie auf den Menschen an. Du mußt Spier mal erzählen, was für eine Selbstüberwindung es mich kos­ tet so einen Abend zu geben. Er fühlt sich ganz «ausgefressen» durch seine Krankheit und meint, daß auch die vielen Injektionen sehr viel von seiner ­Lebenskraft zerstört haben. Er hat ein Gefühl einige Jahre seines Lebens ver­ loren zu haben und meint die jetzt nachholen zu müssen, er fühlt sich beraubt von einigen kostbaren Jahren, er kann die Krankheit nirgends einordnen. Er möchte mal von einem «Fachmann» hören, wie es jetzt eigentlich mit ihm ist,

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Briefe von Etty Hillesum ob er jetzt wieder so «normal» ist, wie er es vor seiner Krankheit gewesen ist. Er möchte wissen, wie so eine Krankheit entstanden ist und warum gerade ér das mitzuschleppen bekommen hat. Ich sage ihm, daß die Ärzte das auch nicht wis­ sen und daß man letzten Endes das Leben doch akzeptieren muß, mit Krankhei­ ten und allem, was dazu gehört und daß man dann nòch Gott danken muß für dieses schöne Leben. Da schaute er mich plötzlich überrascht und erstaunt an bei diesen für ihn vielleicht neuen Lauten. Er sagte noch: Wenn ich nun mal wéiß, wie so eine Krankheit beschaffen ist und warum ich sie bekommen habe, dann wird mir doch schon viel geholfen sein. Ich sagte ihm, daß es gar nicht auf das Wissen ankommt, doch letzten Endes doch auf den Glauben an dieses ­Leben. Hierzu sagte er etwas ziemlich zynisches, was aber gar nicht zutraf, so ungefähr: Ja, dann kommt man so in einer Mentalität von: ach, wie herrlich weit haben wir Menschen es doch gebracht. Nein, sagte ich darauf, diese Mentalität bekommt man gerade durch das viel zu hoch Taxieren des Wissens. Es ist nicht so schön, wenn man aus einer Irrenanstalt entlassen wird mit den Worten: Jetzt mußt Du in Zukunft ruhig leben, sonst wirst Du wieder krank. Und ich sagte ganz entrüstet darauf: Daß man einen jungen Menschen so fort­ schickt, so ohne Liebe und Hilfe! Da guckte er mich ganz betroffen an und sagte: Ja … Und jetzt weiß er nicht mehr: bin ich gesund, bin ich krank, lebe ich ruhig genug, werde ich vielleicht auch wieder krank: ihm fehlt jeder Maßstab. Er schlägt sich herum mit dieser seiner Krankheit und möchte von einem «Fachmann» hören, was eigentlich mit ihm los ist. Ja, sagt er, als ich über Sie spreche: Spier behandelt nur Gesunde, ich aber habe eine Krankheit mit be­ stimmten Erscheinungen und ich möchte wissen wie das ist. Und dann wird er schwer bedrückt von der Vorstellung von allen diesen unglücklichen Menschen in den überfüllten Irrenhäusern. Dies läßt ihn oft nicht in Ruhe, sagt er. Er ist leer, ganz leer, er hoffte: vielleicht wird der Frühling daran etwas än­ dern. Alles von außen erwarten. Als ich nochmals über Sie sprach, sagte er: ein Mensch muß das doch alles allein machen. Und immer wieder: ein anderer kann gar nicht verstehen was ich alles gelit­ ten habe, ich habe gelitten für hundert Leben zugleich. Er sieht sich noch wohl sehr isoliert von allen und allem. Hat eine große Angst katalogisiert zu werden und dadurch doch nicht verstanden zu werden. Sagte zuletzt: Darum bin ich auch nicht zu Spier gegangen, weil ich Angst habe, er hat auch eine Karthotek in seinem Kopf und sagt: O ja, der Mischa, das ist so und so ein Fall, das habe ich damals auch in meiner Praxis gehabt usw. … Aber was mich so riesig ge­

1941–1943 freut hat: es war ein fühlbarer Kontakt zwischen ihm und Ihnen. Er sagte sehr nachdrücklich zum Schluß: Du kannst Spier mal erzählen, was ich Dir gesagt habe und grüße ihn. Sein Brief hat sehr viel wieder in mir aufgewühlt und das ist vielleicht mal gut. Aber ich kann nicht so schnell darauf reagieren. Ich muß das alles verarbeiten, aber es tut mir sehr gut, wenn er mir schreibt. So fest­ umrissen hat er sich noch nie ausgedrückt. Noch ein kleines Detail: Über ­meinem Schreibtisch hängt ein Bild von Ihnen, dahin hat er während unseres Gespräches sich fortwährend umgeschaut. Noch dieses: er sagte: weil ich mich so leer fühle, spiele ich virtuos, weil ich das eben auch kann, aber das will ich doch gar nicht. In Widerspruch hiermit war Folgendes: Ich sagte ihm, daß er seine Krankheit doch auch als etwas ­Positives sehen könnte, doch auch als Quelle seiner ganz besonderen Kunst, es sei doch nicht umsonst daß die Leute hinter ihm her gingen, als sei er der «Rattenfänger von Hameln». Ja, sagt er, das finde ich auch so schrecklich. So in der Art von: Sie genießen mein Leiden. Und dann: ich bin so «nüchtern» ­geworden die letzte Zeit, aber das ist eigentlich gar nicht schön. Wenn mich etwas freut, sage ich mir sofort: Na ja, paß auf, Du kannst wieder krank wer­ den. Und auch: Ich lebe so unsystematisch, ich versuche nüchterner zu leben, aber dabei geht meine ganze Phantasie verloren, die ich doch eben auch brau­ che bei meiner Kunst. Usw., usw. Ein Urwald. Alles durcheinandergeschmis­ sen. Ein unglücklicher, suchender Kerl, der sich mit seiner uneingeordneten Krankheit herumschlägt und nicht weiß wo ein und wo aus. Es kam mir vor, als sei er die letzte Zeit wieder sehr gereift und vertieft und auch aufgeschlosse­ ner. Ihm muß geholfen werden, und ich glaube, Sie sind auf dem guten Wege mit ihm. Hier ist wirklich menschenrettendes Werk zu tun. Und bei alledem ist er ein so furchtbar lieber und warmherziger Kerl mit einer Weite und einer Breite, die doch nur die Russen haben. Aber ein Chaos, wovor ein Laie und auch der mittelmäßige Arzt, völlig machtlos steht.

An Netty van der Hof. Fragment (?). Amsterdam. Donnerstag, 25. Juni 1942. Amsterdam, 25. Juni 1942. Es gibt solche netten Überraschungen im Leben, Annette! Wir haben zu­ sammen mehr als einmal Musik gehört, unsere Wege kreuzen sich hin und wieder in diesen beiden kleinen Zimmern in der Courbetstraat, wir sind

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sogar schon einmal zusammen durch einen Wald gegangen, da in Zeist, erinnerst du dich noch? Und wir kannten voneinander schon hier und da ein kurzes Fragment aus der Geschichte der anderen und aus eigenen zu­ fälligen und unvollständigen Eindrücken. Aber wirklich kennengelernt hatten wir einander trotzdem noch nicht. Und jetzt ist da plötzlich auf ein paar Blättern Papier, in einer ordentlichen und offenen Handschrift, ein kompletter Mensch in meinen Briefkasten gerutscht.25 Angenehm, end­ lich deine Bekanntschaft zu machen, Annette v. d. Hof! Ja, was soll ich dir nun eigentlich erzählen? Ich habe viel «Lust und Zeit (und immer noch mehr Lust als Zeit), auf dein Gestammel einzu­ gehen». Ich hatte in den letzten Wochen schon so ein schlechtes Gewissen dir gegenüber, weil ich noch immer keine Zeit für einen Dialog mit dir hatte finden können, das lag aber auch viel an körperlichem Unvermögen. Es war eine Zeit lang gerade so, als hätte ich Holzwürmer oder die Motten oder Gott weiß was dort in den Gefilden südlich meines Zwerchfells, aber dank der Tropfen eines homöopathischen Arztes26 sind die Tierchen schon zu einem großen Teil weggespült und ich komme langsam wieder in den vollen Besitz meiner Kräfte. Und nach diesem lebendigen Bericht über meine sterbliche Hülle werde ich versuchen, deinen netten und ernsten Brief so gut wie möglich zu beantworten. Und ohne allzu viele Umstände springe ich direkt auf einen Satz los, der mich verführerisch anschaut: was ich für das Bezeichnende an Spiers Arbeitsweise halte. (Erst muss ich zwischen zwei Klammern noch etwas loswerden. Ich frage mich, in welchem inspirierten Moment deines L ­ ebens 27 du dir den poetischen Begriff «Ome» ausgedacht hast. Ich habe einen sehr nachgiebigen Charakter, sozusagen bis zum Sanftmütigen, aber gegen diese selten geschmacklose Bezeichnung lehne ich mich auf. Sag doch mal zehnmal hintereinander laut «Ome», dann bekommst du einen ekligen Geschmack im Mund. Vielleicht denken wir uns in einem Moment der dichterischen Inspiration einmal etwas Passenderes aus?) Ja, und jetzt könnte ich immer weiter hier sitzen und jahrelang (das ist meine berüchtigte russische Übertreibung) über diese Arbeit schreiben und über die Persönlichkeit, die dahintersteht, und über die Frage, ob diese beiden hier überhaupt zu trennen sind. Mit einer kleinen Variation: Greift nur hinein in die Spiersche Psychologie und wo man es greift ist es interessant.

Was mich persönlich immer wieder am stärksten berührt, ist Folgendes: Wie er durch den suggestiven Einfluss seiner dynamischen und dämoni­ schen Persönlichkeit alle Elemente in einem anderen entfesselt, um ihnen

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dann eine Richtung zu verleihen. Wenn dieser Mann nicht über sein gro­ ßes Verantwortungsbewusstsein und seine Menschenliebe verfügen würde und nicht jeden Tag an sich selbst arbeitete, dann könnte er im hilflosen sich ihm anvertrauenden Einzelnen Naturkatastrophen auslösen. Ich finde es immer wieder ein atemberaubendes und, wenn du so willst, rührendes Schauspiel, wenn ich miterlebe, wie viele im Entstehen begriffene Leben und wie viele Schwierigkeiten dort bei ihm angespült und von ihm aufge­ fangen und geformt werden, jedes um den eigenen Kern. Nein, Netty, das hier kannst du wahrhaftig nicht als wissenschaftlichen psychologischen Bericht bezeichnen, und auch nicht unbedingt als ganz direkte Antwort auf deine sachliche Formulierung. Du sprichst da u. a. von einem «Umschalten vom unbewussten, sinn­ lichen, materiellen zum bewussten geistigen Leben». Stellst du jetzt unbe­ wusst auf dieselbe Stufe wie sinnlich und materiell? Doch bestimmt nicht! Ich muss spontan an eine Stelle bei Jung denken, aus der ich jetzt gern ­zitieren würde, aber ich habe das Buch gerade verliehen. Ich werde dafür sorgen, dass ich es hier habe, wenn du irgendwann einmal zu mir kommst. Du siehst, wir haben Stoff für viele fruchtbare Dialoge, und vorläufig wende ich mich von diesem mitreißenden Thema ab, sonst sitze ich hier noch in der Frühe und arbeite das Ganze zu einem psychologischen Stan­ dardwerk aus, und ich habe dir heute noch so viel zu schreiben. Und dann sagst du: «Mir wird von Zeit zu Zeit vorgehalten, dass genug Spannung in einem Menschenleben bleibt, ohne dass man ins Extreme verfällt. Wie denkst du darüber?» Weißt du, Netty, ich glaube, dass die Spannungen in einem Menschen umso größer und fruchtbarer bleiben, je weniger man ins Extreme verfällt. So habe ich es zumindest am eigenen Leib und an der Seele erfahren. Je stärker der Hang zum Extremen bei mir ist, je mehr sich die Unruhege­ fühle in mir steigern, umso konzentrierter sitze ich auf dem Bock der Selbstbeherrschung und halte die Zügel fest gespannt und gebe sie nicht aus den Händen, und daraus wird mir jedes Mal wieder eine Kraft gebo­ ren, aus der heraus ich produktiv sein kann. Und darum geht es doch auf die Dauer? Findest du es aufdringlich von mir, wenn ich für dich in mei­ nem Tagebuch28 nachschaue, was ich dort während meiner letzten Depres­ sion niedergeschrieben habe? … Ja, da habe ich es schon, am 11. Juni auf nüchternem Magen (je nüchterner mein Magen, desto weniger nüchtern meine Ausdrucksweise, also sorge dafür, dass du geschützt bist).

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«Nicht nur wegen der eigenen Unruhe muss man ab und zu die Zügel straff anziehen, damit sie sich nicht wie ein durchgegangenes Pferd auf­ bäumt und zerstörend durch das ganze Wesen galoppiert, sondern auch die eigene Traurigkeit muss man zügeln, sonst kann sie jeden Moment wie eine steigende Flut anwachsen und schließlich die mühsam bewirtschafte­ ten Felder überschwemmen. Man muss danach streben, nicht mehr so ‹ich-haft› zu sein, dass man jede Stimmung vollständig in sich auslebt. Man braucht seine Unruhe und Traurigkeit nicht zu verstecken, man muss sie tragen und ertragen, aber man darf sich ihr nicht so vollständig hingeben, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt. Man darf seine besten Kräfte nicht mehr der Traurigkeit überlassen, man muss sie vielmehr für die Ge­ meinschaft, um einmal so ein großes Wort zu verwenden, aufheben – zu­ mindest auf Dauer muss man das schaffen. Und unter ‹Gemeinschaft› verstehe ich einen Schüler, der Russisch bei mir lernen will, einen Mit­ menschen, der mit Schwierigkeiten zu mir kommt, ein Gedicht, dessen Verständnis meine ganze Aufmerksamkeit erfordert …» Und ein paar Sei­ ten weiter sage ich es mir selbst noch einmal, in wilden und unordent­ lichen Hieroglyphen: «Wenn man sich jeder Traurigkeit so vollkommen hingibt, will man sich noch zu sehr selbst spüren, sich noch zu stark selbst erleben, und darum geht es auf Dauer ja nicht.» Es stimmt, die Worte «goldener Mittelweg» kann man tatsächlich als Schlafmittel einsetzen, aber ich frage mich, was du mit diesen Worten zu tun hast. Das Wort «Mittelweg» ist für den sich selbst genügenden Bürger fast noch zu viel der Ehre, da ist noch das Wort «Weg» enthalten, und er geht doch nicht einmal mehr einen Weg, sondern vegetiert vor sich hin? Und das ist doch der große Unterschied zu dir? Du gehst doch einen Weg und hast doch nichts mit denen gemeinsam, die du «die sich selbst genü­ genden anständigen Herdentiere» nennst? Und um einmal einen psycho­ logischen Wurf zu wagen: Solange du noch «kribbelig» von dem wirst, was du diese sich selbst genügenden Bürger nennst, kommt das nicht vielleicht dadurch, dass du irgendwo tief in deinem Inneren Angst davor hast, mög­ licherweise selbst genauso zu werden? Du bist dort nun zufällig in einer «muffigen und öden» Gemeinde gelandet – und könnte es nicht vielleicht doch möglich sein, dass da in verborgenen Ecken doch noch mehr Leben vor sich hin brodelt, als du jetzt vermutest, wenn du nur weiter dorthin durchdringen könntest? Und da gibt es doch die vielen Kinder an deiner Schule? –, und dann müsstest du dir doch sagen, dass du ein eigenes L ­ eben

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und einen eigenen Weg vor dir hast, dass du mit diesem Muffigen und Leblosen nichts gemeinsam hast.

An Julius Spier. Amsterdam. Undatiert; vermutlich Juli 1942. 8 Uhr morgens. Über die letzten und ernsten Dinge des Lebens und des Leidens kann man gar nicht sprechen, da trägt die Stimme nicht. Ich verstehe so alles von Dir und trage alles mit Dir zusammen und ich habe Gott mal wieder gedankt, daß es einen Menschen wie Dich in meinem Leben gibt. Du mußt für Deine Gesundheit sor­ gen; wenn Du Gott helfen willst, dann ist das Deine erste, heilige Pflicht. Ein Mensch wie Du, der noch einer der wenigen ist, der eine ehrliche Unterkunft ist für ein Stück Leben und Leiden und Gott – die meisten haben ja schon längst versagt und «Leben» und «Leiden» und «Gott» sind für die nur noch leere Klänge – hat die heilige Pflicht so gut wie möglich seinen Körper, sein «irdisches Haus»

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in stand zu halten, um Gott so lange wie möglich die Gastfreundschaft

gewähren zu können. Wir sind noch lange nicht am Ende. Ich werde auch gut für mich sorgen. Ich habe so viele Kräfte, Du darfst sie alle nehmen und es werden mir immer wieder neue zuwachsen. Ich habe Dich so unendlich lieb, meine Seele hat Deine Seele so unendlich lieb. Meine Seele möchte sich dann und wann hinlegen zu Deiner Seele und das hat allmählich nichts mehr zu tun mit der Sehnsucht, die eine Frau haben kann nach einem Mann. Ich möchte manchmal meinen nackten Körper, so wie Gott ihn geschaffen hat, hinlegen zu Deinem nackten Körper, so wie Gott Dich geschaffen hat und habe dabei doch nur das Gefühl ob meine Seele sich hinlegen möchte zu der Deinigen. Wenn man in dieser Zeit nicht zusammenbricht von Traurigkeit und wenn man andererseits auch nicht, aus Schutz, verhärtet und zynisch wird, oder re­ signiert, ja, dann wird man immer weicher und sanfter und aufgelöster und verstehender und liebender. Ich weiß alles wie das bei Dir ist und Du hast mich mitgenommen auf Deinem Weg und ich lebe mit Dir zusammen, in allem, bis in Deinen entferntesten Atemzug. Ich bin immer bei Dir und um Dich und auch, wenn man uns mal trennen wird, werde ich weiter zusammen mit Dir densel­ ben Weg bis zu Ende gehen. Mein Ernst und meine Liebe sind tausend Jahre alt und werden jeden Tag tausend Jahre älter. Dieses Stück Zeitalter, wie wir es jetzt erleben, kann ich tragen, ich kann es ganz tragen auf meinen beiden Schultern ohne unter der Schwere zusammenzubrechen und ich kann es Gott

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Briefe von Etty Hillesum auch schon verzeihen, daß es ist, wie es sicher wohl sein muß. Daß man soviel Liebe in sich hat, daß man Gott verzeihen kann!! Und Du mußt für Deine Gesundheit sorgen und ruhen und ruhen, ich kann jetzt nicht soviel bei Dir sein, – in Gedanken bin ich immer bei Dir – aber ver­ sprich mir, daß Du gut für Dich sorgst. Da höre ich Dich gerade Deine Gardinen aufmachen, jetzt wirst Du wohl bald zu mir heraufkommen? Ich werde versuchen heutemittag noch zu kommen, ich möchte so gern.

An Osias Kormann. Amsterdam. Freitag, 14. August 1942. Gabriël Metsustraat 6.

Amsterdam, 14 Aug. 42.

Mein guter und lieber Freund Kormann, Ein kleiner Gruß aus dieser großen Stadt. Ich gehe hier durch die viel zu vielen Straßen und Westerbork geht mit mir mit. Es ist merkwürdig, daß man in so kurzer Zeit so sehr mit einem Ort und dessen Einwohnern verwachsen kann. Ich komme gerne wieder zurück, wie schwer es mir auch fällt mich hier von sehr nahestehenden Menschen trennen zu müssen. Aber irgendwie fühle ich mich hingetrieben zu diesem kleinen Fleck mitten auf der Heide, wo soviel Menschenschicksal zusammengeschmissen ist. Ich kann mir noch gar nicht er­ klären, warum das so ist, vielleicht wird mir das später mal klar werden, aber jedenfalls: ich komme zurück. Der Mensch, der mir am Nächsten ist, muß lang­ sam und geduldig ausheilen, mit den Lungen klappt etwas nicht und es wird ein langwieriger Genesungsprozeß sein. Er wird hier gut und liebevoll gepflegt, ich kann hier nichts für ihn tun und kann, was das anbelangt, ruhigen Herzens wieder für einige Wochen von hier gehen. Ich werde morgen versuchen einen Reise-urlaub zu bekommen um meine Eltern in Deventer zu besuchen, sie sehnen sich schon zu sehr nach mir. Wenn es mir gelingt, werde ich nicht bevor Donnerstag in Westerbork sein können. Bitte, beschuldigen Sie mich nicht der Untreue. Und machen Sie wieder Pud­ ding, wenn ich zurück bin, ich werde dafür sorgen keinen verdorbenen Magen zu haben. Es ist jetzt 8 Uhr, ich sitze an meinem Schreibtisch, wo ich einen langen und ruhigen Abend zu verbringen hoffe um allerhand Sachen zu erledigen und zu 30

likwidieren. Grüssen Sie Ihre netten Zimmergenossen, Herrn Haussmann und andere Freunde und seien Sie selber aufs herzlichste gegrüßt von Etty Hillesum.

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An Osias Kormann. Amsterdam. Dienstag, 18. August 1942. 18 Aug. Dienstagabend, 11 Uhr. Mein guter Kormann, Ich schicke Ihnen nur einen Gruß, den herzlichsten den ich habe, damit Sie mich nicht ganz vergessen. Die Reisebewilligung für meine Eltern habe ich jetzt bekommen, es hat noch viele Mühe gekostet, morgen fahre ich hin und dann wird es doch wohl Freitag werden bevor ich wieder in W. bin. Ich habe schon eine merkwürdige Sehnsucht nach diesem kleinen Fleck. Auf Freitag, ja? Gute Nacht. Etty Hillesum

An Hes Hijmans und andere Bekannte in Amsterdam. Westerbork. Montag, 24. August 1942. Westerbork, 24. Aug. Montagmorgen, 11 Uhr. Mit dem Mut der Verzweiflung werde ich versuchen, diesem Tag eine Stunde zu rauben, um euch einige Kleinigkeiten zu erzählen, die auf der Heide von Drenthe geschehen. Ich sitze wieder auf derselben Holzbank, den Rücken unserer Holz­ baracke zugewandt, neben einer in die Schriften von Meister Eckehardt31 vertieften jungen Russin, und vor uns wogt die Heide, die manchmal ge­ nauso ist wie das Meer. Es ist unglaublich friedlich an diesem abgelegenen kleinen Ort in unserem Lager. Viele aufgescheuchte Menschen kommen hier für einen kurzen Augenblick zur Ruhe und ziehen dann in einer ­besseren Verfassung weiter, als man aus der Ferne vermuten würde. Aber nun ja –. Man lernt hier sehr viel. Näml., dass das Leben ganz anders ist, als es in allen Geschichtsbüchern beschrieben steht, und dass es sich überall gut leben lässt, auch hinter Stacheldraht und in zugigen Baracken, solange man mit der nötigen Liebe zu den Menschen und zum Leben lebt. – Jetzt hat sich plötzlich auch an meiner anderen Seite eine Russin niederge­ lassen,32 und die ist anders als meine Nachbarin zur Linken nicht in mys­

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tische Schriften vertieft, sondern redet viel und nennt mich «mein Täub­ chen», wohlgemerkt auf Russisch. Sie verfasst Theaterstücke, erstellt Horoskope, war in der Türkei Journalistin und schon einmal im Eis einge­ froren. Sie ist nicht mehr ganz jung, hat wilde Tatarengesichtszüge und dicke Brillengläser vor den kurzsichtigen Augen. Als ich – wie lange ist das auch schon wieder her? – einmal nachmittags ein Stündchen im Bett lag, weil ich das nötig zu haben glaubte, kletterte sie an mein Fußende, machte es sich auf meinem orange karierten Schlafsack bequem und sang mit überraschend melodischer und ausdrucksvoller Stimme Kosakenwiegen­ lieder für mich, auf Russisch, eines nach dem anderen, und die Heide von Drenthe lag einfach nur da, erstaunt und geduldig, und kommt später ganz bestimmt in ein Geschichtsbuch. Letzteres meinte auch ein Groninger Arbeiter, der mich am Freitag­ nachmittag33 mit seinem Lastwagen aufsammelte,34 als ich mit meinem schweren Rucksack (meinem kostbarsten Besitz, Hesje,35 das war eine gute Tat) an der Straße zwischen Hooghalen und Westerbork stand. Aber pünktlich, nicht einmal auf allzu mühsame Weise, kam ich hier an, gerade richtig zur Graupensuppe, und die Begrüßung von vielen Seiten war un­ fassbar herzlich, als käme ich nach einer Abwesenheit von vielen Jahren36 zu guten alten Freunden zurück. – Wieder ein Weilchen später; so ganz und gar friedlich ist es hier natürlich nie. Ich muss euch doch noch ein paar Dinge erzählen. Gestern Mittag, es kann auch schon einen Tag länger her sein, ging ich mit meinem Teller Rotkohl über den Flur, der zur Essbaracke führt. Ich kam am Zimmer­ chen unseres Direktoriums vorbei (ja, so heißt das nun einmal), das nun noch aus zwei Männern besteht, diesem Dr. Fraenkel,37 von dem ich euch schon einmal geschrieben habe, und Vleeschhouwer,38 meinem treuen Waffenbruder. Die Tür stand offen, sie riefen mich mit Rotkohl und allem Drum und Dran nach drinnen und fragten, ob ich mit ihnen essen wolle. Und worüber soll man nun sprechen, wenn man mit vielen Sorgen und Verantwortungsbereichen in der armseligsten Provinz von Holland auf ­einigen Quadratmetern eingezäunter Heide hockt? Natürlich über Rainer Maria Rilke. Sein «Stundenbuch», das ich immer mit mir in meiner Tasche herumtrage, lag da mit einem Mal zwischen unserem abkühlenden Rot­ kohl auf dem Holztisch, und Fraenkel erinnerte sich plötzlich, dass dieses «Stundenbuch» in einer fernen Vergangenheit einmal ein Jahr auf seinem Nachttisch gelegen hatte, und er fing an, uns vorzulesen, und erkannte ­jedes Gedicht wieder und wurde immer jugendlicher.

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1941–1943 «Ich bete wieder, du Erlauchter, du hörst mich wieder durch den Wind, weil meine Tiefen nie gebrauchter rauschender Worte mächtig sind.»

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Da kam unser Barackenkommandant herein, der frühere Polizeiinspek­ tor (Sie kennen ihn ja, Mijnheer Leguyt40), und machte ein wenig blass Meldung: Dr. Fraenkel, die Leute beschweren sich, heute gäbe es nicht ge­ nug zu essen. Und Fraenkel sagte: Es ist aber genug, ich habe selbst ge­ nauso viel genommen wie die anderen, und es ist genug. Der Inspektor verschwand nach dieser Meldung, und Fraenkel begegnete dem Gedicht: Denn Armut ist ein großer Glanz aus innen.

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Und dann las er: Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) Bin dein Gewand und dein Gewerbe, mit mir verlierst du deinen Sinn.

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Und Fraenkel donnerte seinem Kollegen plötzlich zu: Ist dàs schön, Vleeschhouwer, ist dàs nicht schön, verstehen Sie nun auch etwas davon?

Und mein Waffenbruder Vleeschhouwer saß einfach ein wenig verträumt da und starrte hinter seinem Rotkohl hervor über das große gelbe Lupi­ nenfeld, das sich unter dem niedrigen Fenster ihres zellenartigen kleinen Zimmers erstreckt, und sagte: Ich glaube, ich fange an, etwas zu verstehen. Und dann kam der Polizeiinspektor wieder herein und hatte zwei halb­ leere Teller Rotkohl als Beweisstücke in der Hand und sagte in vorwurfs­ vollem Ton: «Sehen Sie, Dr. Fraenkel, da beschweren sie sich, dass es nicht genug zu essen gibt, aber sie lassen die Teller halb leer stehen, sehen Sie selbst.» Der Inspektor verschwand wieder mit dem aufgewühlten Rotkohl, und Fraenkel las noch ein Gedicht zu Ende, und die letzten Worte don­ nerte er durch das kleine Zimmer, sodass es bis weit über das Lupinenfeld bis zur Entlausungsbaracke schallte: Gott, du bist groß.

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Und dann kamen wieder viele Menschen und viele Ängste und Fragen und Sorgen, und wir haben Rilke wieder beiseitegelegt. Und als ich wieder zu den anderen kam, zogen sie mich von allen Seiten scheu an der Jacke und fragten: Sag mal, du bist doch so «dicke» mit der «Leitung», kannst du uns etwas Neues erzählen? Wann bekommen wir unsere Ausweise ­zurück, und wie sieht es mit der «Urlaubssperre»44 aus, und was wurde so

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alles besprochen? Ja, und da konnte ich nicht viel anderes erzählen, als dass Fraenkel uns Gedichte von Rainer Maria Rilke vorgelesen und mit Donnerstimme bezeugt hatte: Gott, du bist groß. Und dass er uns gefragt hatte: Ist das schön, Kinder, ist dàs nicht schön! Außer an meinem geschützten Schreibtisch scheint Rilke nun auch in dieser isolierten, wehrlosen Menschengemeinschaft einen festen Platz fin­ den zu können, und ich muss euch sagen: Das verschafft mir einige Befrie­ digung. Und jetzt muss ich Küchenarbeit machen, um mich herum ertönt es plötzlich von allen Seiten: Schnittbohnen. Ich hoffe, dass ich heute noch ein bisschen weiter in eure Richtung sinnieren kann. Einen Tag später [Dienstag, 25. August 1942]. Ein sehr unangenehmer Herr hält im Moment in unserer Essbaracke ­einen Vortrag. Wie es scheint, gehört so etwas noch immer dazu. Heute Morgen habe ich ein bisschen im Mystiker Meister Eckehardt gelesen und WCs geschrubbt. Dann habe ich heute Morgen im Lager ein junges Mädchen entdeckt, das ganz unten in ihrem bereitstehenden Ruck­ sack einen Gedichtband versteckt hat. Sie hatte fast das Gefühl, es wäre eine große Sünde und unanständig, in einer Zeit wie dieser etwas so ­Ungereimtes (!) wie Gedichte zu lesen (bitte achtet auf die besonders geist­ reiche Formulierung, dieser Redner wirkt aber auch ungemein inspirie­ rend auf mich). Aber als ich ihr von unserer Rilke-Séance erzählte und ein bisschen allgemein mit ihr über die Dinge sprach, die das Wichtigste im Leben sind, auch in dieser Zeit, oder besser, gerade in dieser Zeit, da fühlte sie sich plötzlich ein ganzes Stück besser. Nun ja, und so laufe ich hier einfach ein bisschen herum, so undiszipliniert, wie man sich das hinter rostigem Stacheldraht gerade noch so erlauben kann. – Ach ja, und heute Mittag haben wir Rotkohl gegessen, um einmal wieder über etwas anderes als über Gedichtbände zu schreiben. Diesen Rotkohl hatte man mit viel Verstand zubereitet, weiter gibt es darüber nichts zu berichten. Eine gute Chronistin des täglichen Lebens werde ich nie werden. Der Alltag scheint mir irgendwie zu entgehen. Ich führe hier genau dasselbe Leben wie in Amsterdam an meinem Schreibtisch, und ich glaube, dass ich an jedem anderen Ort dieser Welt dasselbe Leben führen werde, zumindest meinem Gefühl nach. Das ist bestimmt nicht normal, und die Ärzte haben noch nicht genau feststellen können, worum es sich genau handelt. Aber die Hauptsache ist, dass es mir gut dabei geht und denen, die mit mir in Be­ rührung kommen, auch.

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halb 8 abends. [Kritzelei] 8 Uhr abends. Um halb 8 saß ich noch auf der rustikalen Bank hinter unserer Schlaf­ baracke, die ihr nun so langsam gut kennt. Aber dann kam mein Lager­ freund Kormann vorbei und hat mich unter vielen schönen Vorwänden in seine Wohnstätte45 von 5 Metern Länge und 4 Metern Breite mitge­ schleppt, die er schon vier Jahre46 mit zwei Schicksalsgenossen teilt. In ein kleines Zimmer passt viel, und man kann immer noch darin leben. Ich selbst sitze jetzt am schmalen Ende eines Holztisches, am anderen Ende sitzt ein Mann mit einer Fliege und einer sehr schicken Brille, im Moment isst er Pudding und ist im Übrigen der Chef des Reinigungsdienstes im Lager. Er sitzt einen Meter von mir entfernt, tut aber so, als wäre ich gar nicht da, und ich tue so, als wäre er nicht da. Das ist auch eine Art Demo­ kratie. Kormann, eine Kappe auf dem Kopf, steht einen halben Meter von mir entfernt und schneidet Kartoffeln, die er für mich braten will. Als ich mich schüchtern erkundigte, womit er sie denn braten wolle, sagte er sehr munter: mit Lust und mit Liebe, also werde ich gleich besonders herrlich essen. Der Pudding des Reinigungsdienstmannes ist aufgegessen, und jetzt rasiert er sich. – Nein, doch nicht. Hier ist plötzlich etwas Bewegung vor dem Fens­ ter. Ich höre es rufen: der Transport ist da. Die Fliege ist schon aufgesprun­ gen und mit den Worten weggerannt: Mal sehen ob was zu helfen fällt, jetzt müssen wir wieder unsere Menschenpflicht erfüllen.

Einen Tag später, Mittwoch? [Mittwoch, 26. August 1942]. halb drei Uhr nachmittags. Als ich heute Morgen eine ganze Menge Brote geschnitten und ausgeteilt und eine ganze Menge Kaffee eingeschenkt und viele Leute gesprochen hatte, zusammengetrieben aus verschiedenen Ecken des Landes, alle ­Altersstufen, da schaute ich in der Überzeugung auf meine Armbanduhr, es wäre sicher bald 1 Uhr, und wir würden essen. Und da war es 9 Uhr morgens. Es ist hier ganz seltsam mit den Zeiten. Jetzt ist es halb 3, ich sitze auf zwei wackeligen Koffern in unserer leeren und warmen Schlaf­ baracke. Ich habe kurz, undiszipliniert wie immer, die Flucht hierher an­ getreten, weil ein Mensch ab und zu einfach einmal allein sein muss. Ges­ tern Abend musste ich plötzlich mit dem Schreiben aufhören. Und aus den Bratkartoffeln ist auch nicht mehr viel geworden. Ich habe viele sehr

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alte Menschen gesehen. Einer von ihnen war blind, und einer mit einem pergamentartigen Faltengesicht wurde auf einer Bahre weggetragen. Und ich lief da ein wenig hilflos herum, mit trockenem Zwieback und Tee und ansonsten gar nichts. Mit jungen Leuten kann man sich noch ein bisschen unterhalten, aber hier hört alles auf. Und heute Morgen waren da dann wieder viele Leute, ein kleines Kind schlief plötzlich an meiner linken Schulter, und an meiner rechten Schul­ ter weinte eine Frau. Und heute Mittag kommen wieder Menschen, es hört nie mehr auf. Und die Sonne steht so unbändig und strahlend über der Hölle, dass sie sich eigentlich zu Tode schämen müsste. Ich glaube, jetzt muss ich doch wieder in unsere «Arbeits»-Baracke, und diesen Brief muss ich endlich einmal aufgeben. Sobald er im Kasten ist, fallen mir dann natürlich tausend konkrete Kleinigkeiten ein, wie z. B. die Frage, ob jemand von euch, der sich zufällig keinen Rat mehr weiß mit seinen vielen Zitronen, mir vielleicht ein paar davon schicken möchte. Sagt Claartje Joel.,47 ich arbeite, was das Kaffeeausschenken betrifft, sehr gut mit ihrer Freundin Minny48 zusammen, der es sehr gut geht. Was Hesjes Frage angeht, weiß ich noch nicht, wie es bei Fr. usw.49 steht, viel­ leicht finde ich es noch heraus. Und bitte schickt dieses unzusammen­ hängende Gerede auch an meine Eltern weiter; ich frage mich jeden Tag, ob sie noch zu Hause sind.50 Und jetzt nehme ich übereilt Abschied von euch allen, hiermit müsst ihr vorläufig wieder zufrieden sein. Die Urlaubs­ regelung scheint vorläufig so auszusehen, dass wir alle zwei Wochen zu Hause sein können. Zu schön, um wahr zu sein. Warten wir ab, was die Praxis bringt. Vergesst mich nicht ganz und gar, ich vergesse euch auch nicht. Tschüss! Etty

An Henny Tideman. Amsterdam. Freitag, 11. September 1942. (Notiert im Tagebuch von Henny Tideman.) Freitag, 11. Sept. Liebe große Tidefrau! Weißt du, dass du auch eines der kostbaren Ge­ schenke in diesem Leben bist, die Gott mir gegeben hat? Ich sage es so offen und so selbstverständlich: Gott. Durch dich habe ich es so auszu­

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sprechen gelernt, so in jedem Augenblick des Tages und der Nacht, durch dich und durch unseren Freund, von dem ich dort ganz allein in der Heide von Drenthe Abschied genommen habe, abends unter den Ster­ nen, und für den ich nun in jedem Augenblick bete, dass Gott diesen letzten Rest leidender sterblicher Hülle zu sich nimmt. Das große Werk, das er an mir getan hat: Er hat Gott in mir ausge­ graben und zum Leben erweckt, und ich werde nun weiter in allen Men­ schenherzen nach Gott graben und suchen, denen ich begegne, an wel­ chem Ort dieser Erde auch immer. Jul, dein Mercedes, mein kostbarstes und bedeutsamstes Erlebnis, ist in meinem Leben schon so sehr zu einem Stück Himmel geworden, das sich über mir wölbt, dass ich, wo auch immer auf der Welt, meine Augen nur zu diesem Himmel erheben muss, um ihn bei mir zu haben. Und auch wenn ich in einer Zelle unter der Erde sitze, erstreckt sich dieser Himmel in mir selbst. Ich sitze gerade in deinem Zimmer. Die Sonne scheint herein, so wie die Sonne immer hereingeschienen hat. Dieses Zim­ mer trage ich auch in einem Eckchen meines Wesens mit mir, und ich werde mich oft dorthin zurückziehen. Gott segne dich, mein Liebes. Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich habe und immer gehabt habe? Er sagte einmal eines Abends zu mir, vor langer Zeit: «Die Tide weiß kaum selber, wie lieb ich sie habe. Ich bin oft derb zu ihr und sage Rindvieh und Sau, denn wenn ich ihr zeigen würde, wie lieb ich sie habe, dann würde sie ganz verrückt werden.» Ich habe diese Worte be­ halten und sie in mir bewahrt, um sie dir einmal geben zu können. Ich muss jetzt weg, Witkowski wartet. Verrückt, dass diese Komödie weitergespielt werden muss, als wären wir alle unmündige kleine Kinder. Ich bin innerlich so ruhig und, so seltsam es auch klingen mag, so glück­ lich. Glücklich, weil Gott mir die Kraft gibt, alles ertragen zu können und ansehen zu können, und weil bei mir, genauso wie bei dir, die Dankbar­ keit immer größer sein wird als die Traurigkeit. Ich glaube, ich könnte dir noch Stunden schreiben, aber ich muss jetzt weg, und es ist sowieso immer wieder dasselbe. Noch mal: Gott segne dich, Liebes.

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Briefe von Etty Hillesum

An Osias Kormann. Amsterdam. Dienstag, 15. September 1942. Dienstagnacht. Kormann, guter Freund, Es ist alles so rätselhaft und merkwürdig, weißt Du, und auch alles so sinn­ reich. Mein Freund ist gestorben, vor einigen Stunden bekam ich die Nachricht: Seit ich ihn gesehen hatte, vorige Woche, habe ich fortwährend gebetet, daß er noch während meines Urlaubes von seinem Leiden erlöst werden möchte. Und jetzt ist er wirklich erlöst und ich bin so dankbar dafür. Und überhaupt: die Dankbarkeit, daß er in meinem Leben gewesen ist wird immer größer sein als die Trauer darüber, daß er nicht mehr da ist, körperlich nicht mehr da. Ich sitze an meinem Schreibtisch, es ist so still im Zimmer, ich werde hier noch viele Stunden sitzen bei meiner kleinen Lampe. Ich gehe morgen nicht zurück nach Westerbork. Allerhand alte Schmerzen sind wieder aufgetaucht in meinem Körper, ich bin in Behandlung, seit vorges­ 51

tern, bei einem guten Internisten, der noch nicht fertig ist mit seiner Unter­ suchung. Ich muß erst mal wissen, was los ist mit mir und was ich dagegen tun muß. Ich muß jetzt wieder eine ganz neue Art Geduld erfinden für diesen unerwarteten Zustand. Und Du schreibst mir mal, ja? Für diesmal genug. Willst Du diejenigen von mir grüßen von denen Du denkst daß sie es nett finden von mir einen Gruß zu 52

empfangen, vor allem Rosenberg. Und auf Wiedersehen, ja? Etty

An Osias Kormann. Amsterdam. Dienstag, 22. September 1942. Amsterdam, 22 September. morgens halb 8. Kormann, mein Gutes! Ich habe plötzlich das Bedürfnis Dir einen sehr herz­ lichen und nahen Gruß zu schicken. Hast Du gestern gut gebetet und gefas­ 53

tet? Und hat es alles geklappt mit den vielen Menschen? Nachher mußt Du mir noch viel erzählen, überhaupt mußt Du mir noch so viel erzählen. Also bei mir hat sich mein Körper gemeldet, ein Mensch ist nicht nur Geist, da hast Du recht und vielleicht ist es gut, daß mein Körper mich mal zur Ord­

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1941–1943 nung gerufen hat. Ich sitze jetzt viel an meinem Schreibtisch und trinke Milch wie ein Säugling. Es kommen viele Freunde zu mir mit ihren inneren Nöten und ich versuche immer wieder in der eigenen Seele eine Antwort zu finden auf die vielen Fragen anderer. Du arbeitest sehr viel, schrieb mir Vleeschhouwer. Schläfst Du auch noch mal dann und wann? Wie ist eigentlich genau Deine Adresse:

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3 oder 3A? Und ich hoffe, Du

bäckst bald mal wieder Fische für mich. Und verbreitest Du jetzt einen sehr verführerischen Duft mit der neuen Brillantine? Und jetzt gehe ich für das Frühstück sorgen von dieser kleinen netten Fami­ lie, wo ich jetzt schon beinahe 6 Jahre wohne und die so glücklich ist, daß ich wieder einige Wochen da bin. Ich brauche Dir nicht viel zu schreiben, gelt, Du weißt auch ohne das von meinem guten Gefühl von Freundschaft für Dich. Grüsse Deine beiden Zimmergenossen und sei Du selber aufs herzlichste gegrüßt. Etty

An Osias Kormann. Amsterdam. Montag, 28. September 1942. 28. September. Amsterdam, Montagabend. Wie wird meine verwaiste Schreibmaschine sich gefreut haben, daß endlich mal wieder etwas Schönes auf ihr geschrieben worden ist! Zu bedenken, daß es da irgendwo in Holland eine Heide gibt mit einem kleinen hölzernen Ba­ rackendorf und daß da ein Mensch lebt, der Osias Kormann heißt und gute Augen hinter Brillengläsern hat, der einem schreibt: «Du bist wirklich schöpferisch, Du hast etwas um mich geschaffen, was lebt –» – das hat mich ganz groß gepackt, weißt Du? Ich bin meinem Magen, den Du ja «auswendig kennst» dankbar, daß er mich ein paar Wochen hier gehalten hat, ich komme gesammelt zurück. Wenn 55

es wahr ist, daß die Transporte nicht weitergehen und wir also mit sehr vielen den Winter da verbringen werden, dann gibt es da eine große moralische Auf­ gabe, glaubst Du nicht? Kälte und Dunkelheit und Erbsensuppe und Stachel­ draht werden wir alle ehrlich unter einander verteilen und vielleicht sogar

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Briefe von Etty Hillesum ­zusammen tragen. Aber «tragen» ist eine Sache, die gelernt sein will, der Hol­ länder versteht sich noch nicht so gut darauf. 56

Und dann die Animosität zwischen den deutschen und den holländischen Juden, wogegen man doch aber unbedingt ankämpfen muß. Merkwürdige ­Sachen wird es da alles geben, wir werden uns dann und wann viele Geschich­ ten zu erzählen haben, stelle ich mir vor. Es wird sehr schwierig werden, glaube ich. Ich möchte doch gerne da sein. Ich habe soviel Liebe in mir weißt Du, für Deutsche únd für Holländer, für Juden und für nicht-Juden, für eine ganze Menschheit, man müßte doch etwas davon abgeben dürfen. – Wenn alles anständig verläuft kommt nächsten Donnerstag eine Gruppe von uns auf Urlaub, am Mittwoch darauf geht sie wieder nach Westerbork zu­ rück und dieser Gruppe möchte ich mich dann anschließen. Wenn es mal keinen Stacheldraht mehr in der Welt gibt, kommst Du Dir mein Zimmer ansehen, es ist so schön und ruhig. Ich verbringe halbe Nächte an meinem Schreibtisch, lesende und schreibende, bei der kleinen Lampe. Ich habe 57

da ungefähr 1500 Seiten Tagebuch liegen vom vergangenen Jahr, die lese ich mir mal durch. Was für ein reiches Leben mir da von jeder Seite ent­gegenspringt. Und daß das méin Leben war! Und immer noch ist. Eigentlich weißt Du noch nicht viel von mir und ich nicht von Dir. Tatsachen, meine ich. Aber auf die Tatsa­ chen kommt es doch gar nicht an im Leben, nur was man durch sie geworden ist. Also, ich denke, wir wissen doch ein bischen von einander? Was werde ich Dir jetzt noch alles erzählen. Nicht mehr sehr viel. Es ist 9 Uhr. Vielleicht gehe ich heute abend wirklich mal früh ins Bett, man braucht das dann und wann sehr, aber es kostet mir immer einen Riesenkampf, mich von diesem Schreibtisch loszureißen. Meine Bücher stehen bei Dir, habe ich gehört, das freut mich. Siehst Du dann und wann mal meinen Waffenbruder, den Vleeschhouwer? Damit ich Dir nicht nur von Schreibtischen erzähle: jeden Tag verbringe ich zwei Stunden beim Zahnarzt, unser ganzes restierendes Familienkapital lasse ich verschwinden in meinen durchlöcherten Zähnen, ich komme also nicht «nur» seelisch restauriert zurück. Und jetzt, mein Braves, laß es genug sein für diesmal. Bis ein nächstes Mal, brieflich oder mündlich. Grüsse vor allem an Rosenberg, ich muß oft an ihn denken. Alles Gute, ja?

Etty

O ja, was ich noch fragen wollte: wann und wo hast Du das Stückchen ­verloren von Deinem armen rechten Zeigefinger und hast Du viel Schmerzen davon gehabt?

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An Osias Kormann. Amsterdam. Sonntag, 4. Oktober 1942. 4. Oktober 42. Sonntagmorgen, im Bett. O Kormann, mein Gutes, was für schwere Tage werdet ihr da haben! Es wird wohl jeden Tag schwerer werden, nicht? Und ich bin so tief tief traurig, daß ich nicht bei euch sein kann, vorläufig nicht, um zusammen mit euch da zu leben. Aber mit einem halb kranken Menschen könnt ihr heutzutage erst recht nichts anfangen und so wie ich jetzt bin: schon einige Tage schwindlig und schwach bis in meine Zehenspitzen hinein, würde ich jeder Gemeinschaft zur Last sein und das darf nicht. Und hier werde ich rührend und liebevoll gepflegt und ver­ sorgt und will man mich nicht früher abliefern bevor ich völlig restauriert bin. Ich werde jetzt jeden Tag von meinem Arzt Einspritzungen bekommen um anzu­ stärken, ich werde eine neue Art Geduld erfinden – ach, die hábe ich ja eigent­ lich schon wieder erfunden – um diesen unerwarteten neuen liege- und ruheZustand so gut und produktiv wie möglich durchzukommen. Du sorgst mir já daß Du nicht wegkommst, bevor ich wieder da bin, na ja, 58

das kannst Du ja auch nicht und habe bitte nicht zu viel Hunger da – mit den vielen Menschen wird das doch jetzt wohl schwierig werden? – und wenn Du grrrroßen Hunger hast, schreib es mir sofort, dann stehle ich mir was zusam­ men. Es ist hier auch nicht mehr ein Land von Milch und Honig – o nein, schon lange nicht mehr! – aber man kann doch immer noch mal etwas versuchen. Du hast natürlich wahnsinnig viel zu tun, Du Armes, ich komme dich jetzt noch schwerer belasten. Ein Mensch ist ein Tier, das klebt an seinem Besitz, man sollte es eigentlich so wenig wie möglich tun, aber ohne allerhand Kleinig­ keiten meint man doch nicht zu können auskommen im Leben. So, mit dieser tief-philosophischen Betrachtung leite ich meine große Bitte an Dich ein. Denkst Du, daß Du meine Sachen bei Dir unterbringen kannst, findest Du das nicht sehr viel gefragt? Hast Du Platz, hast Du Zeit, hast Du Gelegenheit, sie zu erreichen? Es ist ein Koffer da (den ich geliehen habe von einer Freundin), woran ein Label hängt mit meinem Namen. Zwei Decken, die eigentlich nicht wegkom­ men dürfen, weil ich von hier aus dem Hause keine mehr mitbekommen kann, wenn ich wieder nach Westerbork gehe. Dann hängen da noch verschiedene Kleider von mir herum, auch ein Regenmantel und ein alter Bademantel und

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Briefe von Etty Hillesum dann  – o Osias Kormann, ich glaube allmählich ich gehöre der «besitzenden Klasse» an – stehen noch Schuhe da in einer kartonnenen Dose – ich denke vor allem die Überschuhe werde ich im Herbst sehr brauchen können, und schließ­ lich stand noch Eßgeschirr da. Ich habe das alles so ahnungslos herumstehen lassen in der Voraussetzung nach einigen Tagen wiederzukommen. Na ja, Du siehst mal in wie weit Du damit fertig wirst und wenn nicht  – dann ist es auch gut und wird der liebe Gott wohl wieder weiter sorgen. Du fühlst Dich doch bitte nicht zu sehr belastet? Ich bin schon so froh darüber daß meine Bücher bei Dir stehen. Läßt Du mal ein einziges Wort von Dir zu mir herüberquellen? Aber wenn Du keine Zeit und Gelegenheit dazu hast, kann ich das auch verstehen und weiß trotzdem, daß Du da bist. Und jetzt gehe ich mal wieder schlafen. Guter Freund Osias, ich schicke Dir viele Grüsse und stärkende Wünsche, die ausreichen sollen für viele Tage und dann schreibe ich mal wieder. Vergiß mich nicht ganz ja und ich verspreche wieder sehr gesund zu wer­ den.

Tschüss!

Etty

An Osias Kormann. Amsterdam. Freitag, 9. Oktober 1942. 9 Oktober 42. Kormann! Osias? Kann meine Stimme Dich noch erreichen durch alles hin­ durch, was sich die letzte Zeit bei euch zuträgt? Ich versuche mir fortwährend ein Bild davon zu machen. Wie lebst Du jetzt? Du arbeitest Tag und Nacht und Du wirst dann und wann überschwemmt von Verzweiflung – und kommst Du dann auch wieder heraus? Oder stumpfst Du ab? Nein, das sollen wir doch nicht! Bist Du sehr müde, hast Du Hunger? Warum bin ich so dumm, daß ich krank bin und nicht zu euch kommen kann? Aber ich werde mir hier neue Kräfte sammeln soviel ich kann (vorläufig habe ich noch sehr wenige) und wenn Du dann mit den Deinigen zu Ende bist, bin ich plötzlich da und bringe Dir neue. Als ich noch in Westerbork war, da wird es doch wohl ein Idyll gewesen sein verglichen bei dem was jetzt ist? Wie gemütlich haben wir immer an dem ­Stacheldraht entlang spaziert und was für gute Freunde waren wir, in so kurzer Zeit so gute Freunde. Hast Du noch manchmal Zeit mir einen freundschaft­

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1941–1943 lichen Gedanken hinüberzusenden (schreiben wird wohl unmöglich sein, das verstehe ich) und vielleicht kannst Du Dir Kraft schöpfen aus dem großen Freundschaftsgefühl, das ich für Dich habe und das dauernd ist? Heutemorgen früh ist Vleeschhouwer

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von hier weggefahren, er hat noch

dafür kämpfen müssen hinzukommen, man wollte ihn erst in Amsterdam be­ halten, aber wie ein tapferer kleiner Soldat wollte er unbedingt zu seiner Front. Ich fühle mich fast wie eine Art Deserteur, daß ich jetzt nicht bei euch bin. O ja, es war unverzeihlich von mir Dich auch noch mit meinen Sachen belästigen zu wollen, ich hatte mich noch zu schlecht in Euren Zustand eingelebt. Hab es so gut wie möglich, Braves und ich zitiere Deine eigenen Worte: «Wir Menschen kennen bloß die Zusammenhänge nicht.» Etty

An Osias Kormann. Amsterdam. Mittwoch, 28. Oktober 1942. 28-10-42. Findest Du es schlimm mal einen sehr schläfrigen Brief zu bekommen, Osias, mein Treues? Ich möchte Dir so gern etwas Nettes schreiben, etwas Nettes tief aus einem freundschaftlichen Herzen heraus, ich habe mich so sehr ge­ freut mit Deinem letzten Brief – aber meine Augen sind so frech mir einfach den Dienst zu verweigern, sie fallen zu und es ist erst 8 Uhr abends. Deine Freundin Etty ist momentan ein unbrauchbarer Mensch, ihre Haupt­ beschäftigung ist wohl schlafen (bitte bitte schläfst Du auch noch dann und wann, ich wünsche es sehr) und im übrigen trinke ich eine Kuh pro Tag aus und werde dick und häßlich, Vleeschhouwer wird Dir bestimmt eine plastische Be­ schreibung davon geben können, er nennt mich nur noch «Dickkopf». Aber doch ist dies der schnellste Weg wieder ein brauchbarer Mensch zu werden, das habe ich mir endlich zugeben müssen. Tagen

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sagte: «Sie haben sich die

letzten Jahre nicht mit Ihrer Gesundheit beschäftigt, jetzt fängt Ihre Gesund­ heit endlich mal an sich mit Ihnen zu beschäftigen.» Ai, Kormann, was sagst Du über so eine langweilige Geschichte, die ich Dir da erzähle. Ich muß noch was dazusagen. Ich bin tief, tief dankbar, daß ich in einer liebevollen und sorgenden Umgebung wieder völlig ausheilen kann. Ich weiß, es gibt heutzutage viele Menschen, die es genau so brauchten wie ich und nicht in der Lage sind und ich könnte Schuldgefühle davon bekommen (die improduktivsten Gefühle, die es übrigens gibt), wenn ich nicht wüßte, daß

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Briefe von Etty Hillesum meine neugesammelten Kräfte wieder der Gemeinschaft zu gute kommen werden. Ich sehe es oft vor mir, dieses Westerbork und gehe in Gedanken die mod­ rigen Wege. Es ist mir dabei sehr ernst zu Mute. Es wartet uns eine große Aufgabe, glaubst Du nicht, um den Winter, der schwer sein wird, einigermaßen befriedigend durchzukommen. Und ich glaube es wird in letzter Instanz mehr auf unsere menschlichen als auf unsere organisatorischen und technischen ­Talente ankommen (letztere gibt es ja so wie so von selber schon, man braucht darüber doch nicht soviel Lärm zu machen, oder sehe ich das vielleicht zu naiv?). Es wird wohl nicht einfach sein eine Brücke zu bauen zwischen Kam­ pinsassen und jüdischem Rat?

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Ich weiß, der jüdische Rat hat große Fehler

gemacht und macht sie noch, Menschen mit der Mentalität von einem Vlee­ schhouwer gibt es noch zu wenig bei uns. Aber wir háben gute Elemente, hof­ fentlich werden die den Weg zu euch finden und ihr auch zu ihnen. Und hoffent­ lich können wir soviel wie möglich schlechte Elemente aus unserer Mitte ausscheiden, wir haben noch zuviel Geschäftsmänner unter uns, die früher mal in Zahncrème oder so gehandelt haben und jetzt in Juden. Dies ist gar kein Brief, mein Gutes, ich hatte nur Lust, so schläfrig, wie ich bin, ein bischen mit Dir zu plaudern. Hör mal, ist das Ernst mit dem Umziehen von Dir? Ich bin einfach entsetzt darüber. Ich habe ein Gefühl ob ich aus meiner Wohnung geschmissen werde. Und wirst Du jetzt auch nicht mehr mit dem Rosenberg (sage ihm, daß ich mich über seinen Gruß sehr gefreut habe) zusammenwohnen? Ich war so ein­ gelebt in eurer gastlichen Junggesellenbude. Und wenn Du jetzt nicht mehr ein eigenes Zimmer bekommst? Na ja, dann wird man sich eben unter dem großen freien Himmel treffen und es ist auch gut – nicht wahr? Und Dir geht es gut, hoffe ich, ja? Du gehst ruhig und gesam­ melt und verschlossen Deinen Weg, wie immer  – komisch, es ist mir ob ich Dich schon seit Jahren kenne. Ich freue mich sehr auf ein Wiedersehen mit Dir, jawohl, und jetzt kein Wort mehr, ein nächstes Mal ein anderer Laut. Willst Du mal speziell von mir grüßen den Rottenberg? mann und die kleine Frau Bierenhack und ihren Mann,

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Und auch Hauss­

der mir noch immer

wie eine Schnecke vorkommt? Und sei selber aufs aller-allerherzlichste gegrüßt von einem schläfrigen Mädchen, das Etty heißt.

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An Osias Kormann. Amsterdam. Mittwoch, 4. November 1942. 4-11-42 Mittwochmittag. O Kormann, mein Kormann, es wird hier schon so naß und kalt, wie muß das dann wohl bei euch sein mit dem zu wenigen Essen und den zu wenigen De­ cken. Ich habe heute einen Tag, wo es mir so wahnsinnig schwer ums Herz ist bei den Gedanken an euch. Und wer weiß, vielleicht hat das wohl gar nichts mit euch zu tun, und kommt es, weil ich selber ein bischen traurig bin und un­ geduldig, weil es so langsam mit mir geht? Wie geht es Dir denn, mein Gutes? Bist Du schon umgezogen und hat das viele Scherereien mit sich gebracht? Auf einem unserer Spaziergänge dem gelben Lupinenfeld entlang haben wir mal gesprochen über Wünsche und die Erfüllung dieser Wünsche. Erinnerst Du Dich das noch? Mein Dichter Rainer Maria Rilke sagt so etwas Wunderschönes darüber in einem seiner Briefe. Dein Kollege Haussmann würde vielleicht wieder verbittert sagen: «es ist jetzt keine Zeit für Dichter und Philosophen.» Ich weiß nicht, ob er Recht hat, jedenfalls schreibe ich die paar Sätze für Dich ab, vielleicht erlebst Du Deine Freude daran in einem ruhigen Moment (wenn Du überhaupt mal so einen hast?): «Mir geht es oft so, daß ich mich frage, ob die Erfüllung eigentlich etwas mit den Wünschen zu tun hat. Ja, solang der Wunsch schwach ist, ist er wie eine Hälfte und braucht das Erfülltwerden wie eine zweite Hälfte, um etwas Selbständiges zu sein. Aber Wünsche können so wunderbar zu etwas Ganzem, Vollem, Heilem auswachsen, das sich gar nicht mehr ergänzen läßt, das nur noch aus sich heraus zunimmt und sich formt und füllt. Manchmal könnte man meinen, dies gerade wäre die Ursache der Größe und Intensität eines Lebens gewesen, daß es sich mit zu großen Wünschen einließ, die von innen wie ein Ressort Aktion auf Aktion, Wirkung nach Wirkung ins Leben hinaus trieben, die kaum mehr wußten, worauf sie ursprünglich gespannt waren, und nur noch elementar, wie ein starkes, fallendes Wasser, sich in Handlung und Herzlich­ keit, in unmittelbares Dasein, in frohen Mut umsetzten, je nachdem das Ge­ schehen und die Gelegenheit sie einschaltete.»

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So, dies wäre das einzige für heute. Willst Du mal meine Grüsse geben an Dr. 65

Petzal, ich habe ihn so gerne.

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Briefe von Etty Hillesum Sein Gesicht, das eine verborgene Melancolie hinter einer ironischen Maske zu tragen scheint, sehe ich oft vor mir. Er wird es wohl nicht leicht h ­ aben in seiner überfüllten Hütte? Und ach, ihr werdet es ja alle nicht so leicht haben? Ich möchte so gern schnell wieder zu euch kommen, um zu wissen wie ihr euch hindurchschlägt. Ich glaube, man kann dem Leben unter allen Umständen etwas Positives abgewinnen, aber man hat nur das Recht das zu sagen, wenn man auch selber den schlimmsten Umständen nicht aus dem Wege geht. Ich denke oft, man müßte seinen Rucksack aufbinden und mit «auf Transport» gehen. Später mal wieder andere Klänge. Auf Wiedersehen, mein Liebes. Etty

An Osias Kormann. Amsterdam. Sonntag, 15. November 1942. 15-11-42. Sonntagmorgen. Guten Morgen Osias (ja, das muß ich noch unbedingt wissen bevor ich nach Westerbork komme: sagt man Ósias, oder Osías, und was ist das für ein Name, ich habe ihn noch nie gehört und noch in keinem Roman gelesen.), ich schreibe Dir jetzt mal einen rein sachlichen Brief, über die unsachlichen Ange­ legenheiten dieses Lebens können wir uns vielleicht schon Ende dieser Woche unterhalten. Wenn Du Zeit hast. Ja natürlich hast Du dann und wann ein klein wenig Zeit. Ich freue mich sehr darauf Dich wieder zu sehen, weißt Du das? Ja sehr. Findest Du es bitte nicht schlimm, wenn ich Dich was frage? Ich weiß: Du findest es schlimm, daß ich frage, ob Du es schlimm findest. Was sagst Du zu so viel Talmudismus an einem frühen Sonntagmorgen? Ich habe eine sehr schlechte Eigenschaft: ich kann nie etwas fragen, auch das allergeringste nicht, ist das nicht auch ein Mangel an Gemeinschaftssinn? Kurz und gut: mein treuer Waffenbruder Vleeschhouwer (ich komme Freitag mit ihm zurück) hat bei dem, ja bei dem wievielten Umzug eigentlich (ich be­ komme von hier aus den Eindruck, daß ihr da nichts anderes tut als umziehen) meine Sachen zu Mahlers

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gebracht. Aber Koffer und Decken hat er nicht

­gefunden. Letztere werde ich mir wahrscheinlich selber wohl herausfinden können, aber ich möchte so gerne, bevor ich komme, wissen ob der Koffer

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1941–1943 überhaupt noch da ist, weil ich mir hier sonst allerhand Sachen wieder aufs Neue versorgen muß. Es ist ein ziemlich großer brauner Koffer, nicht sehr schön, ein wenig kaputt zur Seite und auf einem Label, daran befestigt, stand mein Name. Der Vl.

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sagte, dass da irgendwo (???) viele Koffer der J. R. Damen

zusammenstehen und dass er da wahrscheinlich bei sein wird. Ein totlangweiliger Brief, gelt? Ich schäme mich fast dafür. Ich denke es kostet Dir mindestens einen ganzen Tag diesen albernen Koffer herauszufinden und dann mußt Du mir noch zwei Worte darüber schreiben auch? Es geht mir wieder gut. Dann und wann fühle ich mich mal wieder einen Tag krank, aber wenn das da passiert, verkrieche ich mich in einer Ecke und werde schon damit fertig werden. Vleeschhouwer hat mir gestern viel erzählt von den letzten Transporten, so sehr sehr schwer wird es einem da. – Überhaupt – Ich denke oft, das einzige, was man wirklich tun kann, ist das bischen Güte, das man in sich hat, ausströmen lassen nach allen Seiten. Alles andere kommt erst in dem zweiten Platz. – Und jetzt: auf Wiedersehen, Kormann! Etty

An Han Wegerif und andere. Westerbork. Montag, 23. November 1942. Montagmittag 1 Uhr, in der Ecke der Mahlers, wo Eichwald68 gerade dabei ist, Brei für mich zu kochen. Ihr mir so Lieben, ich wollte jetzt unbedingt endlich einen Brief an euch fertig schreiben. Das hier ist der fünfte, den ich anfange. Man erlebt hier zu viel und läuft mit zu widersprüchlichen Gefühlen herum, als dass man schreiben könnte. Zumindest ich kann es nicht. Ich schicke nur einen kurzen Gruß. Und ich denke, dass ich wahrscheinlich bald werde zurück­ kommen müssen, und dann lasse ich mich in einem erstklassigen Schlacht­ haus abschlachten, da stimmt etwas nicht bei mir, da stimmt innerlich ­etwas nicht, ich bin darüber sehr, sehr traurig, es gäbe hier so viel zu tun, aber etwas da drinnen stimmt nun einmal nicht, ich lebe von Schmerz­ mitteln in Pulverform und werde wahrscheinlich wieder unerwartet vor euren geliebten Nasen stehen. Nichts zu machen.

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Briefe von Etty Hillesum

Verrückt, dass ich hier erst seit knapp 3 Tagen bin, es kommt mir schon wieder vor wie Wochen. Es ist nicht mehr so «idyllisch» wie im Sommer, oh nein. Wisst ihr was, ich belasse es bei diesem Gruß, ich schlafe jetzt ein bisschen und mache mich dann wieder auf den endlosen Weg durch die Baracken und den Schlamm. Es ist so schade, dass ich nicht bleiben kann, ich würde es so gern wollen. Da kommt gerade Vleeschhouwer hinein, ich gebe ihm jetzt diesen Brief mit. Bis später. Tschüss, ihr alle, und verzeiht mir bitte diesen kurzen, schlampigen Zettel. Alles, alles Liebe von Etty

An Swiep van Wermeskerken. Westerbork. 28. oder 29. November 1942. Westerbork. ? November.

Swiepkamerad, ein kurzer Gruß, ich kann mich wieder melden, während der ersten Tage69 waren alle Geräusche in mir durch den Schlamm und das Entset­ zen über die Zustände hier70 erstickt. Und auch körperlich habe ich mich in den ersten Tagen schlimm krank71 gefühlt, sodass ich dachte, ich müsste Hals über Kopf wieder weg von hier. Und nun bin ich froh, dass ich ge­ blieben bin. Gestern Abend gegen 10 Uhr stand ich allein auf dem großen Platz und entdeckte, dass der Große Bär auch über diesem abgelegenen Nest steht, es war ein tröstlicher Anblick. Hier steht eine Kiste mit Studienbüchern von mir, unter dem Bett von einem der Lagerinsassen,72 ich habe sie heute Mittag zum Vorschein ge­ holt und hoffe, heute Abend in der einen oder anderen ruhigen Ecke, die ich mir noch erobern muss, eine Stunde lang die Muttersprache meiner Mutter73 zu lernen. Ein Mensch muss seinen Weg, den er gehen zu müssen glaubt, einfach weitergehen, unter welchen Umständen auch immer. Ich glaube übrigens überhaupt nicht an «Umstände». Es bleibt immer noch irgendwo ein kleiner Spielraum, in dem man sich sein eigenes Leben auf­ bauen kann. Einfach ist das hier nicht, aber warum sollte es auch immer einfach sein?

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Swiepje, bei jedem Sanovite,74 den ich mit Honig bestreiche, schicke ich dir einen freundlichen Gedanken, dein Honig ist einfach herrlich, und ich habe täglich meine Freude daran. – Hier geschieht viel von Minute zu Minute, das Leben hat so über­ wältigend viele Aspekte, dass ich noch über gar nichts schreiben kann. Am komm. Samstag75 komme ich wieder nach Hause, und dann hoffe ich, dich und Jet76 bald wieder zu sprechen. So long, meine Liebe, viele Grüße an Jet. Etty

An Han Wegerif und andere. Westerbork. Sonntag, 29. November 1942. Sonntagabend. Vader Han, Käthe, Hans, Schwester Maria, nur einen Gruß. Schreiben von hier aus ist mir unmöglich, nicht ­wegen Zeitmangels, sondern wegen zu vieler Eindrücke. Hier stürmt zu viel auf einen ein. Ich glaube, dass ich über diese eine Woche ein Jahr lang ohne innezuhalten erzählen kann. Für komm. Samstag stehe ich auf der Urlaubsliste. Was für ein Privileg, noch von hier wegzukönnen und euch alle wiederzusehen. Bin froh, dass ich nicht sofort in den ersten Tagen die Beine in die Hand genommen habe; hin und wieder werfe ich mich eine Stunde ins Bett, und dann geht es schon wieder. Koffer, Kleidung und Decken sind angekommen. Die Mahlers kümmern sich ganz großartig um mich. Es ist jetzt halb 9 Uhr abends, und ich sitze wieder in ihrem gastfreundlichen kleinen Zimmer, das eine wahre Oase ist. Neben mir sitzt Vleeschhouwer, in ein Buch vertieft. Mahler und seine Frau und zwei Freunde spielen eine Runde Karten. Der kleine Eichwald, mein treuer Milchlieferant, sitzt in einer Ecke auf dem Boden neben Humpie, dem Hund, und nimmt die Jacke von Mijnheer Speyer77 auseinander, aus der er eine Holzfällerjacke machen will. Der Bruder von Stertzenbach78 (das wird Hans interessieren) schreibt hier Briefe und will uns gleich noch e­ twas von seinen Gefängniserfahrungen erzählen. Tante Lees79 Kochplatte steht da so vertraut in der Ecke, darauf werden einige gute Sachen für die Gemeinschaft gebraut. Gerade kam Wittmondt herein (dessen Frau80 ich in Amsterdam ein paarmal besucht habe; es sind alles solche vertrauten Leute für mich, dass ich ihre Namen mit dem Gefühl aufschreibe, ihr

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Briefe von Etty Hillesum

wisst schon, um wen es geht), er hatte ein weites Cape an, und wir brüll­ ten ihm im Chor entgegen: Du liebe Güte, Max, wie kommst du an dieses prächtige Cape, und Max – den man hier seinerzeit als Skelett aus Amers­ foort hereingebracht hat und der bei den Mahlers sorgfältig aufgepäppelt wurde – sagte sehr feierlich und eindrucksvoll: Dieses Cape ist noch mit Blut aus Amersfoort befleckt, und wahrhaftig waren noch dunkelrote ­Flecken darauf. Was für düstere Geschichten. Ich sitze in einer Ecke mit wenig Platz und schreibe ein bisschen vor mich hin. Gerade ist wahrhaftig noch ein junger Mann hereingekommen, ein Kattenburger,81 der morgen früh auf Transport muss. Und das alles auf einer Fläche von 2 mal 3 Metern. Die Zentralheizung ist an – ja, wahrhaftig –, und die Männer sitzen wegen der Hitze im Hemd da. Hier ist alles gleichermaßen paradox. In den Baracken, wo viele ohne Decken auf Bettgestellen aus Metall ohne Matratze liegen, geht man vor Kälte zugrunde. In den kleinen Häuschen, in denen es eine Zentral­ heizung gibt, kann man nachts vor lauter Hitze nicht schlafen. Ich schlafe mit 5 Kolleginnen in so einer kleinen Wohnbaracke. Die Betten sind je­ weils zu zweit übereinander. Die Betten stehen sehr unsicher auf ihren Beinen, und wenn sich meine dicke wienerische Bettgenossin über mir umdreht, wackelt das Bett wie ein Schiff im Sturm. Und nachts knabbern Mäuse an unseren Betten und an unseren Essensvorräten, ein einiger­ maßen unruhiger Zustand. Und was ich hier eigentlich tue? Ich manövriere wieder mit diesen 5 unseligen kleinen Kaffeebechern zwischen Hunderten von Menschen hindurch. Hin und wieder laufe ich aus purer Hilflosigkeit weg. So wie neulich, als eine alte Frau bewusstlos in einer Ecke zusammenbrach und man im ganzen Lager keinen Tropfen Wasser auftreiben konnte, weil die Wasserleitung zugedreht worden war. Und dann kamen die Leute aus Ellecom.82 Sie wurden direkt ins Kran­ kenhaus gebracht, ich habe in grenzenlosem Erstaunen an ihren Betten gesessen und muss sagen: Ich begreife immer noch nicht, dass Menschen einander so zurichten können und dass man dann noch die Gelegenheit hat, davon zu berichten. Ich habe einen kleinen Feldzug begonnen, um die Bibliothek, die hier in den Kellern eines verriegelten Magazins aufbewahrt wird, wieder ans Tageslicht zu holen. Überall spürt man hier das Bedürfnis nach Büchern. Aber alles wird vom Platzmangel ausgebremst. Am Dienstag habe ich eine Besprechung mit Paul Cronheim,83 dem

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Wagnermann, und dem Notar Spier, ich würde gern auf diesem Gebiet der geistigen Nahrung an die Arbeit gehen, mal sehen, ob das gelingt. Sehr schön ist es hier nicht: Zigeunerleben, Verarmung, Schlamm. Heute Nachmittag war ich in ein paar großen Baracken, bei einigen Kin­ dern bekam man das Gefühl, sie würden einem vor den Augen wegsterben. Ihr lieben Kinder, ich schreibe nichts besonders Aufmunterndes; trotz­ dem bin ich froh, dass ich hier bin. Was die Gesundheit angeht, bin ich noch nicht wirklich wiederhergestellt, da scheinen allerlei Wehwehchen herumzuspuken, nun ja, ich werde schon sehen, wie sich das entwickelt. Das hier ist kein richtiger Brief, aber ich hatte ein so schlechtes Gewis­ sen, dass ich euch nur dieses eine deprimierte Gekritzel84 geschickt habe. Westerbork hat mich ganz und gar verschlungen, Ende der Woche tauche ich wieder auf. Nein, man kann von hier aus nicht schreiben, man hätte einen ganzen Teil seines Lebens nötig, um all das zu verarbeiten. Und wie herrlich, dass ich nächste Woche wieder zu euch kommen kann. Danke für Ihren Brief, Pa Han. Und ganz entsetzlich liebe Wünsche für euch alle, und bis Ende der Woche. Etty

An Osias Kormann. Amsterdam. Ca. 22. Dezember 1942–26. Dezember 1942. Mein guter Osias! Ich wage es fast nicht Dir recht in die Augen zu sehen. So eine Treulosig­ keit! Wie kann ich das wieder gut machen. Ich möchte Dir wohl sagen: wenn Du nur einen winzigen Teil empfangen hättest von dem Vielen, was ich Dir in Gedanken habe zukommen lassen – ja, dann hättest Du schon zufrieden sein können. Aber meine Hand, die schreiben mußte, war immer müder als mein Geist und so habe ich Dich drei Wochen ohne ein einziges Wort gelassen, das ist nicht schön von mir. Aber Du hast das mir schon verziehen, ja? Sag bitte ja! Und übrigens: Du hast mir mal geschrieben in einem schönen Brief, den ich mir aufbewahrt habe in einem großen Kouvert, worauf «Westerbork» steht: «man muß nicht immer reden, man kann auch im Schweigen eine Verbindung herstellen und Zwiegespräche führen, ich glaube, daß das bei uns der Fall ist –.» Und das ist noch immer der Fall bei uns, nicht wahr?

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Briefe von Etty Hillesum Einige Tage später. Schade, Schade, daß Du nicht dabei warst: ich habe da gerade so einen span­ nenden Dialog mit Dir geführt über Materialismus und Realität und so. Ich ­inszeniere mir jetzt oft solche Dialoge, wenn ich nachts nicht schlafen kann. Es ist Freitagnacht halb drei, ich habe die kleine Lampe bei meinem Bett wieder angezündet. Ja, also: ich lebe jetzt wieder horizontal, in der mehr oder weniger gemütlichen Gesellschaft eines Gallensteines. Wenn dieser Stein sich nicht bald dazu entschließt, sich irgendwie aufzulösen, dann muß er ins Kran­ kenhaus – und ich muß dann auch mit. Was mein privater Schutzheiliger doch wohl mit mir vorhat? Ich war nie so eine große Heldin gesundheitlich, aber die letzten Monate ist es doch wirklich zu toll. Mein Organismus scheint sich rächen zu wollen, weil ich mich zu wenig um ihn gekümmert habe. Es ist so paradoxal: jeder Jude in Amsterdam gäbe Gott weiß was dafür in einem Krankenhaus liegen zu dürfen um nur nicht nach Westerbork und weiter zu kommen. Und ich möchte so gern wieder nach Westerbork, aber muß ­umziehen ins Krankenhaus. Es geht doch alles nach sehr unergründlichen Ge­ setzen. – Vielleicht doch vernünftiger wenn ich mal wieder versuche Morpheus zu verführen. Ich breche jetzt meine nächtliche Plauderei mit Dir ab, sehr nett, daß Du mir so lange Gesellschaft geleistet hast. Gute Nacht! 26 Dez. Samstagmittag. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer finde ich es: daß ich Dich so lange ohne ein Wort gelassen habe. Sofort nach meiner Rückkehr wollte ich Dir und auch Rosenberg und Haussmann schreiben: ihr wart so nett und so gast­ freundlich immer, ich habe mich so daheim gefühlt bei euch, Haussmann’s Kar­ toffelsuppe lebt bestimmt als kulinarischer Höhepunkt in meiner Erinnerung weiter, und die Chanoeka-Lichter

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in den großen Baracken  – daß ich zusam­

men mit euch da war, macht es zu einer noch wertvolleren Erinnerung. Daß ich während all dieser Zeit nicht zum Schreiben gekommen bin, kommt vielleicht doch, weil ich mich ziemlich elend gefühlt habe und im Anfang war ich auch ein bischen niedergeschlagen, als mein Arzt sagte, ich müsse erst mal wieder fünf Wochen liegen. Aber meine Zuversicht kommt doch immer wieder zurück. Ich bin froh, daß ich die 14 Tage in Westerbork war und daß ich unter ande­ rem wieder weiß wie Du wohnst und lebst. Lieber Osias, ich verspreche ab jetzt nicht so lange Pausen mehr zu machen.

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1941–1943 Natürlich grüßt Du den Semmy Rosenberg, und auch Deine Kollegen Haus­ smann (mitsamt «Nichte») und Frank und Grünberg,

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ja? Und sei mir selber

gegrüßt jetzt, aufs aller-allerherzlichste Etty

An zwei Schwestern in Den Haag. Amsterdam. Ende Dezember 1942. Amsterdam, Dezember 1942.87 Natürlich kam ich auch dieses letzte Mal mit verschiedenen Aufträgen aus der Heide zurück, wie gewöhnlich. Eine ehemalige Soubrette88 mit Gallen­ steinen bat um ihr Haarfärbemittel. Da gab es ein junges Mädchen, das nicht aus dem Bett konnte, denn es hatte keine Schuhe. Und noch mehr solcher Kleinigkeiten. Wobei das mit den Schuhen natürlich keine Kleinig­ keit war. Und dann gab es einen ganz bestimmten Auftrag, den ich so be­ reitwillig annahm, der mir aber immer schwerer auf der Seele wog. Diese Soubrette ist inzwischen längst wieder ordentlich gefärbt, und das KeineSchuhe-Mädchen kann wieder aufstehen und dem Schlamm trotzen, aber die Bitte von Dr. K.89 habe ich noch immer nicht erfüllt, und das liegt wirklich nicht nur daran, dass ich einige Wochen lang krank gewesen bin … Ein paar Abende vor meiner Abreise ging ich kurz in sein kleines, nüchternes Büro, wo er manchmal bis tief in die Nacht arbeitete. Er wirkte müde und schmal und blass. Er schob für einen Augenblick eine dicke Akte zur Seite, nicht ohne mir zuvor mit dem notwendigen Humor einige merkwürdige Dinge über diese Akte erzählt zu haben. Er sah sich dann ein bisschen suchend um und fand mit Mühe einige Worte: In diesen letzten Monaten habe man sich langsam wie ein alter Mann gefühlt. Irgendwann müsse dieser Krieg doch vorbei sein … Dann werde man aber zuallererst lange Zeit tief in einem großen Wald sitzen und vieles vergessen wollen … und man würde gern Sevilla und Malaga sehen, denn dort, wo man sich wünschte, Erinnerungen an diese Städte zu besitzen, habe man immer noch zwei Leerstellen. Man würde auch gern wieder an die Arbeit ge­ hen  … es werde doch sicher einen Völkerbund geben  … Wie wir vom Völkerbund so plötzlich auf diese beiden Schwestern90 in Den Haag zu sprechen kamen, eine blonde und eine dunkelhaarige, weiß ich nicht mehr genau. Aber er fragte, ob ich ihnen, wenn ich wieder auf Urlaub in

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Amsterdam wäre, auf meine eigene Art und Weise etwas über das Leben in Westerbork schreiben wolle. «Ja», sagte ich sehr verständnisvoll, «es ist sicher wichtig, mit dem Hin­ terland Kontakt zu halten.» Ihr Freund K. war fast empört, als er sagte: «Hinterland? Diese beiden Frauen bedeuten für uns viel mehr als ‹Hinterland›, sie bedeuten für uns ein ganzes Stück Leben», und dann erzählte er in diesem kahlen Büro spät­ abends so mitreißend von Ihnen beiden, dass ich seiner Bitte, Ihnen zu schreiben, gern Gehör schenkte. Aber ehrlich gesagt: Jetzt ist sie mir lästig, denn was soll ich Ihnen eigentlich über das Leben in Westerbork schreiben? Im Sommer kam ich zum ersten Mal hierher. Bis zu diesem Augen­ blick wusste ich über Drenthe nur, dass es dort viele Hünengräber gab, mehr nicht. Und jetzt fand ich dort plötzlich ein Barackendorf aus Holz vor, eingerahmt von Heide und Himmel, mit einem schrecklich gelben Lupinenfeld in der Mitte und Stacheldraht ringsherum. Und so viele, viele Menschenleben. Ehrlich gesagt hatte ich nicht gewusst, dass auf der Heide von Drenthe schon seit vier Jahren deutsche Emigranten festgehalten wur­ den, denn ich hatte in diesen Jahren viel zu viel mit den Sammlungen für spanische und chinesische Kinder91 zu tun. Ich lief dort die ersten Tage herum wie durch die Seiten eines Ge­ schichtsbuches. Ich traf auf Menschen, die bereits zu einer Zeit in Buchen­ walde und Dachau92 gesessen haben, in der diese Namen für uns noch e­ inen fernen und drohenden Klang hatten. Ich traf auf Menschen, die noch auf diesem Schiff93 gewesen waren, das rund um die Welt fuhr und an keinem einzigen Hafen anlegen durfte. Sie wissen schon, unsere Zeitungen waren damals voll davon. Ich habe viele Fotos von kleinen Kindern gesehen, die inzwischen an irgendeinem unbekannten Ort auf dieser Erde sicher ein ganzes Stück ge­ wachsen sein werden – es ist die Frage, ob sie ihre Eltern noch erkennen, wenn sie sie überhaupt jemals wiedersehen. Kurzum, man hatte das Gefühl, ein kleines Stück des jüdischen «Schicksals» der letzten 10 Jahre in greifbarer Form vor sich zu sehen. Und das, obwohl man dachte, es gäbe in Drenthe nur Hünengräber. Es nahm einem fast den Atem. In diesem Sommer von 1942 – es kommt mir vor, als wären Jahre vergan­ gen; dort hat sich in diesen wenigen Monaten mehr abgespielt, als man in ein paar wenigen Monaten verarbeiten könnte – wurde diese kleine Sied­

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lung bis auf die Knochen umgewühlt: Die alten Lagerbewohner erlebten vor ihren erstaunten Augen die massenhafte Deportation von Juden aus Holland in den Osten Europas. Auch sie selbst mussten direkt zu Anfang einen großzügigen Beitrag an Menschen liefern, als die Zahl der «freiwil­ ligen Arbeitskräfte» nicht ganz stimmte. Ich saß an einem Sommerabend am Rande dieses gelben Lupinenfeldes, das sich von unserer Essensbaracke bis an die Entlausungsbaracke er­ streckte, aß meinen Rotkohl und meinte nachdenklich und inspiriert: «Man müsste eine Chronik von Westerbork schreiben.» Ein älterer Mann zu meiner Linken – auch mit Rotkohl – antwortete: «Ja, aber dafür müsste man ein großer Dichter sein.» Er hat recht, man müsste dafür ein großer Dichter sein, mit journalis­ tischen Berichten schaffen wir es nicht mehr. Ganz Europa verwandelt sich langsam in ein einziges großes Lager. Ganz Europa wird über dieselben bitteren Erfahrungen verfügen. Es wird eintönig werden, wenn wir einander die nackten Tatsachenberichte von auseinandergerissenen Familien, geraubten Besitztümern und verlorenen Freiheiten mitteilen. Und über Stacheldraht und Eintopf kann man Außen­ stehenden auch nicht viel an lebendigen Schilderungen vermitteln – ich frage mich, ob noch viele Außenstehende übrig bleiben werden, wenn die Geschichte noch lange den von ihr eingeschlagenen Pfaden folgt. Sehen Sie, ich wusste es von vornherein: Das wird nichts mit meinem Be­ richt über Westerbork, schon beim ersten Anlauf versande ich in allgemei­ nen Betrachtungen. Und überhaupt, wenn man mehr oder weniger besinn­ lich eingestellt ist, eignet man sich eigentlich nicht dafür, einen bestimmten Ort und ein bestimmtes Ereignis zu beschreiben. Man kommt nämlich zu der Entdeckung, dass die, sagen wir, Grundstoffe des Lebens überall diesel­ ben sind und dass man sein Leben an jedem Ort dieser Erde sinnvoll leben oder sonst sterben kann und dass der Große Bär genauso zuverlässig über einem abgelegenen Nest steht wie über einer großen Stadt mitten im Land, wie, wie ich einfach einmal frech vermute, über einem Kohlebergwerk94 in Schlesien. Dass es also am Weltall nicht zu liegen scheint … Was ich also eigentlich nur sagen wollte: Ich bin keine Dichterin, und abgesehen davon fühle ich mich ziemlich hilflos, was dieses Versprechen K. gegenüber betrifft. Denn obwohl Westerbork für uns ein aufgeladener

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Begriff ist, der durch unser ganzes weiteres Leben klingen wird, wüsste ich immer noch nicht genau, was ich Ihnen über das Leben dort erzählen sollte. Es ist ein so unruhiges Leben, obwohl viele wahrscheinlich sagen würden, dass das Leben dort vielmehr von einer mörderischen Eintönig­ keit ist. Aber an dem Morgen, der auf den Abend folgte, an dem ich Ihren Freund K. mit einer so fanatischen Sehnsucht die Namen Sevilla und Malaga hatte aussprechen hören, begegnete ich ihm auf dem schmalen Platten­ weg95 zwischen Baracke 14 und Baracke 15. Er trug seinen charakteris­ tischen schwarzen Filzhut, der zwischen all den Holzbrettern und niedri­ gen Türen einen so verirrten Eindruck macht. Er ging schnell, denn er hatte Hunger, fand jedoch noch die Zeit, mir im Vorbeigehen eindring­ lich zuzurufen: «Sie denken also daran, worum ich Sie gebeten habe? Und wissen Sie, es wird für Sie auch eine große Bereicherung bedeuten, mit diesen beiden Schwestern Bekanntschaft zu schließen.» Und so befinde ich mich zu unerwartet später Stunde doch vor einigen Blättern unbeschriebenen Papiers … Tja – Westerbork. Wenn ich es richtig verstehe, war dieser Ort  – nun ein Brennpunkt jüdischen Leidens – vier Jahre zuvor noch wüst und leer, und der Geist des Justizministeriums96 schwebte über der Heide. «Noch kein Schmetterling war hier zu sehen, kein Blümchen, ja sogar kein Wurm», versicherten mir die ersten «Kampinsassen» sehr aufgeregt. Und jetzt? Lassen Sie mich für Sie einmal mit lockerem Griff ins Inventar langen. Es gibt ein Waisenhaus, eine Synagoge, ein kleines Leichenhaus und eine im Entstehen begriffene Sohlenherstellung.97 Ich habe davon reden hören, dass ein Irrenhaus gebaut werden soll, und der wachsende Komplex der Krankenbaracken umfasst, soweit ich weiß, bereits tausend Betten. Dieses operettenartige Zweipersonengefängnis,98 das sich in einer der beiden Ecken des Lagers befindet, scheint vom Platz her nicht mehr aus­ zureichen, und man denkt über den Bau eines größeren nach. Es wird sich für Sie vielleicht etwas seltsam anhören: ein Gefängnis in einem Ge­ fängnis. Es sind Regierungskrisen im Kleinen, mit allen Ellbogen, die dabei nun einmal eine Rolle zu spielen scheinen müssen.

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Es gibt einen holländischen und einen deutschen Kommandanten;99 der Erste ist schon länger hier, aber der Zweite hat mehr zu sagen. Von Letzterem heißt es außerdem, er liebe Musik und sei ein Gentleman. Ich kann das nicht beurteilen, obwohl ich sagen muss, dass er für einen Gen­ tleman doch ein etwas seltsames Amt bekleidet … Es gibt einen Theatersaal, in dem man in einer glorreichen Vergangen­ heit, als der Ausdruck «Transport» noch nicht existierte, einmal einen in­ validen Shakespeare100 auf die Bühne gebracht hat. Zurzeit sitzt man auf dieser Bühne mit Schreibmaschinen. Es gibt Schlamm, so viel Schlamm, dass man irgendwo zwischen den Rippen schon sehr viel innerlichen Sonnenschein besitzen muss, wenn man nicht das psychologische Opfer dieses ganzen Schlamms werden will. (Die Sache mit den kaputten Schuhen und nassen Füßen begreifen Sie natürlich ohne weitere Erklärung.) Obwohl das Lager nur ein einziges Stockwerk hat, hört man eine Viel­ zahl von Akzenten, als hätte man in unserer Mitte den Turm von Babel errichtet: Bayerisch und Groninger Mundart, Sächsisch und Limburgisch, Den Haager Akzent und Ostfriesisch, Deutsch mit polnischem und Deutsch mit russischem Akzent, Holländisch mit deutschem und Deutsch mit holländischem Akzent, Niederländisch vom Waterlooplein und Ber­ linerisch – und dann möchte ich Sie kurz darauf hinweisen, dass es hier um eine Fläche von gut einem halben Quadratkilometer geht. Der Stacheldraht ist lediglich Auffassungssache. «Wir hinter Stachel­ draht?», meinte einmal ein unverwüstlicher alter Herr mit einer melan­ cholischen Geste. «Die da leben doch wohl hinter Stacheldraht», und da­ mit deutete er in die Richtung der hohen Villen,101 die als Wachen auf der anderen Seite der Umzäunung stehen. Wenn es jetzt nur Stacheldraht rund um das Lager gäbe, wüsste man zumindest, woran man wäre, aber auch im Lager selbst, um die Baracken herum und zwischen ihnen hindurch, winden sich diese Drähte des zwan­ zigsten Jahrhunderts in einem labyrinthartigen und undurchdringlichen Netzwerk. Hin und wieder begegnen einem Leute mit Schrammen im Gesicht oder auf den Händen. An den vier äußeren Ecken unseres Holzdorfes stehen Wachtürme, eine windige Plattform auf vier hohen Pfählen. Ein Mann mit einem Ge­ wehr zeichnet sich dort gegen die wechselnden Winde ab. Ab und zu hört man tatsächlich auch Schüsse über der Heide, z. B. dieses eine Mal, als sich dieser blinde Mann zu dicht an den Stacheldraht verirrt hatte …

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Schon allein darum ist es so schwierig, etwas über Westerbork zu berich­ ten, weil es einen so zwiespältigen Charakter besitzt. Einerseits entwickelt sich dort gerade eine stabile Gesellschaft, zwar eine Notgemeinschaft, aber doch mit allen Aspekten, die eine menschliche Gesellschaft haben kann, und andererseits ist es ein Lager für ein Volk auf Durchreise, und es gibt ständig große Erschütterungen, wenn die Menschenmassen dort hereinge­ spült werden, aus den großen Städten und aus der Provinz, aus Sanatorien, aus Gefängnissen und Straflagern, aus allen Ecken und Enden der Nieder­ lande, um einige Tage darauf weiterdeportiert zu werden, ihrem unbe­ kannten Ziel entgegen. Sie müssen verstehen, auf diesem halben Quadratkilometer herrscht ein großes Gedränge. Denn natürlich ist nicht jeder wie dieser eine Mann, der seinen Rucksack packte und aus eigener Entscheidung mitging und auf die Frage nach dem «Warum» antwortete, er wolle frei sein zu gehen, wann immer er das wolle. Ich musste damals an diesen römischen Richter denken, der zu einem Märtyrer sagte: «Weißt du, dass ich die Macht habe, dich zu töten?», worauf der Märtyrer entgegnete: «Aber wisst Ihr auch, dass ich die Macht habe, getötet zu werden?»102 Aber ansonsten herrscht doch wirklich ein großes Gedränge in Wester­ bork, ungefähr wie auf dem letzten Stück Treibholz, an dem sich viel zu viele Ertrinkende festklammern, nachdem das Schiff gesunken ist. Man will lieber hinter Stacheldraht überwintern, auch in der ärmlichs­ ten Provinz Hollands, als verschleppt zu werden, tief hinein nach Europa, in unbekannte Gebiete und an Orte, von denen aus bisher nur sehr dürf­ tige und vage Informationen zu den Zurückgebliebenen durchgedrungen sind. Aber die Zahl muss vollgemacht werden und so auch der Zug, der mit beinahe mathematischer Regelmäßigkeit seine Ladung holen kommt,103 und man kann nicht alle zurückbehalten, indem man angibt, sie seien im Lager unentbehrlich oder zu krank für den Transport, auch wenn man es bei vielen versucht. Man denkt manchmal durchaus, dass es einfacher wäre, selbst einmal «auf Transport» zu gehen, als immer wieder Zeuge der Ängste und der Verzweiflung dieser Tausenden und Abertausenden zu werden, von Männern, Frauen, Kindern, Invaliden, Schwachsinnigen, Säuglingen, Kranken und Alten, die in einer fast ununterbrochenen Pro­ zession durch unsere helfenden Hände gehen. Meine Feder verfügt nicht über die beeindruckenden Akzente, um auch nur im Entferntesten ein Bild dieser Transporte entwerfen zu können. So von außen schien es auf die Dauer schon zu einer trostlosen Eintönig­

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keit zu werden, und doch war jeder Transport anders und hatte gleichsam seine eigene Stimmung. Als der erste Transport durch unsere Hände ging, kam ein bestimmter Moment, in dem man meinte, man würde jetzt nie wieder lachen und fröhlich sein können, man hätte sich in einen anderen Menschen verwan­ delt, einen plötzlich gealterten Menschen, entfremdet von allen früheren Freunden. Aber wenn man dann unter die Menschen geht, erfährt man wieder, dass dort, wo Menschen sind, auch Leben ist und dass das Leben da auch wieder in seinen Tausenden von Nuancierungen ist, «mit einem Lachen und mit einer Träne», um es einmal ganz platt zu sagen. Es machte einen großen Unterschied, ob man vorbereitet kam, mit gut gepacktem Rucksack, oder ob man unerwartet aus dem Haus gezerrt oder von der Straße weggerissen worden war. Mit der Zeit erlebten wir nur noch Letzteres. Bei den ersten Razziatransporten, als Menschen in Pantoffeln und ­Unterwäsche kamen, zog sich ganz Westerbork in einer einzigen entsetz­ ten und heroischen Geste bis aufs Hemd aus. Und man hat, in hier und da großartiger Zusammenarbeit mit dem Hinterland, versucht, die Auf­ brechenden so gut wie möglich auszurüsten. Aber wenn man an die vielen denkt, die ohne Kleidung dem Winter in Osteuropa entgegengegangen sind, und wenn man an die eine dünne Decke denkt, die wir manchmal in der Nacht austeilen konnten, einige Stunden vor dem Aufbruch … Da kam das Proletariat aus den großen Städten und zeigte seine Armut und Verwahrlosung in den kahlen Baracken, und viele standen mit offe­ nem Mund da und fragten sich: Wie war das eigentlich damals mit dieser Demokratie …? Die Rotterdamer waren eine Klasse für sich, gestählt durch das Bom­ bardement in den Kriegstagen. «Vor kleinen Dingen haben wir keine Angst mehr», hörte man von vielen, «wir haben das überstanden, also schaffen wir das jetzt bestimmt auch», und sie zogen einige Tage später singend zum Zug, aber das war damals auch noch mitten im Sommer, und da gab es noch keine alten Menschen und Invaliden, die auf Tragen hinter der Prozession hergebracht werden mussten, so wie später … Die Juden aus Heerlen und aus Maastricht, und wie all die Städte dort heißen mögen, kamen mit Geschichten, die geradezu dröhnten von dem großartigen Auszug,104 den Limburg ihnen bereitet hatte; man spürte, dass sie davon moralisch eine lange Zeit würden zehren können. «Und die

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­ atholiken haben versprochen, für uns zu beten, das können sie ja auch, K jedenfalls besser als wir», sagte einer von ihnen. Die Haarlemer sagten etwas reserviert und säuerlich: «Die Amster­ damer haben so einen Galgenhumor.» Es gab kleine Kinder, die kein Butterbrot annehmen wollten, bevor nicht ihre Eltern eines bekommen hatten. Ein merkwürdiger Tag war es, als jüdische Katholiken105 oder katho­ lische Juden  – wenn man so will  – mit einem Transport ankamen, die Nonnen und Priester mit dem gelben Stern auf ihren Klostertrachten. Ich erinnere mich an zwei junge Männer – ein Zwillingspaar106 –, beide mit demselben schönen dunklen Ghettogesicht und ihrem unverdorbenen, kindlichen Blick unter der Mütze hervor, die freundlich und erstaunt er­ zählten, dass sie eines Morgens um halb fünf aus der Morgenmesse weg­ geholt worden waren und dass sie in Amersfoort Rotkohl gegessen hatten. Es gab einen noch ziemlich jungen Priester,107 der 15 Jahre lang sein Kloster nicht verlassen hatte und nun zum ersten Mal wieder in die «Welt» kam. Ich stellte mich eine Weile zu ihm und folgte seinen Blicken, die ruhig durch die große Baracke schweiften, in der die Hereingekommenen aufgefangen wurden. Die kahl Geschorenen, Geschlagenen und Misshandelten, die an die­ sem Tag zusammen mit den Katholiken zu uns hereingespült worden ­waren, taumelten mit noch unsicheren Bewegungen durch den Bretter­ raum und streckten die Hände nach dem Brot aus, von dem es nicht aus­ reichend gab. Ein junger Jude blieb kurz bei uns stehen, die Jacke hing ihm viel zu weit um den Körper, aber da brach ein unverwüstliches Grinsen durch seine rabenschwarzen Bartstoppeln, als er sagte: «Sie haben versucht, mit meinem Schädel die Gefängnismauer kaputtzubekommen, aber mein Schädel war härter als die Mauer!» Zwischen den vielen kahl geschorenen Köpfen bewegten sich so selt­ sam die weiß umhüllten Köpfe der Frauen, die in der Entlausungsbaracke eine Hygienebehandlung durchlaufen hatten und nun mit beschämten und traurigen Gesichtern herumliefen. Kleine Kinder schliefen auf dem staubigen Holzboden ein oder spiel­ ten zwischen den großen Leuten Fangen. Zwei Kleine flattern hilflos um den schweren Körper einer Frau herum, die bewusstlos in einer Ecke liegt: Sie können nicht verstehen, dass ihre Mutter einfach so liegen bleibt und nicht antwortet.

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Ein grauhaariger, kerzengerader alter Herr mit einem scharfgeschnitte­ nen Aristokratenprofil starrt auf dieses ganze infernalische Schauspiel und sagt ständig vor sich hin: «Ein schrecklicher Tag! Ein schrecklicher Tag!» Und zwischen all dem das ununterbrochene Geklapper vieler Schreib­ maschinen: das Maschinengewehrfeuer der Bürokratie. Durch viele kleine Fensterscheiben sieht man Holzbaracken, Stachel­ draht und dürre Heide. Ich schaue zu dem Priester auf, der nun, nach 15 Jahren, zum ersten Mal wieder in der «Welt» ist, und frage ihn: «Und – wie finden Sie die Welt jetzt?» Aber sein Blick steht unerschrocken und freundlich über der braunen Kutte, als wäre ihm alles, was er um sich herum sieht, bekannt und ver­ traut, wenn auch von vor langer Zeit. Und später erzählte mir jemand, er habe an dem Abend desselben ­Tages einige Priester in der Dämmerung gehen sehen, zwischen zwei dunklen Baracken hindurch, hintereinander, Rosenkränze betend, ge­ nauso unerschütterlich, als würden sie noch in ihren Klostergängen ihre Gebete sprechen. Und ist es nicht auch so, dass man überall beten kann, in einer Holz­ baracke genauso gut wie in einem Kloster und außerdem an jedem Ort auf dieser Erde, wo Gott, in unruhigen Zeiten, nun einmal meint seine Ebenbilder niederwerfen zu müssen? Für diejenigen, die das nervenaufreibende Vorrecht genießen, «bis auf ­weiteres» in Westerbork bleiben zu dürfen, besteht eine große moralische Gefahr: die des Abstumpfens und des Verhärtens. Was sich da im letzten halben Jahr vor unseren Augen an mensch­ lichem Leid abgespielt hat und sich noch täglich abspielt, ist mehr, als ein einzelner Mensch in einem halben Jahr verarbeiten könnte. Man hört auch täglich in allen Tonarten um sich herum: «Wir wollen nicht nach­ denken, wir wollen nichts fühlen, wir wollen so schnell wie möglich ver­ gessen.» Und es scheint mir, dass das eine große Gefahr ist. Es ist wahr, es geschehen Dinge, die wir früher mit unserem Verstand nicht für möglich gehalten haben. Aber vielleicht haben wir noch andere Organe als den Verstand in uns, die wir früher auch nicht gekannt haben und die möglicherweise imstande sind, dieses Verblüffende zu erfassen. Ich glaube, dass es für jedes Ereignis ein Organ im Menschen gibt, mit dem er dieses Ereignis auch verarbeiten kann.

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Wenn wir aus den Lagern, wo auch immer auf der Welt, nur unsere Körper und nichts sonst retten können, dann wird das zu wenig sein. Es geht doch schließlich nicht darum, dass man um jeden Preis am Leben bleibt, sondern auch darum, wie man am Leben bleibt. Ich denke manch­ mal, dass jede neue Situation, sei sie gut oder schlecht, es in sich trägt, den Menschen mit neuen Einsichten bereichern zu können. Und wenn wir die harten Tatsachen, mit denen wir unwiderruflich konfrontiert werden, ­ihrem Schicksal überlassen, wenn wir sie nicht in unsere Köpfe und unsere Herzen einlassen, um sie sich dort einnisten und in Tatsachen verwandeln zu lassen, an denen wir wachsen und durch die wir dem Ganzen einen Sinn geben könnten, dann sind wir keine lebensfähige Generation. Es ist alles wirklich nicht so einfach und für uns Juden vielleicht noch am wenigsten einfach, aber trotzdem, wenn wir einer Welt der Nachkriegs­ zeit, einer völlig verarmten Welt, nicht mehr zu bieten haben als unsere um jeden Preis geretteten Körper und keine neue Überzeugung, die aus den tiefsten Tiefen unserer Not und unserer Verzweiflung kommt, dann wird das zu wenig sein. Aus den Lagern selbst werden neue Gedanken nach draußen ausstrahlen müssen, neue Einsichten werden Helligkeit um sich herum verbreiten müssen, über unsere Stacheldrahtmauern hinweg, und müssen sich dann mit den neuen Einsichten verbinden, die man sich da draußen genauso blutig und unter mit der Zeit beinahe ebenso schwierigen Umständen erkämpfen muss. Und auf einer gemeinschaftlichen Grundlage des ehrlichen Suchens nach erhellenden Antworten auf all das rätselhafte Geschehen wird dann vielleicht das entgleiste Leben einen vorsichtigen Schritt nach vorn machen können. Und darum erschien es mir auch als eine so große Gefahr, dass man immer wieder um sich herum hörte: «Wir wollen nicht nachdenken, wir wollen nichts fühlen, es ist einfach das Beste, gegenüber all diesem Elend abzustumpfen.» Als ob nicht das Leiden  – in welcher Form auch immer es zu uns kommt – genauso zur menschlichen Existenz gehört? Ich merke plötzlich, dass ich sehr weit über die Grenzen der arglosen Bitte Ihres Freundes K. hinausgegangen bin. Ich sollte Ihnen schließlich etwas über das Leben in Westerbork berichten und nicht über meine persön­ lichen Ansichten. Ich kann nichts machen, es ist mir einfach so entwischt. Aber diese alten Menschen? All die steinalten und invaliden Menschen?

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Was soll ich bei ihrem Anblick mit allen meinen großen Weisheiten an­ fangen? In der Geschichte von Westerbork wird das Kapitel über die Alten ­sicher das traurigste. Es wird vielleicht noch entsetzlicher sein als das über die Misshandelten von Ellecom, bei deren verstümmelter Ankunft ein Schauder des Entsetzens das ganze Lager durchlief. Zu jungen und zu gesunden Leuten konnte man Dinge sagen, an die man selbst glaubte und die man im eigenen Leben auch wahr machen kann: dass uns die Geschichte ganz sicher ein Schicksal von sehr unge­ wöhnlichen Maßstäben auf die Schultern geladen hat und dass wir eine starke Haltung zu finden versuchen mussten, mit der wir dieses besonders schwere Los würden tragen können. Man konnte darüber sprechen, dass wir uns doch auch als Frontsol­ daten betrachten konnten, auch wenn das schon sehr seltsame Fronten waren, an die man uns schickte. Es schien sogar, als wären wir zur völligen Passivität verdammt, aber es konnte uns doch niemand daran hindern, unsere inneren Kräfte zu mobilisieren? Aber haben Sie schon einmal von 80-jährigen Frontsoldaten gehört, mit dem rot und weiß bemalten Stock als Waffe, den Blinde bei sich ­haben? Eines Morgens im Sommer stieß ich in der Frühe auf einen Mann, der ganz außer sich vor sich hinmurmelte: «Was haben sie uns um Himmels willen denn jetzt für Arbeitskräfte für Deutschland geschickt!» Und als ich zum Eingang des Lagers geeilt war, wurden sie genau in diesem Moment von klapprigen Lastwagen auf unserer Heide abgeladen: viele alte Leute. Und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, standen wir ziemlich sprachlos da. Das schien uns doch wirklich ein wenig zu weit zu gehen. Aber nach eini­ ger Zeit kannten wir es schon nicht mehr anders und fragten einander bei jedem eintreffenden Transport: «Und – waren diesmal viele Alte und Inva­ liden dabei?» Ach, wissen Sie, das hier ist ein so schrecklich trauriges und beschä­ mendes Stückchen Menschheitsgeschichte, dass man nicht weiß, wie man darüber sprechen soll. Man schämt sich, dabeigestanden zu haben, ohne es verhindern zu können. Da war eine alte Frau, die ihre Brille und ihr Medizinfläschchen «zu Hause» auf dem Kaminsims vergessen hatte; sie fragte, ob sie die nun be­ kommen könne und wo sie hier eigentlich genau sei und wohin sie gehen solle.

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Eine Frau von 87 Jahren klammerte sich mit solcher Kraft an meiner Hand fest, dass ich glaubte, sie würde sie nie wieder loslassen, und sie er­ zählte, wie die Schwelle ihres Häuschens immer geglänzt habe und dass sie noch nie in ihrem Leben gewohnt gewesen sei, beim Schlafengehen die Kleidungsstücke unter das Bett zu werfen. Und dieser alte, gebeugte Herr von 79 Jahren. Er war seit 52 Jahren verheiratet, erzählte er, und jetzt lag seine Frau in Utrecht im Kranken­ haus und ihn würde man am nächsten Tag aus Holland wegbringen … Und wenn ich jetzt Seite um Seite so weitermachen würde, wüssten Sie es immer noch nicht. Wie diese Menschen da bei uns entlangschlurften und sich abmühten und hinfielen und Hilfe brauchten und Fragen stell­ ten wie Kinder. Hier konnte man mit Worten nicht viel anfangen, und eine Hand auf der Schulter wog manchmal noch zu schwer. Ach nein, diese alten Menschen, das ist ein Kapitel für sich. Ihre hilf­ losen Gesten und erloschenen Gesichter bevölkern noch viele schlaflose Nächte … Innerhalb einiger Monate ist die Bevölkerung von Westerbork von 1000 auf plus / minus 10 000 verschlammt. Die größte Zunahme stammt aus den grausamen «Oktobertagen»,108 in denen Westerbork nach einer riesi­ gen Judenjagd überall in den Niederlanden von einer Überschwemmung aus Menschen heimgesucht wurde, die es fast zu verschlingen drohte. Dort gibt es also nicht gerade etwas, was man eine organisch gewach­ sene Gesellschaft mit regelmäßigem Atem nennen kann, aber trotzdem – und genau das raubt einem geradezu den Atem  – findet man dort alle ­Aspekte, Klassen, Ideologien, Gegensätze und Strömungen der heutigen Gesellschaft wieder. (Und die Fläche beträgt immer noch nur einen einzi­ gen halben Quadratkilometer.) Rückwirkend betrachtet ist das eigentlich nicht einmal verblüffend, denn jeder Einzelne trägt doch schließlich die Strömungen, das Stück Gesellschaft, das kulturelle Niveau, das er verkör­ pert, in seinem Innersten mit sich mit? Aber wovon man doch immer wieder von Neuem getroffen wird, ist die Tatsache, dass in der gemeinschaftlichen Not die Gegensätze immer weiter bestehen bleiben. Im Schlamm zwischen zwei großen Baracken traf ich einmal eine junge Frau, die mir berichtete, wie sie durch einen Zufall in Westerbork gelandet war. (Das ist eine typische allgemeine Erscheinung: Alle glauben, dass gerade ihr eigener Fall ein unglücklicher Zufall ist, eine gemeinschaft­

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liche historische Einschätzung der Situation haben wir im Allgemeinen noch nicht erreicht.) Aber um auf diese Frau zurückzukommen: Sie er­ zählte mir etwas Trübsinniges von Paketen, die einfach nicht ankommen wollten, und von einem Paar verloren gegangener Schuhe. Doch plötzlich hellte sich ihre Miene auf, als sie sagte: «Aber wir haben es ganz großartig getroffen mit den Leuten, wir sind eine richtige Elitebaracke. Weißt du, wie wir unsere Baracke nennen?», fuhr sie voller Stolz fort. «Die Biegung der Heerengracht!»109 Perplex stand ich da, schaute ihr von den kaputten Schuhen ins ge­ schminkte Gesicht und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte … Von allen Nöten im Konzentrationslager Westerbork ist die Platznot ­sicher die größte. Von den 10 000 Menschen sind ungefähr zweieinhalbtausend in den 215 kleinen Wohnungen untergebracht, aus denen früher das Lager haupt­ sächlich bestand und die im Zeitalter vor den Transporten jeweils nur von einer einzigen Familie bewohnt wurden. Jedes Häuschen hat zwei, manchmal auch drei kleine Zimmer und eine Küche, in der sich ein Wasserhahn befindet, und ein WC. Es gibt keine Klingel an der Haustür, was das Eintreten sehr verkürzt. Wenn man die Haustür öffnet, steht man sofort mitten in der Küche. Wenn man Freunde besuchen will, die im hinteren Zimmer hausen, bricht man mit einer rasch erlernten Freimütigkeit durch das vordere Zimmer, wo die Familie dann z. B. gerade zu Tisch sitzt oder sich streitet oder ins Bett geht, je nachdem. Seit einiger Zeit sind die Zimmer außerdem meistens vollgestopft mit Be­ suchern aus den großen Baracken, denen man gern einmal entkommen will. Diese Zimmerbewohner sind nun also die fürstlich Untergebrachten, die rundum Beneideten und die ständig Belagerten von Westerbork. Die große, himmelschreiende Not von Westerbork beginnt eigentlich erst in den kolossalen, in aller Eile errichteten Baracken, in diesen voll­ gestopften Menschenschuppen aus zugigen Latten, wo unter einem nied­ rig hängenden Himmel der trocknenden Wäsche Hunderter Menschen die Eisenpritschen drei Etagen hoch dastehen. Die unseligen Franzosen haben auch nie vermuten können, dass auf den Betten, die sie einmal für ihre Maginot-Linie gebaut haben, einmal jüdische Verbannte irgendwo in der Heide von Drenthe ihre Angstträume durchleben würden. Ich habe mir näml. sagen lassen, dass diese Betten von der Maginot-Linie stammen.

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Briefe von Etty Hillesum

Auf diesen Pritschen lebt und stirbt man also, man isst, man liegt krank da oder leidet unter Schlaflosigkeit, weil während der Nacht so viele Kin­ der weinen oder weil man sich immer wieder fragt, warum von den vielen Tausenden, die schon von diesem Ort aus weitergezogen sind, fast nie Nachrichten kommen. Unter den Betten liegen Koffer, an den Eisenstangen hängen Ruck­ säcke, die einzigen Aufbewahrungsplätze, die es gibt. Das Mobiliar besteht außerdem aus groben Holztischen und schmalen Holzbänken. Über die Hygienesituation werde ich in meinem begrenzten Bericht kein Wort verlieren, sonst müsste ich Ihnen einige unappetitliche Augen­ blicke bereiten. Über den großen Raum verteilt stehen einige Öfen, die gerade genug Wärme für die alten Frauchen verbreiten, die in einem Kreis darum ­herum gedrängt sitzen. Wie man in diesem Winter in diesen Baracken leben soll, ist uns noch ziemlich unklar. All diese großen Menschenlagerhäuser sind auf genau dieselbe Art und Weise, mitten im Schlamm, errichtet worden und auf dieselbe, sagen wir, nüchterne Weise eingerichtet, aber das Merkwürdige ist, dass man beim Gehen durch die eine das Gefühl hat, durch ein schmuckloses Armen­ viertel zu irren, während man in einer anderen z. B. den Eindruck be­ kommt, in einem Wohnviertel des gediegenen Bürgertums zu sein. Es ist eigentlich noch stärker; es ist, als würde jede Pritsche und jeder Bauholz­ tisch eine eigene Atmosphäre ausstrahlen. Ich kenne in einer dieser Baracken einen Tisch, auf dem abends eine Kerze in einer Glaslaterne brennt, und drum herum sitzen etwa acht Leute, und das wird dort die «Bohemien-Ecke» genannt. Und wenn man einige Schritte weiter an den nächsten Tisch geht, um den auch etwa acht Leute sitzen  – der einzige Unterschied besteht vielleicht darin, dass dort statt ­einer Kerze ein paar schmutzige Töpfe stehen –, dann ist es, als käme man in eine ganz andere Welt. Es scheint, als würden gleiche Umstände noch keine gleichen Men­ schen schaffen. Dort auf diesem unfruchtbaren Stück Heide von fünfhundert auf sechs­ hundert Metern110 stranden auch Galionsfiguren aus dem kulturellen und politischen Leben der großen Städte. Alle Kulissen sind plötzlich in einer mächtigen Gebärde rund um sie herum weggebrochen, und sie stehen noch ein wenig zitternd und verunsichert auf dieser zugigen, offenen

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Bühne, die Westerbork heißt. Um ihre aus dem Zusammenhang gerisse­ nen Gestalten hängt noch greifbar die Atmosphäre des unruhigen Lebens einer komplexeren Gesellschaft als dieser hier. Sie gehen an dem dünnen Stacheldraht entlang, und ihre Silhouetten schieben sich lebensgroß und ungeschützt an der großen Fläche des Him­ mels entlang. Man muss gesehen haben, wie sie dort entlanggehen … Die gut geschmiedete Rüstung aus Stellung, Ansehen und Besitz ist auseinandergefallen, und sie stehen jetzt im letzten Hemd ihrer Mensch­ lichkeit da. Sie stehen in einem leeren Raum, begrenzt durch Himmel und Erde, und werden selbst diesen Raum mit dem bevölkern müssen, was an Möglichkeiten in ihrem eigenen Inneren existiert – außerhalb davon gibt es nichts. Man merkt nun, dass es im Leben nicht ausreicht, nur ein fähiger P ­ olitiker oder ein begabter Künstler zu sein, in der größten Not fordert das Leben ganz andere Dinge von einem. Ja, es ist wahr, wir werden wirklich auf unsere letzten menschlichen Werte hin geprüft. Und jetzt habe ich Ihnen, durch meine weitschweifigen Erzählungen, viel­ leicht wirklich den Eindruck vermittelt, ich hätte Ihnen etwas über Wes­ terbork erzählt? Wenn ich dieses Westerbork vor meinem geistigen Auge entstehen lasse, in all seinen Facetten und in seiner bewegten Geschichte, in all seinen geistigen und materiellen Nöten, dann weiß ich, dass es mir in gar keiner Weise gelungen ist. Und außerdem: Das hier ist ein sehr ein­ seitiger Bericht. Ich könnte mir einen anderen vorstellen, der mehr von Hass und Verbitterung und Rebellion erfüllt wäre. Aber Rebellion, die erst geboren wird, wenn die Not die eigene Person berührt, ist keine echte Rebellion und wird nie fruchtbar sein können. Und die Abwesenheit von Hass bedeutet noch nicht die Abwesenheit von elementar-sittlicher Empörung. Ich weiß, dass die, die hassen, ihre guten Gründe dafür haben. Aber wa­ rum sollten wir immer wieder den bequemsten und einfachsten Weg wählen müssen? Ich habe dort so stark erfahren, wie jedes Atom Hass, das man dieser Welt hinzufügt, sie noch unbewohnbarer macht, als sie schon ist. Und deswegen meine ich auch, vielleicht auf kindliche, aber doch auf hartnäckige Weise, dass die Erde nur durch die Liebe wieder ein wenig bewohnbarer werden könnte, worüber einst der Jude Paulus an die Ein­ wohner der Stadt Korinth schrieb, im 13. Kapitel seines ersten Briefes.111

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Briefe von Etty Hillesum

An Osias Kormann. Amsterdam. Samstag, 16. Januar 1943. 16-1-43. Hör mal Du Osias, das fände ich schlimm: hast Du bis jetzt noch gar keine Post von mir erhalten? Von Vleeschhouwer bekomme ich diesen Eindruck. Von wel­ cher Treulosigkeit mußt Du mich dann wohl verdächtigen! Ich muß es Dir ehr­ lich gestehen: ich habe Dir bis jetzt nur éin Mal geschrieben, ziemlich ausführ­ lich, mitten in der Nacht, mit der Versprechung bald wieder zu schreiben. Aber das «bald» hat sich ausgedehnt zu einigen Wochen. Weißt Du Osias, ich habe viele Freunde. Es gibt welche, die zu mir kom­ men mit ihren seelischen Nöten und mit denen ich viel sprechen muß. Es gibt mehrere, welchen ich regelmäßig und ausführlich schreibe, weil ich merke, daß sie das brauchen und ich ihnen helfen will. Mit Dir ist es wieder etwas ganz anderes: Du bist dá in meinem Leben, Du bist gar nicht mehr wegzudenken aus meinem Leben, ich führe oft Gespräche mit Dir, aber finde es nie nötig sie niederzuschreiben, ich denke immer, Du merkst das ohne Briefe auch wohl. Wenn Du mal länger nicht von mir hörst, mußt Du nie enttäuscht sein, oder vielleicht traurig, ich denke immer mit dem­ selben unveränderlichen großen und guten Gefühl an Dich. Heutemorgen, als ich etwas über Dich lag nachzudenken, kam mir plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis, Dir das nochmals in soviel Worten zu sagen. Es würde mir so schrecklich Leid tun, wenn Du den Eindruck bekommen würdest, daß ich mich weniger um Dich kümmere wie früher. Das Schöne und Menschliche, was ich mit Dir erlebt habe, ist in mein Gefühlsleben einverleibt und ist immer da. Ich hoffe, Du hast meinen ersten Brief erhalten, es standen ein paar Kleinig­ keiten darin, wovon ich gerne hätte, daß sie unter Deine Augen gekommen sind. Du hast viel zu tun, ja? Vielleicht höre ich doch mal ein paar Worte von Dir, gelegentlich? Und Du haust noch immer mit dem guten Rosenberg in dem ­ruhigen hinteren Zimmer? Wie gern ich da mal wieder gesund hineinspazieren möchte. Aber vorläufig lautet das Parol bei mir: liegen, liegen und liegen. Aber auch in einem Bett kann man sein Leben leben, man muß es wenigstens ver­ suchen. Bis ein anderes Mal, Osias Kormann! In Freundschaft Etty. Grüsse an Rosenberg.

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An Osias Kormann. Amsterdam. Donnerstag, 21. Januar 1943. 21-1-43. Aber das wäre ja wunderbar, Osias, wenn Du mich besuchen kommst! Du bist immer und zu jeder Zeit willkommen! Ich wohne ganz nah beim «Concert­ gebouw», Linie 16 (ich habe gehört, ihr dürft Tram fahren,

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wenn ihr auf Urlaub

kommt) hält gerade vor meiner Tür und Linie 3 um die Ecke. Osias, das wäre wirklich schön, wenn Du kommst. Vielleicht doch am bes­ ten, wenn Du mir zuvor eine kleine Karte schickst, wenn Du kommst, dann kann ich dafür sorgen, daß keine anderen Freunde kommen und einem even­ tuellen Schüler absagen (dann und wann gebe ich noch Stunden). Wenn Du dazu Gelegenheit hast, kannst Du mich auch zuvor anrufen, wenn Du in Am­ sterdam bist: 23830. Und auf der Haustür steht: Wegerif. So, jetzt kannst Du Dich nicht irren. Wie lange warst Du nun schon nicht in Amsterdam? Ich denke, Du wirst Dich freuen mal etwas anderes als Heide zu sehen? Und hast Du gute Freunde hier, wohin Du gehst? Es geht hier höllisch zu, mit den Juden und nicht núr mit den Juden. Die Wogen der Angst und der Vernichtung steigen immer höher. Viele, die zu mir kommen, sagen: Du liegst da gut und geschützt, bleib nur ruhig liegen. Ich möchte aber mit jedem gesunden Menschen umtauschen, auch wenn ich dafür nach Polen kommen sollte. Mein Arzt wollte später doch nicht operieren lassen, weil in meinem Alter Gallensteinoperationen vor 40 % mißlingen. Und so dauert es jetzt ein bischen lange mit mir. Aber ich komme unbedingt nach Westerbork zurück in mehreren oder wenigeren Wochen. Ich habe noch einen kleinen Kampf dafür geführt um meine «Reisegeneh­ migung» nach W. verlängert zu bekommen, jetzt läuft er bis 15 Februar und ich bin noch immer Mitglied des sehrgeliebten Jüdischen Rats, Abteilung Wester­ bork. Ja, wirklich, ich komme zurück, aber Du kommst erst mal zu mir, ja? Dies ist kein Brief, heute, nur ein paar Worte um zu sagen, wie ich mich freue, wenn Du kommst und daß Du zu jeder Zeit willkommen bist. Etty

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Briefe von Etty Hillesum

An Osias Kormann. Fragment. Amsterdam. Donnerstag, 4. Februar 1943. 4-2-43. Donnerstagmorgen. Findest Du einen Detektive-Roman «irdisch» genug für mich, Osias? Was das betrifft, kannst Du sehr zufrieden mit mir sein, ich spezialisiere mich die letzte Zeit sozusagen in dieser merkwürdigen Literatur-Sorte. Bis jetzt habe ich nur éinen Mord erlebt, ich finde das für alle meine Bemühungen reichlich wenig. Eín Mord – in unserer Zeit macht das doch schon überhaupt keinen Eindruck mehr. Aber im Ernst: wenn ich schon anfange mich mit Detektives abzugeben, ist es ein Beweis, daß es mir ein bischen schlecht geht. Ich glaube, ich habe ein Nadelkissen verschluckt oder eine Kollektion Rasiermesser oder Gott weiß was, wie dem auch sei: es gefällt mir allmählich gar nicht mehr. Mein Arzt hat gestern Krankenhausaufnahme für mich angefragt, um meinen rätselhaften Organismus photographieren zu lassen und dann mal weiter sehen. Ach nein, Osias, ehrlich gesagt, es gefällt mir alles nicht so ganz besonders gut, die letzte Zeit, aber bitte, mein Braves, fühle Dich nicht beschwert durch diese Seufzer aus

An Osias Kormann. Amsterdam. Undatiert; nach dem 4. Februar 1943. Amsterdam. Ja? Freitag kommst Du nach Amsterdam? Ach, wie freut mich das für Dich, Osias! Vor fünf Minuten öffnete ich Vleeschhouwers Brief, der mir das als Ers­ tes schrieb und ich lese seinen Brief jetzt nicht zu Ende, bevor ich Dir ein paar Worte geschrieben habe. Und Du hast auch noch Zeit bei diesem langweiligen, kranken Mädchen vorüberzukommen? Ja, werde ich Dich durch diese Tür da, mir schräg gegenüber, hereinspazieren sehen? Schade, daß ich Dich nicht bei mir zu Hause empfangen kann, aber das kommt noch mal. Ich habe keine Ahnung, ob Du weit von mir wohnen wirst und wie Du Deine Tage einteilen wirst. Die Besuchstunden

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sind hier auf einer unmög­

lichen Zeit: Samstag, Sonntag und Dienstag von 12–1, andere Tage 12–12½. Aber um halb 4 kann man es auch versuchen, vor allem Samstag um halb 4,

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1941–1943 weil hier dann nicht soviel von den Ärzten hier herumspazieren wegen des Ruhetages. Und Du kannst immer nach meinem Bruder

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fragen. Und ich liege

auf Saal 5 D und ich freue mich auf Dein gutes Gesicht. Auf Wiedersehen, Osias! Etty.

An Osias Kormann. Amsterdam. Sonntag, 21. Februar 1943. 21-2-43. Die Briefmarke

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ist dazu bestimmt um auf diesem Tartarischen Gesicht zu

kleben und wenn Du das verklebt hast, dann hast Du wirklich ein wunderschö­ nes Bild. Denn sag nun selber, Du Mann von wenig Worten, ich weiß, ich habe kein klassisches Profil, aber só eine Nase hab ich nun doch wieder auch nicht. Also bitte, klebe diese «4 cent» darauf und verstecke im übrigen dieses Luxus­ bett mit Lampe und Blumen und Telephon aufs sorgfältigste, es ist ja eine ­regelrechte Provokation für die vielgeplagten Westerborker. Tag Osias, es war schön daß Du da warst, auch wenn’s nur kurz war und ein Dutzend alte Frauen um uns herum war und ich Dir noch tausend Dinge zu erzählen hätte und zu fragen, die ich natürlich alle vergessen habe. Aber Du weißt ja, dieser Dialog mit Dir geht immer weiter und darum ist es auch nicht so schlimm, daß ich hier und da etwas vergessen habe zu sagen. Und Du hast es gut gehabt, ja, die paar Tage und Du hast Dich schon wieder, vorläufig wenigs­ tens, versöhnt mit Deiner alten Umgebung? Und ich  – ich bin aufs Unerwarteste wieder zu Hause, sogesagt «gekid­ napt» von meiner eigenen Mutter, weil es aussah, daß ich sonst von ganz an­ deren Menschen gekidnapt

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werden würde. Und mal abwarten, wie das jetzt

weitergeht. Heute nur diese paar albernen Worte, ich wollte mal wieder ein Lebenszei­ chen von mir geben. Und Du wirst mich bitte nicht ganz vergessen, ein bischen wirst Du mich schon vergessen, ein Mensch darf auch nicht so lange krank sein. Aber jetzt wirklich genug der Albernheiten, ein anderes Mal ein anderer Laut. Nick mir dann und wann mal freundlich zu in meinem Bett. Und Grüsse, Grüsse, Grüsse von mir. Etty

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Briefe von Etty Hillesum

An Osias Kormann. Amsterdam. Mittwoch, 24. März 1943. 24-3-43. Mittwochmittag. Ist es schon sehr lange her, seit ich Dir zuletzt geschrieben habe, Osias? Es kommt mir vor erst einige Tage zu sein, aber höchstens beweist das, wie schnell die Zeit bei mir vergeht. Also grinse ich Dir mal wieder von weitem zu, wenn das gestattet ist. Ich habe einen Arzt, der immer wütend ist, wenn ich mit einem grinsenden Gesicht zu ihm hereinkomme, er sagt, es sei unverzeihlich, wenn man in einer Zeit wie dieser überhaupt noch lacht. Ich glaube nicht, daß er recht hat, was findest Du? Guten Tag, Osias, wie geht es, was treibst Du, hast Du viel zu tun, bist Du gut gelaunt, brauchst Du demnächst nicht eine Assistentin, ich frage kein hohes Gehalt, nur freundliche Behandlung. Vorläufig treibe ich noch Morgengymnastik, Sonne, Bibel, russisch, Kartof­ felschälen, Literatur und Gespräche mit viel zu optimistischen oder viel zu pes­ simistischen, mit polemischen, Selbstmord-verübenwollenden, wütenden, trau­ rigen und was es noch mehr gibt an Menschen. Also ein buntes Programm. Und weiter habe ich immer noch ein junges Herz und alte Knochen, es könnte schon etwas besser verteilt sein bei mir. Mein Arzt weiß auch schon nicht mehr Weisheit aufzubringen wie Du, indem er sagt, daß, während bei den meisten Seele und Geist leidtragende sind in dieser viel zu schweren Zeit, bei mir der Körper der Leidtragende ist. Ich schlucke abwechselnd bittere, saure, süße, feste und flüssige Sachen, aber irgendwie ist das doch alles Un­ sinn glaube ich, das Gleichgewicht muß sich aus der Natur heraus mal wieder finden. Aber alles zusammen werde ich doch schon wieder ein brauchbarer Mensch, glaube ich und Du machst zauberhaften Kaffee, wenn ich wieder zu­ rückkomme, ja? Ein sehr lieber Gruß, Osias und denke dann und wann ein bischen nett an Etty Und ein Gruß an Rosenberg

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1941–1943

An Osias Kormann. Amsterdam. Undatiert; vermutlich Frühjahr 1943. Freitagmorgen, im Bett. Es grüßt Dich ein Mädchen mit einer schwindlichen großen Zehe, Osias. Die­ ses Mädchen ist eine gute Freundin von Dir, weißt Du das noch, oder hast Du das inzwischen vergessen, es passiert ja so viel bei euch, zuviel. Bei mir noch immer diese große Diskrepanz: der Geist ist lebendiger und schöpferischer wie je, aber der Körper bildet noch immer nicht einen genügend festen Bau um diesen sehr intensiven Geist zu unterstützen. Aber ich bin geduldig – natürlich nicht immer – und lebe vernünftig um bald wieder so gesund wie möglich zu sein. Und dann bin ich plötzlich wieder da. Du hast jetzt bestimmt wohl Arbeit für mich in der «V»,

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oder sind schon viel

zu viele Menschen da und viel zu wenig Raum? Euer Dorf ist jetzt plötzlich eine Stadt geworden, es muß wohl eine sehr traurige und merkwürdige Stadt sein? Ich habe jetzt die sorgenvolle Vermutung, daß Du überhaupt nicht mehr schläfst, Du solltest es doch bitte dann und wann tun, ja? Und die Mutter von Rosenberg ist gekommen. Wie ist er darunter? Kann er seiner Mutter das Leben etwas erleichtern? Meine herzlichsten Grüsse an ihn, ja? Auch an Unger.

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Viele denken heutzutage: das Leben geht zu Ende, es ist ein großer Unter­ gang. Viel später wird sich vielleicht herausstellen, daß es auch ein neuer An­ fang ist. Stehe ich nicht «auf dem Boden der Realität», bin ich eine Idealistin? Ach, laß mich bitte, solche Menschen wie ich muß es doch auch geben, meine Realitäten sind nun einmal andere, als was die meisten «die Realität» nennen, aber es sind auch Realitäten. Osias Kormann, treuer Freund von der Drentschen Heide  – was für eine bizarre Angelegenheit das Leben doch eigentlich ist – ich grüße Dich und bin Dir sehr sehr gut. Etty

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Briefe von Etty Hillesum

An Osias Kormann. Amsterdam. Undatiert; Frühjahr 1943. Freitagmorgen. Der liebe Gott und die Zentralstelle scheinen etwas dagegen zu haben, daß ich noch diese Woche Kaffee bei Dir trinke, jetzt mal abwarten ob die nächste ­Woche unsere Reisegenehmigung bringt. Ich hoffe, es geht Dir in allen Hin­ sichten vorzüglich, mein guter Osias, ich möchte mich endlich mal wieder sel­ ber davon überzeugen kommen. Was machen die gelben Lupinen eigentlich, sind sie schon wieder da? Und ist es dann und wann bei euch auch Frühling, trotz allem? Und grüsse den Ro­ senberg. Und sei selber, in ungefährlicher, aber nichtdestoweniger herzlicher Weise umarmt von Etty. Also vorläufig: bis nächste Woche. Und: ein Gruß von meinem Vater, der sich mit dem deinigen sehr gefreut hat. Und verderbe Deine netten Augen bitte nicht an diesen schändlichen Hiero­ glyphen (Früher schrieb ich alles auf der Schreibmaschine, jetzt muß ich mich schon längst wieder an die eigene Hand gewöhnen).

Tschüss! E.

An Osias Kormann. Amsterdam. Donnerstag, 8. April 1943. 8 April. Donnerstagmorgen. Meine Uhr ist kaputt, Osias, und also muß ich unbedingt wieder nach Wester­ bork zurück, denn in Amsterdam gibt es keinen einzigen Menschen mehr, der Zeit hat, meine Uhr zu machen. Und du weißt, ich brauche gar nicht so viel zum Leben, aber eine Uhr brauche ich. Und daß es dann noch einige andere Ur­ sachen gibt, warum ich auch wieder zu euch zurückkehren möchte, das glaubst Du mir wahrscheinlich sowieso. Und ein ganz klein wenig auf Dich freue ich mich auch, jawohl! Dann habe ich noch eine erfreuliche Mitteilung, speziell für Dich: mein Weisheitszahn ist durchgebrochen, zwar unter schlimmen Geburtswehen, aber

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1941–1943 schließlich hat es sich doch herausgestellt, daß er überhaupt da ist. Also Du kannst noch eine gute Hoffnung haben, daß ich doch noch mal vernünftig werde. Was verstehst Du eigentlich unter vernünftig: egoistisch? Es wird so langweilig mit diesem Egoismus. Schon seit vielen Jahrhunderten erzählt man sich gegenseitig, daß der Mensch von Grund aus Egoist ist und schließlich fängt man an, es zu glauben und ist es dann auch wirklich. Es gibt ja viele Sei­ ten in einem Menschen, warum sollte man es zur Abwechslung mal nicht mit einer anderen versuchen als immer wieder mit dieser langweiligen und impro­ duktiven egoistischen? Aber darüber streiten wir uns mündlich mal weiter, ja? Dein Brief war sehr nett, Spötter, Du, aber auch sehr lieb. In Westerbork muß ich mich nach einer Unmenge von Menschen um­ sehen, Freunden, und Kindern, Eltern, Großeltern von Freunden. Das ist schon eine Arbeit für sich und andere Arbeit wird sich schon von selber ergeben. Mein Braves, ich freue mich auf Dich, aber das habe ich schon mal gesagt. Bis nächste Woche.

Tschüss! Etty

An Osias Kormann. Amsterdam. Mittwoch, 5. Mai 1943. Amsterdam, 5 Mai 43. Osias, Lieber, das sieht mal wieder sehr nach Untreue aus, meinerseits – aber es sind nur die Gesetze der menschlichen Trägheit, wodurch ich solange nicht geschrieben habe. Dein Kaffee wird jetzt allmählich wohl sehr kalt geworden sein, ich kann nichts dafür, ich fühle mich wie eine Art Soldat, der seinen nächs­ ten Befehl abwartet. Einerseits bin ich dankbar für jeden Tag, welchen ich noch verbringen darf hinter meinem treuen Schreibtisch, mich vertiefend in Sachen, die mir sehr nahe gehen, andererseits möchte ich nichts lieber als so bald wie möglich zu euch zurückkehren. Wenn ich mal rechne, bemerke ich, daß ich schon fünf Monate weg bin von eurer Heidemetropole, aber komisch, es kommt mir vor, daß ich vor einer Woche noch da war, oder noch eher, daß ich gar nicht weg gewesen bin. So kann man an verschiedenen Stätten zugleicherzeit wei­ terleben, glaubst Du nicht? Kennst Du das «lJsclub»terrain, Osias, neben dem Konzertgebäude? Dort spaziere ich nämlich dann und wann mit Dir, dem Gitter entlang und wir haben es dann sehr gemütlich zusammen. Meistens bist Du sehr unerwartet, als eine

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Briefe von Etty Hillesum Überraschung da. Ich mache arglos meine traditionelle Runde um das Terrain herum und plötzlich gesellst Du Dich mir zur Seite und ich erlebe immer wieder meine Freude daran daß Du mir immer wieder aufs Neue so nahe bist. Gesundheitlich darf ich nicht zu sehr klagen. Ich bin zwar um mehr als ver­ schiedene Grade weniger leistungsfähig geworden als ich es vor meiner Krank­ heit war, aber das wird wohl mehreren in diesem gesegneten Europa so gehen. Osias, Lieber, laß es für heute wieder genug sein, ich bin gespannt wann wir uns endlich mal wieder sehen werden. – Willst Du mal speziell den Petzal von mir grüßen, ich habe oft die Absicht ihm zu schreiben, aber Du weißt ja schon: die Trägheit usw. Und natürlich wie­ der einen Gruß an Rosenberg. Und für Dich selber: ganz bestimmt auf Wiedersehen!

Tschüss! Etty

An Osias Kormann. Amsterdam. Freitag, 28. Mai 1943. Freitagmittag 28 Mai. Mein lieber Osias, Schon viele Tage nehme ich mir jeden Abend vor Dir mal wieder einen kleinen Bericht zu schicken, aber jeder Tag ist jetzt so unruhig hier. Meine De­ cken da oben bei Dir auf der Holzgalerie

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müssen doch noch länger Geduld

haben, bis sie mich wieder zudecken können, als ich ursprünglich dachte. Am 24. morgens kam mein Aufruf, daß ich mich am 25. melden müßte. Ich fing sofort an die letzte Hand zu legen an meinen Rucksack, aber nach einem hal­ ben Tag kam der Bericht, daß es ein «Irrtum» war, daß ich einen Aufruf bekom­ men hatte. Ich finde das einen etwas merkwürdigen Ausdruck: einen «Irrtum», alsob es für alle andere kein Irrtum wäre. Na ja, über dieses unerfreuliche Thema fange ich jetzt nicht zu philosophieren an, wir werden uns ja bald ge­ nug sprechen. Heute hörte ich, daß vom jüdischen Rat in Westerbork 15 Kollegen in Ur­ laub kommen und daß hier 15 Freiwillige gefragt werden um sich zu melden. Selbstverständlich melde ich mich, und muß nur abwarten ob man mich brau­ chen kann, denn ich vergegenwärtige eine etwas sonderbare nihilistische Bran­ che. Aber so oder so, ich denke wir werden uns bald sehen, die Likwidation des jüdischen Rests

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vollzieht sich jetzt in schnellem Tempo.

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1941–1943 Daß das jetzt schon 10 Monate her ist, daß ich in der Schule in Westerbork einem kleinen Mann begegnete mit einer grauen Mütze und einer großen Brille, der mir abenteuerliche Geschichten aus diesem Kamp erzählte und der nachher zu mir sagte: «Sie sind bestimmt keine Holländerin, Sie haben soviel Wärme.» Ja Osias, undsoweiter. Dies ist gar kein Brief, nur ein eiliger Gruß. Ich denke, Du hast wieder viel traurige Arbeit jetzt. Auf Wiedersehen, in einigen Tagen oder in einigen Wochen, aber jedenfalls auf Wiedersehen! Etty

An Maria Tuinzing. Amsterdam. Samstag, 5. Juni 1943. Samstagabend.

Marieteke, lass uns nicht zu materialistisch sein: Ob wir einander jetzt noch ein paar Tage mehr oder weniger gesehen haben oder nicht, ist schade, aber im Grunde ist es doch zwischen uns nicht wichtig, oder? Ich hätte dich gerne noch gesehen, aber das kommt schon wieder, ich weiß es ganz be­ stimmt. Es ist spät, ich kann dir gar nicht sagen, wie müde ich jetzt bin. Ich hatte gehofft, dich noch telefonisch in Wageningen121 erreichen zu können, weil ich doch noch einen Tag länger geblieben bin, aber das ging nicht. Du bittest mich um ein Tagebuch – weil du es bist; ich lasse ein so albernes Zeug zurück, es steht so viel Unsinniges darin, du indiskrete Frau! Wenn du es einmal sehr schwer hast, schütte doch dein Herz auf e­ inem Blatt Papier aus und schicke es an Etty, sie wird dir dann sicher antworten. Pass ein bisschen auf Vader Han auf, aber das tust du schon von selbst. Er erzählt dir bestimmt alle aufregenden Geschichten der vergangenen bei­ den Tage, mir fallen die Augen zu, und es gibt doch ganz schön viel Arbeit bei so einem Rucksack. Ich nehme keinen Abschied von dir, schließlich gehen wir nicht wirklich voneinander weg. Möge es dir ganz, ganz gut gehen, Liebes. Etty

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Briefe von Etty Hillesum

An Han Wegerif und andere. Westerbork. Montag, 7. Juni 1943. Montagmorgen, 11 Uhr, 7. Juni 43.122

Ihr mir so Lieben, habt ihr meinen beiden Rosenknospen noch lange nachgewinkt? Ihr seid alle so lieb zu mir gewesen; die ganze Zugfahrt über habe ich darüber noch nachdenken können, und jetzt hat dieses Lager mit seinem wahrhaf­ tig gewaltigen Elend kommender und gehender Transporte mich wieder mit Haut und Haaren verschlungen. Ich bin schon wieder hundert Jahre hier. Die Zugfahrt verlief vergnüglich: Unter unseren Leuten herrscht eine nette, kollegiale Atmosphäre. Sie haben mich ordentlich «auf den Arm ge­ nommen», aber das habe ich erst später gemerkt. Es fing damit an, dass sie erzählten, wir müssten von Assen aus zum Lager laufen, mit Gepäck und allem Drum und Dran. Das hat mich nicht besonders begeistert. Als sie dann irgendwann meinten, im Lager gebe es jetzt einen kleinen Süßwaren­ laden, das Waisenhaus habe einen Blumenkorso abgehalten und man spiele zurzeit Pferdepolo, habe ich es dann auch mitbekommen. In Assen stand ein Lastwagen mit platten Reifen, und es goss in Strö­ men. Wir kamen völlig trocken an. Mit Gepäck und allem Drum und Dran lotste man uns in einen Raum (das war früher nicht so), wo unsere Rucksäcke und Koffer von Gendarmen123 untersucht wurden. Den kleinen geflochtenen Korb mit dem Koran und dem Talmud habe ich sehr bereit­ willig geöffnet; meinen Rucksack, der so groß ist wie ein Haus, haben sie nicht gesehen, und das war mir auch recht. Das Häuschen, in dem ich diesmal untergebracht bin, ist etwas zwi­ schen einem kleinen Lagerhaus und einem Boudoir. Drei- und zwei­ stöckige Betten, überall Koffer und Schachteln und Blumen auf dem Tisch und auf den Fensterbänken und ein paar träge weibliche Kollegen in langen seidenen Frisierumhängen. Höchst sonderbar. Bei mir haust eine ehemalige Schönheitskönigin aus «dem Leben».124 Um 10 Uhr abends lehnte sie einen Spiegel an meine Butterdose und beschäftigte sich eine halbe Stunde lang mit ihren Augenbrauen. Es gab kein Bett für mich. Das war nicht besonders schlimm, denn wir mussten nachts an die Arbeit, ein Transport aus Vught125 traf ein. Um 4 Uhr mussten wir antreten. Um 11 Uhr habe ich mich in voller Montur in eine Decke gewickelt (der Lakensack

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war nass und hängt zum Trocknen da) auf das Bett einer Kollegin gelegt, von der es hieß, sie würde die ganze Nacht durcharbeiten müssen. Als ich ein Stündchen dagelegen und währenddessen sehr das musikalische ­Nagen einiger Mäuse genossen hatte (die sich sehr vermehrt zu haben scheinen, seit ich zuletzt hier war), kam diese Kollegin zurück; es war ein kurzsichtiges Fräulein mit einem pechschwarzen Schnurrbart aus der Lijn­ baansgracht,126 das ich nie besonders gern gemocht habe. Und mit dem lag ich jetzt plötzlich in einem schmalen Bett, so etwas nennt man eine ­pikante Situation. Gegen vier wurden wir mehr oder weniger steif wach. Ich habe mich mit deinem gelungenen Weizenkunstwerk gestärkt, du liebe Käthe, und ging dann wieder durch die nächtliche Westerborker Landschaft. Erst bekamen wir eine Lysolbehandlung, weil aus Vught immer viele Läuse mitkommen. Von 4 bis 9 habe ich weinende kleine Kinder geschleppt und für erschöpfte Frauen Gepäck getragen. Die harte Arbeit hat mich fast zerrissen, und das Herz hat es mir ganz zerrissen. Frauen mit kleinen Kin­ dern, 1600 (heute Nacht kommen noch einmal 1600), die Männer hat man mit Absicht in Vught zurückbehalten. Der Transportzug für morgen früh steht schon bereit, Jopie und ich sind gerade daran entlanggegangen. Große, leere Viehwagen. In Vught sterben 2 bis 3 kleine Kinder am Tag. Eine alte Frau fragte mich ganz hilflos: «Können Sie mir denn, können Sie mir denn erklären, warum wir Juden so viel leiden müssen?» Ich habe es nicht ganz genau erklären können. Eine Frau mit einem 4 Monate alten Kind, das sie tagelang nur mit Kohlsuppe hat füttern können, meinte: «Ich sage immer wieder ‹Ach Gott, ach Gott›, aber gibt es ihn eigentlich überhaupt noch?» Unter den Strafgefangenen habe ich einen ehemaligen Assistenten von Prof. Scholten127 getroffen, bei dem ich einmal eine Prüfung in Verfah­ rensrecht abgelegt habe; ich erkannte ihn kaum wieder, weil er so ausge­ mergelt war und einen Bart und einen starren Blick hatte. Ich traf meinen Internisten Schaap, der, als ich im NIZ lag, mit einigen Ärzten an meinem Bett gestanden hatte und mit einem Gesicht wie «Ich sehe Sie gar nicht» seinen Kollegen erklärte: «Hier liegt also eine junge Frau, die unbedingt zurück nach Westerbork will», gerade als wäre ich ein ganz merkwürdiger Krankheitsfall. Er sah gesund und munter aus (ist schon etwas länger hier) und nahm heute Morgen seine Frau und seine Kinder aus Vught in Emp­ fang, die auch einen sehr ordentlichen Eindruck machten (erzähl das mal Tide). Auf meinem Zug durch das Lager traf ich heute Morgen viele alte

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Freunde, auch von meinen Eltern. Brave Bürger, die ich früher in ruhiger, gut versorgter Verfassung gekannt habe, finde ich nun in den großen Ba­ racken stark verproletarisiert vor. Hin und wieder setzt es mir sehr zu, in welchem Zustand man einige von ihnen antrifft. Mir ist es doch lieber, dass meine Eltern nicht hier sind. Im Moment sitze ich in Jopies Häus­ chen, und er sitzt mir in einer Soldatenhose und einer schmutzigen grauen Jacke gegenüber und lässt euch herzlich grüßen. Einer seiner besten Freunde ist vor einigen Stunden gestorben. Seine Frau und sein Kind ­wurden schon vor einiger Zeit weitergeschickt, der Mann litt unter Tbc in einem schlimmen Stadium und konnte nicht mit. Jopie erzählte, dass das eine der wenigen guten Ehen gewesen war, die er gekannt hat. Vor einigen Tagen ist ein anderer guter Freund von ihm hier gestorben. Heute Nachmittag werde ich versuchen, ein wenig zu schlafen; ich habe jetzt ein Bett, heute hat jemand Urlaub bekommen. Heute Nacht um 4 Uhr kommt wieder ein Transport aus Vught an. Im Laufe der Nacht habe ich mir sehr gut ein Bild von diesem Vught machen können, es ist ein sehr schreckliches Bild. Ich bin froh, wieder hierhergekommen zu sein. Herzliche Begrüßun­ gen bei jedem Schritt im Lager. Ich war bei Hedwig Mahler, die vorläufig bleiben kann, und traf dort Vaters kurzzeitige Rektorin128 an. Ich bekam dort einen Teller Grießbrei. Ich war bei Kormann, der mich vor Freude fast umbrachte, und bekam einen Teller Grießbrei. Später war ich noch bei einem anderen «Kampinsassen» und bekam einen Teller Grießbrei. Den Kohl habe ich dann einfach der Gemeinschaft überlassen. Es wird schon alles gut gehen. Hier ist es in der Zwischenzeit halb 1 geworden. Ich habe gerade meine Brotration und 10 Gramm Butter aus der Küche geholt und eine VitaminC-Tablette bekommen, das finde ich schon sehr rührend. Ich breche diesen wirren Bericht jetzt ab. Heute Abend um 7 gehe ich zu Herman B.129 ins Krankenhaus, gestern ging das nicht mehr. Es geht nicht so weiter mit der Nachtarbeit, ich bin einfach plötzlich mittendrin. Aber macht euch keine Sorgen, ich werfe mich nicht so in die Arbeit wie die anderen Male. Im Moment juckt es mich am ganzen Kör­ per, trotz des Lysols. Ich nehme jetzt übereilt Abschied von euch allen, zu vielen, um sie einzeln zu nennen. Ihr seid alle sehr, sehr lieb. Später mehr, ihr Lieben. Etty

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Wahrscheinlich an Han Wegerif und andere. Westerbork. Dienstag, 8. Juni 1943. Dienstagmorgen, 10 Uhr.

Ihr Lieben, innerhalb des Stacheldrahts ist nicht viel Heide übrig geblieben, es kommen immer mehr Baracken dazu. Nur ein kleines Stückchen gibt es noch in der äußersten Ecke des Lagers, und dort sitze ich jetzt, in der Sonne, unter einem prächtigen blauen Himmel, zwischen einigen niedri­ gen Strauchgewächsen. Mir genau gegenüber, nicht mal besonders viele Meter von mir entfernt, stehen eine blaue Uniform und ein Helm in ­einem Wachhäuschen auf Pfählen. Ein Gendarm pflückt mit ganz entzücktem Gesichtsausdruck violette Lupinen, das Gewehr baumelt ihm auf dem Rücken. Wenn ich nach links schaue, sehe ich weiße Rauchwolken aufsteigen und höre das Tuffen einer Lokomotive. Die Menschen sind schon in die Güterwaggons geladen, die Türen gehen zu. Es gibt viel Grüne Polizei,130 die heute Morgen im Marsch­ schritt singend am Zug entlanggegangen ist, und holl. Gendarmen laufen herum. Die Zahl der Menschen, die wegmüssen, ist noch nicht erreicht. Gerade eben bin ich der Mutter aus dem Waisenhaus begegnet, mit einem kleinen Kind auf dem Arm, das auch mitmusste, allein. Auch aus der Krankenbaracke wurden noch einige Leute weggeholt. Heute wird gründlich gearbeitet, es sind hohe Herren aus Den Haag131 zu Besuch. Sehr merkwürdig, diesen Herren aus dieser Nähe bei ihrem Tun zuzu­ sehen. Seit um 4 Uhr heute Morgen war ich wieder damit beschäftigt, Säuglinge und Gepäck zu tragen. In diesen wenigen Stunden könnte man sich eine Melancholie aneignen, die für ein ganzes Leben reicht. Der ­naturliebende Gendarm hat seinen lila Blumenstrauß nun beisammen, vielleicht wird er damit einer Bauerntochter aus der Gegend den Hof ­machen. Die Lokomotive gibt einen schrecklichen Schrei von sich, das ganze Lager hält den Atem an, es brechen wieder 3000 Juden auf. Mehrere Babys mit Lungenentzündung liegen dort in den Güterwaggons. Es ist manchmal gerade so, als wäre das alles nicht echt, was da vor sich geht. Ich bin hier nirgendwo eingeteilt, und das finde ich am allerbesten. Ich laufe herum und finde meine Arbeit von selbst. Ich sprach heute Morgen 5 Mi­ nuten mit einer Frau, die aus Vught kam und mir in 3 Minuten ihre Erleb­ nisse der letzten Zeit erzählte. Was kann in ein paar Minuten doch viel

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gesagt werden. Als sie an eine Tür kam, durch die ich sie nicht mehr ­begleiten durfte, umarmte sie mich und sagte: «Ich danke Ihnen für die Unterstützung, die Sie mir geschenkt haben.» Ich bin gerade auf eine Kiste gestiegen, die hier zwischen den Sträu­ chern lag, um die Güterwaggons132 zu zählen; es waren 35, für die Be­ gleiter vornedran einige Wagen der zweiten Klasse. Die Güterwaggons waren ganz geschlossen, hier und da hatte man Bretter herausgenommen, und aus den Öffnungen ragten Hände, die winkten, genau wie bei Ertrin­ kenden. Der Himmel ist voller Vögel, die lila Lupinen stehen da so majestätisch und friedlich, auf der Kiste haben sich zwei alte Frauen für einen Schwatz niedergelassen, die Sonne scheint mir aufs Gesicht, und direkt vor unseren Augen geschieht ein Massenmord, es ist alles so unbegreiflich. Mir geht es gut. Alles Liebe Etty

An Maria Tuinzing. Westerbork. Undatiert; Mitte Juni 1943. Marietke, schreibst du mal Etty, wie es dir geht? Bist du fröhlich, bist du traurig, rennst du viel herum, sitzt du ruhig zu Hause, was sagt Ernst,133 was sagt Amsterdam, was tut Vader Han, geht Käthe früh genug ins Bett? Ich gehe zwischen Holzbaracken durch den Schlamm, gehe aber gleich­ zeitig auch durch die Flure meines 6-jährigen Zuhauses, ich sitze im ­Augenblick an einem unordentlichen kleinen Tisch in einem unruhigen kleinen Saal und sitze zugleich auch an meinem geliebten unordentlichen Schreibtisch. Ich spreche hier viele Menschen, die sagen: An früher wol­ len wir uns nicht erinnern, sonst könnten wir hier doch nicht leben. Und ich kann hier gerade deshalb so gut leben, weil ich mich an alles von «früher» (was nicht einmal ein «früher» für mich ist) so gut erinnere und weiterlebe. am Nachmittag. Ich bin hochzufrieden, Maria, ich habe heute 4 Krankenbaracken bekom­ men, eine große und drei kleine; ich muss mich dort darum kümmern, ob die Leute Lebensmittel oder Gepäck aus dem Hinterland brauchen. Das

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Herrliche ist, dass ich jetzt freien Zugang zum gesamten Komplex der Krankenbaracken habe, zu fast jeder Stunde des Tages. später. Nimm die paar Worte einfach, wie sie kommen, meine Kleine, hier wird nicht viel aus dem Schreiben, in Gedanken sind die Briefe, die ich dir schicke, viel länger als diese paar Worte. Es geht mir gut, und ich bin zufrieden, ich lebe eigentlich genauso wie in Amsterdam; manchmal merke ich gar nicht, dass ich in einem Lager bin, das ist etwas ganz Seltsames bei mir. Und ihr seid alle so sehr bei mir, dass ich euch nicht einmal vermisse. Jopie ist mir als Kamerad sehr lieb. Abends sehen wir, wie hinter dem Stacheldraht die Sonne in die lila Lupi­ nen fällt. Und Urlaub bekomme ich wahrscheinlich auch wieder. Schreib mal. Tschüss! Etty

An Milli Ortmann. Westerbork. Montag, 21. Juni 1943. Liebe Milli,134 später schreibe ich euch bestimmt ausführlicher über diesen schwärzes­ ten Tag meines Lebens. Meine Eltern und Mischa sind großartig, ich bin ganz verblüfft. Heute Morgen kamen die vollgepackten Güterwaggons ins Lager gefahren. Ich stand am Rand, im Regen. Die Güterwaggons waren fest geschlossen, oben gab es hier und da Öffnungen, weil man Bretter herausgebrochen hatte. Durch eine dieser schmalen Öffnungen sah ich plötzlich Mutters Hut und Vaters Brille und Mischas schmales Gesicht. Ich rief laut, und sie entdeckten mich. Nun gehe ich heute mit ihnen den­ selben Leidensweg, den ich heute Nacht mit den Levies und den beiden kleinen Kindern135 gegangen bin: registrieren, stundenlanges Warten, drau­ ßen im Regen noch einmal registrieren, Quarantäne. Durch meine vielen Freunde hier kann ich es ihnen im Hinblick auf allerlei Kleinigkeiten ein wenig angenehmer machen. Gleich bringe ich sie in die großen Baracken, wo nun eine völlige Hölle herrscht. Ich glaube nicht einmal, dass jeder ein Bett bekommt; für die Männer gibt es keine Matratzen. Aber meine drei sind bewundernswert aufgeweckt und munter und haben sogar noch viel Humor.

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Jetzt die Fakten. Der Judenrat hält es für nötig und hat darauf ­gedrängt, dass du die Sache mit Barneveld in Bezug auf Mischa und die Familie (–  denk daran: mich nicht eingeschlossen!  –) bei der Zentralstelle mit Nachdruck weiterverfolgst. Vielleicht kannst du ja noch erreichen, dass sich Mengelberg136 persönlich an Rauter137 wendet. Plötzlich Ende. Etty. Adresse:138

An Christine van Nooten. Westerbork. Montag, 21. Juni 1943. Westerbork. Montagnacht.

Christien,139 sie sind in dieser völligen Hölle so unbeschreiblich munter. In der Frühe kam die Reihe Güterwaggons in das schlammige Lager gefahren. Ich stand am Rand und entdeckte in einer schmalen Öffnung oben in einem der Waggons den zerknitterten Hut und die Brille meines Vaters, den Hut meiner Mutter und Mischas schmales Gesicht. Und jetzt gehe ich hier mit ihnen den Leidensweg; ich bin dankbar, dass ich hier bin und ihnen durch allerlei Kleinigkeiten das Leben erleichtern kann, obwohl es im Augen­ blick nichts zu erleichtern gibt. Es ist hier nun die völlige Katastrophe. Durch einige Flutwellen aus Juden140 ist dieses Lager in den letzten 24 Stun­ den verschlungen worden. Aber ich muss dir sagen: Vater und Mutter und auch Mischa haben mich heute unglaublich verblüfft. Vater ist zwar völlig hilflos und sein Kragen ist innerhalb des letzten Tages ein Stück zu weit geworden und seine grauen Bartstoppeln sind so schrecklich. Aber er winkte heute Morgen mit seiner kleinen Bibel, als wir im Regen warteten, stundenlang, und fand eine prächtige Stelle bei Josua.141 Sie befinden sich nun in einer großen Baracke, einem verstopften Menschenlagerhaus, man schläft dort zu dritt auf zwei schmalen Eisenpritschen, bei den Männern keine Matratzen, keine Möglichkeit, irgendwo etwas unterzubringen, schreiende Kinder, das größtmögliche Elend. Ich werde versuchen, sie so gut wie möglich durchzuschleppen, ich fühle mich selbst sehr kräftig und mutig, auch wenn es einem manchmal ganz und gar schwarz vor Augen wird und alles unbegreiflich ist.

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Jetzt etwas Organisatorisches. Wir müssen versuchen, Vater mit Brot durchzukriegen, weil er kein warmes Essen isst. Aus der Provinz darf man noch per Einschreiben Briefpäckchen mit höchstens 2 kg schicken.142 Pro­ bier doch mal aus, ob eines davon ankommt; du findest es hoffentlich nicht unhöflich, dass ich so direkt darum bitte, in der Not tut man das. Roggenbrot auch sehr willkommen. Keine Lebensmittelmarken mehr schicken, wir können nichts damit anfangen. Die Lebensmittelmarken an Jacobs, Retiefstr. 11143 schicken, mit dem Zusatz, dass man hierher eher Pakete schicken kann, ein Gewicht von 5 kg ist sicher erlaubt. Am liebsten per Einschreiben. An meine Adresse am sichersten: Mr.144 E. Hillesum, Mitarbeiter Judenrat, Lager Westerbork, Hoog-Halen. O, Drenthe. Oben links: Baracke 34. Schick eine Briefkarte, wenn du etwas schickst, dann kann ich kontrollieren, ob es ankommt. Ich hoffe, dass ich heute Nacht noch ein Bett finde, jeder Quadrat­ millimeter ist besetzt. Später einmal mehr. Bitte bete ein wenig für uns. Alles Liebe, Etty

An Christine van Nooten. Westerbork. Undatiert; Poststempel 26. Juni 1943. Christine, wir sitzen gerade herrlich im kühlen Wind, Vater und ich, auf einer Art Röhre aus Stein. Vor uns arbeiten Leute mit gelben Sternen an einem Graben, um uns am Weglaufen zu hindern,145 und dahinter ist der Stachel­ draht gespannt. Da links von uns, an der Ecke des Lagers, steht der Gen­ darm in seinem Häuschen auf hohen Pfählen. Wir sind schwarz vom Sand, hier weht ein richtiger Schirokko. Ich habe Vater gerade aus seinem Bett in der zweiten Etage gehoben, und jetzt gönnen wir uns ein wenig frische Luft. Ich bin sehr dankbar, dass er nun ein Bett für sich allein hat, in der großen Baracke wäre er innerhalb einer Woche völlig abgestürzt. Wir werden schon versuchen, einander hier durchzuhelfen. Mutter ist be­ wundernswert, es ist fast unbegreiflich; sie ist so munter und gepflegt wie überall, hat zum Beispiel heute Morgen in einem Eimer die große Wäsche erledigt und sie auf einer Leine aufgehängt. Mischa ist reizend in seiner Anhänglichkeit gegenüber seinen Eltern, lebt in der ständigen Angst, dass sie nach Polen müssen, und sagt, dann geht er auf jeden Fall mit. Aber es

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wird schon gut gehen. Vorläufig kann ich sie sicher hierbehalten. Wegen Mischa haben wir die größten Sorgen, wir haben Angst, dass ihm hier bald alles über den Kopf wächst. Es ist eigentlich überhaupt unbegreiflich, dass nicht jeder hier verrückt wird. Nun ja. Nun kurz das Organisatorische. Heute Morgen kam ein sehr willkom­ menes Paket von Simon.146 Von dir ist noch nichts gekommen, es heißt also abwarten. Vielleicht ist es auch am besten so, dass alles über den Ju­ denrat geschickt wird. Mutter freut sich schon auf deine Garnelenpastete. Wie findest du das, jetzt haben wir auch noch spezielle Wünsche. Mutter sagte heute Morgen: Es wäre herrlich, einmal etwas Herzhaftes zu essen; mevr. de Groot, Ceintuurbaan,147 hatte ihr damals gesagt, sie habe noch ein paar solche Sachen. Nun ja, ich schreibe das einfach so auf, wie eine gehorsame Sekretärin. Und weißt du, Brot- und Buttermarken können wir hier manchmal doch bei der Kantine eintauschen; einen kleinen Teil Marken, wenn ihr welche habt, könntest du dann zum Beispiel schicken. Das halbe Lager redet Vater gut zu, er soll warm essen, aber das hat er bisher noch nicht fertiggebracht. Wir befinden uns jetzt mitten in einem Sandsturm – kannst du lesen, was ich schreibe? Hier ist alles gleichermaßen verrückt und unbegreiflich und verzweifelt und komisch, alles durcheinander. Ich schreibe auch alles durcheinander, aber von hier aus geht es nun einmal nicht anders. Ach ja, noch etwas, es ist sehr gut möglich, dass ich bald meine privi­ legierte Position verliere, weil der Judenrat hier aufgelöst wird.148 Dann kann ich nicht mehr so viel schreiben, wie ich will. Dann haben wir ein­ mal alle 14 Tage Schreibtag, also wirst du in jedem Fall weiter von uns hören. Und jetzt müssen wir hier weg, sonst bekommen wir noch die ­galoppierende Schwindsucht. Wir hoffen, dass wir dir später noch alles erzählen können, wahrhaftig, das hoffen wir. Und ja, bete doch ein wenig für uns. Und danke für alles. Alles Liebe. Etty [auf dem Umschlag:] Dein Päckchen ist eben, nach Beendigung des Briefs, angekommen.

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An Han Wegerif und andere. Fragment. Westerbork. Undatiert; nach dem 26. Juni 1943. So, liebe Kinder, da bin ich wieder mal kurz. Der angefangene Brief liegt unter meinem orange karierten Schlafsack, und jetzt sitze ich wieder in ­einer anderen Ecke des Lagers und schwatze auf irgendeinem Stück ­Papier etwas weiter. Komme gerade von meinem Papa. Er erlebt histo­ rische A ­ ugenblicke; er hat einen Teller Kohl gegessen und heute Morgen wahrhaftig Milch getrunken, obwohl er immer Stein und Bein geschwo­ ren hat, lieber nach Polen zu gehen, als Milch zu trinken. Neben ihm liegt eine Seele von einem starken Russen, der ihn bei jeder ungeschickten Be­ wegung, die er macht, zurechtweist und der nachts pfeift, wenn er gar zu arg schnarcht. Es sieht so aus, als müssten 400 Leute aus dem Kranken­ haus mit auf Transport. Es ist zum Verzweifeln, durch die Baracken zu gehen, vor allem durch die Baracke, in der die vielen alten Frauen liegen. Alle klammern sich an einem fest und flehen: «Ich brauche doch sicher nicht mit auf Transport, was?» und «Sie werden uns doch nicht von hier wegholen?», und immer wieder dasselbe: «Können Sie nicht etwas für mich tun?» Gestern fragte mich eine steinalte, unglaublich magere kleine Frau ganz kindlich: «Glauben Sie, dass es in Polen medizinische Versor­ gung gibt?» In einem solchen Fall laufe ich lieber weg. Es ist beinahe unbegreiflich, wie stark sich die Menschen, die doch ihr ganzes Leben schon hinter sich haben, an das elende Stückchen Gerippe klammern, das ihnen noch geblieben ist. Aber alle wollen den Frieden erleben und Kin­ der und Familie wiedersehen, und das ist dann eigentlich doch wieder verständlich. Gerade in dem Moment, als ich heute Morgen aus dem dritten Him­ mel auf den Boden herabsteigen wollte, kam Anne-Marie149 nach oben geklettert; mit ihrer Alpinomütze und ihrer Schutzbrille150 sah sie aus wie eine Fliegerin. Sie hat Innendienst in der Baracke, in der ich letztes Jahr gelegen habe. Es geht ihr ganz ausgezeichnet, sagt das vor allem Swiep. Sie schläft gut, isst gut, hat nicht zu schwere Arbeit und ist allein. Letzteres ist wichtig, das merke ich an mir selbst. Die Sorge um die Aller-, Allernächs­ ten frisst stärker an einem als alles andere. Mischa und Mutter habe ich heute noch nicht gesehen, Mischa war gestern krank und den ganzen Tag im «Bett», und Mutter ging es auch ein bisschen schlecht vom Magen her. Ich muss immer einen starken inneren Widerstand überwinden, eine Art

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Angst, ihre Baracke zu betreten, wo der saure, verdorbene Menschengeruch einem entgegenschlägt. Sam de Wolff151 ist in derselben Baracke unter­ gebracht wie Mischa; hin und wieder begegne ich ihm, wenn er zwischen den Eisenpritschen herumschlurft. Wir erwarten dieser Tage einen Transport aus dem Holl. Theater, von dem man annimmt, dass er geradewegs nach Polen weitergeschickt wird. Von Jaap wissen wir nur, dass er im Theater ist, weiter nichts.152 Ich werde alles versuchen, um ihn hierbehalten zu können, aber erzwingen kann man nichts, und jeder muss das Schicksal auf sich nehmen, das ihm zu­ gewiesen wird, es ist einfach so. Gerade hat die Frau, die hier bei Kormann alles sauber hält, zu mir gesagt: «Sie strahlen immer so.» Es geht mir persönlich genauso wie immer und überall, man ist doch immer wieder ein bisschen müde und mürbe und es wird einem schwindlig von den Sorgen, aber das sind die Sorgen, die jeder hier hat, und warum sollte man sie zusammen nicht ehrlich tra­ gen und teilen? Ich erlebe hier viel Gutes. Mechanicus,153 mit dem ich Spaziergänge durch den schmalen, dürren Streifen Erde zwischen Graben und Stachel­ draht mache, liest mir täglich vor, was er an diesem Tag geschrieben hat. Man schließt hier Freundschaften, die für mehrere Leben gleichzeitig rei­ chen. Ich finde immer noch täglich die Zeit für ein kurzes philosophisches Gespräch mit Weinreb,154 einem Mann, der eine eigene Welt für sich ist, mit einer eigenen Atmosphäre, die er durch alles hindurch zu erhalten weiß. Schade, dass ich so wenig Zeit zum Schreiben habe, ich hätte so viel zu erzählen, ich spare es aber für später für euch auf, ja, für später. Und jetzt machen wir uns erst einmal an den Spitzkohl, hier ein be­ liebtes Gericht. Etwas später. Hier wird gut gekocht, darüber habe ich kein böses Wort zu verlieren. Kinder, ich wüsste so gern, wie es euch geht, warum höre ich nichts von Maria? Ist es wahr, Maria, dass Ernst hierher zu Besuch kommt? Renata155 hat mir das erzählt. Pauls Mutter156 begegne ich hin und wieder auf einem schlammigen Weg, und dann schwatzen wir ein paar Minuten. Zeit für richtige «Besuche» gibt es nicht, es gibt auch nirgends einen ruhigen Ort, an dem man zusammensitzen könnte, man spricht einander im Vorbei­ gehen, draußen. Eigentlich läuft man den ganzen Tag herum.

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Und ja, noch etwas; das, wovon der ganze J. R. hier die ganze Zeit ­redet, habe ich völlig vergessen. Allerlei Erschütterungen im J. R. hier. Der letzte Stand ist folgender, aber das wird sich wohl noch einige Male ­ändern: 60 Leute von uns dürfen hierbleiben, die anderen müssen nach A.dam zurück und werden dort auf besondere Weise «gesperrt». Weil meine Eltern hier sind, gehöre ich natürlich zu denjenigen, die coûte que coûte hierbleiben wollen. Den meisten von uns geht es so, fast jeder hat Familie, die er durch seine Anwesenheit im Lager noch ein wenig be­ schützen kann, solange es eben geht. Jetzt entsteht die paradoxe Situa­ tion, dass, während jeder hier alles dafür geben würde, aus W. wegzudür­ fen, ein Teil von uns hier sozusagen rausgeschmissen werden wird. Die Gemüter sind in höchster Aufregung. Debatten, Berechnungen, Chan­ cenausrechnen sind an der Tagesordnung. Ich kümmere mich einfach nicht darum. Dieses ganze Gerede kostet viel Energie, und es kommt sowieso alles, wie es kommt. Das wird euch unwahrscheinlich in den lieben ­Ohren klingen, aber ich bin die schweigsamste Person im ganzen J. R., wirklich wahr. Die Menschen verheddern sich ganz unglaublich in den tausend kleinen Details, die hier täglich auf einen einstürmen, sie verlie­ ren sich darin und ertrinken. Darum behalten sie die großen Zusammen­ hänge nicht mehr im Auge, kommen vom Kurs ab und finden das Leben sinnlos. Die paar großen Dinge, um die es im Leben geht, muss man im Auge behalten, den Rest kann man ruhig fallen lassen. Und diese paar großen Dinge findet man überall wieder, man muss sie jedes Mal wieder in sich selbst ent­decken, um sich selbst wieder daraus erneuern zu kön­ nen. Und trotz allem landet man immer wieder am selben Punkt: Das Leben ist trotzdem gut; an Gott wird es nicht liegen, dass es manchmal so schiefgeht, sondern es liegt an uns selbst. Und dabei bleibe ich, auch jetzt, auch wenn ich zusammen mit der ganzen Familie nach Polen weiter­ geschickt werde. Und jetzt mache ich mich mal auf die Suche nach Mutter und Mischa. Tschüss, bis später. Letzte Etappe. Ich sitze jetzt auf meinem Koffer in unserer kleinen Küche; drinnen ist es so voll, dass keine Menschenseele mehr dazu kann. Jetzt nur noch einige praktische Dinge – Intermezzo. Gerade hat sich ein netter Herr, der bei Spier ein Objekt war, auf den anderen Koffer gesetzt, und plötzlich waren wir mitten in der Chirologie. Ich treffe hier übrigens viele Objekte und

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Schüler von Spier. Und wir sagen alle dasselbe: Was für ein großes Glück, dass er nicht mehr ist. Jetzt zum Organisatorischen. Ich lege noch ein paar Brotmarken bei. Ob Frans es wohl schlimm findet, wenn ihr ihn anruft und fragt, ob er noch ein wenig Sanovite schicken kann?157 Ist Frans eigentlich überhaupt noch da? Mutter isst fast gar nichts, sie verträgt das Brot hier sehr schlecht, ich fände es schön, ihr ab und zu ein wenig Sanovite geben zu können. Bitte empfindet es nicht als schlimm, dass ich so lästig bin, ja? Die Seifenmarken sind doch, hoffe ich, noch nicht abgelaufen;158 ich habe die ganze Zeit vergessen, sie zu schicken. Die Wäsche erledige ich hier selbst, in einem Eimer vor dem Haus, und dann hängen wir sie auf eine Leine, ein bisschen primitiv, aber es geht. Dieser Brief ist auch für Mien Kuyper, ich komme heute nicht mehr dazu, ihr zu schreiben. Könnt ihr ihr bitte sagen, dass bis zum heutigen Tag, Sonntag, noch keine Päckchen von ihr angekommen sind? Ihre Briefe dagegen sind angekommen; die Adresse hat sie also, es wäre schlimm, wenn etwas von ihr verloren ginge, sie schrieb nämlich, dass sie zweimal etwas geschickt hat. Könnt ihr sie bitte fragen, ob sie zum Beispiel Toma­ ten und solche frischen Sachen schicken kann, hier herrscht näml. ein stän­ diger Sandsturm, wodurch man bis obenhin mit Staub voll ist und ­austrocknet, sodass die Leute Frisches noch mehr brauchen als Brot. Ich persönlich brauche es nicht so sehr. Das ist ganz typisch; seit dem RazziaTransport bin ich nicht hungrig, nicht müde und nichts mehr und fühle mich ganz großartig, man konzentriert seine Aufmerksamkeit so sehr auf die anderen, dass man sich selbst vergisst, und das ist auch gut so. Mien soll Milli Ortmann unsere herzlichsten Grüße ausrichten; sobald es geht, schreibe ich auch. Bleibt zu hoffen, dass Mischa aus Westerbork weg­ kommt, hier wird es ihm auf die Dauer doch nicht gut ergehen, aber so­ lange seine Eltern nicht sicher sind, lässt sich nichts mit ihm anfangen. Ich breche meinen augenverderbenden Bericht jetzt ab. Ein Gruß an all die­ jenigen, die mir so lieb und teuer sind, ihr wisst schon selbst, wer das ist. Tschüss! Etty Könntet ihr beim nächsten Mal ein paar Briefmarken schicken?

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An Milli Ortmann. Westerbork. Dienstag, 29. Juni 1943. 29.6.43. Dienstagnachmittag.

Millietje, Allerliebste, zuerst schnell das Allerorganisatorischste: Die Zentralstelle muss über den Amtsweg dem Kommandanten hier mitteilen, dass meine Eltern und Mischa hierbehalten werden müssen. Sonst hilft alles nichts. Diese Transportnacht haben wir überlebt; Mischa ist «zurückgestellt», vorläufig, meine Eltern haben wir zurückgehalten, weil sie auf der «Eltern­ 159 liste» des Personals in Westerbork stehen. Aber diese Elternliste steht auf sehr wackligen Füßen. Nächste Woche beginnt der Kampf um unsere Eltern von Neuem. Wenn vorläufig wieder jede Woche ein Transport ab­ geht, werde ich sie nicht hierbehalten können, es sei denn, es wird von anderer Seite eingegriffen. Heute Nacht kam das Holländische Theater160 herein, ich stand die ganze Nacht Wache, weil ich Jaap erwartete. Zu unserer allergrößten Freude erschien er nicht. Wir hörten vage, er sei durch die Meyer-Liste161 zurückgehalten worden (Was um Himmels willen ist das jetzt wieder für eine Liste?). Um 5 Uhr morgens bin ich ins Krankenhaus eingedrungen, um zu schauen, dass sie meinen Vater auch nicht aus Versehen mitneh­ men, und um ihm die erfreuliche Neuigkeit von Jaap zu überbringen. Viele Kranke, die wegmussten, wurden von den Pflegern angekleidet. Die schäbige lange Reihe Güterwaggons wartete schon den ganzen Tag. Ganz und gar leere Viehwagen, jeder mit einer Tonne in der Mitte. Für die Kranken lagen Papiermatratzen auf dem Boden. Nachdem ich bei Vater gewesen war, bin ich quer durch das Lager zu Mutters großer Baracke gegangen, wo sich fast jeder zum Aufbruch bereit­ machte. Die Menschen waren würdevoll, ruhig und diszipliniert. Ich habe viele gute Freunde gehen sehen. Gerade war ich wieder kurz bei Mutter. Sie lag leicht erschöpft auf ihrem schmalen eisernen Soldatenbett. Nach einer solchen Transportnacht sind alle krank und am Ende. Danach kommt ein kurzes Aufatmen, und dann lebt man wieder auf den nächsten Trans­ porttag hin. Ich hoffe inständig, dass Nachricht von der Zentralstelle kommt. Meine Eltern verhalten sich wirklich großartig; innerlich bereiten sie sich auf Polen vor, sie fordern wenig und klagen nicht, ich bin sehr

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stolz auf sie. Mischa ist derselbe wie überall, er ist ein bisschen herunter­ gekommen und ab und zu sehr aufgeregt, er erscheint zu keinem einzigen Appell rechtzeitig, aber sein fabelhafter Humor hat ihn auch hier nicht im Stich gelassen. Euren Brief erhalten, auch die Kopien, auch den Brief von Grete und Cor.162 Ihr seid alle so lieb. Vielen Dank für die Päckchen, was habt ihr doch viel zu tun wegen uns, es belastet mich schon manchmal. Und auf jeden Fall: auf Wiedersehen. Alles Liebe. Etty

An Han Wegerif und andere. Westerbork. Dienstag, 29. Juni 1943. Westerbork.

Vadertje Han, Käthe, Maria, Hans, schnell eine Nachricht im Telegrammstil an euch, einfach so hinge­ schrieben. Heute Nacht Wache gestanden, um Jaap abzufangen. Er war nicht dabei. Überglücklich waren wir. In der Frühe ist wieder ein großer Transport von hier aufgebrochen. Um 5 Uhr war ich noch im Kranken­ haus, um zu schauen, dass sie Vater auch nicht aus Versehen mitnehmen; es gibt genug Irrtümer. Dann in die große Baracke von Mutter. Sie lag auf ihrem schmalen, engen Soldatenbett und war glücklich mit der Nachricht über Jaap. Meine Eltern verhalten sich bei allem großartig, ich bin sehr stolz auf sie. Vor Polen haben sie überhaupt keine Angst mehr – sagen sie. Ich hoffe, sie hierzubehalten, aber nichts ist hier sicher. Man treibt hier innerhalb einiger Tage weit ab von seiner alten Grundlage, und es fahren neue und große Kräfte in einen Menschen – auch um den eigenen Unter­ gang akzeptieren zu können braucht man innere Kraft. Von Leguyt163 bekam ich einen Brief, der mich sehr berührt hat; er gehört auch zu den Menschen, für die man sein Bestes würde tun wollen, um durchzukommen und sie so später wiedersehen zu können. Sein Brief enthielt ein Wort von Dr. Korff: «Und doch ist Gott Liebe.»164 Ich stimme dem aus vollem Herzen zu, und es gilt nun mehr als jemals zuvor. Mijn­ heer Leguyt schrieb mir unter anderem: «Es würde mich erstaunen, wenn Sie so viel geistige Flexibilität besäßen, dass Sie mehr als ein halbes Ohr für das hätten, was zurückgeblieben ist.» Ich habe meine sämtlichen Ohren und meine ganze Aufmerksamkeit für euch; ich lebe mit euch weiter, ge­ nau wie früher, und ruhe mich ab und zu bei euch von all dem Überwälti­

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genden hier aus. Für euch ist es schwieriger, das Geschehen hier zu ver­ arbeiten, als für uns. Ich merke, dass in jeder Situation, auch in der schwierigsten, dem Menschen neue Organe wachsen, durch die er doch wieder weiterleben kann. Was das angeht, ist Gott barmherzig genug. Und was den Rest betrifft: mehrere Selbstmorde heute Nacht vor dem Trans­ port, mit Rasiermessern und so. Heute Morgen sagte ich zu einer Kollegin, während ich mich neben ihr wusch, aus der Tiefe meines Herzens in etwa das Folgende: «Die Gebiete von Seele und Geist sind so groß und unendlich, dass das bisschen körper­ liches Unbehagen und Leiden doch eigentlich nicht so wichtig ist; ich habe nicht das Gefühl, meiner Freiheit beraubt zu sein, und im Wesentlichen kann mir doch auch eigentlich niemand etwas Böses antun.» Ja, liebe Kinder, so ist es, mich umgibt so eine merkwürdige Art der betrübten Zufriedenheit. Wenn ich euch einmal einen verzweifelten Brief geschrieben habe, dürft ihr ihn nicht allzu schwernehmen, das war einfach so ein kurzer Augenblick; man kann ja leiden, aber darum braucht man noch nicht verzweifelt zu sein. Und jetzt springe ich wieder in die Tiefe und gehe ins Krankenhaus, mit einer Brotdose für meinen geliebten Papa unter dem einen Arm und meiner Beamtenmappe unter dem anderen. Ich werde nach diesem Trans­ port viele leere Betten im Krankenhaus vorfinden. Haltet euch wacker, ihr Tapferen! Wie geht es dem Wegerif-Neffen,165 und Käthe, bist du auch brav? Und ist der Hausherr auch nicht allzu schweigsam? Die Mutter von Hannes166 ist nicht nach Theresienstadt167 gekommen. Einen Gruß an Adri von Ilse B.168 Tschüss! Etty

An Christine van Nooten. Westerbork. Donnerstag, 1. Juli 1943. Westerbork, 1. Juli 43. Christien, Liebste, ich habe mir ein kurzes Stündchen in der Sonne für ein paar Kritze­ leien an die verschiedenen Freunde erschlichen. Es ist ein strahlender Tag, was sieht das Leben dann doch plötzlich anders aus. Ich bin so froh, dass meine Arbeit auf dem Gebiet der Krankenbaracken169 liegt; dadurch kann ich zu Vater hinein, wann immer ich will. Und wenn ich nicht in seine

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Baracke kann, dann halte ich am offenen Fenster, in dessen Nähe er liegt, einen Schwatz. Gerade eben habe ich ihm auch deine Briefe gebracht, und er hat sich darüber gefreut. Dein Briefchen an mich habe ich jetzt für mich. Die Schutzbrillen haben mir ein Indianergeheul der Freude ent­ lockt, die Augen macht man sich sonst völlig kaputt; wie lieb von dir, die aus eigenem Antrieb zu schicken. Ich finde es ganz allerliebst, wie du für uns sorgst. Ich nehme an, ihr im Hinterland habt doch selbst auch schon genug Sorgen, und jetzt habt ihr noch so viele Sorgen wegen uns dazu. Dein Brief an Mischa war sehr schön; Vater hat ihn jetzt und wird ihn an Mischa weitergeben, wenn er heute zu ihm geht. (Eine halbe Stunde später. Ein kurzes malerisches Intermezzo: Ein ­guter Freund von mir aus A.dam, ein begabter junger Musiker,170 kam mit einer Schubkarre voller Sand und in einem schmutzigen Overall vorbei. Zwischen dem Stacheldraht und den Leinen, auf denen die schmutzige Wäsche zum Trocknen hängt, haben wir uns in philosophischen Betrach­ tungen über die Seltsamkeiten und Unbegreiflichkeiten dieses Daseins ­unter dem Mond ergangen. Hoffentlich kommen jetzt nicht mehr so viele Freunde mit Schubkarren vorbei, denn ich glaube, dass ich dir noch viel zu schreiben habe.) Die Schreiberei wird bald an ein Ende kommen. Ich bin allein schon sehr dankbar, dass ich hierbleiben darf. Habe ich dir schon erzählt, dass von den 120 Mitarbeitern des Judenrats 60 nach Hause müssen? Ich gehöre zum Glück nicht zu diesen 60 und darf bleiben, um meine Eltern so gut wie möglich weiterhin beschützen zu können. So gibt es immer wieder neue Gründe, warum ein Mensch zufrieden sein kann. In Amsterdam setzt man sich angestrengt weiter für Barneveld ein. Ich hoffe und bete, dass es in Ordnung kommt. Ich würde selbst zehnmal lieber nach Polen wollen, wohin auch immer, wenn ich diese geliebten Menschen nur erst von diesem Ort hier wegbekommen könnte. Nun ja, wir müssen einfach Geduld haben, und die haben wir eigentlich auch. Wenn ich nicht mehr schreiben darf, darf ich bei Ankunft eines Päck­ chens trotzdem noch eine Briefkarte mit den Worten: «Päckchen erhal­ ten»171 schreiben, sonst nichts. Wenn du also solche nichtssagenden Brief­ karten bekommst, dann weißt du, dass es einfach nicht anders geht. Und noch etwas: Wir dürfen von hier aus auch Telegramme an den Judenrat schicken, mit denen wir um Dinge bitten, die wir brauchen, auch ohne weiteren Kommentar. Wir dürfen dann nur telegrafieren: Lebensmittel  – wir dürfen nicht

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spezifischer werden. Soll ich jetzt z. B. mit dir absprechen: Buch = Butter; Heft = Marmelade; Füllertinte = Roggenbrot, Schnürsenkel = Obst? (Wenn es einmal so weit kommt, dass ich solche Telegramme verschicke, dann setzt du dich doch mit Simon in Verbindung, ja?)172 Weißt du, wir sprechen hier viele «große Worte» gelassen173 aus. Ich sage so einfach: Obst, Tomaten und solche Sachen. Ich weiß doch nicht, ob es davon im Hinterland überhaupt etwas gibt. Du darfst es also nicht unbescheiden finden, wenn wir um unmögliche Dinge bitten; das liegt dann an unserer Unwissenheit, das darfst du nicht vergessen. Was Vater z. B. schrecklich dringend braucht, sind Obst und frische Lebensmittel. Man trocknet hier näml. sehr schnell aus, durch die ständigen Sand­ stürme. Das Wasser ist hier nicht besonders gesund, wegen der «Lager­ krankheiten»174 wird davon abgeraten, viel davon zu trinken, und was es sonst zum Trinken gibt, ist mieses Zeug. Ich glaube, dass Mutter in De­ venter noch allerlei Flaschen stehen hat, aber es scheint mir ein unglaub­ licher Aufwand, die herzubekommen. Ich finde, dass ihr schon sehr viel Arbeit mit uns habt, aber es ist die Mühe wert, einander am Leben zu er­ halten. Ach, Christine, stell dir vor, dass wirklich noch einmal eine Zeit kommt, in der wir einander alles aus dieser Zeit werden erzählen können, was bisher ungesagt ist. Und wenn wir es überleben, dann werden wir hinterher noch dankbar sein, dass auch wir an einer der vielen Fronten Europas haben sein dürfen, um zusammen mit den anderen einen Teil des vielen Leidens auf uns zu nehmen. Gestern sagte der Mann, der Vater ­regelmäßig rasiert, zu ihm: «Sie sind jemand, der unter allen Umständen etwas aus seinem Leben macht.» Vater ist wirklich fabelhaft, von einer ungetrübten Gelassenheit. Gestern Morgen standen all die Betten aus sei­ ner Baracke draußen, im staubigen Sand zwischen zwei großen niedrigen Krankenbaracken. Das sah wirklich aus wie ein Freiluftsanatorium. Ich kam vorbei und hörte Vaters munteres Lachen über das ganze Gelände hallen. Er hat nette Leute um sich, die jedes Mal alle Kleinigkeiten, die er mit einer gewissen Grandezza und Gleichgültigkeit täglich verliert, für ihn wiederfinden. Bei ihm liegt zum Beispiel der Journalist Philip Mecha­ nicus, ein Mann mit einem stilvollen, starken Charakter, der sich regel­ mäßig mit ihm unterhält. Er hat hier auch viele alte Studienfreunde ge­ troffen. Er liest eifrig in der Bibel, vergleicht französische, griechische, holländische Texte miteinander. Ich habe ihm die Schriften von Meister 175 Eckehardt gebracht und noch ein paar Bücher, die ich hier hatte. Er isst nicht besonders viel; wir können viel Brot weggeben, worüber wir sehr

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froh sind, denn viele leiden hier langsam unter großem Mangel daran, jetzt, wo das Hinterland, das regelmäßig etwas schickte, so zusammen­ geschrumpft ist. Bei den meisten Juden ist es schließlich so, dass ihre Ver­ wandten und Bekannten inzwischen auch hier sind. Jetzt höre ich mal auf an diesem sonnigen, windigen Ort, ich sitze auf einer Zisterne. Ich gehe gleich kurz an Vaters Fenster vorbei und dann in meine Baracke, um zu schauen, was es heute zu essen gibt. Wir sind überglücklich, dass Jaap noch nicht hier ist; nett von dir, dass du bei ihm warst. Als der Transport aus dem Holl. Theater vor ein paar Nächten ankam, habe ich die ganze Nacht Wache gestanden, um ihn ab­ zufangen, aber Gott sei Dank war es nicht nötig. Ich schreibe später noch weiter und schicke den Brief erst ab, wenn dein angekündigtes Päckchen angekommen ist. Tschüss, bis später. abends halb 6 Uhr. Wenn du nur wüsstest, was das hier bedeutete: kurz allein in einem Zim­ mer zu sitzen. Und jetzt sitze ich in so einem kleinen Zimmer und werde dir endlich auf deinen Brief antworten. Weißt du, womit du mich strah­ lend glücklich machen könntest, wenn du wirklich besondere Wünsche hören willst? Mit solchen pento-Papiertaschentüchern. Man ist hier näml. chronisch erkältet, das Klima will nicht so richtig taugen. Man ge­ wöhnt sich zwar daran, es ist wegen der Taschentücher schlimmer als ­wegen der Erkältung. Wenn man hier die Wäsche macht, werden die ­Sachen eher schmutziger als sauberer. Die hygienischen Zustände176 sind eigentlich das, was uns am meisten verzweifeln lässt. Vater klagt Stein und Bein und sagt: Ich bin der schlimmste Zigeuner von Westerbork, aber er sieht nicht, dass es um die anderen genauso bestellt ist. Gibt es das bei euch noch, Monatsbinden? Und auch ganz einfache Verbandsrollen? Ein hartnäckiges Ekzem,177 das ich früher einmal einige Jahre an der rechten Hand hatte, hat sich zu meinem Kummer wieder gemeldet. Ich habe die Hand jetzt wegen des ganzen Staubs hier verbunden. Ich bitte dich wirk­ lich schweren Herzens um all diese Dinge, denn so einfach bekommst du die doch nicht, oder? Und nun ja, wenn noch ein Töpfchen Marmelade von uns herumsteht, reist das im Laufe der Zeit auch einmal hierher? Man darf in dieser Zeit nicht allzu viele besondere Wünsche haben, finde ich. Aber das ist das Schwierige, weißt du; für mich selbst würde ich nichts brauchen, und für meine Eltern würde ich die ganze Welt auf den Kopf stellen, um ihnen etwas zu besorgen, was ihnen das Leben noch ein

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wenig erleichtern kann. Schau einfach mal. Wir wünschen euch allen ­einen schönen Urlaub. Vater hat morgen Schreibtag, und den will er, glaube ich, dazu nutzen, dir zu schreiben. So ein Brief braucht eine Woche, durch­ läuft eine gesonderte Zensur. Verzeih mir, dass ich so alles durcheinander­ schreibe, das bringt die ganze Umgebung mit sich. Ich hoffe, dass ich dir noch mal häufiger ­schreiben kann, aber daran scheint nun sehr bald ein Ende zu kommen. Briefpapier noch nicht nötig. Alles Liebe und danke für alles. Etty P. S. von Mutter: Vielleicht kannst du dich später auch einmal mit dem Bäcker Gantvoort178 in Verbindung setzen, Privatadresse bei Lansen,179 Sweelinckstr. 23. Er hat damals gesagt, dass er auch einmal etwas backen wollte oder so. Entschuldige bitte, es ist wirklich nicht für mich. Nachtrag von Mutter: Gibt es auf dieser Welt noch ein paar Konserven und Wurst oder so etwas? Auf das Finanzielle brauchst du nicht zu schauen. Kann man an Eier kommen? Wenn ich dein Päckchen erhalten habe, schicke ich eine Briefkarte, den Brief schicke ich jetzt los.

An Johanna und Klaas Smelik und andere. Westerbork. Samstag, 3. Juli 1943. 3. Juli 43. Westerbork.

Jopie,180 Klaas, liebe Freunde, ich liege in der dritten Stockbettetage und will in aller Eile noch ein wahres Schreibbacchanal entfesseln; in ein paar Tagen fällt die Schranke für ein unbegrenztes Schreiben, dann werde ich «Kampinsassin» und darf nur noch ein einziges Mal alle 14 Tage einen Brief schreiben, den ich geöff­ net abliefern muss. Und ich will doch noch über ein paar Kleinigkeiten mit euch sprechen. Habe ich wirklich einen Brief geschrieben, in dem es so wirkte, als hätte ich keinen Mut mehr? Das kann ich mir fast nicht vorstellen. Es gibt sehr wohl Momente, in denen man denkt, dass es doch eigentlich nicht weitergehen kann. Aber es geht immer weiter, das weiß

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man so langsam auch, aber die Landschaft um einen herum wirkt dann plötzlich wie verändert: Ein niedriger schwarzer Himmel hängt über ­einem, und es finden große Verschiebungen im Lebensgefühl statt, und man hat ein Herz, das ganz und gar grau und tausend Jahre alt ist. Aber so ist es nicht immer. Der Mensch ist etwas so unglaublich Sonderbares. Das Elend, das hier herrscht, ist wirklich unbeschreiblich. In den großen Ba­ racken leben die Menschen wie Ratten in einem Abwasserkanal. Man sieht viele Kinder wegsterben. Aber man sieht auch viele gesunde Kinder. Letzte Woche bekamen wir eines Nachts einen Gefangenentransport auf der Durchreise herein. Wachsbleiche und durchscheinende Gesichter. Ich habe noch nie so viel Erschöpfung und Müdigkeit in Menschengesichtern gesehen wie in dieser Nacht. In dieser Nacht wurden sie bei uns «durch­ geschleust»:181 registrieren, noch einmal registrieren, Durchsuchung durch gehetzte NSBler, Quarantäne, ein kleiner Leidensweg für sich, der sich Stunden über Stunden hinzieht. Früh am Morgen wurden diese Men­ schen in leere Güterwaggons gestopft. Dieser Zug wurde noch in Holland beschossen, so entstand ein Aufenthalt. Und dann drei Tage lang weiter in den Osten. Matratzen aus Papier auf dem Boden für die Kranken. Für den Rest kahle Waggons mit einer Tonne in der Mitte und ungefähr 70 Men­ schen in einem geschlossenen Waggon. Nur einen Brotbeutel darf man mitnehmen. Ich frage mich, was lebend dort ankommt. Und meine Eltern bereiten sich auf einen solchen Transport vor, es sei denn, aus Barneveld wird unerwarteterweise doch noch etwas. Mit Vater bin ich neulich durch die staubende Sandwüste gegangen, um ein wenig herumzuschlendern; er ist ganz allerliebst und von einer ungetrübten Gelassenheit. Er sagte sehr freundlich und ruhig ganz spontan: «Eigentlich würde ich am liebsten bald nach Polen, dann habe ich es auch schneller hinter mir; in drei Tagen bin ich dort, und unter den Umständen hier hat es doch keinen Sinn, dieses menschenunwürdige Dasein weiterhin zu führen. Und warum sollte mir nicht geschehen können, was Tausenden anderen auch geschieht.» Später lachten wir zusammen ein wenig über die angemessene Landschaft, es ist manchmal eine richtige Wüste  – trotz der violetten Lupinen und Pechnelken und der anmutigen Vögel, die Möwen ähneln. «Die Juden in der Wüste, diese Landschaft kennen wir noch von früher.» Seht ihr, das belastet einen schon sehr, so ein freundlicher kleiner Vater, der hin und wieder einfach aufgeben will. Aber das sind nur Stimmungen. Es ist auch durchaus manchmal anders, und dann lachen wir zusammen und sind über vieles erstaunt. Wir begegnen vielen Angehörigen,182 die wir jahre­

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lang nicht gesehen haben, Juristen, einem Bibliothekar usw. hinter Schub­ karren voller Sand, in unordentlichen und schlecht sitzenden Overalls, und dann schauen wir einander kurz an und sagen nicht viel. Ein trauriger junger Polizist sagte in einer Transportnacht zu mir: Ich nehme hier in nur einer Nacht fünf Pfund ab, und hier darf man nur zuhören, zusehen und schweigen. Und darum schreibe ich auch jetzt nicht allzu viel. Aber ich bin abgeschweift. Ich wollte nur Folgendes sagen: Das Elend ist wirklich groß, und trotzdem laufe ich oft, später am Abend, wenn der Tag hinter einem in eine Tiefe weggesunken ist, beschwingten Schrittes am Stachel­ draht entlang, und dann steigt jedes Mal wieder aus meinem Herzen ­empor – ich kann nichts dagegen tun, es ist nun einmal so, es besitzt eine elementare Kraft  –: Dieses Leben ist etwas Prächtiges und Großes, wir müssen später noch eine ganze neue Welt aufbauen – und jeder weiteren Verzweiflungstat und jeder weiteren Grausamkeit haben wir ein weiteres Stück Liebe und Güte entgegenzusetzen, das wir in uns selbst erobern müssen. Wir leiden vielleicht, aber wir dürfen daran nicht zugrunde ge­ hen. Und wenn wir diese Zeit unversehrt überleben, an Körper und Seele, aber vor allem, was die Seele betrifft, ohne Verbitterung, ohne Hass, dann haben wir nach dem Krieg auch das Recht, ein Wörtchen mitzureden. Vielleicht bin ich tatsächlich eine ehrgeizige Frau: Ich würde ein ganz klei­ nes Wörtchen mitreden wollen. Du sprichst von Selbstmord und von Müttern und Kindern. Ja, sicher, ich kann mir das alles vorstellen, aber ich halte das für ein ungesundes Thema. Es gibt eine Grenze für alles Leiden, vielleicht hat ein Mensch doch nicht mehr zu tragen, als er tragen kann – und wenn eine Grenze erreicht ist, stirbt er schon von selbst. Hier sterben hin und wieder Men­ schen an einem gebrochenen Geist, weil sie keinen Sinn mehr erkennen, junge Menschen. Die ganz alten sind noch in einem stärkeren Boden ver­ wurzelt und begegnen ihrem Schicksal mit Würde und Gelassenheit. Ach, man sieht hier so viele Arten von Menschen, und man beobachtet ihre Haltung gegenüber den schwierigsten und letzten Fragen. Ich werde einmal versuchen, euch zu beschreiben, wie ich mich fühle; ich weiß nicht, ob das Bild stimmt. Wenn eine Spinne ihr Netz webt, wirft sie dann nicht die Hauptfäden voraus und klettert dann selbst hinterher? Der Hauptweg meines Lebens erstreckt sich schon ein ganzes Ende vor mir und reicht bereits in eine andere Welt hinein. Es ist gerade, als wäre alles, was hier geschieht und noch geschehen wird, schon in mir verrech­ net, ich habe es bereits verarbeitet und durchlebt und beteilige mich be­

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reits am Aufbau einer Gesellschaft nach dieser hier. Das Leben hier kostet mich nicht viel von meiner wesentlichen Kraft – körperlich baut man wo­ möglich durchaus ein wenig ab, und oft ist man auch unendlich betrübt –, aber im Kern wird man immer stärker. Ich wünschte, es würde euch und all meinen Freunden auch so gehen; es ist nötig, wir haben zusammen noch viel zu erleben und viel zu arbeiten. Und darum rufe ich euch zu: Bleibt innerlich auf dem Posten, wenn ihr diesen Posten jemals bezogen habt, und seid wegen mir bitte niemals verzweifelt oder traurig, es gibt keinen Grund dafür. Die Levies haben es schwer, aber sie gehören auch zu der Sorte Men­ schen, die es schafft und über große innere Reserven verfügt, trotz einer körperlich schwachen Gesundheit. Die Kinder sind manchmal sehr schmutzig; das ist hier das größte Problem, die Hygiene. In einem anderen Brief schreibe ich mehr über die Kinder. Ich füge ein paar Notizen hinzu, die ich an Vater und Mutter angefangen hatte, aber nicht mehr zu ver­ schicken brauchte, vielleicht steht darin etwas für euch. Einen Wunsch habe ich auch, wenn ihr das nicht unbescheiden fin­ det: ein Kopfkissen, z. B. ein altes Divankissen; das Stroh ist auf die Dauer doch ein wenig hart. Aber aus der Provinz darf man nur Briefpäckchen von 2 kg schicken, vielleicht ist so ein Kissen ja auch schwerer? Aber wenn du zufällig in A.dam bei Pa Han bist (bitte bleib ihm ganz treu und bringe ihm auch diesen Brief ), dann könntest du es vielleicht dort auf einem Postamt abgeben? Ansonsten ist mein einziger Wunsch, dass ihr gesund und munter seid, und schreibt mir hin und wieder ein unschuldiges Briefchen. Viele, viele liebe Grüße Etty

An Christine van Nooten. Westerbork. Undatiert; Poststempel 5. Juli 1943. Christine, Allerliebste, unsere Augen werden schon von deiner ausgewählten Kollektion an Schutzbrillen abgeschirmt, die anderen guten irdischen Dinge sind auch wohlbehalten in unseren Händen gelandet, diese Sandtörtchen waren un­ übertrefflich, ich bewahre einen Teil davon bei mir in einer Büchse auf und werde meinen Vater jeden Tag mit einigen davon erfreuen; es ist so schön, ihm hin und wieder etwas Leckeres zu bringen. Kannst du Hansje

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Lansen183 bei Gelegenheit sagen, dass Vater ihr nicht antworten kann? Sie hat einen rührenden Brief geschrieben, der ihm sehr gefallen hat, sag ihr das bitte. Ich hoffe, dir geht es gut in Groningen. Später mehr. Tschüss! Etty

An Han Wegerif und andere. Westerbork. Montag, 5. Juli 1943–Freitag, 9. Juli 1943. Westerbork 5. Juli. Ich will doch versuchen, in aller Eile einen Brief hinzuzaubern; wenn ich morgen oder übermorgen nicht mehr schreiben kann, wird es mir leidtun, es nicht getan zu haben. Heute ist ein schwerer Tag. Morgen früh wird ein Transport abfahren.184 Gestern Abend habe ich gehört, dass meine Eltern auf der Transportliste185 stehen; Herman B. hat es mir ins Ohr geflüstert, als ich gerade ganz gemütlich auf dem Rand von Vaters Bett saß und mich unterhielt, Vater hat gar nichts mitbekommen. Ich habe nichts gesagt und mich sofort an die verschiedenen Instanzen gewandt. Nun heißt es, dass die Elternliste diesmal noch sicher ist, aber das ist bis zur letzten Minute nicht sicher. Also muss ich versuchen, bis morgen früh alles so gut wie möglich im Blick zu behalten. Heute Nacht kommt wieder ein Transport aus Amsterdam herein, also werde ich sowieso auf den Beinen sein. ­Mechanicus, mit dem ich in dieser kurzen Zeit eine enge Freundschaft geschlossen habe, steht auch auf der Transportliste; wir versuchen noch alles Mögliche. Weinreb186 wurde schon vor einiger Zeit hier weggeholt, eigenhändig durch ein paar hochrangige Kerle in einem Auto nach Den Haag. Man darf sich hier nicht zu sehr an Menschen binden. Heute Morgen habe ich in der Strafbaracke gearbeitet, wo die Men­ schen unter besonderer Bewachung leben, und habe Nachrichten von den Eingeschlossenen für Angehörige im Lager weitergegeben. Gerade noch bei Vater gewesen, der einigermaßen zufrieden auf dem Bett lag und einen französischen Roman las und nicht weiß, dass er noch immer irgendwie von der Liste geholt werden muss. Das härteste Arbeitslager ist besser als diese Anspannung jede Woche. Früher hat mich das nie belastet, weil ich für mich selbst akzeptiert hatte, dass ich nach Polen gehen würde, aber dieses Leben in Angst und Schrecken um seine Nächsten, von denen man

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sicher weiß, dass sie einem endlosen Leidensweg entgegengehen, im Ver­ gleich zu dem das Leben hier noch eine Idylle ist, lässt sich auf Dauer nicht ertragen. Ich habe manchmal Lust, heimlich meinen Rucksack zu packen und in so einen Transportzug in den Osten zu steigen, aber nun ja, der Mensch darf es sich auch nicht allzu leicht machen wollen. Dienstagmorgen. Es ist 10 Uhr morgens. Ich sitze in unserem leeren Arbeitsraum, es ist wunderbar still, die meisten Kollegen schlafen in ihren Baracken. Ein paar junge Männer hängen mit betrübten Gesichtern über der Fensterbank und schauen auf die Lokomotive, die wieder ihre Rauchwolken ausstößt. Der Zug ist von hier aus durch eine niedrige Baracke unseren Blicken entzogen. Seit 6 Uhr morgens ist man damit befasst, die Güterwaggons zu beladen, der Zug steht kurz vor der Abfahrt. Ich fühle mich wie nach einer Geburt, zumindest was meine Eltern betrifft, bei denen es uns diesmal wieder gelungen ist, sie aus dem Zug zu halten; ansonsten könnte ich ehr­ lich gesagt nicht genau sagen, wie ich mich fühle. Gestern habe ich hier einen Tag erlebt wie nie zuvor. Ich habe mich früher nie daran beteiligt, für jemanden zu «arbeiten», um ihn aus dem Transport zu halten; mir fehlt nun einmal jegliches Talent für Diplomatie. Gestern habe ich mich wegen Mechanicus aufgemacht. Was ich nun genau getan habe, weiß ich selbst nicht ganz; ich war bei allerlei Instanzen, lief plötzlich mit einem geheimnisvollen Herrn187 herum, den ich noch nie zuvor gesehen hatte; er war vom Typ her ein Sklavenhändler mit weißen Sklavinnen und hätte ganz wunderbar in einem französischen Film «mitwirken» können. Ich kam mit diesem Herrn zu allerlei hochrangigen Kerlen in diesem Lager, die, vor allem vor einem Transport, nie zu sprechen sind; unsichtbare ­Türen öffnen sich, zu einer bestimmten Zeit hatte ich einen Termin bei der «Registratur»,188 in der folgenden Stunde musste ich mich zu einem senilen alten Männlein begeben, das hier anscheinend eine geheimnisvolle Machtposition innehat und das, wie es aussieht, Menschen aus einem Transport befreien kann, auch wenn alles verloren scheint – es gibt da eine Art «Unterwelt» in Westerbork, gestern habe ich etwas davon gespürt; wie das Ganze funktioniert, durchschaue ich nicht, ich glaube nicht, dass es erfreulich ist –. Wie auch immer, ich bin den ganzen Tag herumgerannt, meine Eltern hatte ich dem wachsamen Blick von Kormann und der Lei­ tung des J. R. übergeben, die versicherten, es werde diesmal gut gehen. Bei Mechanicus war das bis zum allerletzten Moment unsicher. Ich habe ihm

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beim Packen geholfen, habe ihm noch ein paar Knöpfe an den Anzug ge­ näht, er sagte u. a.: «Ich bin hier in diesem Lager milder geworden, alle Menschen sind für mich gleich geworden, alle sind Grashalme, die sich unter dem Sturm beugen, die im Orkan flach auf den Boden gedrückt werden.» – Er sagte auch: «Wenn ich diese Zeit überlebe, dann werde ich als reiferer und tiefgründigerer Mensch daraus hervorgehen, und wenn ich sterbe, werde ich als reiferer und tiefgründigerer Mensch gestorben sein.» Später habe ich meinem Vater über den schon beinahe weiß gewordenen Kopf gestreichelt, der sagte: «Wenn ich heute Nacht meinen Aufruf er­ halte, rege ich mich deswegen überhaupt nicht auf, dann werde ich ganz ruhig aufbrechen.» (Man erhält näml. seinen Aufruf nachts, einige Stun­ den vor der Abfahrt des Transports.) Nach 8 mit Mutter spazieren gegan­ gen, von verschiedenen Freunden Abschied genommen, die wegmussten, noch kurz mit Liesl und Werner herumgelaufen, gegen 10 Uhr noch kurz mit Jopie zusammengesessen, der vor Müdigkeit grau aussieht. Und da­ nach konnte ich mich wirklich nicht mehr auf den Beinen halten, habe mich selbst für die Nachtarbeit ausgeschaltet und alles einfach anderen überlassen. Heute Morgen um 8 Uhr kam Jopie vorbei und erzählte durchs Fenster, dass meine Eltern noch da waren, dass Jaap heute Nacht nicht angekommen war (wir erwarteten Leute aus dem NIZ) und dass Mechanicus nicht auf Transport gegangen ist. Und jetzt ist es 11 Uhr, und ich gehe ins Krankenhaus, wo ich viele leere Betten vorfinden werde. So ein Tag, wie gestern, ist mörderisch, nächste Woche beginnt dasselbe Gedonner wieder. Am späten Nachmittag. So, liebe Kinder, da bin ich wieder, in der dritten Etage: Heute Mittag bin ich zur Abwechslung in einer stickigen großen Baracke in Ohnmacht ge­ fallen, und so etwas hat auch seine nützliche Seite – man wird daran er­ innert, dass die körperliche Energie eines Menschen ihre Grenzen hat. Es wurde auch ein bisschen zu arg, alles zusammengenommen. Außer meinen Krankenbaracken hat man mir nun auch die Strafbaracke zur Arbeit zuge­ wiesen. Jetzt, wo die Hälfte unserer Kollegen nach Amsterdam verzogen ist, ist das Terrain nur schwer zu bewältigen. Dann sagte mir Kormann, dass meine Eltern doch damit rechnen müssen, nächste Woche auf Trans­ port zu gehen; es wird immer schwieriger werden, die Menschen zurück­ zubehalten (aber nun ja, man weiß es nie vorher, und das ist gerade das Aufreibende, diese Unsicherheit bis zur letzten Minute), dann ging ich zu

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Mutter, die sich schwindelig und krank fühlte, und dann war ich völlig am Ende und bin einfach umgefallen. Morgen geht es wieder besser. Mir fällt gerade ein, dass es in der Welt da draußen «große Ferien» gibt; habt ihr bestimmte Pläne? Ich erfahre von allem, ja? Maria, danke für deinen Brief! Er war genau so, wie ein Brief von dir sein sollte. Wenn ich morgen noch schreiben darf, schicke ich euch noch ein paar Zeilen, sonst schweige ich bis auf Weiteres. Was die Ärzte angeht, davon können wir hier ein Lied singen. Was für ein hoffnungsloser Zustand. Hier haben wir Ärzte im Überfluss, die nichts Nützliches vollbringen können. Der Vater v. Jan Zeeman gehört auch dazu!189 Tschüss! Haltet euch tapfer! Etty Donnerstagnachmittag. Hallo! Schon seit einer halben Stunde rede ich mir im Halbschlaf gut zu, euch jetzt endlich weiterzuschreiben. Jeder Schreibtag ist zumindest ein weiterer; man hat immer noch nicht genau gesagt, ab wann wir nicht mehr schreiben können. Also kritzle ich noch ein bisschen weiter. Erst einmal ein paar Dinge, bevor ich sie vergesse. Leo Krijn ist weiter­ geschickt worden, er fand es noch nicht einmal so schlimm, von hier weg­ zugehen. Sein Bruder,190 der noch hier ist, sagte gestern zu mir: «Er hat die naive Hoffnung, dort seine Frau und seinen Sohn wiederzufinden.» Herman B. macht sich Sorgen, er hat schon seit einer Woche nichts von Wiep und seiner Mutter gehört. Ist etwas mit ihnen? Es geht ihm nach wie vor gut. Er füttert meinen Vater den ganzen Tag hartnäckig mit Gurken und Tomaten. Ich sage manchmal, dass ich es schlimm für ihn finde, dass er die Baracke nicht verlassen darf, aber er selbst findet es gar nicht schlimm, die Staubwolken da draußen ziehen ihn nicht an. Anne-Marie habe ich das Paket von Swiep gebracht. Gerade eben war sie hier; ich habe für einen der kommenden Abende eine Verabredung mit ihr getroffen, sie will mich einem geselligen russischen Professor vorstel­ len, damit wir ein bisschen zusammen schwatzen können. Meine rechte Hand ist verbunden, wegen dieses Ekzems, und darum schreibe ich noch unleserlicher als sonst, jetzt müssen Sie noch mehr Buchstaben nachziehen,191 guter Vader Han. Danke für den lieben Brief; wie schlimm würde ich es finden, wenn Käthe wirklich wegginge, ist das unwiderruflich? Bitte nicht! Im Augenblick liege ich mitten in einem Schlachtfeld aus kranken

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Frauen; eine böse Bazille tobt durch unsere Baracke, wir haben alle Durch­ fall, wie der so bildhafte Ausdruck lautet; ich finde es wunderbar, denn jetzt habe ich eine gute Ausrede, um euch ein bisschen zu schreiben. Nach der letzten Nachricht von Grete Wendelgelst, die ich heute Morgen be­ kommen habe, sieht es so aus, als könnte meine Familie doch bleiben. Gestern sah es noch nach dem Gegenteil aus. Nachdem ich am selben Tag noch einmal umgekippt bin, habe ich mir vorgenommen, ein neues Leben jenseits aller Spannungen anzufangen. Mir setzte auch langsam die «Stem­ pelitis»192 zu – rote, grüne und blaue Stempel gibt es, man kann darüber wirklich 24 Stunden am Tag sprechen, ein unerschöpfliches Thema. Jopie ist davon ganz krank geworden. Wenn er das Wort Stempel hört, muss er sich übergeben. Im Augenblick herrscht Aufregung in allen Gemütern: Alle Stempel, alle Farben haben ihre Bedeutung verloren, es gibt eine Um­ gruppierung; wie der nächste Transport aussehen wird, weiß niemand, die Listen müssen neu gemacht werden, wobei sich sicher wieder das ein oder andere hinter den Kulissen abspielen wird. Man spielt ein schönes Spiel mit uns, aber wir lassen dieses Spiel auch mit uns spielen, und das ist ­unsere unauslöschliche Schande vor allen nach uns kommenden Genera­ tionen. Vor ein paar Tagen habe ich euch etwas von einem senilen alten Männlein erzählt, für das sich geschlossene Türen auf geheimnisvolle Weise öffneten. Das war doch ein nettes Männlein; er war Kurier im Weltkrieg und war unter anderem mit dem Erzbischof Söderblom193 befreundet und ist der Einzige, der einfach so beim Kommandanten selbst zu Besuch kommen darf, der ihm sogar Gegenbesuche macht, was eine sehr große Ehre ist, Himmel noch mal. Gestern bin ich ein paar Stunden lang mit ihm und Mechanicus durchs Lager gezogen, er kramte Erinnerungen an Poincaré194 und die Königin hervor, darunter tat er es einfach nicht, aber in einem bestimmten Augenblick sagte er etwas sehr Nettes, und zwar Folgendes: «In Westerbork gibt es nur ein einziges gerechtes System, und das ist die Wasserleitung: Sie schenkt 10 000 Juden Wasser, und jedem von ihnen gleich viel.» Es ist doch in Ordnung, wenn ich ein bisschen alles durcheinander schreibe, bitte, ja? Ich bin nämlich zu müde. Ihr seht: Es gibt Klänge, die ich mir auch hier nicht abgewöhnt habe. Das habe ich deutlich erfahren: Wenn man jede Woche die ganze Anspannung hier mit durchzittert, ist man nach 3 Wochen kaputt, aber dann auch wirklich ganz und gar und für immer kaputt, und wenn die Zeit kommt, in der man dann selbst Richtung Moskau aufbrechen muss, würden wir das nicht einmal mehr

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schaffen. Und jetzt versuche ich also jenseits von grünen, roten und blauen Stempeln und Transportlisten zu leben und besuche hin und wieder die Möwen, in deren Bewegung durch die großen Wolken des Himmels man Gesetze, ewige Gesetze vermutet, von einer anderen Ordnung als die Ge­ setze, die wir Menschen machen. Jopie, der sich im Augenblick durch und durch krank und «erledigt» fühlt, und seine Waffenschwester Etty standen heute Nachmittag bestimmt eine Viertelstunde lang da und schauten ei­ nem solchen schwarz-und-silbernen Vogel zu, wie er sich zwischen den mächtigen dunkelblauen Regenwolken bewegte, und da war uns plötzlich etwas weniger schwer zumute. Man könnte hier Märchen schreiben. Es klingt seltsam, aber wenn man etwas über das Leben hier wiedergeben wollte, könnte man das am besten in Märchenform tun. Das Elend hat hier so sehr alle Grenzen der Wirklichkeit erreicht, dass dadurch wieder eine Unwirklichkeit entsteht. Manchmal gehe ich allein durch das Lager und lache heimlich wegen al­ lergroteskester Situationen; man müsste wirklich ein sehr großer Dichter sein, um diese Situationen zu beschreiben, vielleicht könnte ich es in 10 Jahren einmal ansatzweise tun.

Mitten in den Märchen

Am Abend.

am nächsten Morgen musste ich aufhören. Ein ambulantes Leben führt der Mensch hier; ich habe jetzt eine kurze Viertelstunde, noch ein paar Worte. Ja, wirklich, das ist wahr, eigentlich gibt es sehr barmherzige Gesetze in der Natur, wenn wir nur immer das Gefühl für ihren Rhythmus behalten. Ich merke das an mir selbst jedes Mal wieder: Wenn man an die Grenze al­ ler Verzweiflung gekommen ist und denkt, dass man nicht mehr weiter­ kann, dann neigt sich die Waagschale plötzlich in die andere Richtung, und man kann lachen und das Leben so nehmen, wie es ist. Wenn einem längere Zeit sehr schwer zumute ist, kann man sich danach plötzlich so sehr diesem irdischen Elend entheben, dass man sich leichter und befreiter fühlt als je­ mals zuvor in seinem Leben. Es geht mir nun wieder sehr gut, ein paar Tage hintereinander war es mehr oder weniger hoffnungslos. Das Gleichgewicht stellt sich jedes Mal wieder her. Ach, Kinder, eine sonderbare Welt. Hier ein völliges Irrenhaus, für das wir uns noch drei Jahrhunderte wer­ den schämen müssen. Das Lager muss viele Menschen abschieben, die auf

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Transport müssen. Die «Dienstleiter»195 selbst müssen die Listen machen. Versammlungen, Aufregungen, abscheulich ist das alles. Mitten in diesem Spielen mit Menschenleben plötzlich ein Befehl des Kommandanten: Die «Dienstleiter» müssen abends bei der Premiere des Kabaretts anwesend sein, das hier zurzeit stattfindet. Sie schauen drein, als wären sie verrückt ge­ worden, müssen aber nach Hause, um ihre guten Anzüge anzuziehen. Und dann sitzt man abends im Registrierungssaal, wo Max Ehrlich, Chaja Gold­stein,196 Willy Rosen197 u. a. eine Kabarettaufführung zum Besten ge­ ben. In der ersten Reihe der Kommandant mit seinen Gästen. Dahinter Prof. Cohen. Ansonsten ein voller Saal. Man lacht Tränen, jawohl, Tränen. Wenn die Menschen aus A.dam hier hereingespült werden, haben wir im großen Auffangsaal eine Art Holzschranke stehen, mit der wir sie zurück­ halten, wenn der Zulauf zu groß wird. Genau diese Schranke stand nun als Teil der Ausstattung auf der Bühne, und Max Ehrlich lehnte sich darüber, während er seine Liedchen sang. Ich war selbst nicht dabei, Kormann er­ zählte es mir gerade eben und fügte hinzu: «Ich komme allmählich am Rand der Verzweiflung durch dieses ganze Gewerbe hier.» Ich muss diesen Brief doch irgendwann beenden, sonst darf ich ihn nicht einmal mehr verschicken. Kurz nachdenken, was mir noch einfällt. Von Gera habe ich eine Zigarrenkiste voller Tomaten bekommen; dankt ihr, wenn ihr sie seht, ich kann nicht mehr so viel schreiben. Der Jim198 v. Fr. Nethe ist auch hier, aus dem Haus von Mien, ich bin also ziemlich gut auf dem Laufenden. Ach ja, Vader Han, schicken Sie mir doch ab und zu einen Zehn­ guldenschein in einem Brief, den kann ich immer wieder gut für Leute gebrauchen, so seltsam das auch klingt. Man bemüht sich noch immer um einen kurzen Urlaub für uns, damit wir unsere Sachen «endgültig» regeln können; wenn es dazu kommt, ist das ein großes Extrageschenk, aber ich rechne nicht damit. Wenn ich morgen noch schreiben darf, schicke ich noch ein paar Zeilen, ansonsten müsst ihr ein wenig Geduld haben. So unwahrscheinlich das auch klingt: Darüber, was in der Außenwelt vor sich geht, bin ich oft viel trauriger als über das Schlachtfeld hier. Ich er­ innere mich an ein Mittagessen mit Joh. Brouwer,199 ein feinsinniger Kerl war das – werde hier plötzlich wieder weggejagt. tschüss! etty

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An Milli Ortmann. Westerbork. Dienstag, 6. Juli 1943. Westerbork, 6. Juli.

Millietje, schnell ein kurzer Verzweiflungsschrei. Ich hatte einen Brief an dich und Mien zusammen angefangen, aber während des Schreibens wird ein Brief hier schon alt. Heute bin ich zum ersten Mal zusammengeklappt und mitten in einer großen Baracke in Ohnmacht gefallen. Es waren wieder schwere Tage. Heute Morgen wieder ein Transport mit 2500 Menschen abgefahren, ich habe es mit Mühe geschafft, meine Eltern aus dem Zug zu halten, es ist eigentlich alles zum Verzweifeln. Meine guten Freunde hier, die das haben, was man Einfluss nennt, sagten mir heute Morgen im Ver­ trauen, dass sich meine Eltern auf einen Transport in der kommenden Woche vorbereiten müssen; das Lager wird langsam aber sicher leergeso­ gen. Alles spitzt sich hier immer weiter zu. Wenn von außen nicht noch ein Wunder geschieht, ist in ein oder zwei Wochen alles verloren. Wir wün­ schen uns nur, dass wir Mischa, der unbedingt mit seinen Eltern mitwill, in seinen sicheren Untergang, hier wegbekommen können. War es eigent­ lich so, dass Mischa allein auf alle Fälle nach Barneveld könnte? Und sollte er doch noch, auch ohne dass seine Eltern nach B. kommen, einen Befehl bekommen können, dass er dorthin muss? Allerdings weiß ich ehrlich ge­ sagt in meinem Inneren, dass er ohne seine Eltern sowieso nicht gehen wird. «Wenn sie gehen, ist das mein Untergang», sagt er immer. Es ist eine große Leidensgeschichte, unter uns gesagt. Zum Verzweifeln ist, dass man doch viel weniger für seine Leute tun kann, als sie von einem erwarten. Vor einem halben Jahr wäre es vielleicht noch einfach gewesen, sie dauerhaft hierzubehalten und einzubürgern, jetzt steht man dem Ganzen immer machtloser gegenüber. Du selbst weißt am besten, was für ein Gefühl das in einem auslöst. Ich schreibe jetzt nicht weiter darüber, denn diesmal wird es kein sonniger Brief. Ihr seid alle so schrecklich lieb; oft wird mir das Herz schwer des­ wegen, all die Mühe und der Aufwand und die Sorgen, die ihr wegen uns habt. Cors Brief an Mischa habe ich gerade gelesen. Ein Päckchen KuyperGlassner ist angekommen, ein Päckchen Kuyper-Ortmann nicht. Das ist natürlich sehr traurig, wenn eure mit so großer Sorgfalt und Liebe zusam­

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mengestellten Päckchen nicht ankommen, denn ich glaube, dass ansons­ ten alles angekommen ist; es ist sehr, sehr willkommen, ich frage mich, wie ihr das schafft, denn so einfach ist es doch bei euch auch nicht? Es kam auch eine große Schachtel voller Tomaten und Gurken, ohne Absender, ich weiß also nicht, wer das ist, vermelde aber auf alle Fälle das Eintreffen. Ich muss hier plötzlich abbrechen, liebe Freundin, mir ist ein bisschen krank zumute, aber morgen geht es wieder besser. Grüße an Grete und Cor. Tschüss. Etty Heute oder morgen darf ich nicht mehr schreiben, nur noch einmal alle 14 Tage; wenn also plötzlich eine Zeit lang kein Ton mehr von uns kommt, weißt du also, dass es nicht anders geht.

An Christine van Nooten. Westerbork. Donnerstag, 8. Juli 1943. Westerbork. Donnerstagabend, 8. Juli.

Christine, Allerliebste, ich habe im Augenblick Abenddienst; wenn an meinem Tisch nicht so viel los ist, schreibe ich zwischen den Akten hin und wieder ein paar Worte, ich will auf jeden Fall heute Abend einen Brief wegschicken, damit deine Schwester ihn rechtzeitig bekommt. Verzeih mir also, wenn das Ganze sehr unzusammenhängend wird. Christine, dieser Groninger Kuchen!200 Herrlich hat der geschmeckt. Es war insgesamt so ein großartiges Paket. Ich habe Vater sofort ein paar Scheiben von dem Kuchen und eine halbe Tafel gebracht. Das ist so wun­ derbar: Ich renne schnell zu ihm, 5 Minuten von meiner Baracke entfernt, und gebe ihm etwas durchs Fenster und renne wieder zurück. Und das ist das Herrliche daran, wenn man seine Leute hierbehalten kann; man kann sie versorgen und mithilfe des Hinterlands bei Kräften halten. Mischa war dabei, als ich dein Paket auspackte, ihm lief das Wasser im Mund zusam­ men. Du hast es mit so viel Sorge und Liebe zusammengestellt, es ist wirk­ lich rührend; es ist nicht nur der materielle Inhalt, der einen so stärkt –

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auch der Gedanke, dass es Menschen gibt, die einem auf diese Weise durch alles helfen wollen, ist sehr tröstlich. Vom J. R. Deventer201 ist inzwischen auch wieder ein Paket angekom­ men, mit herrlichen Roggenbrötchen von Gantvoort. Ich gebe immer Mutter, die für Mischa sorgt, die Hälfte mit; die andere Hälfte behalte ich bei mir und sorge damit für Vater. Angespannte und unruhige Tage [liegen] hinter uns. Vater stand auf der Transportliste. Wir haben ihn wieder herunterbekommen. Die Auf­ rufe, dass man sich für einen Transport bereitmachen soll, kommen mit­ ten in der Nacht, wenige Stunden vor der Abfahrt. Wenn im letzten ­Augenblick noch Leute gebraucht werden, um die geforderte Zahl zu er­ reichen, greift man sich willkürlich hier und da Juden aus den Baracken, im letzten Augenblick. Und darum sind diese Tage vor dem Transport so nervenaufreibend; am Tag danach bin ich zweimal umgekippt, aber jetzt geht es schon wieder – bis zum nächsten Transport. Am Sonntagabend, während ich auf Vaters Bettrand saß und mich unterhielt, flüsterte mir plötzlich ein Bekannter ins Ohr: «Dein Vater steht auf der Liste.» Man erschrickt dann schon kurz, um die Wahrheit zu sagen. Und während des ganzen Montags stand dann bei uns die lange Reihe mit Güterwaggons ohne Anstrich; ungefähr 70 Menschen, Frauen, Männer, Kranke, Säug­ linge, werden in einen einzigen Waggon gestopft, die Türen werden fest verschlossen, von oben kommt ein wenig Luft durch einige Luftritzen und herausgebrochene Bretter hinein, Papiermatratzen auf dem Boden für die Kranken, ansonsten nur harter Boden, eine Tonne in der Mitte und dann 3 Tage unterwegs. Kannst du dir das ungefähr vorstellen? Ich selbst bin mit dem Gedanken vertraut, eines Tages gehen zu müssen. Meinen Eltern und Brüdern möchte ich es ersparen, um alles in der Welt. Aber man kann hier keine Vogel-Strauß-Politik betreiben, jede Woche fährt ein großer Transport ab, und die geforderte Anzahl muss erreicht werden; wenn es nur noch eine kurze Weile so weitergeht, kommen wir sehr bald an die Reihe. Mein Vater sieht dem Ganzen sehr ruhig entgegen: «Was all die Tausende vor uns auf sich genommen haben, können wir auch auf uns nehmen», sagt er. Ich bin dankbar, dass ich sie noch hier habe, und am komm. Montag beginnt dieses Elend wieder von vorn. Allerdings – einer Nachricht zufolge, die ich heute von einer guten Freundin202 erhielt, die sich für uns einsetzt, sieht es wieder danach aus, dass von Den Haag aus doch etwas für uns getan wird. Durch Vater und Mutter erlebe ich viel Freude; jeder schlägt sich auf seine eigene Art und Weise durch, ich be­

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wundere das sehr. Vater hat in seiner Krankenbaracke nun 2 Schüler, einer ist ein wenig krank, der andere ein sehr kranker junger Mann, der trotz­ dem mit aller Gewalt noch etwas Griechisch und Latein machen will, um sich abzulenken. Er liest Homer, Ovid und Sallust mit ihnen und gibt nun also mit großer Freude 2 Stunden Unterricht am Tag. Außerdem liest er viel, philosophiert mit steinalten Rabbinern und alten Studienfreunden und wandert ab und zu mit seiner Tochter durch den staubigen Sand des Krankenhausgeländes. Ach, Christine, wenn sie nur hierbleiben können, wenn aus Barneveld nichts wird, hier gibt es eine Chance, sich durchzuschlagen; mithilfe aus dem Hinterland, so schwierig alles auch sein mag, aber wenn sie erst ein­ mal im Zug sitzen, erwarte ich nur noch einen endlosen Leidensweg – wir wollen abwarten. – Wieder etwas später. Ach ja, das Seifenpulver  – sehr, sehr gerne, so ­etwas ist fast noch dringender als Essen; weil hier so viele Menschen auf­ einandersitzen, ist es um die Hygiene traurig bestellt, wir waschen unsere Kleider immer in allerlei mit Mühe herbeigeschafften Eimern, aber davon werden sie nicht viel sauberer, allerdings vermittelt einem der Gedanke, dass man die Wäsche gemacht hat, schon ein sauberes Gefühl. Ich beantworte deine Briefe nicht so systematisch wie du meine, das ist hier beinahe nicht möglich. Mischas Baracke: 62. Ende meines Dienstes. Ich fliege förmlich in meine Baracke, habe Fie­ ber und etwas so Poetisches wie Durchfall; das hat hier zurzeit das halbe Lager, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, im Bett liegen zu blei­ ben, ich finde es angenehmer, ständig in Bereitschaft zu sein. Was habe ich dir vorhergesagt? Einen schlampigen, unzusammenhän­ genden Brief. Jetzt kommt sowieso wirklich bald ein Ende an die Schrei­ berei. Für private Päckchen aus der Provinz dürfen wir uns nicht einmal per Briefkarte bedanken, habe ich gehört. Wenn ich Simon schreibe: Paket empfangen, meine ich damit das J. R.-Paket, und wenn ich Päckchen schreibe, dann meine ich dich, obwohl ich es, was den Umfang betrifft, eigentlich besser umgekehrt gemacht hätte. Ein herzlicher, herzlicher Gruß von uns allen. Von v. Kuik haben wir einen netten Brief bekommen. Schöne Ferientage. Tschüss! Etty

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An Milli Ortmann. Westerbork. Undatiert; wahrscheinlich Donnerstag, 8. Juli 1943. Westerbork.

Milli, unbezahlbare Milli, ich will dir schnell um den Hals fallen. Du armes Schaf, ich schreibe dir immer solche schrecklichen Briefe. Heute Morgen Nachricht von Grete, in der sie mitteilt, dass die Papiere unterwegs sind. Wir hatten noch nichts davon gehört. Jetzt besteht Hoffnung, sie hierbehalten zu können. Alle Stempel sind hier näml. verfallen;203 alle kommen für den Transport infrage, außer denjenigen, deren Angelegenheiten noch in Den Haag in Bearbei­ tung sind. Und ach Milli, ich möchte sie lieber nicht in diesem Güterzug sehen, für mich selbst ist es mir ziemlich egal, nun ja, wir müssen abwarten. Das in Eile. Im Moment bin ich ein bisschen krank: Fieber, Durchfall, aber das hat das halbe Lager. An Wegerif schicke ich heute Abend einen ausführlicheren Brief,204 für euch alle bestimmt. Umarme Grete für ihren netten Brief. Ihr seid alle so lieb, und ihr habt selbst wahrhaftig genug Sorgen. Nach eurer Tante Hermine205 bin ich auf der Suche, morgen gehe ich zu ihr; alles gut und schön, aber die alten Leute hätten sie in Ruhe lassen sollen. Kommt ihr denn auch gut zurecht, ja? Und dass Cor nun so ganz in der Nähe ist. Nein, hierherkommen, das geht nicht. Danke für alles. Kannst du dich wegen der finanziellen Unkosten, die du gehabt hast, an Wegerif wenden? Aber das alles ist doch eigentlich unbezahlbar! In Eile. Später mehr, wenn es noch möglich ist. Tschüss! Etty An Swiep van Wermeskerken. Westerbork. Freitag, 9. Juli 1943 (Poststempel). für Briefe: Bar. 41 J. R. Westerbork für Pakete und Päckchen: Bar. 34 J. R. Westerbork [Empfangsdatum und Unterschrift] 16 / 7 Etty Hillesum

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An Milli Ortmann. Westerbork. Freitag, 9. Juli 1943. Freitagabend. Arme Milli, es tut mir so leid für dich, du hast deswegen so viele Wege auf dich genommen und dich so sehr gekümmert. Barneveld ist abgelehnt, auch für Mischa. Vater und Mutter stehen auf der Transportliste, Mischa darf bleiben, will aber nicht. Es ist nun schwer, ihn ruhig zu halten. Er sagte: «Ich gehe zum Kommandanten und sage, dass er ein Mörder ist.» Wir müssen aufpassen, dass er nichts Gefährliches tut. Rauters Sekre­ tärin206 ist im Augenblick hier im Lager, und Mutter wurde eigens los­ geschickt, um ihr dies mitzuteilen. Ausdrücklich wurde dazugesagt, dass sie jetzt für Dienstag auf der Transportliste steht. Ob sich hier noch etwas ausrichten lässt, weiß ich nicht, ich werde sehen müssen. Unsere «Eltern­ liste» steht im Moment schlecht da; ob meine Eltern jetzt noch darunter­ fallen, nach diesem Befehl aus Den Haag, weiß ich auch noch nicht. Ich hoffe nur, dass noch rechtzeitig etwas Gepäck aus Amsterdam kommt, obwohl – man geht immer stärker davon aus, dass einem das alles sowieso abgenommen wird. Lass uns Folgendes absprechen, an Nethe habe ich es auch schon ge­ schrieben: Wenn Vater und Mutter am Dienstag weg sind und ich nicht mehr schreiben darf, telegrafiere ich an Nethe: (an Juden und Menschen in M.ehen207 können wir bestimmte Telegramme verschicken, die von Laufboten verteilt werden): Schicke 2 Wintermäntel. Wenn Mischa auch dabei ist, telegrafiere ich: Schicke 3 Wintermäntel. Genauso wie Mischa aus Liebe zu seinen Eltern mit ihnen gehen will, gehe ich aus demselben Grund nicht mit, aber aus einer anderen Art Liebe heraus. Vielleicht ist es eine feigere Liebe, aber allein bin ich stark. Ich glaube, dass es einfacher ist, einen Menschen aus der Ferne zu lieben, als ihn direkt neben sich leiden zu sehen. Wenn du dieses Telegramm erhalten solltest, gib die Nachricht doch an unsere Amsterdamer Freunde durch, und auch an mej. J. C. J. C. van Nooten, Noordenbergsingel 7, Deventer, und an mevr. M. Gans,208 Roo­ denburgerstr. 60, Leiden. Wenn es irgendwie möglich ist, schreibe ich noch einmal. Wenn sie noch da sind und ich nicht mehr schreiben darf, dann telegrafiere ich: Schicke Taschentücher, ja?

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Noch eine betrübliche Nachricht: Deine Tante Hermine ist nicht mehr hier. Es tut mir leid, Millietje, dass ich nur traurige Nachrichten habe. Tschüss. Alles Liebe. Etty.

An Maria Tuinzing. Westerbork. Samstag, 10. Juli 1943. 10. Juli.

Maria, hallo, Zehntausende sind von diesem Ort abgereist, bekleidet und umgeklei­ det, Alte und Junge, Kranke und Gesunde – und ich konnte weiterleben und denken und arbeiten und heiter sein. Jetzt werden meine Eltern auch von diesem Ort abreisen müssen, und wenn es durch ein Wunder nicht in dieser Woche geschieht, dann bestimmt in einer der nächsten. Und ich werde auch lernen müssen, mich dem zu stellen. Mischa will mit, und mir scheint, dass er das dann auch so machen muss; wenn er seine Eltern von hier abreisen sieht, wird er aus der Fassung geraten. Ich gehe nicht mit, ich kann es nicht. Es ist einfacher, aus der Ferne für einen Menschen zu beten, als ihn neben sich leiden zu sehen. Es ist keine Angst vor Polen, weswegen ich nicht mit meinen Eltern zusammen gehe, sondern die Angst, sie leiden zu sehen. Also doch wieder Feigheit. Das wollen die Menschen nicht erkennen: dass man von einem be­ stimmten Augenblick an nichts mehr tun kann, nur noch existieren und sich allem stellen. Und mit diesem mich Stellen habe ich schon vor sehr langer Zeit angefangen, aber man darf das nur für sich selbst und nicht für andere tun. Und darum ist es zurzeit hier so verzweifelt schwer für mich. Mutter und Mischa wollen immer noch etwas tun, die ganze Welt auf den Kopf stellen, und ich stehe dem Ganzen völlig machtlos gegenüber. Ich kann nichts tun, ich habe nie etwas tun können, ich kann nur die Dinge auf mich nehmen und leiden. Da liegt meine Kraft, und es ist eine große Kraft. Aber für mich selbst, nicht für andere. Barneveld wurde für Vater und Mutter abgelehnt, gestern haben wir es gehört. Und man fügte hinzu, sie sollten sich für den Transport am Diens­ tag bereithalten. Mischa will zum Kommandanten gehen und sagen, dass er ein Mörder ist. Wir werden ihn in diesen Tagen bewachen müssen.

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­ ater gibt sich nach außen hin sehr ruhig. Aber hier in der großen Baracke V wäre er schon innerhalb von ein paar Tagen ganz unten gewesen, wenn ich ihn nicht ins Krankenhaus bekommen hätte, wo das Leben langsam auch mehr oder weniger unerträglich für ihn wurde. Er ist ganz und gar hilflos und kommt allein nicht zurecht. Mit meinen Gebeten stimmt etwas nicht. Ich weiß es: Man kann für Menschen beten, dass sie die Kraft finden mögen, alles durchzustehen. In mir steigt immer wieder dasselbe Gebet auf: Herr, lass es so kurz dauern wie möglich. Und dadurch bin ich jetzt in all meinem Handeln gelähmt. Ich will eigentlich ihr Gepäck so gut es geht vorbereiten, aber gleichzeitig weiß ich: Man wird es ihnen sowieso wegnehmen (das wissen wir hier mit immer größerer Sicherheit), wozu also noch das ganze Geschleppe? Ich habe hier einen guten Freund.209 Letzte Woche stand er auf der Transportliste. Als ich zu ihm kam, stand er kerzengerade vor mir, mit ruhigem Gesichtsausdruck, sein Rucksack stand gepackt neben seinem Bett; über die Abreise wurde weiter nicht gesprochen, er las mir verschie­ dene Dinge vor, die er geschrieben hatte, und wir philosophierten noch ein bisschen. Wir machten es einander nicht schwer mit unserer Trauer darüber, dass wir Abschied nehmen mussten, wir lachten und sagten, wir würden einander wiedersehen. Jeder von uns konnte sein eigenes Schick­ sal tragen. Und das ist das Verzweifelte hier: Die meisten können ihr eige­ nes Schicksal nicht tragen und laden es auf den Schultern anderer ab. Und darunter kann man zusammenbrechen, wirklich nicht unter dem eigenen Schicksal. Meinem eigenen Schicksal gegenüber fühle ich mich stark ge­ nug, dem meiner Eltern gegenüber nicht. Das hier ist der letzte Brief, den ich dir bis auf Weiteres schreiben darf. Heute Nachmittag werden uns die Ausweise abgenommen,210 dann wer­ den wir Kampinsassen. Hab also jetzt ein bisschen Geduld, was Nachrich­ ten von mir betrifft. Vielleicht kann ich mal einen Brief nach draußen schmuggeln. Deine 2 Briefe habe ich erhalten. Tschüss, Maria – liebe kleine Freundin –, Etty

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An Maria Tuinzing. Fragment. Westerbork. Undatiert; im Juli 1943. das andere für meinen Vater wären. Es ist die einzige Art und Weise, wie man sein Leben zurzeit leben kann, aus der unvoreingenommenen Liebe für die gequälte Mitkreatur heraus, von welcher Nation, Rasse oder Ein­ stellung sie auch sein mag. Und als das in einem völlig trostlosen Moment wieder über mich kam, konnte ich wieder weiterleben, nicht einfach so ein Ersatzleben in einem jüdischen Durchgangslager im Zweiten Welt­ krieg, wie es die meisten hier tun, sondern wirklich, mit einer Menge Elan und Freude und Überzeugung und einem vagen Vermuten von Zusam­ menhängen, die es gibt und die in der Tiefe das Leben doch zu einem sinnvollen Ganzen werden lassen  – aber darüber kann man eigentlich noch lange nicht schreiben, weil man die Worte nicht kennt. – Wegen mir braucht ihr niemals beunruhigt und niemals traurig zu sein, damit helft ihr mir schließlich auch nicht. So unglaublich lieb war das Paket, das da von Käthe kam, so sorgfältig eingepackt; das ganze Gabriël-Metsu-Haus stand wieder um mich herum. Die Spaghetti habe ich heute für Mutter gekocht, die nun Bronchitis hat und vielleicht ins Krankenhaus kommt, wenn es dort noch ein Plätzchen gibt. Euer Päckchen war auch so lieb und nützlich, Mien K. habe ich schon berichtet, dass ich es bekommen habe. Isst du selbst denn auch, und achtest du ein bisschen auf dich, Marieteke? Wir müssen noch viele Jahre durchhalten, weißt du das? Ich sitze jetzt an meinem Beamtentischchen und nehme Telegramme auf, hin und wieder schreibe ich eine Zeile, schau nur

An Christine van Nooten. Vor dem 31. Juli 1943. (Mitgeteilt durch Maria Tuinzing in einem Brief an Christine van Nooten, datiert 31. Juli 1943.) Wageningen. 31. Juli 1943.

Sehr geehrte Mejuffrouw van Nooten. Etty Hillesum – Westerbork – hat mich gebeten, Ihnen Folgendes zu schreiben:

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Morgens noch vor 6 Uhr gehe ich zuerst zu Vaters Baracke – hole seine Feldflasche  – gehe damit zum Kesselhaus: vier Heißwasserhähne an der Außenwand – eine lange Schlange von Leuten mit Zubern, Eimern und Kaffeekannen, ein Herr mit dem Äußeren eines Professors, der den Ver­ kehr regelt; ich warte ab, bis ich an der Reihe bin, habe in der linken Manteltasche immer diesen Teebeutel von Swiep – verbrenne mir die Fin­ ger am Hahn, und bis ich wieder am Krankenhaus bin, hat der Tee gezo­ gen. Dann zu Mutter ins Krankenhaus (mit Bronchitis  – ohne Stimme und sehr erschöpft) – hole ihre Thermosflasche und begebe mich wieder auf dieselbe Pilgerreise – Dann zu Mischa – der in der 3. Etage unter einem schiefen Balken in der großen Baracke liegt wie ein vermummter Prinz, um zu schauen, ob er etwas braucht. Bei mir kommen alle Pakete herein – ich versuche das ehrliche Vertei­ lungsbüro der Familie zu sein – gehe mit Büchsen von einem zum ande­ ren  – und es macht mir wirklich Freude  – dass ich das tun kann  – ich finde einfach keine Worte dafür, wie unsere Freunde – auch Kollegen von Vater für uns sorgen – manchmal macht es mir fast das Herz schwer – Vater ist ein unerschütterlicher Zigeuner – ab und zu hat er einen Zu­ sammenbruch – dann würde er am liebsten in den Güterzug steigen, um den ganzen Krach nicht mehr erleben zu müssen – aber davon macht er sich immer wieder frei. Er verbringt seine Tage hier mit einem halben Dutzend Bibeln: Griechisch  – Französisch  – Russisch  – usw. und über­ rascht mich zu allen möglichen Tageszeiten mit sehr passenden Texten. Er ist sehr bescheiden in seinen Forderungen: Er lebt hauptsächlich von Brot. Er war am Tag vor dem Transport – bei dem er fest davon ausging, er würde dabei sein – völlig gleichmütig, las mit kranken jungen Männern Homer und schwatzte mit früheren Studienkollegen, denen er hier wie­ derbegegnet ist – die inzwischen zu ergrauten Rabbinern geworden sind. Von einem unvergesslichen Freund  – für dessen Dahinscheiden ich immer noch täglich dankbar bin – habe ich noch rechtzeitig die Lektion aus Matthäus 24211 gelernt – «Sorgt euch also nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last.» Das ist die einzige Einstellung, mit der man das ­Leben hier ertragen kann. Ich lege deswegen mit einer gewissen Gemüts­ ruhe jeden Abend meine vielen irdischen Sorgen zu Füßen von Gott selbst nieder. Es sind oft sehr triviale Sorgen, z. B. wie ich es mit der Wäsche für die Familie regeln soll  – usw. Die großen Sorgen sind gar keine Sorgen

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mehr – die sind schon zu einem Schicksal geworden, mit dem man mit der Zeit verwächst. Ich habe mich wegen dieser Puttkammer-Geschichte212 sehr geschämt. Daran siehst du, zu was für verrückten Bocksprüngen Menschen in Not kommen  – aber ich finde, dass es Grenzen gibt. Und so eine Geld­ geschichte ist doch sicher nichts für uns. Zerbrich dir um Gottes willen nicht weiter den Kopf darüber. Was Aber- und Abertausende vor uns auf sich genommen haben, können wir auch auf uns nehmen. – Es geht für uns, glaube ich, nicht mehr darum, dass man lebt, sondern darum, wie man dem Untergang gegenüber eingestellt ist. So weit Ettys Brief. – Es geht ihnen also so gut wie möglich unter diesen Umständen. Etty hält mich regelmäßig über alles auf dem Laufenden  – sie darf jetzt in 2 Wochen nur 1 Brief oder 2 Briefkarten schreiben –, aber hin und wieder kommt doch eine Nachricht oder ein geschmuggelter Brief – Jaap ist noch in A.dam – Päckchen kommen an –, wie Sie wissen. Mit herzlichen Grüßen von Schwester Maria Tuinzing Gabriël Metsustr. 6 A.dam Z.213 Ich habe Sie,214 so glaube ich zumindest, einmal bei Etty getroffen, als sie krank war?

An Maria Tuinzing. Westerbork. Samstag, 7. August 1943–Sonntag, 8. August 1943. 7. August.

Maria, liebe kleine Freundin, heute Morgen gab es einen Regenbogen über dem Lager, und die Sonne schien in die Schlammpfützen. Als ich die Krankenbaracke betrat, riefen mir ein paar Frauen zu: «Haben Sie gute Nachrichten? Sie sehen so fröh­ lich aus.» Ich erfand eine Geschichte über Victor Emanuel, über eine Volksregierung und den herannahenden Frieden.215 Ich konnte sie doch nicht mit dem Regenbogen abspeisen, obwohl der die einzige Ursache für meine Fröhlichkeit war!

1941–1943 «Es geht bald zu Ende, es kracht zusammen»,

erzählt soeben ein alter, zu­ sammengeschrumpelter Professor am Holztisch mir gegenüber. Die Stim­ mung ist hier überall gut. Zwischen den Eisenpritschen und den Lupinen blühen italienische Klänge. Von der Lawine der Nachrichten, die in den Gesprächen hier widerhallen wie in Zerrspiegeln, wird schon etwas wahr sein. Ein «Arier» mit Schusswunden wurde ins Lager gebracht, er liegt in einer Krankenbaracke in einer abgeteilten Ecke. Kurz darauf fuhr ein ­Polizeiauto über unsere schlammigen Pfade, der Kommandant in einem Polohemd auf dem Fahrrad vorneweg, um der Polizei den Weg zu zeigen. Der Mann mit den Schusswunden wird regelmäßig verhört, stundenlang, heißt es. Aber ansonsten werde er mit viel Respekt behandelt, heißt es. Der Kommandant selbst brachte ihm aus seinem Haus ein Kissen. Es heißt, dass es ein Vrij-Nederlander216 ist. Es heißt auch, dass es der Bürger­ meister von Beilen ist, auf den geschossen wurde. Es heißt, dass mehrere Arier ins Lager gebracht wurden, alle mit Schusswunden am Körper. Es heißt, dass es in Drenthe sehr unruhig ist. Vor einigen Abenden zeichnete sich am grauen Himmel über unserer Steppenlandschaft ein Feuer217 ab, ich habe lange im Regen gestanden und hingesehen. Am nächsten Mor­ gen steht ein Jude im grünen Overall Wache vor der Baracke, die gegen­ über dem Waisenhaus liegt; die Kinder spielen davor auf einem kleinen Stück Sandfläche, umgeben von Stacheldraht. Dieser grüne Overall be­ wacht 20 Nichtjuden, Männer, Frauen, Kinder, nachts in Drenthe als ­Geiseln aus den Betten geholt wegen dieses Feuers. Untereinander bringt man seine Verstimmung darüber zum Ausdruck, dass man in einem jüdi­ schen Lager Nichtjuden bewachen muss. Doch noch am selben Tag sind sie verschwunden. Gestern hatten wir einen General zu Besuch.218 Wir wurden sehr früh aus dem Bett gejagt, ein Putzwahn brach im ganzen Lager aus, ich irrte ein paar Stunden obdachlos durch den Schlamm, die Kranken mussten wie Vorzeigepatienten in den Betten liegen, das Essen schien ein bisschen bes­ ser als sonst. Die Kranken in den großen Baracken mussten Sterne auf den Schlafanzügen haben, und nirgends durfte ein Stern locker sitzen. Eine dicke Kröte in einer grünen Uniform schob sich zwischen den Baracken hindurch, das wird dann sicher der General gewesen sein. Es heißt, dass er kam, weil es in Drenthe so unruhig ist. Die Stimmung ist hier sehr mun­ ter. Schon seit einigen Wochen sind keine Transporte mehr abgefahren, und es scheint, dazu wird es auch nicht mehr kommen.219 Heißt es. Es wird ein Arbeitslager mit einem Konzentrationslager als Dependance. Die

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Leute in der Strafbaracke, deren Zahl täglich ansteigt, werden kahl gescho­ ren und bekommen Gefängniskleidung. Mit den alten Menschen und den Kindern wusste man sich keinen Rat, dahingehend war noch keine Ent­ scheidung gefallen. Der Kommandant hat entschieden, dass sie bleiben dürfen. Heißt es. Mein Vater ist krank und liegt in einem Stall mit 130 Menschen. «Nacht­ 220 asyl», sagt er schmunzelnd. Er schmunzelt viel. Auf seiner unordent­ lichen Decke liegen wie immer Bibeln in verschiedenen Sprachen und französische Romane verstreut. Sein Anzug, sein Wintermantel, seine gan­ zen Habseligkeiten liegen zusammengeknäult hinter seinem Kopfkissen. Ein Mann liegt dicht neben dem anderen. Die «Pfleger» laufen schnell vorbei, damit man sie um Gottes willen nichts fragt. «Man muss kern­ gesund sein, um hier das Krankenhaus überleben zu können», sagt Vater, «als Kranker schafft man das ganz bestimmt nicht.» Einige Tage war er sehr krank, hatte fast 40 Fieber und heftige Dysenterie. Ich habe bei AnneMarie Brot für ihn geröstet und gehe oft zum Kesselhaus, um heißes Was­ ser für Tee zu holen. Ich tausche Roggenbrot gegen Zwieback und leicht verdauliche Artikel, ich treibe schlicht und einfach Handel mit Roggen­ brot. Gestern kam eine freundliche Dame und brachte ihm ein fürstliches Geschenk: eine Rolle WC-Papier. Es war die Frau eines hohen Rabbiners, die hier Wohltätigkeitsarbeiten verrichtet. Vater hat ihr mit ausgesuchter Höflichkeit gedankt. Ich schlüpfe oft zu ihm hinein, das kostet mich immer einen kleinen Kampf mit dem Portier, einem Mann, der sich an die Regeln hält. Vater hat diesen Portier in einem selbstvergessenen Moment einmal als «Feld­ webel» beschimpft. Da fing er beinahe zu weinen an und sagte: «Menier, iech wohn al 10 jahr ien Holland.»221 «Und ich schon 300 Jahre», antwor­ tete Vater lakonisch. Am nächsten Tag wollte er es wiedergutmachen und sagte: «Ich habe Sie nicht beleidigen wollen, und diesen Feldwebel auch nicht.» Wie auch immer, dieser Portier fordert viel von meiner Listigkeit und Energie. Wir schmunzeln ganz schön viel zusammen, Vater und ich; als richtiges Lachen kann man es eigentlich nicht bezeichnen. Er hat einen ganz reinen Humor, der immer tiefer und funkelnder wird, je mehr dieser groteske Verarmungsprozess, in dem er sich befindet, elende Dimensionen annimmt. Sie sehen es noch immer nicht, mein Gott, dass alles hier Treibsand ist außer dir. Das ist mir so herausgerutscht.

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Ich sitze gerade in einer der großen Baracken an einem Holztisch, 3 Prit­ schen im Rücken, 3 Pritschen vor mir. Diese Baracke ist wie eine von ­einem Maler dargestellte, bedrückend wirkende Straße im Osten. Men­ schen schlurfen durch die engen Gänge zwischen den Pritschen. Eine kleine alte Frau fragt uns: «Können Sie mir vielleicht sagen, wo die und die wohnt?» «Nummer so und so», sagt Mechanicus, der neben mir sitzt und schreibt, einen Filzhut wie den eines Landstreichers auf dem Kopf. Jede Pritsche hat hier eine Nummer, und in dieser Nummer wohnt man. Genau wie eine Straße im Osten, aber wenn ich durch die Betten hin­ durch durch das offene Fenster schaue, sehe ich holländische graue Wol­ ken, Kartoffelfelder und ganz weit in der Ferne zwei holländische Bäume. Mir gegenüber sitzt der 70-jährige Vater von Jo Spier,222 ein ewig Junger; er zeichnet rostbraune Baracken in ein Skizzenbuch. Neben ihm sitzt ein Mann über ein Buch mit hebräischen Buchstaben gebeugt und murmelt vor sich hin. Es weht durch die Baracke, und es ist ungemütlich, einige Fensterscheiben sind herausgebrochen, gleichzeitig ist es drückend und stinkt. Mechanicus ist gerade eben geschmeidig wie ein Affe auf sein Bett in der dritten Etage geklettert und hat triumphierend eine Büchse Erbsen­ suppe hervorgeholt. Auf dem Ofen im Waschverschlag ist ein Plätzchen frei geworden. Es ist halb eins, ich bleibe als Gast in diesem östlichen Sträßchen in der Heide von Drenthe und esse gleich Erbsensuppe. Ich habe ein gutes Leben, jawohl! 8. August, Sonntagmorgen, 8 Uhr. Ich habe mich schon am Wasserhahn in unserer kleinen Küche gewaschen und bin zurück ins Bett gekrochen. Auf der kleinen Kochplatte steht be­ reits ein großer Topf mit Endivien und köchelt vor sich hin; wir zehn in unserer Baracke haben heute früh ein paar Stunden Kochzeit. Ich lebe hier mit Frauen zusammen, die dem Haushalt zugetan sind. Ihr Leben spielt sich um diese eine kleine Kochplatte herum ab. Ziemlich lustig manch­ mal. Und meistens zum Weinen. Ich bin fast nie «zu Hause». Wir haben drei Bücher in unserem Häuschen: «Kwikzilver» von Cissy v. Marxveldt,223 «De scheiding»224 von Henri v. Booven und «Gesprekken met Sri Kris­ hna»225. Um Cissy v. Marxveldt wird sich fast geprügelt. Als ich vor Kur­ zem in der Bibel las, sagte eine der Kolleginnen, voll von einer zufriedenen Glorie: «Meine Bibel habe ich an einem ganz bestimmten Ort richtig gut in Sicherheit gebracht!» Etwas schlägt gegen unsere kleinen Fenster, es ist kalt, der Sommer

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scheint schon definitiv vorbei. In der Ferne sehe ich von meiner Pritsche aus, wie sich die Möwen durch den gleichmäßig grauen Himmel bewegen. Sie sind wie freie Gedanken in einem weiten Geist. Gestern Abend war ich zusammen mit Mechanicus bei Pauls Mutter. Sie haust nun einige Tage in der Quarantänebaracke, denn sie hatte eine einzige Laus. In den Tagen dieser Laus hat man auch einen Zahn gezogen und sie geimpft. Und dann sitzt sie außerdem viele Stunden am Tag auf einem schmalen Bänkchen und schält Kartoffeln. «Sklavenarbeit», sagt sie. Sie ist in trüber Stimmung. Die Baracke, in der sie jetzt wohnt, sieht aus wie ein Zuchthaussaal, und es gibt keinen einzigen Gegenstand darin, der etwas Gemütlichkeit um sich herum verbreiten würde. Wir sprechen über die vielen elternlosen Kinder, einige von ihnen sind schon wie er­ wachsene Männer und Frauen – über die alten Männer und Frauen, die man morgens im Regen zusammenhocken sieht, weil sie während des Saubermachens aus den Baracken gejagt werden – über das geisttötende Erbsen- und Bohnenlesen, über die Gefahr, hier demoralisiert und schlaff zu werden, über viele kleine traurige und groteske Elemente dieses Lager­ lebens. «Solche Dinge kann man nicht erzählen, die erlebt man einfach nur», sagt Mechanicus mit einer gewissen Grimmigkeit. Er stützt sich mit den Ellbogen auf dem Holztisch ab, er hat Flöhe, kaputte Socken und schaudert immer wieder, und mit gutmütigem Selbstspott sagt er: «Ich fühle mich heute Abend genau wie ein ganz kleiner Junge, der Angst vor dem Wolf hat.» Später habe ich ihn in seine Baracke gebracht und seine kaputten Socken mit nach Hause genommen. Pauls Mutter begleitete uns ein Stückchen durch den Abend, mit einem großen Wolltuch um die Schultern, das graue Haar offen im Wind. Erinnerst du dich noch an diesen Musiknachmittag, als Paul im Erker Flöte spielte und seine Mutter so feierlich mitten im Zimmer saß? Viele spüren, wie ihnen langsam die Menschenliebe wegstirbt, weil sie nicht von außen genährt wird. Die Leute geben einem hier nicht viel Anlass dazu, sie lieb zu haben, sagt man. «Die Masse ist ein hässliches Monster, die Individuen sind erbärmlich», sagte jemand. Aber das erlebe ich immer wieder in mir: Es gibt keinen einzigen Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten der Menschen und der Liebe, die man für sie empfindet. Die Liebe für seinen Mitmenschen ist wie eine elementare Glut, aus der man lebt. Der Mitmensch selbst hat damit kaum etwas zu tun. Ach, Maria, es ist hier ein bisschen dürftig, was die Liebe betrifft,

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und ich selbst fühle mich so unsagbar reich, ich würde es keinem Men­ schen erklären können. Lass dir in deiner Antwort nicht anmerken, dass du diesen Brief außerhalb meines Schreibtags erhalten hast, im Moment wird die eingehende Post streng zensiert. Einen Gruß an euch alle. Etty

An Christine van Nooten. Westerbork. Sonntag, 8. August 1943. 8. August.

Liebe Christine, einen Gruß, einen allerherzlichsten Gruß von uns allen. Ich habe mir überlegt, dass ich diesen Brief an eine Freundin erst dir schicken sollte. Vieles darin hätte ich genauso gut an dich schreiben können, und dann weißt du wieder etwas von uns. Und könntest du die beiliegenden Sei­ ten226 dann an Schw. Maria Tuinzing schicken, z. Hd. de Heer Wegerif, Gabriël Metsustr. 6? Sie hat dir einmal an einem Sonntagmorgen eine Tasse Kaffee gebracht, als du an meinem Bett gesessen hast und wir über das «Stundenbuch»227 sprachen, weißt du noch? Dieses «Stundenbuch» liegt jetzt unter meinem Kopfkissen, zusammen mit meiner kleinen Bibel. Und ja, die Worte aus Jesaja sind prachtvoll und tröstlich und geben einem immer wieder diesen innerlichen Frieden der Geborgenheit, der allen Ver­ stand übersteigt.228 Und was auch prachtvoll war – und jetzt mache ich einen großen Sprung auf die Erde  –, waren die Büchse Krebs und das Toastbrot und all die anderen Kostbarkeiten. Wir hatten dabei das Gefühl, dass ihr die besten und letzten Dinge aus eurem eigenen Vorrat her­ geschenkt habt, und was für ein Gefühl das bei uns weckt, kann man so­ wieso nicht gut in Worte fassen. Auch so entzückend, die Päckchen von deiner Mutter. Die Äpfel waren herrlich, ich kann nicht einmal alles auf­ zählen, ich würde Probleme mit dem Platz auf dem Papier bekommen. Von Kraak229 bekamen wir einen unterhaltsamen Brief mit viel Musik ­darin. Wir hoffen, dass du ausgeruht bist und wieder frisch an die Arbeit gehst. Vater geht es langsam ein wenig besser, aber er darf noch fast nichts essen; er ist geduldig genug, der Brave, und trotzdem hoffe ich für ihn

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(und für so viele, viele andere), dass es nicht mehr lange dauern wird, weißt du –. Ich muss dich wieder mit irdischen Wünschen behelligen, schlimm finde ich das, aber ich tue es trotzdem, kann nicht anders. Was wir für Vater dringend brauchen, ist Zwieback und so etwas; er hat tagelang nichts gegessen und muss wieder langsam in Schwung kommen, das L ­ agerbrot ist sehr schlecht. Und dann haben wir keinen Zucker, wir haben alles verbraucht und hier bekommt man überhaupt keinen Zucker. Kann man über dunkle Umwege noch drankommen? Im Augenblick sitzen wir ohne Butter da, aber vielleicht kommt die in der nächsten Zeit aus Deven­ ter, das kann man nie wissen, das halbe Pfund von dir aus A.dam kam uns wirklich gerade recht. Siehst du, die großen Worte sind wieder weg, es lebe das Materielle. Wir werden alle die Ohren steifhalten, zu beiden Seiten des Stacheldrahts, nicht wahr. «Es geht gut», sagt man. Der Rest im beiliegen­ den Brief. Danke für all das Gute und Liebe, liebes Kind. Einen Gruß an Hansje Lansen. Tschüss! Etty

An Maria Tuinzing. Westerbork. Mittwoch, 11. August 1943. 11 / 8. Später, wenn ich nicht mehr auf einer Eisenpritsche in einem Land wohne, um das herum Stacheldraht gespannt ist, will ich eine Lampe über dem Bett haben, damit es nachts um mich herum hell ist, wenn ich das will. Durch meinen Halbschlaf wirbeln oft Gedanken und Geschichten, so luf­ tig und durchsichtig wie Seifenblasen; ich würde sie gern auf einem Blatt weißem Papier einfangen. Am Morgen, wenn ich aufwache, liege ich wie eingesponnen in diese Geschichten da, es ist ein reiches Erwachen, weißt du. Aber dann beginnt manchmal ein kleines Stückchen Leidensgeschichte, die Gedanken und Bilder bewegen sich so greifbar um mich herum, sie wollen aufgeschrieben werden, aber man kann nirgendwo ruhig sitzen, ich laufe manchmal stundenlang herum und suche nach einem sicheren Ort. Einmal kam mitten in der Nacht eine streunende Katze zu uns herein, wir haben im WC eine Hutschachtel für sie hingestellt, und dort hat sie Junge bekommen. Ich fühle mich manchmal genau wie eine streunende Katze ohne Hutschachtel.

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Das hier habe ich einmal über Paula Modersohn-Becker gelesen: «… es lag ihr im Blut die große Anspruchslosigkeit dem Leben gegenüber, die nur scheinbar und im Grunde nichts anderes ist, als der echt gewachsene Ausdruck höchster Ansprüche: das Geringachten alles Äußerlichen, das aus dem un­bewußten Empfinden eigener Fülle und eines geheimen, nicht voll deutbaren innerlichen Glückes erwächst.»

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Heute Nacht hat Jopie einen Sohn bekommen. Er heißt Benjamin231 und schläft in der Schublade eines Schranks. Neben meinen Vater haben sie jetzt einen Wahnsinnigen gelegt. Ach, weißt du, wenn man hier nicht etwas sehr Starkes in sich hat, das all das Äußerliche einfach als malerische Äußerlichkeiten betrachtet, die im Vergleich zu dieser großen Herrlichkeit nichts bedeuten (im Augen­ blick fällt mir kein anderes Wort ein), das unser nicht zu verfremdender innerlicher Teil sein kann – dann ist die Lage hier eigentlich verzweifelt. So durch und durch entsetzlich, all die hilflosen Menschen, die ihr letztes Handtuch verlieren, die mit Schachteln, Essnäpfen, Bechern, verschim­ meltem Brot, schmutziger Wäsche auf, unter und neben ihrer Pritsche kämpfen, die unglücklich sind, weil andere Leute sie anschreien oder ­unfreundlich zu ihnen sind, die aber selbst andere anschreien und das nicht einmal merken, verlassene kleine Kinder, deren Eltern auf Transport gegangen sind, und die Mütter anderer Kinder schauen sich nicht einmal nach ihnen um: Sie haben Kummer wegen ihrer eigenen Brut, die unter Durchfall und allerlei großen und kleineren Krankheiten leidet, wo ihr doch früher nie etwas gefehlt hat. Du solltest die Muttertiere dort sitzen sehen, in einer unglaublichen und hilflosen Verzweiflung, an den Bettchen ihrer weinenden Kinder, die nicht gedeihen wollen –. Dieses eine Blatt habe ich an verschiedenen Orten zusammengeschrie­ ben, an meinem Telegrammtischchen in unserer Arbeitsbaracke, auf einer Schubkarre gegenüber der Wäscherei, wo Anne-Marie arbeitet (stunden­ lang steht sie mitten zwischen rücksichtslosen schreienden Volkskindern in der Hitze, was sie im Augenblick nicht mehr aushält; ich habe gestern sehr viele Tränen von ihr getrocknet, aber lass sie nicht merken, dass ich das geschrieben habe (diese Kritzeleien an dich sind genauso auch für Swiep)), gestern Abend während eines wortreichen Vortrags eines Soziologieprofes­ sors im Waisenhaus, heute Morgen auf einem windigen Stück «Düne» ­unter freiem Himmel – jedes Mal schreibe ich ein Wort dazu –, und nun sitze ich in der Pappkantine des Krankenhauses, die ich gerade erst ent­

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deckt habe, eine wirkliche Entdeckung, wohin ich mich ab und zu zu­ rückziehen zu können scheine. Morgen früh fährt Jopie nach Amsterdam; zum ersten Mal in den paar Monaten hier verspüre ich einen kleinen Stich mitten im disziplinierten Herzen, weil der Schlagbaum für mich noch immer unten bleibt. Und doch – für jeden kommt seine Zeit. Die meisten sind hier viel ärmer, als man sein müsste, weil man die Sehnsucht nach Freunden und Familie im Verlustposten des Lebens verbucht, während doch eigentlich die Tatsache, dass ein Herz so sehr imstande ist, sich zu sehnen und lieb zu haben, zum kostbaren Besitz gerechnet werden muss – Du lieber Herrgott, ich dachte, ich hätte ein ruhiges Plätzchen gefunden, und plötzlich ist hier alles voller Overalls, die scheppernde Kessel mit Eintopf hereintragen, und Kranken­ hauspersonal, das sich zum Essen an den Holztischen niederlässt – es ist erst 12 Uhr mittags, ich mache mich auf die Suche nach einem anderen Plätzchen. Ein Versuch, am späten Abend philosophisch zu werden, mit Augen, die mir vor Müdigkeit zufallen: Die Leute sagen manchmal: «Du machst auch wirklich aus allem das Beste.» Ich halte das für eine Bemerkung, die von großer Mutlosigkeit zeugt. Es ist überall völlig in Ordnung. Und gleichzeitig ganz schlimm. Die beiden halten einander im Gleichgewicht, immer und überall. Ich habe nie das Gefühl, dass ich aus irgendetwas das Beste machen muss, ­alles ist immer rundherum gut, so wie es ist. Jede Situation, so elend sie auch sein mag, ist etwas Absolutes und trägt das Gute und das Schlechte in sich. – Was ich nur sagen wollte: «Das Beste aus etwas machen» finde ich e­ igentlich eine unglückliche Formulierung, «überall das Beste herausholen können» finde ich auch eine unglückliche Formulierung, ich würde dir gerne noch etwas genauer erklären, warum. Wenn du nur wüsstest, wie müde ich bin, ich könnte gut und gerne 14 Tage hintereinander schlafen. Jetzt bringe ich das hier Jopie, morgen früh bringe ich ihn zum Gendarmenhäuschen, und dann geht er nach Amsterdam und ich [gehe] durch die Baracken – ach Kinder – Tschüss! Etty

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An Christine van Nooten. Westerbork. Donnerstag, 12. August 1943. Christine, du warst heute wirklich der rettende Engel; ich habe noch nie so sehr auf ein Paket gewartet wie diese Woche, und jetzt kam endlich wieder eines, und was für eines. Die Biskuitkekse und die Brötchen habe ich direkt zu Vater gebracht; der Gute ist nach der ganzen Fasterei faden­ dünn, hat einen Abszess am Auge und einen Portier, der ihn kujoniert. Alles zusammengenommen ist es schon ab und zu schrecklich, man darf sich gar nicht zu lange damit aufhalten. Trotzdem gilt er als das Wunder der Baracke; er ist der Einzige, der konzentriert lesen kann, Hebräisch, Französisch, Holländisch, was du nur willst, er liest immer weiter, nie­ mand begreift, wie man das in einer solchen Umgebung kann. Du fin­ dest es doch nicht schlimm, oder, wenn ich ein bisschen durcheinander schreibe? Ich habe wieder Abenddienst, bediene hin und wieder jemanden und wanke vor Müdigkeit. Ich hoffe, dass du meine beiden Nachrichten bekommen hast: einen Ausschnitt aus meinem Brief an A.dam und eine mit dem Brief für Schw. Tuinzing.232 Von der Letzten nehme ich es an; ich glaube fast, dass dein letztes, so inhaltsreiches Paket eine direkte Reaktion darauf war. Ich bin froh, dass ich dank mutiger Menschen hin und wieder eine Nachricht nach draußen bekommen kann. Unsere offiziellen Briefe scheint man bis auf Weiteres zurückzuhalten, von der eingehenden Post bekommen wir auch nicht mehr alles, scheint es. Aber schreib bitte trotz­ dem weiter, ja bitte, irgendwann kommt sie schon wieder durch. Ich bin neugierig, ob der Judenrat in Deventer noch funktioniert, in der letzten Zeit habe ich nichts mehr davon gehört. Die Fam. Gelder233 ist hier. Kurz dies: Falls er nicht funktionieren sollte: Du weißt, dass man aus der Provinz Briefpäckchen bis zu einem Max. von 2 kg schicken darf, lie­ ber nicht per Einschreiben, denn die per Einschreiben verschickten Päck­ chen werden abgefangen. Es ist jedes Mal irgendetwas. Wenn auf Dauer jeder Kontakt mit der Provinz unmöglich wird (man kann nie wissen), kannst du dich vielleicht am besten mit mevr. M. Kuyper, Reynier Vinkel­ eskade 61, Amsterdam in Verbindung setzen, die über den J. R. A.dam ­allerlei Gepäck von uns betreut. Ihr habt ganz schön viel Aufwand wegen uns, nicht wahr? Ach, Christien, ich darf gar nicht daran denken, wie es wäre, wenn ihr nicht wärt, ich habe diese Woche gemerkt, was für ein Elend das ist. Dieser

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Tee war rührend. Und die Butter regelrecht ein Geschenk des Himmels; wir hatten schon einige Tage keine mehr, an sich ist so etwas gar nicht schlimm, in A.dam ist mir das seit Kriegsbeginn durchaus auch passiert, dass man einige Tage lang keine Butter hatte, aber hier ist das alles viel schlimmer, vor allem weil die Menschen durch die ganzen Krankheiten und Zipperlein und das schlechte Klima sowieso schon so erschöpft sind. Körperlich geht es Vater im Moment nicht so gut, und bei Mutter be­ ginnt jetzt zur Abwechslung etwas mit der Blase. Du findest es hoffentlich nicht ganz so schlimm, wenn ich wieder Wünsche äußere? Kannst du in einer Apotheke «Antiphoontjes» besorgen? Die kann man sich gegen den Lärm in die Ohren stecken. Bei Mutter ist es nachts sehr laut, viele kranke kleine Kinder; eigentlich ist dort einfach immer Lärm, und jetzt will sie versuchen, ihre Ohren nachts zuzumauern. Und noch etwas: Kennst du ein Produkt namens Reformite?234 Das ist so etwas wie Marmite, und man schmiert es aufs Brot; damit hält Mutter ihren Appetit in Gang. Das ist hier eine eigene Krankheit: dass ein Mensch manchmal tagelang nicht das geringste Bedürfnis hat zu essen. Ein ver­ rücktes Land ist das hier. Und jetzt als Letztes. Bei Bryan235 scheint es noch etwas Fett von uns zu geben, wenn du hin und wieder ein bisschen schickst, kann ich sicher irgendwo bei Bekannten, die ein Kochgerät ­haben, Kartoffeln damit braten lassen. Und jetzt höre ich wieder auf mit dem ganzen Gefrage, mir wird davon ganz schlimm zumute. Jetzt schicke ich dir auch noch etwas Schönes; Folgendes habe ich ge­ rade über Paula Modersohn-Becker236 gelesen: «es lag ihr im Blut die große Anspruchslosigkeit dem Leben gegenüber, die nur scheinbar und im Grunde nichts anderes ist, als der echt gewachsene Aus­ druck höchster Ansprüche: das Geringachten alles Äußerlichen, das aus dem unbewußten Empfinden eigener Fülle und eines geheimen, nicht voll deut­ baren innerlichen Glückes erwächst.»

Vater will dir an seinem Schreibtag schreiben, aber es kann sein, dass der Brief nicht durchkommt. Wie auch immer, die Bande, die zwischen Men­ schen bestehen, kann man durch kleine Plagereien doch nicht zerstören. Fange du guten Mutes deinen neuen Kurs an und denke ab und zu an uns. Wir grüßen dich herzlich. Etty

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An Swiep van Wermeskerken. Westerbork. Samstag, 14. August 1943.

Das schöne Paket erhalten. Vielen Dank.

Westerbork. 8 /14. Etty

An Henny Tideman. Westerbork. Mittwoch, 18. August 1943.

Westerbork, 18. Aug. Tideke, ich wollte erst meinen Schreibtag ungenutzt vorbeigehen lassen  – ­wegen übergroßer Müdigkeit und weil ich glaubte, ich hätte diesmal nichts zu schreiben. Aber natürlich habe ich doch viel zu schreiben, doch ich lasse meine Gedanken lieber ungehindert zu euch hinausströmen, ihr fangt sie schon auf. Heute Mittag lag ich auf meiner Pritsche, um mich auszuruhen, und plötzlich musste ich Folgendes in mein Tagebuch schrei­ ben,237 ich schicke es dir: Du hast mich so reich gemacht, mein Gott, lass mich auch mit vollen Händen austeilen dürfen. Mein Leben ist zu einem einzigen ununterbrochenen Zwiegespräch mit dir geworden, mein Gott, zu einem einzigen großen Zwiegespräch. Wenn ich dastehe, in einer Ecke des Lagers, die Füße fest auf deiner Erde, das Gesicht zu deinem Himmel erhoben, dann laufen mir manchmal die Tränen über das Gesicht, gebo­ ren aus einer innerlichen Rührung und Dankbarkeit, die sich einen Weg nach draußen sucht. Auch abends, wenn ich in meinem Bett liege und in dir ruhe, mein Gott, laufen mir manchmal die Dankbarkeitstränen über das Gesicht, und das ist dann mein Gebet. Ich bin sehr, sehr müde, schon seit einigen Tagen, aber das wird auch wieder vorbeigehen, alles verläuft einem eigenen, tiefliegenden Rhythmus zufolge, und man muss lernen, diesem Rhythmus zu lauschen, das ist das Wichtigste, was ein Mensch in diesem Leben zu lernen hat. Ich kämpfe nicht mit dir, mein Gott, mein Leben ist ein einziges gro­ ßes Zwiegespräch mit dir. Vielleicht werde ich nie eine große Künstlerin

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werden, obwohl ich das doch eigentlich möchte, aber ich bin schon zu sehr geborgen in dir, mein Gott. Ich möchte manchmal kunstvolle kleine Weisheiten und vibrierende Geschichten schaffen, aber ich lande immer wieder direkt bei ein und demselben Wort: Gott, und das umfasst alles, und dann brauche ich all das andere nicht mehr zu sagen. Und all meine schöpferische Kraft setzt sich um in diesen innerlichen Zwiegesprächen mit dir, der Wellenschlag meines Herzens ist hier zugleich breiter gewor­ den und bewegter und ruhiger, und mir ist, als würde mein innerer Reich­ tum immer größer. Auf unerklärliche Weise schwebt Jul in letzter Zeit über dieser Heide, er lässt mich täglich weiter groß werden. Es gibt doch Wunder in einem Menschenleben; mein Leben ist eine Aneinanderreihung von innerlichen Wundern; gut, das einmal wieder jemandem zu sagen. Dein Foto liegt im «Stundenbuch» von Rilke, bei dem Foto von Jul; sie liegen zusammen mit der kleinen Bibel unter meinem Kopfkissen. Dein Brief mit den Zitaten [ist] auch angekommen, schreib immer, ja. Lass es dir gut gehen, du Liebe. Etty Diese paar Worte auch für Maria, ja, weiter nicht. – Tschüss.

An Han Wegerif und andere. Fragment. Westerbork. Undatiert; nach dem 18. August 1943. Aber ach ja, das kann ich doch nicht einfach so zu diesen jungen Frauen mit ihren Säuglingen sagen, die in einem kahlen Güterzug wahrscheinlich direkt in die Hölle fahren werden. Und dann würde man wieder mit dem «Du hast leicht reden, du hast keine Kinder» ankommen, aber das hat wahrhaftig nichts damit zu tun. Es steht ein Wort geschrieben, aus dem ich immer wieder neue Kraft schöpfe. Heißt es nicht ungefähr: «Wenn du mich liebst, musst du deine Eltern verlassen»?238 Gestern Abend, als ich wieder sehr damit zu kämpfen hatte, nicht im Mitleid mit meinen Eltern unterzugehen, das mich voll­ kommen lähmen würde, wenn ich ihm nachgäbe, sah ich auch das in die­ sen Worten: Man darf nicht so sehr im Kummer und in der Sorge für die eigene Familie aufgehen, dass man dadurch für seinen Nächsten keine Aufmerksamkeit und Liebe mehr übrig hat. Ich entwickle mich immer

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weiter auf die Erkenntnis zu, dass die Liebe zu jedem beliebigen Nächsten, zu jedem Ebenbild Gottes, die der Blutsverwandtschaft übersteigen müsste. Bitte versteht mich da nicht falsch. Man sagt durchaus, dass das wider­ natürlich ist … Ich spüre, dass das noch viel zu schwer für mich ist, als dass ich darüber schreiben könnte, während es doch so einfach ist, es zu erleben. Heute Abend werde ich mit Mechanicus Anne-Marie und ihren ständigen Gastgeber besuchen, den Barackenleiter,239 der ein eigenes kleines Zimmer hat. Wir werden dann in einem für Westerborker Begriffe geräumigen Zimmer sitzen, mit einem großen, niedrigen Fenster, das offen steht, und die Heide auf der anderen Seite des Fensters erstreckt sich so weit und so voller Wellen wie das Meer; letztes Jahr habe ich von diesem Platz aus immer meine Briefe an euch geschrieben. Anne-Marie wird sicher Kaffee aufsetzen, und der Gastgeber wird vom früheren Lagerleben hier erzählen (er ist schon 5 Jahre hier), und Philip wird dann Geschichten darüber ­schreiben. Ich werde tief in meine kleine Trommel greifen, um nachzu­ sehen, ob ich etwas Essbares zum Kaffee entdecken kann, und wer weiß, vielleicht hat Anne-Marie wieder Pudding gemacht, wie beim letzten Mal  – das war damals dein unvergesslicher Mandelpudding, Jetje.240 Heute war es warm, es wird ein schöner Sommerabend für das offene Fenster und diese Heide sein. Später am Abend werden Philip und ich Jopie aufspüren, und als friedliches Trio werden wir dann durch das große graue Beduinenzelt spazieren, das sich auf einer großräumigen Sandfläche erhebt; früher waren in diesem Zelt Menschen mit Läusen untergebracht – zurzeit ist es geraubter jüdischer Hausrat, der als Liebesgabe241 nach Deutschland geschickt werden oder das Haus des Kommandanten zieren wird. Hinter diesem Zelt führt die Sonne jeden Abend einen anderen ­Untergang auf. Viele Landschaften beherbergt dieses Lager auf der Heide von Drenthe. Ich glaube, dass die Welt überall schön ist, selbst an den Orten, über die in den Erdkundebüchern steht, dass sie trocken und unfruchtbar und ohne Fantasie sind. Die meisten Bücher taugen eigent­ lich auch gar nichts, wir müssen sie wieder neu schreiben. Meinen 14-täglichen Brief habe ich an Tide geschrieben, wir dürfen [Blät­ ter] nur noch auf einer Seite beschreiben. Kinder, wie seid ihr nur an so etwas Luxuriöses wie dieses halbe Pfund Butter gekommen, ich bin richtiggehend erschrocken deswegen, großartig

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war es. Verzeiht mir diesen materialistischen Schluss. Es ist halb 7: Jetzt muss ich erst einmal das Essen für die Familie holen gehen. Seid innig, innig gegrüßt, ihr alle. Etty

An Christine van Nooten. Westerbork. Donnerstag, 19. August 1943.

Ein großes Dankeschön für das vielseitige Paket!

Westerbork, 19. August. Etty

An Han Wegerif und andere. Fragment. Westerbork. Sonntag, 22. August 1943. Sonntagmorgen 21 / 8 ’43 [= 22. August 1943]. Auf der Geburtenabteilung liegt ein verwöhntes Baby von 9 Monaten, ein Mädchen. Ein ganz schönes und liebes und blauäugiges. Ist vor einigen Monaten als «S-Fall» (Straffall) hier hereingekommen, in einer Klinik von der Polizei aufgespürt. Niemand weiß, wer oder wo die Eltern sind. Man behält das Mädchen so lange auf der Geburtenabteilung, die Kranken­ schwestern dort hängen inzwischen sehr an diesem kleinen Spielzeug. Aber ich wollte Folgendes erzählen: Am Anfang ihres Aufenthalts hier durfte dieses Säuglingsmädchen nicht nach draußen, die anderen Babys standen alle in Kinderwagen draußen an der Luft, aber sie musste drinnen bleiben, schließlich war sie ein «S-Fall»! Ich habe deswegen bei drei verschiedenen Krankenschwestern nachgefragt, ich stoße immer wieder auf Dinge, die mir unglaubwürdig erscheinen, aber sie werden mir immer bestätigt. In meiner Krankenbaracke begegnete ich einem zarten, unterernähr­ ten Mädchen von 12 Jahren. Auf dieselbe gesellige und arglose Art, wie ein anderes Kind über seine Rechenaufgaben in der Schule erzählt, erzählt sie mir: «Ja, ich komme hier aus der Strafbaracke, ich bin ein Straffall.» Ein kleiner Junge von 3 ½ Jahren hatte mit einem Stock eine Scheibe einge­ schlagen; er wurde von seinem Vater schrecklich geschimpft, fing laut an zu weinen und sagte: «Oh, jetzt komme ich in die 51 (= das Gefängnis), und dann muss ich allein auf Straftransport.» Die Gespräche der Kinder

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unter sich sind einfach nur entsetzlich, ich hörte einen kleinen Jungen zu einem anderen sagen: «Nein, weißt du, der 120 000-Stempel242 ist wirklich nicht der beste. Wenn du halb arisch bist und portugiesisch,243 das ist gut.» Folgendes hörte Anne-Marie auf der Heide eine Mutter zu ihrem Kind sagen: «Und wenn du jetzt nicht brav bist und deinen Pudding aufisst, musst du ohne Mami auf Transport!» Heute Morgen hat die Nachbarin meiner Mutter von obendrüber eine Flasche Wasser fallen lassen, der größte Teil davon ist auf Mutters Bett gelandet. So etwas ist hier sofort eine Naturkatastrophe, von deren Aus­ maßen ihr euch kaum ein Bild machen könnt. In der Welt draußen wäre das, als würde ein Haus von einer Überschwemmung heimgesucht. Ich gehe nun einfach immer in diese Krankenhauskantine. Es ist genau wie in einer Indianerblockhütte. Eine lange Baracke aus unbehandeltem Holz, Tische und Bänke aus unbehandeltem Holz, klapprige kleine Fens­ ter, weiter nichts. Ich schaue auf einen Streifen trockenen Sand mit zerrauf­ tem Gras, begrenzt von einem Sandwall, der aus dem Graben stammt. Ein verlassener Schienenstrang schlängelt sich hindurch, unter der Woche ­spielen dort halb nackte, verbrannte Männer mit Loren. Von hier hat man keine Aussicht auf die Heide wie von jeder anderen Stelle in diesem wach­ senden, abgelegenen Nest aus. Hinter dem Stacheldraht eine wogende ­Fläche aus niedrigen Sträuchern, die wirken wie kleine Fichten. Dieses Stückchen Landschaft mit seiner unbarmherzigen Dürre, die raue Block­ hütte, die Sandhaufen, der stinkende schmale Graben, es wirkt wie ein Goldgräberterrain, wie eine Szene aus Klondike. Mir gegenüber an dem groben Holztisch kaut Mechanicus auf seinem Federhalter herum: Wir schauen einander über unsere vollgekritzelten Blätter hinweg kurz an. Er registriert treu und präzise, fast beamtenmäßig die Geschehnisse hier. «Es ist zu gewaltig», sagt er plötzlich. «Ich kann wirklich ein bisschen schreiben, aber hier stehe ich vor einem Abgrund – oder vor einem Berg, es ist zu gewaltig.» Hier wird es nun wieder voll, und Bürger in verschlissenen Maß­ anzügen und mit Stempeln kommen und essen Kohlrabi aus kleinen ­Näpfen. Später. Elletje,244 dein Brief hat mich sehr froh gemacht und mir viel gesagt. – Jopie brachte ein Stück lebendige Nähe von euch hierher zurück. Es war doppelt herrlich, weil man in der letzten Zeit kaum Post zu uns durch­

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lässt; was die Briefe betrifft, sind wir mehr oder weniger abgeschnitten, das ist wirklich eine der größten Schikanen. Aber auch davon darf man sich nicht zu sehr niederdrücken lassen, man kann es innerlich schon über­ brücken. – Anne-Marie war sehr, sehr glücklich mit den kurzen Briefen von Swiep. Das Roggenbrötchen von Leonie ist zu meinem Bedauern in den fal­ schen Mägen gelandet. Als es ankam, war unsere sogenannte Brotposition günstig, ich habe es dann eilends unter Leuten verteilt, deren Position weniger günstig war, und am nächsten Tag konnte ich diese vergängliche Materie schwerlich zurückfordern. Beim nächsten Mal weiß ich zumin­ dest, für wen es bestimmt ist. So rührend, diese Trauben und Birnen. Päckchen machen mich immer so verlegen, ich kann nie viel dazu sagen. Über das Sanovite bin ich immer sehr, sehr froh, ich gehe sparsam damit um und hebe es hauptsächlich für Vater und Mutter auf, als Variation auf das rasch schimmelnde Lagerbrot. Danke für den geliehenen Dynamo, Vader Han, ich kann ihn abends ­wegen der ganzen Pfützen und dem Stacheldraht nun schon gut gebrau­ chen. Jopie hat mir eine atemberaubende Geschichte über Hans erzählt, so lebt doch jeder unter seinem eigenen Gestirn. Jopie erzählte auch, wie er mich im alten Haus in allerlei Ecken angetroffen hatte, und dass ich noch bei euch war.

An Han Wegerif und andere. Westerbork. Dienstag, 24. August 1943.245 24-8-43. Nach dieser Nacht habe ich einen Augenblick lang ganz ehrlich geglaubt, es wäre eine Sünde, von nun an noch zu lachen. Aber später habe ich mir überlegt, dass schließlich auch Menschen lachend weggegangen sind, wenn auch diesmal: nicht viele. Und in Polen wird vielleicht hin und wie­ der auch noch durchaus jemand lachen, wenn auch von diesem Transport: nicht viele, denke ich. Wenn ich an diese Gesichter der grün uniformierten, bewaffneten Be­ gleittrupps denke, mein Gott, diese Gesichter! Ich habe sie eines nach dem anderen betrachtet, verdeckt hinter einem Fenster stehend;246 ich bin noch nie über etwas so erschrocken wie über diese Gesichter. Ich bin mit dem Wort in Konflikt geraten, das das Leitmotiv meines Lebens ist: Und Gott

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schuf den Menschen nach Seinem Ebenbild.247 Dieses Wort hat mit mir einen schwierigen Morgen erlebt. Dass Worte und Bilder für Nächte wie diese nicht ausreichen, habe ich euch schon oft genug erzählt. Trotzdem muss ich versuchen, etwas für euch niederzuschreiben; man fühlt sich immer wie Augen und Ohren ­eines Stücks jüdischer Geschichte, und man hat manchmal auch das Be­ dürfnis, eine kleine Stimme zu sein. Wir müssen einander doch darüber auf dem Laufenden halten, was in den verschiedenen Ecken dieser Erde geschieht, jeder muss seinen kleinen Teil dazu beitragen, damit nach dem Krieg das Mosaik ohne Lücken über die ganze Welt reicht. Als ich in der Frühe, nach der Nacht in der Krankenbaracke, noch schnell die Strafbaracke entlanglief, war das ein einziger Moment der E ­ rleichterung. Die Menschen, hauptsächlich Männer, standen mit Sack und Pack innerhalb des Stacheldrahts, sehr viele machten einen unterneh­ mungslustigen und männlich starken Eindruck. Ein alter Bekannter – ich erkannte ihn zuerst wegen seines kahl geschorenen Schädels nicht einmal, das verändert die Leute manchmal ganz und gar  – rief mir lachend zu: «Wenn sie mich nicht gezielt totschlagen, komme ich zurück.» Aber die Babys, die kleinen, durchdringenden Schreie der Babys, die man mitten in der Nacht aus ihren Bettchen geholt hatte, um sie in ein fernes Land zu bringen. Ich muss es schnell alles durcheinander nieder­ schreiben, später werde ich es nicht mehr können, weil ich glauben werde, dass es nicht wirklich wahr gewesen ist, es ist schon jetzt wie eine Vision, die immer weiter von mir wegtreibt. Diese Babys waren aber das Schlimmste. Und dann dieses gelähmte Mädchen, das nicht einmal mehr einen Teller mitnehmen wollte und dem es so schwerfiel zu sterben. Und dann dieser erschrockene junge Mann:248 Er hatte sich sicher gewähnt, es war sein ­eigener Fehler, dass er das dachte; unerwarteterweise musste er doch mit, er bekam einen Koller und lief weg. Seine Mitjuden mussten eine Treib­ jagd auf ihn veranstalten, denn wenn er nicht gefunden würde, müssten Dutzende andere an seiner Stelle mit auf Transport. Man um­zingelte ihn ziemlich schnell, er wurde in einem Zelt gefunden, und trotzdem … trotz­ dem mussten die anderen mit auf Transport, um ein abschreckendes Ex­ empel zu statuieren, wie man das nennt. Mehrere gute Freunde schleppte er auf diese Weise mit sich mit. Fünfzig machte er durch diesen einen Augenblick der Sinnesverwirrung zu Opfern. Das soll heißen, nicht er machte sie dazu, sondern unser Kommandant, von dem es oft heißt, er sei ein Gentleman, tat das. Aber wird der junge Mann das selbst verarbeiten

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können, wenn ganz und gar zu ihm durchdringt, wozu er Anlass ge­geben hat, und wie wird die Masse der Juden im Zug auf ihn reagieren? Dieser junge Mann wird es sehr schwer haben. Vielleicht wäre es noch gut gegan­ gen, wenn diese Nacht nicht so schrecklich viele Flugzeuge über ­unseren Köpfen gewesen wären;249 der Kommandant muss davon doch auch e­ twas gemerkt haben. «Donnerwetter, fliegen die schön!», hörte ich mitten in der Nacht einen Mann zu den Sternen sagen. Man hatte noch so sehr die kindliche Hoffnung, der Transport würde nicht stattfinden. Von hier aus hatten viele das Bombardement einer benachbarten Stadt beobachten können, vielleicht war es Emden. Und warum sollte nicht auch einmal ein Schienenstrang getroffen werden, sodass der Zug nicht würde abfahren können?250 So etwas ist noch nie geschehen, aber man hofft es bei jedem Transport wieder, mit nicht auszurottender Hoffnung … Am Abend vor der Nacht, von der ich jetzt erzählen werde, ging ich durch das Lager. Die Menschen stellten sich zwischen den Baracken unter einem grauen Wolkenhimmel zusammen. «Schau, so finden sich die Menschen auch nach einem Unglück in Gruppen zusammen, wenn sie an allen Stra­ ßenecken das Unglück besprechen», sagte mein Mitgeselle. «Aber gerade das ist ja das Unbegreifliche», brach es aus mir heraus, «es ist doch jetzt erst vor dem Unglück.» Wenn irgendwo ein Unglück ge­ schieht, ist es ein natürlicher Instinkt im Menschen, dass er zu Hilfe eilt und rettet, was zu retten ist. Aber ich werde heute Nacht alle Babys anzie­ hen und Müttern beruhigend zureden, und das nenne ich dann «helfen», ich könnte mich deswegen fast verfluchen, wir wissen doch, dass wir unsere Kranken und Hilflosen dem Hunger, der Hitze und Kälte und Schutzlosig­ keit und Vernichtung preisgeben, und wir ziehen sie selbst an und bringen sie zu den kahlen Viehwaggons; wenn sie nicht laufen können, dann eben auf Tragen. Was geht hier vor sich, was sind das für rätselhafte Dinge, in was für einen schicksalhaften Mechanismus sind wir verstrickt? Wir kön­ nen das nicht mit den Worten abtun, dass wir alle feige sind. Und so schlecht sind wir doch auch nicht. Wir stehen hier vor tieferen Fragen … Am Nachmittag zuvor ging ich noch einmal durch meine Kranken­ baracke, und ich ging von Bett zu Bett. Welche Betten würden morgen leer sein? Die Bekanntgabe der Transportlisten geschieht erst im allerletz­ ten Augenblick, aber einige wissen doch schon vorher, dass sie gehen müs­ sen. Ein Mädchen ruft nach mir. Es sitzt ganz aufrecht in seinem Bett, mit

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weit aufgerissenen Augen. Es ist ein Mädchen mit dünnen Handgelenken und einem durchscheinenden, schmalen kleinen Gesicht. Es ist teilweise gelähmt, es hatte gerade wieder langsam laufen gelernt, zwischen zwei Krankenschwestern, Schritt für Schritt. «Hast du schon gehört, ich muss weg», flüstert es. «Was, musst du weg?» Wir schauen einander kurz sprach­ los an. Es hat überhaupt kein Gesicht mehr, es hat nur noch Augen. End­ lich sagt es mit gleichmäßiger, grauer Stimme: «Und so schade, was, dass also alles, was man in seinem Leben gelernt hat, nun umsonst gewesen ist?» und «Was ist Sterben doch schwer, was?» Plötzlich wird die unnatürliche Starre seines Gesichts von Tränen und dem Schrei durchbrochen: «Ach, dass ich aus Holland wegmuss, das ist noch das Schlimmste von allem» und «Ach, dass man nicht vorher hat sterben dürfen». Später in der Nacht sehe ich es noch einmal, zum letzten Mal. In der Waschecke steht eine Frau, einen Trog mit tropfender Wäsche auf dem Arm. Sie packt mich. Sie sieht ein bisschen verwildert aus. Sie schüttet einen Wortschwall über mir aus: «Das kann doch nicht wahr sein, wie ist das möglich, ich muss weg und bekomme bis morgen nicht einmal mehr meine Wäsche trocken. Und mein Kind ist krank, es hat Fieber, kön­ nen Sie nicht dafür sorgen, dass ich nicht wegmuss? Ich habe nicht einmal genug Kleidung für das Kind, sie haben mir gerade erst diese kleine Stram­ pelhose geschickt, statt der großen, ach, ich werde noch verrückt deswe­ gen. Und nur eine Decke darf ich mitnehmen, wie kalt werden wir es dann haben, oder glauben Sie vielleicht nicht? Ich habe hier einen Cousin, der ist gleichzeitig mit mir angekommen, und er muss nicht weg, denn er hat gute Papiere, glauben Sie, das wird mir auch helfen, sagen Sie doch, dass ich nicht wegmuss, was glauben Sie, werden sie die Kinder bei den Müttern lassen, ja, kommen Sie heute Nacht wieder, kommen Sie und helfen Sie mir, was denken Sie, ob die Papiere von meinem Cousin …» Wenn ich sage: In dieser Nacht war ich in der Hölle, was drücke ich dann damit noch für euch aus? Ich habe es ein einziges Mal mitten in der Nacht laut zu mir selbst gesagt, es mit einer gewissen Nüchternheit festgestellt: «So, jetzt bin ich also in der Hölle.» Man kann nicht unterscheiden, wer wegmuss und wer nicht; fast alle sind auf den Beinen, die Kranken helfen einander beim Anziehen. Es gibt mehrere unter ihnen, die kein einziges Kleidungsstück haben, deren Ge­ päck verschwunden oder noch nicht angekommen ist. Es laufen Damen von der «Fürsorge» herum, sie verteilen Kleidungsstücke, ob sie passen

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oder nicht, es ist egal, wenn man nur etwas am Körper hat. Einige alte Frauen sehen auf amüsante Weise zurechtgemacht aus. Flaschen mit Milch werden vorbereitet, um sie den Säuglingen mitzugeben, deren erbar­ mungswürdiges Geschrei durch alle Ritzen der Baracke dringt. Eine junge Mutter sagt fast entschuldigend zu mir: «Mein Kind weint sonst nie, es ist gerade, als fühle es, was geschehen wird.» Sie nimmt das Kind, ein präch­ tiges Baby von acht Monaten, aus einer primitiven Wiege und sagt l­ achend zu ihm: «Wenn du jetzt nicht lieb bist, darfst du nicht mit Mami mit auf die Reise!» Sie erzählt mir von Bekannten: «Als die ‹Grüne› sie damals in Amsterdam holen kam, haben die Kinder fürchterlich geweint. Da sagte der Vater: ‹Wenn ihr jetzt nicht lieb seid, dürft ihr nicht im grünen Auto mitfahren, dann nimmt der grüne Herr euch nicht mit›, und das half, die Kinder haben sich beruhigt.» Sie zwinkert mir tapfer zu, ein ­schmales schwarzes Frauchen mit einem olivfarbenen, klugen Gesicht, mit einer langen grauen Hose und einem grünen Wollpullover bekleidet: «Ich bin nicht besonders munter, auch wenn ich jetzt lache.» Die Frau mit der nassen Wäsche ist fast von Sinnen. «Können Sie mein Kind nicht für mich verstecken, machen Sie schon, verstecken Sie es, es hat hohes Fieber, wie soll ich es denn mitnehmen?», sie zeigt auf ein Häuf­ chen Kind mit blonden Locken und einem glühenden, hochroten Ge­ sicht, das sich in einem Bettchen aus unbehandeltem Holz herumwälzt. Die Krankenschwester will der Mutter einen zusätzlichen Wollpullover über das Kleid ziehen, sie wehrt sich dagegen: «Ich nehme nichts mit, was habe ich denn davon  … mein Kind.» Sie schluchzt: «Ein krankes Kind nehmen sie einem weg, und man bekommt es nie zurück.» Da kommt eine Frau auf sie zu, eine schwere Frau aus dem Volk mit einem gutmüti­ gen, stumpfen Gesicht, sie zieht die verzweifelte Mutter mit sich herunter auf den Rand einer Eisenpritsche und redet ihr in einem fast singenden Volkston zu: «Du bist doch auch einfach nur Jüdin, du musst doch auch weg?» … Ein paar Betten weiter sehe ich plötzlich das aschgraue Sommer­ sprossengesicht einer Kollegin; sie hat sich ans Bett einer sterbenden Frau gehockt, die Gift genommen hat und die ihre Mutter ist. «Allmächtiger, was geht denn hier vor sich, was haben Sie vor?», rutscht es mir heraus. Es ist die kleine, anhängliche Volksfrau aus Rotterdam. Sie ist im neunten Monat schwanger. Zwei Krankenschwestern versuchen sie anzuziehen. Sie steht mit ihrem missgestalteten Körper an das Bett ihres Kindes gelehnt. Die Schweißtropfen laufen ihr über das Gesicht. Sie starrt

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in eine Ferne, in die ich ihr nicht folgen kann, und sagt mit einer ton­ losen, leblosen Stimme: «Vor zwei Monaten wollte ich freiwillig mit mei­ nem Mann mit nach Polen, und damals durfte ich nicht, weil ich immer so schwere Geburten habe. Und jetzt muss ich weg … weil heute Nacht jemand weggelaufen ist  …» Das Jammern der Säuglinge schwillt an, es füllt alle Ecken und Ritzen der gespenstisch erleuchteten Baracke, es ist fast nicht auszuhalten. Ein Name steigt in mir auf: Herodes. Auf der Trage, auf dem Weg zum Zug, setzen die Geburtswehen ein, und da durfte man die Frau zum Krankenhaus tragen statt zum Güterzug, was in dieser Nacht sicher zu den besonders menschlichen Taten gerechnet werden darf … Ich komme am Bett des gelähmten Mädchens vorbei, es ist mithilfe anderer schon teilweise angezogen. Ich habe noch nie so große Augen in einem so kleinen Gesicht gesehen. «Ich kann es nicht fassen», flüstert es mir zu. Ein paar Schritte entfernt steht meine kleine bucklige Russin, ich habe euch schon einmal von ihr erzählt.251 Sie steht da wie eingesponnen in ein Netz des Trübsinns. Das gelähmte Mädchen ist eine Freundin von ihr. Später klagt sie mir gegenüber: «Sie hatte nicht einmal einen Teller, ich wollte ihr meinen Teller mitgeben, aber sie wollte ihn nicht haben, sie sagte: ‹Ich sterbe sowieso innerhalb von zehn Tagen, und dann haben die widerlichen Deutschen meinen Teller.›» Sie steht vor mir, einen grün­ seidenen Kimono um ihre missgestaltete kleine Figur. Sie hat einen sehr weisen, reinen Kinderblick. Sie schaut mich erst lange Zeit schweigend und forschend an, und dann ruft sie leidenschaftlich: «Ich wünschte, ach, ich wünschte, ich könnte in meinen Tränen wegschwimmen, in eine bes­ sere Welt» und «Ich habe so schreckliches Heimweh nach meiner lieben Mutter». (Diese liebe Mutter ist vor einigen Monaten hier an Krebs ge­ storben, in der Waschecke beim WC, da war sie zumindest einen Augen­ blick allein, um sterben zu können.) Lubotschka fragt mich, mit ihrem merkwürdigen Akzent, im Tonfall eines um Vergebung bittenden Kindes: «Der liebe Gott wird meine Zweifel in einer Welt wie dieser doch sicher begreifen können?» Dann wendet sie sich in einer fast lieblichen Gebärde unendlicher Trübsal von mir ab, und während der ganzen Nacht sehe ich, wie sich eine missgestaltete, grünseidene Person zwischen den Betten be­ wegt; sie führt kleinere Handreichungen für die Aufbrechenden aus. Selbst braucht sie noch nicht weg, zumindest diesmal noch nicht … Ich sitze da und presse Tomaten aus, für Saft in Flaschen zum Mitneh­ men für die Babys. Neben mir sitzt eine junge Frau, die unternehmungs­

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lustig, reisefertig und sehr gepflegt aussieht. Es klingt fast wie ein Schrei der Befreiung, als sie mit einer weit ausholenden Geste ausruft: «Ich werde die große Reise antreten, vielleicht finde ich ja meinen Mann.» Eine Frau gegenüber fällt ihr bitter ins Wort: «Ich muss auch weg, aber antreten will ich die Reise nicht.» Ich betrachte die junge Frau neben mir genauer; sie ist erst einige Tage hier, und sie kam aus der Strafbaracke. Es geht etwas Kräftiges und Unabhängiges von ihr aus, sie hat einen herausfordernden Zug um den kleinen Mund. Sie ist, schon zu Beginn der Nacht, ganz und gar bereit für den Aufbruch, gekleidet in eine lange Hose, einen Wollpull­ over und eine Wollweste. Neben ihr auf dem Boden steht ein schwerer Rucksack mit Deckenrolle. Sie versucht ein paar Butterbrote herunterzu­ bekommen. Darauf ist Schimmel. «Ich werde sicher öfter mal schimm­ liges Brot essen», sagt sie lachend. «Im Gefängnis habe ich tagelang nichts gegessen.» Ein kleines Stückchen ihrer Geschichte in ihren eigenen Wor­ ten: «Man hat mich ins Gefängnis geworfen, obwohl ich hochschwanger war. Dort sind sie mir mit nichts als Hohn und Geringschätzung begeg­ net. Unglücklicherweise habe ich gesagt, ich könne nicht gut stehen, und da haben sie mich stundenlang stehen lassen, aber ich habe es ohne einen Mucks ausgehalten.» Sie schaut herausfordernd drein. «Mein Mann war auch dort im Gefängnis. Ach, was haben sie ihn misshandelt, aber wie mutig er war! Letzten Monat hat man ihn von hier weitergeschickt, ich lag damals gerade den dritten Tag im Wochenbett und konnte nicht mit. Aber wie tapfer hat er sich gehalten.» Sie strahlt beinahe aus einer Art zärt­ lichem Stolz heraus. Sie spricht weiter: «Das Kind ist hier gestorben. Viel­ leicht finde ich ja meinen Mann.» Sie lacht herausfordernd: «Auch wenn wir durch Schmutz und Dreck müssen, wir kommen durch.» Sie schaut die weinenden Babys um uns herum an: «Ich werde im Zug ein paar gute Taten vollbringen können, ich habe noch Muttermilch.» «Was? Sie auch?», rufe ich auf einmal entsetzt. Zwischen den zerwühl­ ten Bettchen der unruhigen und klagenden Säuglinge kommt eine hoch­ gewachsene Frauengestalt angewankt, die Hände greifen in der Luft nach einem Halt. Sie ist in einen langen, schwarzen, altmodischen Umhang gekleidet. Sie hat eine aristokratische Stirn und eine ganz weiße, wellige, hoch aufgetürmte Frisur. Ihr Mann ist vor einigen Wochen hier gestorben. Sie ist weit über 80, sieht aber aus, als wäre sie noch keine 60. Ich habe sie immer wegen der königlichen Haltung bewundert, mit der sie auf ihrer ärmlichen Pritsche lag. Ihre Antwort kommt als heiserer Schrei: «Ja, ich durfte nicht bei meinem Mann im Grab liegen.»

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Ach, und da ist sie auch. Es ist die kecke kleine Frau aus dem Ghetto, die immer so hungrig in ihrem Bett lag, weil sie nie Päckchen bekam. Und sieben Kinder hatte sie hier. Schrecklich energisch und betriebsam trippelt sie auf kurzen Beinen herum. «Ja, was denken Sie denn, ich habe sieben Kinder, und die brauchen doch bestimmt eine tapfere Mutter bei sich.» Sie stopft mit raschen Bewegungen lauter Sachen in einen Jutesack. «Ich lasse hier nichts zurück, mein Mann ist vor einem Jahr weitergeschickt worden, und meine beiden ältesten Jungen sind auch schon weg.» Sie strahlt: «Meine Kinner sin doch mein Ein un Alles.» Sie trippelt, sie schafft, sie packt, sie hat im Vorbeigehen für jeden ein ermutigendes Wort. Eine hässliche kleine Frau aus dem Ghetto mit fettigen schwarzen Haaren, ­einem schweren Unterleib und kurzen Beinen. Sie trägt ein armseliges dunkles Kleid mit halblangen Ärmeln; ich vermute, damit hat sie noch in der Jodenbreestraat am Waschtrog gestanden. Und jetzt geht sie in eben­ diesem Kleid nach Polen, auf eine dreitägige Reise, mit sieben Kindern. «Ja, was denken Sie denn, ich habe sieben Kinder, und die brauchen doch bestimmt eine tapfere Mutter bei sich.» An dieser kleinen jungen Frau da kann man noch sehen, dass sie ein­ mal eine Luxusfrau war, und sehr schön. Sie ist erst seit Kurzem im Lager. Sie war untergetaucht wegen ihres Babys. Jetzt ist sie hier, durch Verrat, so wie viele Untergetauchte. Ihr Mann ist in der Strafbaracke. Ihr Anblick ist jämmerlich. Durch das blondierte Haar bricht hier und da grünlich glän­ zend die schwarze Naturhaarfarbe durch. Sie hat mehrere Garnituren Un­ terwäsche und Kleidungsstücke übereinander angezogen; man kann doch schließlich nicht alles tragen, vor allem nicht, wenn man auch noch ein kleines Kind bei sich hat. Jetzt sieht sie unförmig und lächerlich aus. Ihr Gesicht wirkt fleckig. Sie schaut alle mit tränenumflortem, fragendem Blick an wie ein vollkommen wehrloses und allem ausgeliefertes junges Tier. Wie wird diese Frau, die schon jetzt völlig aufgelöst ist, erst aussehen, wenn sie nach drei Tagen aus dem übervollen Güterwaggon ausgeladen wird, in den Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge zusammen mit den Ge­ päckstücken gequetscht werden, mit einer Tonne in der Mitte als einzigem Mobiliar? Man wird wahrscheinlich wieder in ein Durchgangslager kom­ men, von dem aus man weiter verladen wird. Wir werden zu Tode gejagt, quer durch Europa … Ich lasse mich noch etwas verloren durch andere Baracken treiben. Ich gehe durch Szenen, die vor meinen Augen in vielen kleinen kristallklaren

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Details entstehen und die gleichzeitig wie verschwimmende jahrhunderte­ alte Visionen sind. Ich sehe, wie man einen todkranken alten Mann weg­ trägt, der über sich selbst das Sjeimes spricht. Das «Höre Israel» zu spre­ chen bedeutet, dass man das Gebet über einen Sterbenden spricht. Es besteht hauptsächlich im fortwährenden Anrufen des Namens Gottes; das Höchste ist, wenn der Sterbende selbst noch dazu in der Lage ist, dieses Gebet mit auszusprechen. Ich sehe, wie ein alter Mann auf einer Trage zum Zug gebracht wird, wie er über sich selbst das Gebet spricht … Ich sehe einen Vater, der vor seiner Abreise Frau und Kind segnet und sich selbst von einem alten Rabbiner mit einem schneeweißen Bart und einem feurigen Prophetenprofil segnen lässt. Ich sehe … ach, ich kann es letzt­ endlich doch nicht beschreiben … Es ist allmählich 6 Uhr morgens geworden, der Zug wird um 11 Uhr ab­ fahren, man beginnt mit dem Einladen der Menschen und Rucksäcke. Die Straßen zum Zug sind durch Männer vom Ordnungsdienst252 ab­ gesperrt, alle, die nichts mit dem Transport zu tun haben, müssen vom Gelände verschwinden und in den Baracken bleiben. Ich schlüpfe in eine Baracke, die ganz nahe gegenüber dem Zug liegt. «Man hat hier immer eine ganz prächtige Aussicht auf die ankommenden und abfahrenden Transporte», höre ich eine zynische Stimme sagen. Schon seit gestern teilt dieser Zug unser Lager in zwei Hälften: eine trostlose Reihe farbloser, ­leerer Güterwaggons, vorne und hinten ein Personenwaggon für das Be­ gleitkommando. In einigen Waggons liegen Papiermatratzen auf dem ­Boden, die sind für die Kranken. Es entsteht immer mehr Bewegung auf dem Asphaltweg entlang des Zuges. Männer der «Fliegenden Kolonne»253 in braunen Overalls fahren auf Schubkarren Gepäck herbei. Unter ihnen entdecke ich u. a. einige Hofnarren des Kommandanten: den Komiker Max Ehrlich und den Schlagerkomponisten Willy Rosen, der aussieht wie der wandelnde Tod. Er stand damals unwiderruflich auf Transport, sang sich jedoch noch einige Abende zuvor vor einem freudig aufgeregten Pub­ likum, zu dem der Kommandant mit Gefolge gehörte, die Lungen aus dem Leib. Er sang unter anderem: «Ich kann es nicht verstehen daß die 254 ­Rosen blühen» und noch mehr solche zeitgemässe deutsche Lieder. Der Kommandant, der viel von Kunst versteht, fand es prächtig, und Willy Rosen wurde gesperrt; ihm wurde sogar ein Häuschen zugewiesen, und dort wohnt er jetzt hinter rot karierten Vorhängen mit seiner blond gefärb­ ten Frau, die tagsüber in der kochend heißen Wäscherei an der Mangel

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steht. Selbst geht er dort in einem braungelben Overall hinter einer einzi­ gen niedrigen Schubkarre her, auf der er das Gepäck seiner Mitjuden her­ anschaffen muss, und sieht aus wie der wandelnde Tod. Da geht noch ein Hofnarr, Erich Ziegler,255 der Lieblingspianist des Kommandanten. Von ihm geht die Legende um, er sei so großartig, dass er sogar die Neunte Symphonie von Beethoven als Jazzmusik spielen kann, und das will doch wirklich etwas heißen … Jetzt schwärmen plötzlich viele grün uniformierte Kerle über den ­Asphalt aus; ich begreife nicht, wo sie so plötzlich herkommen. Tornister und Gewehre auf dem Rücken. Ich nehme die Gestalten und die Gesich­ ter in mich auf, ich versuche, sie ohne Vorurteile zu betrachten. Bei vorherigen Transporten waren oft noch unverdorbene, gutmütige Burschen dabei, die mit erstauntem Blick durch das Lager gingen, Pfeife rauchten und in einem unverständlichen Dialekt sprachen und mit denen man es nicht schlimm finden würde, die Reise anzutreten. Diesmal durch­ fährt ein großer Schreck meinen ganzen Körper. Grobe Gesichter voller Hohn, in denen man umsonst nach einem letzten Rest Menschlichkeit sucht. An welchen Fronten hat man diese Leute großgezogen, in welchen Straflagern hat man sie angelernt? Aber diesmal ist es doch schließlich auch ein Straftransport? Einige junge Frauen sind schon in den Güter­ waggons, sie halten ihre Säuglinge auf dem Schoß, die Beine baumeln nach draußen, sie wollen noch so lange wie möglich die frische Luft genie­ ßen. Kranke werden auf Tragen vorbeigeschleppt. Es ist ein Straftransport. Ich muss fast lachen, das Missverhältnis zwischen Bewachern und Be­ wachten ist zu lächerlich. Mein Mitgeselle neben mir hinter der Fenster­ scheibe schaudert kurz. Vor Monaten hat man ihn förmlich in Einzelteilen aus Amersfoort256 hereingetragen. «Ja, so sind diese Kerle», sagt er, «so s­ ehen sie aus.» Ein paar kleine Kinder stehen da und haben die Nase gegen die Scheiben gedrückt. Ich folge ihrem todernsten Gespräch. «Warum ­tragen solche dreckigen, gemeinen Kerle Grün, warum tragen sie kein Schwarz? Schwarz ist doch auch schlecht?» «Schau, da ist ein Kranker.» Ein Büschel graues Haar über einer zerwühlten Decke auf einer Trage. «Schau nur, noch ein Kranker.» Und mit einer Geste in Richtung der «Grünen»: «Schau nur, jetzt fangen sie an zu lachen.» Immer mehr Menschen füllen die Leere in den Güterwaggons. Da kommt eine einsame, lange Gestalt über den Asphalt gelaufen, eine ­Aktentasche unter dem Arm. Es ist der Chef der sog. «Antragsstelle».257 Bis zum letzten Augenblick versucht er, die Menschen aus den Händen des

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Kommandanten zu befreien. Der Kuhhandel dauert bis zur Abfahrt des Zuges an; oft schafft man es noch, Menschen aus dem Zug zu befreien. Der Mann mit der Aktentasche hat die Stirn eines jungen Stubengelehr­ ten und müde, sehr müde Schultern. Ein krummes altes Frauchen mit ­einem altmodischen schwarzen Hütchen auf dem grauen Stachelhaar ver­ sperrt ihm den Weg; sie gestikuliert und wedelt ihm mit vielen Papieren vor der Nase herum. Er hört ihr kurz zu, schüttelt abwehrend den Kopf und wendet sich dann ab, die Schultern noch ein wenig tiefer gebogen als sonst. Man wird diesmal nicht viele Menschen in allerletzter Sekunde aus dem Zug holen können. Der Kommandant ist böse. Ein junger Jude hat wegzulaufen gewagt, als ernsthaften Fluchtversuch kann man es nicht ein­ mal bezeichnen; er entkam in einem Augenblick der Verwirrung aus dem Krankenhaus, ein dünnes Jäckchen über dem blauen Pyjama, und ver­ steckte sich auf eine fast kindlich ungeschickte Weise in einem Zelt, wo er nach einer Treibjagd durch das ganze Lager sehr bald gefunden wurde. Aber als Jude hat man nicht wegzulaufen und auch nicht in Verwirrung zu geraten. Das Urteil des Kommandanten ist unerbittlich. Dutzende andere müssen als Repressalie unerwarteterweise mit auf Transport, darunter ver­ schiedene, die geglaubt hatten, hier fest verankert zu sein. Dieses System arbeitet nun einmal mit Kollektivstrafen. Die vielen Flugmaschinen heute Nacht über unseren Köpfen werden auch nicht viel Gutes zur Laune des Kommandanten beigetragen haben, aber dazu äußert er sich nicht so ­offen. Die Güterwaggons sind nun tatsächlich, was man voll nennen könnte. Aber das hat man nur gedacht. Allmächtiger, müssen die jetzt auch noch alle mit dazu? Da erscheint eine neue, große Menschengruppe. Die Kin­ der kleben immer noch mit den Nasen an der Scheibe, sie verfolgen alles ganz genau mit. «Schau mal, da kommen schon wieder Leute nach drau­ ßen, die finden es sicher zu warm im Zug.» Plötzlich ruft eines der Kinder: «Der Kommandant!» Er erscheint am Anfang der Asphaltstraße, wie der berühmte Star, der erst zum großen Finale einer Revue die Bühne betritt. Um diesen Kom­ mandanten ranken sich schon beinahe Legenden. Er hat so viel Charme, und er meint es so gut mit den Juden. Für einen Kommandanten eines Judenlagers hat er sehr eigenartige Auffassungen. Neulich fand er, wir hät­ ten Abwechslung beim Essen nötig, und kurz darauf gab es für uns einmal Kapuzinererbsen statt Spitzkohl. Außerdem ist er sozusagen der Vater ­unseres Kunstlebens hier und ein treuer Besucher der Kabarettabende. Er

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kam bei einer Gelegenheit dreimal hintereinander in dieselbe Vorstellung und lachte jedes Mal genauso laut über dieselben alten Witze.* [Unter seinen Auspizien hat man einen Männerchor gegründet, der auf seinen Befehl «Bei mir bist du schön»258 sang. Es klang sehr mitreißend auf dieser Heide, das muss man sagen. Er lädt hin und wieder Künstler zu sich nach Hause ein und spricht und trinkt die ganze Nacht mit ihnen, und neulich hat er in der Nacht eine Schauspielerin259 nach Hause begleitet, und zum Abschied hat er ihr die Hand gegeben, stellen Sie sich das vor, die Hand! Man sagt auch, dass er Kinder besonders liebt; die Kinder sollen es gut haben; im Krankenhaus bekommen sie jeden Tag eine Tomate. Trotzdem sterben hier viele Kinder. Woran das liegt, hat bis heute noch kein einziger Gelehrter ergründen kön­ nen. So könnte ich noch viele Geschichten über «unseren» Kommandan­ ten erzählen. Vielleicht fühlt er sich wie ein gnä­diger Herrscher über viele demütige Untertanen. Gott weiß, wie er sich fühlt. Eine Stimme hinter mir sagt: «Wir hatten früher einen Kommandanten, der die Menschen mit Tritten nach Polen befördert hat; der hier lacht sie nach Polen.»260 Er geht den Zug entlang, in militärischem Schritt; ein noch ziemlich junger Mann, der rasch Karriere gemacht hat, so könnte man es zumin­ dest nennen. Er ist Herr und Meister über Leben und Tod von holländi­ schen und deutschen Juden auf der Heide von Drenthe; vor einem Jahr wird er wohl noch nicht gewusst haben, dass es so eine Heide überhaupt gibt. Ich übrigens auch nicht. Er schickt heute Morgen fünfzig Juden mehr mit auf Transport, weil sich ein junger Mann in einem blauen Pyjama in einem Zelt versteckt hat. Er geht den Zug entlang, und sein graues, sorgfältig gebürstetes Haar kommt von hinten unter seiner flachen, hell­ grünen Kappe zum Vorschein. Von diesem grauen Haar, das sich auf so romantische Weise von einem noch ziemlich jungen Gesicht abhebt, schwärmen viele alberne Backfische hier, auch wenn sie das nicht so offen zu sagen wagen. Sein Gesicht hat an diesem bösen Morgen fast die Farbe von Eisen. Es ist ein Gesicht, dessen Ausdruck ich überhaupt nicht deuten kann, und es kommt mir manchmal vor wie eine schmale Narbe, in der Verbissenheit, Freudlosigkeit und Unaufrichtigkeit miteinander verwach­ * Der folgende Text in eckigen Klammern bis zum Ende des Briefes fehlt im Typo­ skript, ist aber in der illegalen Ausgabe Drie brieven van den kunstschilder Johannes Baptiste van der Pluym (1843–1912) aus dem Jahr 1943 enthalten (siehe Einleitung, S. 18 f.).

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sen sind. Und dann hat er etwas zwischen gepflegtem Friseurgehilfen und Stammgast einer Künstlerkneipe in seiner Art. Aber die Verbissenheit und die forcierte Strammheit überwiegen. In militärischem Schritt geht er die Güterwaggons entlang, aus denen förmlich die Menschen quellen. Er ins­ piziert seine Truppen. Kranke, Säuglinge, junge Mütter und kahl gescho­ rene Männer. Es werden noch einige Kranke auf Tragen herbeigebracht; er macht eine ungeduldige Gebärde, es geht ihm nicht schnell genug. Hinter ihm folgt sein jüdischer Sekretär,261 elegant gekleidet in einer belgischen Reiterhose und einer braunen Sportjacke. Er hat das korrekte, sportive und doch nichtssagende Äußere eines englischen Whiskytrinkers. Plötzlich kommt ein schöner brauner Jagdhund angesprungen, woher, weiß der Himmel, der beige Sekretär rauft mit graziösen Gebärden mit ihm, es ist wie eine Szene aus einer englischen Society-Zeitschrift. Das grüne Peloton steht da und «glotzt» mit dreisten Blicken. Vielleicht den­ ken sie ja – obwohl Denken ein großes Wort ist –, dass die Juden hier ganz anders aussehen, als sie in ihren lehrreichen Zeitungen abgebildet werden. Verschiedene jüdische Berühmtheiten aus dem Lagerleben gehen den Zug entlang. «Die machen sich auch ‹wichtig›», murmelt jemand hinter mir. «Transportboulevard»,262 sage ich laut. «Wird man der Außenwelt jemals beschreiben können, was sich hier alles abgespielt hat?», frage ich meinen Mitgesellen. Die Außenwelt denkt vielleicht an uns als graue, gleich­ förmige, leidende Masse aus Juden; sie weiß nichts von den Gräben und Abgründen und den Schattierungen zwischen den Einzelnen und den Gruppen, sie wird das vielleicht nicht einmal begreifen können. Zum Kommandanten hat sich nun der «Oberdienstleiter»263 des Lagers gesellt. Der Kommandant wirkt plötzlich klein und nichtig. Der «Oberdienst­ leiter» ist ein deutscher Jude von mächtiger Gestalt. Schwarze Schaftstiefel, schwarze Kappe, schwarzes Soldatenwams mit gelbem Stern. Er hat grau­ same Lippen und einen kräftigen Hals. Vor einem Jahr war er noch Grä­ ber im Außendienst. Rund um seine Karriere spielt sich ein wichtiges Stück Geschichte der Mentalität dieser Zeit ab; man wird darüber später etwas mehr erzählen müssen. Der hellgrüne, stramme Kommandant, der beige, unbewegte Sekretär, die schwarze Gewalttätergestalt des «Oberdienst­ leiters» paradieren den Zug entlang. Man macht um sie herum Platz, aber alle Augen schauen in ihre Richtung. Du lieber Himmel, gehen die Türen wirklich alle zu? Ja, sie gehen zu. Die Türen werden über den zusammengepressten, in alle Richtungen aus­ einandergedrückten Menschenmassen in den Güterwaggons geschlossen.

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Durch die schmalen Öffnungen an der oberen Seite sieht man Köpfe und Hände, die später winken, als der Zug abfährt. Der Kommandant fährt noch einmal auf dem Fahrrad den ganzen Zug entlang. Dann macht er eine kurze Gebärde mit der Hand, wie ein Fürst aus einer Operette, und ein kleiner Untergebener eilt herbei, um ihm ehrerbietig das Fahrrad ab­ zunehmen. Die Pfeife stößt einen durchdringenden Schrei aus, ein Zug mit 1020 Juden verlässt Holland. Die Forderung war diesmal nicht einmal hoch: Nur 1000 Juden, die zwanzig sind Reserve für unterwegs; es ist doch immer möglich, dass einige sterben oder totgedrückt werden, und ganz bestimmt dieses Mal, wo so viele Kranke mitfahren, ohne eine einzige Pflegerin. Die Helfer am Zug verlaufen sich langsam, sie suchen ihre Schlaf­ stätten auf. Man sieht viele erschöpfte, bleiche und leidende Gesichter. Es wurde wieder ein Stück unseres Lagers amputiert; nächste Woche kommt noch ein Stück, das erleben wir hier nun schon länger als ein Jahr, eine Woche nach der anderen. Wir sind hier mit einigen Tausend zurückge­ blieben. Schon hunderttausend unserer Rassegenossen aus Holland plagen sich unter einem unbekannten Himmel oder liegen in einer unbekannten Erde und verrotten. Wir wissen nichts über ihr Schicksal. Vielleicht wer­ den wir es bald erfahren, jeder zu seiner Zeit; es ist doch schließlich auch unser zukünftiges Schicksal, daran zweifle ich keinen Augenblick. Aber jetzt muss ich erst ein Stündchen schlafen, ich bin ein bisschen müde und mir ist schwindlig, und danach muss ich in die Wäscherei, um einen ­verschwundenen Waschlappen aufzuspüren. Aber erst will ich doch ein wenig schlafen, und ansonsten habe ich vor, nach einigen Umwegen zu euch zurückzukehren. Seid für diesmal wieder gegrüßt, ihr Lieben.]

An Christine van Nooten. Westerbork. Dienstag, 24. August 1943.

Unseren Dank für das entzückende Paket!

24 / 8 Westerbork. Etty

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Briefe von Etty Hillesum

An Christine van Nooten. Westerbork. Freitag, 27. August 1943.

Innigsten Dank für das überraschende Paket!

Westerbork 27 / 8. Etty

An Christine van Nooten. Westerbork. Mittwoch, 1. September 1943. Westerbork 1 / 9 43. Christine, du Liebe, du Sorgsame, eine der beiden uns zugestandenen Briefkarten schicke ich dir. Die Familie ist noch komplett, immer noch. Vater und Mutter hausen nun wieder in einer großen Baracke, wodurch das Leben ein Stück schwieriger geworden ist. Kein Mensch kann sich eine Vorstellung von einer solchen Baracke machen. Vater ist schon auf kindliche Weise froh, wenn man ihm nicht vor den Füßen herumfällt. Er sitzt auf seiner Holzbank und liest, und währenddessen kriechen ihm kleine Kinder mehr oder weniger über den Rücken. Er liest über König Salomon und über Love, und die Absenderin kennst du.264 Mischa stem­ pelt im Badehaus Karten,265 und unter den Karten liegt eine Partitur. Mut­ ter versorgt ihre ungeschickten Männer, und wenn sie hierbleiben dürfte, würde sie dem Himmel danken. Wenn –. Von den Adelaars266 ist gar nie­ mand mehr da. Kannst du Simon sagen, dass er nichts mehr an die Fam. Frank267 zu schicken braucht? Und kannst du ihm für das sorgfältige Ver­ packen und Versenden von vielen guten irdischen Gütern danken? Wir sprechen Wünsche aus, und ihr erfüllt sie. Schicke einen herzlichen Gruß von uns an die gute Hansje Lansen. Wir möchten euch gern noch einmal mündlich für alles danken; ja, sehr gern sogar. Vielleicht hörst du bald wieder etwas von Maria Tuinzing? Die Pfannküchlein waren frisch und lecker, sehr sogar! Um vor allem wieder direkt zum Materiellen zurückzukehren: Das Beste ist, wenn der Schwer­ punkt für Brot und Butter ans Ende der Woche gelenkt wird, allerspätes­ tens Montag hier, sodass wir jedes Mal für alle Eventualitäten ausgestattet sind. Größtes Familiendrama der letzten Zeit: Vaters einziges Paar Schuhe ist in einer schlimmen Nacht verschwunden (um das Wort gestohlen zu

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vermeiden) und jetzt läuft er in einem geliehenen Paar herum, das ihm zu groß ist; sehr schlimm, aber nun ja, auch darüber kommt man schon hin­ weg. Man kommt hier eigentlich über alles hinweg, wenn man nur in diesem kleinen Land bleiben dürfte. Aber nun ja –. Hier wird es allmäh­ lich ziemlich leer. Und du stehst wieder vor den Klassen einer lernwilligen Jugend? Vater liest hier immer noch Sallust und Homer mit einem eifri­ gen jungen Mann, der tagsüber Gräben aushebt. Zum Glück hat man Vater vom Bohnenputzen oder dergleichen erbaulichen Tätigkeiten frei­ gestellt; er ist körperlich in einer zu schlechten Verfassung, um Arbeit zu verrichten. Ich habe dir diesmal nicht viel zu erzählen, du Brave, heute ist ein ­drückender, grauer Tag; ich sitze im Augenblick auf einem umgefallenen Bett auf einer Grasfläche hinter einer Krankenbaracke. Von deiner Schwes­ ter kam ein märchenhafter Groninger Kuchen. So lieb es ist, wie auf ­Vaters Toastwünsche eingegangen worden ist – es ist nicht mehr wirklich nötig; Roggenbrot ist wieder genauso willkommen, vielleicht auch einfacher? Ach, liebe Kinder, was habt ihr doch viel Arbeit wegen uns. Bei Gelegen­ heit schreibe ich dir einmal nur poetische Herzensergießungen und kein Wort über das Essen, ich finde das näml. abscheulich. Wie prächtig die Psalmen sind. Glaubst du, dass irgendwo in Deventer jemand eine Decke übrig hat? Nach einem nichtssagenden Kärtchen grüße ich dich, Aller­ liebste, bis zum nächsten Mal. Wir alle grüßen dich. Auch an Vaters Kol­ legen einen Gruß, ja? Deine Etty

An Maria Tuinzing. Westerbork. Donnerstag, 2. September 1943. 2 / 9. Marietke, die erste Hälfte dieses Briefes habe ich an Vader Han ge­ schickt; ich hoffe, dass sie beide zugleich ankommen. Es ist ein Stück Journalistik, eigentlich nichts für dich. Hallo, liebes Kind, wie geht es dir denn? Ich sehne mich sehr nach einigen Worten. Briefe kommen jetzt langsam wieder besser durch. Per Einschreiben bekommen wir sie sicher. Kannst du das vor allem Swiep sagen, und sie soll es Bekannten von AnneMarie weitersagen, die sehr darunter leidet, dass sie nichts mehr von ihren Freunden hört? Über die Zeilen von Hans war ich sehr froh. Habe den 268

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Briefe von Etty Hillesum

Zettel von Rob269 sofort zu seinen Eltern gebracht, denn selbst darf ich nicht zu ihm. Sitze im Moment in der großen Baracke neben meinem Papa, der wieder aus dem Krankenhaus [entlassen worden ist]. Die Stim­ mung wechselt, der Humor bricht doch immer wieder durch. Trotzdem makabre Zustände hier für die alten Menschen. Diesen Dienstag haben wir es wieder geschafft. Wenn komm. Dienstag wieder ein Transport ab­ fährt, sind die Chancen sehr gering, dass wir sie hierbehalten können. Die Anspannung frisst am schlimmsten an einem, die Anspannung wegen an­ derer wohlgemerkt. Als ich heute Morgen in unser Büro kam, herrschte dort ein schrecklicher Zustand; es wurde als Garderobe für die Revue270 mit Beschlag belegt. Das ganze Lager steht im Zeichen der Revue. Es gibt keine Overalls für die Leute im Außendienst, aber in der Revue kommt ein «Overall-Ballett» vor, und dafür werden Tag und Nacht Overalls ge­ näht, mit Puffärmeln. Die Bretter aus der Synagoge von Assen hat man zu einer Bühne für das Ballett hier zersägt. Ein Zimmermann meinte: «Was würde Gott wohl sagen, wenn er wüsste, dass seine Assener Synagoge271 für einen solchen Zweck gebraucht wird?» Prächtig, nicht wahr: Gottes Assener Synagoge. Ach, Maria, Maria  –. In der letzten Transportnacht wurde den ganzen Tag ohne Pause an der Revue gearbeitet. Hier ist alles von einem unbeschreiblichen und Paljasso-artigen272 Wahnsinn und einer Traurigkeit. Mir geht es gut. Ich mache wieder jeden Tag eine Stunde Russisch und lese Psalmen und spreche mit 100-jährigen Frauen, die Wert darauf legen, mir ihre ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Ich lebe hier eigentlich ­genauso wie bei euch in Amsterdam; ich lebe in der Gemeinschaft, lebe aber gleichzeitig sehr zurückgezogen, und das geht auch sehr gut, selbst wenn man auf, unter, über und mit anderen durcheinander lebt. Weißt du, was ich auch noch gern hier hätte? Diesen blauen Woll­ morgenmantel, den ich von Hesje bekommen habe, und meinen blauen Filzhut; der trägt sich noch am angenehmsten auf dem Kopf. Vielleicht wäre es gut, wenn ich mein blaues Strickkleid auch hierherbekommen könnte; es ist manchmal ordentlich kalt hier, und für den Fall, dass ich unerwartet auf Transport muss – das weiß man hier nie. Bitte denkt nicht, dass ich euch zur Last fallen will –. Spreche wieder einmal das ab: Jeden Dienstag werde ich den Nethes ein Telegramm schicken: Lebensmittel für 4 Personen (hat nichts mit Hunger zu tun), wenn Vater und Mutter weg, dann: für 2 Personen. Da­ rüber werden viele von uns ein Leben lang nicht mehr hinwegkommen:

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dass wir unsere Alten und Kranken zuerst haben gehen lassen. Es ist eine bewusste Politik aus «Selbsterhaltungstrieb». Vater fragte einen Kranken­ pfleger vom letzten Transport: «Wie kann es nur sein, dass man aus dem Krankenhaus Menschen gehen lässt, die mehr oder weniger tot sind, das ist doch gegen die medizinische Ethik?» Und dieser Pfleger antwortete todernst: «Das Krankenhaus liefert eine Leiche ab, um einen Lebenden hierbehalten zu können.» Es war überhaupt nicht seine Absicht, etwas Lustiges zu sagen, es war sein Ernst. Sprichst du Tide noch manchmal? Sagst du ihr das mit den Briefen per Einschreiben auch? Ich schreibe wieder alles Mögliche durcheinander und nicht viel Gutes. Ab und zu wird man hier auf ganz seltsame Weise schläf­ rig, und das bin ich jetzt zufällig heute Morgen auch, und dieser Brief muss gleich weg, darum kritzle ich noch ein bisschen dazu. Die beiliegen­ den Briefe von Mechanicus könnt ihr doch weiterschicken oder abgeben? Dank ihm konnte ich das hier wegbekommen. Von Jopie liegt nun die ganze Familie im Krankenhaus, den kleinsten Jungen hält man mit viel Mühe am Leben. Wie jung waren wir vor einem Jahr noch auf dieser Heide, Maria; jetzt sind wir ein wenig älter. Man weiß es selbst noch nicht einmal ganz: Man ist ein Gezeichneter geworden durch das Leid, für ein ganzes Leben. Und trotzdem ist das Leben in seiner nicht zu erfassenden Tiefe so wunderbar gut, Maria – darauf muss ich doch immer wieder zu­ rückkommen. Und wenn wir nur Sorge dafür tragen, dass trotz allem doch Gott bei uns in sicheren Händen ist, Maria –. Ich werde hier vielem nicht gerecht; die vielen Leute, die wollen, dass ich mich um sie kümmere, kann ich nicht alle «bewältigen», ich bin oft viel zu müde. Schaust du Käthe einmal in meinem Namen freundlich an und schmiegst die Wange an die von Vader Han, auch in meinem Namen? Und habt ihr es noch gut zusammen? Und grüßt du mir meinen geliebten Schreibtisch, den besten Ort auf dieser Erde? Und Swiep und Wiep und Hesje und Frans und die anderen? Ich schaue dich nur an, du Liebe, und sage nicht mehr allzu viel. Etty Ich höre gerade von Hilde Cramer,273 dass die Briefe per Einschreiben auch schlecht durchkommen, die Mühe könnt ihr euch also sparen. Hin und wieder mal eine kleine Briefkarte, ja, es sickert doch ab und zu etwas durch.

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Und wie geht es Ernst? Heute Morgen sagte einer meiner Kollegen wegen einiger grausiger, schlimmer Zustände hier: Jeder Augenblick des Lebens, in dem man keinen Mut hat, ist ein verlorener Augenblick. Und jetzt gehe ich zum Friseur. Und vielleicht müssen wir gleich noch aus unserem Häuschen in einen großen Saal umziehen, das ist hier immer eine Frage von 5 Minuten. Heute Morgen habe ich Liesl Levie gesprochen, ihr ist ständig schwindlig, sie sagte: Ich schwindle mich durch. Die Mutter v. Werner274 ist weiter. Tschüss alles Liebe Etty

An Mien Kuyper. Westerbork. Freitag, 3. September 1943.

Vielen Dank für [das] schöne Paket

Westerbork, 3. September 1943. Etty.

An Christine van Nooten. Westerbork. Samstag, 4. September 1943.

Danke für das schöne Paket

Westerbork, 4. Sept. 43. Deine Etty

An Christine van Nooten. Bei Glimmen. Dienstag, 7. September 1943. Christien,275 ich schlage die Bibel an irgendeiner Stelle auf und finde das: Der Herr ist meine hohe Burg.276 Ich sitze mitten in einem vollen Güter­ waggon auf meinem Rucksack. Vater, Mutter und Mischa sitzen einige Waggons weiter. Der Aufbruch kam doch noch ziemlich unerwartet. Plötzlich ein Befehl für uns speziell aus Den Haag.277 Wir haben dieses Lager singend verlassen, Vater und Mutter sehr tapfer und ruhig, Mischa ebenso. Wir werden drei Tage unterwegs sein. Danke, dass ihr euch so lieb

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um uns gekümmert habt. Freunde, die hier zurückbleiben, schreiben noch nach A.dam, vielleicht hörst du etwas? Auch von meinem letzten langen Brief?278 Auf Wiedersehen v. uns vieren. Etty

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BRIEFE AN ETTY HILLESUM

Briefe an Etty Hillesum

Mischa Hillesum an Etty Hillesum. Apeldoorn. Ca. 13. Januar 1941. Liebe Etty! Vor allem anderen gratuliere ich dir hiermit zu deinem 27. Geburtstag! Viel Spaß am 15., und danach noch viele angenehme Jahre mit vielen Kinobesuchen …! Ich mache gute Fortschritte und hoffe, bald von hier wegzukönnen. Studiere du nur ordentlich Bulgarisch und grüße ansons­ ten alle. Tschüüüüüss!! Herzliche Grüße und ein Küsschen von Mischa P. S. Natürlich herzliche Grüße an Jaap mit den besten Wünschen für sein Doktorexamen!!!!!! M. [Vater Louis Hillesum:] Ebenfalls herzliche Grüße von Пere1

Aimé van Santen an Etty Hillesum. Leiden. Undatiert; vor Sonntag, 19. April 1942. Leiden, irgendwann. Liebe Etty! Verzeih dieses dekadente Papier – jeder hat so seine Schwächen. Ich habe mir diese Geschichte von Spier noch einmal durchgelesen.

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Seit du sie mir geschickt hast, habe ich oft darüber nachgedacht. Du hast wirklich recht, er ist ein besonderer Mann. Was Joop angeht, so behauptet er, dass er ihm nicht imponiert. Viel­ leicht ist er nicht ehrlich, oder vielleicht erkennt er wirklich kein Genie, wenn ihm eines begegnet. Seit Samstag habe ich ununterbrochen Magenschmerzen gehabt. Die Sache ist folgende: Ein Freund von Joop,2 ein Verleger, hat über meine Übersetzungen gesagt, sie seien nicht «literarisch». Am Samstagmorgen bekam ich von Joop einen Brief, in dem er u. a. schreibt, ich solle mich nicht verkannt «wähnen» etc. etc. Schulmeisterlich und mit der bekann­ ten unpassenden familiären Vertraulichkeit. Ich habe sofort einen gehar­ nischten Brief voller beißender Substanzen und Dynamit zurückgeschrie­ ben. Ich will ihn nie mehr sehen. Abgehakt. Ich weiß noch nicht, ob ich am Donnerstag komme. Grüße vor allem Spier. Ich habe kurz nach dem Besuch in Amsterdam damals ein deutsches Gedicht für ihn geschrieben. Sag ihm, dass ich ihn noch einmal besuchen möchte, ja? Viele herzliche Grüße etc. etc. Любим Васильевич3

Viele Grüße an Mijnheer Wegerif. Und hör mal, ich mache wirklich Fortschritte im Russischen und Tschechischen.

Annette («Netty») van der Hof an Etty Hillesum. Vlaardingen. 21. Juni 1942.4 Vlaardingen 21. 6. 42. Liebe Etty, schaust du noch so tief unglücklich wie ein krankes Kätzchen in die Welt hinaus, oder bist du über den Höhepunkt aller Unannehmlichkeiten hinweg und es geht dir ganz schnell immer besser? Vielleicht läufst du schon wieder gesund und munter durch Amsterdam und saugst wie so viele Menschen Sonne, Wärme und Schönheit in dich auf, bis du nicht mehr kannst. Umfallen vor Erstaunen wirst du nicht über diesen Brief, denn man hat dir erzählt, dass du einmal damit rechnen musst, und du weißt, wer

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ihn angeregt hat. Aus eigener Bewegung wäre ich nie dazu gekommen, obwohl die Versuche, einmal miteinander zu reden, immer wieder fehl­ geschlagen sind. Nach sechs Wochen (oder ist es schon länger?) habe ich endlich einmal Zeit und Ruhe, mir einen ordentlichen Brief zu überlegen. Die eine Hälfte von Vlaardingen sitzt in der Kirche, die andere schläft sich aus, und es gibt niemanden, der mich stören kann. Ich frage mich, was für einem Menschenkind ich da wohl gerade schreibe. Ich weiß das ein oder andere aus Geschichten über dich, die ich in Hilversum gehört habe und die Gera geschrieben oder erzählt hat, aber aus eigener Erfahrung «kenne» ich dich nur oberflächlich. Ich weiß, wie du aussiehst, dass du ein ordentliches Gehirn hast, dass du witzig sein kannst, und ich meine erkannt zu haben, dass du auch durchaus ein biss­ chen raffiniert sein kannst. Letzteres hat mir Ome auszureden versucht. Du siehst, es wurde sogar schon über dich «geklatscht». Das ist alles, was ich über dich weiß. Nicht viel, was? Es tut mir immer leid, dass ich so wenige aus eurem Kreis kenne. Es ist kein Wunder, denn ich bin immer nur kurze Augenblicke bei euch, und dann geht es außerdem ums Zu­ hören, nicht ums Reden. Der Anlass dieses Briefes war ursprünglich auch, dich zu fragen, was du für das Bezeichnende an Omes Arbeitsweise hältst. Als er mich nach meiner Meinung dazu fragte, habe ich sofort von ihm wissen wollen, was andere darüber dachten, denn ich ging davon aus, dass sicher jeder eine eigene Auffassung hätte. Er hat damals gesagt, es wäre vielleicht schön, einmal mit jemand anderem darüber zu sprechen, z. B. mit dir. Also lege ich jetzt los, in der Hoffnung, dass du Zeit und Lust hast, auf mein Ge­ stammel einzugehen und mir mal zu erzählen oder zu schreiben, was du davon hältst. Ich habe über Omes Arbeitsweise Folgendes ausgeknobelt: ein Um­ schalten vom unbewussten, sinnlichen, materiellen zum bewussten geis­ tigen Leben, um dem Menschen durch das Entfernen von Blockaden seine persönlichen Kräfte bewusst werden zu lassen, sodass eine gesunde Wechselwirkung zwischen dem Ich und der Gemeinschaft entsteht, in dem Sinne, dass dieses Gemeinschaftsgefühl auf Liebe zur Menschheit ­begründet ist. Außerdem wird mir von Zeit zu Zeit vorgehalten, dass genug Span­ nung in einem Menschenleben bleibt, ohne dass man ins Extreme verfällt. Wie denkst du darüber? Wenn ich mir so das bürgerliche, anständige ­Leben eines Durchschnittsvlaardingers anschaue, gibt es darin nicht viel

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Spannung, allenfalls die, mit wie wenig Essen man möglichst lange aus­ kommt, aber diese Art der Spannung meine ich nicht. Ich empfinde das Dasein hier zwischen sich selbst genügenden anständigen Herdentieren als ziemlich muffig und öde. Und weil ich mir unter einem goldenen Mittel­ weg zwischen zwei Extremen immer so etwas Verschlafenes vorstelle, macht mich das ab und zu ganz kribbelig. So, Etty, das zum Kennenlernen und als Einleitung. Wenn es dir noch nicht besser geht, wünsche ich dir gute Besserung, und wenn das schon der Fall ist, hoffe ich, dass es so bleibt. Mit herzlichem Gruß deine Annette van der Hof

Vater Louis und Mutter Rebecca Hillesum an Etty Hillesum. Deventer. Dienstag, 7. Juli 1942. Deventer, 7. Juli ’42.

Liebe Etty, zu unserer großen Freude können wir dir mitteilen, dass Mischa ges­ tern bei einem Auswahlverfahren für die «Arbeitsverstärkung» abgelehnt worden ist. Das ist zumindest ein Stein, der einem vom Herzen fällt. Wahrscheinlich hast du Mien schon gesprochen; was einigermaßen wissenswert ist, weißt du also schon. Aus Amsterdam hören wir von ver­ schiedenen Seiten Dinge und ersehen daraus, dass die Stimmung dort nicht besonders gut ist. Wir müssen einfach eine stoische ἀταραξία5 an den Tag legen. (Ist das nicht ein netter Ausdruck «aus dem Volk»?) Solche Ausdrücke werden wir mit der Zeit verlernen. Wir werden in absehbarer Zeit wieder eine Gruppensprache sprechen; das wird dann also ein NeoJiddisch. Herzlichen Gruß, auch an Jaap. Пere Trude war gerade eben hier, sie hat erzählt, dass sie einen Brief von Jaap bekommen hat, in dem u. a. stand, dass er vielleicht Krankenpfleger im NIZ6 werden wird. [Mutter Rebecca Hillesum:] Liebste Etty, ich habe im Augenblick ein großes Bedürfnis, dir ein ­wenig mehr zu schreiben, aber Vater hat gerade gesagt, dass es schon fast

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8 Uhr7 ist. Also für diesmal nur ein herzlicher Gruß. Ich wollte dir heute eigentlich ein wenig Obst (Kirschen) schicken, aber als ich heute Nach­ mittag einkaufen ging, waren sie ausverkauft. Könnt ihr Obst bekommen? Über meinen Besuch am Sonntag und Montag bis abends war ich nicht besonders beglückt. Ich bin sehr müde, erledige alles allein – 4 Stun­ den in der Woche habe ich eine Haushaltshilfe –, und wenn man dann noch einen gern gesehenen Gast bekommt, ist das noch etwas anderes. Ein andermal mehr darüber. Als mein Gast gestern aufgebrochen war, kam zu meinem großen Ver­ gnügen ein netter Mensch zum Unterricht zu mir. Das hat die paar sehr schlimmen Tage ein bisschen weggewischt. Nun ist Mischa wieder viel ruhiger. Bis zum nächsten Mal. крепкий поцелуй мать8 Was für ein unansehnlicher Brief! Haltet euch tapfer und lasst ab und zu etwas von euch hören.

Mutter Rebecca Hillesum an Etty Hillesum. Deventer. Dienstag, 21. Juli 1942. 21. Juli ’42. Meine geliebte, tüchtige Tochter, in deinem Brief, den wir heute erhalten haben, stehen ganze Romane. Romane, die einen nicht wenig berühren. Du bist sehr tüchtig und ver­ nünftig – sorge dafür, dass du es bleibst. Ich erkenne in dir meine eigenen Erlebnisse wieder. Mit nur 17 Jahren habe ich auch Großes erlebt.9 Sei froh, dass dein Leben bisher ungetrübt war. Ich werde mich jetzt nicht in Betrachtungen vertiefen, ich bin zu müde dafür. Ich will dir nur sagen, dass das, was du jetzt tust, viel zu viel ist. Mein liebes, liebes Kind, es ist zu viel! Du darfst gar nicht daran denken, auch noch deine Stunden zu ­geben, und wenn man dir noch so große Reichtümer dafür bezahlt. Das war genau mein Fehler, dass ich zu einer bestimmten Zeit zu viel gearbei­ tet habe. Sorgen wir dafür, dass du davor bewahrt bleibst. Vielleicht kann deine Arbeit ja so geregelt werden, dass es 4 Tage in der Woche sind, wenn es in diesem Chaos noch eine Regelung gibt.10 An den Tagen, die du vielleicht freibekommst, darfst du gar nichts tun. Nach 10 Stunden Arbeit in einer Hölle darf bei dir keine andere Aufgabe

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dazukommen. Hör gut zu, was ich dir sage. Ich habe Respekt vor deiner Tüchtigkeit, mein lieber, lieber Schatz, aber um stark zu bleiben, musst du etwas von deiner Arbeit aufgeben. Was du für verschiedene Ausgaben brauchst, bekommst du von Mijnheer Wegerif. Spare an nichts, was das Essen betrifft. Iss nur, was du bekommen kannst, und wenn die Zeiten noch so teuer sind. Jaap soll sich auch zusätzlich etwas nehmen. Mijnheer Wegerif ist für euch da. Gib die Stunden an mich weiter, wenn die Leute das wollen. Bei mir werden sie bestimmt gute Fortschritte machen, und du darfst das Geld behalten. Einen Tag in der Woche musst du wirklich eine Ruhepause einlegen, dich ganz und gar gehen lassen. In den verlorenen Augenblicken schreibst du uns dann wieder mal. Deine Briefe sind bei dem ganzen Zores dann sehr aufmunternd. Heute haben wir auch Jaap einen Brief geschrieben, unserem lieben, tüchtigen Jaap. Vielleicht gelingt es ihm noch, eine Er­ laubnis zu bekommen. Willst du nicht auch probieren, deine Mutter zu besuchen? Himmel, wie sehr wünschen wir uns das. Es ist gleich 8 Uhr, bis zum nächsten Mal. Pass auf die Marken auf. Schreib, was du sonst noch haben willst. Tschüss, mein Engel, sei umarmt von Mutter.

Mischa Hillesum an Etty Hillesum. Apeldoorn. Mittwoch, 16. September 1942. Apeldoorn, 16. September 1942. Liebe Etty, Dr. Waterman,11 der zurzeit mein treuer Berichterstatter aus Wester­ bork ist, hat mir erzählt, dass es dir gut geht. Darüber bin ich unsagbar froh. Du hast sicher viel erlebt, schreib doch mal etwas darüber. Das Leben ist im Augenblick für fast jeden schwer zu ertragen, das merkt man hier auch. Trotzdem fällt der Vergleich zwischen hier und Drenthe noch zu eurem Vorteil aus, weil der Zustand dort nur vorübergehend ist und hier manche Leute das ganze Leben blei­ ben müssen. Letzte Woche kamen 7 Patienten aus Westerbork hierher. Ich sprach bei dieser Gelegenheit mit dem Gendarmen Postma,12 der dich jedoch nicht kannte, aber das kann bei so vielen Leuten natürlich auch kaum sein.

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Es ist aber unglaublich bestialisch und grauenhaft – all die Tausende von Menschen, die im Augenblick wegen ein paar Verrückten zugrunde gehen. Mein Zustand ist schließlich noch gut auszuhalten, auch wenn er alles andere als angenehm ist. Wir wollen optimistisch bleiben. Ich habe hier übrigens schon noch ein wenig Freiheit, kann Klavier spielen etc. Dr. Spanjaard,13 von dem du bestimmt gehört hast, ist sehr nett. Liebe Etty, ich hoffe, dass wir einander bald wiedersehen, in einer ge­ reinigten Atmosphäre. Der derzeitige Zustand scheint den Experten zufolge nicht mehr lange zu dauern. Eigentlich haben wir doch mit Spier, Glassner und den ganzen Mädchen noch einen sehr schönen Winter gehabt. Wenn ich daran denke, kann ich nicht begreifen, dass ich den Zustand damals schon so schlimm fand. Von diesen ganzen Leuten hörst du sicher nichts mehr? Dr. Waterman hat mir erzählt, dass die Transporte nach Polen höchst­ wahrscheinlich bald bis zum Frühling aufgeschoben werden sollen, das erfüllt einen dann wieder mit großer Hoffnung! Sorge du auf alle Fälle um Himmels willen dafür, dass du «außer Schussweite» bleibst. Wer weiß, vielleicht dauert das Ganze ja gar nicht mehr so lange, und nach dem Krieg ist das Leben vielleicht doppelt so schön und die Mühe wert. So, liebe Etty, ich muss leider Schluss machen. Dr. W. wird alles andere Wichtige schon berichten. Vielleicht höre ich ja auch noch mal was von dir. Meine Adresse ist: Apeldoornse Bos, Pavillon Stokvis. Apeldoorn. Jetzt muss ich also aufhören, mit ganz vielen herzlichen Grüßen und Küsschen von Mischa P. S. Ich soll dich von Frits Lobstein14 grüßen. Mien Kuyper hat mir geschrieben, du hättest sie angerufen. Danke dir! Das Allerbeste! Tschüüüüüüüss!!!! Mischa

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Jopie Vleeschhouwer an Etty Hillesum. Westerbork. Freitag, 26. Februar 1943. Westerbork 26 /2 /43. 2350 Hallo, Etty – gerade habe ich Maria eine kurze Nachricht geschrieben. Sie hat mir aus Wageningen ein herrliches Roggenbrötchen geschickt, dafür musste ich ihr doch schnell ganz besonders danken. Ich habe dich in den letzten Tagen ein bisschen vernachlässigt. Nach meinem langen Brief habe ich dir nicht mehr geschrieben, ich bin nicht dazu gekommen, ich habe in den letzten Tagen eine ziemlich «alberne» Laune. Vielleicht ist es der Frühling, der sich hier auch bemerkbar macht, heute hatten wir auch wieder einige prächtige sonnige Augenblicke. Alles sieht dann fröhlicher und hübscher aus. Aber wenn ich dir nicht geschrie­ ben habe, bedeutet das nicht, dass ich nicht an deiner Seite gewesen bin. Deinem lieben Gesichtchen über der Decke nicke ich jeden Morgen und jeden Abend freundlich zu. Ich mache eigentlich im Augenblick nicht so viel. Ein bisschen langweilige Arbeit, Kontrolle usw. Ansonsten lebe ich leider einfach ein bisschen in den Tag hinein. Spät ins Bett (Zensur) und spät aufstehen. Und dazwischen vergehen die Tage wie im Flug, ohne dass man es überhaupt merkt. Die Stimmung unter unseren Leuten ist bisher bestens, aber mit dem Beginn der 4. Woche, ohne irgendwelche Neuigkeiten zur Lage, macht sich langsam eine ziemlich nervöse Stimmung breit,15 die sich natürlich in Kritik an «der Leitung» äußert. Leitung! Die gibt es natürlich genauso viel oder so wenig wie früher. Aber man will einmal an etwas außerhalb seiner selbst einen Halt finden, und man will nicht wahrhaben, dass das ein ­Fehler ist. Ich hatte darüber gestern Abend noch ein Gespräch mit zwei weiblichen Kollegen in 37 k.16 Vor allem Ellen Waller17 führte das Wort und war sehr kritisch. Sie hat eigentlich keine angenehme Art. Hilde Cra­ mer begriff viel besser als sie, dass es nicht angeht, es anderen übel zu nehmen, dass man sich betrogen fühlt, weil man blindlings (entgegen den eigenen tiefsten Gefühlen) ein paar beruhigenden Worten eines wohl­ meinenden, aber dadurch wie ein sanfter Arzt sprechenden «Leiters» ver­ traut hat. Der ist inzwischen (das ist eigentlich eine komische Sache) selbst das Opfer dessen geworden,18 wovor er die anderen bewahren zu können glaubte! Ach, es war wirklich ein nützliches Gespräch dort gestern Abend

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in 37 k. Danach eine großartige Kabarettvorstellung in unserem großen Schlafsaal aus Anlass der Hochzeit von Jo Peper19 mit einer netten jungen Frau aus dem Lager besucht. Es wurde improvisiert, und einige haben sich als anständige Künstler entpuppt. Das Niveau war ziemlich gut, und du kennst die Entourage aus dem Publikum, 1, 2 oder 3 Etagen hoch um die «Künstler». Gerard Polak20 versuchte einige selbst geschriebene Liedchen vorzutragen; die Liedchen waren nett, der Vortrag war weniger gelungen. Trotzdem gehört das zu den besonderen Ereignissen, die mit nichts von dem, was wir früher vielleicht gesehen haben, verglichen werden können und durch die eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit zum Ausdruck kommt (richtiggehend in der Luft hängt), die manchmal (sonst) eindeutig zu sehr fehlt. Ach, Etty, ich habe schon manchmal große Sehnsucht nach zu Hause (zu dem Begriff zu Hause gehörst du auch!). Aber dann denkt man wieder, die paar dummen Wochen vergehen doch so schnell, dass es eigentlich eine Schande ist, von einer langen Zeit zu sprechen. Was sollen denn dann die anderen sagen? Ich hoffe, dich in einer Woche besuchen zu können. Osias habe ich schon ein paarmal gesprochen, er ist sehr zufrieden mit seiner Reise. Petzal sehe ich auch regelmäßig, und die Mahlers besuche ich hin und wieder. Da gibt es immer noch den offenen Tisch. Heute hat mein Sohn Geburtstag. Er wird elf. Für ihn ist es eine große Enttäuschung, dass ich nicht bei ihm sein kann,21 aber auch damit muss man fertigwerden. Ich habe dir, glaube ich, schon geschrieben, dass mein Bruder22 jetzt nicht mehr bei mir wohnt und dass die Omas nun anfragen, das ist auch wieder ein wenig beigelegt. Morgen bricht ein Kurier von hier auf, dem ich einen Auftrag für dich mitgegeben habe; ich hoffe, er führt ihn gut aus. Schreib mir doch mal etwas über Ies Spetter.23 Alle sagen hier, dass er sich scheiden lassen wird, und mich interessiert schon ein wenig, ob das stimmt. Ich habe dein Buch ausgelesen, habe aber sofort wieder von vorne an­ gefangen, und jetzt werde ich es erst gut lesen können und versuchen, es zu kapieren. Es ist ziemlich schwierig für mich. Seit deinem 11-seitigen Brief24 habe ich nichts mehr von dir gehört. Ich bin sehr neugierig, ob die Bilder noch irgendeinen neuen Gesichtspunkt ergeben haben und ob du jetzt ein wenig Fortschritte machst, was deinen Zustand angeht. (Nimm es mir nicht übel, dass ich darüber spreche, aber ich mache mir manchmal schon Sorgen um dich.)

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Es war heute wieder so herrlich sonnig, und der bewölkte Himmel über der Heide hinter dem Stacheldraht und an den Türmen sah genauso aus wie ein Gemälde. Könntest du das doch zusammen mit mir genießen. Heute Abend habe ich mal wieder Grammofonplatten aufgelegt. Alte Platten und kein besonders gutes Grammofon, aber trotzdem ist es schön, ein paar gute Dinge zu hören; was technisch fehlt, fügt man automatisch aus der Erinnerung hinzu, dann wird es doch zu einem wahren Genuss. Ich verlasse dich wieder und hoffe, bald einen Brief von dir zu erhalten. Ganz viele liebe Gedanken und gute Besserung, mein Schatz Tschüss, Jopie.

BRIEFE ÜBER ETTY HILLESUM

Briefe über Etty Hillesum

Jopie Vleeschhouwer an Han Wegerif und andere. Westerbork. Montag, 6. / Dienstag, 7. September 1943. 6–7 / 9 ’43. Mijnheer Wegerif, Hans, Maria, Tide und alle, die ich vielleicht nicht so gut kenne, es wird mir nicht leichtfallen, euch dies alles zu erzählen. Es ist alles so plötzlich, so unerwartet gekommen. Seltsam, immer noch unerwartet, ­immer noch plötzlich, obwohl wir doch alle schon lange bereit und fertig sind. So war es am Ende auch, sie war fertig und bereit. Und leider ist sie dann auch gegangen. Sie kam auch wirklich spät an diesem Montag, die Nachricht aus Ams­ terdam, dass Mischas Zurückstellung ungültig geworden war und dass er mit seinen Angehörigen am 7. September auf Transport geschickt werden sollte. Warum? Ja, das ist im Großen und Ganzen eine nicht zu beantwor­ tende Frage. Wir hofften und glaubten am Anfang, es würde schon nicht so kommen. Und dann würde es für sie doch sicher rückgängig gemacht werden können, umso mehr, als gerade heute erreicht worden war, dass die früheren J. R.-Mitglieder, 60 an der Zahl, vorläufig nicht würden ge­ hen müssen. Schon bald ließ sich absehen, dass für Mischa und die alten Herrschaften nicht viel zu erreichen sein würde und dass für Etty alle Mög­ lichkeiten offenblieben. Also konzentrierte sich unsere Aufmerksamkeit darauf, rasch Gepäck für drei Personen bereitzumachen. Ach, sie nahmen es alle ziemlich gut auf, man wusste doch schon so lange, dass dies einmal würde geschehen müssen, und in der kommenden Woche würden die Eltern, alle Eltern von Leuten mit roten Stempeln,1 ohne Ausnahme wegmüssen. Und Mischa

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war bereits entschlossen, freiwillig mit seinen Eltern zu gehen. Mit seinen Eltern, für die er bereit und fest entschlossen war, alle persönlichen Vor­ rechte aufzugeben. Und nun kam dies alles eben eine Woche früher, schon etwas abrupt, aber letztendlich war es nur eine Änderung des Tempos. Aber für Etty war es eine sehr unvorhergesehene Situation, da sie nicht mit ihren Eltern reisen und sich lieber frei vom Druck der Familienbande ­diesen neuen Erfahrungen überlassen wollte. Für sie war es im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlag vor den Kopf, der sie dann auch im wört­ lichen Sinne kurz zu Boden streckte. Innerhalb einer Stunde hatte sie sich jedoch wieder erholt und stellte sich mit bewundernswerter Schnelligkeit auf die neue Situation ein. Wir gingen zusammen in die Baracke 62 und hatten stundenlang alle Hände voll mit dem Aussuchen, Einpacken, Auftreiben und Sichten aller möglichen Kleidungsstücke und Esswaren zu tun. Ettys Vater zeigte seine Nervosität durch humoristische Bemerkungen, die Mischa immer wieder in Wut brachten, weil er fand, er fasse die Lage nicht ernst genug auf. Mischa konnte einfach nicht begreifen, warum die so sicher scheinende Zurückstellung nun plötzlich ungültig geworden war, und wollte mich ständig zu allerlei mehr oder weniger wichtigen «Bezie­ hungen» schicken. Er begriff nicht, dass man an einem Befehl aus Den Haag hier nichts ändern kann und dass Bemühungen in solchen Fällen fruchtlos bleiben müssen. Trotzdem war er ruhig und nahm die Sache vernünftig auf. Seine viele Musik hier zurücklassen zu müssen ging ihm jedoch sehr zu Herzen. Etwa vier Werke habe ich in seinen Rucksack ge­ stopft, und der Rest (auch das gerade eingetroffene Paket mit neuem Vor­ rat) füllt nun einen Koffer, der bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nach Amsterdam zurückgeschickt werden wird. Mutter H. war umtriebig wie immer, sorgte ganz ausgezeichnet für ­alles Nötige und legte eine bewundernswerte Ruhe an den Tag. Bei früheren Transportnächten war die gesamte Familie schon manch­ mal durch den ganzen Lärm und die Aufregung, die eine solche Trans­ portvorbereitung in einer großen Baracke mit sich bringt, die ganze Nacht wach gewesen. Nun schliefen sie alle ruhig, als Etty und ich um 3 Uhr wieder einmal nachschauten, ob man mit dem Packen weitermachen könnte. Wir haben darum erst einmal erneut nachgefragt, ob es eine Chance gäbe, dass Etty selbst zurückgestellt werden könnte. Zu unserem Erstaunen merkten wir erst da, dass die Chancen sehr schlecht standen. Ettys Freundinnen in ihrer Baracke haben in der Zeit, in der sie sich

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Briefe über Etty Hillesum

um ihre Eltern und ihren Bruder kümmerte, sorgfältig alles für sie ge­ packt, alles war bis in die kleinsten Details in Ordnung. Nachdem die Leitung d. J. R. erklärt hatte, durch sie könne nichts er­ reicht werden, wurde als letzte Chance ein Brief an den 1. Dienstleiter2 ge­ schrieben, mit dem Ersuchen, er möge intervenieren. Vielleicht kann dann am Zug noch etwas erreicht werden. Aber dann muss also alles zum Aufbruch bereitgemacht werden, und so gingen erst die Eltern und Mischa zum Zug. Und zum Schluss brachte ich einen gut gefüllten Rucksack, ein Reisekörbchen mit daran baumelndem Essnapf und Trinkbecher mit einer Schubkarre zum Zug. Und da betrat sie den Transportboulevard, den sie erst vor 14 Tagen auf die ihr eigene unver­ gleichliche Weise beschrieben hat.3 Fröhlich redend, lachend, mit einem netten Wort für jeden, der ihr über den Weg lief, voller sprühendem H ­ umor, vielleicht schon ein wenig wehmütigem Humor, aber wirklich unsere Etty, so wie ihr sie alle kennt. «Ich habe meine Tagebücher und meine Bibeln und meine russische Grammatik und Tolstoi bei mir, ich weiß gar nicht, was alles in meinem Gepäck ist.» Einer unserer Leiter kam noch kurz, um sich zu verabschieden und zu erklären, dass er alle Argu­ mente angebracht hatte, aber vergeblich. Etty dankte ihm «auf jeden Fall für das Anführen der Argumente». Und ob ich euch dann berichten würde, wie alles abgelaufen war und wie gut sie und ihre Familie aufge­ brochen waren. Und hier sitze ich nun, schon ein wenig traurig, aber dann auch wieder nicht wegen etwas, das verloren ist, denn eine Freundschaft wie ihre geht nun einmal nicht verloren, die ist da, und sie bleibt. Das schrieb ich auch noch auf ein kleines Stück Papier, das ich ihr ganz zum Schluss in die Hand drückte. Ich verliere sie aus den Augen und irre ein bisschen herum. Versuche, noch jemanden zu finden, der etwas ändern kann, aber alles misslingt. In Waggon Nr. 1 sehe ich Mutter, Vater H. und Mischa einsteigen. Etty lan­ det in Waggon Nr. 12, nachdem sie einen guten Bekannten in Waggon 14 aufgesucht hatte, der im letzten Moment noch herausgeholt wurde. Dann fährt der Zug ab, ein schriller Pfeifton, und die 1000 «Transport­ fähigen» setzen sich in Bewegung. Noch ein letzter Blick auf Mischa, der wild aus einem Spalt von Güterwaggon Nr. 1 winkt, und dann bei Nr. 12 ein fröhliches Tschüüüss von Etty und … weg sind sie. Weg ist sie. Da stehen wir wie beraubt, aber nicht mit leeren Händen. Wir werden einander bald wiedersehen.

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Es war ein schwerer Tag für viele. Für Kormann, für Mech. und für all diejenigen, die so lange ständig direkten Kontakt zu ihr hatten. Es ist doch nicht dasselbe, ob jemand greifbar in der Nähe oder sein Geist um einen herum ist. Das vorherrschende Gefühl ist doch das einer Leere. Aber wir machen weiter; während ich das hier schreibe, geht auch alles wieder weiter, und sie selbst geht auch weiter und weiter in den Osten, wo sie eigentlich so gern hinwollte. Sie war eigentlich auch doch ein bisschen froh, glaube ich, dass sie nun diese Erfahrungen machen würde, dass sie nun auch alles, alles erleben musste, was für uns bestimmt ist. Und wir sehen sie wieder, darüber sind wir (ihre besonderen Freunde hier) uns ­einig. Ich sprach nach der Abfahrt mit ihrer kleinen Russin4 und einigen ihrer anderen Protegés. Und allein schon die Art, wie sie auf ihre Abfahrt reagierten, sprach Bände über die Liebe und die Treue, die sie diesen Men­ schen geschenkt hat. Verzeiht mir, dass ich auf meine unzureichende Weise diesen Bericht geben muss. Euch, die ihr so verwöhnt seid mit besseren Berichten, die besser in Worte gefasst sind. Ich weiß, dass viele Fragen offenbleiben und vor allem die Frage, ob es nicht zu vermeiden gewesen wäre? Darauf kann ich eine positive Antwort geben: nein! Es hat offensichtlich so sein müssen. Ich werde versuchen, euch einige Bücher von Etty zu schicken, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Ihre Schreibmaschine hätte ich gern ­Maria geschickt, das hat sie mir in dieser Woche noch gesagt, dass sie das wollte. Aber ich weiß nicht, ob das möglich sein wird. Ab und zu werde ich eine Nachricht schicken. Beiliegend ein paar durch die Zensur geöffnete Briefe, die noch für Etty kamen. Schickt sie bitte an die Absender zurück. Ich wünsche euch allen Kraft. Wir kommen alle zurück, und Menschen wie Etty lavieren sich durch die schwierigsten Dinge hindurch. Meine ­Gedanken sind sehr oft bei euch. Jopie Vl.

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Briefe über Etty Hillesum

Maria Tuinzing an Christine van Nooten. Wahrscheinlich 9. September 1943. (Mitgeteilt durch R. W. Tuinzing in einem Brief an Christine van Nooten mit dem Datum 11. September 1943.) Wageningen, 11. September 1943. Sehr geehrte Mejuffrouw van Nooten. Auf Bitten meiner Tochter, Schwester M. E. Tuinzing in Amsterdam, schreibe ich im Folgenden einen Teil eines Briefes ab, den wir gestern von ihr bekommen haben. Hochachtungsvoll R. W. Tuinzing.5 Heute Morgen haben wir eine Briefkarte von Etty bekommen: «Singend ­haben wir das Lager verlassen  – die Güterwaggons sind in Ordnung.» Diese Briefkarte hat man bei Nieuweschans an den Gleisen6 gefunden. Et­ tys Freund Jopie Vl. (?)7 stand allein an der Ecke des Lagers und winkte ihr nach. Jetzt ist also auch Etty nach Polen aufgebrochen. Auch ihre Eltern und ihr Bruder sind mitgefahren, aber sie ist allein in einem Waggon mit Fremden, weil sie den Kummer ihrer Eltern nicht mit ansehen konnte. Die haben eine Abschiedskarte8 geschickt, dass sie ruhig aufgebrochen sind. Am Montag kam ein illegaler Brief von Etty mit der Bitte um warme Kleidung – am Dienstag ein Telegramm9 mit der Bitte um warme Kleidungsstücke, aber sie haben sie nicht mehr erreicht. Wir haben Montagnacht noch genäht und gepackt, Briefe in Taschen gesteckt. Jetzt bekommen sie andere Leute, auch die Blume, die ich dazugetan habe. Dieses Packen war sehr traurig, weil wir wussten: Das ist der letzte Schritt. Jetzt ist sie Dienstag unerwartet auf Trans­ port gegangen. Zum Glück haben andere ihr warme Kleidung gegeben. Wir haben von jemandem, einem Freund von Swiep, heute Morgen einen illega­ len Brief10 bekommen, dass Etty sehr abwesend war, nachdem sie die Neuig­ keiten gehört hatte, ihre Eltern und ihren Bruder versorgte und für sich selbst nur die Bibel und die russische Grammatik heraussuchte. Mijnheer11 und ich sind sehr traurig. Mijnheer hat heute Morgen viel von Etty aufge­ räumt, was nicht für andere bestimmt ist, hat mich heute Morgen nach der Post sofort angerufen. Aber wer weiß, vielleicht kommt sie ja zurück. Sie schreibt ihren letzten Satz: Wartet ihr auf mich? Ihr Vater schreibt einige Worte auf die Karte, die ansonsten von ihrer Mutter geschrieben wurde.

ÜBER OSIAS KORMANN Von Gerd Korman Über Osias Kormann

Mein Vater und ich gingen einmal zusammen über einen Markt in New York, als ich ihn plötzlich in der Ferne auftauchen sah: «Da ist er, Pappi! Cousin Shimen!» Von diesem Augenblick an gingen wir wie Schlafwandler mit starr nach vorn gerichtetem Blick geradewegs auf den großen Mann zu, der uns da entgegenkam. Die Geräusche, die Gerüche des Marktes ver­ schwanden. Ich sehe ihn wieder vor mir: den großen Mann, der die Arme um meinen viel kleineren Vater schlang und ihn hoch in die Luft hob, so­ dass ihn alle sehen konnten. «Moishe, Moishe», rief er immer wieder. Man sah, wie er in seinem Gedächtnis wühlte, um sich das Bild vom Gesicht meines Vaters von früher wieder in Erinnerung zu rufen. Das Gesicht von Moishe, einem Überlebenden der Konzentrationslager, dessen Familie Shi­ men vor Jahrzehnten zuletzt gesehen hatte – in Narol, einem kleinen Ort in Galizien. Dort war die antizionistische Bewegung «Belzer Chassidim» entstanden, in der unsere Familie eine so wichtige Position einnahm. Dieses Wiedersehen in New York ereignete sich im Jahr 1946, lange nach der Flucht meines Vaters in den Westen, über die neuen Grenzen, die die Sieger des Ersten Weltkrieges zwischen Polen und Deutschland festgelegt hatten. In der Zwischenzeit war aus Moishe Max O. Kormann geworden, ein traditioneller Jude aus der Weimarer Republik, der gegen die Auffassungen rebellierte, die in seinem Elternhaus geherrscht hatten. Er wurde aktiver Zionist und heiratete Rosa Laufer, eine junge Deutsche mit jüdischen Eltern, die schon um die Jahrhundertwende aus ebenjenem Galizien ins Rheinland gezogen waren. Als Jungvermählte blieben meine Eltern dem rabbinischen Judentum treu, wie auch viele andere zionistische Familien, die aus dem Osten in die Weimarer Republik gekommen waren. Im Jahr 1927 war die Verbindung noch durch einen liberalen Rabbiner geschlossen worden, in Anwesenheit unserer Freunde und Familie mütterlicherseits, die alle zu der örtlichen ostjüdischen Gemeinde von Eberfeld gehörten. Doch als meine Eltern

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Über Osias Kormann

nach Hamburg zogen, wo mein Vater seinen Beruf als Schuhhandels­ vertreter ausübte, schlossen sie sich der jüdischen Gemeinde von Joseph Carlebach an. In dieser neuen Umgebung entwickelte der frühere Rebell ein Interesse an Freud und befasste sich, wahrscheinlich aus Bewunderung für Carlebach, intensiv mit Maimonides. Als Hitler Reichskanzler wurde, hatten meine Eltern zwei Söhne. Diese erhielten eine Erziehung im Geist des modernen traditionellen Judentums und des religiösen Zionismus. Obwohl mein Vater das Jiddische und Hebräische bevorzugte, wurde zu Hause Deutsch gesprochen. Die Söhne nannten ihren Vater «Pappi». Alle anderen kannten ihn als Max. Das bedeutete: alle anderen außer den offiziellen Behörden, die ­weiterhin Kormanns mittleren Namen gebrauchten. Von dem Moment an nämlich, als er illegal die polnische Grenze überquert hatte, lautete sein Name in den Papieren Osias Kormann. Der ursprüngliche Osias war ein älterer, im Krieg umgekommener Bruder, dessen Namen Max jedoch übernommen hatte. Seine alten Stadtgenossen nannten ihn also Moishe, seine Freunde und seine Familie Max, seine Kinder Pappi und die polni­ schen, deutschen und niederländischen Behörden Osias  – sie benutzten damit einen Namen, der für diejenigen, die ihn liebten und mit denen er lebte und arbeitete, eigentlich keine Bedeutung hatte. Die Verwendung dieses Namens war der Hamburger Polizei vorbehalten, die Osias Kor­ mann mit seiner Frau und seinen Kindern in den frühen Morgenstunden des 28. Oktober 1938 mit dem Befehl weckte, Deutschland innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Und all den anderen Autoritäten, zum Beispiel den Deutschen, die seine Deportation bestätigten, zum Bei­ spiel den Beamten, die die Zustimmung zu einem einmonatigen Urlaub in Hamburg erteilten, den Beamten der Hapag-Linie, die ihn getrennt von seiner Familie auf die St. Louis nach Kuba verfrachteten und ihn sich wieder für die Rückreise nach Europa einschiffen ließen, als sich die ­Behörden auf der karibischen Insel weigerten, Juden die Einreise zu ge­ statten. Osias war auch der Name, unter dem ihn die Niederländer in Rotter­ dam vom Schiff holten und ihn als Flüchtling für die Internierung akzep­ tierten. Es war auch Osias Kormann, der 1939 durch die offizielle Leitung des Lagers Westerbork als einer der ersten Bewohner aufgenommen wurde und dem man eine einfache Funktion in diesem neuartigen Gefängnis gab. Als Osias Kormann erlebte er auch mit, wie die Deutschen 1942 das Lager übernahmen. Im selben Jahr besuchte Etty Hillesum das Lager auf­

Über Osias Kormann

grund ihrer Funktion beim Amsterdamer Judenrat. Etty Hillesum fand es angemessen, ihn ebenfalls Osias zu nennen. Er akzeptierte das und ermu­ tigte sie vielleicht sogar dazu, als Zuneigungsbekundung. So bekam der Name Osias, der bis dahin nur in offiziellen Dokumenten vorgekommen war, von dieser Zeit an einen besonderen Klang. Während des Holocaust entstand da eine Freundschaft zwischen Etty Hillesum und meinem Vater, der, wie es schien, für immer von Verbindungen und Verpflichtungen ab­ geschnitten war, die ihn als verheirateten Mann mit einer ihm ergebenen Frau und Kindern verbanden. Diese warteten in den Vereinigten Staaten, damals auch bereits in den Krieg involviert, auf seine Heimkehr. Vor ihrer letzten Rückreise nach Westerbork im Jahr 1943 kann Etty Hillesum Osias Kormann nicht oft getroffen haben, denn nach ihrem ersten Aufenthalt kehrte sie nach Amsterdam zurück. Es ist fast sicher, dass mein Vater, der das Lager ab und zu verlassen durfte, sie dort mindestens einmal für ein paar Stunden besucht hat, während sie sich in der Gesellschaft von Freun­ den befand. Anstelle von Treffen entwickelte sich im Sommer 1942 bis zum Frühjahr 1943 ein Briefwechsel, der seine Wurzeln in diesem einen Augenblick fand, in dem zwei Seelen einander zwischen Baracken und Stacheldraht gefunden hatten.

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ANHANG

DANK Dank

Folgende schweizerische Stiftungen, kirchliche Gremien und Privatperso­ nen haben die Veröffentlichung dieser deutschen Ausgabe von Etty Hille­ sums Gesamtwerk finanziell unterstützt: Georges und Jenny Bloch Stiftung, Kilchberg; Dr. h.c. Emile DreyfusStiftung, Basel; Stiftung zur Förderung der Psychologie von C. G. Jung, Zürich; Lang-Stiftung, Zürich; Römisch-katholische Landeskirche des Kantons Basel-Land, Liestal; Synodalrat der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Bern; Römischkatholische Landeskirche des Kantons Luzern, Luzern; Bistum St. Gallen, St.  Gallen; Kirchenrat der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St.  Gallen, St.  Gallen; Katholische Kirche im Kanton Zürich, Zürich; ­Verband der römisch-katholischen Kirchgemeinden der Stadt Zürich, ­Zürich; Kirchenrat der Evangelisch-reformierten Landeskirche Zürich, Zürich; Zürcher Pfarrverein, Zürich; Marc Bloch, La Chaux-de-Fonds; Pilar und Roland Gröbli Ramirez, Dachsen; Daniel Kosch, Zürich; Ariane I. Speidel-Bodmer, Hombrechti­ kon; sowie zwei Personen aus Zürich, die anonym bleiben wollen. Allen sei hier ganz herzlich gedankt für ihre großzügige Beteiligung am Erscheinen dieses wichtigen Werks. Pierre Bühler, Neuchâtel / Zürich

NACHWORT DER ÜBERSETZERINNEN Nachwort der Übersetzerinnen

«Ich möchte lange leben, um später alles noch einmal erklären zu können, und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird es jemand anderes tun, dann wird jemand anderes mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine ­unterbrochen wurde, und deshalb muss ich es so gut, so vollkommen und so überzeugt wie möglich bis zum letzten Atemzug weiterleben, damit derjenige, der nach mir kommt, nicht wieder ganz von vorne anfangen muss und es nicht mehr so schwer hat.» Etty Hillesum war es nicht vergönnt, später ein­ mal alles erklären zu können, und dennoch wurde sie zu einer Chronistin, wie sie es sich gewünscht hatte. Durch die vorliegende erste Gesamtüber­ setzung ihrer Tagebücher und Briefe wird ihre Stimme im deutschsprachi­ gen Raum hoffentlich noch deutlicher vernehmbar werden. Die Über­ setzung der Tagebücher hat Christina Siever vorgenommen, diejenige der Briefe Simone Schroth. Ein intensiver und produktiver Austausch war schon deswegen notwendig, weil Etty Hillesum in ihren Briefen immer wieder Passagen aus den Tagebüchern aufgreift. Die Übersetzung basiert auf der 7. Auflage der niederländischen Ge­ samtausgabe, die 2021 mit dem neuen Titel Het verzameld werk. 1941–1943 erschienen ist (1. – 6. Auflage Het werk. 1941–1943). Bei der Übertragung der Texte aus den Jahren 1941–1943 stellte der umfangreiche Anmerkungs­ apparat der niederländischen Gesamtausgabe eine unverzichtbare Hilfe dar, um Zitate oder Selbstzitate zu identifizieren und sachliche Hinter­ gründe zu klären. Erklärungen, die über die niederländische Ausgabe hin­ ausgehen, weil sich seit deren Erscheinen neue Erkenntnisse ergeben h ­ aben oder weil für eine deutschsprachige Leserschaft weitergehende Erklärungen notwendig waren (etwa zu dem Wort «Vorderperron»), sind mit «Anmer­ kung der Übersetzerin» gekennzeichnet. Hilfreich waren bei der Über­ setzung außerdem die 2002 veröffentlichte englische Übersetzung von ­Arnold J. Pomerans und die 2008 publizierte französische Übersetzung von Philippe Noble. Einige Passagen des Tagebuchs sowie mehrere Briefe wurden von Etty

Nachwort der Übersetzerinnen

Hillesum auf Deutsch geschrieben, im Buch sind diese Textstellen durch serifenlose Schrift gekennzeichnet. Bei den deutschsprachigen Passagen in den ­Tagebüchern handelt es sich teils um Zitate, die von Etty Hillesum ab­geschrieben wurden, teils zitiert sie auch (oft nicht ganz wörtlich) Aus­ schnitte aus deutschsprachigen Gesprächen. In diesen Passagen wurde Etty Hillesums Schreibweise unverändert übernommen. Das gilt auch für die Betonungszeichen, die im Niederländischen öfter verwendet werden und die Etty Hillesum ins Deutsche übernommen hat (etwa auf Seite 409 «Im Grunde sind solche Menschen dòch verdorben»). Auch im Niederländischen sind sprachliche Eigenheiten der Autorin auffällig; die Übersetzerinnen haben versucht, die Besonderheiten der For­ mulierungen ins Deutsche zu übertragen und stilistisch nicht zu glätten. Zu diesen Charakteristika gehören eine sehr bildhafte Sprache mit Personi­ fikationen (bei Etty Hillesum gibt es beispielsweise fröstelnde Schneeglöck­ chen, siehe S. 415) und Wortschöpfungen wie «doorgangstehuizen», das mit «Durchgangsheime» übersetzt wurde (S. 447). Wahrscheinlich hatte Etty Hillesum hierbei Wörter wie «Durchgangslager» oder «Durchgangs­ baracken» im Kopf, zumindest «Durchgangsbaracken» erwähnt sie einmal in ihrem Tagebuch (S. 660) und «Durchgangslager» einige Male in ihren Briefen. Etty Hillesum zitiert an vielen Stellen direkt und indirekt aus der Bibel, wobei sie die in den Niederlanden gängige reformierte «Statenvertaling» verwendet hat, die erste vollständige Bibelübersetzung ins Niederländische aus den Originalsprachen aus dem 17. Jahrhundert. Für die deutsche Über­ setzung haben wir mit der ebenfalls reformierten Zürcher Bibel (2007) ge­ arbeitet, die auf Huldrych Zwingli zurückgeht. Wer sich eingehender mit Etty Hillesum beschäftigen möchte, kann auf umfangreiche Literatur zu ihrer Person und ihren Werken zurück­ greifen. Eine Bibliografie zur internationalen Etty-Hillesum-Forschung findet sich in der niederländischen Gesamtausgabe sowie auf der Website der Cahiers Etty Hillesum (www.cahiersettyhillesum.org). Eine so umfangreiche Übersetzung wie die vorliegende ist nicht ohne die Unterstützung vieler Personen und Institutionen möglich. Wir danken Ulrich Nolte und Friederike Mayer-Lindenberg vom Verlag C.H.Beck für die geduldige und sorgfältige Begleitung im Lektorat sowie der Nieder­ ländischen Stiftung für Literatur für Ermutigung und Hilfe auch über die fi ­ nanzielle Unterstützung hinaus.

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Nachwort der Übersetzerinnen

Pierre Bühler danke ich, Christina Siever, für das Engagement, das ­Gesamtwerk ins Deutsche zu übersetzen, und sein Vertrauen und seine Geduld, die er mir als Übersetzerin entgegengebracht hat. Mir bleiben viele spannende Gespräche, die wir in Zürich zu unzähligen Details von Etty Hillesums Texten geführt haben, in guter Erinnerung. Mein Dank gilt auch dem Deutschen Übersetzerfonds, der meine Arbeit an der Über­ setzung mit einem großzügigen Arbeitsstipendium unterstützte. Das Ex­ pertisecentrum Literair Vertalen hat es mir ermöglicht, dass mich gegen Ende des Übersetzungsprojekts Christiane Kuby als Mentorin begleiten konnte. Wir führten zahlreiche hochinteressante Diskussionen zu Über­ setzungsdetails und darüber hinaus, herzlichen Dank dafür! Last but not least danke ich von Herzen meiner Freundin Marja Clement, die mit mir unendlich viele Textstellen diskutiert und so entscheidend zur Überset­ zung beigetragen hat. Mein Dank gilt schließlich auch meiner Familie, ihre Unterstützung ermöglichte mir die Arbeit an der Übersetzung: Jonas, Julia, Felix, Torsten, Helen und Ernst. Wettingen (Schweiz) und Scorton (Großbritannien), im Juni 2022 Chris­tina Siever und Simone Schroth

ANMERKUNGEN

Anmerkungen

Eine umfangreiche Bibliografie zu Etty Hillesum findet sich auf der Website der Cahiers Etty Hillesum: www.cahiersettyhillesum.org Einleitung 1 Anmerkung der Übersetzerin: Was die Vornamensgebung betrifft, so spielte das sogenannte vernoemen («benennen nach») bis in die Sechzigerjahre in den Niederlanden eine wichtige Rolle. Dies bedeutet, dass den Kindern meist die Namen ihrer Großeltern gegeben wurden. Zugleich sei erwähnt, dass es in der traditionellen Namensgebung nur wenig Überschnei­ dung zwischen dem offiziellen Namen (z. B. Esther, Louis oder Rebecca) und dem Ruf­ namen (z. B. Etty, Levie oder Riva) gab. Die Rufnamen wurden in Geburtsanzeigen neben dem offiziellen Namen ebenfalls genannt. 2 Anmerkung der Übersetzerin: Ortsnamen wie Straßennamen wurden in der niederländi­ schen Originalschreibung belassen. Niederländisch laan bezeichnet eine Allee, plein einen Platz und straat eine Straße. 3 Anmerkung der Übersetzerin: Diese Benotung markiert ein Bestehen mit Auszeichnung und entspricht dem deutschen summa cum laude. Heft 1 1 Der deutsche handlinienkundige Julius Philipp Spier (Frankfurt am Main 1887–Amster­ dam 1942), den Etty Hillesum in ihrem Tagebuch S. nennt. Spier konnte sich schon in sehr jungem Alter aus einer erfolgreichen Geschäftskarriere zurückziehen, um sich vollkommen der Chirologie, d. h. der Handlesekunst, zu widmen. Er absolvierte bei dem bekannten Psychiater C. G. Jung eine Ausbildung zum Therapeuten und eröffnete um 1930 herum in Berlin eine gut besuchte Praxis für Psycho-Chirologie. Nach seiner Emigration im Jahr 1939 eröffnete er eine Praxis in Amsterdam und versammelte – genauso, wie er das in Berlin gemacht hatte – einen Kreis Schülerinnen und Schüler um sich herum. Am 3. Februar 1941 kam Etty Hillesum durch Vermittlung von Bernard Meylink als «Untersuchungsobjekt» zu Spier, d. h., ihre Hände wurden während Spiers Kurs untersucht. Sie war sofort von Spiers Persönlichkeit beeindruckt und entschied sich, bei ihm in die Therapie zu gehen. Er ver­ ordnete ihr dann bestimmte Leibesübungen (‹Übungen›), mit denen Etty Hillesum fortan den Tag beginnen sollte. Spier war nämlich ein Anhänger des gesunden und natürlichen Lebens. Auch hat Spier Etty Hillesum wahrscheinlich geraten, mit dem Schreiben eines Tagebuchs zu beginnen. 2 Ein junger Jude, mit dem Etty Hillesum vor dem Krieg befreundet war. Nachname oder weitere Informationen sind nicht bekannt.

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Anmerkungen 3 Ein Ausdruck, der an eine Aussage von Spier angelehnt ist, die auch in seinem Artikel «Hände sprechen» in der kulturwissenschaftlichen Monatsschrift Querschnitt zu finden ist, Berlin (1931), S. 687. Dort schreibt er: «Das Gesicht eines Menschen verändert ja in Trauer, Freude, Krankheit oder Gesundheit auch seine Züge, ohne daß wir erklären ­können, wo­ durch die Kummerfalten erscheinen und verschwinden, wodurch von einer Sekunde zur anderen der Blick trüb, verhängt oder klar und hell wird. Die Hand des Menschen ist sein zweites ‹Gesicht›. Bestimmte Grundzüge stehen fest – aber erst Schicksal und Erlebnis des Menschen graben die individuelle Zeichnung ein.» Spier zählte es zu seiner Aufgabe als Chirologe, festzustellen, welche Veranlagung der Persönlichkeit zugrunde liegt und inwie­ weit diese durch die Umwelt, Erziehung und andere bewusste und unbewusste Einflüsse in ihrer Entfaltung gehemmt oder auch stimuliert wird. Spier entdeckte, dass er in der linken Hand den Charakter und die Persönlichkeit des «Objekts» lesen konnte, in der rechten Hand, der sogenannten «Elternhand», las er den Einfluss der Eltern. Zugleich bemerkte er, dass die linke Hand sich im Gegensatz zur rechten Hand im Laufe der Zeit stark verändert. Spier war 1904 durch eine Lesung eines Arztes mit der Chirologie in Kontakt gekommen. Dieser Arzt nutzte die Hand als diagnostisches Material für die Behandlung von Nerven­ kranken. Nach dieser Lesung begann Spier mit der Entwicklung einer eigenen Methode und eines eigenen Systems. 4 Adriana Joanna Holm (Zeist 1910–Utrecht 1970) war Mitglied der Evangelischen BrüderUnität. Sie begegnete Spier im Oktober 1939 und war eine seiner ersten Freundinnen in den Niederlanden. Sie fungierte als eine Art Sekretärin Spiers, bis Etty Hillesum sie mehr oder weniger aus dieser Position verdrängte. In den Kriegsjahren machte Adri Holm in Amsterdam eine Ausbildung in Handarbeiten, wobei das Weben sie besonders interes­ sierte. Sie wohnte in einem Zimmer in der Lassusstraat. Adri Holm gehörte während des Kriegs zum Kern des ‹Spierclubs›, dem Kreis um Julius Spier, und war eine seiner hinge­ bungsvollsten Schülerinnen. Nach dem Krieg wurde sie Anthroposophin, praktizierte aber gleichzeitig auch die Chirologie weiter. In einem Gedicht, das Freundinnen von Spier an­ lässlich seines Geburtstags im Jahr 1940 schrieben, findet sich folgende Strophe, die sich auf Adri Holm bezieht: «Attribut no 2  / kam in October herbei  / Sie war bis dahin ein verkrampftes ­Wesen / und wurde in Kurzem von Dir genesen / Nun ‹steht sie zu sich›, hat Kräfte die Fülle / und eine geheilte, geschmeidige Hülle!» Die letzte Zeile bezieht sich

auf den Umstand, dass Spier Holms chronisches Ekzem (temporär) geheilt hatte. ‹Attribut› bedeutet: Schülerin von Spier. 5 Nachdem sich Spier im Jahr 1929 vollkommen auf die Chirologie verlegt hatte, hielt er zahlreiche Lesungen sowohl in der Schweiz und in Deutschland als auch in den Niederlan­ den. Gleichzeitig erteilte er Kurse und machte Vorführungen in Kliniken und psychiatri­ schen Einrichtungen wie der berühmten Burghölzli-Klinik in Zürich, da C. G. Jung von Spiers Fähigkeiten beeindruckt war. In Amsterdam hielt er Lesungen unter anderem in der damaligen Musikhochschule (Muzieklyceum) und bei seiner Schwester Alice Julie KrijnSpier (Frankfurt am Main 1892–Auschwitz 1942) zu Hause. In seinen Lesungen gab Spier einen historischen Überblick über die Chirologie, sprach über die Beziehungen zwischen der Psychologie und der Chirologie und erläuterte die Zielsetzung und den Nutzen seiner Lehre. Dias von Handabdrücken illustrierten seine Erläuterungen in Bezug auf die Bedeu­ tung der Form, der Position, der Finger, der Handlinien und weiterer Merkmale der Hand. Im Laufe der Jahre hatte Spier eine Sammlung von Tausenden Handabdrücken angelegt, darunter auch welche von Prominenten wie Einstein, Jung und Rodin, aber auch von Geis­ teskranken und Kriminellen. 6 Julius Spier genoss in Berlin einen gewissen Schutz durch hohe Nazifunktionäre, die ­Patienten von ihm waren und ihn dort behalten wollten. Trotzdem fühlte Spier sich ge­ zwungen, ins Exil zu gehen, seine Emigrationsgesuche für England und die Vereinigten

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Staaten wurden aber abgelehnt. 1939 erhielt er jedoch die Erlaubnis, in die Niederlande zu emigrieren. Dafür musste er aufgrund seines nicht unbeträchtlichen Vermögens den deut­ schen Behörden 50 000 Reichsmark bezahlen. Weil er Deutschland auf legalem Weg verließ, war es Spier möglich, viele seiner persönlichen Besitztümer mitzunehmen. Er brach unmit­ telbar auf. Im Januar 1939 kam Julius Spier in Amsterdam an, wo er die ersten Monate bei seiner Schwester wohnte. Im Archiv des Komitees für Jüdische Flüchtlinge befindet sich ein in Englisch abgefasstes Dokument, in dem steht, dass Spier 1937 nach Amsterdam ins Exil gegangen sei und sich bei dem Komitee mit der Beschwerde gemeldet habe, dass sein Part­ ner an der Börse in Deutschland ihn erpresst habe, indem er ihm damit gedroht habe, er würde ihn bei der Polizei anzeigen. Spier, der bereits in den Zwanziger- und Dreißigerjahren regelmäßig in die Niederlande kam, hat offenbar 1937 schon über das Komitee für Jüdische Flüchtlinge versucht, in die Niederlande auszuwandern. Seinem Gesuch, das übrigens auf einer fiktiven Klage wegen Erpressung beruhte, wurde damals nicht stattgegeben. Liesl Levie-Wolfsky (Berlin 1910–Galed 1997). Etty Hillesum hat offenbar ihr Alter falsch eingeschätzt. Liesl war damals schon 31 und bereits zehn Jahre mit Werner Levie (Berlin 1903–Tröbitz 1945) verheiratet. Sie hatte zwei Kinder, Renate (Berlin 1932) und Mirjam (Berlin 1937). Werner Levie wurde in Berlin von seiner russischen Mutter aufgezogen. Sein Vater war Niederländer, emigrierte jedoch 1905 in die Vereinigten Staaten. Werner war folg­ lich auch Niederländer, und durch ihre Heirat im Jahr 1931 erhielt Liesl ebenfalls die nieder­ ländische Staatsangehörigkeit. Dies hatte zur Folge, dass Liesl, bevor sie 1939 nach Amster­ dam emigrierte, in Berlin relative Bewegungsfreiheit hatte, und so konnte sie regelmäßig für jüdische Freunde und Bekannte Geld und Kostbarkeiten ins Ausland schmuggeln, um diese in Sicherheit zu bringen. Spier hatte für seine Behandlungen keinen fixen Tarif und machte sein Honorar meistens von den finanziellen Möglichkeiten seiner Patienten abhängig. Er bot jedoch keine kosten­ losen Beratungen oder Behandlungen an, denn er fand es psychologisch richtig, dass der Patient für seine Therapie (im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten) bezahlte. Etty Hillesum verwendet hier das aus dem Deutschen ins Niederländische übernommene Wort unheimisch. Im modernen Deutsch wird der Ausdruck für «nicht heimisch» nicht mehr verwendet. Im Niederländischen hat das Wort die Bedeutung von «unheimlich». Anmerkung der Übersetzerin: Unter Backfisch verstand man früher einen weiblichen Teen­ ager. Der nicht wörtlich zitierte Vers stammt aus dem Lied «Honestum petimus usque» des nie­ derländischen Dichters Albert Verwey (1865–1937), der das Lied «für das Jubiläumskonzert am 28. Juni 1937 der Amsterdamer Studentenverbindung» schrieb. H. Bading komponierte die Musik. Das Lied ist – als Teil der Rubrik ‹Aus den letzten Jahren, verstreut erschienen und hinterlassen› – zu finden in Albert Verwey, Oorspronkelijk Dichtwerk («Originales lyri­ sches Gesamtwerk»), Zweiter Teil: 1914–1937, Amsterdam / Santpoort, Em. Querido-Verlag vormals C. A. Mees, 1938, S. 567. Die entsprechende Passage lautet übersetzt: «Leidest du denn nicht? Die Welt ist entartet. / Sie rollt nicht mehr melodisch aus Gottes Hand. / Reine Völker wurden zu Horden. / Der menschliche Verstand verwandelte sich in Wahnsinn.» Im Studienjahr 1940 /41 hielt Prof. Dr. B. Becker am Dienstagmorgen von 11.00–12.00 Uhr die Vorlesung «Russische Sprache und Übersetzungsübungen». Etty Hillesum hat diese Vor­ lesung besucht. Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828–1910), russischer Schriftsteller. Von seinen Werken erwähnt Etty Hillesum Krieg und Frieden, Kindheit und Volkserzählungen. In Krieg und Frie­ den (1863–1868) stellt Tolstoi die Geschichte Russlands von 1805 bis 1812 dar, bei der die In­ vasion Napoleons im Mittelpunkt steht. Eine Notiz von Etty Hillesum vom 23. März 1941 («doch lieber mit diesem Essay über ‹Krieg und Frieden›»; siehe S. 70) weist darauf hin, dass sie sich in dieser Zeit mit diesem Roman beschäftigte.

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Anmerkungen 14 Keine Informationen verfügbar. 15 Keine Informationen verfügbar. 16 Wiep(kje) Poelstra (Menaldumadeel 1907–Amstelveen 1983) war mit Han Wegerif befreun­ det. Sie arbeitete beim Kreisarbeitsamt als Berufsberaterin. 17 Hendrik Johannes Wegerif (Utrecht 1879–Haarlem 1946). Im März 1937 zog Etty Hillesum in das Haus des Witwers Han Wegerif in der Gabriël Metsustraat 6 in Amsterdam. Etty Hille­ sum wurde dort die «femme d’honneur», was auch das Erledigen einiger Haushalts­arbeiten beinhaltete, etwas, für das Etty Hillesum nicht besonders geeignet war. Im Gegenzug erhielt sie freie Kost und Logis und Han Wegerif gab Etty Hillesum zudem regelmäßig Taschengeld. Ihre berufliche Beziehung zu ‹Pa Han› entwickelte sich zu einem Liebesverhältnis. Etty Hille­ sum blieb hier bis zu ihrem endgültigen Aufbruch nach Westerbork wohnen. Ihr Bruder Jaap Hillesum wohnte von 1936 bis 1937 ebenfalls bei Han Wegerif. Wegerif war Wirtschaftsprüfer und hatte sein eigenes Büro; er war verheiratet mit seiner Cousine Willemina Johanna Wege­ rif (Amersfoort 1875–Amersfoort 1936). Sie hatten vier Kinder: Ella (Amsterdam 1905– Heemstede 1980), Willem Jan (Amsterdam 1907–Amerongen 1986), Heleen Willemina (Ams­ terdam 1913) und Hendrik Johannes (Hans) (Amsterdam 1919–Haarlem 1983). 18 Liesl Levie. 19 Michail Jurjewitsch Lermontow (1814–1841), russischer Dichter und Schriftsteller. Von sei­ nen Werken erwähnt Etty Hillesum Ein Held unserer Zeit und Der Dämon. 20 Der Vorlesungsstoff von Prof. Dr. B. Becker, bei dem Etty Hillesum an der Universität von Amsterdam Russisch studierte. Becker hielt seine Vorlesungen in russischer Sprache, die für Nebenfachstudierende vorgesehen waren, auf drei verschiedenen Niveaus: Anfänger, ­Geübte, Fortgeschrittene. Etty Hillesum besuchte in der Zeit, zu der sie ihre Tagebücher führte, die Vorlesung in der Gruppe der Fortgeschrittenen. Nach russischem Brauchtum sprach Becker die Studierenden in der Vorlesung mit ihrem Vornamen und dem Patronymi­ kum in der russischen Form an. Folglich hieß Etty Hillesum: Esfira Ljoedwigowna. Der Kontakt der Nebenfachstudierenden untereinander blieb oberflächlich. Die Russisch-Stu­ dierenden, mit denen Etty Hillesum außerhalb der Vorlesungen Kontakt hatte und die sie in ihren Tagebüchern erwähnt, sind denn auch keine Nebenfachstudierenden von Becker, sondern Hauptfachstudierende, die sie in Leiden in der Vorlesung von Prof. Dr. N. van Wijk kennengelernt hatte und von denen einige nach van Wijks Tod das Studium in Ams­ terdam fortsetzten. Kommilitonen von Etty Hillesum beschreiben die Atmosphäre während der Vorlesung als kühl und distanziert. In der Gruppe fiel Etty Hillesum durch ihr unge­ zwungenes und fröhliches Auftreten auf. 21 Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809–1852), russischer Schriftsteller. Etty Hillesum bezieht sich hier auf den letzten Satz von «Die Geschichte vom großen Krakeel zwischen Iwan Iwa­ nowitsch und Iwan Nikiforowitsch» aus dem Band Mirgorod, Teil II (1835), das einzige Werk von Gogol, das Etty Hillesum erwähnt. 22 Russisch: Traurig ist es auf dieser Welt, meine Herren. 23 Alfred Adler (1870–1937), Wiener Psychiater; anfänglich ein Schüler von Freud, im Jahr 1911 kam es jedoch zum Bruch. Er entwickelte eine eigene Richtung, die sogenannte «Indivi­ dualpsychologie». Der neurotische Mensch ist seiner Ansicht nach durch seine «Ich-Zentrie­ rung» gekennzeichnet, wohingegen der normale Mensch sich gerade auf die Gruppe kon­ zentriert und sein Glück in der Gemeinschaft mit anderen findet. 24 Zitat aus A. Adler, Levensproblemen. Voordrachten en discussies, vertaling van het manuscript dat geen titel draagt door P. H. Ronge («Lebensprobleme. Vorträge und Diskussionen», Übersetzung des Manuskripts, das keinen Titel hat, von P. H. Ronge), Utrecht, Erven J. Bij­ leveld, 1937, S. 18. 25 Das Altkirchenslawische oder Altbulgarische  – von Etty Hillesum auch Altslawisch ge­ nannt – ist die älteste literarische Schriftsprache der Slawen. Vor 1945 konnte man Russisch

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in Amsterdam nicht als Hauptfach studieren; Professor Becker verwies darum Studierende für Themen wie das Altkirchenslawische an seinen Kollegen Nikolaas van Wijk in Leiden. Etty Hillesum war eine davon. Etty Hillesum konnte ab dem 27. November 1940, dem Tag, an dem die Universität Leiden geschlossen wurde, keine Vorlesungen mehr in Altkirchenslawisch besuchen. Die Studieren­ den konnten in diesen Monaten aber trotzdem van Wijk um Unterstützung bitten. Nikolaas van Wijk (Delden 1880–Leiden 1941), Niederlandist und Slawist. Begründer des Studiums der Balto-Slawistik in den Niederlanden. Van Wijk hatte von 1913 bis zu seinem Tod den Lehrstuhl Balto-Slawistik in Leiden inne – bis 1945 der einzige Lehrstuhl für dieses Fach in den Niederlanden. Van Wijk war ein Gelehrter von internationalem Renommee und pflegte viele Kontakte zu Slawisten in Ost und West. Es ist ihm zu verdanken, dass die Slawistik in Leiden nicht von den wichtigsten Zentren dieses Fachgebiets in Europa isoliert wurde. Die Seminare von van Wijk wurden von einer kleinen Gruppe Hauptfachstudieren­ den besucht. Er hielt diese Seminare am liebsten zu Hause, wo seine Haushälterin nachmit­ tags den dampfenden Samowar auf einem großen Tablett hereinbrachte. Seine Seminare in russischer Literatur und Phonologie zogen auch Studierende aus anderen Studienrichtun­ gen an. Seine große soziale Verbundenheit mit der slawischen Welt war nicht nur auf sein breites wissenschaftliches Interesse beschränkt, sondern spiegelt sich in seinem ganzen ­Leben und Schaffen. Die vielen Artikel in Zeitschriften und Zeitungen, seine Geïllustreerde geschiedenis der Russische letterkunde («Illustrierte Geschichte der russischen Literatur»; 1926) sind unter anderem Beleg für seine Anstrengungen, die niederländischen Leser auf das ­Leben und die Kultur der slawischen Völker aufmerksam zu machen. Eine Publikation aus dem Jahr 1927 von Sigmund Freud (1856–1939), dem Begründer der Psychoanalyse. Es ist auffällig, dass dies das einzige Werk von Freud ist, das Etty Hillesum zitiert. Sie war jedoch auch mit den Werken von Freuds Schülern vertraut: Alfred Adler, Lou Andreas-Salomé, C. G. Jung, Oskar Pfister und Wilhelm Stekel. Zitat aus S. Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), neu aufgelegt in Freud, Gesammelte Werke XIV, London, Imago Publishing Co. Ltd, 1948, S. 355. Dieser Ausdruck bezieht sich auf das Eissportvereingelände hinter dem Rijksmuseum Ams­ terdam. Dem Amsterdamer Eissportverein wurde 1881 ein Teil des Museumpleins zur Ver­ fügung gestellt. Das 1905 eröffnete Eissportvereinsgebäude wurde 1950 abgerissen. Wilhelm Stekel (1868–1940), österreichischer Psychoanalytiker; er erlangte mit seinem Buch Nervöse Angstzustände (1908) internationale Bekanntheit. 1925 erschien davon eine nieder­ ländische Übersetzung. Auch in den Dreißigerjahren stand Stekels Werk in den Niederlan­ den noch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, unter anderem aufgrund der nieder­ ländischen Übersetzung des Buches Die Erziehung der Eltern (1936) von J. H. Schouten. Clara von Mesdag (Haren 1906–?) lernte Etty Hillesum ungefähr 1938 in einem Russisch­ kurs kennen, den Etty Hillesum ursprünglich einer Gruppe von dreißig Personen in ­einem Gebäude am Frederiksplein erteilt hatte. Etty Hillesum war eine schüchterne Do­ zentin, die in ihrem Unterrichtsmaterial Gedichte von bedeutenden russischen Autoren wie Puschkin verarbeitete. Clara van Mesdag beschrieb Etty Hillesum als eine liebe, ange­ nehme Freundin. Sie wohnte Hauskonzerten bei, unter anderem von Etty Hillesums Bru­ der Mischa in der Gabriël Metsustraat, und war ebenso wie ihr damaliger Ehemann Jan van Keulen «Untersuchungsobjekt» im Kurs von Julius Spier. Sie gehörte gleichwohl nicht zum engsten Bekanntenkreis von Etty Hillesum. Clara von Mesdag war Zeichnerin und Illustratorin. Julius Spier. Hier und auf den folgenden Seiten zitiert Etty Hillesum aus seinen Notizen. Bernhard Diebold (1886–1945), Doktor der Philosophie, Schauspieler, Dramaturg und Re­ gisseur; von 1917 bis 1933 Redakteur der Frankfurter Zeitung. Der Artikel von Diebold über Spier mit dem Titel «Blick in die Hand» erschien in der Frankfurter Zeitung vom Sonntag,

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25. August 1929 und beginnt wie folgt: «Das alte Zigeunerweib, das dir aus der Hand liest, wird verdrängt vom ‹Psycho-Chirologen›. So wenigstens nennt sich Julius Spier, der früher in Frankfurt im Bankfach tätig war; jetzt aber in Berlin aus leeren Händen Kapital für die Seele schlägt.» Im Artikel behauptet Dr. Diebold, dass Spier ein Psychoanalytiker sei, der seine Diagnose aufgrund der Physiognomie der Hand anstatt aufgrund von Träumen und Reflexen des Unterbewusstseins stellt. Daher die Bezeichnung «Psycho-Chirologe». Diebold war der erste Publizist, der ernsthaft auf die Arbeit von Spier einging. Er verfasste verschie­ dene positive Artikel über ihn (unter anderem in Das Illustrierte Blatt, 1930, Nr. 42, S. 1195 ff.). Siehe S. 40. Die «Familie» bestand aus: Käthe Fransen, der Haushälterin aus Deutschland, die bereits seit vielen Jahren den Haushalt von Wegerif führte; Etty Hillesum selbst ist «die jüdische Studentin aus Amsterdam»; Han Wegerif ist «der alte, ausgeglichene Sozialdemokrat»; Bernard Meylink ist «der Spießbürger»; Hans Wegerif, der jüngste Sohn von Han Wegerif, ist der «junge Wirtschaftsstudent». Bernard Meylink (Zierikzee 1911–Amsterdam 1952) studierte Biochemie in Amsterdam, wo er bei Han Wegerif zur Untermiete wohnte. Er arbeitete nach seinem Studium am Che­ mischen Institut von Prof. Dr. Ernst Laqueur. Nach seiner Hochzeit mit Louise Gerharda Jacoba Bongers (Bennekom 1912–Bennekom 1970) zog er Ende 1942 von der Gabriël Met­ sustraat in die Van Breestraat. Nach dem Krieg arbeitete Bernard Meylink bei Organon. Leonie Snatager (Den Haag 1918–Greenbelt 2013), später Leonie Penney-Snatager; studierte in Amsterdam Wirtschaftswissenschaften und lernte dort im Jahr 1937 oder 1938 Etty Hille­ sum kennen. «Für mich war diese ganze Zeit in Amsterdam eine intensive romantische ­Periode, die in meiner Freundschaft mit Etty Hillesum gipfelte. Ich verschlang das Leben, nach all der Haager Bürgerlichkeit, ich lebte in einer Art Pariser Montmartre zwischen Stu­ denten und Künstlern in einem Alt-Amsterdamer Rotlichtviertel. Bei Etty Hillesum kristal­ lisierten sich die Eindrücke, die Ereignisse, die Emotionen. Wir hingen endlos am Telefon oder wir gingen nach oben, in ihr Zimmer und in dasjenige von Pa Han. Sie machte den Gasofen an, wir nahmen beide einen Stuhl und wir redeten, wir analysierten, wir verglichen, wir begriffen, wir erklärten, wir brachten Ordnung ins Chaos, wir fühlten uns erleichtert, wir lachten, wir sahen das Alberne in vielen Situationen, wir fühlten uns doch ein wenig überlegen. ‹Klatschen auf hohem Niveau› nannte Etty Hillesum das, aber mit Mitgefühl für andere. Eine von Etty Hillesums Äußerungen aus dieser Zeit, an die ich mich erinnere, war: ‹Was mich immer am meisten trifft, ist die Hilflosigkeit der Menschen, sich selber und Andern gegenüber.› Pa Han saß oft still im Hintergrund, er rauchte seine Pfeife und ge­

noss wohl all das jugendliche Geschwätz. Von ihm ging eine beruhigende Kraft aus. Etty Hillesum hatte aber auch eine Eigenschaft, die ich nicht mit ihr teilte: eine schwermütige, russische Ader, aber ich fand dieses Dramatisch-Russische schon außerordentlich interes­ sant. Etty war wie eine Fee: Was auch immer sie mit ihrem Zauberstab berührte, wurde aus dem täglichen Trott herausgelöst und in eine faszinierende Etty-Welt gehoben» (L. PenneySnatager). 39 Ein Kapitel aus dem zweiten Teil des Romans Die Brüder Karamasow des russischen Autors Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881), in dem Iwan Karamasow seinem Bruder Aljoscha Karamasow eine Geschichte über einen Großinquisitor erzählt, der den wieder­ gekehrten Christus zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und später für immer ver­ bannt, weil dieser den schwachen Menschen dazu befähigte, frei zwischen Gut und Böse zu wählen. Die vorangegangene Passage in Etty Hillesums Text erklärt die Assoziation. Von Dostojewskis Werken erwähnt Etty Hillesum ferner Der Idiot, Schuld und Sühne und Auf­ zeichnungen aus einem Totenhaus. 40 Dieser Eintrag steht auf einem losen Blatt, gehört aber chronologisch hierher.

zu Seite 40–47 41 Will Durant, In den hof der wijsbegeerte. Een critische uiteenzetting van de groote vragen van deze tijd. Vertaald en ingeleid door Helena C. Pos. (Übersetzt und eingeführt von Helena C. Pos), Den Haag, L. J. C. Boucher, 1940, S. 7 und 9 («Im Garten der Philosophie. Eine kritische Auseinandersetzung mit den großen Fragen dieser Zeit»); Übersetzung von The Mansions of Philosophy (1929). Von diesem Werk des amerikanischen Philosophen und Kulturhistorikers William James Durant (1885–1981) besaß Etty Hillesum ein Exemplar der zweiten, unver­ änderten Auflage, die noch im selben Jahr erschien und auf die in wenigen Jahren noch viele Neuauflagen folgten. Auf dem Deckblatt notierte sie: «Etty Hillesum  / Mai 1941»  – dies könnte darauf hindeuten, dass sie das Buch erst einige Monate später selbst besaß; eines der in das Tagebuch aufgenommenen Zitate ist jedoch am Rand markiert. Dieses Exemplar ver­ schenkte sie, laut einem anderen Eintrag auf dem Deckblatt, zwei Jahre später an Milli Ort­ mann: «Ich gebe dir dieses Buch zum Andenken, Millie, an den großen, großen Aufwand, den du für Mischa und meine Eltern betrieben hast. / Etty Hillesum. / 4. Juni 1943». 42 Der Text der Anzeige in der Zeitung Algemeen Handelsblad vom Samstag, 15. März 1941, auf den Etty Hillesum referiert, lautet übersetzt: «NEBENVERDIENST FÜR DAME. Ge­ pflegte Dame gesucht, 20–40 Jahre alt, für Gesellschaft bei einer Dame. 2 Stunden pro Tag und 1 Tag pro Woche. T 5489, Handelsblad.» 43 Etty Hillesum war Juristin, wollte dies aber offenbar nicht erwähnen in der Antwort auf eine Anzeige, in der nach einer Gesellschafterin gesucht wurde. Als Juristin hat Etty Hille­ sum nie gearbeitet; sie hatte aber schon einige Nebenjobs gehabt. Sie tippte psychologische Tests für die Stiftung für Psychotechnik ab, gab einen Russisch-Kurs und erteilte Privat­ unterricht in dieser Sprache. 44 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), deutscher Philosoph, vor allem bekannt durch sein Werk Phänomenologie des Geistes (1807). 45 Julius Spier heiratete im Jahr 1917 im Alter von 29 Jahren die 26-jährige Hedl (Hedwig) Rocco (Stuttgart 1891–Berlin 1946). Spier hatte sie 1916 bei ihrer Schwester Hanni Rocco und deren Lebensgefährtin, der Pianistin Maria (Bobby) Proelss, kennengelernt. Spier m ­ usizierte oft bei diesen zwei Freundinnen. Hedl Rocco kam aus einer gebildeten, künstle­ rischen Familie. Ihr Vater war Schriftsteller und Herausgeber in Stuttgart. Die Scheidung von Spier erfolgte 1935. 46 Hertha R. Levi (Altona 1916–Philadelphia 2014). Spier hatte sie Mitte der Dreißigerjahre in Berlin kennengelernt. Sie wurde seine Schülerin und später seine Verlobte. Sie arbeitete mit Spier zusammen und fungierte als eine Art Sekretärin. Um 1938 herum konnte sie nach London emigrieren. Während des Kriegs wurde der Kontakt über Korrespondenz, die über die Schweiz lief, aufrechterhalten. Trotz dieser Korrespondenz war Hertha Levi niemals wirklich im Bilde über die Entwicklungen in Spiers Leben in Amsterdam. Spier war jedoch immer fest entschlossen, Hertha zu heiraten, sobald die Möglichkeit dazu gegeben war. Im Februar 1944 erschien dank Hertha Levi in London die Übersetzung eines Buches, das Spier schon in Berlin geschrieben hatte, mit dem Titel The Hand of Children. In diesem Buch er­ läutert Spier die Grundprinzipien seiner Theorie der Chirologie. Hertha Levi schrieb das Vorwort und C. G. Jung die Einleitung. 1982 erschien die niederländische Ausgabe von Spiers Buch mit dem Titel Worden wie je bent, zu Deutsch «Werden, wer du bist» (Haarlem, De Haan). Herta (nun ohne h) wohnte bis zu ihrem Tod in den Vereinigten Staaten und war Witwe. 47 Vilma Fichtmüller (Berlin 1913–Karlsruhe 2008); studierte Medizin, musste das Studium aber nach dem Tod ihres Vaters abbrechen. Als sie um das Autogramm eines berühmten Musikers bat, bemerkte dieser, dass sie eine volle Stimme hatte, und er empfahl ihr zu s­ ingen. 1932 begegnete Spier Vilma Fichtmüller. Er war beeindruckt von ihrer Stimme und ihrer Person und ermunterte sie dazu, eine professionelle Gesangskarriere zu beginnen. ­Außerdem sorgte er für finanzielle Unterstützung, indem er der mittellosen Fichtmüller

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beispielsweise ein Straßenbahnabonnement und eine Monatskarte für ein vegetarisches ­Restaurant schenkte. Als sie bei Professor D’Aarnals vorsingen durfte, bestand sie darauf, Brünhilde zu interpretieren, obwohl sie erst zwanzig Jahre alt war. Als sie in der Staatsoper von Berlin vorsingen durfte, wählte sie den schwierigen «Walküren-Ruf» aus. Die Direktion bot ihr sofort einen Vertrag an. 1936 wurde sie zur «Kammersängerin» ernannt, die jüngste, die es jemals in Deutschland gab. In Wien sang sie mit großem Erfolg Fidelio. Der Krieg bereitete ihrer erfolgreichen Karriere jedoch ein Ende. Spiers Affäre mit Vilma Fichtmüller war nicht die Ursache, aber doch einer der Gründe für die Scheidung von seiner Frau. Der Volljurist C. H. de Groot (Den Haag 1913–Amsterdam 1945) war bereits vor dem Krieg ein Freund von Etty Hillesum. Er schloss in Groningen das Studium in Rechtswissenschaften ab. Vor dem Krieg war er in der RSP aktiv, der Revolutionären Sozialistischen Partei. Diese Partei hatte von 1933 bis 1937 einen Sitz in der Zweiten Kammer des niederländischen Parla­ ments. Während der Besatzungszeit schloss Kees de Groot sich dem Widerstand an. Nach dem Bruch zwischen der Untergrundzeitung Het Parool («Die Parole») und Koos Vorrink im März 1942 trat er der Redaktion bei. Im Herbst dieses Jahres lag die Verantwortung für die Produktion von Het Parool bei ihm allein. Kees de Groot wurde jedoch verhaftet. Nach dem Anschlag auf den höheren SS- und Polizeiführer und Generalkommissar für das Sicherheits­ wesen, Hanns Albin Rauter (1895–1949), wurde er zusammen mit elf Mitgefangenen aus dem Gefängnis geholt und als Repressalie am 8. März 1945 öffentlich standrechtlich erschossen. Marjo Tal (Amsterdam 1915–Jerusalem 2006), Konzertpianistin und Muzikdozentin. Sie legte 1936 die Abschlussprüfung am Konservatorium an der Bachstraat 3 in Amsterdam ab und setzte ihr Studium in London fort. Marjo Tal studierte Komposition und Kontrapunkt. Sie komponierte einige Kammermusikwerke und Lieder. Später lebte sie in Jerusalem. Siehe Anm. 41 auf S. 873. Keine Informationen verfügbar. Ein Held unserer Zeit (1839–1841), Roman von Lermontow. Eine niederländische Überset­ zung von Aleida G. Schot erschien 1939. Hauptperson in Ein Held unserer Zeit. Der wohlhabende, adlige Offizier aus der russischen Armee kann seinem Leben keinen Sinn geben und lebt ohne jede Illusion. Petschorin ist das Modell des «überflüssigen Menschen». Diese Seiten haben wahrscheinlich größtenteils Äußerungen von Spier enthalten. Aller Wahrscheinlichkeit nach kamen die folgenden Zeilen dort vor: «Depressionen sind, wenn sie nicht konstitutionell bedingt sind, vom Unbewußten eingelegte Pausen des zu ange­ strengten Tagesbewußtsein, und sie müssen daher vom Unbewußten her wieder abklingen; deswegen ist es notwendig, daß man diese Pausen passiv abklingen läßt …». Siehe Anm. 15 auf S. 934. Etty Hillesum spielt hier auf die «Meldepflicht für Personen mit vollständig oder teilweise jüdischem Blut» an, die aufgrund des Erlasses vom 10. Januar 1941 in Kraft getreten war. Es meldeten sich rund 140 000 ‹Volljuden›, 14 500 ‹Halbjuden› und beinahe 6000 ‹Viertel­ juden›. Nur wenige ließen sich nicht registrieren. Zitat aus Johann Wolfgang von Goethe, Faust I (Werke, Weimar, Böhlau, 1887, 1. Abteilung, Bd. 14, S. 170). Juden konnten zu dieser Zeit noch Vorlesungen an den Universitäten besuchen, trotz des am 11. Februar 1941 eingeführten Numerus clausus. Die letztgenannte Maßnahme be­ schränkte lediglich die Immatrikulation von jüdischen Studierenden an den niederländi­ schen Universitäten und Hochschulen. Nicht immatrikulierte Juden konnten erst mit einer Erlaubnis des Generalsekretärs des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur im­ matrikuliert oder zu Prüfungen zugelassen werden. Bereits begonnene Studiengänge konnte man abschließen. Dieser Numerus clausus bedeutete noch keinen vollständigen Ausschluss. Ab dem Studienjahr 1941 /42 wurde Juden, die noch nie immatrikuliert waren, sowie einzel­

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nen jüdischen Studierenden im zweiten Studienjahr der Zugang zur Universität verweigert. Am 1. August 1942 wurde entschieden, dass alle Personen, die gemäß gewissen Bestimmun­ gen dazu verpflichtet waren, einen Judenstern zu tragen, im Studienjahr 1942 /43 nicht mehr studieren durften. Ab diesem Datum wurden sie ebenfalls von der Zulassung zu Prüfungen ausgeschlossen. Henny Tideman (Surabaya 1907–Zeist 1989), später Neitzel-Tideman; war während des Kriegs Lehrerin. Henny Tideman, seit ihrer Schulzeit Tide genannt, lernte Spier am 26. Sep­ tember 1939 in der Straßenbahn aus Haarlem kennen, wo sie gerade gesungen hatte. Spier sprach sie an und sagte: «Sie singen sehr gut, aber Sie sind keine Sängerin.» An der Außen­ seite ihrer Hände hatte er erkannt, dass sie «Lehrerin oder Bibliothekarin» war. Tideman war fasziniert und fand über Bekannte heraus, dass Spier einen gewissen internationalen Ruf genoss. Sie suchte ihn auf und Spier fragte sie, ob sie in der Lage sei, eine Freundschaft ohne sexuelle Annäherung aufzubauen, weil er eine Freundin in London hatte, Hertha Levi, der er versprochen hatte, treu zu bleiben. Das wollte Tideman, und so entstand eine Freund­ schaft; Tideman wurde ein treues Mitglied des Spier-Kreises. Siehe S. 23. Frans van Steenhoven (Amsterdam 1914–Heiloo 2005) widmete sich nach seinem Wirt­ schaftsstudium dem Studium der Malerei an der Kunstnijverheidsschool Quellinus Amster­ dam (Kunstgewerbeschule), der späteren Gerrit Rietveld Academie. Er lernte Etty Hillesum Mitte der Dreißigerjahre kennen, als sie sich zu linken, sich an den Kommunismus anleh­ nenden Studentenbewegungen wie beispielsweise der Studentenliga tegen Oorlog en Fas­ cisme (Studentenliga gegen Krieg und Faschismus) hingezogen fühlte. Frans von Steen­ hoven gehörte zu den Stammgästen des Reynders, einer bekannten Kneipe am Leidseplein. Eine von Etty Hillesum in den Tagebüchern auf verschiedene Arten verballhornte altmo­ dische Redewendung. Einer der Musikabende oder -nachmittage, die Spier und seine Schüler organisierten. Es waren vergnügliche, informelle Zusammenkünfte, bei denen musiziert und gesungen wurde. Spier, Henny Tideman und auch Adri Holm sangen klassische Lieder für die kleine Gruppe von Freunden. Musiziert wurde bei der Familie Nethe in der Courbetstraat, wo Spier wohnte, bei der Familie Krijn-Spier am Muzenplein, bei Henny Tideman in der Euterpe­ straat und in der Gabriël Metsustraat. Oft ging man auch zu Mien Kuyper an die Reynier Vinkeleskade, ebenfalls in Amsterdam-Süd. Nachdem am 25. Juli 1941 Rauter in seiner «Be­ kanntmachung über das Auftreten von Juden in der Öffentlichkeit» unter anderem die Teil­ nahme von Juden an öffentlichen künstlerischen Vorführungen, d. h. auch an Konzerten, verboten hatte, konnten jüdische Musiker wie Mischa Hillesum ausschließlich illegale Hauskonzerte geben. Kees de Groot. Vgl. Anm. 48 auf S. 874. Lenie Wolff (Amsterdam 1915), später Valkhoff-Wolff. Nachdem Etty Hillesums Vater, Dr. L. Hillesum (Amsterdam 1880–Auschwitz 1943), 1911 als Lehrer für alte Sprachen in Middel­ burg angestellt worden war, lernte er den Vater von Lenie Wolff kennen, der dort Mathe­ matiklehrer war. So freundete sich das Ehepaar Hillesum mit dem Ehepaar Wolff an. Lenie Wolff war in ihrer Kindheit regelmäßig bei den Hillesums zu Besuch und war in ihrer Ju­ gend in Jaap verliebt. 1929 fuhr Etty Hillesum mit der Familie Wolff in Urlaub in die Schweiz. Die Pyjama-Partys in Deventer waren schön, denn «es war dort eine herrliche Truppe, wunderbar unordentlich». Etty Hillesum und Lenie Wolff lagen die halbe Nacht wach und plauderten: «Etty war ein nettes Mädchen, sie war – wie ihre Mutter auch – etwas vage, ein bisschen philosophisch, ein bisschen verträumt. Es war so vage und ich verlor den Faden und konnte sie nicht mehr verstehen.» (L. Wolff) 1934 ging Lenie Wolff nach Amster­ dam, um Rechtswissenschaften zu studieren. Kurz vor dem Krieg schloss sie das Studium ab. Während des Kriegs organisierte Lenie Wolff illegale Hauskonzerte, unter anderem bei

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Han Wegerif. Nach dem Krieg absolvierte sie die Ausbildung zur Pianistin an einem Kon­ servatorium. Lenie Wolff gehörte nicht zu den engen Freunden von Etty Hillesum. Eine Handanalyse begann mit dem Aufstellen der Ellbogen auf einen Tisch, woraufhin Spier schaute, wie die Hände «fielen». Dann wurde der Handrücken studiert, die Form der Hand, die Position der Finger zueinander, die Form der Nägel, die Farbe und so weiter. Bei der Handfläche waren es vor allem die Linien, aus denen Spier viel ableiten konnte, aber es ist auffällig, wie wichtig bei der Handanalyse gerade auch die Untersuchung der Rückseite der Hand ist. Spier verblüffte viele mit seiner Analyse und scheute sich nicht davor, sehr detail­ liert Eigenschaften, Merkmale oder Macken des «Untersuchungsobjekts» aufzuführen. Seine treffenden Beobachtungen dienten vor allem dazu, Vertrauen zu wecken. Er fand es jedoch ethisch und psychologisch unrichtig und verantwortungslos, die Zukunft vorherzusagen. Henri du Puis (Amsterdam 1911–Hillegom 1975), Kommilitone von Etty Hillesum im Stu­ diengang Russisch in Amsterdam. Bevor er Vorlesungen in Russisch besuchte, hatte er in Leiden das Studium Indologie mit sprachwissenschaftlichem Schwerpunkt abgeschlossen. Nach dem Krieg war du Puis jahrelang Sprachlehrer am Königlichen Tropeninstitut in Ams­ terdam, wo er, berühmt für seine hervorragenden Sprachkenntnisse, Unterricht in verschie­ denen asiatischen und europäischen Sprachen erteilte. Rainer Maria Rilke (Prag 1875–Valmont bei Montreux 1926). Nach einer gescheiterten mili­ tärischen Ausbildung und einem Studium an der Prager Universität begegnete Rilke 1897 Lou Andreas-Salomé. Mit ihr unternahm er zwei Reisen nach Russland in den Jahren 1899 und 1900. Er hatte damals bereits seinen Gedichtband Das Stunden-Buch geschrieben (ver­ öffentlicht wurde es 1905, gewidmet Lou Salomé). Im Jahr 1900 lernte Rilke in der Künst­ lerkolonie Worpswede Clara Westhoff kennen, die er im Jahr darauf heiratete. Über sie kam er mit Rodin in Kontakt und er zog im Jahr 1902 nach Paris. Die Bildhauerkunst von Rodin hatte großen Einfluss auf seine literarische Arbeit, wie sein Werk Das Buch der Bilder aus dem Jahr 1902 zeigt. Rilke reiste viel, unter anderem nach Nordafrika und Ägypten, und wurde oft von Freunden und Kunstliebhabern eingeladen. Er hatte viele Freundschaften mit Frauen und in seinem Werk spricht er oft über die Kraft der Liebe, die die Frauen in einer Weise besitzen, die die entsprechenden Fähigkeiten der Männer bei Weitem übertrifft – ein Thema, das auch Etty Hillesum interessierte. Der Erste Weltkrieg erschütterte Rilke und hinderte ihn daran zu schreiben. Nach dem Krieg ließ er sich in der Schweiz nieder, wo er 1923 die Duineser Elegien (begonnen im Jahr 1912) und die Sonette an Orpheus vollendete. Diese Lyrik unterscheidet sich stark von seinem Frühwerk, aus dem Etty Hillesum gerade sehr viel zitiert. Die letzten Jahre seines Lebens litt Rilke an Leukämie. Am 29. Dezember 1926 starb er im Sanatorium in Valmont. Aus seinem Gesamtwerk zitiert Etty Hillesum (nebst Passagen aus seinen Briefen) Das Buch der Bilder (1902), Auguste Rodin (1903), Ge­ schichten vom lieben Gott (1904), Das Stunden-Buch (1905), Neue Gedichte (1907), Der neuen Gedichte anderer Teil (1908), Requiem (1909), Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), die Duineser Elegien (1923) und Gedichte 1906–1926. In den Anmerkungen dieser Ausgabe wird stets auf die Ausgabe Sämtliche Werke, herausgegeben vom Rilke-Archiv (1955) verwiesen. Rilkes Briefe wurden darin nicht veröffentlicht. Für die Briefe wurde die fol­ gende Ausgabe verwendet: R. M. Rilke, Briefe 1902–1906, herausgegeben von Ruth SieberRilke und Carl Sieber, Leipzig, Insel Verlag, (19291) 1930; R. M. Rilke, Briefe 1906–1907, (19301) 1930; R. M. Rilke, Briefe 1907–1914, (19331) 1933; R. M. Rilke, Briefe 1914–1921, (19371) 1938; R. M. Rilke, Briefe 1921–1926, (19351) 1935; R. M. Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, Leipzig, Insel Verlag, (19291) 1929; R. M. Rilke, Briefe an eine junge Frau, (19301) 1930; R. M. Rilke, Über Gott. Zwei Briefe, (19331) 1933; R. M. Rilke, Briefe aus Muzot, (19351) 1935. Außerdem noch: R. M. Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit (1931), aus dem Etty Hillesum gerade sehr viel zitiert. Vgl. dazu Anm. 81 auf S. 901.

zu Seite 71–81 69 Dieses Gedicht von Rilke aus Der neuen Gedichte anderer Teil (Sämtliche Werke 1, S. 632) schrieb Etty Hillesum auf ein separates Blatt Papier ab, das sie mit einer Büroklammer an einer Seite ihres Tagebuchs befestigte. 70 Der Dichter J. C. Bloem (1887–1966) hatte bis zum Jahr 1941 die Gedichtbände Het Verlan­ gen («Das Verlangen», 1921), Media Vita (1931) und De Nederlaag («Die Niederlage», 1937) veröffentlicht. Es ist schwierig festzustellen, auf welches Gedicht sich Etty Hillesum bezieht, denn das Bild des «offenen Fensters» taucht einmal in Media Vita und mehrmals in Het Verlangen auf. Die Phrase «schlafen mit offenem Fenster» kommt jedoch lediglich in zwei Gedichten aus Het Verlangen vor, und zwar in «Het zieke meisje» («Das kranke Mädchen») und «De gelieven» («Die Liebenden»). 71 Etty Hillesum bezieht sich hier auf den Widerstand und die Streiks von Ende November 1940 an der Universität Leiden anlässlich der antijüdischen Maßnahmen, die die deutsche Besatzungsmacht ergriff. Prof. Dr. R. P. Cleveringa, der Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät, hielt anlässlich dieser Maßnahmen eine Protestrede vor Studierenden, die dem jüdischen Professor Dr. M. E. Meyers gewidmet war, der aufgrund des Erlasses seine Stelle an der Universität verloren hatte. Studierende vervielfältigten den Text dieser Rede und verbreiteten ihn an allen Universitäten des Landes. Im Wissen darum, dass so oder so ein Studierenden-Streik bevorstand, rief Cleveringa in seiner Rede nicht zu Streik oder aktivem Widerstand auf. Trotzdem wurde er am 27. November 1940 von den Besatzern verhaftet und acht Monate lang gefangen gehalten. 72 Aimé van Santen (Rotterdam 1917–Den Haag 1988), Slawist und Autor, der unter dem ­Pseudonym Jan Molitor veröffentlichte. Van Santen, der 1940 sein Studium in Leiden bei van Wijk begann, besuchte mit Etty Hillesum zusammen Vorlesungen. Er spezialisierte sich auf das Tschechische und Slowakische und hielt sich kurz nach dem Krieg einige Jahre in Prag auf, wo er sich unter anderem in das Werk von Franz Kafka vertiefte. 73 Wladimir Petrowitsch Zatskoy (Porchow 1895–unbekannt), ein russischer Emigrant, der in diesen Jahren den Slawisten in Leiden russischen Konversationsunterricht erteilte. Er erhielt dafür vom Bildungsministerium ein geringes Honorar, das mit einem zusätzlichen Beitrag der Studierenden und des Universitätsfonds Leiden ergänzt wurde. Er war van Wijks Erbe. Nach dem Krieg emigrierte er nach Kanada, wo er auch starb. Bemerkenswert ist Zatskoys Übersetzung von Die verhängnisvollen Eier, die unter Anleitung von van Wijk entstand und 1929 erschien; es handelt sich dabei um eine Gesellschaftssatire, die 1925 von dem kritischen Sowjetautor Michail Bulgakow (1891–1940) geschrieben wurde, dessen Schriften in den Nie­ derlanden damals noch völlig unbekannt waren. Erst vierzig Jahre später wurde sein Werk im Westen entdeckt und hatte Erfolg. 74 Die antijüdischen Maßnahmen, die im Herbst 1940 getroffen wurden, betrafen die Univer­ sitäten unmittelbar  – im September das Verbot, Juden zu berufen und zu befördern, im Oktober die obligatorische Zusendung des Ariernachweises und schließlich im November die Entlassung von Juden aus dem öffentlichen Dienst. Die Petition, die der Amsterdamer Prof. Dr. P. Scholten für die Aufhebung der ersten Maßnahme startete, wurde ungefähr von der Hälfte der niederländischen Professoren unterschrieben. Gegen den Ariernachweis ­protestierten sechzig Professoren aus Leiden mit einer Unterschrift unter einem von Prof. Dr. B. M. Telders verfassten Protestschreiben. Gegen die dritte Maßnahme bezog Prof. Dr. R. P. Cleveringa deutlich Stellung. 75 Johanna Elisabeth Verheij-Oudendijk (Rotterdam 1904–Den Haag 1985) studierte in diesen Jahren Russisch und besuchte die Vorlesungen von van Wijk. 76 Wahrscheinlich Cornélie Pauline Emilie van de Well (Utrecht 1916–’s-Hertogenbosch 1990); sie studierte in Leiden klassische und slawische Sprachen. 77 Adrianus Henrikus Hommerson (’s-Hertogenbosch 1916–Zaandam 1954), Journalist; be­ gann 1939 sein Hauptfachstudium «Slawische Sprachen» in Leiden.

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Anmerkungen 78 Paul Thomas Basilius Rodenko (Den Haag 1920–Warnsveld 1976) machte sich später einen Namen als Dichter, Autor, Essayist, Herausgeber von Anthologien und Übersetzer. Ro­ denko studierte zur selben Zeit wie Etty Hillesum slawische Sprachen in Leiden. Sein Vater war russischer Herkunft. 79 Van Wijk wohnte in der Nieuwstraat 36 in Leiden. 80 Die Haushälterin von van Wijk, Maria Wenzel (Langenau 1897–Leiden 1941), war eine ­Sudetendeutsche und die Witwe des ungarischen Schneiders Keszy. «Frau Keszy», die als «Volksdeutsche» von der Auslandsorganisation der NSDAP belästigt wurde, beging im ­April 1941 Selbstmord. Gekleidet für ihr Begräbnis, mit einer violetten Blume angesteckt, beendete sie ihr Leben. 81 Van Wijk vermietete das linke Vorderzimmer seines Hauses an Dr. C. van Arendonk (1881– 1946), Konservator der östlichen Handschriften an der Universitätsbibliothek Leiden, Ara­ bist und einer der besten Experten für arabische Poesie zu seiner Zeit. Es stimmt nicht, dass er Sanskrit beherrschte, wie Etty Hillesum behauptet. 82 Jo Verheij-Oudendijk. 83 Im Jahr 1941 lag Heck’s Cafeteria am Stationsweg 7–9 und Heck’s Restaurant am Stations­ weg 11–17 in Leiden. 84 Wils Huisman (Den Haag 1914–Leiden 1979) bestand im Herbst 1941 die Abschlussprüfun­ gen des Studiums in den slawischen Sprachen – knapp vor der Schließung der Universität Leiden. Ihr Dozent van Wijk war im März 1941 verstorben. Nach dem Krieg arbeitete sie an der Katalogisierung des Nachlasses von van Wijk für die Universitätsbibliothek Leiden mit. Die umfangreiche Büchersammlung von van Wijk wurde die Basis der Bibliothek der Slawistik-Abteilung in Leiden, die unter Huismans Führung in späteren Jahren aufgebaut wurde. Huisman hatte keine Arme und schrieb mit ihrem Fuß. Bekanntheit erlangte sie als Übersetzerin aus dem Russischen. Ihre erste Übersetzung De kapiteinsdochter («Die Haupt­ mannstochter») von A. S. Puschkin erschien 1941. 85 Willem Adriaan Bonger (Amsterdam 1876–Amsterdam 1940) war von 1922 bis zu seinem Tod Professor für Kriminologie und Soziologie an der Universität von Amsterdam. Bonger, der am 15. Mai 1940 Selbstmord beging, genoss einen internationalen Ruf. Genauso wie Bonger waren die Literaturwissenschaftler Menno ter Braak (1902–1940), Edgar du Perron (1899–1940) und Hendrik Marsman (1899–1940) erbitterte Gegner des Nationalsozialismus und wurden direkt oder indirekt zu Opfern des Kriegs. Ter Braak beging am 14. Mai 1940 Selbstmord, du Perron starb ebenfalls am 14. Mai 1940 an Angina pectoris, und Marsman ertrank am 21. Juni 1940, als die Wehrmacht das Schiff, mit dem er nach England fuhr, tor­ pedierte. Hendrik J. Pos (1898–1955) war seit 1932 Professor der Philosophie an der Univer­ sität von Amsterdam, George van den Bergh (1890–1966) war ab 1936 Professor für Staatsund Verwaltungsrecht an derselben Universität. In den ersten drei Jahren des Kriegs war Pos, unter anderem Autor von Anti-semitisme en Jodendom. Een bundel studies over een ­actueel vraagstuk («Antisemitismus und Judentum. Einige Studien zu einem aktuellen Problem», 1939), in Geiselhaft. Ein Exemplar von Anti-semitisme … bekam Etty Hillesum von einem Freund anlässlich ihres hochschulabschließenden Examens geschenkt, und zwar mit dem Auftrag: «Zu deinem Studienabschluss mit dem Wunsch, dass das jüdische Problem nun­ mehr auch dein Interesse wecken möge. Dein Freund (Unterschrift unleserlich) 4 / 7-’39.» 86 Der Ölhafen von Amsterdam wurde am Morgen des 14. Mai 1940 in Brand gesteckt. Die sogenannte englische «Demolition Party» hatte bereits am 10. Mai 1940 beabsichtigt, die Schleusen von IJmuiden und die Erdöltanks in Amsterdam in die Luft zu jagen. Erst am 14. Mai jedoch erhielt der Zerstörungstrupp den Befehl des niederländischen Generals Win­ kelman, die Ölreserven zu vernichten. Man wollte vermeiden, dass die deutsche Besatzungs­ macht sich der Energiequelle bemächtigte. Rund die Hälfte des Fassungsvermögens wurde vernichtet oder schwer beschädigt.

zu Seite 81–93 87 Bruno Borissowitsch Becker (Sankt  Petersburg 1885–Amsterdam 1968), Historiker, speziali­ siert auf den Humanismus des 16. Jahrhunderts; ließ sich als russischer Emigrant 1922 mit seiner Familie in den Niederlanden nieder. Becker ist der Begründer des Slawistik-Studiums an der Universität von Amsterdam und der Gründer des Osteuropa-Instituts. Er war von 1930 bis 1945 Stiftungsprofessor für osteuropäische Kulturgeschichte und erteilte in diesem Rah­ men russischen Konversationsunterricht für Nebenfachstudierende. 1945 wurde Becker zum ­ordentlichen Professor für russische Geschichte sowie Sprach- und Literaturwissenschaft er­ nannt, was es fortan ermöglichte, in Amsterdam Russisch als Hauptfach zu studieren. 88 Die Wochenzeitschrift Libelle besteht seit 1935. 89 Russisch: Liebe Eltern. 90 Johan Melchior (Joop) Bool (Medan 1916–Amsterdam 1942). Joop Bool, der sich später – möglicherweise im Kontext von Widerstandsarbeit  – Jan Bool nannte, studierte zuerst Deutsch in Zürich, danach slawische Sprachen bei van Wijk in Leiden. Nach dem Tod von van Wijk setzte er sein Russisch-Studium bei Becker in Amsterdam fort und begann ein neues Hauptfachstudium, und zwar Philosophie bei Pos. Jan Bool war sowohl vor als auch während des Kriegs politisch aktiv im Kampf gegen den Faschismus; er hielt Reden zur Unterstützung des Februarstreiks, war am Studentenprotest beteiligt und schrieb Artikel für die illegale Zeitung De Vrije Katheder («Das freie Rednerpult»). Er war einige Jahre lang Mitglied der CPN (Kommunistische Partei der Niederlande). Auch nach der Schließung der Universität im Jahr 1942 setzte er seine Widerstandsaktivitäten fort. In der zweiten Hälfte des Jahres 1942 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand und am Ende des Jahres beging er Selbstmord. 91 Carl Gustav Jung (1875–1961), Schweizer Psychologe und Psychiater, Professor für Psycholo­ gie in Zürich (1933–1942) und später für kurze Zeit in Basel. Anfänglich ein Anhänger von Sigmund Freud, mit dem er 1913 brach. Bereits in Wandlungen und Symbole der Libido (1912) äußerte Jung Kritik an der psychoanalytischen Bewegung von Freud. Nach dem Bruch mit seinem Lehrer nannte Jung die Richtung, die er vertrat, die «analytische Psychologie» (auch: «komplexe Psychologie»). Abgesehen von unterschiedlichen Terminologien ist ein wichtiger Unterschied zwischen Freud und Jung, dass Letzterer eine positive Haltung gegenüber der Religiosität einnahm. Auf Anregung von Jung hin entschied sich Julius Spier, der während zwei Jahren in der Lehranalyse bei Jung war, für den Beruf des «Chirologen». Indirekt (über Spier) und direkt (über seine Publikationen) übte Jung einen erheblichen Einfluss auf das Denken von Etty Hillesum aus. Aus dem Werk von Jung nennt sie die folgenden Schriften: Analytische Psychologie und Weltanschauung, Die Frau in Europa, Das Grundproblem der ge­ genwärtigen Psychologie, Die Bedeutung der Psychologie für die Gegenwart (beide abgedruckt in Wirklichkeit der Seele), Wandlungen und Symbole der Libido, Über die Energetik der Seele und Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben. 92 Thomas a Kempis (1379 / 80–1471), geistlicher Autor. Sein bekanntestes Werk ist De imitati­ one Christi, das Parallelen zur Devotio moderna aufweist. 93 Zitat konnte nicht ermittelt werden. 94 Diesen Vortrag hielt Jung 1927 in Karlsruhe. Eine überarbeitete Fassung erschien in Seelen­ probleme der Gegenwart. Psychologische Abhandlungen III (1931). Für das Zitat siehe C. G. Jung, Gesammelte Werke VIII, Olten etc., Walter-Verlag, 1971, S. 433 (739). 95 Jung, ebd., S. 432 (737). 96 Spier wollte immer Sänger werden. Ab seinem 17. Geburtstag nahm er Gesangsstunden. Er hatte eine gute Baritonstimme und absolvierte eine klassische Gesangsausbildung. Als er ungefähr 25 Jahre alt war, bereitete Scharlach seiner Karriere ein Ende; Spier wurde schwer­ hörig. Dennoch trat er weiterhin im kleinen Kreis auf und in Amsterdam nahm er wieder Gesangsunterricht. Zu seinen bevorzugten Liedern gehörten diejenigen von Franz Schubert. 97 Henny Tideman.

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Anmerkungen 98 Auf Empfehlung von Etty Hillesum hin vereinbarte Frans van Steenhoven einige Sitzungen mit Spier. Als junger Mann war er ziemlich beeindruckt von Spier, obwohl er gleichzeitig dem «Schwärmerischen» rund um dessen Person skeptisch gegenüberstand. 99 Gerharda Johanna Bongers (Wageningen 1914–Kapstadt 1994) wohnte während der Be­ satzungszeit in Bloemendaal (in der Nähe von Haarlem) und war Lehrerin für moderne Sprachen. Sie lernte Spier kennen, nachdem sie von einem seiner Schüler dazu eingeladen worden war, im Chirologie-Kurs als «Untersuchungsobjekt» zu fungieren. Nach dieser ers­ ten Begegnung meldete sie sich als Kursteilnehmerin an. Gera Bongers kam – abgesehen von Geburtstagen oder Musikabenden – nur am Dienstagabend für ihren Unterricht aus Bloemendaal zum Haus von Spier geradelt. Sie gehörte schon zum «Spier-Club», bevor Etty Hillesum hinzukam. Sie war zeitweise die Freundin von Bernard Meylink, dem Hausgenos­ sen von Etty Hillesum. Meylink heiratete später jedoch Loes Bongers, die älteste Schwester von Gera. Im Hinblick auf Spiers Vorhaben, seiner Verlobten nach England zu folgen, er­ teilte ihm Gera Englischunterricht; eine schwierige Aufgabe, denn Spier war wenig sprach­ begabt. 100 Friedrich Rittelmeyer (1872–1938), deutscher Pfarrer in Würzburg, Nürnberg und Berlin. 1922 gründete er die «Christengemeinschaft», eine religiöse Reformbewegung, die an den Ideen von Rudolf Steiner ausgerichtet ist. 101 Zitat aus F. Rittelmeyer, Briefe über das Johannesevangelium, Stuttgart, Verlag Urachhaus, 1938, S. 195 f. 102 Es geht hier um die Verhaftung von ungefähr dreihundert Juden als Vergeltung für den der Besatzungsmacht zufolge durch deutsch-jüdische Immigranten verübten Anschlag auf eine Dienststelle der deutschen Wehrmacht in Amsterdam-Süd. Ein großer Teil der Häftlinge waren nach Amsterdam gebrachte ehemalige Bewohner des Trainingslagers Wieringermeer, einer Ausbildungsstätte für Palästina-Pioniere, wo hauptsächlich junge deutsche Flüchtlinge einen Platz gefunden hatten. Die Namen und Adressen dieser Juden gelangten in die Hände der Besatzungsmacht durch Täuschung des Vorsitzenden des Judenrates. Die Juden, die bei dieser Razzia vom 11. Juni 1941, der zweiten großen Hetzjagd auf Juden, verhaftet wurden, brachte man nach Mauthausen, von wo rasch ihre Todesnachrichten kamen. 103 Zitat aus Rittelmeyer, ebd., S. 196. 104 Im Jahr 1923 zog die Familie Hillesum von Winschoten nach Deventer, weil der Vater am dortigen Gymnasium als Lehrer für alte Sprachen und als stellvertretender Direktor ange­ stellt wurde. Sie zogen an die Duymaer van Twiststraat 51 (heutzutage Nr. 2). Dort wohnte Etty Hillesum in den Jahren, in denen sie sich in Deventer aufhielt. Etty Hillesum kam in die fünfte Klasse der Schule A in der damaligen Zwolschestraat. Nach der Grundschule ging Etty Hillesum auf das Gymnasium, an dem ihr Vater im Jahr 1928 Rektor wurde. Nachdem Etty Hillesum für das Studium nach Amsterdam gezogen war, zog die Familie in die Geert Grootestraat 9 um. Die Familie wohnte bis Januar 1943 in Deventer; dann zogen Etty Hille­ sums Eltern gezwungenermaßen – wie alle Juden – nach Amsterdam. Dort lebten sie in der Retiefstraat 11. 105 Zitat aus den Notizen von Spier (siehe S. 39). 106 Der Brief war von Virginie Elisabeth Tullius-Spier (Frankfurt am Main 1896–Weesp 1981), der Witwe von Spiers Bruder Paul Spier (Frankfurt am Main 1878–Frankfurt am Main 1934). Gina Spier war Altkatholikin und wohnte zu dieser Zeit in Laren. 107 Jan Bool.

zu Seite 98–116 Heft 2 1 Wiep Poelstra war aufgrund ihres Berufes neben der Chirologie auch an der Rorschach­ methode interessiert. 2 Familie Nethe, Courbetstraat 27 in Amsterdam. Seit Ende des Jahres 1940 hatte Spier hier zwei Zimmer gemietet, nachdem er zuerst ungefähr ein Jahr lang bei seiner Schwester und 1940 einige Monate in einem Zimmer in der Scheldestraat gewohnt hatte. Erich Nethe (Köln 1893–Amsterdam 1969), seine Frau A. Nethe (Wesseling 1898–Amsterdam 1975) und ihre Söhne Erwin (Bonn 1930–Vinkeveen 1980) und H. W. (Hans Werner) (Bonn 1924–­Israel 2003) flohen 1938 aus Deutschland. Während der Novemberpogrome (9. November 1938) lan­ deten Erich Nethe und sein Sohn H. W. im Gefängnis, wo Erich einen Selbstmordversuch unternahm. Nach ein paar Tagen wurden sie wieder freigelassen. Unmittelbar danach wan­ derte die Familie Nethe in die Niederlande aus. Dank einem Bekannten in der «Zentral­ stelle für jüdische Auswanderung» anerkannten die deutschen Behörden die Nethes als Nichtjuden. Deshalb mussten sie nicht untertauchen. 3 Klaas Smelik (Den Helder 1897–Amsterdam 1986) war anfangs als Schiffsmaschinist tätig. Später wurde er Journalist und Autor von Hörspielen und Büchern. Er hatte 1935 während eines halben Jahres ein Verhältnis mit Etty Hillesum, das auf Initiative von Etty Hillesum in gutem Einvernehmen beendet wurde. Danach lief der Kontakt mehr über seine Tochter Johanna F. Smelik (Den Haag 1916–Voorburg 2008), die meistens bei ihm zu Hause wohnte. Sie wurde zu einer sehr guten Freundin von Etty Hillesum und besuchte sie oft in Amster­ dam. Etty Hillesum, die Vornamen gerne in Kosenamen umwandelte, nannte Johanna ­‹Jopie›. Die Beziehung zwischen Vater und Tochter war ständig angespannt, was regelmäßig zu Konflikten führte. Etty Hillesum bezieht sich in dieser Passage auf einen Streit zwischen Smelik und seiner Tochter kurz nach der niederländischen Kapitulation (15. Mai 1940). Smelik geriet in Wut, nachdem Johanna sich geweigert hatte, Gift für ihn mitzubringen. Damit wollte er sich das Leben nehmen, weil er sich wegen seiner antifaschistischen Aktivi­ täten vor deutschen Repressalien fürchtete. 4 Thomas Mann (1875–1955), deutscher Romanautor. Aus seinem umfangreichen Werk zitiert Etty Hillesum nur Der Tod in Venedig. 5 Zitat aus Thomas Mann, Der Tod in Venedig, Berlin, S. Fischer Verlag, (1913) 1921, S. 23 ff. Aschenbach ist der Protagonist dieser Novelle. 6 In der Govert Flinckstraat in Amsterdam befand sich eines der kommunalen Zustellämter, wo man gegen Vorlage der Zustellamts-Stammkarten Bezugsscheine und Lebensmittelkar­ ten für Güter und Nahrung erhielt, die wegen der Knappheit rationiert wurden. Butter und Fette waren seit dem 15. Juli 1940 rationiert. 7 Die Schiffsbrücke war eine Pontonbrücke über die IJssel in der Nähe von Deventer. 1948 wurde die Brücke abgerissen. Die Eisenbahnbrücke existiert jedoch noch, sie liegt mehr im Nordwesten. 8 Johannesevangelium. 9 Juliana Clothilde Wilhelmina (Juul) Vasseur (Libau 1914–Nijmegen 2009). Sie studierte Sozialgeografie in Utrecht und arbeitete als Bibliothekarin an der römisch-katholischen Universität Nijmegen (heute: Radboud-Universität Nijmegen). Eine der ersten Schülerin­ nen Spiers in den Niederlanden. 10 Seit dem 28. April 1941 waren die Kartoffeln rationiert. Trotz dieser Rationierung war die Nachfrage weiterhin häufig größer als das Angebot. 11 Keine Informationen verfügbar. 12 Bei dem «unordentlichen Haushalt» handelte es sich um den Haushalt der Familie Bongers an der Dijkstraat in Wageningen. Das Ehepaar Bongers hatte einen Sohn und sechs Töchter.

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Anmerkungen

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Tochter Gera hatte Spier für einen Kurzurlaub zu ihren Eltern eingeladen. Sie erinnerte sich an Folgendes: «Durch ein kleines Loch in der Zeitung studierte Spier das Gesicht meines Vaters. Mutter umarmte ihn am Abend, bevor wir ins Bett gingen: ‹Die Frau hat zu wenig Liebe in ihrem Leben› – sie wollte auch ihre Hand nicht zeigen, wir dagegen alle sehr gerne. Er fand es herrlich, auf den Wageninger Berg (30 Meter hoch!) ‹steigen› zu können. Und abends sang er Opernlieder. Die jüngeren Schwestern krabbelten unter den Tisch und ­kicherten.» Die Familie Bongers gehörte zum rechten Flügel der evangelischen Kirche. Oskar Pfister (1873–1956), Schweizer protestantischer Theologe und Psychologe, Schüler von Freud; versuchte die Psychoanalyse in die Pädagogik, in die Seelsorge und in die Theo­ logie einzubeziehen. Von seinen Werken zitiert Etty Hillesum Psychoanalyse und Welt­ anschauung (1928). Die mit den Hillesums befreundete Familie R. Adelaar (zu Deutsch: Adler) aus Deventer hatte in Gorssel ein kleines Wochenendhaus namens «Der Adlerhorst». Die Kinder der ­Familie Hillesum radelten regelmäßig mit ihren Freunden in das nahe gelegene Gorssel. Auch Etty Hillesums Eltern weilten manchmal in dem Wochenendhaus. Ein Ausdruck aus dem bereits genannten Vortrag von Jung: Analytische Psychologie und Welt­ anschauung. Wahrscheinlich ein Zitat aus Spiers Notizen. Zitat aus Rittelmeyer, Briefe über das Johannesevangelium, S. 92. Den Teil von «Je tiefer» bis «ihn erkenne» hat Etty Hillesum auch in ihr Zitatebuch Levenskunst (Woche 32) abgeschrie­ ben. In das Exemplar von Levenskunst, Gedachten van week tot week. Saamgelezen door A. J. C. van Seters («Lebenskunst. Gedanken von Woche zu Woche». Zusammengestellt von A. J. C. van Seters), 2., überarbeitete Auflage, Amsterdam, ohne Jahr, haben Etty Hillesum und Henny Tideman zahlreiche Zitate von Hand hineingeschrieben. Dieses Exemplar, das Etty Hillesum von Henny Tideman geschenkt bekommen hatte, ist erhalten geblieben. Ein Zitat von Spier, das Henny Tideman in Woche 9 des Zitatebuchs Levenskunst («Lebens­ kunst») schrieb. Der oben stehende Ausschnitt aus dem deutschsprachigen Brief (siehe S. 123) folgt größten­ teils dem ursprünglich niederländischen Eintrag auf S. 121. Daan Sajet (Hilversum 1920–England 1941). Er fuhr im August 1940 mit einem Freund in einem Segelboot von den Niederlanden nach England. Dort begann er eine Pilotenausbil­ dung bei der RAF (englische Luftwaffe). Am 16. Juni 1941 stürzte er jedoch ab. Sein Vater, der Arzt Ben Sajet, der am 18. Juni 1941 nach England entkommen konnte, informierte am 26. Juni mittels einer kodierten Nachricht über das Radio Oranje die Menschen in der Hei­ mat über Daans Tod. Daan Sajet war, ebenso wie seine beiden Brüder, mit den Kindern der Familie Hillesum befreundet. Michaël (Mischa) H. Hillesum (Winschoten 1920–Warschau 1944), Etty Hillesums jüngster Bruder; lebte seit 1931, d. h. seit dem Alter von elf Jahren, bei der Familie Horowitz in Ams­ terdam. Dadurch wurde es ihm möglich, Klavierunterricht bei George van Renesse zu neh­ men, der Dozent am Amsterdamer Konservatorium war. Die Familie Horowitz, ebenso wie die Hillesums teils russischer Herkunft, nahm öfter junge, vielversprechende Musiker in ihre Familie auf. Aber auch Etty Hillesum verbrachte, als sie ihr Studium begann, die ersten Monate bei dieser Familie. Mischa Hillesum nahm gleichzeitig auch Unterricht an der ­Nicolaas Maesschool. 1935 wurde er am Konservatorium eingeschrieben. Daneben absol­ vierte er die ersten drei Klassen des Vossiusgymnasiums. Direkt vor und während des Krie­ ges hielt sich Mischa abwechselnd in Amsterdam, Deventer und in Het Apeldoornsche Bosch, einer jüdischen psychiatrischen Anstalt, auf. In Het Apeldoornsche Bosch lebte wäh­ rend des Krieges die größte Anzahl jüdischer Patienten (ca. 1100). Zur Einrichtung gehörte auch eine psychiatrische Anstalt für schwer erziehbare oder ernsthaft geistig gestörte Jugend­ liche, das sogenannte ‹Achisimog›. Hier wurden 94 junge Leute gepflegt. Das Personal be­

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stand insgesamt aus vier- bis fünftausend Personen. Am 21. Januar 1943 wurde die Räu­ mungsaktion von Het Apeldoornsche Bosch beschlossen. Der Sonderzug mit Kranken aus Apeldoorn kam am 24. Januar in Auschwitz-Birkenau an. Das medizinische Personal und die zurückgebliebenen Mitarbeiter wurden mit den Apeldoorner Juden nach Westerbork transportiert. Möglicherweise auf einem nicht erhalten gebliebenen losen Blatt. Jacob (Jaap) Hillesum (Hilversum 1916–Umgebung Tröbitz 1945), Bruder von Etty Hillesum; besuchte ebenso wie Etty Hillesum das Gymnasium in Deventer. 1933, nach seiner Ab­ schlussprüfung, zog er nach Amsterdam und begann sein Medizinstudium. In Amsterdam teilte er verschiedene Unterkünfte mit Etty Hillesum. Ab Oktober 1936 wohnte er elf Mo­ nate lang bei Han Wegerif. Genauso wie sein Bruder Mischa wurde Jaap mehrere Male in eine psychiatrische Anstalt aufgenommen. Er sprach immer offen über seine Schizophrenie. Er merkte selbst, wenn es wieder Zeit für eine Aufnahme war, und meldete sich dann bei einer Einrichtung wie dem Provinciaal Ziekenhuis in Santpoort. Jaap war auch in den psy­ chiatrischen Kliniken Het Apeldoornsche Bosch und in Endegeest untergebracht. Nach seinem Hochschulabschluss arbeitete Jaap als medizinischer Praktikant im niederländischisraeli­tischen Krankenhaus in Amsterdam. Bezieht sich auf Jaaps Bruder Mischa. Dieser scheint mit 16 Jahren psychotisch geworden zu sein. Der Psychiater Dr. J. Spanjaard, der Mischa in Het Apeldoornsche Bosch erlebt hatte, beschrieb ihn als «ein[en] bisschen eigenartige[n] Kerl, der auf eine entfernte Weise Kontakt aufnahm, ein[en] Junge[n] mit einem ungerührten, leicht spottenden Gesicht, das man so bei Schizoiden antrifft». Frau E. van Creveld, zu dieser Zeit Krankenschwester in Ausbil­ dung, erzählte Mischa, wie er seine Krankheit empfand: «Das ist eine Krankheit, bei der ich erlebe, dass ich höre, was die Menschen sagen, ich sehe, was sie tun, aber ich bin nicht in der Lage, auf das, was ich höre und sehe, zu reagieren. Darum kommt dann etwas ganz anderes heraus als das, was ich sagen wollte.» Wahrscheinlich besuchten Etty Hillesum und Spier an diesem Tag die Bildhauerin Fri Heil, die in Arnhem wohnte. Siehe außerdem Anm. 35 auf S. 884. Es gab insgesamt drei Amstellanen: die Amstellaan (später Stalinlaan, seit 1956 Vrijheids­ laan), die Zuider Amstellaan (heute Churchilllaan) und die Noorder Amstellaan (heute Rooseveltlaan). Möglicherweise denkt Etty Hillesum an die biblische Vorstellung, dass Gott das Volk Israel mithilfe einer Wolke durch die Wüste führte (siehe beispielsweise Exodus 40,34–38). H. J. (Hans) Wegerif (Amsterdam 1919–Haarlem 1983), der jüngste Sohn von Han Wegerif. Er war das einzige Kind Wegerifs, das zur Zeit der Entstehung der Tagebücher noch zu Hause wohnte. Hans Wegerif studierte Wirtschaftswissenschaften. Am Ende des Krieges wurde er als Kriegsgefangener nach Deutschland verbracht. Im fortgeschrittenen Alter stu­ dierte er Rechtswissenschaften. Er bestand sein hochschulabschließendes Examen im Jahr 1964. Hans Wegerif wurde stellvertretender Jugendrichter in Amsterdam und stellvertreten­ der Richter in Alkmaar. Zugleich war er als Dozent der CICSA-Akademie für soziale Berufe in Amsterdam (CICSA = Centraal Instituut voor Christelijk Sociale Arbeid) verbunden. ‹Unterbau› und ‹Überbau› sind Schlüsselworte in der Philosophie von Karl Marx (1818– 1883). Unterbau, die materielle Basis, ist die Gesamtheit aller Produktionskräfte und -ver­ hältnisse in einer bestimmten Gesellschaft. Der Überbau steht für die Einstellungen in der Gesellschaft, in ihm sind wirtschaftliche Verhältnisse festgelegt, so wie Unterricht, Kunst, Literatur, aber auch politische Einstellungen, Gesetzbücher und Moral. Der ideelle Über­ bau entsteht auf der Basis des materiellen Unterbaus. Diese Charakterisierung von Carry von Bruggen findet sich wörtlich in: A. H. M. RomeinVerschoor, Vrouwenspiegel, Een literair-sociologische studie over de Nederlandse romanschrijfster («Frauenspiegel. Eine literarisch-soziologische Untersuchung zur niederländischen Roman­

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schriftstellerin»), Amsterdam, Querido Verlag, 19362, S. 146. Die Arbeit ist ursprünglich 1935 als Doktorarbeit erschienen unter dem Titel: De Nederlandsche romanschrijfster na 1880, Een l­iterair-sociologische studie («Die niederländische Romanschriftstellerin nach 1880, eine literarisch-soziologische Untersuchung»). Annie H. M. Romein-Verschoor (1895–1978), Historikerin, Ehefrau und Mitarbeiterin des Historikers Jan Romein (1893–1962). Carolina Lea van Bruggen-de Haan (1881–1932), ältere Schwester des Dichters Jacob Israël de Haan. Sie ist mit ihren psychologischen Romanen bekannt geworden. In ihren Romanen De verlatene («Der Verlassene») (1910) und Het huisje aan de sloot («Das Häuschen am Wassergra­ ben») (1921) wirft sie einen kritischen Blick auf das niederländische Judentum ihrer Zeit. Dieser Gedanke, der zu einem von Etty Hillesums Leitgedanken werden sollte, ist einer von ihr zuvor zitierten Notiz von Spier entnommen. Siehe S. 55. Die Brüder Karamasow (1880), Roman von Dostojewski. Frieda Mary Heil-Verver (Surabaya 1892–Oosterbeek 1983), Bildhauerin, studierte in Genf, Cheltenham und Amsterdam. 1932 begann sie sich der Bildhauerei zu widmen. Sie war eine Bekannte von Julius Spier und wohnte in Arnhem. Siehe auch Anmerkung 25 auf S. 883. Am 22. Juni 1941 griff Hitler trotz seines 1939 geschlossenen Nichtangriffspakts mit Stalin die Sowjetunion an. Am 5. September war der Vormarsch noch in vollem Gange. Im Okto­ ber 1941 kam die deutsche Armee 40 Kilometer vor Moskau zum Stillstand. Henny Tideman nannte Spier nicht nur deshalb «Mercedes», weil sie den Vergleich mit diesem deutschen Auto lustig und passend fand, sondern auch, weil das Wort «Mercedes» laut Tideman mit ein wenig Fantasie als eine Wortkreuzung aus ‹merci› und ‹Dieu› ange­ sehen werden kann. Spitzname für Dicky de Jonge: Dirkje de Jonge (Rotterdam 1918–Terneuzen 2021), später van den Heuvel-de Jonge. Dicky de Jonge wurde mit 7 Jahren zum Waisenkind; ihre Groß­ mutter zog sie in einer lieblosen und engstirnigen Atmosphäre auf. Sie begegnete Henny Tideman in der Oxford-Bewegung. Tideman nahm sie mit zum Kurs von Spier und so kam sie mit ihm in Kontakt. Spier nahm Dicky in Behandlung; durch ihre Erziehung war sie verschlossen und «verkrampft», Spier wollte sie lockern. Dicky wurde immer mehr in die Chirologie involviert und besuchte auch die Kurse. Im Haus der Familie Nethe, in dem Spier wohnte, war noch ein Zimmer frei und Dicky mietete dieses Anfang 1941. Dicky de Jonge war im Bildungswesen tätig. Sie wurde nicht wegen ihrer Statur ‹die Kleine› genannt, sondern weil sie die Jüngste war, als sie in den Kreis um Spier herum aufgenommen wurde, und weil Spier sich ihrer mehr oder weniger erbarmte. Maria Antoinetta Bongers (Wageningen 1922–Bilthoven 2000), später Koedam-Bongers; eine jüngere Schwester von Gera Bongers. 1941 wohnte sie bei Gera in Bloemendaal, wo Gera sie mit Spier bekannt machte. Spier verhielt sich wie eine Vaterfigur für Riet Bongers und beschaffte ihr Jobs. Spier nahm bei Dora Lindeman in der De Lairessestraat Gesangs­ stunden und sorgte dafür, dass Riet Bongers bei der Familie Lindeman im Haushalt arbeiten konnte. 1942 wurde sie dank Spier Krankenschwester. Etty Hillesum kannte sie kaum. 5. September 1941. Taco Kuiper (Rottevalle 1894–Amsterdam 1945) gründete zusammen mit D. J. Lennep 1925 in Utrecht die Nederlandse Stichting Voor Psychotechniek («Niederländische Stiftung für Psychotechnik»). Dieses Institut beschäftigte sich unter anderem mit Tests zur Berufswahl. Etty Hillesums Test datiert vom 2. Februar 1937. Um ihr Organisationstalent zu testen, wurde folgende Aufgabe gestellt: Im Stadtteil Jordaan wohnt eine sehr arme Familie dicht beieinander, eines der Kinder hat Tuberkulose. Die Frage lautete, wie man das Haus so einrichten könnte, dass das Kind sicher auf seine Kosten käme. Eine Zeichnung des Hauses war beigelegt. Einem Freund, Louis Zimmerman, erzählte Etty Hillesum, dass sie eine lei­ denschaftliche Erörterung über die Schande der kapitalistischen Ausbeutung geschrieben

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hatte, die der Grund dafür ist, dass eine Familie unter solchen Umständen leben musste. «Das war typisch für Etty in dieser Zeit. Ich weiß auch, dass das Urteil des Instituts lautete, dass sie nicht besonders geeignet war als Organisatorin, sondern dass sie es eher mit litera­ rischen Aktivitäten versuchen sollte», so Zimmerman. Der 6. Teil eines vervielfältigten Werks von Spier mit dem Titel Methode der Handanalyse nach Julius Spier, das den Kursteilnehmenden als Manuskript ausgehändigt wurde, behan­ delt die «Schicksalslinie». Diese Linie zeigt laut Spier «die Fähigkeit oder Unfähigkeit des Menschen, sein Innenleben in Einklang zu bringen mit den Anforderungen der Umwelt und des Berufes». Keine Informationen verfügbar. Der hier eingefügte Text ist auf der Vorderseite eines halben Blattes eines Notizblocks ­notiert. Das Textfragment ist nicht datiert. Auf der Rückseite hat Etty Hillesum kreuz und quer über das Blatt russische Vokabeln geschrieben. Fragment eines Gebets aus dem frühen 20. Jahrhundert, das zu Unrecht Franz von Assisi (1182–1226) zugeschrieben wird. Spier leitete zwei Chirologiekurse, einen am Montagabend und einen am Mittwochnach­ mittag. Die Kurse wurden manchmal von bis zu zwanzig Schülern besucht. Spier saß am Ende eines langen Tisches und am anderen Ende saß das ‹Objekt›. Dies war meist ein Freund oder ein Bekannter, der von einem der Schüler mitgebracht wurde. Zu Beginn des Unterrichts wurden mithilfe einer Farbwalze, schwarzer Farbe und Papier Handabdrücke vom Objekt erstellt. Jeder Kursteilnehmer erhielt einen Abdruck. Das Objekt hielt seine Hand in verschiedenen Positionen, und aus der Haltung, der Form, der Farbe, der Rück­ seite der Hand und aus den auf dem Abdruck sichtbaren Linien der Hände leiteten die Schüler Eigenschaften des Objekts ab. Spier korrigierte oder ergänzte bei Bedarf und lenkte die Analyse in die richtige Richtung. Die Hände wurden Punkt für Punkt gemäß einer fes­ ten Reihenfolge studiert. Am Ende folgte die Schlussfolgerung in Form einer Art Charakter­ skizze des Objekts. Während der Analyse wurde das Objekt mit verschiedenen Seiten seiner Persönlichkeit konfrontiert. Spier wollte den Weg zur Entwicklung und zur Vervollkomm­ nung aufzeigen. Sein Motto lautete: «Werde, der du bist» (Pindar). Zum Kurs gehörte auch ein vervielfältigtes Lehrbuch, die Schüler erstellten eine Mitschrift und die Niederschriften der Analysen, die Protokolle, wurden nachträglich ausgearbeitet und abgetippt. Eine Hand­ analyse dauerte zwischen einer Dreiviertelstunde und einer Stunde. Nach dem Unterricht bezahlten die Schüler einer nach dem anderen einen kleinen Geldbetrag. «Kurz und schmerz­ los», pflegte Spier zu sagen. Mittwoch, 10. September 1941. Etty Hillesum musste das Protokoll eines weiter nicht bekannten ‹Objektes› abtippen. Wäh­ rend des Chirologieunterrichts stenografierte sie die Ergebnisse, sie überarbeitete diese zu Hause und nachträglich erhielten die Schüler die Protokolle. Zuerst überarbeiteten Dicky de Jonge und Adri Holm die Analysen, aber als Etty Hillesum Spier kennengelernt hatte, wurde sie immer mehr zu seiner Sekretärin. Übrigens waren die ‹Objekte› anonym und es wurden im Protokoll nur das Alter, das Geschlecht und ein etwaiger Ehestand erwähnt. In einem Tagebucheintrag vom 29. September 1941 nennt sie in diesem Zusammenhang den Namen ‹Kropveld› (S. 160; siehe Anm. 60 auf S. 886). Aleida Gerarda Schot (Amsterdam 1900–Amsterdam 1969) besuchte mit Etty Hillesum zu­ sammen Vorlesungen bei Becker und war seit 1936 als selbstständige Übersetzerin aus dem Russischen tätig. Davor hatte sie zwei Übersetzungen veröffentlicht, die in Zusammenarbeit mit Becker zustande gekommen waren. Ursprünglich war sie Anglistin, aber ab dem Mo­ ment, als sie 1930 irrtümlicherweise den Hörsaal von Becker betrat, galt ihr Interesse dem Russischen und sie wurde zu einer bekannten Übersetzerin. Die Verbindung zwischen Schot und Becker, die 1930 entstand, sollte sich zu einer lebenslangen Freundschaft entwickeln.

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Russisch: Literatur. Russisch: Kurze chirologische Notizen. Russisch: Patienten. Spiers Bibliothek. Wegen Platzmangels in der Courbetstraat wurden der größte Teil seiner Büchersammlung und sein Flügel, die er beide aus Deutschland mitgebracht hatte, ins Haus von Wegerif gebracht. Aus der Bibliografie der Schriften von Aleida G. Schot geht keine Vorliebe für das Werk Dostojewskis hervor. Von den vielen Übersetzungen, die sie anfertigte, ist nur eine einzige von Dostojewski, nämlich die Erzählung «Die Sanfte», die erst 1954 erschien. Samuel Parijs (Amsterdam 1913–Sobibor 1943), ein guter Freund von Bernard Meylink. Der Amsterdamer Schreibwarenladen Gebrüder Winter. Etty Hillesum bezieht sich auf eine Lesung von Spier über die Psycho-Chirologie in der ­Valeriusklinik, der psychiatrisch-neurologischen Klinik in Amsterdam. Die Linie, die Etty Hillesum als ‹Kopflinie› bezeichnete, ist eine Linie in der Handfläche, die laut Spier – abhän­ gig von der Form und Lage – auf viel oder wenig Intelligenz, schwache oder starke Nerven, Depressionen, Verklemmtheit, krankhafte Nervosität oder Schizophrenie hinweist. Die ‹Kopf­­linie› ist also nach Spiers Auffassung diejenige Handlinie, die wie keine andere Infor­ mationen zur psychischen Gesundheit des ‹Objektes› liefert. Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799–1837), russischer Dichter und Schriftsteller. Von seinen Werken erwähnt Etty Hillesum Eugen Onegin. Ein Roman in Versen und Das Märchen vom Zaren Saltan. Die Vorlesung zur russischen Geschichte am Dienstagmorgen hielt Becker auf Russisch. Die Vorlesung am 30. September war die erste Vorlesung im Studienjahr 1941 /42. Alfred Kropveld (Amsterdam 1913–Auschwitz 1942), Arzt. Es wurde kein Foto von Spier im Heft gefunden. Christlicher römischer Autor (354–430). Wahrscheinlich bezieht sich Etty Hillesum hier auf seine Autobiografie, die Confessiones («Bekenntnisse»), geschrieben zwischen 397 und 400. Wichtigstes Werk des italienischen Dichters Giovanni Boccaccio (1313–1375), 1353 vollendet. In seinem bereits genannten Buch unterscheidet Spier die Chirologie deutlich von der Chi­ romantie / Chiromantik; zwei Ausdrücke, die häufig verwechselt werden. Unter «Chirolo­ gie» versteht er «die Lehre der Form der Hand, der Finger, der Nägel und der Linien auf der Handfläche», die es sich zum Ziel gesetzt hat, «sich aus dem Zusammenspiel dieser Merk­ male einen Gesamteindruck der Persönlichkeit zu verschaffen, und zwar in einem charak­ terlich-psychologischen Zusammenhang, wobei zugleich auch das Wesen, die Begabung für einen bestimmten Beruf, die Vorbestimmung für Krankheiten und die Erfahrungen berücksichtigt werden sollten». Die Chiromantie / Chiromantik «leitet aus den verschiede­ nen Merkmalen der Hand ebenfalls Eigenschaften der Persönlichkeit und des Charakters ab, ohne dabei die dynamischen und psychologischen Aspekte zu berücksichtigen». Über die Chiromantie / Chiromantik erschienen besonders im 16. Jahrhundert unzählige Bücher, sodass es nicht möglich ist, dieses Buch zu identifizieren. Es ist nicht möglich, diese zwei Bücher über den französischen Maler Paul Gauguin (1848– 1903) zu identifizieren. C. G. Jung, Die Frau in Europa (1927), in Gesammelte Werke X, S. 135–156. Spier hatte dieses Exemplar im Jahr 1928 seiner Frau Hedwig zu Weihnachten geschenkt. Es ist wahrschein­ lich, dass Spier dieses Buch von Jung persönlich erhielt, da diese Arbeit erst 1929 in Buch­ form erschien. Dieser Eindruck wird durch die Tatsache, dass Spiers Exemplar in einem unbedruckten Umschlag steckte, verstärkt. Henny Tideman wohnte in dieser Straße, die nach dem Krieg den Namen Gerrit van der Veenstraat erhielt. André Suarès, Pseudonym von Félix André Yves Scantrel (1868–1948), französischer Autor

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und Dostojewski-Kenner; erlangte unter anderem mit seinen Biografien über Pascal, Ibsen und Dostojewski Bekanntheit, die zusammen unter dem Titel Trois Hommes im Jahr 1913 erschienen. Eine separate Ausgabe der Dostojewski-Biografie erschien 1921 in deutscher Übersetzung. Es ist keine Biografie über den französischen Autor Stendhal (1783–1842) von Suarès bekannt. Während des Zweiten Weltkriegs musste Suarès wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner antifaschistischen Schriften untertauchen. Diese Dreiteilung in der Dostojewski-Interpretation hat Etty Hillesum wahrscheinlich in Anlehnung an Jan Romeins Untersuchung Dostojewskij in de Westersche kritiek («Dostojewski in der westlichen Kritik») (Haarlem 1924) vorgenommen. Sowohl André Suarès als auch Karl Nötzel gehören zu den Autoren, die sich Dostojewski aus einer eher «göttlichen» Pers­ pektive (in Etty Hillesums Wortwahl) nähern wollen. Søren Kierkegaard (1813–1855), dänischer Philosoph und Theologe; großer Verfechter einer persönlichen Glaubenshaltung. Keine Informationen verfügbar. Henny Tideman war gläubige Christin. Damals war sie in der Oxford-Bewegung engagiert. Der Gründer dieser Bewegung, Frank Buchmann, ging davon aus, dass ein guter Christ sich an vier Punkte halten sollte: 1) die vollkommene Liebe, 2) die vollkommene Selbstlosigkeit, 3) die vollkommene Ehrlichkeit und 4) die vollkommene Reinheit. Ein anderer Aspekt von Henny Tidemans Glauben war ihre tägliche «stille Zeit», in der sie Gott zuhörte. Gedanken, die sie während dieser Meditation hatte, betrachtete sie als göttliche Eingebung. Ein Patient von Spier. Keine weiteren Informationen verfügbar. Etty Hillesum zeigte großes Interesse für östliche Philosophien. Spier riet seinen Schülern dazu, sich morgens eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde zurückzuziehen und eine Passage eines religiösen oder philosophischen Textes zu lesen, darüber nachzudenken und diese Gedanken aufzuschreiben. Pastor W. J. Wegerif (Utrecht 1889–Oosterbeek 1967), Han Wegerifs Bruder. Er begann seine Laufbahn 1916 als Pfarrer der Remonstrantischen Bruderschaft in Oudewetering. ­Danach erfüllte er die Funktion eines Pfarrers nacheinander in Alkmaar, Dordrecht und Utrecht. 1933 wurde er nach Rotterdam berufen. Bis 1948 blieb Rotterdam seine Pfarrei. Siehe Anm. 57 auf S. 874 f. Eleonora Duse (1859–1924), italienische Schauspielerin; berühmt sowohl in Italien als auch im Ausland für ihre Darstellungen in Stücken von Ibsen, Maeterlinck und D’Annunzio, mit ­denen sie lange befreundet war. Sie war eine faszinierende Persönlichkeit. Auch Rilke war von ihr begeistert; sie tritt regelmäßig in seinem Werk auf. In Neue Gedichte (1907) ist ihr «Das Bildnis» und in Malte Laurids Brigge (1910) ein kleines Kapitel gewidmet, in dem sie mit «du Tragische» angesprochen wird. Eleonora Duse hat kein eigenes Werk hinterlassen. Etty Hille­ sum las möglicherweise den Brief von Rilke an Marie von Thurn und Taxis-­Hohenlohe vom 12. Juli 1912, in dem er ausführlich auf Duse eingeht. Die betreffenden Passagen sind in Etty Hillesums Exemplar von Rilke, Briefe 1907–1914, angestrichen (S. 232, 233 und 235). Nach der Einführung der Rationierung von Kaffee und Tee am 1. Juni 1940 erschienen Sur­ rogate auf dem Markt, die bald den echten Kaffee und Tee ganz ersetzten. Es gab synthe­ tische Tee-Surrogate in Granulatform, aber auch «natürliche» Surrogate wie Mischungen aus Heidelbeeren, Brombeeren, Weißdorn und Kirschbaumblättern. Tee-Surrogate waren während des ganzen Krieges nicht rationiert. Johan Valkhoff (Schiedam 1897–Amsterdam 1975), der Freund und spätere Ehemann von Lenie Wolff. Er half Studierenden bei der Vorbereitung auf Examen in den Fächern Privat­ recht und Handelsrecht. 1928 promovierte Jo Valkhoff mit der Dissertation De marxistiese opvattingen over recht en staat («Die marxistischen Auffassungen von Recht und Staat»). Jo Valkhoff und Lenie Wolff gehörten zu denjenigen, die intensive Gespräche mit Etty Hille­ sum führten, um sie davon zu überzeugen unterzutauchen. Lenie Wolff tauchte selbst 1942

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unter. Jo Valkhoff half untergetauchten Studierenden und schrieb für verbotene Zeitungen. Er war selbst kein Jude. 1945 wurde er Parlamentsreporter von Het Vrije Volk («Das freie Volk», niederländische, sozialdemokratische Tageszeitung) und Professor der Rechtswissen­ schaften an der Fakultät der Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Amsterdam. Johan Valkhoff. Etty Hillesum studierte von 1932 bis 1939 Rechtswissenschaften an der Universität von Ams­ terdam. Etty Hillesum zitiert hier Kohelet 9,10 in der damals üblichen niederländischen Bibelüber­ setzung («Statenvertaling»). In der Zürcher Bibelübersetzung lautet die Stelle: «Was immer du zu tun vermagst, das tu.» Russisch: Verstand schafft Leiden. Komödie des russischen Bühnenautors Alexander Sergeje­ witsch Gribojedow (1795–1829). Walther Rathenau (1867–1922), deutscher Industrieller und Politiker, daneben auch bedeu­ tender Publizist. Er wurde 1922 von zwei Rechtsextremisten in Berlin ermordet. Zitat aus W. Rathenau, Briefe an eine Liebende, Dresden, Carl Reissner, 1931, S. 19 f. Variation des Mottos des Reiseberichts Die Harzreise (1824), verfasst von dem deutschen Dichter Heinrich Heine (1797–1856). (Dort heißt es: «Nichts ist dauernd als der Wechsel.») Heft 3

1 Zitat aus Rathenau, Briefe an eine Liebende, S. 45. 2 Anmerkung der Übersetzerin: Etty Hillesum verwendet an dieser Stelle die veraltete Form «Ick en weet het niet» (statt modernes Niederländisch: «Ik weet het niet») und zitiert damit Johannes 9,12 in der niederländischen Bibelübersetzung von 1637 («Statenvertaling»). 3 Etty Hillesum strich diese Passage später mit einem Stift durch und schrieb an den linken Seitenrand: 19. 12. 42, / vulgär und banal / Pfui, Etty, dass du so warst. 4 Wahrscheinlich gebraucht Etty Hillesum hier den Jung’schen Ausdruck «Inflation», unter dem man eine durch Identifizierung entstandene Erweiterung der Persönlichkeit versteht. 5 Anmerkung der Übersetzerin: Beginn des von Rilke übersetzten Sonetts V von Elisabeth Barrett-Browning (1806–1861): Sonette aus dem Portugiesischen, übertragen durch Rainer Maria Rilke, Insel Verlag, Leipzig, 1911. 6 Zitat aus Rathenau, Briefe an eine Liebende, S. 48. 7 Die Erhebungen in der Hand, die sich unterhalb der verschiedenen Finger befinden, heißen in der Chirologie «Berge» und tragen die Namen von griechischen Göttern. Der Berg unter­ halb des Daumens heißt Venusberg, derjenige unterhalb des Zeigefingers Jupiterberg, derje­ nige unterhalb des Mittelfingers Saturnberg, derjenige unterhalb des Ringfingers Apollo­ berg, derjenige unterhalb des kleinen Fingers Merkurberg, während sich an der Seite der Handfläche noch der Marsberg und der Mondberg befinden. Die Berge zeigen, wie die Funktionen, die von den Fingern abgeleitet werden können, aktiv in der Psyche zum Aus­ druck kommen. Etty Hillesum schreibt, dass bei ihr der Jupiterberg zum Glück nicht der größte ist. Diese Freude ist verständlich, denn ein zu großer Jupiterberg deutet darauf hin, dass bei der Persönlichkeit Ehrgeiz, Geltungsdrang und Eitelkeit dominieren. Der Apollo­ berg weist auf künstlerische Begabung, ästhetisches Interesse und  – in Kombination mit anderen Eigenschaften  – auf Sinn für Schönheit hin. Laut Etty Hillesum ist der ApolloMerkur-Berg bei ihr der größte. Ein zu hoher Merkurberg weist auf Profitstreben, Verlogen­ heit und die Neigung, die Mitmenschen materiell auszubeuten, hin. In der Chirologie ach­ tet man auf die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Merkmalen der Hand. Die Linien, die Berge, die Finger, die Farbe, die Form, die Kraft und die Fleischigkeit der Hand können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden.

zu Seite 177–190 8 Etty Hillesum fühlte sich dazu berufen, Liesl Levie über die von ihr gewonnenen Erkennt­ nisse zu «unterrichten». 9 Am 23. Oktober 1941 erließ der Reichskommissar für die Niederlande, Arthur Seyß-Inquart (1892–1946), eine Verordnung, dass Juden nicht mehr Mitglieder einer Non-Profit-Orga­ nisation oder Stiftung, an der auch Nichtjuden beteiligt waren, bleiben durften. Diese Ver­ ordnung trat am 1. November in Kraft. Am gleichen Tag wurde noch eine zweite Verord­ nung erlassen: Es wurde Nichtjuden verboten, Arbeiten in Haushalten von Familien zu verrichten, in denen ein Jude das Haupt der Familie war oder in denen ein Jude, dauerhaft oder temporär, Teil der Familie war. Beide Verordnungen wurden am 24. Oktober 1941 in den Zeitungen veröffentlicht. 10 Im Gegensatz zu den Musikabenden des «Spier-Clubs» trugen die Recitals von Mischa Hil­ lesum mehr den Charakter von formellen Konzerten, auch wenn sie wegen der antijüdi­ schen Maßnahmen bei Privatpersonen zu Hause stattfanden. Mischa Hillesum trat vor al­ lem bei Mien Kuyper auf. Er galt als genialer Pianist. Er spielte unter anderem Chopin, Ravel, Saint-Saëns und Bach in der Bearbeitung von Busoni. Spier kaufte für Mischa einmal Max Reger, Variationen und Fuge über ein Thema von Telemann. Innerhalb von vierzehn Tagen spielte Mischa diese bei einem Hauskonzert (siehe Anm. 17 auf S. 895). Das Programm von Mischa Hillesums Musikabend vom 12. Oktober 1941 ist erhalten ge­ blieben. Auf der Vorderseite sind – in Schreibmaschinenschrift – die Klavierwerke aufge­ führt, die Mischa Hillesum an diesem Abend zu Gehör brachte. Das Programm sah wie folgt aus: KLAVIERABEND von Mischa Hillesum

12. Oktober 1941 PROGRAMM 1. Orgelfantasie und Fuge in g-Moll 2. Sonate in D-Dur KV 576 Adagio Allegretto 3a. Berceuse op. 57    b. Scherzo op. 31 4. Rondo Capriccioso e-Moll op. 14

Joh. Seb. Bach (1685–1750) in einer Klavier­ bearbeitung von F. Liszt W. A. Mozart (1756–1791) Allegro

Fr. Chopin (1810–1849) F. Mendelssohn-Bartholdy (1809–1847)

PAUSE 5a. Funérailles (aus ‹Harmonies Poétiques et religieuses›) b. Gnomenreigen-Konzertetüde 6a. Mélodie op. 3 b. Prélude op. 16 c. Etüde op. 42 d. Hopak 7. Préludes No. 1 und 2 8a. Reflets dans l’eau b. Jardins sous la Pluie

Franz Liszt (1811–1886)

S. Rachmaninoff (1873) A. Scriábin (1872–1915) M. Mussorgski (1872–1915) M. Hillesum (1920) Cl. Debussy (1862–1918)

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Auf der Rückseite steht, in der Handschrift von Henny Tideman: «Ich bete für dich.» An­ sonsten findet man auf der Rückseite: fünf kleine Zeichnungen von Gesichtern, stenogra­ fische Notizen, auf Niederländisch die Worte «Der 2.» («2.» durchgestrichen), «Frau Kuiper ist auch da» (ganz durchgestrichen) sowie «und er hängt an allen Wänden», und auf Grie­ chisch ein Vers aus einem anonymen altgriechischen Volkslied (Nr. 852 in D. L. Page, Poetae Melici Graeci, Oxford, 1962). Spier war in Beetsterzwaag zu Besuch bei Frau A. C. (An) Wolterbeek (Amsterdam 1895–­Utrecht 1989) gewesen. Sie war eine Freundin von ihm und hatte dort die Leitung ­eines Kinderkrankenhauses inne, das sich im Schloss Lyndensteyn befand. Spier hatte sich darum gekümmert, dass Riet Bongers als Krankenschwester in diesem Krankenhaus arbei­ ten konnte. Jan Jacob Slauerhoff (1898–1936), niederländischer Dichter und Prosaschriftsteller, unter anderem Autor von Het verboden rijk («Das verbotene Reich», 1932), einem Roman, der in der von ter Braak, du Perron und Roelants gegründeten Zeitschrift Forum erschien. Louis Zimmerman (Amsterdam 1913–Den Haag 1998), ein Freund von Frans van Steen­ hoven, mit dem zusammen er Wirtschaft studierte. Er lernte Etty Hillesum 1933 in links­ sozialistischen Milieus kennen. In den Jahren vor dem Krieg sahen sie sich regelmäßig; ihr gemeinsames Interesse galt damals zu einem großen Teil der Politik. Etty Hillesum besuchte Zimmerman regelmäßig bei ihm zu Hause. Er wohnte mit seinen Eltern in der Wouwer­ manstraat, die sich in der Nähe der Gabriël Metsustraat befand. Zimmermans Vater war ungefähr vierzig Jahre lang der erste Konzertmeister des Concertgebouw-Orchesters gewe­ sen und ließ Mischa Hillesum regelmäßig bei sich zu Hause spielen. 1940 zog Louis Zim­ merman nach Rotterdam um. Seither traf er Etty Hillesum nur selten. Nach dem Krieg wurde er Professor für Wirtschaft (mit Fokus auf Entwicklungsländern). Louis Hillesum wurde am 29. November 1940 im Auftrag der Besatzungsbehörden seines Amtes enthoben. Auf Initiative des Präsidenten der Schülerverbindung wurde ein Foto von der ganzen Schulgemeinde gemacht. In seiner Abschiedsrede an diesem Tag zitierte Louis Hillesum Geert Groote, den Vater der Devotio moderna: «Voer alle dinc dunckt mi goet dat ghi geestelike blide sijt.» («Vor allen Dingen dünkt es mich wichtig, dass ihr im Geiste froh seid.») Auf seine Bitte hin wurde er offiziell am 1. März 1941 entlassen. Danach erhielten die Hillesums ein bescheidenes Arbeitslosengeld. Latein: «Ich denke, also bin ich. Du glaubst, also bist du nicht.» Erweiterung des Aus­ spruchs «Cogito, ergo sum» des französischen Philosophen René Descartes (1596–1650). Etty Hillesum spielt auf eine Episode an, in der der Baron von Münchhausen sich selbst und sein Pferd an seinen Haaren aus dem Sumpf herauszieht. Das Evangelium des vollkommenen Lebens. Ein ursprüngliches und vollständiges Evangelium, aus dem aramäischen Urtext ins Englische übersetzt und herausgegeben von Rev. G. J. Ouse­ ley, deutsche Ausgabe mit einem Vor- und Nachwort und Kommentaren von Rudolf Mül­ ler, Bern etc., Blume, 19534, S. 213. Es geht hier um einen Text aus dem 19. Jahrhundert, der vom Autor als eine Übersetzung eines ursprünglich aramäischen Evangeliums aus dem 1. Jahrhundert vorgestellt wird, der aber faktisch eine Fälschung ist. Zitat aus Das Evangelium des vollkommenen Lebens, S. 218. Max war ein junger Mann in Etty Hillesums Alter, mit dem sie in ihrem ersten Studienjahr eine leidenschaftliche Beziehung hatte, die jedoch scheiterte, als Max sie mit einer anderen Frau betrog. Wahrscheinlich geht es hier um Max Knap (Amsterdam 1913–Steenderen 1984). Er studierte Rechtswissenschaften in Amsterdam, wo er Jugendrichter wurde und später ­Vizepräsident des Landgerichts. Er war gleichzeitig auch Vorsitzender der Ärztekammer des Amtsbezirks Amsterdam. Dr. Werner Münsterberger (Dortmund 1913–New York 2011) studierte Medizin in der Schweiz und wurde Psychoanalytiker. Er schloss danach ein Studium der Ethnologie in

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­ asel / Leiden ab und erwarb, ebenfalls noch vor dem Krieg, nach einem Studium der Kunst­ B geschichte in London einen Magistergrad. Er zog von Deutschland in die Niederlande, weil er Jude war und weil sein ethnologisches Interesse fortan Niederländisch-Indien (heutzu­ tage: Indonesien) galt. Neben einer Studie über Rilke, den er bewunderte, publizierte Müns­ terberger ethnologische Studien unter anderem über Niederländisch-Indien. Zudem ist er der Erste gewesen, der in den Niederlanden über primitive Kunst schrieb. Münsterberger kannte Spier und fand ihn faszinierend und interessant. Der junge, hochgebildete und kos­ mopolitische Münsterberger hatte in den Amsterdamer intellektuellen Kreisen einen ge­ wissen Namen. Bis zu seinem Untertauchen arbeitete er am Kolonialen Institut (heute: Königliches Tropeninstitut) in der Hauptstadt. 1942 freundete er sich mit der späteren Schauspielerin Elisabeth Andersen an, bei der er noch im selben Jahr untertauchte. Nach dem Krieg organisierte Münsterberger Ausstellungen im Stedelijk Museum (= Städtisches Museum, Kunstmuseum in Amsterdam). 1947 emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Oskar Pfister, Psychoanalyse und Weltanschauung, Wien, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1928 (erstmals in seiner Publikation Zum Kampf um die Psychoanalyse im Jahr 1920 erschienen). Boris Rapschinskiï, Russische handelscorrespondentie («Russische Handelskorrespondenz»), Zutphen, Thieme, 1922. Henny Tideman wollte beim Bildungswesen der Kolonialregierung in Niederländisch-­ Indien arbeiten, aber sie wurde aus medizinischen Gründen abgelehnt. Unter dem Ausdruck anima versteht Jung die Personifikationen der weiblichen Art im Un­ bewussten des Mannes. Das Gegenstück ist der animus, die Personifikationen der männ­ lichen Art im Unbewussten der Frau. Der Animus und die Anima müssen eine Verbindung zwischen dem individuellen Bewusstsein und dem kollektiven Unbewussten herstellen; das psychische Gebiet muss unabhängig von Ort und Zeit immer wieder aus Mythologien, Märchen und religiösen Motiven entstehen. Dieses kollektive Unbewusste, das alle gemein haben, bildet die Basis der Seele. Im Russischen wird «Seele» als freundschaftliche, familiäre Anredeform verwendet, wobei üblicherweise das Wort «meine» vorangestellt wird. Unbekanntes Zitat, auf das noch zweimal angespielt wird (siehe S. 388 und S. 389). Der Dämon, Novelle in Versen (1829–1839) von Lermontow, die die verhängnisvolle Liebe eines einsamen Dämons zu der georgischen Prinzessin Tamara zum Thema hat. Ödön von Horváth (1901–1938), Sohn eines ungarischen Diplomaten; studierte in Mün­ chen, Literaturwissenschaftler seit 1923. 1934 verließ er Deutschland und ließ sich schließ­ lich in der Schweiz nieder. Mit dem ersten Titel meint Etty Hillesum Jugend ohne Gott von Ödön von Horváth, 1938 bei Allert de Lange in Amsterdam herausgegeben. Wahrscheinlich meint sie mit dem zwei­ ten Buch Ein Kind unserer Zeit, das ebenfalls 1938 bei Allert de Lange erschien. Gottfried Kinkel (1815–1882), zunächst Pfarrer in Deutschland, später Professor für Archäo­ logie und Kunstgeschichte in den Vereinigten Staaten; er schrieb auch Romane. Etty Hillesum beschreibt hier das Wohnzimmer in der Gabriël Metsustraat. Lateinisch: «ich habe viel ertragen / gelitten»; Zitat aus Ovids Tristia (iv, 10, 102). Der be­ kannte niederländische Autor Eduard Douwes Dekker (1820–1887) schrieb unter dem Pseu­ donym Multatuli. Anmerkung der Übersetzerin: In den Niederlanden zählt Multatuli mit seinem Roman Max Havelaar zum Kanon der Schulbuchliteratur. Keine Informationen verfügbar. Möglicherweise die Frau, bei der Etty Hillesum sich als Gesellschafterin beworben hatte. Karl Nötzel (1870–1945), deutscher Kulturhistoriker; setzte sich besonders für eine Annähe­ rung zwischen Russland und Deutschland ein. Neben Das heutige Rußland (2 Bände, Mün­ chen, Georg Müller, 1915 /18) nennt Etty Hillesum auch sein Buch Die russische Leistung (1927).

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Anmerkungen 35 Auf einem losen Stückchen Papier ist die folgende Notiz erhalten geblieben – undatiert, aber sehr wahrscheinlich ungefähr in dieser Zeit geschrieben: «Ich schäme mich. Ich habe Lebensangst. Ich finde mich eine schlechte Sekretärin und weil ich mich darüber schäme, werde ich immer schlechter. Ich finde dann immer, daß Sie mich entlassen müssen. Ich möchte eine Zeit mehr Psychologie und weniger Chirologie. Ich möchte ein bestimmtes Buch studieren.» Das Stück Papier enthält außerdem einzelne unklare

Kritzeleien. 36 Das Gerücht, dass alle Juden in ein Konzentrationslager in Polen geschickt werden sollten, geht wahrscheinlich unter anderem auf die erste Deportation von Juden aus den deutschen Städten zurück, die in der zweiten Oktoberhälfte im Jahr 1941 stattfand, und auf einen ein­ gesandten Brief in der Novemberausgabe der illegalen Zeitung Vrij Nederland («Freie Nie­ derlande»), in dem ein erschütternder Bericht über das Schicksal der deutschen Juden veröf­ fentlicht wurde. Zudem war in den Niederlanden seit März 1941 die «Zentralstelle für jüdische Auswanderung» a­ ktiv. Die Tätigkeiten dieser deutschen Behörde erstreckten sich in erster Linie auf die Organisation der Emigration von deutschen und staatenlosen Juden aus den Niederlanden. 37 In diesem Kontext sind die folgenden Zeilen interessant, die auf einem separaten Stück ­Papier erhalten sind: «aber dann verwendest du also ‹literarisch› im Sinne von ‹künstlich› oder ‹unnatürlich›. Aber der Drang in mir, das Leben zu Literatur zu machen, ist sehr wahr­ haftig und echt. Es ist nicht: das Leben schöner machen wollen, als es ist, aber doch schon das Kristallisieren in einer bestimmten Form, einem Bild, einem Gedicht.» Dieses Fragment ist mit Bleistift auf einen Papierfetzen geschrieben; auf der Rückseite sind einige Zeilen russische Vokabeln und Konjugationen zu finden. 38 Zitat aus Levitikus 19,18 und Matthäus 22,39. 39 Die Michelangelostraat ist eine Seitenstraße der Apollolaan in Amsterdam-Süd. 40 Anspielung auf Genesis 1,27. 41 Anspielung auf 1. Korinther 13,1–3. 42 Dr. L. ist Werner Levie. Er war ein Zionist und fand, dass Spier mehr über das Judentum wissen sollte. Daher gab er Spier das Buch von Josef Kastein (Eine Geschichte der Juden, Wien, 1935) mit. Im Gegenzug riet Spier Levie dazu, das Neue Testament zu lesen. Die Levies hatten eine riesige Bibliothek mit vielen Judaika. Werner hatte auch versucht, Etty Hillesum dafür zu interessieren, allerdings erfolglos. Als junger Mann arbeitete Werner als Hutverkäu­ fer in Berlin. Am Abend studierte er Dramaturgie und später Wirtschaft. 1926 promovierte er bei W. Sombart. Er wurde wirtschaftlicher Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften des Ullstein Verlags und gründete eine Wochenzeitschrift, die Berliner Jüdische Zeitung. Nach der Machtübertragung an Hitler im Jahr 1933 wurden diese Aktivitäten beendet. Als jüdische Künstler, Schauspieler, Regisseure, Kulissenmaler und technisches Personal entlassen wur­ den, vereinten sich diese im «Jüdischen Kulturbund». Werner Levie wurde Geschäftsführer. Unter der Leitung von Levie wurden in anderen deutschen Städten ebenfalls jüdische Thea­ terensembles, die für Juden spielten, gegründet. 1940 wurde er in Amsterdam Geschäfts­ führer der Hollandsche Schouwburg (Holländisches Theater), die auf Anordnung der Besat­ zer im Oktober 1941 in «Jüdisches Theater» umbenannt wurde. In diesem Theater spielte unter anderem das von ihm gegründete jüdische Kleinkunst-Ensemble. Dort, an der Plan­ tage Middenlaan, konnten jüdische Künstler, darunter viele Emigranten, vor jüdischem Publikum auftreten, bis die deutsche Besatzungsbehörde auch dies verbot und die Holland­ sche Schouwburg als Sammelstelle für Deportationen verwendete. 43 Es ist unklar, auf welches Werk über den florentinischen Maler (ca. 1445–1510) Etty Hille­ sum sich hier bezieht. 44 Siehe Anm. 21 auf S. 891.

zu Seite 207–227 45 Mischas Gesicht war fast ausdruckslos, wenn er spielte. Das Konzert, auf das sich Etty Hil­ lesum bezieht, fand im Haus von Mien Kuyper statt. 46 Etty Hillesum hatte Rudolf Jan Polak (Amsterdam 1916–Amsterdam 2003) 1939 kennenge­ lernt. Trotz der deutschen Verordnungen blieb Jan Polak unter dem Pseudonym De Gruyter als Rechtsanwalt tätig. Die Verlobte von Jan Polak war Winy Spaander (Amersfoort 1920– Amsterdam 1942). 47 Siehe S. 210. 48 Diese Linie kommt in Spiers Handanalyse nicht vor. 49 Multatulis Idee 1. Der Text lautet ursprünglich: «Vielleicht ist nichts gänzlich wahr, und nicht einmal das.» Anmerkung der Übersetzerin: Bei Multatulis «Ideen» handelt es sich um aphoristische und essayistische Betrachtungen, die in 7 Bänden zwischen 1862 und 1877 veröffentlicht wurden. 50 Siehe S. 213. 51 Imre Ungar (Budapest 1909–Budapest 1972), ungarischer Pianist, im Alter von drei Jahren nach einer Krankheit erblindet. Dennoch machte er bereits in jungen Jahren Karriere als Konzertpianist. 1926 gewann er den Musikpreis der Stadt Budapest und 1932 den ChopinWettbewerb in Warschau. Mitte der Dreißigerjahre konzertierte er in den Vereinigten Staa­ ten. Als der Krieg ausbrach, befand er sich zufällig in Amsterdam. Lenie Wolff erhielt von ihm Klavierunterricht und organisierte während der Besatzungszeit Hauskonzerte für Ungar. Er trat auch im «Jüdischen Theater» auf und erteilte im Rahmen von Lehrgängen, die vom Judenrat veranstaltet wurden, einige Kurse über jüdische Komponisten mit musikalischer Illustration. 1943 kehrten Ungar und seine Frau mit einem von den Besatzern organisierten Transport für ungarische Juden aus Amsterdam nach Budapest zurück. Dort tauchten sie unter. Nach dem Krieg trat Ungar noch gelegentlich im Amsterdamer Concertgebouw auf. Von 1949 bis zu seinem Tod war er Dozent an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest. 52 Ebenso wie eine Hagenpreek in der Zeit der Reformation war dies eine illegale Aktion. Anmerkung der Übersetzerin: Eine Hagenpreek war eine Predigt im Freien von verfolgten Anhängern der reformierten Kirche in den Niederlanden. 53 Douwe J. Vis (Enkhuizen 1897–Enkhuizen 1975), Geschäftsführer der Samenhandlung Ge­ brüder Vis NV in Enkhuizen, der aus geschäftlichen Gründen Russisch lernte. 54 Die erste Strophe dieses Volksgedichts lautet wie folgt: «Der Mensch leidet oft am meisten / unter dem Leiden, das er fürchtet / aber das niemals auftaucht / sodass er mehr zu leiden hat / als Gott ihm je zu tragen gibt.» Das Gedicht wird sowohl Nicolaas Beets (1814–1903) als auch Eliza Laurillard (1830–1908) zugeschrieben. 55 In Bilthoven wohnte Jet Rümke-Everts. Siehe auch Anm. 49 auf S. 919. 56 Russisch: eine Liebesnacht hier. 57 Russisch: liebsten Freunde. Den Superlativ des Wortes «дорогой» (lieb) hat Etty Hillesum falsch gebildet. 58 Anspielung auf das Buch des deutsch-jüdischen Philosophen Martin Buber (1878–1965) mit dem Titel Ich und Du (1923). Darin ist das zentrale Thema der Dialog zwischen Gott und Mensch. 59 Im Original spielt Etty Hillesum auf das afrikanische Sprichwort «Alles sal reg kom» an, indem sie hier auf Afrikaans statt auf Niederländisch schreibt. Es handelt sich um eine ­Äußerung von J. H. Brand (1823–1888), dem vierten Präsidenten des Oranje-Freistaats, die zu Unrecht Paul Kruger zugeschrieben wird. 60 Der Idiot, Roman von Dostojewski aus dem Jahr 1868. 61 Wahrscheinlich ist «Het Apeldoornsche Bosch» gemeint, die jüdische psychiatrische Klinik in Apeldoorn. 62 André Suarès, Dostojewski, Berechtigte Übertragung von Franz Blei, München, Kurt Wolff Verlag, 1921, S. 118.

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Anmerkungen 63 Paul van Ostaijen (1896–1928), flämischer Dichter. 64 Evaristos Edgar Glassner (Leipzig-Lindenau 1912–Amsterdam 1988), deutscher Organist und Pianist; studierte Orgel an der Hochschule in Berlin. Er beendete sein Studium im Jahr 1934. Nachdem er 1937 als Organist in einer protestantischen Kirche ein Arbeitsverbot er­ halten hatte, wich er nach Amsterdam aus (Glassner war «halbjüdisch»). Er war Spier schon einmal flüchtig begegnet, in Berlin; in Amsterdam wurde er zum Hofpianisten bei den musika­lischen Zusammenkünften des «Spier-Clubs». Er begleitete Spier, Henny Tideman und Adri Holm. Man sang Lieder von Schubert, Mahler und Brahms. Glassner diente auch als «Objekt» in Spiers Kurs. Glassner lernte Mischa über Etty Hillesum kennen. Sie freun­ deten sich an und sprachen viel über Musik. In der Besatzungszeit konnte Glassner sich seinen Lebensunterhalt einigermaßen verdienen, indem er Klavierunterricht bei Privatper­ sonen erteilte. Nach dem Krieg war Glassner als Klavier- und Orgellehrer tätig. 65 Auf dem Weg nach Bilthoven. Heft 4 1 Die Eltern von Juliana Vasseur waren Paulus Vasseur (1882–1967) und die Lettländerin Irene G. V. Trantz (1885–1965). 2 Wahrscheinlich meint Etty Hillesum «Smolensker Grütze», einen Brei aus gekochter Buch­ weizengrütze. 3 Julius Spier. 4 Maurice Betz, Rilke in Frankreich. Erinnerungen – Briefe – Dokumente, Wien et al., Herbert Reichner Verlag, 1938. Gemeint ist die deutsche Übersetzung von Maurice Betz’ Buch Rilke vivant. Souvenirs, lettres, entretiens, Paris, éditions Émile-Paul Frères, o. J. [1937] von Willi Reich. 5 Siehe S. 208. 6 Spiers Flügel, ein Bechstein, war zusammen mit 1100 Büchern in das Haus von Wegerif umgezogen. 7 Johannes Brahms (1833–1897), Wiegenlied, op. 49 Nr. 4, aus dem Jahr 1868. Die erste Strophe stammt aus Des Knaben Wunderhorn, die zweite von Georg Scherer. 8 Zitat aus Suarès, Dostojewski, S. 136. 9 Bezieht sich auf den Briefwechsel zwischen dem französischen Philosophen Pierre Abélard (1079–1142) und seiner Frau Héloïse. In seinen Briefen versuchte Abélard, ihre Liebe in eine Liebe für Gott zu sublimieren. 10 R. M. Rilke, Auguste Rodin, Berlin, Marquardt & Co., 19082 (1. Auflage bei J. Bard, Berlin, 1903; seit 1913 neu aufgelegt im Insel Verlag in Leipzig). In der 2. Auflage wurde dieses Werk um eine Lesung ergänzt, die Rilke 1907 über Rodin hielt (Sämtliche Werke 5, S. 139 ff.). 11 Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 180. 12 Mien Kuyper-Canté (Amsterdam 1898–Amsterdam 1957). Sie war die Witwe von Prof. Dr. R. Kuyper und wohnte an der Reynier Vinkeleskade in Amsterdam-Süd. Sie hatte 1921 die Abschlussprüfung im Fach Klavier am Amsterdamer Konservatorium bestanden und ­erteilte Klavierunterricht. Zudem setzte sie sich für junge talentierte Musiker ein und half ihnen bei ihrer Karriere. Mischa Hillesum war einer ihrer Protegés. Sie organisierte regelmäßig Haus­ konzerte für Mischa. Irgendwann zog Mischa mehr oder weniger bei ihr ein. 13 Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 11; das Zitat stammt aus dem einführenden Kapitel, das den Titel «Entdeckung der Poesie» trägt, in dem Betz erzählt, wie er 1915 in der Biblio­ thek des Mediävisten Schneegans Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1906) entdeckte und so Bekanntschaft mit dem Werk von Rainer Maria Rilke machte. 14 Es ist nicht verwunderlich, dass Etty Hillesum mit der Lektüre von Der Idiot Mühe hatte.

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Sie hatte wenig Erfahrung im selbstständigen Lesen russischer Literatur in der Originalspra­ che und Hilfsmittel wie ein geeignetes Wörterbuch oder kommentierte Ausgaben fehlten. Keine Informationen verfügbar. Klaas Kort (Enkhuizen 1910–Leidschendam 1985); damals Prokurist der Samenhandlung Gebroeders Vis in Enkhuizen, er nahm bei Etty Hillesum privat Russischunterricht. Ein Briefentwurf an Klaas Kort ist auf S. 711 zu finden. Max Reger (1873–1916), deutscher Komponist. 1914 komponierte er Variationen und Fuge über ein Thema von Telemann, op. 143. Zweifellos ist hier die Vertonung von J. S. Bach gemeint. Rainer Maria Rilke, Das Stunden-Buch, enthaltend die drei Bücher: Vom mönchischen ­Leben / Von der Pilgerschaft / Von der Armut und vom Tode, Leipzig, Insel Verlag, 1905 (Sämtliche Werke 1, S. 251 ff.). 1899 trat Rilke mit Lou Andreas-Salomé und ihrem Mann seine erste Reise nach Russland an. Im Jahr darauf machten Andreas-Salomé und Rilke eine zweite Reise nach Russland. Rilke betrachtete Russland als sein wahres Vaterland. Zitat aus Suarès, Dostojewski, S. 81. Etty Hillesum hat den Satz «Die Alten sind allzufleisch­ lich» weggelassen. Zitat aus Rathenau, Briefe an eine Liebende, S. 19 ff. Einen Teil aus diesem Zitat hat Etty Hillesum auch in Woche 11 des Zitatebuchs Levenskunst («Lebenskunst») übernommen. Käse war seit dem 21. Oktober 1940 rationiert. Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 47. Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 47 f. Im Jahr 1925. Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 55. Keine Informationen verfügbar. Teil von Spiers Therapie war das sogenannte «Ringen». Durch eine körperliche Konfronta­ tion versuchte Spier Spannungen zu lösen und den Patienten sowohl körperlich als auch psychisch «zu lockern». Nicht alle schätzten diese Methode. Anspielung auf Kohelet 1,1. Zitat aus Rilke, Das Stunden-Buch (Sämtliche Werke 1, S. 318 ff.). Der törichte Lebedew aus Der Idiot; der Trunkenbold Marmeladow aus Schuld und Sühne; der alte, wollüstige Fjodor Karamasow aus Die Brüder Karamasow. Zitat aus Suarès, Dostojewski, S. 101. Stefan Zweig (1881–1942), österreichischer Schriftsteller; lebte in Wien und in der Schweiz, bis er 1938 nach England und später nach Amerika auswanderte. Er beging in Brasilien Selbstmord. Zitat aus S. Zweig, Abschied von Rilke, Tübingen u. a., Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, (1928) 1946, S. 18. Die Lektüre von Land van Herkomst («Das Herkunftsland»; Amsterdam, Em. Querido, 1935, 1. und 2. Auflage), einem autobiografischen Roman von E. du Perron, begann wahr­ scheinlich am Mittwoch, 29. Oktober 1941. Die in eckigen Klammern wiedergegebenen Gedanken zum Buch wurden auf einem mit Bleistift beschriebenen Papierfetzen gefunden. 7. Dezember 1941. Die zwei Glasmalereifenster der Agnietenkapel am Oudezijds Voorburgwal. Diese Kapelle diente als Hörsaal der juristischen Fakultät der Universität Amsterdam. Auf dem linken Fenster ist im Vordergrund die hl. Agnes dargestellt. Zu ihren Füßen liegt das Lamm Gottes. Ruth Spier (Frankfurt a. M. 1918–Berlin 2018), später Busse-Spier; Tochter von Julius Spier. Ruth und Wolfgang, der Sohn von Spier (Frankfurt a. M. 1920–Berlin 2011), später ein be­ kannter Schauspieler, wurden in einer Atmosphäre von Kunst und Kultur großgezogen.

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Ruth erhielt als kleines Mädchen privaten Ballettunterricht von der Tänzerin Paluka. Später wurde sie Schauspielerin. Nachdem sie in den Dreißigerjahren als «Halbjüdin» vom Theater ausgeschlossen worden war, beschloss Ruth eine Ausbildung zur Opernsängerin zu machen und sie wurde eine hervorragende Koloratursängerin. Als der Krieg ausbrach, schlossen die Theater in Berlin und Ruth tourte mit einer Gruppe zwei Jahre lang durch die Provinz. Sie sang hauptsächlich Opern von Verdi, Weber und Mozart und nur wenige Operetten. 1943 heiratete sie Dr. Busse. Den Kontakt zu ihrem Vater erhielt sie per Brief aufrecht. – Hertha ist Hertha S. Levi, die nach London ins Exil gegangene Verlobte von Spier. Es ist unklar, was Hertha mit «Prostituierten in einem Bücherkiosk in einem Londoner Park» zu tun hatte. – «Die richtige Mutter» ist Hedwig Rocco, die Ex-Frau von Spier. Sie war mit Alfred Dassow verlobt, einem Soldaten, der fünfundzwanzig Jahre jünger als sie war. Dassow schickte wahrscheinlich auf Veranlassung von Spiers Ex-Frau hin einen Drohbrief an ihn. Hedwig Rocco war nach der Scheidung, die von ihr ausgegangen war, enttäuscht und verbittert. Sie begann damit zu drohen, dass sie Spier bei den Behörden anzeigen würde. Trotz der Aggression, die sie gegen ihn richtete, nahm Spier ihr dies alles nicht übel. Während Spiers letzter Krankheit schrieb sie ihm einen Brief, in dem sie ihn um Verzeihung bat. Nach dem Fall Berlins verlor Hedwig Rocco ihre Besitztümer. Dassow, den sie 1943 geheiratet hatte, verließ sie. 1946 nahm sie sich das Leben. Zitat aus «David singt vor Saul» (1905 / 06), enthalten in Rilke, Neue Gedichte (1907) (Sämt­ liche Werke 1, S. 488). Hauptperson aus Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910). Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 78. Betz bezieht sich auf eine Passage aus Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in der beschrieben wird, wie der Dichter Félix ­Arvers sein Sterben hinauszögert, um eine Nonne des Krankenhauses zu korrigieren, weil sie laut «collidor» statt «corridor» gerufen hatte. Danach stirbt Arvers. Zur Erklärung folgt dann: «Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre» (Rilke, Sämtliche Werke 1, S. 863). Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 78. Eine Reihe von Zitaten aus Rilke, Das Stunden-Buch; die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe Sämtliche Werke 1: S. 253,  Z. 2–4: aus «Wenn es nur einmal so ganz stille wäre», S. 256; Z. 5–12: aus «Ich lese es heraus aus deinem Wort», S. 257; Z. 13: aus «Der blasse Abel­ knabe spricht», S. 258; Z. 14–15: aus «Ich glaube an Alles noch nie Gesagte», S. 259; Z. 16–19: aus «Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug», S. 260; S. 253, Z. 20–S. 254, Z. 2: aus «Ich bin auf der Welt, etc.», S. 260; Z. 3–11: aus «Du siehst, ich will viel», S. 261; Z. 12–15: aus «Wir bauen an dir mit zitternden Händen», S. 261; Z. 16–19: aus «Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat», S. 262. Amsterdam war zu dieser Zeit an der Südseite durch die Stadionkade begrenzt. Auf der ge­ genüberliegenden Seite dieser Straße war eine unbebaute Fläche. Gertrud Gotthelf Cohen (Remscheid 1899–Bergen-Belsen 1945); verheiratet mit Jacques (Jacob) Cohen (Deventer 1888–Westerbork 1944). Jacques und sein Bruder Ru Cohen be­ trieben in Deventer ein Einrichtungshaus. Prof. Dr. David Cohen, einer der beiden Vorsit­ zenden des Judenrates, war ihr Bruder. Jaap Hillesum hatte eine Beziehung mit der schon etwas älteren Trude Cohen. Etty Hillesum setzt diese Worte in Anführungszeichen, weil sie sich selbst zitiert; siehe S. 252. Romain Rolland (1866–1944), französischer Romanschriftsteller, Biograf, Musikwissen­ schaftler und Kulturphilosoph. Sein Werk war sehr einflussreich, vor allem zwischen den beiden Weltkriegen und hauptsächlich außerhalb Frankreichs. Der Zusatz «der große Ver­ mittler» bezieht sich wahrscheinlich auf sein Streben, die deutsche und die französische Kultur miteinander zu versöhnen. Wahrscheinlich der Zahnarzt Alfred Cats (1895–1966), der 1924 die Juristin Hanna (Hans)

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Hillesum (1893–1975) heiratete. Beide überlebten Theresienstadt und kehrten nach dem Krieg in die Niederlande zurück. Dialog des griechischen Autors Platon, in dem sich Sokrates gegen seine Richter verteidigt. Douwe J. Vis. Rebecca (Riva) Hillesum-Bernstein (Potschep 1881–Auschwitz 1943) war Russin. Im Februar 1907 kam sie aus Surasch (Tschernigow, Russland) nach Amsterdam. Ihr Sohn Jaap erzählte später, dass sie mit kahl geschorenem Kopf und als Soldat verkleidet aus Russland geflohen war. In Amsterdam zog sie bei der Familie Montagnu ein, in der Tweede Jan Steenstraat 21. Sie wurde als Russischlehrerin angemeldet. Im Mai 1907 kam ihr Bruder Jacob Bernstein (Potschep 1882–unbekannt), ein Diamantarbeiter, der auch bei der Familie Montagnu ein­ zog. Noch einen Monat später kamen ihre Eltern, die im zweiten Stockwerk an derselben Adresse einzogen. Zwischen 1913 und 1918 wanderten Rebeccas Familienmitglieder illegal aus den Niederlanden aus, wahrscheinlich in die Vereinigten Staaten. Ella Cahen (’s-Hertogenbosch 1901–Netanja 1980) schloss 1926 ihr Studium der Rechtswis­ senschaft ab. 1934 brach sie nach Jerusalem auf, wo sie in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche arbeitete. 1938 kehrte sie zurück in die Niederlande. In Deventer arbeitete sie bei der Vereinigung für die Fachausbildungen von Palästina-Pionieren, der Deventer-Ver­ einigung. Diese Vereinigung organisierte Ausbildungen für zionistische Jugendliche. Diese wurden bei Bauern in Achterhoek und Twente beherbergt, um das bäuerliche Handwerk zu erlernen, damit sie im Mandatsgebiet Palästina eine neue Gesellschaft aufbauen könnten. Zugleich organisierte die Deventer-Vereinigung verschiedene Kurse. Ella Cahen heiratete 1941 Werner Ahlfeld (geboren 1916 in Nordhausen). Werner Ahlfeld war Mitte der Dreißi­ gerjahre in die Niederlande ins Exil gegangen und war ein Schüler der Vereinigung für die Fachausbildungen von Palästina-Pionieren. Ella Cahen und ihr Mann kamen über Wester­ bork nach Bergen-Belsen. 1946 wanderten sie nach Palästina aus. Das Büro der Deventer-Vereinigung befand sich im Wohnhaus des bereits genannten Ru(dolf Ephraim) Cohen (Deventer 1889–Bergen-Belsen 1945). Von hier aus wurden die Hachschara- oder Palästina-Pionier-Ausbildungen organisiert. Die Deventer-Vereinigung wurde 1918 von Ru Cohen gegründet und war die älteste Vereinigung in den Niederlanden in diesem Bereich. Otto Sluizer (Amsterdam 1912–Bergen-Belsen 1945) und seine Verlobte Beatrice (Bé) Pimen­ tel (Amsterdam 1913–Amersfoort 1997). Otto Sluizer studierte Wirtschaftswissenschaft. Er war zionistisch eingestellt und ging zur Hachschara. In dieser Zeit wohnte er bei Jacques und Trude Cohen in Deventer. Otto Sluizer tauchte unter, er wurde aber Ende 1942 fest­ genommen. Zuerst war er im Untersuchungsgefängnis Weteringschans in Amsterdam, dann kam er nach Westerbork, wo er Bé Pimentel, mit der er sich 1940 verlobt hatte, wieder begegnete. Wegen seines Palästinastempels wurde er nach Bergen-Belsen deportiert, wo er aufgrund von Entbehrungen umkam. Bé Pimentel war eine talentierte Pianistin. Sie schloss 1937 ihr Studium am Amsterdamer Konservatorium ab. Sie improvisierte und spielte regel­ mäßig zusammen mit George van Renesse und Mischa Hillesum. Im Mai 1943 kam sie mit der «Concertgebouw-Deportation» ins Lager Barneveld. Im September 1943 wurde sie nach Westerbork und im September 1944 nach Theresienstadt gebracht. 1947 heiratete sie Jan van Hulst. Heleen Pimentel (Amsterdam 1916–Leiden 2007), Schwester von Bé und schon in jungen Jahren eine bekannte Schauspielerin. Sie heiratete Dr. Andries Querido und bekam 1941 ­einen Sohn, Jaap Daniël. Heleen war mit Jaap Hillesum befreundet, dieser betrachtete die Freundschaft aber zu Unrecht als eine Verlobung. Jaap zufolge hatte Heleen ihren Sohn wegen Gewissensbissen nach ihm benannt, aber Jaap Daniël war tatsächlich nach seinen beiden Großvätern benannt. Anfang 1944 kam Jaap Hillesum in die Krankenbaracke von Westerbork, in der Heleen Querido lag. Dies war das letzte Mal, dass sie ihn sah.

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Anmerkungen 58 Ludovic Leizer Zamenhof (1859–1917), polnischer Sprachwissenschaftler und Arzt, entwarf 1887 zur Förderung der Brüderlichkeit zwischen den Völkern die Weltsprache Esperanto. Darauf bezieht sich wahrscheinlich Trudes Bemerkung bezüglich der «internationalen Brü­ derlichkeit». 59 Eine Reihe von Zitaten aus Rilke, Das Stunden-Buch (Seitenangaben aus Sämtliche Werke 1): S. 258, Z. 29: aus «Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug», S. 260; Z. 30 aus «Wenn es nur einmal so ganz stille wäre», S. 256; Z. 31: aus «Ich bin auf der Welt, etc.», S. 260; S. 258, Z. 32–S. 259, Z. 1: aus «Wer seines Lebens viele Widersinne», S. 263; S. 259, Z. 2–3: aus «Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht», S. 264; Z. 4–5: aus «Mein Leben ist nicht diese steile Stunde», S. 264. 60 Möglicherweise die erste Erzählung aus der Trilogie Kindheit (1852), Knabenjahre und Jüng­ lingsjahre (1856). 61 Bereits zitiert auf S. 258 f. 62 Konrad Veidt (1893–1943), deutscher Schauspieler, der für seine Rollen als dämonische Per­ sönlichkeit bekannt war. Ab 1940 spielte er in Hollywood, meist in der Rolle eines Mörders oder Nazis. 63 Hes Hijmans (Amsterdam 1915–Blaricum 2010) lernte Etty Hillesum über Wiep Poelstra im Jahr 1939 kennen. Sie studierte in England, war aber nach dem Ausbruch des Zweiten Welt­ kriegs in die Niederlande zurückgekehrt. Sie aß öfter bei Han Wegerif, der in seinem Haus regelmäßig sehr gastfreundlich zum Essen einlud, wobei die Gäste selbst zu den Mahlzeiten beitrugen. Auf Etty Hillesums Anraten hin konsultierte Hijmans Julius Spier. Seine Vor­ gehensweise hatte jedoch eine äußerst negative Wirkung auf sie. Später, als Etty Hillesum urlaubshalber aus Westerbork zurückkam, bot Hes Hijmans ihr ein Versteck an, aber Etty Hillesum schlug das Angebot aus. Hes Hijmans, später Organisationsexpertin, empfand Etty Hillesum als «ungreifbar und unbegreiflich», wodurch der Kontakt zwischen ihnen ­distanziert blieb. 64 Blaise Pascal (1623–1662), französischer Philosoph, Theologe, Physiker und Mathematiker. 65 Hauptfigur aus Dostojewskis Roman Schuld und Sühne (1866). 66 Zitat aus Suarès, Dostojewski, S. 128. Friedrich Nietzsche (1844–1900), deutscher Altphilo­ loge und Philosoph. 67 Zitat aus Suarès, Dostojewski, S. 133. 68 Zitat aus Rilke, Das Stunden-Buch (Sämtliche Werke 1, S. 260). Aus diesem Ausschnitt hat Etty Hillesum bereits zweimal zitiert (siehe S. 253 f. und 258 f.). Sie zitiert daraus auch später noch einmal (siehe S. 465). 69 Leo Polak (Steenwijk 1880–Sachsenhausen 1941); er schloss 1903 sein Studium der Rechts­ wissenschaft an der Universität von Amsterdam ab. 1912 publizierte er Kennisleer contra materie-realisme («Erkenntnistheorie kontra Materien-Realismus») und begann, als Privat­ dozent Vorlesungen zum Thema Erkenntnistheorie zu halten. 1925 wurde er Stiftungsprofes­ sor für Rechtsphilosophie in Leiden und 1928 wurde er zum Professor der Philosophie nach Groningen berufen. Im November 1940 wurde Polak in den einstweiligen Ruhestand ver­ setzt und im Februar 1941 verhaftet. Im Mai desselben Jahres wurde er nach Sachsenhausen abtransportiert. Quellen besagen, dass er im Konzentrationslager damit beschäftigt war, ­einen Bericht über die Behandlung der Gefangenen zu schreiben, was für die Besatzer der Grund war, ihn umzubringen. 70 Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow (1873–1943), russischer Komponist. 71 Der hinzugefügte Text wurde auf vier einseitig beschriebenen Blättern eines Notizblocks gefunden. Etty Hillesum wird wohl anfänglich die Absicht gehabt haben, diesen Text in – korrigierter? – Form in das Tagebuch selbst aufzunehmen. Sie hatte damit auch angefangen. Die ersten vier Worte notierte sie im Tagebuch, aber bei näherer Betrachtung schrieb sie den Text doch nicht ab. Die bereits notierten Worte strich sie durch und die vier Blätter wurden

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mit einer Büroklammer an der betreffenden Seite befestigt. Auf der Rückseite eines Blattes befinden sich sechs Zeilen mit undeutlichen stenografischen Notizen, die sich wahrschein­ lich auf das wiedergegebene Gespräch beziehen, sowie eine Profilskizze, die Spier darstellt. Auch die unbeschriebenen Rückseiten von zwei anderen Blättern wurden für einige (größ­ tenteils Profil-)Skizzen von Spier verwendet. Und einmal prangt Spiers Kopf am Rand einer beschriebenen Seite. Der erste Teil von Beethovens Siebter Sinfonie. Het Evangelie van de Heilige Twaalven. Uit het Arameesch in het Engelsch vertaald en uit­ gegeven door Een Leerling van den Meester. In het Nederlandsch vertaald door N. M. C. Tideman («Das Evangelium der Heiligen Zwölf», aus dem Aramäischen ins Englische über­ setzt und herausgegeben von einem Schüler des Meisters, ins Niederländische übersetzt von N. M. C. Tideman), o. J. (unveröffentlicht?). Ein apokryphes Evangelium aus dem 19. Jahr­ hundert. Laut dem Vorwort ist es «16 Jahrhunderte lang in einem buddhistischen Kloster in Tibet aufbewahrt  […] worden, wohin es von den Essenern gebracht wurde, um es vor Schändung und Beschädigung zu bewahren, wie es nämlich den anderen Evangelien er­ ging.» Spier schenkte seinen Freundinnen und Freunden mit der Notiz «zu Weihnachten 1941 J. S.» versehene abgetippte Exemplare davon. Auf dem Titelblatt stehen zwei Mottos: «Das Alte geht vorüber; dann kommt das NEUE» und das bereits von Etty Hillesum ­zitierte: «Gesegnet seien diejenigen, die lesen, hören und HANDELN.» Das hier beschrie­ bene Exemplar stammt von Dicky de Jonge. Etty Hillesums Exemplar ist nicht erhalten geblieben. Hedda Hammer (Stuttgart 1910–Canberra 1991), später Morrison-Hammer. Kurz nach ­ihrer Ausbildung zur Fotografin in München reiste Hedda Hammer 1933 nach China, um in Peking die Leitung von Hartungs Fotostudio zu übernehmen. 1936 begleitete sie als Foto­ grafin den Entdeckungsreisenden Sven Hedin auf dessen Expedition zu den Ming-Gräbern. Außerdem arbeitete sie u. a. mit dem englischen Schriftsteller und Kunstkenner Harold Acton zusammen, der eine Untersuchung zum chinesischen Theater durchführte. Überdies machte Hedda Hammer einige Reisen durch China, während derer sie das alltägliche Leben fotografisch festhielt. Nach ihrer Heirat mit dem englischen Diplomaten Morrison verließ sie China im Jahr 1946. Hedda Hammer wohnte jahrelang an der von Etty Hillesum ge­ nannten Adresse, einem Haus auf dem Gebiet des französischen Konsulats in Nan Ch’ang Chieh zwischen der Verbotenen Stadt und Nan Hai. Hedda Morrison-Hammer lebte später in Canberra, Australien. Es erschien ein Bildband mit Arbeiten von ihr mit dem Titel A Photographer in Old Peking (Hongkong etc., Oxford University Press, 1985). Vermutlich ein Wortspiel mit dem Namen Spier: Das niederländische Wort spier bedeutet Muskel. Siehe Anm. 17 auf S. 895. Monna Vanna ist die Hauptperson aus dem gleichnamigen Theaterstück von Maurice Mae­ terlinck (1862–1942), das 1902 veröffentlicht wurde. Eine niederländische Übersetzung er­ schien erstmals im Jahr 1903. Die genannte Astrachanjacken-Imitation hat Etty Hillesum zusammen mit einer Pelzmütze, die später noch erwähnt wird, in Begleitung von Johanna Smelik gekauft. Trotz großer Schwierigkeiten mit dem Postverkehr, die der Kriegssituation und der Zensur geschuldet waren, blieb es weiterhin möglich, Briefe aus dem Ausland zu empfangen. Dieser Brief benötigte vier Monate, um die Niederlande zu erreichen. Die bereits erwähnte Sängerin Vilma Fichtmüller. Keine Informationen verfügbar. Das Geheimnis der goldenen Blüte, ein chinesisches Lebensbuch, übers. u. erl. v. Richard Wilhelm mit einem europäischen Kommentar von C. G. Jung, München, Dornverlag, 1929. Richard Wilhelm (1873–1930) schrieb und übersetzte einige Bücher über China. Jung

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hat die Idee des Tao in seine Psychologie aufgenommen als Symbol für die Vereinigung und das dadurch entstehende Auflösen von Gegensätzen. Bereits zitiert (siehe S. 254). Als der Schmerz sich verschlimmerte, ging Spier im Frühling 1942 wieder zum Arzt. Zuerst vermutete man Pleuritis, später diagnostizierte Spiers Arzt, Dr. Witkowski, Lungenkrebs. Die Familie, aus der Julius Spier stammte. Seine Eltern waren Cousin und Cousine. Sie hatten sieben Kinder: Ludwig, Paul, Gustav, Arthur, Rosie, Julius und Alice. Von den 7 waren im Jahr 1941 noch Gustav, Julius und Alice am Leben. Julius war der Zweitjüngste. Wahrscheinlich geht es hier um einen Aufruf für Spier, der sich als nichtniederländischer Jude für die «Emigration» angemeldet hatte. Legal emigrieren konnte ein Jude nur, wenn er ein Einreisevisum eines nicht Krieg führenden Landes hatte, das dazu bereit war, für ihn die Grenzen zu öffnen, sowie die Genehmigung der deutschen Behörden, das besetzte Ge­ biet zu verlassen. Das «Reichssicherheitshauptamt», das die Zustimmung geben musste, war jedoch nicht sehr freigiebig, was das Erteilen von Ausreisevisa betraf. Die «Emigration» von staatenlosen, deutschen und anderen nichtniederländischen Juden, die die «Zentral­ stelle für jüdische Auswanderung» organisierte, zielte jedoch gar nicht darauf ab, diese Ju­ den tatsächlich aus den Niederlanden ausreisen zu lassen. Am 5. Dezember 1941 wurden die staatenlosen, deutschen und anderen nichtniederländischen Juden dazu aufgerufen, einen Emigrationsantrag bei der «Zentralstelle» einzureichen. Sie mussten zu diesem Zweck 32 Fragebogen ausfüllen. Die deutschen Behörden erhielten dadurch einen detaillierten Einblick in die finanzielle Situation des betreffenden Juden. Auf Fragen des Judenrates – die den Auswanderer-Kandidaten dabei halfen, die Formulare auszufüllen –, wohin diese Juden emigrieren werden, wurden von den deutschen Behörden irreführende Antworten gegeben. Es ist unklar, ob Spier einen wirklichen Emigrationsantrag für ein neutrales Land einreichte oder ob er aufgrund des deutschen Aufrufs dazu verpflichtet war, sich für die Emigration anzumelden. Letzteres ist wahrscheinlicher. Etty Hillesum zitiert diese Stelle mehrfach (siehe auch S. 253, 265 und 465). Juden durften ab Januar 1942 kein nichtjüdisches Haushaltspersonal mehr beschäftigen. Anträge um Dispensierung von dieser Dienstpersonal-Verordnung konnten beim Judenrat eingereicht werden von Menschen, die hilfsbedürftig waren, und von solchen, die Ange­ stellte hatten, die schon über 50 Jahre alt waren. Nachdem die deutschen Behörden am 21. November 1941 diese Verordnung angekündigt hatten, stieg die Nachfrage nach jüdi­ schem Personal. Baruch de Spinoza (1632–1677), niederländisch-jüdischer Philosoph; er vereinigte die jü­ disch-mystische Tradition und das wissenschaftliche Denken. Im niederländischen Text «kille», es handelt sich dabei um eine (organisierte) jüdische Ge­ meinde, wobei der Name «kille» vom hebräischen Wort «kehilla» abgeleitet ist. Russisch, Verkleinerungsform von «Mama». Petronella Smelik (Den Helder 1901–Hilversum 1947), eine Schwester von Klaas Smelik. Während ihres Verhältnisses mit dem verheirateten Klaas Smelik traf Etty Hillesum ihren Freund einige Male im Haus von «Tante Piet». Siehe S. 265 (mit Anm. 59 auf S. 898) und 258 f. Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 112. In einer Verordnung vom 15. September 1941, die «das Auftreten von Juden in der Öffent­ lichkeit» (erste Verordnung) betraf, wurde Juden das direkte oder indirekte Teilnehmen an öffentlichen Märkten, Auktionen und Warenbörsen verboten. Diese Vorschrift betraf so­ wohl jüdische Käufer als auch Verkäufer sowie Hausierer. Ab Juni 1942 durften Juden nicht mehr bei allgemeinen Obst- und Gemüsehändlern einkaufen, und weil sie bei jüdischen Obst- und Gemüsehändlern vorwiegend schlechte Qualität erhielten, da die Ware für die Juden von Großhändlern der NSB (= Nationaal-Socialistische Beweging, die ehemalige nie­

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derländische nationalsozialistische Partei) reserviert wurde, war bei ihnen der Mangel deut­ lich spürbar. Obst durfte zudem nur an Krankenhäuser geliefert werden. Hester Albertha Geertruida Wegerif (Utrecht 1880–Renkum 1957) war Han Wegerifs Schwester. Nach ihrer Ausbildung am Utrechter Konservatorium ließ sie sich als selbststän­ dige Musiklehrerin in Utrecht nieder. Zitat aus C. G. Jung, Das Grundproblem der gegenwärtigen Psychologie, Vortrag in Wien, Kulturbund, 1931; neu aufgelegt in Gesammelte Werke X, S. 17 ff. Zitat aus Jung, ebd., S. 20 ff. Kurz vor dem Krieg ließ Spier – von Tide begleitet – sein Horoskop von einer Astrologin in Amsterdam-West erstellen. Der sanftmütige Myschkin ist die Hauptperson in Dostojewskis Roman Der Idiot. In Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860–1862) schildert Dostojewski seine Erfahrun­ gen in einem sibirischen Zwangsarbeitslager, zu dem er wegen vermeintlicher revolutionärer Sympathien für vier Jahre verurteilt wurde. Hier, inmitten von größtenteils nichtpolitischen Kriminellen, mit denen er die Baracke teilte, wurde ihm bewusst, wie eng das Gute und das Schlechte in der menschlichen Natur verwoben sind. Spiers Schwester, Alice Julie Krijn-Spier, wohnte am Muzenplein 1. Evaristos Glassners Spitzname. Louise van Esso-van Son (Deventer 1893–Amsterdam 1966), Ehefrau des Hausarztes Isaäc van Esso (Haarlem 1889–Amsterdam 1966); wohnte an der Minervalaan. Sie förderte gerne junge Musiker und organisierte Aufführungen und Hauskonzerte. Mischa Hillesum aß ­regelmäßig bei Familie van Esso. Etty Hillesum schenkte Tide zu ihrem Geburtstag im Jahr 1942 ein bei einer Gebraucht­ buchhandlung angeschafftes Exemplar von Dostojewskis Schuld und Sühne in deutscher Übersetzung: Raskolnikows Schuld und Sühne (Berlin, Otto Janke Verlag, o. J.). Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Die von Etty Hillesum beschriebene Szene fand im Büro der Abteilung Emigration des Ju­ denrates an der Lijnbaansgracht 366 statt, wo sich Spier anmeldete. Die deutschen Behör­ den hatten im Dezember 1941 festgelegt, dass jeder nichtniederländische Jude umgehend einen Bewilligungsantrag zur Emigration bei der Emigrationsabteilung des Judenrates ein­ reichen musste, unabhängig davon, ob eine Emigration überhaupt möglich war. Von diesem Befehl ausgenommen waren Juden mit der Staatsangehörigkeit von Portugal, Schweden, Spanien, der Schweiz und der Türkei. In dieser Abteilung des Judenrats half man unter an­ derem «Emigranten» beim Ausfüllen der von der «Zentralstelle für jüdische Auswanderung» ausgeteilten Formulare. Siehe Anm. 85 auf S. 900. Wahrscheinlich E. Nethe sen. Zitat aus der Ode an die Freude von Friedrich von Schiller (1759–1805). Marlene Dietrich (1901–1992), deutsche Filmschauspielerin und Sängerin; wanderte im Jahr 1930 in die Vereinigten Staaten aus. Während des Zweiten Weltkriegs trat sie für die alliier­ ten Soldaten auf. Robert Schumann (1810–1856), Dichterliebe, op. 48, aus dem Jahr 1840. Die Texte dieses Liederzyklus stammen von Heinrich Heine (1797–1856). Kirgisen sind ein türkisches Volk in Zentralasien. Seit dem 14. Juli 1941 waren Marmelade, Sirup und dergleichen rationiert. Im Studienjahr 1941 /42 verwendete Becker den folgenden niederländischen Text zur Über­ setzung ins Russische: F. Bordewijk, Driehoek met een huisgenoot («Dreieck mit einem Haus­ genossen») (Komödie in einem Akt; aufgenommen in Drie Toneelstukken («Drei Theater­ stücke»), Rotterdam, Nijgh und Van Ditmar, 1940). Als Übersetzungsübung für die fortgeschrittenen Studierenden wurden ausschließlich niederländische literarische Texte von Couperus, E ­ lsschot, Bordewijk u. a. verwendet. Die Studierenden, die aus den vorangegan­

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genen Jahren daran gewöhnt waren, nur einzelne Übungssätze zu übersetzen, empfanden diese Aufgabe als unlösbar. Es war üblich, dass der Student die eigene Übersetzung durch­ strich und Beckers Übersetzung darüber schrieb, um diese anschließend zu lernen. Jeanne Liedmeier, Henri du Puis und Etty Hillesum, so erinnert sich Jeanne Liedmeier, brüllten in der Cafe­teria vor Lachen, als sie während der Pause ihre Übersetzung von Bordewijk durch­ gingen und nur den häufig wiederkehrenden Satz «Kakaja shara» («Was für eine Hitze») mit Bestimmtheit reproduzieren konnten. Privatschülerin von Etty Hillesum; keine weiteren Informationen verfügbar. Die Bevölkerung wurde angewiesen zu verhindern, dass während der Dunkelheit aus den Häusern Licht nach draußen dringen konnte. Seit Juli 1940 wurde die Nichtbeachtung die­ ser Vorschrift bestraft. Wahrscheinlich einer der beiden Assistenten, die im Wirtschaftsprüferbüro von Han Wege­ rif arbeiteten, das sich im ersten Stockwerk der Gabriël Metsustraat befand, über einer ­Garage und unter Wegerifs Wohnung. Zitat aus C. G. Jung, Die Bedeutung der Psychologie für die Gegenwart, Vortrag gehalten im Rheinland, Feb. 1933 (aufgenommen in Gesammelte Werke X, Zitat auf S. 65 ff.). Etty Hille­ sum schrieb diese Passage auch in Woche 2 des Zitatebuchs Levenskunst («Lebenskunst»). Dieser Brief wurde weder im Tagebuch noch andernorts aufgefunden. Anspielung auf die Leidensgeschichte der Levies in Deutschland vor ihrer Emigration. Professor Becker stellte Namen von Emigranten zur Verfügung, die Studierenden privaten Konversationsunterricht erteilen wollten. So nahm Etty Hillesum Konversationsunterricht bei Vera Karlovna de Vries, einer aus Leningrad stammenden Russin, die den holländischen Holzimporteur de Vries geheiratet hatte. Paul Stefan, Gustav Mahler. Eine Studie über Persönlichkeit und Werk, München, R. Piper & Co., (1910) 19124, S. 15 ff. Paul Stefan (1879–1943) war ein Musikkritiker aus Österreich, der auch über Wagner und die Wiener Oper geschrieben hat. Liesl Levie. Siehe oben Anm. 117. Hier wohnte Familie Levie. Das «Manuskript» ist der Text, den Etty Hillesum über das erste Jahr mit Spier schrieb. Dieser Text ist nicht erhalten geblieben. C. G. Jung, Wirklichkeit der Seele, Anwendungen und Fortschritte der neueren Psychologie (Psy­ chologische Abhandlungen IV), Zürich, Rascher, 1934. Dazu gehören die Texte Das Grund­ problem der gegenwärtigen Psychologie und Die Bedeutung der Psychologie für die Gegenwart, aus denen Etty Hillesum mehrmals zitiert. Die inoffizielle Visitenkarte mit dem dazugehörigen Umschlag ist erhalten geblieben. An den Rostspuren kann man erkennen, dass das Kärtchen ursprünglich mit einer Büroklam­ mer an diese Tagebuchseite angeheftet war. Fette waren seit dem 15. Juli 1940 rationiert und Lebensmittel seit dem 22. Juli 1940. Wenn Vater und Mutter Hillesum Bekannte oder ihre Kinder in Amsterdam besuchten, waren sie in einer Pension in der Nähe des Concertgebouws zu Gast. Robert Schumann, Carnaval, op. 9, Klavierstück aus den Jahren 1834 /35. 1928 wurde «Het Nieuwe Huis» («Das neue Haus») gebaut, ein Wohnblock am Roelof Hart­ plein 4. Das Gebäude wurde gemäß damals modernen Auffassungen errichtet. Die Wohnun­ gen hatten alle eine eigene Kochnische und es gab eine gemeinschaftliche Dachterrasse, eine Bibliothek und einen Speisesaal, in dem auch Nichtbewohner essen konnten. Die Wohnun­ gen wurden von alleinstehenden jungen Frauen bewohnt. Gemäß der Verordnung vom 15. September 1941 durfte Spier als Jude keine Restaurants mehr betreten, und so musste er sich als Nichtjude ausgeben. Kneipe in der Beethovenstraat 9a, die viele deutsche Emigranten und niederländische Juden

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frequentierten; sie wurde zuweilen auch «Café Tel Aviv» genannt. Etty Hillesum kam regel­ mäßig mit Freunden hierher. Becker wohnte am Merwedeplein 11. Seit dem 18. Mai 1942 rationiert. Neben dem verminderten Angebot nahm die Produktion von Tabaksurrogaten zu. Siehe Anm. 120 auf S. 902. Es muss die jüngere Tochter der Levies gemeint sein, die 1942 fünf Jahre alt war. Hedwig Geiger-Sprüngli (Zürich 1906–Bern 1984), eine Krankenschwester aus Zürich, lei­ tete zusammen mit ihrem Mann, dem Pianisten Max Otto Geiger (Bern 1905–Paris 1984), in der Nicolaas Maesstraat 66 in Amsterdam ein «Diätinstitut», ein privates vegetarisches Lokal. Spier aß oft hier und brachte regelmäßig Freunde mit. Wahrscheinlich analysierte Spier Hände von Deutschen und hielt diese Konsultationen bei Frau Stahl zu Hause ab. Die Pensionsinhaberin Johanna Stahl (geboren 1898 in Kierberg) war Deutsche und besuchte einen Kurs von Spier. Jo van Ammers-Küller (1884–1966), niederländische Verfasserin einer großen Anzahl Ro­ mane, in denen die Stellung der Frau oft das zentrale Thema ist. Die Übersetzungen ihres Werks wurden auch in Deutschland viel gelesen. Wegen ihrer prodeutschen Haltung während der Besatzung wurde ihr nach dem Krieg für einige Zeit ein Publikationsverbot auferlegt. Willem Jan Wegerif (Amsterdam 1907–Amsterdam 1986), der älteste Sohn Han Wegerifs, war Augenoptiker und hatte dazu eine spezielle Ausbildung in Jena (Deutschland) absol­ viert. Wahrscheinlich nannte Spier diese Patientin «die Mahlersfrau», weil sie die Frau eines ­Malers war. Keine weiteren Informationen verfügbar. Sigbjørn Obstfelder (1866–1900), norwegischer Schriftsteller. «Liv & sletten» ist eine No­ velle, die in To novelletter («Zwei Novellen») (1895) enthalten ist. Der Text wurde im Jahr 1900 ins Deutsche übersetzt. Heft 5

1 Zitat aus R. M. Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, Leipzig, Insel Verlag, 1929, S. 19. Etty Hillesum schrieb diese Passage auch zu Woche 12 in ihr Zitatebuch Levenskunst («Lebens­ kunst»). 2 Freundin und Kommilitonin von Etty Hillesum; keine weiteren Informationen verfügbar. 3 Kunstschlagsahne wurde anstelle von Schlagsahne verwendet, weil seit dem 29. Juli 1940 ein Verkaufsverbot für Sahne in Kraft war. 4 Hermann Schey (Bunzlau 1895–Zürich 1981), deutscher Bassbariton. Nach seiner Ausbil­ dung an der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin arbeitete er mit Dirigenten wie Furtwängler, Klemperer und Bruno Walter zusammen. 1929 führte der berühmte niederlän­ dische Dirigent Willem Mengelberg Hermann Schey in den Niederlanden mit den Kinder­ totenliedern von Gustav Mahler ein. Schey verpflichtete sich am Amsterdamer Konservato­ rium, im Schuljahr 1938 /39 wurde er Hauptdozent für Sologesang. Er wurde im Dezember 1940 seines Amtes enthoben und am 21. Februar 1941 entlassen. Hermann Schey gab da­ nach Konzerte im «Jüdischen Theater», war aber vor allem auf Hauskonzerte angewiesen. Schey ­gehörte zur Kategorie «Mischehe». Er wurde am Ende des Krieges festgenommen. Dank Vermittlungstätigkeiten von Mengelberg kam er bald wieder frei. Nach dem Krieg erhielt er wieder eine Anstellung am Konservatorium. Schey sang bis ins hohe Alter. 5 Berthe Seroen (Mechelen 1882–Amsterdam 1957), belgische Sängerin; studierte am Konser­ vatorium Brüssel und war eine der ersten Opernsängerinnen Belgiens. Aufgrund der Kriegs­ ereignisse von 1914 emigrierte sie in die Niederlande. Unter anderem durch ihre Ehe mit

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dem Architekten Gerard Mastenbroek wurden die Niederlande zu ihrer zweiten Heimat. Die Musikkultur, die zu dieser Zeit fast ausschließlich auf «den Nahen Osten» ausgerichtet war, wie sie es nannte, wurde von Berthe Seroen vor allem durch die französische Liedkunst bereichert. Zugleich propagierte sie die Werke von Diepenbrock, Dresden, Pijper und ande­ ren Niederländern. Privatschülerin von Etty Hillesum; keine weiteren Informationen verfügbar. Gustav Mahler (1860–1911), Lieder eines fahrenden Gesellen, 1884 / 85. Möglicherweise Samuel Jacques Jessurun Lobo (Sloten NH 1915–Neuengamme 1942), standrechtlich erschossen am 24. Januar 1942. Er führte die Buchhandlung «Cultura», die 1937 vom Pegasus-Verlag eröffnet wurde. Jan Marius Romein (1893–1962), niederländischer Historiker; ab 1939 Professor für Ge­ schichte an der Universität von Amsterdam. Johannes Bernardus Tielrooy (1886–1953), niederländischer Literaturwissenschaftler; ab 1938 Professor für französische Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität von Amster­ dam. Nach dem Anschlag auf das NSB-Studentengebäude (NSB = Nationaal-Socialistische Be­ weging in Nederland) in Amsterdam am 30. Januar 1942 nahm die Besatzungsmacht 85 «ange­sehene Personen» als Geiseln, die in das Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort ge­ bracht wurden. Jan Romein war einer von ihnen. Am 20. April 1942 wurden sie anlässlich Hitlers Geburtstag wieder auf freien Fuß gesetzt. Prof. Dr. H. J. Pos gehörte zu den sogenannten «Indischen Geiseln», einer Gruppe promi­ nenter Niederländer, die als Vergeltungsmaßnahme für die Internierung von Deutschen in Niederländisch-Indien (heute: Indonesien) inhaftiert wurden. Die Gruppe war nacheinan­ der in Buchenwald, St. Michielsgestel und Haaren interniert. Pos wurde am 16. September 1943 freigelassen. Etty Hillesum und Jan Bool waren offenbar auf dem Heimweg von der Vorlesung im Oude­ manhuispoort, dem Hauptgebäude der Universität im Zentrum von Amsterdam, unterwegs zur Straßenbahnhaltestelle an der Rokin. Ilse Blumenthal. Vgl. unten Anm. 17. Bereits zitiert (siehe S. 313 und Anm. 1 auf S. 903). R. M. Rilke, Briefe an eine junge Frau (Nachwort von Carl Sieber), Leipzig, Insel Verlag, 1930. Ilse Blumenthal-Weiss (Berlin 1899–Greenwich, Connecticut 1987), Mitarbeiterin der Jüdi­ schen Rundschau; lieferte 1936 Beiträge für das Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur. 1937 emigrierte sie in die Niederlande, wo sie unter anderem in De Groene Amsterdammer (=  niederländische politische Wochenzeitschrift) publizierte. 1943 wurde sie nach Wester­ bork gebracht, wo sie und Etty Hillesum sich wiederbegegneten. 1944 wurde sie nach There­ sienstadt deportiert. Sie verlor in den Konzentrationslagern ihren Ehemann und einen Sohn. Über ihre Lagererfahrungen schrieb sie in dem Band Gedichte aus dem KZ (Hamburg 1957). 1947 wanderte sie nach New York aus. Ilse Blumenthal-Weiss hat für das niederländi­ sche Radio und für den Sender Beromünster (Zürich) Vorträge über Rilke gehalten. In den Vereinigten Staaten hielt sie an Hochschulen und Universitäten Lesungen über diesen ­Autor, mit dem sie korrespondiert hatte. Ein Teil des Briefwechsels zwischen Ilse Blumen­ thal-Weiss und Rainer Maria Rilke wurde in Rilke, Briefe aus Muzot (1935) veröffentlicht. Zitat aus Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, S. 23. Bereits zitiert (siehe S. 313 später zitiert Etty Hillesum die Textstelle noch zweimal, siehe S. 400 und 496). Passagen aus Rilkes bereits öfter zitierten Briefen an einen jungen Dichter. Etty Hillesum hat den Text zweimal abgekürzt. Vollständig würde das Zitat lauten: «… quälen Sie sie nicht [mit Ihren Zweifeln und erschrecken Sie sie nicht] mit Ihrer Zuversicht …; … das Leben in

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einer fremden Form [und haben Sie Nachsicht gegen die alternden Menschen, die das ­Alleinsein fürchten, zu dem Sie Vertrauen haben]. Vermeiden Sie …» Beckers russische Vorlesungen wurden ab und zu auch von russischen Emigranten besucht. Wie im Studienführer von 1941 /42 erwähnt, war die Vorlesung in diesem Jahr Puschkins Jewgeni Onegin gewidmet. Leo Wolfsky (Kottbus 1879–Sachsenhausen 1941), deutscher Geschäftsmann; wurde 1937 während einer Geschäftsreise in Nürnberg verhaftet. 1941 wurde er im Konzentrationslager Sachsenhausen «auf der Flucht erschossen», was in der Naziterminologie «ermordet» be­ deutete. Zitat aus Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, S. 26. Douwe Vis hatte Etty Hillesum Bohnen und Erbsen angeboten. Ab November 1940 wurde eine Ausgangssperre von 24 bis 4 Uhr verhängt. Die Ausgangs­ sperre, bei der sich niemand mehr nach 20 Uhr auf der Straße befinden durfte, wurde als Sanktion verhängt, nachdem eine der Amsterdamer Gruppen des MC (Militair Contact, eine kommunistische Sabotagegruppe) am 24. Januar 1942 versucht hatte, eine Tankstelle der Wehrmacht in Brand zu stecken. Diese Ausgangssperre wurde nach fünf Wochen aufge­hoben. Seit den Zwanzigerjahren führte Tide Tagebuch. Niederländisch: «spieringen», Wortspiel mit dem Namen Spier als Andeutung für Spiers Anhänger; «spiering» ist das niederländische Wort für das deutsche «Spierling». Dies wiede­ rum ist eine Bezeichnung für die Fischart Stint. Beetsterzwaag war der Wohnort von A. C. Wolterbeek. Adama van Scheltemaplein, wo sich damals die «Zentralstelle für jüdische Auswanderung» befand. Zitat aus Betz, Rilke in Frankreich, S. 233. Seit November 1941 war Kakaopulver rationiert; es stand nur für Kinder zur Verfügung. «Van Houten» ist der Name einer berühmten niederländischen Schokoladenmarke. Die «Zentralstelle für jüdische Auswanderung». Zitat aus 1. Korinther 13,1–2, 4–5. Im Gegensatz zu Freud, der den Begriff «Libido» auf den sexuellen Trieb oder die sexuelle Energie beschränkt, versteht Jung unter «Libido» allgemein Lebenskraft oder psychische Energie. Etty Hillesum bezieht sich hier auf den Traum von Tatjana aus Jewgeni Onegin. Ein Roman in Versen (1833) von Puschkin; Kapitel 5, Vers x1–xxi1. Siehe auch Anm. 58 auf S. 886. Nicht erhalten geblieben. Teile des ehemaligen Tempels in Jerusalem. Anton Pawlowitsch Tschechow (1860–1904), russischer Schriftsteller. Ähnliche Notizen unter anderem auf S. 275 und 293. Sophia Michael Veling (Amsterdam 1906–Amersfoort 2008) begann gleichzeitig wie Etty Hillesum 1932 in Amsterdam mit dem Studium der Rechtswissenschaft. In ihren langen Gesprächen standen christlich-religiöse und spirituelle Aspekte im Mittelpunkt. 1935 unter­ brach Phia Veling ihr Studium vorübergehend, wodurch sich der Kontakt verlor. Phia ­Veling schloss 1938 ihr Studium ab und wurde Anwältin. Carl Fransen, Käthes Ehemann, war Geschäftsführer im Carlton-Hotel an der Vijzelstraat. Nicht überliefert; an dieser Stelle im Heft sind jedoch Rostspuren einer Büroklammer sichtbar. Anm. der Übersetzerin: Im Niederländischen werden Substantive kleingeschrieben. Siehe Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, S. 26 (bereits zitiert auf S. 320). Russisch: Ich liebe dich so sehr. Siehe Betz, Rilke in Frankreich, S. 7–[24].

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Anmerkungen 47 Fritz Klatt (1888–1945), deutscher Pädagoge. Etty Hillesum bezieht sich hier auf sein Buch Rainer Maria Rilke (Berlin, L. Schneider, 1936). 48 Zitat aus dem Lied «Im wunderschönen Monat Mai», Teil des bereits erwähnten Liederzy­ klus Dichterliebe von Robert Schumann, der auf Texten von Heinrich Heine beruht. 49 Josef Schwarz (Riga 1880–Berlin 1926), russischer Sänger. 50 Gemeint ist: S. Vestdijk, Rilke als barokkunstenaar («Rilke als Barockkünstler»), in Lier en lancet («Lyra und Lanzette»), Rotterdam, Nijgh & Van Ditmar, 1939, S. 193–274. Eine sepa­ rate Ausgabe war bereits 1938 erschienen. Anders als vielleicht aus diesem Tagebucheintrag gefolgert werden kann, wird Rilke nur hie und da der «Manieriertheit» bezichtigt. 51 Zitat aus dem Gedicht «Herbst» von Rilke, enthalten in Das Buch der Bilder (Sämtliche Werke 1, S. 400). Etty Hillesum hat dieses Gedicht in ihr Zitatebuch Levenskunst («Lebens­ kunst»), Woche 43, übernommen. 52 Zitat aus R. M. Rilke, Briefe aus Muzot. 1921–1926, hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sie­ ber, Leipzig, Insel Verlag, 1935, S. 248. 53 Die Duineser Elegien (1923) sind enthalten in Rilke, Sämtliche Werke 1, S. 683 ff. 54 Zitat aus Rilke, Gedichte 1906–1926 (Sämtliche Werke 2, S. 92). 55 Seit dem 15. September 1941 war das Reisen für Juden an eine Erlaubnis geknüpft. Bis Mai 1942 wurden die befristeten und unbefristeten Reiseerlaubnisse von der Abteilung für Um­ züge und Reiseerlaubnisse des Judenrats erteilt. Die Juden mussten dafür einen bestimmten Betrag an Bearbeitungskosten bezahlen. Ab Mai 1942 wurde die Ausgabe von Reiseerlaub­ nissen von der «Zentralstelle für jüdische Auswanderung» geregelt. Dieses deutsche Büro erteilte viel weniger Reiseerlaubnisse als der Judenrat, wodurch das Reisen für Juden erheb­ lich eingeschränkt wurde. 56 Wegen der Verdunkelung machte man oft von Taschenlampen Gebrauch, wenn man nach Sonnenuntergang nach draußen ging. 57 Anfang 1942 wurde damit begonnen, sich in den Niederlanden befindende deutsche und staatenlose Juden in das Durchgangslager Westerbork zu bringen. Um auch dann bei Spier bleiben zu können, erwog Etty Hillesum, ihn zu heiraten. 58 Daan Sajet; siehe Anm. 20 auf S. 882. 59 Anspielung auf Jungs Seelenprobleme der Gegenwart (1931). 60 Bereits zitiert (siehe S. 352). 61 Zitat aus Klatt, Rainer Maria Rilke, S. 37. Das Zitat aus Rilkes Requiem ist zu finden in Sämtliche Werke 1, S. 654. Dieses Zitat hat Etty Hillesum auch in ihr Zitatebuch Levenskunst («Lebenskunst»), Woche 42, übernommen. 62 Siehe S. 108 und Anm. 3 auf S. 881. 63 Klaas Smelik versuchte seine Tochter Johanna aufzuspüren, die nach einer der zahlreichen Streitigkeiten das Haus verlassen hatte. Er nahm an, dass Etty Hillesum über Johannas Auf­ enthaltsort unterrichtet war. 64 Klaas Smelik. 65 Hermina Geertruida Bender (Den Helder 1891–Hilversum 1947), die zweite Frau von Klaas Smelik und Johannas Stiefmutter. Etty Hillesum lernte sie zur gleichen Zeit wie Klaas Sme­ lik in Deventer kennen. 66 Cato Toet-Smelik (Den Helder 1904–Amsterdam 1990), eine Schwester von Klaas Smelik. Wenn Johanna nach einem Streit von zu Hause floh, ging sie öfter zu To Smelik. Etty Hil­ lesum kannte «Tante Totebel» ziemlich gut und war vor dem Krieg manchmal bei ihr zu Gast, als sie noch in Velsen (in der Nähe von Haarlem) wohnte. Während des Kriegs wohnte To Smelik in Vlaardingen (in der Nähe von Rotterdam); ein Angebot, dort unterzutauchen, lehnte Etty Hillesum ab. 67 Schlafmittel. 68 Ab dem 17. Juni 1940 waren Brot, Auszugsmehl und selbstaufgehendes Backmehl rationiert.

zu Seite 347–386 69 Leonie Reiman, Künstlername von Gertrud Franziska Pütz (Würselen 1901–Amsterdam 1978). Schauspielerin, Regisseurin und Bühnenautorin. Durch ihre Heirat mit C. W. L. Brand wurde sie Niederländerin. Während des Kriegs Doppelagentin für Deutschland und die Niederlande. Im September 1941 verhaftet und 1942 nach Ravensbrück deportiert. Klaas Smelik arbeitete in dieser Zeit für den «gleichgeschalteten» Nederlandse Omroep (Nieder­ ländischen Rundfunk), was im Widerspruch zu seiner (linken) politischen Gesinnung stand. Daher war er interessiert, als Leonie Reiman ihm den Vorschlag unterbreitete, für London bestimmte codierte Nachrichten in den Text seiner Hörspiele einzuarbeiten. Der Plan wurde jedoch niemals verwirklicht. Nach dem Krieg erhielt Smelik eine Zeit lang Publika­ tionsverbot wegen seiner Arbeit für den Niederländischen Rundfunk. 70 Etty Hillesum bezieht sich auf die Schlacht in der Javasee zwischen der niederländischen und der japanischen Armee, die sich kurz zuvor  – am 27. Februar 1942  – ereignet hatte. Selbstverständlich waren die japanischen Siege im Fernen Osten und die Besetzung von Niederländisch-Indien in diesen Wochen Tagesgespräch in den Niederlanden. 71 Frederik August (Fré) Lobatto (Amsterdam 1913–New York, Kings County 2002) war ein Bekannter von Leonie Snatager und studierte an der Technischen Hochschule in Delft. Nach dem Krieg emigrierte er in die Vereinigten Staaten. 72 Bereits zitiert (siehe S. 320). 73 Etty Hillesum übernahm nur den Anfang des Briefs in ihr Tagebuchheft und schrieb den Rest des Briefs, der nicht überliefert ist bzw. von dem die erste Seite nicht überliefert ist, nicht ab. 74 Kapitel 90 aus dem auf S. 267 bereits genannten Werk (siehe Anm. 73 auf S. 899). 75 «Wandervogel», deutsche Jugendorganisation vom Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem sehr speziellen Lebensstil. Die Organisation wurde im Juni 1933 aufgelöst. 76 Siehe S. 330. 77 Hier befand sich Hedwig und Max Geigers Speiselokal. 78 Nicht erhalten geblieben. 79 Wahrscheinlich Stella. 80 Hugo Wolf (1860–1903), deutscher Komponist; schrieb unter anderem viele romantische Lie­ der. 81 Der Zuidelijke Wandelweg («Südliche Wanderweg») bildete eine Verbindung zwischen dem Amsteldijk und dem Amstelveenseweg. Er war eine sehr beliebte Promenade. Als mit dem Erlass vom 15. September 1941 entschieden wurde, dass Juden sich nicht mehr auf öffentli­ che Plätze begeben durften, die der Erholung der Bevölkerung dienen sollten, wurde der Zuidelijke Wandelweg für sie zu verbotenem Gebiet. Auch Wälder und Parkanlagen waren für Juden verboten. 82 Hedwig Geiger-Sprüngli. Vgl. dazu Anm. 136 auf S. 908. 83 Keine Informationen verfügbar. 84 Die Amsterdamer jüdische Bank Lippmann, Rosenthal & Co. an der Sarphatistraat wurde Ende Mai 1941 der deutschen Verwaltung unterstellt. In einem Erlass vom 8. August 1941 wurden die Juden dazu verpflichtet, ihr Bargeld und ihre Schecks, sofern sie zusammen mehr als tausend Gulden wert waren, auf ein Konto bei Lippmann, Rosenthal & Co. einzuzahlen. Wertpapiere mussten ebenda deponiert werden; Guthaben und Depositen bei Banken, Spar­ kassen und anderen Finanz- und Krediteinrichtungen mussten zu Lippmann, Rosenthal & Co. (Liro) transferiert werden. Im März 1942 erhielten die niederländischen Banken von der Besatzungsmacht den Auftrag, alle noch bei ihnen verbliebenen Gelder (in welcher Form auch immer) von Juden der Bank Lippmann, Rosenthal & Co. zukommen zu lassen. Alle Girokonten von Juden mussten aufgelöst werden. Vertreter der Bank waren auch in der Hol­ landsche Schouwburg und im Durchgangslager Westerbork selbst anwesend, um bis zum letzten Moment die Besitztümer der Juden zu registrieren und zu beschlagnahmen.

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Anmerkungen Heft 6 1 Wenn man sehr viel Geld bezahlte, waren die Besatzer manchmal gewillt, Ausreisevisa für kleinere lateinamerikanische Länder wie Honduras, El Salvador und Kuba auszustellen. Die Schweiz war für die meisten Juden unerreichbar. Diejenigen, die bereits vor Mai 1940 die ersten Schritte in Bezug auf ihre Emigration eingeleitet hatten, hatten eine größere Chance, ein Ausreisevisum zu bekommen, als diejenigen, die die Anträge später eingereicht hatten. 2 R. M. Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit, hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leip­ zig, Insel Verlag, 1931. 3 Klaas Abe Schipper (Godlinze 1906–Etersheim 1949) studierte in Groningen und Leiden Theologie. Im Jahr 1938 promovierte er in Groningen mit der Doktorarbeit Moderne kolo­ niale staat en moderne zending («Moderner Kolonialstaat und moderne Mission»). Ab 1935 war er Pfarrer der reformierten Gemeinde in Etersheim (Nordholland). Zusammen mit seiner Frau, einer Schwester von Taco Kuiper, Johanna E. Kuiper (Warga 1896–Amsterdam 1956), Theologin, Kinderbuchautorin, Übersetzerin, u. a. des Werks von Stanley Jones, schloss Schipper sich 1941 dem Widerstand an. Ganz schockiert über die ersten Judenverfol­ gungen, organisierten sie die Flucht und das Untertauchen jüdischer Familien. Viele fanden in der Pfarrei in Etersheim eine ständige oder zeitweilige Unterkunft. Dieses Versteck wurde jedoch 1943 verraten, woraufhin Schipper und einige Untergetauchte verhaftet wurden. Schipper wurde zuerst in der Weteringschans in Amsterdam in Haft gehalten, danach in Groningen, wo er 1945 befreit wurde. Seine Frau entkam einer Verhaftung und tauchte 1943 in Amsterdam unter. 4 Zitat aus Klatt, Rainer Maria Rilke, S. 78. Etty Hillesum hat zwischen «persönlichem Ge­ winn» und «eine so führende» die Worte «in unserm Leben» weggelassen. 5 Lippmann, Rosenthal  & Co.; Juden, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, mussten in vielen Fällen ihre Wertgegenstände bei Lippmann, Rosenthal & Co abliefern. Die Bank ver­ kaufte diese Gegenstände und schrieb den Eigentümern einen Bruchteil des Wertes gut. Es ist nicht sicher, ob Etty Hillesum aus diesem Grund Spiers Ehering zur Bank bringen musste. 6 Philip Leonard Meerlo (Zandvoort 1908–Oud-Leusden 1942) war Chirologe und prak­ tizierte in der Albrecht Dürerstraat 37. Aufgrund von Entbehrungen am 28. November 1942 ums Leben gekommen. 7 Herbert Nelson (Berlin 1910–Riverdale, New York 1988), Sohn des berühmten Kabarett-­ Pioniers Rudolf Nelson (Rudolf Lewysohn, Berlin 1878–Berlin 1960), floh 1933 nach Ams­ terdam und trat in den Vorkriegsjahren mit seiner Truppe im La Gaité – dem Kabarettsaal im berühmten Tuschinski-Theater im Zentrum von Amsterdam – auf. Herbert Nelson, der Text und Musik für die Revuen lieferte, konnte erst 1935 nach der Bezahlung einer Ab­ standssumme nach Amsterdam ins Exil gehen. Nelsons Truppe brachte alle zwei Wochen eine neue Revue auf die Bühne. Im November 1941 ging die Nelson-Revue im jüdischen Kleinkunst-Ensemble von Werner Levie und Henriëtte Davids auf. Bis im Sommer 1942 trat die Truppe im Jüdischen Theater («Joodsche Schouwburg») auf, einem der wenigen Orte, wo jüdische Künstler noch auftreten konnten (vor ausschließlich jüdischem Publi­ kum). Nachdem das jüdische Theater geschlossen worden waren und als Zentrum genutzt wurde, von wo aus Juden nach Westerbork transportiert wurden, gründete Herbert Nelson in seinem Haus am Merwedeplein ein Untergrund-Kabarett, das im Gegensatz zu seinen Revuen politisch gefärbt war. 1945 heiratete Herbert Nelson Sylvia Grohs (Wien 1918–Los Angeles 2009), die als Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin in vielen Nelson-Revuen auf­ trat. Im Jahr 1947 emigrierten sie über die Schweiz in die Vereinigten Staaten. 8 Fernando George Kroonder (Amsterdam 1912–Zeist 1993) war Verleger in Amsterdam. Ob­ wohl sich Spier darüber im Klaren war, dass eine Ausgabe seines Manuskripts Kinderhände

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während der Besatzungszeit nicht realisierbar war, wollte er aus finanziellen und geschäft­ lichen Gründen sein Manuskript bei einem Verleger vertraglich unterbringen. Kroonder gründete seinen Verlag im Jahr 1940, nachdem die deutschen Behörden den Verband der Arbeiter-Esperantisten («Bond van Arbeidersesperantisten»), bei dem er entlohntes Vor­ standsmitglied und Kassierer war, verboten hatten. Han Wegerif war Revisor dieser Ver­ einigung. Er brachte Spier und Kroonder zusammen. Während der Besatzungszeit gab F. G. Kroonder zahlreiche illegale Ausgaben von Gedichtsammlungen heraus, u. a. von Gerard den Bra­bander, Simon Vestdijk und Gerrit Achterberg. Keine Informationen verfügbar. C. G. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens, Leipzig / Wien, 1912. Der 5. Teil von Jungs Gesammelten Werken mit dem Titel Symbole der Wandlung (1952) ist eine umfangreiche Bearbeitung dieser Ausgabe. Alida Gerrigje (Swiep) van Wermeskerken (Tiel 1907–Amsterdam 1992) arbeitete zwischen 1935 und 1938 für eine amerikanische Filmgesellschaft in Berlin. Sie erlebte dort von Nahem den Vormarsch der Nazis. Nach der Reichspogromnacht kehrte sie nach Amsterdam zurück. Um sich nicht ständig mit dem zunehmenden deutschen Terror beschäftigen zu müssen, begann sie während des Krieges, Russischunterricht zu nehmen. Laut Swiep von Wermesker­ ken machte Etty Hillesum guten Unterricht: «Die kompliziertesten Dinge erklärte sie, als ob es ‹eins und eins macht zwei› wäre. Sie konnte es einem ganz klar und deutlich erklären. Wenn man nach Hause kam, dann war es natürlich doch nicht so simpel.» Swiep kam gut mit Etty Hillesum aus und sie kam auch zu den Hauskonzerten, wo sie Spier kennenlernte: «Ich fand Spier fürchterlich, ich habe ihn niemals ernst genommen. Er wusste das und hat es akzeptiert. Ich hielt ihn für einen intellektuellen Nichtsnutz und das habe ich ihm mehr als einmal gesagt. ‹Sie sind doch eigentlich ein Biest›, sagte ich dann, und nicht Du, wie Etty Hillesum irrtümlicherweise schreibt [siehe S. 395]. Ich habe diesen Mann niemals mit Du angesprochen.» Henrica Elisabeth Maria van der Hagen (Den Bosch 1903–Driebergen 1984). Jet van der Hagen war Sekretärin bei der Javaschen Bank. Sie gehörte zum «Spier-Club». Beschreibung des Interieurs von Jet van der Hagens Haus in der Bachstraat. Keine Informationen verfügbar. Zitat aus Rilke, Briefe 1902–1906, S. 118. Russisch: Der Idiot. Jet van der Hagen. Zitat aus Rilke, Briefe 1902–1906, S. 115. Beim Ausreiseantrag, den deutsche und staatenlose Juden einreichen mussten, musste man auch die Steuerdaten der Jahre 1939 /40 und 1940 /41 vorlegen. Wahrscheinlich musste Spier nähere Informationen zu diesen Steuerangelegenheiten beschaffen. Wichtiger Begriff des einflussreichen deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) aus dessen Kritik der praktischen Vernunft (1788). Unter dem kategorischen Imperativ ver­ steht Kant ein allgemeines, inneres, moralisches Gesetz, das nicht von der Erfahrung abhän­ gig ist und das uns zu der Schlussfolgerung führt, ob eine bestimmte Handlung als gut oder als schlecht bezeichnet werden muss. Eine geschäftliche Unterhaltung mit dem Samenhändler Douwe Vis? Oder eine Russisch­ lektion für diesen «Bohnenmann»? Siehe S. 399: «Und dann dieser Enkhuizener mit seinem netten Geschenk, den braunen Bohnen und der angebotenen Gastfreundschaft, der nach dem Unterricht …» Beschreibung eines Gemäldes, das über dem Flügel im Salon von Mien Kuyper hing. Bereits zweimal zitiert, siehe S. 313 und 318. Im jüdischen Kleinkunst-Ensemble gab es auch eine Abteilung für Theater, die unter der Leitung von Elias van Praag und Eduard Veterman stand.

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Anmerkungen 25 Henriëtte («Heintje») Davids (Rotterdam 1888–Naarden 1975) stammte aus einer Künstler­ familie, die eine eigene Truppe bildete, die auf Jahrmärkten herumreiste und dort auftrat. Nur Heintje durfte nicht mitmachen. «Sie war zu hässlich», meinte Vater Davids. Nach ­einigen Nebenrollen wurde sie  – übrigens gegen den Willen ihres Vaters  – die Partnerin ­ihres Bruders, des berühmten Louis Davids. «Sie hat keine Figur, kein Talent und sie kann nicht singen. Der Rest ist in Ordnung», meinte Louis. Während des Krieges übernahm sie die künstlerische Leitung des jüdischen Kleinkunst-Ensembles. Weil das Publikum not­ gedrungen immer dasselbe war, musste das Ensemble alle paar Wochen eine neue Show präsentieren. In den meisten Revuen war Heintje Davids der Star. 1943 tauchte sie unter, 1945 hatte sie ein glorreiches Comeback im Amsterdamer Concertgebouw. 1954 verabschie­ dete sie sich vorerst von der Bühne (sie hatte später jedoch mehrere Comebacks). 26 Arthur Holitscher (1869–1941), Publizist in Paris, Berlin und München; führte hauptsäch­ lich in den Jahren 1902 / 06 eine freundschaftliche Korrespondenz mit Rilke. 27 Zitat aus Rilke, Briefe 1902–1906, S. 24 f. 28 28. März 1942. 29 Zitat aus Rilke, Briefe 1902–1906, S. 43. 30 Siehe S. 197 und 201. 31 Die Oxford-Bewegung, eine von dem Evangelisten Frank Buchman gegründete religiöse Erweckungsbewegung, trat in den Niederlanden vor allem in den Dreißigerjahren in Er­ scheinung. Die Zusammenkünfte, sogenannte «house parties», waren von einer intensiven religiösen Erfahrung geprägt. Auf den nach amerikanischem Vorbild abgehaltenen Wochen­ endtreffen wurden durch jubelnde mehrstimmige Gesänge, beispielsweise das Brückenbauer­ lied, und durch enthusiastische Reden ein Zusammengehörigkeitsgefühl und das Bewusst­ sein dafür geschaffen, dass in den Niederlanden eine neue Mentalität notwendig sei. 1938 vollzog die Oxford-Bewegung eine Wende zur «Morele Herbewapening» (moralische Auf­ rüstung). Daraufhin verlor die Bewegung viele ihrer Anhänger. 32 Swiep van Wermeskerken. 33 Anmerkung der Übersetzerin: ein Präparat zum Abschwellen der Nasenschleimhäute bei Schnupfen mit dem Wirkstoff Ephedrin. 34 Anmerkung der Übersetzerin: ein Antiseptikum gegen beginnende Halsschmerzen mit dem Wirkstoff Oxychinolin. 35 Gemälde von Rembrandt (1661); jetzt im Louvre in Paris. 36 Douwe Vis. 37 Zitat aus Rilke, Briefe 1902–1906, S. 115. Diese Passage wurde bereits zitiert (siehe S. 397). 38 Zitat aus Rilke, ebd., S. 115–117. 39 Russisch: Wer weiß? 40 Louis Zimmerman. Vgl. Anm. 13 auf S. 890. 41 Es ist nicht auszuschließen, dass das Gegenteil im Manuskript steht oder gemeint ist, näm­ lich: «hoffentlich genauso …». 42 Siehe S. 330. 43 Zitat aus Matthäus 10,18–19. 44 Lippmann, Rosenthal & Co. Vgl. Anm. 84 auf S. 907. 45 Saal der Hollandsche Schouwburg, damals Joodsche Schouwburg genannt; ein Theater in Amsterdam. Vom 13. Februar bis 2. April gab es aufgrund der Kohleknappheit ein Spielver­ bot. Etty Hillesum nahm wahrscheinlich an einer der ersten Proben nach der Wiedereröff­ nung teil; deshalb ihre Beschreibung des kalten Theatersaals. 46 Für das Hörgerät von Spier bestimmt. 47 Anmerkung der Übersetzerin: Im niederländischen Original hat Etty Hillesum den Stra­ ßennamen Stadionkade auf Kade gekürzt. 48 Keine Informationen verfügbar.

zu Seite 401–431 49 Siehe S. 153 und 250. 50 Latein: «Ich bin (ein) Mensch». Das Zitat, das aus Terenz’ Heautontimorumenos stammt, lautet vollständig: «Homo sum: humani nil a me alienum puto»: «Ich bin (ein) Mensch; nichts Menschliches, denk ich, ist mir fremd.» 51 Renate Levie, später Hagar Rudenik, die ältere Tochter von Liesl und Werner Levie. Etty Hillesum führte lange Gespräche mit den Levies. Wegen der Ausgangssperre übernachtete sie deshalb oft in der Watteaustraat bei den Levies. 52 Etty Hillesum macht Anspielungen auf Rilkes – durch Rodin inspirierte – Auffassung über «die Dinge». Rilke schreibt darüber im Brief an Lou Andreas-Salomé, aus dem Etty Hille­ sum auf S. 397 und 412 f. zitiert. 53 Maimonides (1135–1204), spanisch-jüdischer Philosoph und Arzt. Maimonides war durch die griechische Philosophie beeinflusst und war von großer Bedeutung für die jüdische ­Religionsphilosophie. Sein systematischer Überblick über die Vorschriften des Judentums ist noch immer von großer Bedeutung. 54 Russisch: ein toter Mensch. 55 Die Csárdásfürstin, Operette von Emmerich Kálmán; die größte Aufführung, die das jüdi­ sche Kleinkunst-Ensemble realisierte. Zwischen dem 18. April 1942 und dem 13. Mai 1942 gab es davon insgesamt 30 Vorstellungen. Um möglichst viele Menschen vor der Deporta­ tion zu bewahren, wurde das technische und spielende Personal stark erweitert. Daher ­waren gut siebzig Mitarbeitende an der Produktion beteiligt. Henriëtte Davids spielte die Fürstin, Elias van Praag den Fürsten, Sylvia Grohs übernahm die Soubrettenrolle. Neben dem Revue-Orchester spielte auch die Band von Eddy Wallis mit sowie aus dem Concert­ gebouw-Orchester entlassene Musiker, die einen Platz im Symphonieorchester von van Raalte gefunden hatten. Eduard Veterman hatte die Bühnenbilder gemalt und für die Kos­ tüme wurden die Stoffe von Textilhändlern aus der Jodenbreestraat zum Selbstkostenpreis zur Verfügung gestellt. 56 Weil Adri Holm nicht genügend Platz hatte, feierte sie ihren Geburtstag bei der Schwester und dem Schwager von Spier, Alice und Leo Krijn (Amsterdam 1889–Sobibor 1943). 57 Zitat aus Rilke, Briefe 1902–1906, S. 309. 58 Käthe Hamburger, bei der Leonie wohnte. Spier stattete Leonie dort einmal einen Besuch ab und begegnete damals auch ihrer Freundin. 59 Nach ihrem Gymnasialabschluss wohnte Hanneke Starreveld-Stolte (Dieren 1910–Amster­ dam 2002) einige Zeit in Paris; sie arbeitete in einer Buchbinderei und lernte das Paris der frühen Dreißigerjahre kennen. Nach ihrer Rückkehr in die Niederlande besuchte sie die Kunstgewerbeschule. Anschließend machte sie eine zehnmonatige Ausbildung und wurde Lehrerin. Während ihrer Ausbildung an der Schule für Soziale Arbeit begann sie sich für das links-kulturelle Milieu von Amsterdam zu interessieren. Sie lernte ihren Mann kennen, als dieser eine Einführung in den Film Borinage von Joris Ivens gab. Pieter Starreveld (Zaandam 1910–Amsterdam 1989) ging im Alter von 13 Jahren an die Kunstgewerbeschule in der Gabriël Metsustraat und belegte dort neben der Vollzeitaus­ bildung tagsüber auch den Abendlehrgang Bildhauerei. Als er 17 Jahre alt war, ging er an die Rijksacademie. Seine Ausbildung wurde 1930 unterbrochen, als er wegen Kriegsdienstver­ weigerung für anderthalb Jahre bei der staatlichen Forstverwaltung beschäftigt wurde. ­Danach schloss er seine Bildhauer-Ausbildung ab. Die Starrevelds heirateten im Jahr 1934. Schon seit Anfang der Dreißigerjahre waren die Starrevelds im antifaschistischen Wider­ stand aktiv. Pieter Starreveld druckte Flugblätter und Broschüren gegen den Faschismus, die in Deutschland illegal verbreitet wurden. Sie setzten ihre Widerstandsarbeit während der Besatzung fort. Die Starrevelds lernten Etty Hillesum ungefähr 1936 bei Mien Kuyper kennen. Danach kreuzte Etty Hillesum gelegentlich für ein paar Stunden bei ihnen auf, schaute sich ein

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­ enig in Pieters Atelier um und ließ sich dann für eine Weile nicht mehr blicken. Etty Hil­ w lesum verschwand jedoch von der Bildfläche, bis die Starrevelds sie etwa im Februar 1942 wiedersahen. Etty Hillesum brachte sie auch mit Spier in Kontakt. Im Kurs wurden sie zu «Objekten». Die Starrevelds wohnten nicht in der Stadionkade, sondern gleich um die Ecke am Parnassusweg. Etty Hillesum entdeckte, dass Hanneke ebenfalls Jung und Rilke las. Diese Autoren bildeten oft den Ausgangspunkt für philosophische Gespräch zwischen Han­ neke Starreveld-Stolte und Etty Hillesum. Anmerkung der Übersetzerin: «Epistel» ist ein veralteter, heute nur noch abwertend oder scherzhaft verwendeter Ausdruck für einen (kunstvollen) längeren Brief. Etty Hillesum ver­ weist mit dem Wort hier allerdings nicht auf einen längeren Brief, sondern vielmehr auf das Briefpapier, das der Absender Aimé van Santen als «dekadent» bezeichnet. Siehe den undatierten Brief von Aimé van Santen auf S. 842 f. Eduard Veterman (Den Haag 1901–Laren 1946), Theaterautor, Dramaturg. Nachdem er sich bereits vor dem Krieg auf verschiedene Arten für das Theater in den Niederlanden eingesetzt hatte, wurde Veterman im jüdischen Kleinkunst-Ensemble Leiter der Theaterabteilung. Zu­ dem malte er viele Bühnenbilder für diese Truppe. Während der Besatzung beteiligte sich Eduard Veterman aktiv am Widerstand. Vermutlich war er der Erste in den Niederlanden, der Ende 1941 Personalausweise vollständig nachmachte. In anderthalb Jahren stellte Veter­ man rund zweitausend Personalausweise her. Er erstellte auch «Aus- und Einreisegenehmi­ gungen» und allerlei falsche Schriftstücke für Juden wie brasilianische Geburtsscheine, von denen er – genauso wie die Kontrolleure übrigens – niemals ein echtes Exemplar gesehen hatte. 1942 kam er mit der Widerstandsgruppe «Luctor et Emergo» in Kontakt, die sich mit Spionage beschäftigte, Hilfe für jüdische und andere Untergetauchte leistete und gestran­ dete englische Piloten über eine Fluchtlinie nach England zurückbrachte. Im Oktober 1943 wurde Veterman zusammen mit Mitarbeitern seiner Widerstandsgruppe verhaftet. Über das «Oranjehotel», das Gefängnis in Scheveningen, wurde die Gruppe nach Lüttringhausen transportiert, wo der Gefängnisdirektor die Vollstreckung ihrer Todesstrafe verhindern konnte. Nach der Befreiung bereitete Veterman ein Buch über die Aktivitäten der nieder­ ländischen Exilregierung und die Zusammenarbeit mit gewissen führenden Niederländern vor. Im Jahr 1946 kam er jedoch mit seiner Frau zusammen ums Leben, als sein Auto mit einem Militärlastwagen kollidierte. Es ist unklar, ob es sich dabei um einen Unfall oder um eine Liquidierung handelte. In ihrer detaillierten Beschreibung von Spiers letzter Geburtstagsfeier erwähnt Etty Hille­ sum nicht Tidemans satirisches Gedicht. Spier selbst hatte Tideman dazu aufgefordert, ein solches Gedicht zu schreiben. In der folgenden Passage geht es um Etty Hillesum: «ETTY tat am Tisch aus gutem Grund / Eine große Wahrheit uns kund, / ‹MASOCHISTISCH ist der Mann.› / Ob man dies so in der Öffentlichkeit sagen kann? / Vielleicht ist es nicht allzu gesittet; / wenn man über die schlechtesten Seiten des Mannes berichtet …» Leonie Snatager wollte mehr Klarheit über Etty Hillesums Beziehung zu Spier und Wegerif haben. Etty Hillesum war es nicht gewohnt, über ihr Privatleben zu sprechen; sie sprach lie­ ber über die Lebensweise von anderen, zumindest Leonie Snatager zufolge. In diesem Zeit­ raum lebten sich Leonie Snatager und Etty Hillesum auseinander, und dies nicht nur, weil Leonie ihren Wohnsitz nach Den Haag verlegte und seit Juni 1942 ein Reiseverbot für Juden galt, sondern auch, weil Leonie Snatager sich Etty Hillesums Einfluss entziehen wollte. Sie gab den durch Etty Hillesum inspirierten Plan, freiwillig nach Westerbork zu gehen, auf, und es gelang ihr mithilfe von Louis Zimmerman, die Judenverfolgung zu überleben. Anspielung auf Johannes 14,2: «Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.» Mehr oder weniger um Etty Hillesum einen Gefallen zu tun, gingen Hanneke und Pieter Starreveld zu Spier, um ihre Hände betrachten zu lassen. Die Informationen, die Spier mit­ tels der Handanalyse über ihre Eltern, über sie selbst und ihr Handeln gewann, verblüfften

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die Starrevelds. «Ich bin dann auch am Tag nach dem Treffen zu ihm zurückgegangen und habe gesagt: ‹Wenn Sie dies sagen, dann können Sie nicht sagen: ,Auf Wiedersehen, meine Dame, gehen Sie nur weiter‘, sondern dann müssen Sie dies mit mir durcharbeiten.› Sie können nicht jemanden mit vielen Seiten seiner selbst konfrontieren, die noch nicht voll­ ständig verarbeitet oder aufgenommen sind.» So berichtet Hanneke Starreveld über den Auftakt ihrer vielen Begegnungen mit Spier. Das Protokoll von Hanneke Starreveld, das Etty Hillesum abgetippt hatte, ist erhalten geblieben. Adriana Margaretha (Jeanne) Liedmeier (Zaandam 1915–Bilthoven 2017), später van der Eng-Liedmeier, Altphilologin und Slawistin. Kommilitonin von Etty Hillesum, die sie in Kontakt mit Spier brachte. Etty Hillesum bezieht sich auf das damals noch unveröffentlichte Manuskript Kinderhände. Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 41. Zitat aus dem Gedicht «Dich wundert nicht des Sturmes Wucht» (1901), enthalten in Rilke, Das Stunden-Buch (Sämtliche Werke 1, S. 305). Siehe S. 446. Am 29. April 1942 erschien in der Presse eine Bekanntgabe in Bezug auf die «Kennzeich­ nung der Juden in den Niederlanden». Fortan mussten alle Juden, die älter als 6 Jahre ­waren, in der Öffentlichkeit einen Judenstern tragen. Es wurde genau angegeben, wie dieser Stern aussehen und wo und wie er getragen werden musste. Die Ausgabe der Sterne erfolgte für Amsterdam über den Judenrat. Etty Hillesum bezieht sich auf Arbeits-, Straf- und Transitlager. An dem Tag, an dem Etty Hillesum dies schrieb, war noch keine Verordnung erlassen wor­ den, in der den Juden verboten wurde, bestimmte Straßen zu betreten. Während dieser Zeit wurde jedoch die Bewegungsfreiheit der Juden weiter eingeschränkt: Kneipen, Restaurants, Bibliotheken, Meer, Strand und Schwimmbäder waren für sie verboten, das Reisen war an Bewilligungen gebunden. Schilder mit der Aufschrift «Für Juden verboten» oder «Juden unerwünscht» wurden an immer mehr Orten in der Stadt und auch auf dem Land auf­ gestellt. Das Fragezeichen stammt von Etty Hillesum. Werner Levie hatte seinen Smoking verkauft, um auf dem Schwarzmarkt diesen Kaffee kau­ fen zu können. Die Besitztümer der Levies standen in Rotterdam bereit, um ins Mandatsgebiet Palästina verschifft zu werden. Am 6. Mai 1940 hatten die Levies für den 26. Mai gebucht. Durch das Bombardement wurden diese Besitztümer jedoch vernichtet. Nach dem Ausbruch des Krieges gelang es den Levies, über Freunde Tickets zu erstehen, um in der Nacht des 12. Mai per Schiff nach England zu entkommen. Als deutsche Jagdflugzeuge in IJmuiden dicht über dem Schiff flogen, hob der Kapitän den Preis für die Überfahrt an. Ein Teil der Passagiere, darunter die Levies, verließ daraufhin das Schiff. Bereits 1936 waren die Levies in Palästina gewesen. Zu­ sammen mit Huberman und Toscanini gründete Werner Levie dort das palästinensische Sym­ phonieorchester, aber das Hauptziel seiner Reise war zu sehen, ob es möglich war, jüdische Künstler des «Kulturbunds» sicher nach Palästina zu bringen. Fieberhaft arbeitete er in Berlin und Wien an diesem Plan. 1938 reisten die Levies wieder nach Palästina, um weitere Kontakte zu knüpfen. Die deutschen Behörden vereitelten die Auswanderung jedoch im letzten Mo­ ment. Nach der Reichspogromnacht im November 1938 wurden viele Künstler verhaftet, und der «jüdische Kulturbund» wurde aufgelöst. Werner Levie, der inzwischen nach Berlin zu­ rückgekehrt war, schaffte es jedoch, diese Auflösung rückgängig zu machen und dafür zu sorgen, dass jüdische Künstler wieder auftreten konnten. Solange die Künstler Arbeit hatten, wurden sie nicht in Lager deportiert. Im Mai 1939 schickte Werner Levie seine Familie und seine Mutter nach Amsterdam. Er selbst blieb bis zum letzten ­Moment auf seinem Posten. Wenige Stunden vor dem Ausbruch des Krieges am 31. August 1939 ging er ins Exil.

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Keine Informationen verfügbar. Russisch: Mutter. Russisch: Vater. Zitat aus Rilkes Gedicht aus Das Stunden-Buch: «Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug», aus dem im vierten Heft bereits dreimal zitiert wurde (siehe S. 253, 258 und 265). Zitat aus Rilke, Briefe 1902–1906, S. 111. Hanneke Starreveld. Anmerkung der Übersetzerin: Das Zitat «Sie sind eine Verliebte in den Geist» stammt von Julius Spier, die fehlerhafte Syntax zeigt jedoch, dass sie ihn nicht wortwörtlich, sondern dem Sinn nach zitiert. So schreibt sie denn auch im darauffolgenden Tagebucheintrag: «Im Nachhinein kann man ein Gespräch nicht aus dem Kopf abfotografieren, man kann ver­ suchen, es nachzubilden.» Anmerkung der Übersetzerin: Zitat aus Johannes 9,12, siehe auch Anm. 2 auf S. 888. Bezüglich «Wandlungen» siehe Anm. 10 auf S. 909. Mit «Energetik der Seele» ist gemeint: C. G. Jung, Über die Energetik der Seele und andere psychologische Abhandlungen (1928), ent­ halten in Gesammelte Werke VIII, S. 1–73. Ursprünglich erschienen unter dem Titel Studies in the History of the Renaissance (1873) von Walter Pater (1839–1894). Die erste deutsche Übersetzung stammt aus dem Jahr 1902: Die Renaissance, Studien in Kunst und Poesie, aus dem Engl. übertr. und mit einer Einl. von Wilh. Schölermann, Leipzig, E. Diederichs (neu aufgelegt in den Jahren 1906 und 1910). Han Wegerif. Anmerkung der Übersetzerin: Etty Hillesum wechselt in diesem Satz mittendrin die Pers­ pektive, zuerst spricht sie Julius Spier direkt an («mit dir eingehen»), danach jedoch spricht sie über «seine» Beziehung zu Hertha. Marianna Alcoforado, deren Briefe Rilke übersetzt hat (Titel: Portugiesische Briefe, Leipzig, 1913). Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 74. Lou Andreas-Salomé (1861–1937), Tochter eines russischen Vaters und einer deutschen Mut­ ter; eine Zeit lang war sie Nietzsches Partnerin. Sie heiratete den Orientalisten Friedrich Carl Andreas, wurde Schülerin von Freud und arbeitete später selbstständig als Psychothera­ peutin. Sie schrieb eine Vielzahl von Büchern. Etty Hillesum zitiert aus ihrem Buch Rainer Maria Rilke (1928). Im Jahr 1897 lernte die 36-jährige Lou Andreas-Salomé Rilke kennen, der damals 22 Jahre alt war. Sie wurde seine Geliebte und später eine treue Freundin, mit der er bis zu seinem Tod in Kontakt blieb. Guy de Pourtalès (1881–1941), Schweizer Schriftsteller und Musikkritiker. Amor Fati. Nietz­ sche in Italien, deutsch von Hermann Fauler, Freiburg im Breisgau, Urban Verlag, 1930. Zitat aus de Pourtalès, ebd., S. 89 ff. Malwida von Meysenbug (1816–1903), deutsche Schriftstellerin. Sie nahm sich Lou Salomés an, als diese sich 1882 in Rom niederließ. Zitat aus de Pourtalès, ebd., S. 91. Zitat aus de Pourtalès, ebd., S. 115 (Brief an Peter Gast vom 13. Juli 1882). Anmerkung der Übersetzerin: Im niederländischen Original hat Etty Hillesum den Stra­ ßennamen Stadionkade auf Kade gekürzt. Anspielung auf F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886). Siehe S. 564, wo Etty Hillesum im Zusammenhang mit diesem Ausdruck von einem «halben Plagiat» spricht.

zu Seite 462–505 23 Anmerkung der Übersetzerin: Im Niederländischen schrieb Etty Hillesum «pèn in m’n lèf» für «pijn in mijn lijf», sie ahmt hier Amsterdamer Platt nach. 24 Der Ursprung dieses Zitats ist unbekannt. 25 Unbekannt. 26 Aufgrund mangelnder Hygiene und ungenügender Nahrung in den Lagern gab es viele Krankheiten wie beispielsweise Diphtherie. Und umgekehrt gaben die deutschen Behörden oft eine schwere Krankheit als Todesursache an, obgleich der Betroffene eines gewaltsamen Todes gestorben war. 27 Der Überblick, in dem Etty Hillesum das erste Jahr ihrer Beziehung zu Julius Spier be­ schrieb. «Von einer schönen Seele an eine große Seele» bedeutet folglich: von Etty Hillesum an Julius Spier. 28 Zitat aus Augustinus, Confessiones, IV, 10. Etty Hillesum zitiert hier die folgende deutsche Übersetzung: Des heiligen Augustin Bekenntnisse, übertragen und eingeleitet von Herman Hefele, drittes bis fünftes Tausend, Jena, Eugen Diederichs, 1922, S. 59. Beim Abschreiben hat sie einen Fehler gemacht, denn im Text ist zweimal die Rede vom «Sinne des Fleisches». Nach dem ersten Mal «Denn langsam sind die Sinne des Fleisches» hätte folgen müssen: «und ihre Weise ist ihr Maß» statt «und wer kann sie fassen» usw. 29 Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 165. 30 Giovanni Giacomo Casanova (1725–1798), italienischer Abenteurer; bekannt durch seine postum herausgegebenen Mémoires (1820). 31 Bereits viermal zitiert (siehe S. 313, 318, 347 und 400). 32 Das fünfte Lied aus dem Zyklus Winterreise von Franz Schubert (1797–1828) aus dem Jahr 1827 (D 911, op. 89), mit Texten von Wilhelm Müller (1794–1827). 33 Fein hieß eigentlich Walter Feinstein (Königsberg 1903–Baden-Baden 1984), Schauspieler; trat in einer der ersten Nelson-Revuen in Amsterdam auf. Er überlebte den Krieg, indem er untertauchte. Weyl ist wahrscheinlich José Weil (Frankfurt am Main 1907–Auschwitz 1942); er starb am 18. August 1942 in Auschwitz. Heft 9 1 Max Ehrlich (Berlin 1892–Auschwitz 1944), deutscher Kabarettist; floh 1934 in die Nieder­ lande, wo ihm in Rudolf Nelsons Revue Zuflucht gewährt wurde. Zudem spielte er ver­ schiedene Rollen in niederländischen Spielfilmen. Während des Krieges schloss er sich dem jüdischen Kleinkunst-Ensemble an und trat regelmäßig im «Jüdischen Theater» auf. 1942 musste er nach Westerbork, wo er zusammen mit Willy Rosen zu einer der treibenden Kräfte hinter der «Bühne Lager Westerbork» wurde. 1944 wurde dieses Kabarett aufgelöst und die Mitwirkenden wurden über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. 2 Katy Veterman-van Witsen (Amsterdam 1910–Laren 1946) heiratete Eduard Veterman 1936 in Menton, wo sie aufgewachsen war und ihren Mann kennengelernt hatte. Als der Krieg ausbrach, floh das Ehepaar Veterman in die Niederlande, wo sie zunächst in Blaricum und später in Amsterdam lebten. Nachdem sie und ihr Mann mit weiteren Menschen im Okto­ ber 1943 von der Besatzungsmacht festgenommen worden waren, war sie in Scheveningen und Vught inhaftiert. 1946 kamen sie und ihr Mann bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Katy Veterman wirkte auf Etty Hillesum ziemlich hart und verschlossen. Wahrscheinlich hatte sie d ­ iesen Eindruck erweckt, weil sie kurz davor ihre Tochter Etty bei ihr unbekannten Pflegeeltern untertauchen lassen musste. 3 Siehe S. 465 und 500 f. 4 Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 279 f. 5 Eli Stanley Jones (1884–1973), amerikanischer Methodist und Missionar; ging 1907 nach

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Indien und betrieb dort Evangelisierungsarbeit. Er gründete christliche «Ashrams», in ­denen man versuchte, das Christentum in typisch indischer Gestalt wiederzugeben. Stanley Jones war ein radikaler Antimilitarist. Er schrieb u. a. die Bücher Der Christus der indischen Landstraße (1925), Der Christus jeder Straße (1930), Christi Alternative zum Kommunismus (1935) und Sieghaftes Leben (1936). Spier empfahl seinen Bekannten, sich in diese Bücher zu vertiefen. Wahrscheinlich war Etty Hillesum, schon bevor sie Spier kennengelernt hat, mit dem Werk von Eli Stanley Jones durch ihre Freundin Johanna Kuiper vertraut, die einige seiner Bücher ins Niederländische übersetzt hatte. Zitat konnte nicht ermittelt werden. Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 293. Zwischen «manchmal» und «mit» hat Etty Hille­ sum «ganz» ausgelassen. Die Besatzungsmacht beabsichtigte, die Umzugsgenehmigungen der Juden auf bestimmte Stadtteile zu beschränken: auf das Zentrum (im Raum Waterlooplein, Nieuwmarkt und Plantagebuurt), den Osten (Transvaalbuurt) und den Süden (Rivierenbuurt). Durch die Zwangsumsiedlung von Juden aus der Provinz nach Amsterdam, die im Januar 1942 begon­ nen hatte, stieg die Anzahl der Juden in der Stadt enorm an. Dies führte in vielen Fällen zu einer Überbesetzung der Häuser. Bernard Houthakker (Amsterdam 1884–Amsterdam 1963), ein alter Freund von Dr. Louis Hillesum. Houthakker schrieb Artikel über Kunst und betrieb seit 1909 eine Galerie, zuerst an der Nieuwezijds Voorburgwal und später an der Rokin im Zentrum von Amsterdam. Rainer Maria Rilke, Über Gott. Zwei Briefe, Leipzig, Insel Verlag, 1933. Ein Lehrgang zur russischen Handelskorrespondenz von Prof. G. Langenscheidt, Russisch für Kaufleute, in neuer russischer Orthographie, Berlin-Schöneberg, Langenscheidt, 1926. Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921), russischer Geograph und Philosoph; schrieb u. a. Memoirs of a Revolutionist, Boston, 1899. Zitat aus Pjotr Kropotkin, Gedenkschriften van een revolutionair (Memoiren eines Revolu­ tionärs), Haarlem, A. E. von der Heide, 1902, S. 265. Die Rechtschreibung wurde von Etty Hillesum verändert. Eine «Werst» entspricht 1066,78 Metern. Anmerkung der Übersetzerin: Der «Vorderperron» (Niederländisch: «voorbalcon») war frü­ her bei Straßenbahnwagen die vordere Plattform. Julie de Lespinasse (1732–1776). Ihre Briefe an den Comte de Guibert gehören zu den er­ folgreichsten Liebesromanen des 18. Jahrhunderts. Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 270. Li po (701–762), chinesischer Dichter. Etty Hillesum hatte eine große Anzahl Bände der «Insel-Bücherei» in ihrem Zimmer, darunter Gedichte von Li tai pe (in moderner Transkrip­ tion: Li po), 1915 von dem Schriftsteller Klabund ins Deutsche übersetzt. Ursprünglich ge­ hörten diese Bücher zur Bibliothek von Etty Hillesums Vater. Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 315. Zwischen «Tagen» und «mir» hat Etty Hillesum «kamen» eingefügt. Zitat aus Rilke, ebd., S. 305 ff. Am 11. Juni 1942 hatte die von Eduard Veterman geschriebene Komödie in drei Akten Het loopt toch anders dan je denkt («Es läuft anders, als man denkt») unter der Regie des Autors in der Hollandsche Schouwburg Premiere. Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 199. Grete von Urbanitzky (1893–1974), deutschschweizerische Romanautorin; publizierte 1931 Eine Frau erlebt die Welt. Adri Holm wurde am 6. Juni 1942 an der Adresse Lassusstraat 9 in Amsterdam angemeldet. Davor wohnte sie in Haarlem. Jet van der Hagen. Siehe Anm. 12 auf S. 909. Wim Wegerif lebte damals in Heemstede.

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zu Seite 505–536 26 Am 22. Juni 1942 wurde eine Verordnung in der Presse veröffentlicht, die besagte, dass alle Fahrräder von Juden abgegeben werden müssen. Ausgenommen waren Fahrräder, die zum Bestand eines Fahrradhändlers gehörten. Es wurde jedoch zugleich verboten, einem Juden längerfristig oder auch nur vorübergehend ein Fahrrad zur Verfügung zu stellen. 27 Seit September 1941 war das Reisen für Juden bewilligungspflichtig. Diese Verordnung wurde Ende Juni 1942 ausgeweitet, und zwar mit dem Verbot, öffentliche und private Ver­ kehrsmittel zu nutzen. 28 Am 30. Juni 1942 wurde verordnet, dass sich Juden von 20 Uhr bis 6 Uhr in ihren Wohnun­ gen aufhalten mussten. Für Nichtjuden galt diese Ausgangssperre von 24 Uhr (später 23 Uhr) bis 4 Uhr. Für Juden galt zusätzlich die Bestimmung, dass sie sich in ihrer eigenen Wohnung aufhalten mussten. Wenn man bei anderen übernachten wollte, war eine Sonder­ genehmigung erforderlich. 29 Spiers Neffe Jacques Krijn (Amsterdam 1921–Auschwitz 1942), Hoele genannt, war der ­älteste Sohn von Alice und Leo Krijn. Er ging mit Studienfreunden auf der Amstel rudern, obwohl dies den Juden verboten war. Hoele wurde deshalb verhaftet und in das Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort transportiert, ohne dass die Familie darüber informiert wurde. Seine Mutter machte sich deshalb auf die Suche nach ihm, wurde aber verhaftet und zuerst ins Gefängnis am Amstelveenseweg (im Süden Amsterdams) und später nach Westerbork geschickt. Hoele und seine Mutter wurden praktisch sofort nach ihrer Ankunft in Wester­ bork nach Auschwitz deportiert, wo sie kurz darauf ermordet wurden. Leo Krijn weigerte sich unterzutauchen und wurde 1943 verhaftet. Er wurde in Sobibor ermordet. 30 Spier und seine Familie hatten einige Geschäftsinteressen in den Niederlanden. So hatte bei­ spielsweise ein in England lebendes Familienmitglied Geld hinterlassen unter der Bedingung, dieses Geld bei einer Bank in Amsterdam zu deponieren. Im nationalsozialistischen Deutsch­ land war es den Juden jedoch verboten, Geld oder Eigentum im Ausland zu besitzen. 31 Zitat aus von Urbanitzky, Eine Frau erlebt die Welt, Berlin u. a., Paul Zsolnay, (1931) 1934, S. 114. 32 Keine Informationen verfügbar. 33 Jacques Krijn wurde Hoele genannt (von Hoelewoele), also nicht «Hulle», wie Etty Hille­ sum schreibt. 34 Im Frühling 1941 beschlossen die deutschen Behörden, die niederländische Kaserne «De Bos­ kamp» bei Amersfoort in ein Lager umzuwandeln. Die Geschichte dieses «Polizeilichen Durchgangslagers Amersfoort» kann in zwei Phasen unterteilt werden. In der ersten Phase, von der Errichtung im August 1941 bis Januar / März 1943, wurden im Lager u. a. Juden, poli­ tische Gefangene und Widerstandskämpfer untergebracht. In diesem Zeitabschnitt wurden rund 2500 Gefangene aus dem Lager nach Mauthausen, Buchenwald, Neuengamme und Sachsenhausen deportiert. In der zweiten Phase, von Mai / Juni 1943 bis zur Befreiung im Mai 1945, fungierte das «Lager Amersfoort» als Durchgangslager für Menschen, die versuchten, der Zwangsarbeit, dem sogenannten «Arbeitseinsatz» zu entkommen. In dieser Zeit wurden ungefähr 18 000 Personen aus diesem Lager deportiert. 35 Stammt von Etty Hillesum. 36 Ein Ausschnitt eines Briefes von Vis an Etty Hillesum ist erhalten geblieben: Enkhuizen, 6. Sept. 1942. Frl. E. Hillesum Abteilung Judenrat Westerbork. Post Hooghalen. Dr. [Drenthe]

Sehr geehrtes Fräulein Hillesum. Ich habe Ihren Brief dankend erhalten. Es ist wohl wahr, dass Senden seliger ist als Emp­ fangen, aber ich kann mir vorstellen, dass in diesem Fall das Gesendete enorm viel mehr für

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den Empfänger als für den Sender bedeutet, dass Ihre Freude größer gewesen sein muss als meine. Dennoch ist es auch für mich eine große Genugtuung, dass ich ein bisschen etwas tun konnte. Gerne bin ich – wenn erforderlich und erdenklich – zu einer Wiederholung bereit. Merken Sie sich das also. Was Sie ansonsten schreiben, berührte mich zutiefst. In der Tat ist das Leben, und sicherlich im Augenblick, oft rätselhaft. Aber wirklich nur aus unserer menschlichen Sicht betrachtet. Uns ist das Bild einer stickenden Mutter mit einem Kind geläufig, das zu ihren Füßen sitzt und von der Stickerei nichts begreift, weil es die Unterseite anschaut, wo die Fäden schein­ bar ungeordnet durcheinandergestickt sind. Aber die Mutter kann über diese Kindlichkeit nur lächeln, weil sie den Sinn und den Zusammenhang ihrer Arbeit versteht. So ist das auch mit uns kleinen Menschenkindern, die derzeit von der Betrachtung von Gottes Werk in der Welt überwältigt sind. (Denn obwohl Gott nicht der Urheber des Bösen ist, ist dennoch das Böse in seinem Arbeitsplan ebenso enthalten wie das Gute.) Wir sehen häufig das Bild nicht, das entworfen wird, und das Leben vieler von uns wird zu kurz sein, um es später zu sehen. Nur im Glauben kann man darauf vertrauen, dass Gott sich nicht irrt. Siehe 1. Ko­ rinther 13,9–12. Wir sehen jetzt die Dinge wie ein Rebus in einem Spiegel, aber die Kinder Gottes sehen sie später «von Angesicht zu Angesicht». Dennoch können wir auch hier auf der Erde manchmal bereits Dinge im Nachhinein verstehen, obschon sie den Menschen entsetzlich erscheinen mögen. Beispielsweise die Verfolgung der ersten Christengemeinde in Jerusalem. Wie schrecklich war es dort für die Menschen, die etwas gänzlich anderes von der Erlösung in Jesus Christus erwarteten. Aber Gottes Geißel hat sie aus Jerusalem vertrieben und das Ergebnis war, dass Sein Werk in der Welt einen Anfang nahm. (Siehe das Buch der Apostelgeschichte.) Ich bin froh, dass Sie die Bibel mitgenommen haben. Ich möchte nicht pedantisch sein, wenn ich Sie frage: Verstehen Sie auch, was Sie da lesen? (Apg. 8,30) Denn die Bibel ist mehr als ein Buch voller erhabener Gedanken, die jemanden im Leid stärken können. Sie ist die Offenbarung Gottes, des Schöpfers und Vollenders aller Dinge, der auch heute alle Fäden in der Hand hält und alle Macht in die Hände des Gekreuzigten gelegt hat. Ich hoffe insbeson­ dere, dass Ihnen die Einheit des Alten und Neuen Testaments deutlich wird (der große Streitpunkt zwischen Juden und Christen), diese Einheit, die zum Beispiel im Matthäus­ evangelium so nachdrücklich durch die andauernd wiederkehrenden Hinweise auf die Pro­ phezeiungen und die anderen Bücher des A. T. gelehrt wird. Aber ich höre jetzt auf damit. Erforschen Sie nur die Schriften, weil ihr meint, in ihnen [Anmerkung der Übersetzerin: Es handelt sich hier um eine Anspielung auf das Johannes­ evangelium 5,39: «Gij onderzoekt de Schriften, omdat gij meent door dezelve het eeuwige leven te hebben …» = «Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben …»] [Schluss fehlt] Oswald Chambers (Aberdeen 1874–Zeitoun, Ägypten 1917), Leiter des Bible Training Col­ lege in London und Feldprediger für die britischen Truppen in Ägypten während des Ersten Weltkriegs. Nach seinem frühzeitigen Tod veröffentlichte seine Frau aufgrund ihrer steno­ grafischen Aufzeichnungen der Reden ihres Mannes zahlreiche Bücher unter seinem Namen. My Utmost For His Highest aus dem Jahr 1935 ist sein bekanntestes Werk. Zitat aus Oswald Chambers, Geheel voor Hem. Overdenkingen voor elken dag («Ganz für Ihn. Andachten für jeden Tag»); die niederländische Übersetzung des Buches My Utmost For His Highest; übersetzt von D. Ringnalda jr., Heemstede, Kramer’s Uitgeversonderneming, [1936], S. 167. Dieses Zitat hatte sie bereits früher am selben Tag in einem Brief von Julius Spier an Leonie Snatager abgetippt. Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 280 ff. Seite des Hefts ist beschädigt, was an einigen Stellen zu Textverlust führt. Netty van der Hof (Den Haag 1913–Hilversum 2000), später Pieridis-van der Hof. Netty

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verlor im Alter von neun Jahren ihre Eltern. Sie wuchs in Zetten auf, wo sie auch die Leh­ rerbildungsanstalt besuchte. Dort lernte sie Henny Tideman und Gera Bongers kennen. Netty van der Hof fand bei Familie Bongers in Wageningen ein zweites Zuhause und begeg­ nete dort Julius Spier. Spier fand, dass sie «in der Klemme saß», und er begann behutsam, Netty van der Hofs Vergangenheit zu ergründen. Das brachte sie aus der Fassung, aber dennoch scheinen ihr die Gespräche gutgetan zu haben, denn sie besuchte Spier fortan auch in Amsterdam. Auf diese Weise kam sie mit Etty Hillesum und anderen Mitgliedern des «Spier-Clubs» in Kontakt. Ihrer Meinung nach war die Atmosphäre ein wenig zu exaltiert und die Bindung an Spier zu groß. Sie stand auch einer damaligen Strömung der Psycho­ analyse, die davon ausging, dass eine therapeutische Beziehung über Körperkontakt zu­ stande kommen sollte, sehr kritisch gegenüber. Diese Kritik äußerte sie in ihrem Tagebuch. Das Tagebuch ging verloren, als sie nach dem Krieg nach Ägypten zog. Julius Spier hatte seine Kinder Ruth und Wolfgang zum letzten Mal 1939 gesehen. Im Som­ mer 1939 fuhr Wolfgang mit dem Zug zu seinem Vater nach Amsterdam. Es gelang ihm zwar, den deutschen Zoll zu passieren, aber der niederländische Zoll schickte ihn zurück, obwohl er eine Einladung seiner Tante Alice Krijn-Spier hatte. Wolfgang versuchte es dar­ aufhin mit dem Flugzeug, was ihm gelang. Er wollte bei seinem Vater bleiben, weil er im September 1939 zum Wehrdienst eingezogen werden sollte, was ihm zutiefst widerstrebte. Spier musste seinen Sohn jedoch zurückschicken; andernfalls hätte man ihm die Aufent­ haltserlaubnis entzogen und sie wären beide ausgewiesen worden, was entsprechende Kon­ sequenzen nach sich gezogen hätte. Ruth besuchte ihren Vater 1939 zweimal im Exil in Amsterdam. Zitat aus Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, S. 14 ff. Spier riet Hanneke Starreveld dazu, ein Tagebuch zu führen. Hannekes Heft, das erhalten geblieben ist, hat eher den Charakter eines Notizbuches mit Betrachtungen und Gedanken als den eines Tagebuchs. Keine Informationen verfügbar. Die Textstelle kann nicht genau entziffert werden. Die Jodenbreestraat war die Hauptstraße im alten jüdischen Viertel von Amsterdam. Karl Nötzel, Die russische Leistung (Karlsruhe 1927). Zitat aus Nötzel, ebd., S. 8. «Seine» bezieht sich auf das russische Volk. H. W. J. (Jet) Rümke-Everts (Amsterdam 1893–Zeist 1995), eine Bekannte Spiers. Rümke las 1937 in einer Zeitung einen annonceartigen Artikel über den handlinienkundigen Spier. Sie rief ihn an und vereinbarte einen Termin. Sie freundeten sich an, und wenn Spier aus Deutschland kam, wohnte er regelmäßig bei ihr in Bilthoven, wo er auch Kurse gab und Konsultationen anbot. Jet Rümke gehörte aber nicht zum «Spier-Kreis». Siehe auch Anm. 55 auf S. 893. Ein Russischschüler von Etty Hillesum; keine weiteren Informationen verfügbar. Johan Hendrik Spiegelenberg (geboren 1916 in Zutphen) war ein Freund von Leonie Snata­ ger und ein «Objekt» von Spier. Möglicherweise «Objekte» von Spier; keine weiteren Informationen verfügbar. Anspielung auf Hohelied 7,8. Netty van der Hof schrieb Etty Hillesum einen Brief aus Vlaardingen, wo sie damals lebte, und fragte Etty Hillesum nach ihrer Meinung über sich selbst, Spier und die anderen Mit­ glieder des Kreises (siehe den Brief auf S. 843–845). Ein Teil von Etty Hillesums Antwort auf d ­ iesen Brief ist erhalten geblieben. (Siehe den Brief vom 25. Juni 1942 auf S. 713–717.) Anmerkung der Übersetzerin: siehe dazu Anm. 22 auf S. 914. Die Verordnung vom 22. Juni 1942 bezüglich der Abgabe von Fahrrädern von Juden galt nicht für die Juden in Amsterdam. Für sie trat diese Maßnahme erst am 20. Juli 1942 in Kraft.

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Anmerkungen 57 Zu dem Zeitpunkt, als Etty Hillesum dies schrieb, wurde die Willy-Rosen-Revue «Vuur­ werk» (Feuerwerk) unter der Regie von Max Ehrlich mit Henriëtte Davids und Sylvain Poons in den Hauptrollen gespielt. Rudolf und Herbert Nelson waren einen Monat zuvor untergetaucht. 58 Das Foyer der Hollandsche Schouwburg war einer der wenigen öffentlichen Orte, die Juden erlaubt waren. 59 Zitat aus Lou Andreas-Salomé, Rainer Maria Rilke, Leipzig, Insel Verlag, 1928, S. 8. 60 Paul Cézanne (1839–1906), französischer Maler. Rilke schrieb Ende 1907 ungefähr zwanzig Briefe an Clara Rilke, in denen er seine Sicht auf Cézanne und seine Bilder beschreibt. Cézannes Sichtweise inspirierte Rilke. 61 Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 374 ff. Zwischen «Arbeitsart» und «Hier» hat Etty Hille­ sum «die man an einem unvollendeten Bilde absieht» weggelassen. 62 Russisch: Sprechen Sie Russisch? 63 Klaas Kort. 64 Russisch: ein bisschen. 65 Nämlich Trude Cohen, Mien Kuyper und Han Wegerif. 66 Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 375 ff. 67 Die Rationierung von Zwieback, Keksen, Gebäck und dergleichen wurde bereits am 2. No­ vember 1940 eingeführt. 68 Dr. Selmar Witkowski (Witkowo 1881–?) hatte eine homöopathische Praxis in der Beetho­ venstraat 160 in Amsterdam-Süd. Zwei Monate später behandelte Witkowski Spier während seiner tödlichen Krankheit. 1951 zog er nach Aken. Keine weiteren Informationen verfügbar. 69 Zitat aus Genesis 1,2. 70 Anspielung auf Genesis 1,21. Anmerkung der Übersetzerin: In der Übersetzung von Luther heißt es – analog zur «Statenvertaling» – «die großen Wale», in der Übersetzung der Zürcher Bibel «die grossen Seetiere». 71 Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 379. 72 Keine Informationen verfügbar. 73 A. C. Wolterbeek. 74 Dieser Ausspruch stammt von Christoph Wieland und lautet im Original: «Und minder ist oft mehr, wie Lessings Prinzip uns lehrt.» 75 Zwei Ausschnitte aus dem Kophtischen Lied II von Johann Wolfgang von Goethe (Goethes Werke, Weimar, Böhlau, 1887, I, S. 131). Das Zitat lautet vollständig: «Geh! gehorche meinen Winken, / Nutze deine jungen Tage, / Lerne zeitig klüger sein; / Auf des Glückes großer Waage / Steht die Zunge selten ein; / Du mußt steigen oder sinken, / Du mußt herrschen und gewinnen, / Oder dienen und verlieren, / Leiden oder triumphieren, / Amboß oder Hammer sein.» Dieses Gedicht wurde im Dezember 1888 von Hugo Wolf vertont. Die letzte Zeile dieses Liedes sollte in der Tat viel lauter als der Mittelteil gesungen werden. 76 Unter der Wohnung und dem Büro von Wegerif befand sich eine Garage eines Transport­ unternehmens, der Amsterdamsche Rijtuig Maatschappij. 77 Im Jahr 1942 machten immer mehr Gerüchte über eine bevorstehende Deportation aller niederländischen Juden die Runde. Am Wochenende vom 27. und 28. Juni 1942 verdichte­ ten sich diese Gerüchte, da Mitarbeiter des Büros des Judenrats über ein Gespräch über die Deportation zwischen Prof. Dr. D. Cohen und SS-Hauptsturmführer Ferdinand Hugo aus der Fünten Bescheid wussten. Der Judenrat wurde «gebeten», bei der Deportation mitzu­ wirken. Viele waren davon überzeugt, dass nicht Deutschland, sondern Polen das Ziel sein würde. Die Nervosität wuchs weiter, als man am Montag, dem 29. Juni 1942, in der Zeitung las, dass der «Generalkommissar zur besonderen Verwendung» Schmidt in einer öffent­ lichen Rede gesagt hatte: «Sie (= die Juden) werden genauso arm dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind.»

zu Seite 565–604 78 Ende Juni 1942 hatte die polnische Exilregierung im englischen Radio bekannt gegeben, dass bereits 700 000 Juden in Polen ums Leben gebracht worden waren. Etty Hillesum be­ zieht sich offenbar auf diese Meldung, obwohl sie von «Deutschland und den besetzten Gebieten» spricht. In einem Artikel im London Daily Telegraph wurde im selben Zeitraum über den Einsatz von Giftgasen zur Tötung von Menschen berichtet. 79 Diese Äußerung wird Admiral Maarten Harpertszoon Tromp (1598–1653) zugeschrieben. 80 C. G. Jung, Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben … Ein Überblick über die moderne Theorie und Methode der analytischen Psychologie, Zürich, Rascher, 19263. Unter dem Titel Über die Psychologie des Unbewußten wurde dieses Werk in einer überarbeiteten Version (1943) in die Gesammelten Werke VII aufgenommen, S. 1–[130]. 81 Zitat aus Rilke, Briefe 1906–1907, S. 395. 82 Es ging hier um die Verordnung vom 30. Juni 1942, die viele drastische Verbote für Juden enthielt: 1) Ausgangssperre für Juden zwischen 20 Uhr und 6 Uhr; 2) Verbot für Juden, sich in Wohnungen u. Ä. von Nichtjuden aufzuhalten; 3) Juden durften nur zwischen 15 und 17 Uhr nachmittags in nichtjüdischen Geschäften einkaufen; Waren durften nicht nach Hause geliefert werden; 4) Verbot für Juden, nichtjüdische Friseursalons und paramedizinische Einrichtungen zu betreten; 5) das Betreten von Eisenbahngeländen und die Nutzung aller öffentlichen und privaten Verkehrsmittel wurden für Juden verboten; 6) Verbot für Juden, öffentliche Telefonanlagen zu benutzen; infolgedessen wurden die ­Telefonanschlüsse von Juden, sogar von Ärzten, gekappt; in besonderen Fällen wurde eine Ausnahme gewährt (z. B. für hohe Beamte des Judenrats). 83 Die deutschen Behörden hatten den Judenrat befugt, bekannt zu geben, dass alle Juden ­registriert werden sollten. Täglich musste der Judenrat die entsprechenden Formulare für 600 Personen ausfüllen. 84 Samuel Parijs (Amsterdam 1913–Sobibor 1943), ein guter Freund von Bernard Meylink. Heft 10 1 Liesl Levie. 2 Am 4. Juli 1939 feierte Etty Hillesum ihren Hochschulabschluss in Rechtswissenschaften in einem Straßencafé auf dem Roelof Hartplein. 3 Landstrich der Provinz Gelderland. 4 Seit dem 30. Juni 1942 durften Juden tatsächlich Läden, die nicht als jüdische Geschäfte ge­ kennzeichnet waren, nur zwischen 15 und 17 Uhr betreten, Apotheken waren von dieser Regelung aber ausgenommen. 5 Zwischen der Watteaustraat, wo Werner Levie wohnte, und seinem Theater, der Holland­ sche Schouwburg an der Plantage Middenlaan, liegt eine Entfernung von ungefähr fünf Kilometern. 6 Zitat aus der Geschichte «Wie der Verrat nach Rußland kam» von R. M. Rilke, einem Teil der Geschichten vom lieben Gott (Sämtliche Werke IV, S. 309). 7 Bei den Aufrufen für die ersten Transporte, die hauptsächlich an deutsche Juden gerichtet waren, hatte die «Zentralstelle» eine Altersgrenze von 40 Jahren festgelegt. An das dem Ju­ denrat gegebene Versprechen, die familiären Bindungen aufrechtzuerhalten, hielt man sich nicht: Das zuvor erstellte Registrierungssystem offenbarte Akten einer Anzahl Jugendlicher zwischen 15 und 18 Jahren, die ohne ihre Eltern deportiert wurden. 8 Obwohl es Juden im Allgemeinen verboten war, sich bei Nichtjuden aufzuhalten, wurde

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eine Ausnahme gemacht, wenn der Aufenthalt aufgrund eines bestehenden Miet- oder Ar­ beitsverhältnisses unverzichtbar war, in Etty Hillesums Fall also, weil sie den Haushalt für Han Wegerif führte. Die Ehefrau von Spiers Hausarzt. Um in den deutschen Lagern arbeiten zu können, musste man sich einer medizinischen Untersuchung unterziehen. Die Untersuchungen wurden von jüdischen Ärzten durchge­ führt. Über den Arzt versuchten viele, eine Freistellung zu erlangen, indem sie zum Beispiel Krankheiten vortäuschten oder übertrieben darstellten, wodurch man sie für untauglich für ein Arbeitslager erklärte. Dem Aufruf der «Zentralstelle», sich für die Zwangsarbeit ins Durchgangslager Westerbork zu begeben, waren eine Reisegenehmigung und ein kostenloses Ticket für den Transport per Bahn zum Durchgangslager Westerbork / Bahnhof Hooghalen beigefügt. Die Deporta­ tionszüge fuhren nachts ab, um den übrigen Zugverkehr so wenig wie möglich zu stören. Die nächtliche Abfahrt der Züge sorgte auch dafür, dass die Deportationen von nichtjüdi­ schen Niederländern kaum bemerkt wurden, wodurch das Risiko von Protesten verringert wurde. Aufruf der «Zentralstelle für jüdische Auswanderung» in Amsterdam, sich zur Abreise nach Westerbork zu melden. Siehe Abbildungen. Samuel Parijs. Leo Krijn, Spiers Schwager, war Wertpapierhändler; der Börsenmakler könnte ein Kollege gewesen sein, der ihn besucht hat. Liesl Levie. Zitat aus Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Sämtliche Werke VI, S. 775 ff.). Etty Hillesum bezieht sich auf die medizinische Untersuchung und den Aufruf der nieder­ ländischen Juden für Westerbork. Für die ersten Transporte nach Westerbork wurden haupt­ sächlich deutsche Juden aufgerufen, aber aufgrund der hohen Zahl von 4000 Registrierun­ gen pro Woche kamen die niederländischen Juden sehr schnell an die Reihe. Keine Informationen verfügbar. Möglicherweise der auch auf S. 565 erwähnte Brief. Er ist nicht erhalten geblieben. Diese Information entnahm Etty Hillesum einem Brief ihres Vaters vom 7. Juli 1942, der auf S. 845 abgedruckt ist. Als bekannt geworden war, dass eine Anstellung beim Judenrat Schutz vor Deportation bieten konnte, boten viele Menschen ihre Arbeitskraft an. Da der Judenrat gezwungen war, die Deportationen zu beaufsichtigen, konnte dem Besatzer die Notwendigkeit der Schaf­ fung vieler neuer Stellen plausibel gemacht werden. In einem Kommuniqué des Londoner Radiosenders wurde Mitte Juni bekannt gegeben, dass zwischen den Regierungen Englands, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion eine Einigung über die Schaffung einer zweiten Front in Europa erzielt worden sei. Auf­ grund dieses Berichts erwartete man, dass die Engländer und Amerikaner noch 1942 – vor der Zeit der Herbststürme – eine Landung in Westeuropa wagen würden. Walter Schubart, Europa und die Seele des Ostens, Luzern, Vita Nova Verlag, 1938. Walter Schubart (1897–1942) arbeitete bis 1933 als Jurist in Deutschland. Er emigrierte aus poli­ tischen Gründen und wurde Philosophiedozent an der Universität Riga. Nach der russi­ schen Invasion in Lettland wurde er 1941 in ein Gefangenenlager deportiert, wo er im Sep­ tember 1942 verstarb. Anspielung auf Matthäus 6,34. Spiers Telefon wurde aufgrund der Verordnung vom 30. Juni 1942 abgeschaltet. Ironische Anspielung auf eine Gruppe von Freundinnen Spiers, die ihm der Reihe nach Essen brachten, da er sie und auch Restaurants nicht mehr besuchen durfte.

zu Seite 604–631 27 Walther Rathenau: Briefe an eine Liebende. Bereits zuvor zweimal zitiert (siehe S. 181 f. und 244). Dort sind die Zitate umfangreicher als hier. 28 In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, vom 14. auf den 15. Juli 1942, begannen die ersten Deportationen von Juden ins Durchgangslager Westerbork. Da sehr viele Juden der Auffor­ derung, sich für Westerbork zu melden, nicht Folge geleistet hatten, führte die «Ordnungs­ polizei» am 14. Juli in Amsterdam eine Razzia durch, um die gewünschte Anzahl von Juden zusammenzubekommen. 29 Zitat aus Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Sämtliche Werke VI, S. 756 ff.). Etty Hillesum hat zwischen «schreiben» und «denn» den folgenden Zwischensatz weggelas­ sen: «hier vor meinem Tisch kniend will ich es schreiben». 30 Die beiden Bände von Rilkes Briefen wurden 1933 bzw. 1937 veröffentlicht. Die Anmerkun­ gen in der vorliegenden Ausgabe des Gesamtwerks beziehen sich ebenfalls auf diese Aus­ gaben. 31 Johanna Smelik. Der Schafwollpullover wurde von ihr aus selbstgesponnener Wolle ge­ strickt. Der Pullover war für die Reise nach und für den Aufenthalt in Westerbork gedacht. Aus dem Text geht hervor, dass Etty Hillesum einen Aufruf für Westerbork erhalten hatte. Zugleich ist die Rede von einer Bewerbung, die Etty Hillesum – auf den dringenden Rat­ schlag ihres Bruders Jaap hin  – am Dienstag, dem 14. Juli, an den Judenrat schrieb. Am Donnerstag, dem 16. Juli, wurde sie dank der Vermittlung durch Leo de Wolff, einem be­ deutenden Mitglied des Judenrates, eingestellt. Es ist davon auszugehen, dass Etty Hillesum sich, nachdem sie den «normalen» Aufruf nach Westerbork erhalten hatte, auf Drängen von Jaap und einem gewissen Loopuit beim Judenrat bewarb. Vermutlich fühlte sie sich des­ wegen schuldig und meldete sich bei der soeben gegründeten «Abteilung Westerbork», einer Unterabteilung des Amsterdamer Judenrates. Am 30. Juli 1942 wurde ihr offiziell eine Stelle als Stenotypistin zugewiesen; ihr Tätigkeitsbereich war die «Soziale Versorgung der Durch­ reisenden» in Westerbork. An diesem Tag trafen die ersten Mitarbeiter des Amsterdamer Judenrates – darunter Etty Hillesum – in Westerbork ein. Als Etty Hillesum nach Wester­ bork abreiste, schrieb Han Wegerif an Leonie Snatager: «Ich kommentiere es nicht, nur dies: Ihre Haltung war bewundernswert! Sie hatte sich schon Wochen zuvor damit ‹abgefunden›. Innerlich stark, ja sogar heiter, hat sie sich dem Schicksal ergeben in der festen Überzeu­ gung, dass sie, wohin auch immer es sie verschlägt, durch ihre innere Stärke ihre Schicksals­ gefährten unterstützen kann. Verstand und Gemüt haben sich in ihr in außergewöhnlicher Harmonie entwickelt. Wirklich ein fabelhaftes Mädchen.» 32 Langenscheidt Taschenwörter-Buch der russischen und deutschen Sprache, Teil I Deutsch–Rus­ sisch, Teil II Russisch–Deutsch, überarbeitet von Karl Blattner, Berlin-Schöneberg, Langen­ scheidt, 1929. 33 Zitat aus Rilke, Briefe 1907–1914, S. 11. 34 Siehe Anm. 100 auf S. 901. 35 Keine Informationen verfügbar. 36 Leo de Wolff (Amsterdam 1912–Tröbitz 1945), Rechtsanwalt, Sohn des Politikers Sam de Wolff. Leo de Wolff leitete zusammen mit Dr. Sluzker die «Expositur», besser bekannt als die «Jan van Eyckstraat», benannt nach der Straße, in der sich diese Abteilung befand. Die «Ex­ positur» diente als Vermittlerin zwischen dem Judenrat und der «Zentralstelle». Die Leitung des Judenrates wollte einen Niederländer als Leiter der «Expositur» und stellte den jungen Rechtsanwalt Leo de Wolff ein. Er erwies sich jedoch als ungeeignet für diesen Posten. Infolge­dessen wurde Dr. Sluzker, ein Österreicher, zum Leiter ernannt. Über Westerbork gelangte Leo de Wolff nach Bergen-Belsen. Er starb kurz nach der Befreiung durch die Rus­ sen in Tröbitz. 37 Etty Hillesum arbeitete als Schreibkraft in der Abteilung «Hilfe für Abreisende» an der Lijn­ baansgracht 366 in Amsterdam. Diese Abteilung des Judenrates führte verschiedene Arbei­

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ten durch, die von der Beratung und materiellen Unterstützung derjenigen, die nach Wes­ terbork abtransportiert wurden, bis hin zur Bereitstellung von Mahlzeiten für Abreisende in der Joodsche Schouwburg in Amsterdam reichten. Anspielung auf Matthäus 6,34. Zitat aus Rilke, Briefe 1907–1914, S. 33. Anmerkung der Übersetzerin: Straße im Amsterdamer Stadtzentrum, wörtlich: Ehemaliger Stadtschreinereigarten, in der Schreinerarbeiten ausgeführt wurden. Anmerkung der Übersetzerin: In Anlehnung an Lukas 21,19: «Bezit uw zielen in uw lijd­ zaamheid» («Statenvertaling»). Der hier eingefügte Text ist eine undatierte Notiz von Etty Hillesum, die mit Bleistift auf ein loses Notizblockblatt geschrieben wurde. Als das jüdische Kleinkunst-Ensemble von Werner Levie verboten und die Joodsche Schouw­ burg geschlossen wurde, verdienten sich die Levies ihren Lebensunterhalt durch den ­Verkauf ihrer Kleidung und durch Heimarbeit. In der Zeitung lasen sie eine Anzeige einer Taschen­ fabrik. Liesl, Werner und Liesls Schwiegermutter, die bei ihnen eingezogen war, bekamen 35 Cent pro Tasche und mussten Tag und Nacht arbeiten, um über die Runden zu kommen. Zitat aus Schubart, Europa und die Seele des Ostens, S. 71 ff. Aufgrund der Kriegsereignisse stiegen die Preise für Fischereiprodukte in eine noch nie da­ gewesene Höhe. Im August 1942 wurden daher für eine große Anzahl dieser Produkte Höchstpreise festgelegt. Zitat aus Matthäus 5,44. Zitat aus Rilke, Briefe 1907–1914, S. 59. Zitat aus Rilke, ebd., S. 49 ff. Zitat aus Rilke, ebd., S. 52. Zitat aus Jung, Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben (Gesammelte Werke VII, S. 60). Das Zitat weicht vom Original in drei Punkten ab: Das Wort «Normal» ist kursiv gesetzt, Jung schreibt «Lebensmöglichlichkeiten» und das Wort «überhaupt» steht vor dem Wort «gewähren». Wahrscheinlich wurde Etty Hillesum vom Gebäude in der Lijnbaansgracht in die Oude Schans 74 versetzt, wo der Judenrat die Abteilung «Lagerversorgung» eingerichtet hatte. Zitat aus Rilke, Briefe 1907–1914, S. 98 ff. Spiers Exfrau war keine Jüdin. Ihre Kinder waren also in der Naziterminologie «halbarisch», was Spier zumindest auf einen Aufschub seiner Deportation hoffen ließ. Die Mitarbeiter des Judenrates mussten bei Dienstantritt ein Formular mit persönlichen Angaben ausfüllen. Auf dieser Grundlage erhielten die Mitarbeiter eine Arbeitsbescheini­ gung mit Foto, Personalien, Identifikationsnummer und Beschreibung der Tätigkeit beim Judenrat. In wenigen Fällen erhielten die Angestellten einen Fahrradstempel auf der Rück­ seite. Das Fahrradverbot galt für sie dann nicht. Zitat aus Rilke, Briefe 1907–1914, S. 59 ff. Eine Woche später (am 6. und 9. August 1942) fanden tatsächlich groß angelegte Razzien in Amsterdam-Süd statt. Der Amsterdamer Rechtsanwalt Benno Stokvis versuchte, die Familie Hillesum zu «arisie­ ren». Etty Hillesums Mutter sah nicht jüdisch aus und stammte aus Russland, sodass eine «Arisierung» gut durchführbar war. Rebecca Hillesum hatte Stokvis selbst mit der Bitte auf­ gesucht, dies zu versuchen. Stokvis war in seinen Bemühungen bereits weit fortgeschritten, als Louis Hillesum die Angelegenheit stoppte (siehe B. J. Stokvis, Advocaat in Bezettingstijd («Rechtsanwalt während der Besatzungszeit»), Amsterdam, Polak  & Van Gennep, 1968, S. 11). Wäre Rebecca «arisiert» worden, hätte Etty Hillesum als «halbarisch» gegolten. Die Besatzungsmacht hatte ein besonderes Interesse an verschiedenen Metallsorten, die durch Einschmelzen für die Waffenproduktion verwendet werden konnten. Im Sommer

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1941 wurde bei Unternehmen und in der Bevölkerung eine Metallsammlung durchgeführt. Die Bürger gaben bei dieser Sammlung höchstens ein Viertel der Menge ab, die sich die deutschen Behörden erhofft hatten. Auch die Zwangsabgabe von Bronze-, Silber- und Nickel­ münzen im Jahr 1942 blieb erfolglos. Das Nichtabgeben oder Verstecken der angeforderten Güter war strafbar. Han Wegerif. In der Hoffnung, befreit zu werden, fanden im Durchgangslager Westerbork so manche Hochzeiten von «gestempelten» (befreiten) und «ungestempelten» Lagerinsassen statt. Sehr bald erkannte die deutsche Besatzungsmacht diese «Scheinehen» nicht mehr an und zur Strafe konnte der «Gestempelte» dadurch seine «Sperre» verlieren. In anderen Fällen ist es wahrscheinlich, dass Menschen in der Hoffnung heirateten, zusammenbleiben zu können. Nach dem Krieg, im November 1947, wurden die Vorsitzenden des Judenrates, A. Asscher und Prof. Dr. D. Cohen, wegen ihrer Tätigkeiten im Judenrat verhaftet. Der Amsterdamer Sondergerichtshof veranlasste eine Untersuchung, um festzustellen, ob die Aktivitäten des Judenrates die Deportation der Juden unterstützt oder behindert hatten. Das Strafverfahren wurde später «aus Gründen des öffentlichen Interesses» eingestellt. Der Verbindungsaus­ schuss des Jüdischen Koordinationskomitees in den Niederlanden richtete jedoch einen Jü­ dischen Ehrenrat unter dem Vorsitz von M. Bosboom ein. Asscher und Cohen mussten vor diesem Rat Rechenschaft über ihre Haltung, ihr Verhalten und ihre Aktivitäten während der Zeit der deutschen Besatzung ablegen. Das Urteil des Ehrenrats vom 17. Dezember 1947 lautete, es sei höchst verwerflich gewesen, «den Auftrag zur Gründung des Amsterdamer Judenrates und den Vorsitz des Rates anzunehmen; die Jüdische Wochenzeitung weiterhin herauszugeben, als sich zeigte, dass sie den Deutschen mehr nützte als den Juden; bei anti­ jüdischen Verordnungen mitzuwirken; diejenigen zu zwingen, die sich weigerten, einen Beitrag zur ersten Abgabe zu zahlen; bei der Selektion für die Deportation, insbesondere im Mai 1943, mitzuwirken.» Der Ehrenrat empfahl, Asscher und Cohen lebenslang von der Ausübung von Ehrenämtern und bezahlten Ämtern jeglicher Art in jüdischen Institutionen, Organisationen oder Einrichtungen auszuschließen. Dieser «lebenslange» Ausschluss wurde allerdings nach einigen Jahren aufgehoben. Asscher und Cohen wurden wegen ihrer Aktivi­ täten während des Krieges nicht auf einem jüdischen Friedhof beerdigt. Zitat aus Rilke, Briefe 1907–1914, S. 81 ff. Die erste Deportation aus Rotterdam fand am 30. Juli 1942 statt, die zweite im August. Bei der ersten Deportation erschienen 500 der 1500 Aufgerufenen nicht, bei der zweiten erschie­ nen 300 Menschen, während 600 dem Aufruf nicht folgten. Heft 11

1 Etty Hillesum nahm am 15. September 1942 das Tagebuchschreiben wieder auf. Ihr letzter Eintrag datierte vom 29. Juli. 2 Siehe S. 352 und 358. 3 Um Hertha Levi später über Spiers tödliche Krankheit und seine letzten Tage informieren zu können, führte Tideman in ihrem Tagebuch ein sehr detailliertes Protokoll über den Verlauf seiner Krankheit. Etty Hillesum hat sein Leben also im wörtlichen Sinne «zu Ende gelesen» in diesem Tagebuch. 4 Am Freitag, dem 11. September 1942, an Henny Tideman (siehe S. 724 f.). 5 Ab dem 30. Juli 1942 arbeitete Etty Hillesum auf eigenen Wunsch in der gerade neu ge­ schaffenen Abteilung «Westerbork» des Judenrats im Durchgangslager Westerbork. Bis sie im Sommer 1943 interniert wurde, reiste sie regelmäßig nach Amsterdam zurück. Während Spiers letzten Tagen war sie beurlaubt und deshalb in Amsterdam. An Spiers Todestag

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(15. September 1942) ging ihr Urlaub zu Ende. Wegen der Beerdigung wurde ihr Urlaub jedoch verlängert. Henny Tideman organisierte Spiers Begräbnis. Er liegt auf dem Amster­ damer Friedhof Zorgvlied begraben (Abschnitt 13, Nr. 52, Klasse 3). Der Text auf seinem Grabstein lautet: «Julius Philipp Spier / Frankfurt 25. April 1887 / Amsterdam 15. September 1942 / Er lehrte und lebte: / ‹Werde der du bist›. / Nun bleibet Glaube / Hoffnung Liebe / diese drei aber / die grösseste unter / ihnen ist die Liebe.» (Zitat aus 1. Korinther 13,13) Tideman schrieb in ihr Tagebuch über Spiers letzte Worte: «Lob und Dank, Lobpreis, Hal­ leluja, dreimal heilig, Ehre sei Gott. Mein Gott, wie gut du bist, du rufst ihn schon all die Tage immer wieder und endlich konnte er seinen Körper loslassen. Er erwartete ein Tele­ gramm. Dieses Telegramm kam heute um Viertel vor sieben. Dick [Dicky de Jonge] und Frau Nethe waren dabei, er hatte mit Mühe noch eine Tasse Milch getrunken. Da sagte er: ‹Jetzt kommt es Hertha›, mit einem süßen Lächeln, das ich von ihm kenne, ‹hoffentlich›. Vater, könnte es schöner sein? Vollkommen bereit in der vollen Hoffnung auf ein Wieder­ sehen. Herthas Name, den er so wenig genannt hat in all diesen Tagen, aber mit ihrem ­Namen auf den Lippen ist er gestorben. O Vater, hilf ihr, dies zu tragen, es ist für sie so viel schlimmer als für mich, als für uns alle, die ihn in den letzten Jahren gekannt haben. Sie hofft auf ein Wiedersehen. Und für alle, für die er vielleicht die große Liebe ihres Lebens war, bleibt die Hoffnung, ihn wiederzusehen.» Joseph Isidoor Vleeschhouwer (Breda 1905–Umgebung von Tröbitz 1945) war in seiner Jugend im «HaMerkaz» («Das Zentrum») aktiv, der Utrechter Abteilung des Jüdischen Jugendverban­ des. Nach seiner Abschlussprüfung an der Hogereburgerschool (Anmerkung der Über­setzerin: wörtlich: «Höhere Bürgerschule», entspricht den früheren «Höheren Schulen» in Deutsch­ land) 1922 arbeitete er bei einer Bank in Utrecht und erwarb die damaligen Buchhaltungs­ diplome. 1929 heiratete er Cato Cahen (’s-Hertogenbosch 1902–Tröbitz 1945). Ungefähr zu dieser Zeit zogen sie nach Amsterdam, wo Vleeschhouwer bei der Bank Albert de Bary arbei­ tete. Vleeschhouwer war auch als freiberuflicher Buchhalter tätig. Die Vleeschhouwers wur­ den 1944 nach Bergen-Belsen deportiert. Als die britischen Truppen sich dem Konzentrati­ onslager Bergen-Belsen näherten, wurden vom 6. bis 11. April 1945 drei Züge, jeder mit etwa 45 Waggons, zusammengestellt, um 6800 Gefangene in das Konzentrationslager Theresien­ stadt zu überführen. Der dritte Zug mit 2400 Häftlingen, davon ein Drittel Niederländer, verließ in der Nacht zum 11. April 1945 als Letzter Bergen-Belsen. Aufgrund des Vorrückens der alliierten Armeen wurde dieser Zug zu einer Irrfahrt durch das noch nicht von den Alliier­ ten eroberte Gebiet Deutschlands gezwungen, die zwei Wochen dauern sollte. Im Zug brach Flecktyphus aus. Wegen dieser und anderer Krankheiten und wegen Mangels an Nahrung und Pflege starben viele der bereits geschwächten Gefangenen während dieser schrecklichen Reise. Unter diesen Opfern war auch Jopie Vleeschhouwer. Im Dorf Tröbitz in Sachsen wur­ den die Häftlinge von russischen Truppen aus dem Zug befreit, aber viele erlagen danach, wie Cato Vleeschhouwer-Cahen, die eine Woche nach ihrer Befreiung in Tröbitz starb. Weil Spier fürchterliche Schmerzen hatte, betrachtete Henny Tideman sein Dahinscheiden als Erlösung und beschloss deshalb noch vor seinem Tod, «Auf, auf, mein Herz mit Freu­ den», ein Kirchenlied von Paul Gerhardt (1607–1676) in der Vertonung von J. S. Bach, auf seiner Beerdigung zu singen. Die Erleichterung über seinen Tod wurde noch verstärkt, als die Gestapo am Tag nach seinem Tod mit der Absicht vorbeikam, ihn abzuführen. J[uden]r[ats]. Auf den Reisegenehmigungen war das Datum der Gültigkeit getippt oder gestempelt. Anmerkung der Übersetzerin: Rilke, Über den jungen Dichter. Viele Baracken in Westerbork hatten kein elektrisches Licht, obwohl die erforderliche Infra­ struktur vorhanden war. In anderen Baracken, in denen der Strom angeschlossen war, durfte wegen der Verdunkelung oft kein Licht brennen. Manchmal wurden Karbidlampen ver­ wendet.

zu Seite 654–663 13 Das Lager Westerbork wurde 1939 an einem der abgelegensten Orte in Drenthe errichtet: auf dem «Zwiggelter Veld», einer ausgedehnten Ebene aus Heideland und Moortümpeln. Nach dem Krieg veränderte sich das Landschaftsbild stark durch das Pflanzen eines Waldes und das Aufstellen von großen Synthese-Radioteleskopen. Der Zweck des zentralen Flücht­ lingslagers Westerbork war, deutsch-jüdischen Flüchtlingen, die vor dem Hitlerregime ge­ flohen waren, ein Obdach zu bieten. Das Gelände war etwa 100 Hektar groß; das eigent­ liche Lager hatte eine Fläche von etwa 25 Hektar (500 × 500 m). Am 16. Juli 1940 wurde das Lager dem Justizministerium unterstellt (anfänglich dem Innenministerium). Am 1. Juli 1942 übernahm die Besatzungsmacht das Lager, wodurch sich sein Status änderte: Das Flüchtlingslager wurde zu einem «Polizeilichen Durchgangslager». Das Lager wurde mit Stacheldraht umzäunt, die Anzahl der Baracken wurde erhöht und das Lager wurde auch in ­anderer Hinsicht darauf vorbereitet, vorübergehend Tausende von Juden aus den ganzen Nieder­landen unterbringen zu können. 14 Die Durchgangsbaracken sind von den Häusern zu unterscheiden, die 1939 im Lager Wes­ terbork gebaut worden waren. Darin wohnte hauptsächlich der deutsche «Adel», darunter eine große Anzahl deutscher Juden, die wichtige Funktionen wie beispielsweise die Verwal­ tung des Lagers innehatten. Im Sommer 1942 wurden 24 hölzerne Wohnbaracken errichtet; sie waren ca. 85 Meter lang, 10 Meter breit und 5 bis 6 Meter hoch. Diese Baracken wur­ den am Nord-, Ost- und Südrand des Lagers aufgebaut. Normalerweise wohnten 250 bis 300 Personen in den Baracken, aber nach der Ankunft eines großen Transports hielten sich manchmal zwei- bis dreimal so viele Menschen in einer Baracke auf. In Notsituatio­ nen fungierten die «Industriebaracken» (die Baracken 55 bis 64, in denen sich unter ande­ rem eine Bekleidungsfabrik und eine Matratzenfabrik befanden) auch als Wohnbaracken. Die Verarbeitung der Baracken ließ zu wünschen übrig, da sie in aller Eile gebaut worden waren. Es zog von allen Seiten, der aufgewirbelte Feinstaub kam durch Ritzen herein und es war sehr hellhörig. Die Bewohner hatten dort keinerlei Privatsphäre. Sowohl die Erweite­ rung als auch den Betrieb des Lagers Westerbork bezahlte die Besatzungsmacht aus kon­ fisziertem jüdischem Vermögen. In den Jahren 1942 und 1943 beliefen sich diese Kosten zu­ sammen auf zehn Millionen Gulden. 15 Dr. Johannes Müller (1864–1949), deutscher Kulturphilosoph, Essayist und Verleger. 1921 schrieb er sein Buch Die Liebe (Elmau, Verlag der Grünen Blätter, 1921; zweite Auflage: München, Beck, 1922). 16 Zitat aus Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Sämtliche Werke VI, S. 724 ff.). 17 Klaas Smelik war einer der ersten Hörspielautoren in den Niederlanden und arbeitete für die VARA (Anmerkung der Übersetzerin: die sozialistisch orientierte Vereeniging van Arbei­ ders Radio Amateurs, «Vereinigung der Arbeiter-Radioamateure») und nach deren Auflö­ sung 1941 für den Nederlandsche Omroep (Anmerkung der Übersetzerin: Niederländischer Rundfunk; der nationale Radiosender während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlan­ den). Um Material für seine Stücke zu sammeln, reiste Smelik mit seinem Auto durch das Land. Auf einer seiner Reisen traf er Etty Hillesum 1936 in Deventer. Ein wichtiger Be­ standteil ihrer Beziehung war für Etty Hillesum Smeliks schriftstellerische Tätigkeit. Sie sprachen viel miteinander über das Schreiben und über Schriftsteller. Smelik gab Etty Hillesum B ­ ücher von Bakunin und Kropotkin mit auf den Weg, und Etty Hillesum kam einmal mit einer Geschichte zu ihm, die sie gelesen hatte und aus der Smelik ein Hörspiel machte. Ende der Fünfzigerjahre schrieb Smelik ein Hörspiel, dessen Titel sich auf Etty Hillesum bezieht (Ester H., Oudenbosch, MESEF, o. J.). 18 Max Osias Kormann (Lipsko 1895–New York 1962) wurde im jüdischen Viertel der russi­ schen (nach 1918 polnischen) Stadt Lipsko geboren. Im Alter von vierzehn Jahren zog er mit den Papieren seines gefallenen Bruders Osias nach Hamburg. Dort konnte er sich in der Schuhbranche hocharbeiten. Er heiratete Rosa Laufer und hatte zwei Kinder. 1938 wurden

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er und seine Familie als staatenlose Juden über die polnische Grenze deportiert. Seine Frau und seine beiden Söhne schafften es gerade noch rechtzeitig, nach New York auszuwandern, doch Kormanns Versuch, mit der «St. Louis» nach Amerika zu gelangen, scheiterte. Nach ­etlichen Irrfahrten landete Kormann 1939 in den Niederlanden, wo er mit anderen Schiffs­ passagieren zusammen im November 1939 von der niederländischen Regierung im gerade errichteten Zentralen Flüchtlingslager Westerbork interniert wurde. Etty Hillesum traf Kor­ mann Anfang August 1942 im Lager Westerbork, wo er stellvertretender Leiter des Dienst­ bereichs 5 war. Leiterin des «Dienstbereichs 5» war F. Stein, die «Diktatorin des Wohnungs­ amts» genannt wurde. Der Dienstbereich 5, der «Innendienst», war hauptsächlich dafür zuständig, die Lagerbewohner in den ihnen zugewiesenen Baracken unterzubringen, die Baracken ordentlich und sauber zu halten, Lebensmittel zu verteilen und Schuhe und Klei­ dungsstücke zum Flicken an die verschiedenen Werkstätten weiterzuleiten. Kormann über­ lebte die Schoah, weil er nicht aus dem Durchgangslager Westerbork deportiert worden war, das am 12. April 1945 von den Kanadiern befreit wurde. Liesl Levie erinnert sich an Folgen­ des: «Als wir nach Westerbork kamen, stellte uns Etty Hillesum ihm am Tag nach unserer Ankunft vor. Er sagte dann, dass wir uns im Falle von Schwierigkeiten immer an ihn wen­ den könnten. Kormann war ein durch und durch integrer Mensch, im Gegensatz zu den meisten St.-Louis-«Fürsten», die (verständlicherweise, aber oft auf Kosten anderer) nur ­daran interessiert waren, nicht auf einen Transport zu kommen. Ich nehme an, dass es ihm nur aufgrund seiner bescheidenen und niemals in den Vordergrund drängelnden Haltung geglückt ist, bis zur Befreiung – also sechs Jahre lang – in Westerbork zu bleiben. Ich werde nie vergessen, wie er uns am 10. Januar 1944 mit Tränen in den Augen und vielen tröstenden guten Worten zu unserem Zug nach Bergen-Belsen gebracht hat. Als ich 1945 nach Amster­ dam zurückkam, liefen wir uns auf der Straße in die Arme, wir glaubten beide, der andere sei nicht mehr am Leben.» Nach dem Krieg arbeitete Kormann für eine Dienststelle, die sich mit dem Auffinden jüdischer untergetauchter Kinder beschäftigte. 1946 kehrte er zu seiner Familie nach New York zurück. Er änderte seinen Namen zu Max Korman (mit ­einem «n»). Siehe auch Anhang auf S. 857–859. Transporte aus den niederländischen Großstädten fanden nachts statt, Transporte aus den Kleinstädten in der Regel tagsüber. Vermutlich Dr. Fraenkel, ein «alter Lagerinsasse» aus Kormanns Bekanntenkreis. Es ist nicht bekannt, aus welcher deutschen Stadt mit dem Anfangsbuchstaben H er stammte. Schwester Mendes da Costa war Dominikanerin und nicht Karmeliterin. Sie gehörte zu den jüdischen Römisch-Katholischen, die am 2. August 1942 im ganzen Land festgenommen wurden, nachdem der Utrechter Erzbischof, Mgr. Dr. Johannes de Jong, öffentlich gegen die Judenverfolgung protestiert hatte. Judith Mendes da Costa (Amsterdam 1895–Auschwitz 1944) wurde in einer gut situierten Familie jüdisch-orthodox erzogen. Sie war jedoch mit der Tradition, in der sie aufgewachsen war, nicht zufrieden. Zuerst fühlte sie sich zum libe­ ralen Protestantismus hingezogen, entschied sich aber letzten Endes für den römischen Ka­ tholizismus. Sie wurde berufen und trat 1928 in den Dominikanerorden ein. Am 2. August 1942 arbeitete sie im Büro des Sanatoriums Berg en Bosch («Berg und Wald») in Bilthoven. Sie wurde nach Westerbork gebracht, wo sie nach einiger Zeit freigelassen wurde. Sie stand wegen ihres Nachnamens auf der sogenannten portugiesischen Liste. Am 2. Februar 1944 wurde sie jedoch erneut verhaftet und in Westerbork interniert. Am 25. Februar wurde sie weiter nach Theresienstadt und von dort am 16. Mai nach Auschwitz geschickt, wo sie am 7. Juli 1944 ums Leben kam. Rob Löb (Hoensbroek 1910–Auschwitz 1942) trat 1928 als Bruder Linus in das Trappisten­ kloster Koningshoeven in Berkel-Enschot ein, obwohl er aus einer jüdischen Familie stammte. Sein ältester Bruder George (Hoensbroek 1909–Auschwitz 1942) war bereits 1926 mit dem Ordensnamen Ignatius ins Kloster eingetreten. 1929 folgte ihrem Beispiel ein drit­

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ter Bruder namens Ernst (Hoensbroek 1913–Auschwitz 1942) unter dem Ordensnamen ­Nivardus. Ihre drei Schwestern teilten das Trappistenideal und traten nach einem Aufent­ halt im wallonischen Kloster von Chimay 1937 in die erste Zisterzienserinnenabtei der Nie­ derlande seit der Reformation ein. Die drei Brüder und zwei ihrer Schwestern sowie 300 katholische Juden wurden am 2. August 1942 über das Lager Amersfoort nach Westerbork gebracht. Nach einem zweitägigen Aufenthalt dort wurden die meisten Geistlichen nach Auschwitz deportiert. Innerhalb weniger Wochen wurden die Geschwister Löb umgebracht. Etty Hillesum meint die Schwestern Stein: Edith T. H. Stein (Breslau 1891–Auschwitz 1942) und Rosa M. A. A. Stein (Lubliritz 1883–Auschwitz 1942). Übrigens war nur Edith Stein eine Nonne. Edith Stein war außerdem eine bedeutende Philosophin. Eine Zeit lang war sie Schülerin und Assistentin des protestantischen Philosophen Edmund Husserl, aber sie konnte sich bei ihm nicht entwickeln. Sie distanzierte sich von ihm, wurde römisch-katho­ lisch und trat in das Karmelitinnenkloster in Echt ein. Ihre Schwester Rosa kam aus Deutschland geflohen. Mittellos wurde sie in das Karmelitinnenkloster aufgenommen. Sie wurde ebenfalls römisch-katholisch, trat dem Orden aber nicht bei. Sie erledigte jedoch alle möglichen Arbeiten für das Kloster. Am 2. August 1942 wurden sie gegen 17.00 Uhr verhaf­ tet und kamen über das Lager Amersfoort am 3. August in Westerbork an. Am 7. August wurden sie deportiert. Zwei Tage später, am 9. August 1942, starben beide Schwestern in den Gaskammern von Auschwitz. Meijer (Max) Witmondt (Amsterdam 1899–Amsterdam 1987), Prokurist bei einem Ver­ sicherungsunternehmen. Er wurde im Frühjahr 1942 verhaftet und im Gefängnis am Amstelveenseweg in Amsterdam eingesperrt, daraufhin wurde er in das Lager Amersfoort überführt und nach einiger Zeit nach Westerbork weitergeschickt. Anfang 1944 wurde er in ein Arbeitslager für Menschen in Mischehen in der Nähe von Alkmaar überstellt. Zitat aus R. M. Rilke, Auguste Rodin. Zweiter Teil (Sämtliche Werke V, S. 211 ff.). Etty Hille­ sum hat den nachfolgenden Satz ausgelassen: «Alles, was je Sehnsucht oder Schmerz oder Seligkeit genannt war oder keinen Namen haben kann in seiner unsagbaren Geistigkeit?» Anspielung auf Matthäus 6,28. Siehe S. 134. Volkserzählungen von Tolstoi (1881–1886). Der Volljurist Isaac S. de Vries (geboren 1906 in Haarlem), 1943 nach Westerbork depor­ tiert. Er beurteilte Neuankömmlinge dahingehend, ob sie berechtigt waren, das PalästinaZertifikat zu beantragen. Dabei legte er jedoch so strenge Maßstäbe an, dass viele ernsthafte Interessenten für das begehrte Palästina-Zertifikat schon von vornherein ausschieden. 1944 wurde er nach Bergen-Belsen deportiert. Nach dem Krieg u. a. Präsident der C. I. A. (Col­ lectieve Israël Actie = kollektiver Israel-Einsatz) und der N. Z.B. (Nederlandse Zionisten­ bond = niederländischer Zionistenbund). Er emigrierte 1965 nach Israel. Hopla ist die Abkürzung für Hotelplan, ein damals bekanntes Reiseunternehmen; zynische Bezeichnung für die Karteikästen mit den Namen der Gefangenen, die auf ihren Transport nach Polen warteten. In der zentralen Kartei hatte nämlich jede Person, die sich im Lager Westerbork aufhielt, eine Karteikarte mit persönlichen Daten. Auf dieser Karte stand u. a., in welcher Baracke man sich befand, ob ein Antrag auf Freistellung gestellt oder ob man ins Lagerkrankenhaus aufgenommen worden war. Mithilfe der zentralen Kartei wurden einein­ halb Tage vor der Abfahrt der Züge die Transportlisten angefertigt. Nachdem der Zug das Lager verlassen hatte, wanderten diese Karteikarten mit einem Stempel des Abfahrtsdatums in die «Abgereisten»-Kartei. Denselben Gedanken äußerte Etty Hillesum auch in einer Notiz, die sie auf ein loses Blatt Papier geschrieben hatte (datiert, wahrscheinlich nicht von Etty Hillesum: 1943): «Es scheint mir, dass der Antisemitismus in den Niederlanden wächst», sagte ich zu Hanneke. «Die Deutschen haben die Judenfrage schon in genialer Weise aufgeworfen, wenn morgen der

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Krieg zu Ende wäre und der letzte Deutsche von diesem Boden verschwunden wäre, dann würden sie hier eine große Judenfrage zurücklassen.» Hanneke wollte immer noch nichts vom Antisemitismus wissen. Aber sie sagte: «Ich befürchte, dass viele Juden sich nach ihrer Rückkehr unsympathisch verhalten werden, dass sie die Tatsache missbrauchen werden, dass sie so viel gelitten haben.» «Ja, das versteht sich von selbst», antwortete ich, «es gibt nun mal sympathische Juden und es gibt unsympathische Juden, das ist bei den anderen Men­ schen auch nicht anders. Und unsympathische Juden werden sich immer unsympathisch verhalten, ob vor oder nach dem Krieg. Aber das Tatsache, dass sich ein richtiger ‹Ariër› jetzt schon Sorgen macht, dass die Juden sich nach dem Krieg ‹unsympathisch› verhalten wer­ den, beweist doch gerade, was es für eine große Judenfrage gibt.» Und Hanneke, die eine intelligente Frau ist, musste dann kurz schmunzeln, weil sie unbewusst mit ihren eigenen Worten so deutlich gezeigt hat, was ich gemeint hatte. Klaas Smelik war Trotzkist. Er hatte u. a. für De Tribune (Anmerkung der Übersetzerin: die Parteizeitung der Nederlandse Revolutionair-Communistische Partij, der Revolutionären Kommunistischen Partei der Niederlande) geschrieben und gehörte zu den Gründern des Arbeiders-Schrijverscollectief Links Richten (Arbeiter-Autorenkollektiv links zielen) (zu­ sammen mit u. a. Jef Last und Freek van Leeuwen). Für dieses Kollektiv schrieb Smelik auch das «antikoloniale Theaterstück» Hollandsch Welvaren («Niederländische Wohlfahrt»). Smelik war zunächst in der Communistische Partij Holland (Kommunistische Partei Holland) und später, bis Ende der Dreißigerjahre, in der trotzkistischen Revolutionär-Sozialistischen ­Arbeiderspartij (Revolutionär-Sozialistische Arbeiterpartei) aktiv. Die Maginot-Linie war die Verteidigungszone entlang der französischen Ostgrenze, mit de­ ren Bau 1930 unter dem französischen Kriegsminister André Maginot begonnen wurde. Anspielung auf Matthäus 6,28. Matthäus 6,33. Ru Cohen und seine Familie wurden im Dezember 1942 gezwungen, von Deventer nach Amsterdam umzuziehen. In Amsterdam beteiligte sich Ru Cohen an der Arbeit des Juden­ rats. Er war Mitglied der Kommission für Jugendentwicklung und verantwortlich für die Organisation von Kursen und dergleichen zur Freizeitgestaltung nicht mehr schulpflichtiger jüdischer Jugendlicher im Alter von 14 bis 20 Jahren. Bis zum 14. Oktober 1942 war der Adama van Scheltemaplein der Sammelplatz für Juden, die nach Westerbork gebracht werden sollten. Danach brachte man die Deportierten in die Hollandsche Schouwburg, ins Holländische Theater. Die Deportation von Kranken rief Erstaunen hervor, weil man den Juden im Aufruf mitge­ teilt hatte, dass sie in Arbeitslager gebracht werden würden. Lagerbewohner mit Läusen wurden gezwungen, einige Tage in den Entlausungsbaracken zu verbringen. Manchmal wurden alle Juden, die in einem Transport nach Westerbork kamen, nach der Ankunft und Registrierung zur Entlausung in die Quarantänebaracken gebracht. Dieser Brief von Jopie Vleeschhouwer ist nicht erhalten geblieben. Tideman schrieb am Freitag, dem 11. September 1942, wenige Tage vor Spiers Tod, in ihr Tagebuch: «Heute Morgen mit Etty gesprochen; Vater, was für ein wunderbares Geschenk in diesen schweren Tagen. Sind sie schwer? Ja, nicht, weil er geht, sondern weil ihm sein Weggehen so schwerfällt. Weil es für seinen Körper so schwer ist, sich von dieser Welt zu lösen. Allmächtiger Vater, sein Geist ist schon bei dir. Hol ihn so schnell wie möglich zu dir. Es ist so wunderbar, dass er von Musik träumt. Heute Morgen kam Etty erschöpft von ihm. Wie könnte es anders sein; er ist nicht mehr er selbst. Er erkannte sie zuerst nicht. Später schon. Sagte noch etwas, dass sie nicht nur eine Frau sei, sondern auch ‹sehr gescheit›.» Wenn Etty Hillesum beurlaubt und in Amsterdam war, besuchte sie die Familienmitglieder von Menschen, die sie in Westerbork kennengelernt hatte, um ihnen Briefe und Nachrich­ ten zu überbringen. Über die Familie Bodenheimer sind keine weiteren Details bekannt.

zu Seite 670–678 43 Gemäß dem erhaltenen Plan des Architekten Hartogh vom Oktober 1942 befanden sich in den Baracken 11, 12, 37, 41, 42, 48–50 Unterkünfte und ein Saal für Mädchen. Etty Hillesum schlief also in einem dieser Schlafsäle. Es gab auch separate Schlafsäle für Männer (15, 18, 43 und 45) und eine Jungenbaracke (21), in der hauptsächlich Jungen schliefen, die im Außendienst tätig waren. Eine große Zahl von Frauen lebte zunächst in einer separaten Frauen­baracke (Nr. 65), die später jedoch in eine Strafbaracke umgewandelt wurde. In den großen Wohnbaracken, von denen die meisten im Sommer 1942 gebaut wurden, lebten sowohl Männer als auch Frauen. Die Räume waren durch hölzerne Trennwände mit Türen voneinander getrennt. 44 Henny Tideman. 45 Zitat aus 1. Korinther 13,3. 46 Lateinisch (alter Rechtsgrundsatz): Man höre auch die andere Seite. 47 Prof. Dr. Ernst Laqueur (Obernigk bei Breslau 1880–Oberwald-Gletsch 1947) war ein ge­ taufter deutscher Jude, der 1932 die niederländische Staatsbürgerschaft erhielt. Er ließ sich 1912 in Groningen nieder, meldete sich aber 1914 als Freiwilliger bei der deutschen Armee. 1916 wurde er von der Armeeführung nach Berlin geschickt als Dozent an der Heeresgas­ schule. An der Kaiser-Wilhelm-Akademie forschte er auch zu Kriegsgasen und zur Behand­ lung von Gasvergiftungen. Daher rührt die abfällige Bezeichnung «Giftgasbandit», die Etty Hillesum hier verwendet. 1917 wurde er zum Professor für Pharmakologie an die flämische Universität Gent berufen. Nach dem Krieg wurde er in Belgien in Abwesenheit wegen Hochverrats zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. 1919 kehrte er in die Niederlande zurück, wo er 1920 als Professor an die Universität von Amsterdam berufen wurde. Ende des Jahres 1940 wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft seines Amtes enthoben. Von verschiedenen Sei­ ten wurde die deutsche Besatzungsmacht jedoch auf Laqueurs Verdienste für Deutschland hingewiesen, und es wurde für eine Sonderbehandlung plädiert. Er wurde deshalb vom Tra­ gen des gelben Sterns befreit. Etty Hillesums Bemerkung zum «geänderten Namen» bezieht sich auf den Namen Hertz, den die Familie Gerüchten zufolge ursprünglich getragen haben soll. Mit der «verführten Krankenschwester» meint Etty Hillesum Maria Tuinzing, die eine Affäre mit Laqueur hatte und Briefe an den Gauleiter Seyß-Inquart schickte, um sich für ihn einzusetzen. Nach dem Krieg nahm Laqueur seine Arbeit an der Universität Amsterdam wieder auf, starb aber bereits 1947 in der Schweiz. 48 Dr. Louis Schaap (Amsterdam 1891–Amsterdam 1962) war als Internist und Chefarzt dem NIZ angegliedert, dem Niederländisch-Israelitischen Krankenhaus. Er war der Leiter der Abteilung für Innere Medizin. Ende 1942 verbrachte Etty Hillesum mit Magenbeschwerden viele Wochen im NIZ. 1943 kam Schaap nach Westerbork; von dort wurde er nach There­ sienstadt deportiert. Auf die Frage, wie sein Aufenthalt dort gewesen sei, antwortete er nach dem Krieg: «Nicht schön, aber billig.» 49 Matthäus 6,34. 50 Cato Vleeschhouwer-Cahen. 51 Die Unruhe im Lager Westerbork hatte im September 1942 spürbar zugenommen, nachdem SS-Obersturmführer J. H. Dischner am 1. September als Nachfolger von E. Deppner zum Lagerkommandanten ernannt worden war. Dischner war Alkoholiker und benahm sich wie ein brutaler Unmensch. Bei jedem Transport war er betrunken und schlug um sich. Dies führte zu großer Angst und Unruhe unter der Lagerbevölkerung. Da die Besatzungsmacht dies gerade vermeiden wollte, wurde Dischner am 9. Oktober 1942 nach Lemberg versetzt, um dort Verwaltungsarbeit zu erledigen. Am 12. Oktober wurde A. K. Gemmeker (1907– 1982) als Nachfolger Dischners eingesetzt, der bis zum Ende der Besatzung Lagerkomman­ dant von Westerbork bleiben sollte. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger wurde Gemmeker von vielen im Lager als «Gentleman» wahrgenommen. Etty Hillesum machte einige kritische Anmerkungen zu dieser Vorstellung, siehe den Brief an Han Wegerif vom 24. August 1943 (siehe S. 822–834).

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Anmerkungen 52 Keine Informationen verfügbar. 53 Das NIZ (Niederländisch-Israelitische Krankenhaus) befand sich an der Nieuwe Keizers­ gracht 110. 54 Bereits zuvor zitiert (siehe S. 359). 55 Dr. Julius Neuberg (Rinteln 1891–Amsterdam 1946) war Spezialist für Blut-, Verdauungsund Stoffwechselkrankheiten und hatte seine Praxis in der Teniersstraat 5 in Amsterdam. Montags und donnerstags hielt er Sprechstunden für finanziell Schlechtergestellte und Kas­ senmitglieder ab. Etty Hillesum beabsichtigte, ihn am Montag, dem 5. Oktober 1942, zu konsultieren. 56 Dr. Georg Fränkel (Greiz 1886–Amsterdam 1978) arbeitete in der Abteilung «Interne Infor­ mation der zentralen Pressestelle» des Judenrats. Die Aufgabe dieser Abteilung bestand da­ rin, die Abteilungsleiter über die Arbeit in den verschiedenen Abteilungen zu informieren. Darüber hinaus war Fränkel stellvertretender Sekretär des «Beirats», eines Gremiums, dem zunächst zehn und später zwanzig nichtniederländische Juden angehörten und dessen Auf­ gabe es war, den Vorsitzenden des Judenrats mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Berichten zufolge widersetzte sich dieses Gremium häufig der Politik des Judenrats. 57 Vom Transport befreit. 58 Volljurist Eduard Spier (Zutphen 1902–Amsterdam 1980), kein Verwandter von Julius Spier; stellvertretender Leiter der «Registrierung», einer Abteilung des Judenrats. Die Auf­ gabe dieser Abteilung war: «Registrierung von Personen und Finanzdaten von Personen, die im Auftrag der zuständigen Behörden zu einem Arbeitseinsatz aufgerufen worden waren, und administrative Verarbeitung dieser Daten.» Die «Zentrale Pressestelle» wurde ebenfalls von Notar Spier geleitet. Darüber hinaus war er eine der führenden Persönlichkeiten der Abteilung «Westerbork» des Judenrats. Er war von Mai 1943 bis September 1943 in Barne­ veld interniert, dann in Westerbork und schließlich bis September 1944 in Theresienstadt. 59 Anspielung auf Matthäus 26,39. 60 Siehe Anm. 10 auf S. 916, Über Gott von Rilke. 61 Zitat aus Rilke, Über Gott, S. 33 ff. 62 Johanna Smelik. 63 Joseph Isidoor Vleeschhouwer. 64 Max Witmondt wurde aufgrund seiner Mischehe verhaftet. Etwa zur Zeit seiner Verhaftung wurde es Juden verboten, Nichtjuden zu heiraten. Kurz vor dieser Verlautbarung wurden etwa dreißig jüdische Brautleute, die «Arier» heiraten wollten, verhaftet. Diese Gruppe kam etwa zur gleichen Zeit wie Max Witmondt im Lager Amersfoort an. Diese Brautleute hatten ein großes R (für «Rassenschänder») auf ihre Kleider genäht bekommen. Im Lager Amers­ foort waren sie besonders grausamen Misshandlungen ausgesetzt. 65 Confessiones («Bekenntnisse»). 66 Zitat aus Rilke, Das Buch der Bilder (Sämtliche Werke 1, S. 459 ff.). 67 Maria Tuinzing (Wageningen 1906–Arnhem 1978), später Anhalt-Tuinzing; arbeitete in Amsterdam als Krankenschwester und wurde 1942 zu einer Hausgenossin von Etty Hille­ sum, als sie bei Han Wegerif ein Zimmer mietete. Maria Tuinzing wurde eine enge Freun­ din von Etty Hillesum und hinterlegte ihre Tagebücher 1944 bei der Familie Sabarte Be­ lacortu in Wageningen mit der Mitteilung, diese Tagebücher seien sehr wichtig. Kurz nach dem Krieg holte Maria Tuinzing die Tagebücher wieder ab und brachte sie später zu Klaas Smelik, wie Etty Hillesum dies gewünscht hatte. 68 Perla Laja Birenhak-Keller (Radomijsl 1913–Amsterdam 1996). Nach der Reichspogrom­ nacht floh sie im Dezember 1938 mit ihrem Ehemann, Mozes (Moshe) Birenhak, in die Niederlande. Am 19. Januar 1939 wurde Mozes Birenhak verhaftet und kam über Helle­ voetsluis ins Lager Westerbork, wo er interniert wurde. Hier landete Perla Birenhak eben­ falls am 6. Mai 1940 (also vier Tage vor dem deutschen Einmarsch in die Niederlande).

zu Seite 678–702 Später arbeitete sie dort in der Abteilung V (Versorgung). Sie freundete sich mit Osias Kor­ mann an. Am 11. Februar 1944 wurde sie nach Bergen-Belsen deportiert. Nach dem Krieg kehrte sie zurück und ließ sich in Amsterdam nieder, wo sie sich wieder verheiratete, und zwar mit George van Rijk. 69 Von Zeit zu Zeit hielt sich Rilke auf den Schlössern seiner Freunde auf, wie auf Schloss Friedelhausen in Hessen, auf dem italienischen Schloss Duino, auf Schloss Lautschin in Böhmen und auf Schloss Muzot im Wallis. 70 Ausspruch von Spier, siehe S. 134 und Anm. 33 auf S. 884. Briefe von Etty Hillesum 1 Hans Lakmaker (Amsterdam 1916–Amsterdam 1991). Er begann sein Medizinstudium be­ reits vor dem Krieg, schloss es jedoch aufgrund der Umstände erst danach ab. Er war mit Kees de Groot befreundet und besuchte auch mit Jaap Hillesum Lehrveranstaltungen. Mög­ licherweise lernte er so Etty Hillesum kennen. Den Krieg überlebte er im Versteck, die letzte Phase in Giethoorn. Später wurde er Hausarzt in Amsterdam. 2 Hugo Sinzheimer (Worms 1875–Bloemendaal 1945), deutsch-jüdischer Jurist und Soziologe, war von 1920 bis 1933 Dozent für Arbeitsrecht in Frankfurt. Nach der Machtübertragung an Hitler flüchtete er in die Niederlande. Ab 1933 war er Außerordentlicher Professor für Rechtssoziologie an der Universiteit van Amsterdam und ab 1935 auch Außerordentlicher Professor für Soziologie des Arbeitsrechts in Leiden. Ende 1940 wurde er entlassen; danach hielt er Vorlesungen zu Hause (Rubensstraat 36, Amsterdam). 3 Titel einer posthum erschienenen Sammlung von Fragmenten aus dem Nachlass Friedrich Nietzsches, herausgegeben von seiner Schwester Elisabeth Förster. 4 Gemeint ist Konrad Heiden (München 1901–New York 1966), antifaschistischer Autor; ver­ fasste u. a. eine Hitler-Biografie (1936). Im Jahr 1933 flüchtete er aus Deutschland ins Saar­ land. Im Jahr 1935 ließ er sich in Paris nieder, publizierte aber im Querido Verlag und be­ suchte Sinzheimer regelmäßig privat. Er emigrierte 1940 in die Vereinigten Staaten. 5 Jan Hein van Wijk (Amsterdam 1907–Haarlem 1981). Er studierte in Amsterdam Jura, war Redaktionsmitglied von «Het kan anders» [«Es geht auch anders»] der pazifistischen «Jon­ geren Vredes Actie» und von der Studentenzeitung Propria Cures. Nach dem Krieg trat er der Pacifistisch-Socialistische Partij (PSP) bei und repräsentierte diese von 1966 bis 1974 in der Ersten Kammer. 6 Henriëtte G. A. Roland Holst-van der Schalk (Noordwijk 1869–Amsterdam 1952), sozialis­ tisch eingestellte Geisteswissenschaftlerin, vor allem für ihre Gedichte bekannt. Sie war mit Jan Hein van Wijk befreundet. 7 Vgl. den Tagebucheintrag vom 13. März 1941 (S. 37). 8 Keine Informationen bekannt. 9 Wahrscheinlich der Neurochirurg Dr. Chr. van Gelderen, ein Angestellter der Valerius­ kliniek, der psychiatrisch-neurologischen Klinik in Amsterdam. Möglicherweise ging es in der Korrespondenz zwischen Spier und Dr. van Gelderen um einen Vortrag über PsychoChirologie, den Spier einige Wochen später in der Valeriuskliniek halten sollte. 10 Die Ausgabe des Ausweises erfolgte in Amsterdam im April 1941, und zwar zuerst für Nicht­ juden. Die Juden erhielten ihren Ausweis in einer eigenen Abteilung. Auf diesem Ausweis für Juden befand sich neben Angaben zur Person, dem Fingerabdruck und einem Foto auch ein großes, schwarzes, gestempeltes J (für «Jood»). Dadurch wurden die Juden als Gruppe deutlich stigmatisiert.

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Anmerkungen 11 Auf dem Laterankonzil von 1215 bestimmten die kirchlichen Autoritäten, Juden hätten zur Kennzeichnung ein Stück Stoff auf der Kleidung zu tragen. Dieser «gelbe Fleck» kam wäh­ rend des gesamten Mittelalters zum Einsatz. Der gelbschwarze «Judenstern», den die Natio­ nalsozialisten am 29. April 1942 verpflichtend in den Niederlanden einführten, grenzte die Juden auf vergleichbare Weise von den Nichtjuden ab. 12 Hanneke Starreveld. 13 Rogier Starreveld, geboren am 3. Mai 1941 in Amsterdam. 14 Wahrscheinlich ein Verweis auf Puschkins Märchen vom Zaren Saltan (1831). 15 Heft 1 der Tagebücher; alle Zitate stammen daraus. Das erste Zitat konnte darin allerdings nicht gefunden werden. Wahrscheinlich stand es auf dem fehlenden Blatt (siehe den Tage­ bucheintrag vom 17. März 1941, S. 53). Die übrigen Zitate finden sich in dieser Reihenfolge auf den Seiten 54, 55, 39, 40, 53. Etty Hillesum hat sie stilistisch überarbeitet. 16 Zitat aus C. G. Jung, «Die Bedeutung der Psychologie für die Gegenwart», Nachdruck in Gesammelte Werke X, S. 179; Vortrag aus dem Jahr 1933, später aufgenommen in «Wirklich­ keit der Seele» (Psychologische Abhandlungen IV, Zürich, 1934). 17 Gemeint ist das medizinische Anwärtersexamen (zweiter Teil), das Lakmaker am 23. Januar 1942 erfolgreich absolvierte. Das stand noch am selben Tag in der Zeitung. 18 Leman Lakmaker (Amsterdam 1885–Auschwitz 1942) war für die Verlage Wereldbibliotheek und De Arbeiderspers tätig. Später verlor er seine Arbeit, geriet in finanzielle Schwierigkeiten und konnte deswegen nicht für das Studium seines Sohnes aufkommen. Er war von äußerst linker Gesinnung und ein erklärter Gegner des Faschismus. Durch Verrat wurde er Anfang Dezember 1942 zusammen mit seiner Frau Sophia Lakmaker-Voorzanger (Amsterdam 1886– Auschwitz 1942) in Den Haag verhaftet, über Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort sofort nach seiner Ankunft ermordet. 19 In Spiers Lehre deutet ein beweglicher Daumen auf Flexibilität, Einfühlungsvermögen und ein reiches Gefühlsleben, aber auch auf Beeinflussbarkeit und Labilität in der Willenskraft hin. Ein steifer Daumen gilt als Anzeichen für Sturheit, Eigensinn und Unbeugsamkeit, aber auch für eine ausgeprägte Zielgerichtetheit. Die «Schicksalslinie» liefert u. a. Informationen über die Anpassung an die Einflüsse der Außenwelt. Bei den Begriffen «Berufslinie» und «Milieuraum» verwendet Etty Hillesum Anführungszeichen – wahrscheinlich, weil sie in Spiers Terminologie nicht vorkommen. Spier zufolge weisen Schraffierungen rund um die Milieulinie jedoch durch­ aus auf Einflüsse aus der Umgebung hin, deren sich das Objekt nicht bewusst ist. Dabei kann es sich um Konflikte zwischen den Eltern handeln, die das Kind zwar nicht bewusst miterlebt hat, deren Folgen aber sein unbewusstes Gefühlsleben stark beeinflusst haben. Möglicherweise bestehen auch bei einem Elternteil unbewusste Verdrängungen oder ein unbewusster Wider­ stand gegen das Kind, oder die Eltern ziehen dem Kind Geschwisterkinder auf der Gefühls­ ebene vor. Vielleicht meint Etty Hillesum diese dunkleren Markierungen im Bereich der Mi­ lieulinie, wenn sie über kleine Dramen schreibt, die aus dem Milieuraum verschwunden sind. 20 Klaas Kort, der auch in den Tagebüchern (13. Dezember 1941, S. 240) erwähnt wird. 21 Julius Spier, der selbst nicht rauchte, aber trotzdem Tabakmarken erhielt. 22 Übersetzung des Briefs aus dem Russischen (auf der Grundlage der Übertragung ins Nie­ derländische von Betty van Luin): Amsterdam, Mittwoch, Februar ’42. Sehr geehrter Herr Kort, es tut mir leid – ich dachte, mein Freund hätte noch viel Tabak. Ich habe ihn danach gefragt, aber im Augenblick hat er nichts. Er hat alles weggegeben (?). Wirklich sehr schade. Wenn Sie wieder hier sind, sprechen wir noch darüber. Mit vorzüglicher Hochachtung, auf Wiedersehen, E. Hillesum. 23 Wahrscheinlich das 1937 in der Reguliersbreestraat eröffnete Kaufhaus Galeries Modernes, das sich in der Nähe der Kalverstraat und des Munttoren (des Münzturms) befindet. 24 Erwähnt im Tagebucheintrag vom 16. April 1942, siehe S. 425. Spiers Briefe an Mischa Hil­ lesum sind nicht erhalten.

zu Seite 702–726 25 Annette van der Hofs Brief vom 21. Juni 1942, siehe S. 843–845. 26 S. Witkowski. 27 Anmerkung der Übersetzerin: «Ome» ist eine umgangssprachliche Form des niederländi­ schen Wortes oom (Onkel). Es fällt auf, dass auch Etty Hillesum diese Bezeichnung für Spier verwendet. Siehe S. 709 und 710, Brief an Gera Bongers vom 6. Februar 1942 (siehe, Ab­ stand nehmend, S. 714). 28 Tagebucheintrag vom 11. Juni 1942, siehe S. 512 f. 29 In Anlehnung an 2. Korinther 5,1. 30 Keine Informationen bekannt. 31 Eine Schreibvariante von «Eckhardt». Etty Hillesum las selbst gern in Eckhardts Werken; vielleicht hat sie der jungen Russin ihr Exemplar geliehen. Möglicherweise handelt es sich um die aus den Briefen bekannte Lubotschka, die von Jopie Vleeschhouwer Etty Hillesums «kleine Russin» genannt wird (siehe seinen Brief vom 6. bis 7. September 1942 auf S. 855). 32 Für diese russischen Gefangenen muss Etty Hillesum eine begehrte Gesprächspartnerin ge­ wesen sein, weil sie ihre Sprache beherrschte. Die betreffende Frau konnte bisher nicht iden­ tifiziert werden. 33 Gemeint ist der 21. August 1942. 34 Zum Lager Westerbork gab es keine direkte Zug- oder Busverbindung; man musste vom Bahnhof Hooghalen aus zu Fuß gehen. 35 Kosename für Hes Hijmans (Amsterdam 1915–Blaricum 2010), eine gute Bekannte Etty Hillesums. Offenbar hatte Hes Hijmans Etty Hillesum den Rucksack besorgt, um den sie gebeten hatte («Ich rief Hesje an und fragte, ob sie mir einen Rucksack besorgen könne»; Tagebucheintrag vom 27. Juli 1942, S. 642). 36 Tatsächlich war Etty Hillesum nur eine Woche weg gewesen, nämlich vom 14. bis zum 21. August 1942. 37 Möglicherweise dieselbe Person wie «Fr.» aus dem Tagebucheintrag vom 20. September 1942. 38 Jopie Vleeschhouwer. 39 Aus R. M. Rilke, Das Stunden-Buch, Leipzig, Insel Verlag, 1926, S. 52. 40 J. Leguyt war Han Wegerifs Kompagnon. 41 Aus Rilke, Das Stunden-Buch, S. 94. 42 Aus Rilke, ebd., S. 26. 43 Aus Rilke, ebd., S. 21. 44 Rücknahme der Urlaubserlaubnis. 45 Den ursprünglichen Bewohnern des Lagers Westerbork standen kleine, noch im Jahr 1939 beim Einrichten des Lagers gebaute Häuser zur Verfügung. Erst im Krieg wurden Baracken errichtet. 46 Hier gibt Etty Hillesum eine zu lange Dauer an: Kormanns Internierung im Lager Wester­ bork erfolgte erst Ende 1939. 47 Der Punkt lässt eine Abkürzung vermuten. Der vollständige Name konnte nicht eindeutig ermittelt werden. 48 Keine Informationen bekannt. 49 Die Abkürzung eines Namens, die sich zwar Hes Hijmans erschloss, den Herausgebern je­ doch nicht. 50 Die Familie Hillesum sollte erst am 7. Januar 1943 nach Amsterdam umziehen; von dort aus brachte man sie während der großen Razzia vom 20. und 21. Juni 1943 ins Lager Westerbork. 51 Louis Schaap. 52 Egon («Semmy») Rosenberg (Witten 1911– unbekannt 2005) war Dienstleiter des «Dienstbe­ reichs 8», einer der zwölf von Gefangenen geleiteten Dienstabteilungen. Zum «Dienstbereich 8» gehörten die Werkstätten von Westerbork. Diese Abteilung umfasste das Büro sowie das dazugehörige Magazin, in das Lagerinsassen ihre kaputten Besitztümer zur Reparatur brin­

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Anmerkungen

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gen durften: die Schneiderei, die Nähkammer, die Schusterei, die Wäscherei, die Matratzen­ fabrik, ein Atelier zur Lederbearbeitung, ein Spielzeugatelier und eine Bekleidungsherstel­ lung für Aufträge von außerhalb, beispielsweise von der Wehrmacht. Wie Kormann wurde Rosenberg im April 1945 von kanadischen Truppen aus Westerbork befreit. Der Versöhnungstag (Jom Kippur) fiel 1942 auf den 21. September. Bei für Lagerbewohner bestimmten Postsendungen reichte die Angabe der Barackennum­ mer aus. Wie dieses Gerücht entstanden ist, lässt sich nicht mehr nachvollziehen; jedenfalls beruhte es nicht auf Tatsachen. Die Spannung zwischen den deutschen und den niederländischen Juden in Westerbork wurde dadurch verursacht, dass sich die deutschen Juden länger dort befanden als die nie­ derländischen. Erstere nannte man die «AKs», also «Alte Kampinsassen» / «Alte Lagerinsas­ sen». Eine Gruppe deutscher Juden und auch einiger staatenloser Juden lebte seit der Ein­ richtung des Lagers im Jahr 1939 in Westerbork. Die niederländische Regierung hatte sie dort untergebracht. Mit dem Beginn der Deportationen nach Westerbork im Juli 1942 er­ hielten diese Juden aufgrund ihres längeren Aufenthalts im Lager bestimmte Positionen. Als die niederländische Leitung von Westerbork im Juli 1942 durch deutsche Behörden ersetzt wurde, gewannen diese deutschen Juden zusätzlichen Einfluss. Die deutschen und staaten­ losen Juden fühlten sich durch die Ankunft der niederländischen Juden in Westerbork in ihrer privilegierten Position bedroht. Umgekehrt fanden die eintreffenden niederländischen Juden ein Lager vor, in dem die deutsche Besatzungsmacht und die deutsche Sprache herrschten, vor allem seit das Deutsche im Januar 1943 für Ausweise, Formulare und der­ gleichen verpflichtend wurde. Die Spannungen zwischen den alten und den neuen Lager­ bewohnern, zwischen deutschen und niederländischen Juden, konnte zuweilen beträcht­ liche Ausmaße annehmen. Die erhalten gebliebenen Hefte umfassen 1281 Seiten. Mit der wachsenden Anzahl Menschen im Lager nahm die pro Person zur Verfügung ste­ hende Lebensmittelmenge ab; die Lagerkost war außerdem sehr einseitig. Wenn die Lager­ bevölkerung durch einen eintreffenden Transport um Tausende gleichzeitig anschwoll, konnte die Küche mit ihrer maximalen Kapazität von 4000 Portionen die Nachfrage nach Essen nicht erfüllen. In der ersten Zeit fiel die Westerbork-Abteilung des Judenrates unter den Judenrat für Ams­ terdam; das Personal war nicht in Westerbork registriert und wurde dementsprechend nicht zu den Lagerinsassen gerechnet. Regelmäßig fuhren Mitarbeiter des Judenrates auf Urlaub zurück nach Amsterdam. Keine Informationen bekannt. Die bevorrechtete Stellung der Mitarbeiter des Judenrates und die Tatsache, dass diese für zahlreiche Lagerbewohner nichts Wesentliches erreichen konnten, sorgte für große Span­ nungen unter den Juden. Rosenberg? Mozes Birenhak (Tarnobrzeg 1912–Tröbitz 1945) arbeitete in Westerbork im Außendienst. Zitat aus Rilke, Briefe 1907–1914, S. 98 f. Werner Petzal (Berlin 1906–KZ Fürstengrube 1945) leitete ab Juli 1942 in Westerbork zu­ sammen mit Dr. Friedrich Neuburger und Seelman die «Antragsstelle». Diese von Lager­ bewohnern eingerichtete Beratungsstelle informierte die in Westerbork Eintreffenden über die Möglichkeit einer eventuellen Zurückstellung vom Weitertransport. Diese Neuan­ kömmlinge wies man auf die entsprechenden Gründe hin, etwa eine Mischehe, Getauftsein oder eine fremde Staatsangehörigkeit. Die «Antragsstelle» formulierte Gesuche auf Zurück­ stellung und gab diese an die deutsche Leitung weiter, die über vorläufige Freistellungen entschied. Dr. Petzal beherrschte die Kunst, neu im Lager Eingetroffene mit den richtigen

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Dokumenten auszustatten. Offiziell unterstand die «Antragsstelle» der Verwaltung, doch in der Praxis arbeitete sie selbstständig. Josef Israel Mahler (Krefeld 1894–Düsseldorf 1943) und Hedwig Mahler-Abraham (Duis­ burg 1897–Auschwitz 1943). Nach der Machtübertragung an Hitler entschlossen sich die Mahlers zur Emigration in die Niederlande. Im Jahr 1937 beschuldigte man Josef Mahler völlig grundlos gesetzwidriger politischer Aktivitäten und wies ihn mit seiner Frau nach Belgien aus. Im Jahr 1940 wurden sie als nicht erwünschte Fremde in die Niederlande zu­ rückgeschickt. Die niederländischen Behörden brachten die Mahlers dann über die deut­ sche Grenze. Die Gestapo sperrte Mahler ein und beschuldigte ihn der Kontakte zur illega­ len Kommunistischen Partei. Als man ihm diese nicht nachweisen konnte, wurden die seit 1938 staatenlosen Mahlers nach Westerbork verlegt. Ende 1942 verhaftete man Mahler er­ neut und brachte ihn ins Gefängnis von Düsseldorf. Diesmal glaubte die Gestapo genügend Beweise zu haben; Mahler wurde wegen Hochverrats zum Verbleib in einem Konzentra­ tionslager verurteilt. Im Polizeibericht heißt es: «die Unschädlichkeitsmachung des Mahlers ist daher geboten». Mahler starb im Gefängnis. Wie damals üblich, wurde als Todesursache ein Herzanfall angegeben. Mahlers Frau Hedwig deportierte man 1943 nach Auschwitz. In Westerbork gehörten die Mahlers zu einer kleinen Widerstandsgruppe, die u. a. Fluchten organisierte. Jopie Vleeschhouwer. Eichwald, ein Diabetiker, trank immer Magermilch und arbeitete in der Küche. Ansonsten ist über ihn nur bekannt, dass er deportiert wurde. Etty Hillesum kehrte am 20. November 1942 ins Lager Westerbork zurück. Etty Hillesum war seit September 1942 nicht mehr im Lager Westerbork gewesen. In der Zwischenzeit hatte sich die Situation durch die große Zahl hinzukommender Gefangener dramatisch verschlechtert. Am 5. Dezember 1942 kehrte Etty Hillesum krank nach Amsterdam zurück; erst am 5. Juni 1943 sollte sie wieder in der Lage sein, erneut ins Lager Westerbork zu fahren. Lagerbewohner. Bezeichnung für die ursprünglichen Bewohner des Lagers Westerbork. Gemeint ist hier das Russische. Markenname, der zur allgemeinen Bezeichnung für vergleichbare Produkte wurde. Die Firma Liga brachte Sanovite-Cracker 1932 unter dem Namen «Liga Sanovite» auf den Markt; Vorbild war das schwedische Knäckebrot. Gemeint ist hier Samstag, der 5. Dezember 1942. Jet van der Hagen. Keine Informationen bekannt. Herbert Stertzenbach (Mühlheim an der Ruhr 1906–Essen 1963), ein Bekannter von Hans Wegerif, war Ende der Dreißigerjahre in die Niederlande geflüchtet. Er war Maler und erle­ digte kleinere Arbeiten für das Komitee für jüdische Flüchtlinge. Weil er in einer Mischehe lebte und Protestant geworden war, schickte man ihn nicht nach Westerbork, sondern in ein Arbeitslager für Menschen in Mischehen in der Nähe von Alkmaar. Im Jahr 1946 kehrte er mit seiner Frau und zwei Söhnen nach Deutschland zurück. Der Stertzenbach, dem Etty Hillesum in Westerbork begegnete, ist sein Bruder Werner Stertzenbach (Mühlheim an der Ruhr 1909–Düsseldorf 2003). Werner Stertzenbach wurde 1933 wegen seiner politischen Aktivi­täten von den Nationalsozialisten verhaftet. Bei seiner vorläufigen Entlassung ein halbes Jahr später entschloss er sich zur Flucht in die Niederlande. Als einer der Ersten kam er ins «Wieringer Werkdorp», ein Ausbildungslager für Palästinapioniere. Werner Stertzen­ bach geriet allerdings aufgrund seiner antizionistischen Einstellung in Konflikte und musste das Lager 1936 verlassen. Darauf folgte die Ausweisung nach Belgien. Sofort kehrte er auf ille­galem Weg zurück in die Niederlande. Dort wurde er festgenommen, ins Arbeits­ lager Nieuwersluis gebracht und nach der Kapitulation der Niederlande ins Gefängnis von

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Essen verlegt. Er stand auf der Liste für Buchenwald, doch brachte man ihn als Staatenlosen wieder in die Niederlande, und so kam er im Februar 1941 nach Westerbork. Im September 1943 gelang ihm die Flucht aus dem Lager. Die Zeit bis zum Kriegsende verbrachte er in einem Versteck in Amsterdam. Werner Stertzenbach wollte Etty Hillesum begreiflich ma­ chen, wie barbarisch der Faschismus war, indem er ihr von seinen Erfahrungen im Gefäng­ nis berichtete. Er gehörte einer Widerstandsorganisation an, die Menschen aus dem Lager holen und ihnen zu einem Versteck verhelfen konnte. Er versuchte Etty Hillesum zur Flucht und zum Untertauchen zu überreden, weil er hoffte, sie werde ihre literarischen Fähigkeiten in den Dienst des aktiven Widerstandes stellen. Etty Hillesum weigerte sich, denn – so ihre Erklärung – sie wollte ihre Eltern nicht im Stich lassen und betrachtete es vielmehr als ihre Aufgabe, den Menschen im Lager Westerbork zu helfen. Keine Informationen bekannt. Neeltje Witmondt-Hulleman (Andijk 1898–Amsterdam 1979). Einige von Max Witmondts Briefen an seine Frau, die Etty Hillesum übermittelte, sind erhalten geblieben. Bewohner von Kattenburg, einer der drei östlichen Inseln Amsterdams. In Ellecom befand sich seit dem Frühjahr 1941 eine Ausbildungsinstitution der niederländi­ schen SS, die «SS-Schule Avegoor». Dort musste ein Sportgelände angelegt werden. Im Sep­ tember 1942 beschloss man, dafür ungefähr 150 Juden aus Amsterdam, Rotterdam und Den Haag nach Ellecom zu bringen. Die Arbeitsbedingungen waren schlecht, die Betroffenen erlitten eine menschenunwürdige Behandlung. Ende November 1942 erfolgte die Auflösung des «Judenlagers Palästina», so die spöttische Bezeichnung. Die Überlebenden, die in sehr schlechter körperlicher Verfassung waren, brachte man nach Westerbork. Dort erfuhren sie, dass ihre Familien sechs Wochen zuvor nach Polen deportiert worden waren. Paul Cronheim (Amsterdam 1892–Amsterdam 1975) studierte in Genf und Leipzig Staats­ wissenschaften und Musikwissenschaften. Im Jahr 1918 promovierte er in Leipzig in Litera­ turwissenschaften und Philosophie. Cronheim war u. a. im Vorstand des Concertgebouw und des Niederländischen Wagnervereins. Er gilt als bedeutender Förderer von Wagners Musik in den Niederlanden. Nach dem Krieg war Cronheim einige Jahre der Direktor der Niederländischen Staatsoper. Siehe den vorherigen Brief. Das Fest der Wiedereinweihung des Tempels (Chanukka, niederl. Chanoeka) fiel 1942 in die Zeit vom 4. bis einschließlich 11. Dezember. Das Begehen jüdischer Feier- und Gedenktage im Allgemeinen war im Lager Westerbork Einschränkungen unterworfen, etwa weil man arbeiten musste. Für die Kerzen des Chanukka-Leuchters hat man wahrscheinlich heimlich vor Ort angefertigte Kerzen verwendet. G. Frank war Stellvertretender Dienstleiter des «Dienstbereichs 8». Dienstleiter dieser Abtei­ lung war S. Rosenberg. Fritz Grünberg gehörte zur sogenannten «Kontaktabteilung», einem aus vier Personen bestehenden Sekretariat der Abteilung des Judenrates in Westerbork. Ob­ wohl die Betreffenden zuvor bedeutungslose Posten bekleidet hatten, waren sie von Gemme­ ker dazu bestimmt worden, in allen diesen betreffenden Angelegenheiten eine Funktion als Vertreter des Judenrates zu erfüllen. Da der Kommandant die vier deswegen als Ange­hörige seiner eigenen Organisation betrachtete, erhielt die «Kontaktabteilung» großen Einfluss. Ihre Aufgaben schlossen u. a. die Aufsicht über Arbeit und Aufenthalt der jüdischen Dienstreisen­ den in Amsterdam ein. Gegen Bezahlung konnte die «Kontaktabteilung» dafür sorgen, dass Straffälle aus der Strafbaracke entlassen wurden und auf Transport nach The­resienstadt oder Bergen-Belsen gingen. Gleichzeitig beschaffte die «Kontaktabteilung» gefälschte Abstam­ mungsnachweise und andere Dokumente. Angehörige der «Kontaktabteilung», unter ihnen F. Grünberg, wussten sich durch diese und andere Aktivitäten in hohem Maße zu bereichern. Dieser Brief wurde zusammen mit dem Brief vom 24. August 1943 im Herbst 1943 in einer Auflage von hundert Stück als Drie brieven van den kunstschilder Johannes Baptiste van der

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Pluym (1843–1912), Met twee reproducties; Uitgegeven en van een toelichting voorzien door Mevr. A. C. G. Botterman-v. d. Pluym, Apeldoorn, 1917 («Drei Briefe des Malers Johannes Baptiste van der Pluym (1843–1912)», mit zwei Kunstdrucken, herausgegeben und mit einer Erläuterung versehen von Mevr. A. C.G. Botterman-v. d. Pluym, Apeldoorn 1917), veröffent­ licht. Verantwortlich für diese nach außen hin unschuldig wirkende Publikation war der Journalist David Koning (Amsterdam 1920–Laren 1970), außerdem die Redaktion der Widerstandszeitungen De Vrije Katheder («Das freie Rednerpult») und De Patriot («Der Patriot»). Die Briefe erhielt Koning – über eine Mittelsperson – von Petra Eldering, einer Freundin Etty Hillesums, die zur Redaktion von De Vrije Katheder gehörte. Das Setzen, Drucken und Binden übernahmen die Gebrüder Nooy in Purmerend. Dabei gingen sie nicht nur wenig sorgfältig vor, sondern hatten offensichtlich auch hin und wieder Probleme mit dem Entziffern von Etty Hillesums Handschrift. Davon zeugen die zahlreichen klei­ nen und großen Unterschiede zwischen e­ inigen getippten Versionen – die ursprünglichen, handgeschriebenen Briefe sind verloren gegangen – und dem gedruckten Text. Außerdem wurden in dieser Ausgabe bewusst einige Namen ausgelassen. Der hier wiedergegebene Text der Briefe folgt dementsprechend auch nicht dem der illegalen Ausgabe, die in den Jahren 1959, 1962 und 1978 nachgedruckt und auch in Het denkende hart van de barak (auf Deutsch erstmals 1985 unter dem Titel Das denkende Herz der Baracke erschienen) aufgenommen wurde, sondern einer der getippten Abschriften. Keine Informationen bekannt. Wahrscheinlich Herbert Kruskal (Frankfurt a. Main 1900–Jerusalem 1989); er wurde im Sep­ tember 1942 in Scheveningen, wo er lebte und arbeitete, mit Frau und Kindern festgenom­ men und über das Scheveninger Gefängnis nach Westerbork geschickt. In Westerbork wurde er Mitarbeiter der «Antragsstelle». Seine Frau Edda Kruskal-Gradenwitz (Berlin 1910–Jeru­ salem 1989), eine Medizinerin, war Mitarbeiterin des ärztlichen Dienstes im Lager. Etty Hil­ lesum freundete sich mit Herbert Kruskal an und besuchte ihn regelmäßig. Die Kruskals wurden im April 1944 nach Bergen-Belsen transportiert und kamen im Juni 1944 im Rah­ men eines Austausches nach Palästina. Nach dem Krieg ließen sie sich in England nieder. Im Jahr 1985 kehrten sie nach Israel zurück. Keine Informationen bekannt. Hilfsaktionen Ende der Dreißigerjahre zugunsten der Kinder, die unter den Folgen des Spa­ nischen Bürgerkrieges und dem Einfall der Japaner in China zu leiden hatten. Zu dieser Zeit engagierte sich Etty Hillesum in politisch linksgerichteten Studentenorganisationen wie der Studentenliga tegen Oorlog en Fascisme (Studentenliga gegen Krieg und Faschismus). Konzentrationslager in Deutschland. In Dachau wurden ab 1933 deutsche Gegner des Natio­nalsozialismus interniert, in Buchenwald ab Juli 1937. Am 13. Mai 1939 schifften sich 936 deutsch-jüdische Flüchtlinge auf der «St. Louis» für eine Reise von Hamburg nach Kuba ein. Die meisten Juden wollten von dort aus ein Visum für die Vereinigten Staaten organisieren. Eine kleine Anzahl dieser Emigranten hatte auch tat­ sächlich die Einreiseerlaubnis der kubanischen Immigrationsbehörden erhalten. Kurz bevor die «St. Louis» Hamburg verließ, erklärte man diese Dokumente jedoch für ungültig; die Flüchtenden erhielten immerhin die Zusage, sie dürften auf Kuba umsteigen. Eine solche Zusage gab es auch gegenüber den Flüchtlingen auf dem Schiff «Iberia», das am 15. Mai 1939 in Havanna anlegte. Als die «St. Louis» am 27. Mai 1939 Havanna erreichte, vertraten die kubanischen Immigrationsbehörden aber den Standpunkt, Passagiere und Schifffahrts­ gesellschaft hätten gegen die neuen gesetzlichen Einreisebestimmungen verstoßen. Den Ge­ flüchteten wurde die Einreise nach Kuba verweigert. Die Juden, die im Besitz eines Visums für Kuba waren, durften allerdings an Land. Auf die Weigerung, jüdischen Geflüchteten die Einreise zu gestatten, folgten Verhandlungen zwischen der kubanischen Regierung und ­einem Vertreter des «American Joint Distribution Committee», doch auf dessen Angebot,

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pro Person 500 Dollar (also insgesamt 443 000 Dollar) zu bezahlen, ging die kubanische Regierung nicht ein. In weiteren Gesprächen mit Ländern wie Chile, Kolumbien und auch den Vereinigten Staaten stellte sich heraus, dass das Schiff mit den Geflüchteten dort ebenso wenig willkommen war. Die «St. Louis» musste die Rückreise nach Europa antreten. Schließ­ lich gewährten die Regierungen Englands, Frankreichs, Belgiens und der Niederlande den Ankommenden Asyl. Die 181 von den Niederlanden aufgenommenen Geflüchteten bilde­ ten den Kern des Lagers Westerbork. Osias Kormann war einer von ihnen. Siehe auch den Anhang auf S. 858. Die Erwartung, man werde in Polen arbeiten müssen (etwa im schlesischen Bergbau), war unter den Juden weit verbreitet. Neben der «Lagerhauptstraße» verliefen einige Plattenwege durch das Lager. Der größte Teil des Geländes war allerdings nicht asphaltiert, sodass es sich bei Regen in eine Schlamm­ wüste verwandelte. Als das Lager Westerbork noch den Status des Zentralen Flüchtlingslagers hatte, fiel es in den Zuständigkeitsbereich der niederländischen Regierung. Anfangs war das Ministerium für Innere Angelegenheiten verantwortlich für die Situation in Westerbork und Umgebung. Ab dem 16. Juli 1940 unterstand das Lager dem Justizministerium. Ein Hauptmann der Reserve des niederländischen Militärs, Jac. Schol, erhielt nach der Übergabe den Posten als Kommandant des Lagers. Er führte bis zu einem gewissen Grad Aufsicht und musste zum Beispiel eine Urlaubserlaubnis erteilen, wenn ein Bewohner das Lager verlassen wollte. Zu­ nächst erfolgten von Seiten der deutschen Behörden keine besonderen Maßnahmen im Hinblick auf das Lager Westerbork, doch nachdem es in der Person von E. Deppner ab dem 1. Juli 1942 deutscher Kontrolle unterstand, durfte sich Schol nur noch mit internen Lage­ rangelegenheiten befassen. Im Januar 1943 wurde er vom Justizministerium entlassen. Mit der Übernahme des Lagers durch die Behörden fand der menschliche und freie «Geist» des Justiz­ministeriums ein Ende. Das Waisenhaus befand sich in Baracke 35. Dort brachte man Kinder unter, die als echte Waisen oder allein nach Westerbork gekommen waren oder die aus bestimmten Gründen nicht bei ihren Eltern sein konnten (zum Beispiel weil diese in der Strafbaracke saßen). Die Sohlenherstellung fand in Baracke 60 statt, die teilweise als Aufbewahrungsort für Bücher verwendet wurde. Das Leichenhaus lag in der südwestlichen Ecke des Lagers, außerhalb des Stacheldrahts. Etty Hillesum erwähnt auch eine «Synagoge», deren Existenz jedoch durch keine einzige andere Quelle bestätigt wird. In dem am 16. Oktober 1942 von A. V. Hartogh gezeichneten Plan des Lagers ist ebenfalls keine Synagoge erfasst. Mit Sicherheit lässt sich jedoch sagen, dass es in Westerbork ein aktives religiöses Leben gab. Das Gefängnis im Lager Westerbork (Baracke 51) war ein kleines Steingebäude mit echten Zellen und Gitterfenstern. Dort landeten Personen, die man verdächtigte, einen Fluchtver­ such unternehmen zu wollen, oder die bereits einen solchen unternommen hatten. Das kleine Gefängnis konnte nicht so viele Menschen aufnehmen wie die Strafbaracken, in ­denen sich manchmal bis zu 500 Menschen aufhielten. Die Strafbaracken standen wie das Gefängnis unter besonderer Bewachung. Bei Transporten wurden diese Gefangenen in sepa­ raten Waggons untergebracht. Schol bzw. Gemmeker. Zur Ablenkung der Lagerbewohner und zur Unterhaltung des deutschen Stabs wurden in Westerbork regelmäßig Theater- und Kabarettabende veranstaltet. Daneben gab es Musik­ aufführungen des Lagerorchesters, dem auch Mischa Hillesum angehörte. Die meisten «The­ atermitarbeiter» hatte man Ende 1942 oder Anfang 1943 nach Westerbork gebracht. Dort organisierten sie als «Gruppe Bühne» bunte Abende. Von Gemmeker, einem regelmäßigen Besucher dieser Vorführungen (der im Übrigen häufig vorab die Texte zensierte), erhielt die Gruppe, was sie für Kulissen und Requisite benötigte. Die wichtigsten Mitarbeiter hatten

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im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit einen Stempel zur vorläufigen Freistellung vom Transport erhalten. Letzten Endes wurden auch sie deportiert. Möglicherweise eine ironische Umschreibung der sieben Wachtürme, die die Gendarmen zur Bewachung des Lagers nutzten. Die Herkunft dieses Zitats ist unbekannt; siehe Johannes 19,10 f. Ab Dienstag, dem 2. Februar 1943, zeichnete sich ein wöchentlicher «Deportationsrhyth­ mus» ab. In der Zeit von diesem Datum an bis einschließlich zum 21. September 1943 verließ regelmäßig am Dienstagmorgen ein Zug in Richtung «Polen» das Lager. Von den 85 Depor­ tationszügen aus Westerbork nach Auschwitz und Sobibor fallen 34 in diese Phase. Zu diesem Ereignis ist die Beschreibung einer «Berichterstatterin» des Judenrates erhalten geblieben, die anwesend war, als die Juden der Provinz Limburg von Maastricht aus aufbra­ chen. Nachdem sich Ende August 1942 viele Limburger Juden in einem Schulgebäude in Maastricht gemeldet hatten, schrieb sie: «… In der Schule hatte man jeder Stadt ein Klas­ senzimmer zugeteilt. Außerdem gab es eine sog. ‹Wäschekammer›, in der diejenigen, die nichts bei sich hatten, noch eine vollständige Ausrüstung bekommen konnten. Es ist sehr beeindruckend, wie viel man dort zusammengebracht hatte. Sowohl die großen Geschäfte (z. B. Vroom en Dreesmann) als auch Privatpersonen gaben alles her, was sie irgendwie entbehren konnten … Von der festgelegten Ankunftszeit (vier Uhr nachmittags) bis um elf Uhr abends liefen ununterbrochen Damen herum und boten belegte Brötchen, Kaffee, Tee, Milch und Obst an. Auch Süßigkeiten und Kekse für die Kinder hatte man geschickt. Im Gebäude waren zur Bewachung Gendarmen anwesend, die nicht die geringste Ahnung hat­ ten, worum es ging. Das erfuhren sie erst von uns. Alles großartige Leute, die die Situation unerträglich fanden, zumal sie viele der Aufbrechenden persönlich kannten … Die Frau ­eines unserer Anwälte, eine arische Ärztin, hat ganz hervorragend reagiert: Sie holte alle In­ validen (Krüppel, Bucklige, Gelähmte usw.) ins Ärztezimmer. Dann rief sie den Obersturm­ führer und sagte: ‹Das ist euer Arbeitseinsatz für Deutschland.›» Insgesamt wurden am 2. August 1942 ungefähr dreihundert jüdische Angehörige der ­römisch-katholischen Kirche festgenommen. Möglicherweise George und Ernst Löb. Siehe Anm. 22 auf S. 928 f. Möglicherweise Rob Löb. Siehe Anm. 22 auf S. 928 f. Am Abend des 2. Oktober 1942, einem Freitag, befanden sich etwa 2000 Menschen im La­ ger Westerbork. Nach der landesweiten Razzia an diesem Tag (die in Amsterdam am 3. Ok­ tober fortgesetzt wurde) kamen 12 296 Personen dort an. Es handelte sich u. a. um die Juden aus den niederländischen Arbeitslagern mit ihren Frauen und Kindern, außerdem viele Ju­ den aus Meppel. Weil man im Lager nicht auf die Ankunft so vieler Menschen eingestellt war, entstand ein gewaltiges Chaos. Teil der Herengracht auf der Höhe der Nieuwe Spiegelstraat in Amsterdam, wo schöne Grachtengebäude stehen. Anmerkung der Übersetzerin: Anders als die zuvor getätigte Schätzung der Lagerfläche auf einen halben Quadratkilometer entsprechen die hier genannten Maße in etwa der Realität. Anspielung auf 1. Korinther 13. Über Ausnahmen beim allgemeinen Verbot der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Juden (angekündigt am 30. Juni 1942) ist nichts bekannt. Zu dieser Zeit lag Etty Hillesum im Nederlandsch-Israëlietisch Ziekenhuis (NIZ). Jaap Hillesum, der im NIZ arbeitete. Wahrscheinlich die Vier-Cent-Marke aus der Sommerserie des Jahres 1941, auf der die nie­ derländische Schriftstellerin Aagje Deken (1741–1804) zu sehen ist. Ihre Nase wird in dieser Darstellung tatsächlich sehr betont. Wahrscheinlich ein Verweis auf die Pläne von Klaas Smelik und seiner Tochter Johanna, Etty Hillesum aus der Gabriël Metsustraat zu entführen und in ihrem Haus in Hilversum

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untertauchen zu lassen. Bei einer anderen Gelegenheit, als Etty Hillesum im Begriff war, nach Westerbork aufzubrechen, packte Klaas Smelik sie und versuchte ihr nochmals nahe­ zubringen, welcher Gefahr sie sich aussetzte. «Sie machte sich von mir los und baute sich in einigem Abstand vor mir auf. Sie schaute mich mit einem ganz seltsamen Blick an und sagte: ‹Du verstehst mich nicht.› Ich sagte: ‹Stimmt, ich verstehe es überhaupt nicht, Herr­ gott noch mal. Bleib doch hier, du Dumme.› Da sagte sie: ‹Ich will das Schicksal meines Volkes teilen.› Als sie das gesagt hatte, wusste ich, dass alles verloren war. Sie würde nie zu uns kommen», so Klaas Smelik. Übrigens gab es weitere Angebote für Möglichkeiten zum Untertauchen, doch Etty Hillesum lehnte diese mit großer Entschiedenheit ab. Die «Lager-Fürsorge», die Abteilung «Versorgung» oder «Versorgung zur materiellen Unter­ stützung der Lagerinsassen», wurde im Lager die «V» genannt. Auch das eigene Magazin der Fürsorge wurde «V» genannt. Zu den Aufgaben der Abteilung (die zum «Dienstbereich 10» gehörte) zählte das Vorbereiten von Brotpaketen für die Deportierten. Keine Informationen bekannt. In den Baracken hatte man Etagenbetten aus Holz – jeweils drei übereinander – aufge­ stellt. Von den 140 000 ‹Volljuden› wurden in der Phase von Juli 1942 (dem Beginn der Deporta­ tionen) bis April 1943 etwa 59 000 nach Auschwitz und Sobibor deportiert. 2000 Juden waren bereits nach Mauthausen, Buchenwald und Ravensbrück geschickt worden. Die Ak­ tionen der deutschen Besatzer mit dem Ziel, die Niederlande ‹judenrein› zu bekommen, liefen ab Mai 1943. Aus Berlin kam der Befehl, im Mai 1943 8000 und im Juni 1943 15 000 Juden aus den Niederlanden zu deportieren. Alle Transporte, die Westerbork von März bis Juli 1943 verließen, hatten nicht Auschwitz, sondern das Vernichtungslager Sobibor zum Ziel. So gab es dort insgesamt gut 33 000 Opfer. Maria Tuinzing stammte aus Wageningen. Dieser Brief wurde mit zitternder Hand geschrieben. Möglicherweise ist dies auf die ­Ankunft eines Transports aus Vught zurückzuführen. Etty Hillesum wurde Zeugin dieses Ereignisses und schrieb in dem betreffenden Brief darüber. Bei Friedrich Weinreb liest man über diesen Transport: «Die Menschen aus dem Lager waren tief getroffen, vor allem die­ jenigen, die beim Ausladen all dieses Leids geholfen hatten.  […] Den ganzen Vormittag herrschten Aufregung und Hektik. Man schien zum ersten Mal zu realisieren, wer die Nazis eigentlich waren […] Dann kam Etty Hillesum – es muß wohl ein Montag gewesen sein, denn sie trug ihre Telegrammtasche –, und die konnte überhaupt nichts erzählen, sondern weinte nur. Sie saß auf einem Stuhl zwischen Weyls Bett und dem meinen und hatte ihr Gesicht in einem Taschentuch verborgen. Loonstijn rief: ‹Fräulein, jetzt hören Sie doch auf, wir haben schon genug Sorgen, wir brauchen keine Klageweiber.› Es half ein wenig, denn Etty begann nun doch zu erzählen. Sie berichtete, daß auch leidlich gesunde Menschen da­ runter seien, die gar nicht so schlecht aussähen. ‹Die sind dann bestimmt auf Veranlassung vom Jüdischen Rat oder der Registratur dort›, hielt man ihr entgegen. Aber sie erzählte, wie um ihren tränenreichen Auftritt ein wenig zu kompensieren, daß auch Leute darunter seien, die lachen würden, die Hoffnung hätten, weil sie nun aus Vught weg seien. Doch schon bald begann sie wieder zu weinen. Wir ließen sie, und es tat uns gut, dann brauchte man wenigstens nicht selbst zu weinen.» (Als Vorlage diente Friedrich Weinrebs Collaboratie en verzet 1940–1945. Een poging tot ontmytologisering («Kollaboration und Widerstand 1940– 1945. Ein Versuch zur Entmythologisierung»), Teil 2, Amsterdam, Meulenhoff, 1969, S. 1082 f.; zitiert wird hier sowie bei allen folgenden Zitaten die Übersetzung von Franz J. Lukassen, Die langen Schatten des Krieges, Teil 2, Weiler im Allgäu, Thauros Verlag, 1989, S. 1600 f.). Angehörige der niederländischen Gendarmerie und Polizei wurden von den deutschen Be­ hörden schon relativ früh bei verschiedenen Phasen und Tätigkeiten im Rahmen der De­ portation von Juden eingeschaltet. Dabei reichte ihre Funktion von Hausdurchsuchungen

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bis zur Bewachung der Transporte und Lager. Die Gendarmen stammten vornehmlich aus Friesland, Groningen und Drenthe und wurden jeweils für zwei Monate in Westerbork eingesetzt. Durch dieses Rotationssystem wollten die Besatzer verhindern, dass zwischen den Be­wachern und den Lagerbewohnern ein gutes Verhältnis entstand. Möglicherweise Umschreibung für eine Prostituierte; keine weiteren Informationen be­ kannt. In diesem Brief hat Han Wegerif bei einigen Wörtern Buchstaben nachgezogen. Das betrifft auch den ersten Buchstaben des Wortes «leven» [«Leben»], aus dem er einen Groß­ buchstaben machte. Es ist aber möglich, dass es in dem Brief um eine Frau geht, deren Foto in der Familienzeitschrift Het Leven (erschienen zwischen 1906 und 1940) veröffentlicht wurde, da die Zeitschrift sogenannte Miss-Wahlen ausrichtete. Auch in anderen Briefen hat Han Wegerif das ein oder andere verdeutlicht oder korrigiert. Etty Hillesum erwähnt dies selbst im Brief vom 5. Juli 1943 (im Abschnitt «Donnerstagnachmittag», S. 792). Der Grund dafür war, dass Freunde und Bekannte, an die die Briefe weitergeschickt wurden, häufig Probleme mit dem Entziffern von Etty Hillesums Handschrift hatten. Die Transporte von Vught nach Westerbork erfolgten unregelmäßig. In den Monaten Mai bis September 1943 wurden 10 500 Juden aus Vught nach Westerbork gebracht. Das geschah unter der Aufsicht der niederländischen Polizei. Der Transport vom 8. Juni 1943 bestand aus mehr als 1300 Frauen und Kindern. Das Büro des Judenrates, in dem Etty Hillesum zunächst arbeitete, befand sich dort. Dr. J. E. Polak (Amsterdam 1911–bei Auschwitz 1943) bot in den Dreißigerjahren als Assis­ tent von Dr. P. Scholten (Amsterdam 1875–Amsterdam 1946), Hochschullehrer für Zivil­ recht und Rechtsphilosophie an der Universiteit van Amsterdam, Einführungsveranstaltun­ gen im Prozessrecht an. In diesem Fach nahm er auch Prüfungen ab. Keine Informationen bekannt. Herman Boasson (Middelburg 1908–Amsterdam 1981), der Verlobte von Wiep Poelstra. Beide waren gut mit Etty Hillesum befreundet. Am 13. Februar 1943 wurde Herman Boasson nach einem Verrat wegen des Fälschens von Ausweispapieren verhaftet. Über das Gefängnis Amstelveenseweg und das Lager Vught kam er am 31. März 1943 nach Westerbork. Boasson versuchte alles Mögliche, um seine Verlegung nach Barneveld zu erreichen. Er erhielt eine Zusage für Barneveld, doch im letzten Augenblick stellte sich heraus, dass mit seinen Papie­ ren etwas nicht in Ordnung war. Nach einem missglückten Fluchtversuch deportierte man ihn am 24. August 1943 nach Auschwitz. Als Mitglied im Lagerorchester gelang es ihm zu überleben. Im Januar 1945 erfolgte seine Evakuierung nach Dachau. Im Sommer desselben Jahres kehrte er nach Amsterdam zurück. Er heiratete Wiep Poelstra 1946. Über seine Erfah­ rungen berichtete er in Uit het nabije verleden («Aus der nahen Vergangenheit») (Amsterdam, Jimmink, 2. Auflage 1981). Die «Grüne Polizei» oder «Ordnungspolizei», die Teil des deutschen Polizeiapparats war, sollte bei ernsten Verstößen gegen die Ordnung, Razzien und dergleichen mit einer hohen Anzahl an Beamten auftreten. Außerdem war sie für Transporte in Lager und für Hinrich­ tungen zuständig. Der Name geht auf die Farbe der Uniform zurück. Am 8. Juni 1943 besuchte Franz Fischer das Lager Westerbork. Fischer, der den Beinamen «Juden-Fischer» trug, war «SS-Sturmscharführer» und einer der leitenden Beamten des «Ju­ denreferats IVB4», einer Abteilung der «Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD» in Den Haag, wo die Deportation der Juden aus den Niederlanden organisiert wurde. Die Transporte aus dem Lager Westerbork erfolgten in den ersten Wochen mit alten Vieh­ waggons, später einige Zeit in alten Passagierwaggons und nach dem 10. März 1943 erneut in Viehwaggons. Für Bergen-Belsen und Theresienstadt wurden Personenwaggons reserviert. In die Güter- und Viehwaggons legte man Stroh für die Kranken. Außerdem gab es pro Waggon Trinkwasser und eine Tonne, die als Toilette herhalten musste. Die Menschen ­saßen auf dem Boden oder auf einem Koffer und konnten sich nur an die Wände lehnen.

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Jeder Transport wurde von einem Zugführer sowie von Wagenführern und einem Trans­ portarzt begleitet. Prof. Dr. E. Laqueur. Emilie (Milli) Ortmann-Blankenstein (Hagen 1902–Bergen 1976) besuchte die Kunstge­ werbeschule. Im Jahr 1928 heiratete sie den Künstler und Graphiker Theo Ortmann (Biele­ feld 1902–Amsterdam 1941). Unter dem Druck der politischen Entwicklungen in Deutsch­ land emigrierte das Ehepaar Ortmann 1933 in die Niederlande. Im Jahr 1941 starb Theo Ortmann an einem Herzinfarkt. Von diesem Moment an widmete sich Milli Ortmann, selbst Jüdin, der Hilfe für andere Juden. Dank gefälschter Papiere, die ihr Schwager in Deutschland organisiert hatte, wurden Milli Ortmann und ihre ebenfalls in die Niederlande geflüchtete Schwester Grete Wendelgelst-Blankenstein zu «Halbjüdinnen» erklärt, wodurch sie sich in­ nerhalb gewisser Grenzen frei bewegen konnten. Milli Ortmann involvierte den Dirigenten Willem Mengelberg in einen Versuch, Mischa Hillesums Verlegung in das Lager Barneveld zu erreichen. Darüber hinaus nahm sie mehrfach persönlich Kontakt mit Den Haag auf, weil sie hoffte, die Familie Hillesum vor der Deportation bewahren zu können. Die Levies hatten sich gegen das Untertauchen entschieden, da sie andere nicht in Gefahr bringen wollten. Sie wurden bei der Razzia vom 20. Juni 1943 festgenommen und blieben bis zum 10. Januar 1944 in Westerbork. Dann erfolgte ihre Deportation nach Bergen-Belsen. Weil sie sogenannte Palästinazertifikate besaßen, gehörten die Levies zu den zweihundert Personen, die im Frühjahr 1944 gegen vierhundert in Palästina festgehaltene Deutsche aus­ getauscht werden sollten. Im letzten Moment strich man ihre Namen von der Liste und ­ersetzte sie durch die einer Familie, die aus demselben Dorf stammte wie der Lagerkom­ mandant. Im April 1945 wurden die Levies mit den anderen Gefangenen mit dem Zug aus Bergen-Belsen weggebracht. Renate, die ältere Tochter von Werner und Liesl Levie, er­ krankte an Flecktyphus. Nach der Befreiung in Tröbitz fielen zahlreiche Menschen dieser Epidemie zum Opfer, doch Renate überlebte. Aus Dankbarkeit beschlossen Werner und Liesl Levie, den Todgeweihten zu helfen und ihnen die letzten Stunden zu erleichtern. Wer­ ner Levie steckte sich jedoch an und verstarb am 26. Mai. Am 29. Juni 1945 kehrten Liesl Levie und ihre beiden Töchter zurück in die Niederlande. Renate emigrierte 1951 nach ­Israel, Mirjam Levie 1953 und Liesl Levie selbst 1955. Josef Willem Mengelberg (Utrecht 1871–Hof Zuort 1951). Der berühmte Dirigent über­ nahm 1895 die Leitung des Concertgebouw-Orchesters. Wegen seiner allzu kooperativen Haltung gegenüber den Besatzern erlegte man ihm nach dem Krieg ein Dirigierverbot auf. Johann Baptist Albin Rauter (Klagenfurt 1895–Den Haag 1949), österreichischer National­ sozialist und Vertrauter Himmlers. Im Mai 1940 wurde Hanns Rauter in die Niederlande geschickt und erhielt als «Generalkommissar für das Sicherheitswesen» die Verantwortung für die SS und die deutsche Polizei in den besetzten Niederlanden. Am 6. März 1945 wurde er bei einem Anschlag des Widerstandes schwer verwundet. Im Jahr 1948 erfolgte seine Verurteilung zum Tode und 1949 seine Erschießung. Diese Information wurde nicht eingetragen. J. C. J. C. van Nooten (Gouda 1903–Deventer 1998). Die Altphilologin wurde im April 1931 als Lehrerin für Alte Sprachen an das Städtische Gymnasium in Deventer berufen und ­unterrichtete während der letzten Monate des Schuljahres 1930 /31 die fünfte Klasse, die auch Etty Hillesum besuchte. Vor allem nach der Entlassung von Rektor Hillesum auf Ge­ heiß der Besatzungsbehörde 1940 entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen Christine van Nooten und den Hillesums. Während sich die Familie Hillesum in Westerbork befand, gehörte Christine van Nooten zu den Vertrauenspersonen und Stützen der vier. Sie schickte ihnen unzählige Päckchen mit Lebensmitteln und anderen Dingen nach Westerbork. Nach der großen Razzia vom 20. und 21. Juni 1943 in Amsterdam kamen insgesamt 5524 Juden in das Lager Westerbork, darunter die Familie Hillesum.

zu Seite 770–776 141 Wahrscheinlich Josua 1,6: «Sei mutig und stark». 142 Die Richtlinien zum Erhalt von Briefen und Paketen (in denen sich meist Lebensmittel be­ fanden) wurden immer strikter. Die diesbezüglichen Beschlüsse machte man jeweils über eine Lagerorder bekannt. 143 Die Familie Jacobs hatte in Amsterdam neben Louis und Rebecca Hillesum gewohnt. 144 Anmerkung der Übersetzerin: Abkürzung des (juristischen) Magistertitels von Etty Hille­ sum. 145 Auch die Tatsache, dass man nur mit wenig Hilfe von außen rechnen konnte, hat dazu bei­ getragen, dass nur sehr wenige Fluchtversuche aus Westerbork gelangen. 146 Julius Simon (Arnheim 1906–Den Haag 1989) organisierte von Deventer aus Pakete mit verschiedenen Artikeln für Menschen aus Deventer in Westerbork. Manchmal schickte er in einer Woche mehr als zweihundert Pakete. Simon lernte die Hillesums kennen, als die Poli­ zei ihn ersuchte, der Familie beim Umzug nach Amsterdam zu helfen. In Etty Hillesums Elternhaus fand er eine chaotische Situation vor: «Louis Hillesum war nirgends zu sehen, Rebecca rannte im Haus herum, Mischa saß am Flügel und spielte und Etty las in einem Buch, während die anwesenden Möbelpacker nicht die geringste Ahnung hatten, was sie tun sollten.» Simon war Jude, konnte aber lange Zeit unbehelligt die Menschen in Wester­ bork unterstützen. Als er sich bei den deutschen Behörden melden sollte, entschloss er sich mit seiner Frau Lieselotte Falkenstein zur Flucht. Mithilfe der Organisation des niederländi­ schen Theologen Willem Visser ’t Hooft entkamen die beiden in die Schweiz. 147 Hilligje de Groot (Noordwijk 1882–Deventer 1948). Sie wohnte in der Ceintuurbaan 1 in Deventer hinter den Hillesums, als diese in der A. J. Duymaer van Twiststraat 51 lebten. 148 Am 5. Juli 1943 geschah dies tatsächlich. 60 der 120 Mitarbeiter des Judenrates in Wester­ bork wurden nach Amsterdam zurückgeschickt. Sie erhielten einen Stempel zur Freistellung vom Transport «bis auf weiteres». Etty Hillesum gehörte zu denjenigen, die im Lager blei­ ben mussten. Mit der Auflösung der Westerborker Abteilung des Judenrates verlor Etty Hillesum ihre privilegierte Position als Mitarbeiterin und durfte zum Beispiel nicht mehr uneingeschränkt Briefe schreiben oder nach Amsterdam fahren. Allerdings erhielt sie wie alle anderen Mitarbeiter in ihrer Situation den «roten Z-Stempel». Deshalb war sie vorläufig vom Transport freigestellt. 149 Anne-Marie van den Bergh-Riess (Berlin 1903–Kairo 1955) war bis zur Machtübertragung an Hitler 1933 Pariser Korrespondentin für eine deutsche Zeitung. In Paris arbeitete sie u. a. mit dem russischen Journalisten Ilja Ehrenburg zusammen. Vor dem Krieg war sie einige Zeit mit dem niederländischen Journalisten und Dichter Herman van den Bergh verheira­ tet. Sie wohnte in der Brahmsstraat neben Swiep van Wermeskerken und konnte während der großen Razzia vom 20. und 21. Juni 1943 bei ihr untertauchen. Weil Anne-Marie van den Bergh-Riess Swiep van Wermeskerken nicht in Gefahr bringen wollte, versteckte sie sich im Gebäude der «Expositur». Sie wurde entdeckt und nach einigen Monaten in Wester­ bork nach Bergen-Belsen deportiert. Im April 1945 wurde sie in Tröbitz von den Russen befreit. Sie hatte sich mit Flecktyphus angesteckt, überstand die Krankheit jedoch. Nach dem Krieg arbeitete sie für die Niederländische Botschaft in Kairo. 150 Das wilde Heidegelände rund um das Lager hatte dem Wind nichts entgegenzusetzen. Sand, Staub und Schmutz verteilten sich von dort aus fast das ganze Jahr über in der Luft. Deshalb litten viele Menschen unter Augenentzündungen, die man mit Schutzbrillen zu verhindern versuchte. 151 Sam de Wolff (Sneek 1878–Amsterdam 1960) war Ökonom und sozialistischer Politiker. Er erlebte das Konzentrationslager weniger als persönliches Schicksal, sondern als Teil einer kollektiven Erfahrung. Nach Westerbork war er in Bergen-Belsen, von wo aus er 1944 mit einer kleinen Gruppe gegen von den Briten in Palästina internierte deutsche Staatsbürger ausgetauscht wurde. In Tel Aviv arbeitete er u. a. als Dozent für Wirtschaftsgeschichte an der

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Anmerkungen Universität. Im Jahr 1945 kehrte er in die Niederlande zurück, wurde eines der prominentes­ ten Mitglieder der sozialistischen Partij van de Arbeid, publizierte viele Artikel und seine Memoiren unter dem Titel Voor het land van belofte («Für das Gelobte Land») (1954; Nach­ druck Nimwegen, SUN, 1978). 152 Anfang 1943 wurde Jaap Hillesum zusammen mit Sara Oudkerk, der Leiterin des Labors des NIZ, während einer Razzia an der Ecke Stadhouderskade / Hemonystraat festgenommen und ins Holländische (Jüdische) Theater gebracht. Mitgliedern des Widerstandes gelang es, ihn zu befreien, und Jaap Hillesum nahm seine Arbeit wieder auf. Durch die Razzien am Freitag, dem 13. März, und Freitag, dem 13. August 1943, wurde das NIZ demontiert. Das übrige Personal brachte man im Krankenhaus Joodsche Invalide am Weesperplein unter. Jaap Hillesum gehörte dazu. Ende September 1943, also unmittelbar nach der Deportation seiner Familie, kam Jaap Hillesum nach Westerbork. Im Februar 1944 wurde er nach Ber­ gen-Belsen transportiert. Auf der Zugreise nach der teilweisen Räumung des Lagers starb er am 17. April 1945 bei Tröbitz. 153 Philip Mechanicus (Amsterdam 1889–Auschwitz 1944) war Journalist beim Algemeen Han­ delsblad («Allgemeinen Handelsblatt»). Er wurde am 27. September 1942 festgenommen, weil er keinen Stern trug. Über das Gefängnis Amstelveenseweg brachte man ihn in das Lager Amersfoort, wo er schlimme Misshandlungen erlitt. Am 7. November 1942 kam er in Wes­ terbork an. Dort führte er ein Tagebuch, das in den Niederlanden erstmals 1964 unter dem Titel In dépôt erschien (eine Neuauflage erfolgte 1978 und 2008). In der deutschen Überset­ zung von Jürgen Hillner erschien das Tagebuch 1993 unter dem Titel Im Depot. Tagebuch aus Westerbork bei Edition TIAMAT, Berlin. In Westerbork gelang es, Philip Mechanicus bis zum 29. Juli 1943 im Krankenhaus zu behalten und während dieser Zeit seinen S-Status («S» stand für «Straffall») zu ändern. Straffälle wurden nämlich ausnahmslos nach Polen depor­ tiert. Am 8. März 1944 erfolgte der Transport nach Bergen-Belsen, von dort am 9. Oktober 1944 mit einer Gruppe von 120 Personen nach Auschwitz, wo man Philip Mechanicus drei Tage darauf mit der gesamten Gruppe aus unbekannten Gründen erschoss. In seinem Tage­ buch aus Westerbork schreibt Mechanicus mehrfach über die Hillesums und über Etty Hil­ lesum, nennt dabei jedoch keine Namen. Über die Hillesums heißt es: «Sonntag, 11. Juli [1943] […] Vorige ­Woche ist der Vater einer Freundin ins Krankenhaus gekommen, ein Ge­ lehrter, kerngesunder Mensch, aber völlig unsozial, ein Sonderling. Er kümmert sich nicht um die Leute um ihn herum, tut nichts anderes als lesen, das Buch dicht vor den schlechten Augen. Er wurde in seinem ganzen Leben bedient, verwöhnt, und steht in dieser Gesellschaft mit zwei linken Händen da. Die Familie hatte geglaubt, ihn und die anderen Mitglieder vor dem Transport bewahren zu können. Nichtsdestotrotz hängt über ihnen das drohende Schicksal: Sie laufen Gefahr, am Dienstag die große Reise antreten zu müssen. Die Frau sagt traurig: ‹Ich könnte die Reise alleine sehr gut bewältigen, aber mit ihm ist es nicht zu schaf­ fen. Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll.› Der Mann sagt kindlich und frohgemut: ‹Ach, das wird schon nicht so schlimm werden; man muß es nur nehmen, wie es kommt.› Die Tochter (selbst gesperrt) sagt: ‹Schrecklich, mein Bruder, der hier bleiben könnte, will unbedingt unsere Eltern begleiten, und er ist ohnehin nicht ganz normal. Die Spannung ist unerträglich. Wir hoffen, dass der Transport Dienstag nicht stattfindet; doch dann folgt eine neue Woche der Spannung und dann noch eine, und das Ende des Liedes wäre, daß sie schließlich doch fahren. Ich würde gerne beten: Herr, mach’s kurz.› – Für junge Menschen ist ­dieses aufreibende Leben zu ertragen, sie können es bewältigen, alte Menschen aber gehen daran zugrunde. Je eher der Leidensweg zu Ende ist, desto besser vielleicht. Jeden Tag küßt die Frau ihren Mann, küßt die Tochter den Vater voll Zärtlichkeit, als Begrüßung und als Abschied. Jeden Tag streicht die Tochter dem Vater mit der Hand liebevoll über den grauen Schopf, streicht sie die Falten im runzligen Gesicht der Mutter glatt. Die Schwester verfolgt besorgt die Wege des Bruders. Das rührende Beispiel einer glücklichen Familie, einer vor­

zu Seite 776 bildlichen Herzlichkeit, eines selbstverständlichen aristokratischen Lebensgefühls. Diese ­Familie ist vom Orkan des Antisemitismus ergriffen worden und steht im Begriff, zerstreut zu werden. Ein Schatten der Hoffnungslosigkeit liegt in den Blicken der Mutter, die sich äußerlich ruhig auf ihre ungewisse Zukunft vorbereitet» (Im Depot, Übersetzung von Jürgen Hillner, 1993, S. 99). 154 Friedrich Weinreb (Lemberg 1910–Zürich 1988), kam als Sechsjähriger mit seiner Familie in die Niederlande. Er promovierte 1938 an der Economische Hogeschool in Rotterdam. Nach dem Krieg entstand wegen der sogenannten «Weinreb-Listen» eine heftige Debatte. Wäh­ rend der Besatzung konnten sich Juden gegen Bezahlung in diese Listen eintragen lassen, wodurch ihnen die Illusion einer Freistellung von der Deportation vermittelt wurde. Im Jahr 1948 wurde der umstrittene Weinreb wegen seiner Kriegstätigkeit zu sechs Jahren Ge­ fängnis verurteilt. In seinem 1976 erschienenen ausführlichen Weinreb-Bericht beurteilt das damalige Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie, heute Niederländisches Staatliches Ins­ titut für Kriegsdokumentation, Weinrebs Handlungsweise während der Besatzung erneut negativ. Weinreb beschreibt in seinen Memoiren Etty Hillesum und ihre Arbeit in Wester­ bork, vor allem in der Krankenbaracke: «Eine besonders sympathische Besucherin war auch Etty Hillesum. Sie kam nicht zur Besuchszeit, sondern im Zusammenhang mit ihrer Arbeit im Büro des Jüdischen Rats. Sie ging nämlich an den Betten vorbei und fragte, ob jemand über den Jüdischen Rat ein Telegramm verschicken wolle. […] Und so ging Etty Hillesum mit einer Ledertasche über der Schulter an den Betten entlang, beugte sich über jeden Kran­ ken, der dort lag, und sagte: ‹Kann ich vielleicht etwas für Sie tun? Ich kann nämlich Tele­ gramme für Sie verschicken. Wenigstens dann, wenn es etwas mit dem Jüdischen Rat zu tun hat, wegen eines Aufschubs oder einer Sperre.› Manche brummten etwas Unverständliches, andere blieben apathisch liegen, wieder andere begannen eine Unterhaltung. Sie hatte feste Kunden. […] Ich nahm an, daß das Krankenhaus nur einen Teil ihrer Telegrammaktivitäten umfaßte. Die Kranken konnten schließlich nicht zum Jüdischen Rat ins Lager gehen, um ihre Telegrammangelegenheiten zu besprechen, also kam der Jüdische Rat zu ihnen. In die­ sen Service-Dingen war der Jüdische Rat manchmal sogar sehr gut. […] Wenn sie allein zum ‹Dienst› kam, erzählte sie viel von sich selbst, von ihrem schwierigen Vater, den sie so sehr liebte, von ihrer Mutter und von ihrem begabten, aber etwas eigenartigen Bruder. Ich merkte wohl, daß sie die Seele der Familie war und alles daransetzte, diese Familie am ­Leben zu erhalten. Aber sie glaubte selbst nicht daran. Es war, wie sie sich ausdrückte, ‹ein Wettlauf mit der Zeit›. […] Ich habe auch Etty Hillesum nicht wiedergesehen. Die Erinne­ rung an ein besonders intelligentes und sehr interessiertes Mädchen ist mir geblieben. […] Was mich vor allen Dingen so berührt hat, war ihr religiöses Empfinden, eine Eigenschaft, die auch sie erst damals bei sich entdeckt hat. Es gab bei ihr Verbitterung über die schwere Last, eine Last von Tausenden von Jahren, wie es schien, und zugleich gab es da auch etwas sehr Leichtes und Fröhliches.» Übersetzung von Franz J. Lukassen, S. 1573–1579 (F. Weinreb, Collaboratie en verzet, Teil 2, S. 1071, 1072 und 1075). Siehe auch Band 2 der niederländi­ schen Ausgabe, S. 1579 [Anmerkung der Übersetzerin: kurze Zusammenfassung der Erinne­ rungen an Etty Hillesum], und Band 3, S. 1418 (siehe Anm. 122 auf S. 942). 155 Renata Liselotte Margarete Laqueur (Brieg 1919–New York 2011), die Tochter von Prof. Dr. E. Laqueur, wurde am 18. Februar 1943 zusammen mit dem Internisten Louis Schaap und seiner Familie in Amsterdam verhaftet, weil die SS einige auf ihre Namen ausgestellte falsche Ausweise gefunden hatte. Über das Gefängnis und das Konzentrationslager Vught kam die kleine Gruppe nach Westerbork. Durch einen glücklichen Zufall und ihren 120 000-Stempel (siehe den Brief vom 22. August 1943, S. 821, und S. 955, Anm. 242) ließ man Renata Laqueur einige Monate später frei. Im November 1943 erhielten Renata Laqueur und ihr Mann, Paul Goldschmidt (Amsterdam 1914–Essen 2010), Aufrufe für Westerbork. Auf Paul Goldschmidts Drängen meldeten sie sich bei den deutschen Behörden und wurden in der Hollandsche

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Schouwburg fest­gehalten. Am 6. November 1943 kam Renata Laqueur zum zweiten Mal nach Westerbork. Am 15. März 1944 wurden sie und ihr Mann nach Bergen-Belsen verlegt. Dort führte sie ein Tagebuch, das 1946 unter dem Titel Dagboek uit Bergen-Belsen erschien (Neuauf­ lage 1979); die deutsche Fassung kam 1983 unter dem Titel Bergen-Belsen Tagebuch 1944–1945 in der Übersetzung von Peter Wiebke im Kölner Fackelträger-Verlag heraus. Nach dem Krieg und nach ihrer Scheidung emigrierte Renata Laqueur in die Vereinigten Staaten. Adele Goldschmidt-Koppel (Amsterdam 1884–Harmelen 1985) kam 1942 nach Westerbork. Als getaufte Jüdin wurde sie im September 1944 nach Theresienstadt transportiert. Im Jahr 1945 kehrte sie in die Niederlande zurück. Frans van Steenhoven arbeitete bei einem Lebensmittelbetrieb und hatte dadurch Zugang zu knapp gewordenen Waren. Auf den Karten, von denen die Marken abgeschnitten wurden, stand gedruckt, wie lange sie gültig waren. Auf der «Elternliste» standen die Eltern von Mitarbeitern der «Expositur» (in Amsterdam), denen F. Fischer in Den Haag eine besondere «Sperre» zugestanden hatte. Auch den Mit­ arbeitern des Judenrates gelang es in vielen Fällen, für ihre Eltern Freistellungen vom Trans­ port zu organisieren. Nach der Auflösung des Judenrates im Lager Westerbork und nach­ dem die Hälfte der Mitarbeiter am 5. Juli 1943 nach Amsterdam gegangen war, erhielten ehemalige Mitarbeiter und ihre Eltern den «roten Z-Stempel». Juden, die von Amsterdam aus nach Westerbork deportiert wurden, hatten meist einige Stunden bis hin zu mehreren Tagen in der Hollandsche Schouwburg zugebracht. Von dort aus führte man die Menschen unter Polizeibewachung zum Amsterdamer Hauptbahnhof. Der Transport, auf den Etty Hillesum hier verweist, fand im Rahmen der großen Razzia vom 20. und 21. Juni 1943 in Amsterdam-Zuid und -Oost statt. Als Sammelstellen nutzte man diesmal nicht das Holländische Theater, sondern vier Punkte in Amsterdam-Zuid und einen in Amsterdam-Oost. Von dort aus wurden die Juden mit der Straßenbahn zu einem Gebiet am Polderweg gebracht. Bei dieser Razzia holte man insgesamt 5542 Juden aus ihren Häusern und überstellte sie nach Westerbork. Es handelte sich um die zweitgrößte aller Razzien. Den noch in Amsterdam-Zuid verbleibenden Juden wurde der Umzug ins Viertel Transvaalbuurt befohlen. Bei der letzten Razzia, am 29. September 1943, konnte man diese Juden dann ganz einfach mitnehmen. SS-Sturmbannführer Dr. E. Meyer war für die medizinischen Angelegenheiten des Sicher­ heitsdienstes zuständig. Auf der «Meyer-Liste» standen die Namen von Juden, die sich hatten sterilisieren lassen oder zumindest eine entsprechend lautende Erklärung vorlegen konnten. Dr. Meyer konnte auf der Grundlage einer im Portugeesch-Israëlietisch Ziekenhuis durch­ geführten Operation oder eines chirurgischen Attests eine Erklärung unterzeichnen, die zur Folge hatte, dass Juden sozusagen ihren Stern verloren. Ohne die Unterschrift des Leiters der «Zentralstelle für jüdische Auswanderung» Ferdinand aus der Fünten besaß dieses Doku­ ment ­allerdings keine Gültigkeit. Die sternlosen, in Mischehen lebenden, «freiwillig» sterili­ sierten Juden wurden aber nicht wie Nichtjuden behandelt. So durften sie sich weiterhin nicht an öffentlichen Orten aufhalten, die mit «Für Juden verboten»-Schildern gekenn­ zeichnet waren, nichtjüdischen Kindern keinen Unterricht erteilen, nicht für nichtjüdische Ärzte, Privatkliniken, Anwälte arbeiten usw. Insgesamt wurden gut 3000 Menschen in Mischehen (mehr als ein Drittel der gesamten Gruppe) vom Tragen des Sterns befreit. Von ihnen hatten sich etwa sechshundert sterilisieren lassen. Ein großer Prozentsatz derer, die durch ein Attest den Stern ablegen konnten, war weiblich. Margarete (Grete) Wendelgelst-Blankenstein (Hagen 1899–Bergen 1985) war die ältere Schwester von Milli Ortmann-Blankenstein. Sie flüchtete 1939 mit ihrer Mutter nach Ams­ terdam. Dank einer «Flüchtlingsheirat» mit dem Niederländer Bart A. J. Wendelgelst (Ams­ terdam 1878–Amstelveen 1970) im selben Jahr erhielten Grete Blankenstein und ihre Mut­

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ter eine Aufenthaltserlaubnis, und man wies ihnen eine Wohnung in Amsterdam zu. «Cor» war der Spitzname von Evaristos Glassner. J. Leguyt (Amsterdam 1897–Amsterdam 1969) war zuerst Wegerifs Assistent und wurde 1943 sein Compagnon. Zusammen leiteten sie damals das Buchhalterbüro Wegerif  & Leguyt. Nach Wegerifs Tod 1946 führte Leguyt das Büro weiter. Frederik Willem Adrianus Korff (1887–1942) war ein Theologe der niederländisch-refor­ mierten Kirche und ab 1932 Dozent in Leiden. Er verfasste u. a. En toch is God liefde («Und doch ist Gott Liebe»), Den Haag, J. N. Voorhoeve, 1941. Zwischen 1941 und 1945 erschienen zwölf Auflagen dieses Werkes. Cornelis Wegerif (Dordrecht 1919–Leusden 1943) war der Sohn von Han Wegerifs Bruder, dem Pfarrer W. J. Wegerif. Cornelis Wegerif war 1942 als Mitglied einer Rotterdamer Wider­ standsgruppe (des OD, «Ordnungsdienst») von den Besatzern verhaftet worden. Er kam in verschiedene Lager und Gefängnisse, zum Beispiel St.  Michielsgestel, das sogenannte «Oranjehotel» in Scheveningen und später nach Utrecht. Am 20. Juli 1943 wurde er zusam­ men mit mehreren anderen Mitgliedern seiner Widerstandsgruppe im Heidegebiet Leusder­ hei hingerichtet. Keine Informationen bekannt. Die damals tschechoslowakische Stadt Terezín (Theresienstadt) diente zwischen 1941 und 1945 als sogenanntes «Altersghetto» und «Durchgangslager». Die deutschen Behörden plan­ ten, in Theresienstadt den größten Teil der jüdischen Bevölkerung des Protektorats Böhmen und Mähren zu konzentrieren, außerdem ältere Juden (über 65 Jahre), Juden, die im Ersten Weltkrieg Deutschland gedient und dafür einen hohen militärischen Orden erhalten hatten, wie auch die sogenannten «Verdienstjuden»: Ärzte, Wissenschaftler, Vorsitzende von jüdi­ schen Gemeinden und Judenräten usw. Dahinter stand die Idee, Theresienstadt als «Vor­ zeigesiedlung» für die Unterbringung von Juden der Außenwelt präsentieren zu können. In Wirklichkeit verschlechterte sich die Situation im Ghetto sehr rasch. Die ersten deportier­ ten Juden kamen im November 1941 in Theresienstadt an. Im September 1942 lebten dort 53 000 Personen; vor dem Einsatz als jüdisches Ghetto hatte Terezín lediglich 3700 Einwoh­ ner gehabt. Ab Januar 1942 fanden aus Theresienstadt Transporte in verschiedene Konzent­ rationslager statt, ab Oktober 1942 ausschließlich mit dem Ziel Auschwitz. Nach der letzten Deportationswelle im Jahr 1944 verblieben nur 11 068 Personen in Theresienstadt. Unter ihnen waren 4843 niederländische Juden. Ilse Blumenthal(-Weiss). Das Krankenlager verfügte über maximal 1700 Betten, 1000 Angehörige des Personals und mehr als 120 Ärzte. Es lag in der südwestlichen Ecke des Lagers. Zwischen den Wohn- und den Krankenbaracken durfte man sich nicht frei bewegen. Für den Besuch eines Patienten im Krankenhaus benötigte man eine Erlaubnis. Dass Etty Hillesum im Rahmen ihrer Arbeit täglich die Krankenbaracke aufsuchte, ermöglichte ihr einen intensiveren Kontakt zu ihrem Vater, weil sie für das Betreten des Terrains nicht jedes Mal eine Erlaubnis brauchte. Keine Informationen bekannt. Zu Anfang konnten die Lagerbewohner Angehörigen, Freunden und Bekannten, die (noch) nicht nach Westerbork transportiert worden waren, Briefkarten schicken. In vielen Fällen enthielten diese die Bitte um Lebensmittelpakete. Die ein- und ausgehende Post unterlag allerdings der Zensur. Dadurch gelangten bei Weitem nicht alle Pakete in die Hände der Adressaten. Außerdem gab es immer mehr Erlasse und Richtlinien zur Einschränkung des Erhalts von Briefen und Paketen. Auch der Dank per Briefkarte wurde auf das Schreiben der verpflichteten Antwortformel «Päckchen erhalten» reduziert. Später wiederum gab man den Lagerbewohnern vorgedruckte Karten mit dem Text «Päckchen erhalten»; sie selbst durften nur den Namen und die Adresse an den dafür vorgesehenen Stellen eintragen. Diesen Satz fügte Etty Hillesum hinzu: «Für Finanzielles bitte wenden an: Doornink, Smit

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und Kuik» – dies wurde später aus nicht nachvollziehbaren Gründen gestrichen. Die ge­ nannten drei Bekannten der Hillesums aus Deventer hatten sich – nicht als Dreiergespann, sondern einzeln – bereiterklärt, eventuell Anfallendes auf die jeweilige Bitte Louis Hillesums hin zu regeln. Martinus van Doornink (Deventer 1884–Deventer 1970) war ein Nachbar der Hillesums. Er bot Rektor Hillesum nach dessen Entlassung an, in seinem Ferienhaus in Gorssel unterzutauchen. Hillesum lehnte dies aber ab, weil es dort keinen Platz für die ge­ samte Familie gegeben hätte. Dr. Wisse Alfred Pierre Smit (Heumen 1903–Utrecht 1986) war von 1934 bis 1946 Direktor der Gemeentelijke MMS, der Sekundarschule für Mädchen der Gemeinde, in Deventer. Im Jahr 1946 wurde er in Utrecht Dozent für Niederländische Literaturwissenschaft. Jan van Kuik (Amersfoort 1906–Gorssel 1989) wurde 1932 Mathe­ matiklehrer am Gymnasium von Deventer. Nach dem Krieg übernahm van Kuik teilweise die Verwaltung des Hausstandes der Familie Hillesum. Im Jahr 1965 wurde er Rektor des Gymnasiums. Anmerkung der Übersetzerin: Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Iphigenie auf Tauris, 1. Akt, 3. Auftritt. Wahrscheinlich entstand durch das ständige Aufwirbeln von Staub und Sand im Lager eine Verunreinigung des Wassers. Außerdem gab es u. a. wegen Materialmangels Schwierigkeiten bei der Trinkwasserversorgung. In Kombination mit den schlechten Hygienebedingungen im Lager verursachte dies bei vielen körperlich geschwächten Lagerinsassen Krankheiten wie Durchfall und Ruhr. Eckehardt (ca. 1260–1328), ein deutscher Mystiker, Dominikaner, lehrte in Paris und wurde später Prior in Straßburg. Er schrieb stark pantheistisch orientierte Betrachtungen über das Verborgensein Gottes und über die mystische Vereinigung der Seele mit Gott. Sein Denken beeinflusste die Mystik des Mittelalters und die Philosophie in Deutschland in hohem Maße. Einer Notiz Maria Tuinzings in Etty Hillesums Exemplar von Ein Brevarium aus sei­ nen Schriften (Leipzig, Insel Verlag, o. J.) zufolge las Etty Hillesum in ihrem letzten Lebens­ jahr viel in Eckehardts Texten. Die Hygienebedingungen im Lager Westerbork waren schlecht. Da immer mehr Menschen dorthin kamen, stand dem Einzelnen weniger Platz zur Verfügung. In den Baracken herrschte Überfüllung. Obwohl unter der Aufsicht der jüdischen Barackenleiter geputzt wurde, gab es dort relativ viel Schmutz. Reinigungsmittel waren wenig oder gar nicht vor­ handen, Seife musste heimlich hergestellt werden. In der Zeit um 1935 litt Etty Hillesum unter einem Ekzem und trug einen Verband an einer Hand. Der Bäcker Hendrik Jan Gantvoort (Deventer 1905–Rijswijk Zuid-Holland 1983) hatte sein Geschäft in der Kleine Overstraat in Deventer. Pieter Johannes Bernardus Lansen (Amsterdam 1890–Deventer 1930) war der Leiter der School A gewesen, der Grundschule, die Etty Hillesum in Deventer besuchte. Die Familie Lansen wohnte in der Sweelinckstraat Nr. 21, Bäcker Gantvoort in der Nr. 23. Johanna Smelik. Das Durchlaufen einer Reihe von Formalitäten und Verpflichtungen vor dem Transport wurde als «Durchschleusen» bezeichnet. Dazu gehörten u. a. Jeremia Elia Hillesum (Amsterdam 1884–Sobibor 1943), Anwalt und Prozessbevollmächtigter, außerdem Direktor der Amsterdamer Diamantenbörse, und Jere­ mias Meier Hillesum (Amsterdam 1863–Sobibor 1943), von 1890 bis 1930 Konservator der Bibliotheca Rosenthaliana in Amsterdam. Johanna Maria Lansen (Amsterdam 1914–Deventer 1969) war eine Bekannte Etty Hillesums aus Deventer und die Tochter des oben genannten P. J. B. Lansen. Mit dem Transport vom 6. Juli 1943 wurden 2417 Juden deportiert. Es gab zwei separate Waggons mit Straffällen. Die Besatzer behielten in immer stärkerem Maße nur diejenigen

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im Lager, die im Krankenhaus, im Außendienst und in der Industrie arbeiteten. Da Etty Hillesum nun keine Funktion als Mitarbeiterin des Judenrates mehr innehatte, wurde es für sie und ihre Eltern immer schwieriger, der Deportation zu entgehen. Die Zahl der zu deportierenden Juden war für jeden Transport festgelegt und musste durch SS-Obersturmführer Gemmeker unter allen Umständen erreicht werden. Jüdische Registra­ toren stellten auf der Basis der «Zentral-Kartei» die Transportlisten zusammen. Manchmal umfasste diese Liste mehr Namen als die festgelegte Anzahl. Dann erfuhren einige Juden im letzten Moment, dass sie doch nicht auf Transport mussten. In anderen Fällen war es um­ gekehrt: Damit die geforderte Anzahl erreicht wurde, erhielten einige Juden im letzten Mo­ ment den Aufruf, sich für den Transport bereitzumachen. Mit der Zeit bedeutete eine so­ genannte «Sperre» – eine Freistellung vom Transport – nicht die geringste Garantie mehr für einen Verbleib in Westerbork. Wer bei der «Antragsstelle» arbeitete, wurde in der Phase vor den meist am Dienstag abfahrenden Transporten mit Fragen und Bitten bestürmt, wie es um die Sicherheit der eigenen «Sperre» und um die Chancen stehe, dem Transport zu ent­ gehen. In einigen Fällen konnte die «Antragsstelle» erreichen, dass ein Name im letzten Augenblick von der Transportliste genommen wurde. Weinreb war am 13. Mai 1943 als Straffall in Westerbork eingetroffen, nachdem der SD sein ‹Spiel› durchschaut hatte. Am 28. Juni 1943 wurde Weinreb von Lemcke, einem hohen Wehr­ machtsoffizier, und von einem in Weinrebs Memoiren «Holman» genannten SD-Offizier nach Den Haag zurückgeholt. Der SD ließ Weinreb sein ‹Spiel› wiederaufnehmen, um so jüdischen Untertauchern auf die Spur zu kommen. Auf diese Weise wollte sich der SD be­ reichern. Um für sich selbst Sicherheit zu erreichen, erstellte Weinreb erneut eine Liste. Er reiste mehrere Male nach Westerbork, wo er etwa 1500 ‹Kunden› gewann, die für einen Platz auf der Liste hundert Gulden pro Kopf bezahlten. Damit hielt Weinreb seine Auftraggeber bei Laune. Im Februar 1944 tauchte Weinreb mit seiner Familie unter. Bei dem «geheimnisvollen Herrn» handelt es sich um Schripperman, einen Lagerfreund von Mechanicus. Mit ihm suchte Etty Hillesum Trottel auf, das ‹senile alte Männlein›. Trottel verstand sich gut mit Schlesinger und konnte bei diesem das ein oder andere erreichen. Kurt Schlesinger (Schmalkalden 1902–Vereinigte Staaten 1964), ein deutscher Jude, hatte sich unter dem Lagerkommandanten Gemmeker vom Inhaftierten zu einem der mächtigsten Männer in Westerbork entwickelt. Der allgemein gefürchtete und verhasste Schlesinger wurde am 12. August 1943 zum Ersten Dienstleiter ernannt und besaß in dieser Funktion die absolute Macht über den Verwaltungsapparat. Er konnte bestimmen, wer auf Transport ging; gebunden war er nur an die vorgeschriebene Anzahl der zu Deportierenden. Durch ihren Besuch bei Trottel versuchte Etty Hillesum (mit Erfolg), Mechanicus und ihre eigenen Eltern von der Transportliste zu bekommen. Mechanicus schrieb daüber: «Schripperman macht sich mit der Angestellten des Judenrates sofort auf den Weg. Nach einer Stunde kommt sie zurück. ‹Es geht zu neunzig Prozent in Ordnung.› Sie ist echauffiert, geht völlig in diesem Spiel auf. ‹Eine merkwürdige Welt›, sagt sie. ‹Ich verstehe gar nichts mehr. Ich hätte nie gedacht, daß es hier solche Kräfte gibt. Ein altes, unscheinbares Männchen mit einer Mütze tief über den Augen. An einer ganzen Schlange von Leuten ging er einfach vorbei in das Büro des Gottes. Er ist an bedeutenden Leuten interessiert. Er kommt nachher zu dir.›» (Im Depot, Übersetzung von Jürgen Hillner, S. 89) In der Registratur wurde entschieden, wer auf die Transportlisten kam. Prof. Dr. W. P. C. Zeeman (Amsterdam 1879–Amsterdam 1960), ein Augenspezialist des Krankenhauses Wilhelmina Gasthuis, das während der Besatzung den Namen «Westergast­ huis» trug. In Westerbork gehörte er zum Ärztlichen Dienst. Wahrscheinlich kannte Etty Hillesum Jan Zeeman (Amsterdam 1910–Blaricum 1998), weil dieser hin und wieder mit dem Flötisten Paul Goldschmidt musizierte. Leo Krijn war einer der mit dem Transport vom 6. Juli 1943 Deportierten. Unmittelbar nach

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seiner Ankunft in Sobibor am 9. Juli 1943 wurde er umgebracht. Sein Bruder Adolph Krijn (Amsterdam 1884–Sobibor 1943) musste eine Woche später, am 13. Juli, auf Transport. Auch er wurde unmittelbar nach seiner Ankunft in Sobibor ermordet, am 16. Juli 1943. Gegenüber seinem untergetauchten Sohn Herman hatte Leo Krijn auch die Hoffnung geäußert, in Polen seine Frau Alice und seinen Sohn Hoele wiederzusehen. Siehe die Anm. zu der «Schönheitskönigin aus dem Leben» im Brief vom 5.–9. Juli 1943. Fieberhafte Jagd auf diverse Stempel, die möglicherweise für eine gewisse Zeit die Freistel­ lung vom Transport bedeuteten. Gleichzeitig waren mehrere Listen mit vergleichbarer Be­ deutung im Umlauf. In sehr vielen Fällen musste man für eine potenzielle «Sperre» beträcht­ liche Geldsummen bezahlen. Der schwedische Theologe Lars Olof Jonathan Söderblom (1866–1931) erhielt 1930 den Frie­ densnobelpreis. Von 1914 bis zu seinem Tod war er der Erzbischof von Uppsala. Der Staatsmann Raymond Poincaré (1860–1934) war von 1913 bis 1920 Präsident der Fran­ zösischen Republik. Die Lagerverwaltung war relativ hierarchisch aufgebaut. Im Lager gab es mehrere Dienstabtei­ lungen (die sogenannten «Dienstbereiche») mit einem eigenen Leiter und dessen Stellvertreter. Diese «Dienstleiter» trafen sich regelmäßig, tauschten Erfahrungen aus, besprachen interne Fragen, nahmen offizielle Mitteilungen und Befehle entgegen und erstellten An­weisungen. Die jüdische Vortragskünstlerin Chaja Goldstein (Rippin 1908–Netanja 1999) emigrierte 1933 aus Deutschland in die Niederlande. Anfang der Dreißigerjahre machte sie mit von ihr vertonten chassidischen Erzählungen bei einem linksintellektuellen und künstlerisch orien­ tierten Publikum in Amsterdam Furore. Sie absolvierte auch viele Tourneen im Ausland. Während des Krieges hielt man sie in Westerbork fest, doch durch die Heirat mit dem deutschen Cineasten Theo Güsten kam sie frei. Im Jahr 1948 emigrierte sie in die Vereinig­ ten Staaten. Mit ihrem kranken Ehemann kehrte sie 1973 nach Amsterdam zurück. Im Jahr 1978 emigrierte sie nach Israel. Julius Rosenbaum (Magdeburg 1894–Auschwitz 1944) war im Berlin der Zwanzigerjahre ein bekannter Komponist und Schlagertexteschreiber. Im Jahr 1933 flüchtete er in die Nieder­ lande. Er wurde künstlerischer Direktor des Theaters der Prominenten in Scheveningen. 1941 trat die Willy-Rosen-Revue, zu der u. a. Max Ehrlich gehörte, im Theater van de Lach in der Plantage Middenlaan ausschließlich vor jüdischem Publikum auf. Als sich die jüdi­ sche Bühnenunterhaltung auf das Jüdische Theater konzentrieren musste, arbeitete die Willy-Rosen-Revue mit dem jüdischen Kleinkunst-Ensemble zusammen. In Westerbork präsentierte Willy Rosen gemeinsam mit Max Ehrlich Kabarett auf hohem Niveau. Simon van Gelder (Dordrecht 1890–Bergen-Belsen 1944), der «Jim» genannt wurde, war ein Klavierlehrer aus Den Haag. Nach Julius Spiers Tod tauchte van Gelder eine Zeit lang bei der Familie Nethe unter. Nach drei Monaten brachte ihn Gera Bongers zu Mien Kuyper, bei der er vorübergehend unterkam. Mien Kuyper half häufig Menschen, die ein Versteck brauchten, und ihr Haus war als Untertauch- und ‹Sprung›-Adresse bekannt. Später wurde van Gelder allerdings doch gefasst und nach Westerbork gebracht. Darauf folgten seine Deportation und Ermordung. Johan Brouwer (1898–1943) war ein niederländischer Literaturwissenschaftler und Kultur­ historiker. Die Besatzungsmacht verbot seinen historischen Roman Philips Willem (1940). ­Wegen seiner Beteiligung an dem Anschlag auf das Amsterdamer Melderegister wurde Brouwer am 1. Juli 1943 mit sechzehn anderen Personen in Overveen erschossen. Wahr­ scheinlich hatte Etty Hillesum dies soeben erfahren. Christine van Nooten verbrachte die Sommerferien 1943 in Groningen bei ihrer Schwester C. C. J. W. van Nooten (Weert 1890–Lochem 1976), die ebenfalls alte Sprachen unterrich­ tete. Die Provinzabteilung des Judenrates in Overijssel befand sich in Enschede; die Leitung

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hatte S. N. Menko inne. In Deventer gab es Ortsvertreter der Abteilungen «Unterstützung nicht-niederländischer Juden» (B. Behr), «Sozialfürsorge» (Dr. J. Cohen), «Reise- und Um­ zugserlaubnisse» (R. Adelaar) sowie eine Kommission für Geldangelegenheiten (H. Gelder). Der oberste Vertreter in Deventer war Dr. Johan Cohen. Diese Vertretungen des Judenrates in Städten und Provinzen waren im Herbst 1941 durch die Leitung des Judenrates eingerich­ tet worden. Alle Städte, in denen genug Juden lebten, kamen für eine solche Vertretung in­ frage. Der Judenrat von Deventer unterhielt gute Kontakte zur örtlichen Polizei, wodurch die Razzien vom Ende des Jahres 1942 nicht die von den deutschen Behörden gewünschten Resultate lieferten. Aus diesem Grund verhängten die Besatzer am 14. Januar 1943 einen Hausarrest über den Judenrat von Deventer sowie über die örtliche Polizei, um ungehindert die Juden – die man nun nicht warnen konnte – aus ihren Häusern zu holen. Zwei Tage darauf wurden wiederum Juden festgenommen. Ab dem 10. April 1943 wurde Juden der Aufenthalt in den drei nördlichen und in dreien der südlichen Provinzen, darunter Overijs­ sel (die Provinz, zu der Deventer gehört), untersagt. Durch den Aufbruch der Juden fand die Arbeit des Judenrates in Enschede wie auch die seiner Vertreter in Deventer ein Ende. Wie sich einem späteren Brief entnehmen lässt (dem an Christine van Nooten vom 12. Au­ gust 1943, S. 815), wusste Etty Hillesum nichts von der Auflösung des Judenrates in Deventer. Milli Ortmann-Blankenstein. Am 7. Juli 1943 ‹platzten› die roten und grünen Z-Stempel in Westerbork. Dadurch kamen nun viele Lagerbewohner für einen Transport infrage (Etty Hillesum hatte einen roten ZStempel). Siehe den Brief an Han Wegerif und andere, den Etty Hillesum am 5. Juli 1943 begann. Auch dieser Brief wurde nicht vor dem 9. Juli 1943 verschickt. Keine Informationen bekannt. Wahrscheinlich meint Etty Hillesum Fräulein Gertrud Slottke (Mühle-Mühlental 1902– Stuttgart 1971), eine Agentin des Sicherheitsdienstes, die regelmäßig in Westerbork erschien. Sie befasste sich insbesondere mit den Anfragen für Theresienstadt. Ihre Entscheidungen und ihr Auftreten brachten ihr einen unheimlichen, düsteren Ruf ein. Nach dem Krieg wurde sie zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren verurteilt. Möglicherweise kam ihr eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zu, die Familie Hillesum zu deportieren. Abkürzung für Mischehen. Die Ehefrau des Nervenarztes und Publizisten Abraham Gans (Aalten 1886–Leiden 1971). Louis Hillesum und Abraham Gans waren bereits seit ihrer Studienzeit befreundet. Philip Mechanicus. Sein Name wurde aber im letzten Moment – auch durch den Einsatz von Etty Hillesum – von der Transportliste gestrichen. Im Lagerausweis stand neben den persönlichen Daten der ‹Beruf›, den man im Lager aus­ übte. Da sich mit der Auflösung des Judenrates auch Etty Hillesums Funktion geändert hatte, musste dies entsprechend geändert werden. Etty Hillesum meint hier Matthäus 6,34. Erich August Paul Puttkammer war ein deutscher Prokurist (Einbürgerung als Niederländer 1939) bei einer der Amsterdamer Vertretungen der Rotterdamse Bankvereniging. Bereits vor dem Krieg stand er mit deutschen Juden in Verbindung, die emigrieren wollten. Während des Krieges versuchten die Besatzer, über die Ausreise vermögender Juden Devisen zu er­ werben. Puttkammer fungierte dabei als Mittelsmann. Auf der sogenannten «Puttkam­ merliste» konnte man sich im Tausch für Devisen als Emigrationskandidat registrieren ­lassen. Auf dieser Grundlage erhielt man eine Art Nachweis über die Erfassung, die später – wenn der Antrag positiv beschieden wurde – als Stempel diente. An Puttkammer erfolgte die Bezahlung eines Vermittlungsbetrages, der sich in der Phase 1942 /43 immer weiter er­ höhte. Zu einer tatsächlichen Emigration kam es in keinem der Fälle. Die erste Liste ‹platzte› im Februar 1943. Juden, die für einen Platz auf der Puttkammerliste ihr gesamtes

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Vermögen hergegeben hatten, wurden trotzdem deportiert. Etty Hillesums Mutter ver­ suchte über Christine van Nooten vergeblich, mit ihrem Mann auf diese Liste zu kommen. Wie sich dem obigen Absatz entnehmen lässt, fand dies bei Etty Hillesum keine Zustim­ mung. Anmerkung der Übersetzerin: Abkürzung für Amsterdam-Zuid. Siehe den Brief an Christine van Nooten vom 8. August 1943, S. 811. Diese «Geschichte» stand im Zusammenhang mit den gleichzeitigen Entwicklungen in Ita­ lien: Als Folge der alliierten Landungen auf Sizilien vom 9. Juli 1943 wurde Mussolini auf Befehl von König Viktor Emanuel II. (1869–1947) verhaftet. Die «Vrij-Nederlanders» beteiligten sich an der Herstellung oder Verbreitung der illegal er­ scheinenden Widerstandszeitung Vrij Nederland (VN, «Freie Niederlande»). Für die Vertei­ lung waren Vertreter in verschiedenen Teilen des Landes zuständig. Es gab Beteiligte, die ihre Widerstandsaktivi­täten nicht auf das In-Umlauf-Bringen der Untergrundzeitung be­ schränkten, sondern darüber hinaus Spionage und Sabotage betrieben, Anschläge auf der Besatzungsmacht gegenüber positiv eingestellte Niederländer und Überfälle auf Marken­ verteilungsbüros durchführten und Menschen zu Verstecken verhalfen. Am Abend des 2. August 1943 brannten in der Umgebung des Lagers Westerbork drei Bau­ ernhöfe ab. Zehn Nichtjuden wurden verhaftet und am 3. August 1943 ins Lager gebracht. Als Geiseln schloss man sie in eine Baracke ein und ließ sie von deutschen «Ordnungsdienst»Angehörigen bewachen. (Zum Ordnungsdienst siehe die Anm. 252 auf S. 956 zum Brief vom 24. August 1943.) Am 6. August 1943 besuchte Wilhelm Harster (Kalheim 1904–München 1991) das Lager. Harster, seit Juli 1940 Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in den Niederlanden, war in dieser Funktion sehr maßgeblich an der Verfolgung der niederländischen Juden be­ teiligt. Nach dem Krieg wurde er zu einer Gefängnisstrafe von fünfzehn Jahren verurteilt. Zwischen dem 20. Juli und dem 24. August 1943 fanden keine Transporte statt. Verweis auf das gleichnamige Drama des russischen Schriftstellers Maxim Gorki (1868– 1936). Das Stück spielt unter Armen in einem Nachtasyl. Anmerkung der Übersetzerin: Verschriftlichung der phonetischen Imitation von Niederlän­ disch mit starkem deutschem Akzent. Isidore Spier (Zutphen 1872–Amsterdam 1956) war der Vater des Zeichners Jo Spier und des Notars Eduard Spier. Isidore Spier, ehemaliger Eigentümer eines Geschäfts für Damenmo­ den in Zutphen, zeichnete als Freizeitbeschäftigung. Die niederländische Schriftstellerin Cissy van Marxveldt, mit bürgerlichem Namen Setske de Haan (1889–1948), erreichte mit ihren Mädchenbüchern eine große Leserschaft. Kwikzilver («Quecksilber») erschien erstmals 1926, und zwar mit Illustrationen von Henri Pieck. Erstmals 1919 erschienenes Werk des niederländischen Journalisten und Romanciers Henri van Booven (1877–1964). Henri van Booven ist außerdem der Autor von Tropenwee («Tro­ penweh») (1904) sowie von einigen anderen, deutlich weniger beachteten Romanen, zu ­denen auch De Scheiding gehört. Geschrieben wurde das Buch in der Kriegszeit, zwischen Oktober 1914 und Mai 1919, die erste Veröffentlichung erfolgte in letzterem Jahr. «Gespräche mit Sri Krishna». Möglicherweise: G. H. Mees, De boodschap van Sri Krishna. De dialoog tusschen Sri Krishna en Oeddhava, met een voorwoord van Sri Vishwanath Keskar («Gespräche mit Sri Krishna. Der Dialog zwischen Sri Krishna und Udhava, mit einem Vorwort von Sri Vishwanath Keskar»), Den Haag, Servire, 1931. Wahrscheinlich der Brief an Maria Tuinzing vom 7. und 8. August 1943, S. 806–811. Aus Rilkes Stunden-Buch (1905) zitiert Etty Hillesum vor allem im vierten Tagebuchheft. Anspielung auf Philipper 4,7: der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt. Dr. Willem K. Kraak (Haarlem 1914–Hilversum 2006) studierte in Leiden Altphilologie. Nach der erzwungenen Entlassung von Rektor Hillesum im November 1940 wurde Kraak

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(mit Louis Hillesums Zustimmung) angestellt, um während des laufenden Schuljahres 1940 /41 dessen Stunden zu übernehmen. Kraak, der selbst Amateurcellist war, besuchte in Deventer Konzerte bei der Familie Hillesum und hörte dort auch Mischa Hillesum. Zitat aus Briefe und Tagebuchblätter von Paula Modersohn-Becker, herausgegeben und bio­ graphisch eingeführt von S. D. Gallwitz, Berlin, Kurt Wolff Verlag, 1920, o. S. Benjamin Vleeschhouwer (geboren in Westerbork am 10. 8. 1943) starb zwei Monate später, am 26. Oktober 1943, in Westerbork. Die Vleeschhouwers hatten zwei weitere Kinder: Lies­ beth (Amsterdam 1930–Riesa, Deutschland, 19. 5. 1945) und Hans (Amsterdam 1932–Haifa 2004), der 1956 nach Israel emigrierte. Siehe die Briefe vom 31. Juli und vom 8. August 1943, S. 804–806 und S. 806–811. Die Familie Gelder bestand aus Hartog Gelder (Deventer 1879–Deventer 1949), Reine Gel­ der-van Son (Deventer 1886–Deventer 1983) und Philip Gelder (Deventer 1918–Deventer 1994). Man hatte die drei am 4. August 1943 aus Deventer nach Westerbork gebracht. Har­ tog (Herman) Gelder gehörte in Deventer zu den wichtigen Persönlichkeiten. U. a. war er vierzig Jahre Vorsitzender der dortigen jüdischen Gemeinde. Die Familie stand auf der so­ genannten «Barneveldliste» und wurde am 4. September 1944 nach Theresienstadt transpor­ tiert. Fast als Letzte wurden sie dem 1200 Personen umfassenden Transport hinzugefügt, der im Januar 1945 aus Theresienstadt in die Schweiz fuhr. Im Juni 1945 kehrte die Familie Gel­ der in die Niederlande zurück. Ein Vitamin-B-Produkt auf Hefegrundlage mit hinzugefügtem Gemüseextrakt. F. C. A. Bryan (Schiedam 1878–Epe 1959) war als Psychiater und Neurologe in einer psychi­ atrischen Einrichtung in Deventer tätig. Vgl. oben die Anm. 230 zum selben Zitat im Brief vom 11. August 1943 an Maria Tuinzing. Gemeint ist eines der Lagertagebücher, von denen keines erhalten geblieben ist. Anspielung auf Lukas 14,26. Siehe auch Lukas 18,29. Keine Informationen bekannt. Jet van der Hagen. Der Hausrat abgeholter Juden wurde manchmal von Nachbarn oder anderen aus ihren Häusern geraubt. Den größten Teil brachte man allerdings als für Angehörige des Militärs und Opfer der Bombenangriffe bestimmte sogenannte «Liebesgabe» nach Deutschland. Die Stempel, die ihren Besitzern eine (vorübergehende) Freistellung vom Transport gewähr­ leisten konnten, waren nummeriert. So fielen die Stempel für den Judenrat in die Gruppe «80.000–100.000». Der «120.000-Stempel» war für diejenigen bestimmt, die Diamanten oder andere Kostbarkeiten abgeben konnten. Zu Anfang musste jede Person ab fünfzehn Jahren für einen solchen «120.000-Stempel» ungefähr 20 000 Gulden als Geldbetrag oder in Naturalien bezahlen. Später wurden daraus 30 000 Gulden plus 10 Prozent «Vermittlungs­ kosten». Etwa 1300 Juden besaßen einen solchen «120.000-Stempel». Sie kamen auf eine sogenannte «Austauschliste» und wurden schließlich nach Bergen-Belsen deportiert, was für mindestens ein Viertel von ihnen den Tod bedeutete. Um von der Deportation freigestellt zu werden, versuchte eine Gruppe portugiesischer Ju­ den, über entsprechende Berichte und mit anwaltlicher Hilfe nachzuweisen, es gebe bei ­ihnen kaum ‹semitisches Blut›. Die portugiesischen Juden führten an, sie sollten im Hin­ blick auf ihre ‹Rasse› nicht oder nur sehr bedingt als Juden gelten, weil sie ‹rassenrein› seien, es also nie Ehen zwischen ihren Vorfahren und Juden aus dem hochdeutschen Raum ge­ geben habe. Diese Berichte landeten bei dem deutschen Funktionär H. G. Calmeyer, der beim Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz arbeitete. In seinen Aufgabenbereich fiel die Einordnung der Menschen als Juden oder ‹Arier›. Er entschied, die Angehörigen der oben erwähnten Gruppe seien zu einem Achtel bis zu einem Viertel jüdisch. Gut tausend por­tugiesische Juden versuchten ihre ‹reine Abstammung› nachzuweisen, doch Calmeyer erkannte nur 368 von ihnen eine Sperre zu. Für sie sollte der Judenstern seine Gültigkeit

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verlieren (was implizit «Keine Deportation» bedeutete). Außerdem sollte die Möglichkeit eines Verbringens nach Spanien oder Portugal (also in neutrale Länder) untersucht werden. Anfang 1943 erhielten die 368 portugiesischen Juden einen Stempel, der eine vorläufige Frei­ stellung vom Transport bedeutete. Vor Ende Juni 1943 wurden 78 von ihnen allerdings doch deportiert. Nach der Abholaktion in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1944 wuchs die portugiesische Gruppe in Westerbork auf etwa 300 Personen an. SS-Hauptsturmführer Willi Zöpf und SS- Sturmbannführer Herbert Aust entschieden nach einem Besuch in Wes­ terbork, es könne nicht bewiesen werden, dass es sich bei der portugiesischen Gruppe um Nichtjuden handle. Mit zwei Transporten (Ende Februar und Anfang April 1944) verbrachte man die gesamte portugiesische Gruppe nach Theresienstadt. Fast alle Betroffenen starben später in Auschwitz. Leonie Snatager. Am 1. Oktober 1945 schrieb Han Wegerif über diesen Brief Folgendes an Leonie Snatager: «Ich habe ihn noch einmal gelesen und war wieder sehr beeindruckt, sowohl vom Inhalt als auch von der Form. Köstlich z. B. die Darstellung dieses Kommandanten von Westerbork mit seinen Hofnarren Ehrlich und Rosen! Und dann diese nüchternen Beschreibungen der Menschen in diesen Baracken. Kein einziges Wort zu viel und keine Sentimentalität, und gerade dadurch mit einem solchen Effekt auf die Gefühle.» Der Historiker J. Presser ließ sich von den beiden im Untergrund gedruckten Briefen Etty Hillesums zu seiner Novelle De Nacht der Girondijnen inspirieren (Amsterdam, Meulenhoff, 1957, 6. Auflage 1984; 1959 als Die Nacht der Girondisten in der Übersetzung von Edith Rost-Blumberg als Teil eines rororo-Taschenbuchs erschienen). Siehe auch die Anm. zum Brief an zwei Schwestern in Den Haag von Ende Dezember 1942 (Anm. 87 auf S. 938 f.). Weiter unten in diesem Brief (S. 830) berichtet Etty Hillesum, sie habe sich an jenem Mor­ gen unauffällig in eine Baracke gegenüber dem Zug begeben. Das stellte eine Übertretung der Lagerverordnung Nr. 8 dar, die unbefugten Personen am Morgen eines Transports das Verlassen des ihnen zugewiesenen Aufenthaltsortes untersagte. So erklärt sich Etty Hille­ sums Verhalten. Etty Hillesum meint: «Und Gott schuf den Menschen als sein Bild» (Genesis 1,27). Herman Boasson. Die Flüge der Alliierten fanden ab Ende 1943 und vor allem 1944 statt. Zu Anfang geschah dies vor allem abends und nachts, im Schutz der Dunkelheit. Später führten die Alliierten auch tagsüber zahlreiche Flüge durch. Dieser hoffnungsvolle Gedanke sollte sich nicht nur für die Insassen des Lagers Westerbork, sondern auch für Zehntausende andere in Konzentrationslagern als Illusion erweisen. Nach dem Krieg stellte das Ausbleiben alliierter Bombenangriffe auf strategisch wichtige Punkte (Lager, Krematorien, Gleise) ein wichtiges Thema in der Debatte dar. Ein früherer Brief Etty Hillesums mit einer Erwähnung der Russin Lubotschka, über die ansonsten nichts bekannt ist, ist nicht erhalten geblieben. Der Ordnungsdienst (OD) bildete in Westerbork die Dienststelle 111. Er wurde wohl bereits im März 1942 zusammengestellt, als noch der niederländische Kommandant Jac. Schol die Lagerleitung innehatte. Eine Art Lagerpolizei sorgte in dieser Zeit für Ruhe und Ordnung. Im April 1943 bestand der OD aus 182 niederländischen und deutschen Juden, im Februar 1944 war deren Anzahl auf 67 gesunken. Was die Strenge gegenüber ihren jüdischen Lager­ genossen betraf, standen die OD-Mitarbeiter der Grünen Polizei in nichts nach. Manche von ihnen verrieten aus Fanatismus ihre Schicksalsgenossen. Philip Mechanicus bezeichnet den OD in seinem Tagebuch als «jüdische SS» (vgl. S. 28 in der Übersetzung von Jürgen Hillner, 1993). Der OD in Westerbork musste bei der Abfahrt der Deportationszüge dafür sorgen, dass die Aufgerufenen mit ihrem Gepäck pünktlich an den Zügen eintrafen. Die mit grünen Overalls bekleideten OD-Mitarbeiter brachten selbst Alte und Kranke zu den

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Zügen. Sie sperrten die Zugänge zum Bahnsteig ab und formierten sich zu einer Menschen­ kette. (Wenn jemand flüchtete, zog die deutsche Leitung den OD zur Verantwortung.) Die Angehörigen des Westerborker OD wurden außerdem mehrfach bei Razzien im Land ein­ gesetzt, etwa bei der Räumung der psychiatrischen Klinik Het Apeldoornsche Bosch und bei der großen Razzia vom 20. und 21. Juni 1943 in Amsterdam. Von den Lagerbewohnern intern häufig mit «FK» abgekürzt. Die Fliegende Kolonne unter­ stand eine Zeit lang der Dienststelle VI (dem Außendienst). Dieses Corps war verhältnis­ mäßig klein: In der Phase 1942 /43 umfasste es 80 bis 120 Mann, nach September 1943 60, schließlich nur noch 25, und im September 1944 verschwand es ganz. Die wichtigste Auf­ gabe der Fliegenden Kolonne bestand in der Unterstützung beim Transport des Gepäcks zu den bereitstehenden Deportationszügen. Dafür standen der Kolonne große Schubkarren zur Verfügung. Nicht einzuordnen. Bevor Erich Ziegler im Dezember 1942 nach Westerbork kam, hatte er zusammen mit Willy Rosen die Musik für viele Revuen geschrieben. Nachdem ein großer Transport im Mai 1943 einige hauptberufliche Künstler ins Lager gebracht hatte, begann der Aufstieg des Kabaretts in Westerbork. Erich Ziegler wurde der Pianist der Bühne Lager Westerbork. Philip Mechanicus. Im Jahr 1943 war Dr. Hans Ottenstein (Nürnberg 1902–New York 1986) Chef der Antrags­ stelle. Ottenstein war 1933 in die Niederlande geflüchtet und im Januar 1942 nach der Eva­ kuierung der Hilversumer Juden in Westerbork eingetroffen. Erfolgreiche Nummer der Andrew Sisters aus dem Jahr 1937, die seitdem von zahlreichen Künstlern ganz unterschiedlicher Ausrichtung in Coverversionen präsentiert worden ist. Die Theaterschauspielerin Camilla Spira (Hamburg 1906–Berlin 1997) war nach der Reichs­ pogromnacht in die Niederlande emigriert. Im Jahr 1942 wurde sie mit ihrem Mann, dem Juristen Dr. Herman Eisner, nach Westerbork deportiert. Dort gehörte sie zur Bühne Lager Westerbork. Im Jahr 1947 kehrte das Ehepaar nach Berlin zurück. Dischner bzw. Gemmeker. Heinz Todtmann (1908–1974), ein getaufter deutscher Jude und ehemaliger Journalist. Todt­ mann stand an der Spitze der internen Lagerorganisation. Er galt als Gemmekers rechte Hand und war offiziell der Chef aller Dienstleiter. Ihm unterstanden die zwölf (später sechs) selbstständigen Dienstabteilungen («Dienstbereiche»). Todtmann war nicht so gefährlich wie Schlesinger: Er war weniger fähig, zugleich jedoch ebenso korrupt und überaus emp­ fänglich für weibliche Reize. Bei der Befreiung des Lagers Westerbork am 12. April 1945 wurde Todtmann in Haft genommen. Der «Boulevard des Misères», die Hauptstraße des Lagers Westerbork, verlief parallel zu dem Bahnsteig, von dem aus die Züge in den Osten abfuhren. Er durchlief das Lager von West nach Ost. Wenn der üblicherweise am Dienstagmorgen aufbrechende Zug bereits am Montagabend bereitstand, ergab sich durch den Boulevard des Misères eine deutlich sicht­ bare Zweiteilung des Lagers. Kurt Schlesinger. Wahrscheinlich meint Etty Hillesum ein Bücherpaket von Christine van Nooten. Mischa Hillesum arbeitete im Badehaus von Westerbork. Ansonsten genoss er wegen seiner Fähigkeiten als Pianist einige Privilegien. Die Familie E. Adelaar aus Deventer, von der ein Sohn die Deportation überstand, und die Familie R. Adelaar, ebenfalls aus Deventer, von der zwei Töchter das Konzentrationslager überlebten. Abraham Jacob Frank (’s-Graveland 1909–Auschwitz 1944) und seine Ehefrau Hertha Regina Frank-Schmidt (Frankfurt a. M. 1907–Auschwitz 1943). Das Schicken von Päckchen hatte

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keinen Sinn mehr, da die beiden in dieser Woche deportiert worden waren. Zwei Tage nach Etty Hillesums Zeilen brachte man Hertha Frank-Schmidt in Auschwitz um. Möglicherweise ist der Brief vom 24. August 1943 gemeint. Keine Informationen bekannt. Gemeint ist das kleine Büro, in dem die Westerborker Abteilung des Judenrates unter­ gebracht war. Die Vorstellung fand in dem großen Saal statt, in dem die Lagerleitung die Selektionen für die Transporte durchführte. Als Termin wählte man vorzugsweise den Abend der Transporttage. «Gemmekers Hoftheater» muss perfektes Kabarett abgeliefert h ­ aben. Nicht nur gehörten die beteiligten Künstler zu den Besten ihres Metiers, auch die Ausstattung wie etwa die Beleuchtung war ausgezeichnet. Die letzte Vorstellung der «Bühne Lager Westerbork» datiert vom Juli 1944 und trug den passenden Titel «Total verrückt». Die Assener Synagoge stammte aus dem Jahr 1832 und wurde im Juli 1901 renoviert und neu eingeweiht. Am 2. Oktober 1942 wurden so gut wie alle der fünfhundert Juden aus Assen über Westerbork nach Polen deportiert. Nur elf gelang das Untertauchen, und einer kehrte aus dem Lager zurück. Die Synagoge blieb verschont und wurde nach dem Krieg verkauft. Anmerkung der Übersetzerin: Paljasso = Zirkusclown. Hilde Cramer arbeitete wie Etty Hillesum für den Judenrat in Westerbork. L. Levie-Friedland (Stettin 1875–Auschwitz 1943) verließ am 27. März 1941 trotz Werners Warnungen das Haus, um beim Bäcker um die Ecke eine Torte für seinen Geburtstag zu besorgen. Bei einer Straßenrazzia wurde sie mitgenommen und direkt ins Lager Westerbork gebracht. Anfang September 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert, wo sie fast unmittel­ bar nach ihrer Ankunft umkam. Eine Woche nach ihrem Transport erfolgte der der Familie Hillesum. Außer an Christine van Nooten hat Etty Hillesum auch eine Briefkarte an die Gruppe in der Gabriël Metsustraat in Amsterdam geschrieben und aus dem Transportzug geworfen. Diese Briefkarte ist verschollen, ihr Inhalt ist jedoch aus einem Brief Maria Tuinzings be­ kannt (siehe den Brief von Maria Tuinzing an Christine van Nooten vom 9. September 1943). Auf Niederländisch: «de Heere is mijn hoog vertrek», also wörtlich: «der Herr ist meine hohe Kammer»; hier etwas freier: «der Herr ist meine sichere Burg». Die Gleichsetzung Gottes mit einer sicheren Burg findet sich mehrmals in den Psalmen, etwa in Psalm 18,3 oder mehrfach in Psalm 46, an den sich auch Luthers Choral «Eine feste Burg ist unser Gott» anlehnt. Auch Jopie Vleeschhouwers Darstellung ist zu entnehmen, dass die Deportation der Familie Hillesum aufgrund einer plötzlichen Order aus Den Haag erfolgte (siehe seinen Brief an Han Wegerif und andere vom 6. / 7. September 1943, S. 852–855). Mechanicus schrieb dazu: «Am Montag traf völlig unerwartet aus Den Haag der Befehl ein, daß Mischa Hillesum mit seinen Verwandten auf Transport gehen müsse. Der Kommandant vermutete, daß die ganze Familie verschwinden sollte. Da gab es nicht die geringste Einflußmöglichkeit mehr. Was hinter der Intervention Den Haags steckt, weiß man nicht genau, doch vermutlich hat Hillesum, wie man hier sagt, seine Sache ‹totgearbeitet›, wie auch so mancher andere vor ihm, der seine Position über Den Haag stärken wollte» (Im Depot, Übersetzung von Jürgen Hillner, 1993, S. 188). Letzten Endes war also Gemmeker dafür verantwortlich, dass nicht nur Mischa Hil­ lesum und seine Eltern auf Transport gehen mussten, sondern auch Etty Hillesum deportiert wurde – allen Bemühungen Etty Hillesums und ihrer Bekannten zum Trotz, ihren Verbleib in Westerbork zu erwirken. Der Anwalt Benno J. Stokvis, ein guter Bekannter von Etty Hil­ lesum und ihrer Familie, schrieb über den Befehl aus Den Haag Folgendes: «Der junge Pia­ nist befand sich mit seinen Eltern im Lager Westerbork. Mengelberg selbst hatte schriftlich bezeugt, dieses Genie dürfe nicht verloren gehen. Die kleine Familie lebte ­‹gesperrt› in rela­ tiver Sicherheit – bis zu dem Moment, in dem die Mutter der unselige Gedanke überkam, einen Brief zu schreiben, einen Brief an Rauter, mit der unterwürfigen Bitte um ein wenig

zu Seite 836–848 mehr Bewegungsfreiheit. Ein Brief einer Jüdin an Rauter! Es war ‹unvorstellbar›: Eine Jüdin wandte sich schriftlich an den SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei, Rauter, die Personifizierung arischen Heldentums, dessen Finger förmlich durch das Berühren des Papiers besudelt wurden. ‹Unvorstellbar›. ‹Grauenhaft›. ‹Ein Verbrechen›. ‹Sofort ver­ schicken nach Osten›. Das Telegramm traf wenige Minuten vor der Abfahrt des Transports aus Westerbork ein. Gerade noch rechtzeitig. Innerhalb einer Stunde konnte der Lagerkom­ mandant dem Brigadenführer ‹gehorsamst› melden: ‹Verschickt nach Osten›» (aus Benno J. Stokvis, Advocaat in Bezettingstijd («Anwalt in der Besatzungszeit»), Amsterdam, Polak & Van Gennep, 1968, S. 95 f.). Mit dem Transport vom 7. September 1943 wurden insgesamt 987 Menschen (darunter 170 Kinder) aus Westerbork nach Auschwitz g­ ebracht. Ein Teil der Männer musste die Schuttreste des Warschauer Ghettos beseitigen. Die eingesetzten Frauen hatten so schwere Arbeit zu verrichten, dass ihre ‹Lebensdauer› auf maximal zwei Monate geschätzt wurde. Nur acht Menschen haben diesen Transport überlebt. 278 Wahrscheinlich der Brief vom 24. August 1943 (siehe S. 822–834). Briefe an Etty Hillesum 1 Louis Hillesum, der offensichtlich Mischa Hillesum in der psychiatrischen Klinik Het Apel­ doornsche Bosch besuchte, unterzeichnete Briefe an seine Kinder immer mit «πere», «père» (Vater), geschrieben mit dem «π» aus dem griechischen Alphabet. 2 Joseph (Joop) van Santen (1908–1992), Aimé van Santens Bruder. 3 Aimé van Santens Vor- und Nachname in russischer Übersetzung. 4 Etty Hillesum beantwortete diesen Brief am 25. Juni 1942 (siehe S. 713–717). 5 Griechisch: Unbeirrbarkeit. 6 Abkürzung für das Krankenhaus Nederlandsch-Israëlietisch Ziekenhuis. 7 Ein Hinweis auf die Sperrstunde. 8 Russisch: einen dicken Kuss, Mutter. 9 Rebecca Hillesum meint wahrscheinlich ein Pogrom, das sie im Alter von siebzehn Jahren miterlebte. 10 Etty Hillesum arbeitete damals im Büro des Judenrates an der Lijnbaansgracht, wo sie sich alles andere als wohlfühlte. 11 Der Psychiater Dr. A. Waterman gehörte zum Ärztlichen Dienst in Westerbork. Über ihn ist bekannt, dass er manchmal Menschen für eingeschränkt zurechnungsfähig erklärte, sodass sie in eine psychiatrische Einrichtung geschickt wurden und auf diese Weise zumindest vor­ läufig vor dem Transport bewahrt blieben. 12 Wahrscheinlich Jacob Postma (Wanneperveen 1922–unbekannt 2007). Am 16. Mai 1945 ­wegen Hilfeleistung an den Feind entlassen. 13 Der Nervenarzt und Psychoanalytiker Dr. J. Spanjaard (Utrecht 1913–Haarlem 1985) war zu dieser Zeit Assistenzarzt und behandelte Mischa Hillesum. Er ließ seinen Bechstein-Flügel in den Gruppenraum bringen, damit sich Mischa Hillesum weiterhin der Musik widmen konnte. 14 Siegfried (Frits) Lobstein (Apeldoorn 1916–Auschwitz 1943) war der Sohn von Dr. Jacques Lobstein (Borculo 1883–Tröbitz 1945), dem medizinischen Direktor der Nervenklinik Het Apeldoornsche Bosch, und ein Freund von Etty, Jaap und Mischa Hillesum. Er studierte Medizin und arbeitete als Krankenpfleger in Het Apeldoornsche Bosch. Nach der Räumung der Einrichtung im Januar 1943 gehörte Frits Lobstein zu den fünfzig Personen des Pflege­ personals, die – in einigen Fällen freiwillig – die beinahe 1100 Patientinnen und Patienten

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Anmerkungen

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auf dem Transport begleiteten. Mit einem speziellen Zug brachte man sie direkt nach Auschwitz. Dort wurden die Kranken direkt vergast. Das mitgereiste Personal wurde wenig später ermordet. Die Nervosität unter den Menschen nahm zu, weil sich «die Lage» deutlich erkennbar ver­ ändert hatte: Ab dem 2. Februar 1943 fuhr nämlich jede Woche am Dienstagmorgen ein Zug in Richtung Polen ab. An dem Tag, als Vleeschhouwer den vorliegenden Brief schrieb (am 26. Februar 1943), war das bereits vier Mal der Fall gewesen. Die Menschen im Lager erfassten allmählich den «Deportationsrhythmus» und fürchteten sich vor dem Tag, an dem sie selbst an die Reihe kommen würden. Was hier gemeint ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. In Baracke 37 befanden sich dem von dem Architekten A. V. Hartogh gezeichneten Lagerplan zufolge Wohnungen und ein Saal für Mädchen. Bei «k» handelt es sich wahrscheinlich um eine genauere Bezeichnung einer bestimmten Stelle in der Baracke (möglicherweise eine Bettnummer oder ein Fach). Ellen Waller (Sofia 1911–Amsterdam 1995), Journalistin und Filmrezensentin, kam 1923 in die Niederlande. Über Westerbork wurde sie nach Bergen-Belsen deportiert. Zusammen mit ihrem Mann überlebte sie das Lager. Gemeint ist hier Friedrich Weinreb. Am 19. Januar 1943 wurde er vom Sicherheitsdienst (SD) verhaftet. Möglicherweise Joseph Peper (Amsterdam 1921–Auschwitz 1944). Gerard Polak (Amsterdam 1912–Jerusalem 2004) lernte Etty Hillesum kennen, als sie bei seiner Mutter in der Wouwermanstraat 16 ein Zimmer bezog, in dem sie ungefähr vier ­Monate wohnte. Polak befand sich in Westerbork, hatte jedoch die Erlaubnis für Reisen nach Amsterdam. Dort tauchte er 1943 unter und überlebte auf diese Weise den Krieg. Im Jahr 1970 emigrierte er nach Israel. Zu dieser Zeit wohnte Vleeschhouwers Familie noch in Amsterdam. Jopie Vleeschhouwer hatte offensichtlich nicht die Erlaubnis erhalten, zum Geburtstag seines Sohnes Hans dort­ hin zu fahren. Dr. Juda Elisa Vleeschhouwer (1896–1973), Ökonom, war bedeutender Ideologe der Mizra­ chisten. Er veröffentlichte Zionisme en wetsgetrouw Jodendom. Eene uiteenzetting van Mizra­ chistisch standpunt («Zionismus und gesetzestreues Judentum. Eine Abhandlung aus mizra­ chistischer Perspektive»), Arnheim, N. Z.B., 1917. Er wurde nach Bergen-Belsen deportiert. Nach dem Krieg emigrierte er nach Israel, wo er auch starb. Ies Spetter (Den Haag 1921–New York 2013) entschloss sich nach einem kurzen Aufenthalt in Westerbork zur Flucht in die Schweiz. Zusammen mit seiner Frau Suze Turksma (Utrecht 1921–Auschwitz 1944) und seinem Kind sowie einem anderen jungen Ehepaar wurde ihm im März 1943 jedoch von den Schweizer Grenzbehörden die Einreiseerlaubnis verweigert. ­Einige Zeit später schlossen sie sich einer Gruppe auf einer Fluchtroute von Brüssel nach Spanien an. Nach einem Verrat erfolgte am Fuße der Pyrenäen die Verhaftung. Die Juden in der Gruppe wurden nach Auschwitz geschickt. Ies Spetter, der einzige Überlebende, emi­ grierte 1950 in die Vereinigten Staaten. In einem Bericht von Ies Spetter über seine Erfah­ rungen während des Krieges aus dem Jahr 1946 heißt es: «Gemeinsam mit einer Freundin, Mr. Hillesum, gelang es mir, einige Kinder aus dem Lager zu schmuggeln. Meine Frau holte sie ab und half ihnen auf ihrem weiteren Weg.» Etty Hillesum war also direkt an Wider­ standsaktivitäten in Westerbork beteiligt. Möglicherweise der Brief an die beiden Schwestern in Den Haag von Ende Dezember 1942. Vleeschhouwer bekam manchmal auch Briefe von Etty Hillesum zu sehen, die nicht an ihn gerichtet waren (siehe seinen Brief an Han Wegerif und andere vom 6. / 7. September 1943, S. 854).

zu Seite 848–856 Briefe über Etty Hillesum 1 Lagerbewohner mit einem roten Z-Stempel, siehe Anm. 148 auf S. 945 und Anm. 159 auf S. 948. 2 Kurt Schlesinger. 3 Siehe den Brief an Han Wegerif und andere vom 24. August 1943. 4 Lubotschka. 5 Maria Tuinzings Vater. Neben dem Brief von Jopie Vleeschhouwer an Han Wegerif und andere vom 6. / 7. September 1943 und dem Brief von Maria Tuinzing an Christine van Noo­ ten vom 9. September 1943 gibt es zwei weitere Briefe, in denen Etty Hillesums Abreise aus Westerbork beschrieben wird. Der eine, verfasst von Philip Mechanicus, befand sich im Besitz von Maria Tuinzing, ist jedoch nicht erhalten geblieben. Darin hat Mechanicus wohl geschrieben, Etty Hillesum sei froh gewesen, «sich im selben Zug zu befinden wie ihre ­Eltern und Mischa». Der andere Brief stammt von Jopie Vleeschhouwer und ist an Chris­ tine van Nooten gerichtet. Es handelt sich um eine verkürzte Version seines Briefes an Han Wegerif und andere vom 6. / 7. September 1943. 6 Diese Briefkarte ist nicht erhalten geblieben. 7 Jopie Vleeschhouwer. Das Fragezeichen hat wahrscheinlich R. W. Tuinzing hinzugefügt. 8 Diese Abschiedskarte, die wohl an alle Bewohner des Gabriël-Metsu-Hauses gerichtet war, ist nicht erhalten geblieben. Christine van Nooten bekam eine ähnliche Briefkarte. Diese wurde ebenfalls zum größten Teil von Etty Hillesums Mutter beschriftet. Auf der Seite mit dem Adressfeld fügte Etty Hillesums Vater noch einige Worte hinzu. Groningen 7–9-43 Liebe Christine, wir sitzen zu viert im Zug und sind schon in der Nähe von Nieuwschans. J. [Jaap] ist noch in A.[d]am. Unternimm unseretwegen nichts mehr. Herzliche Grüße an alle, die sich für uns eingesetzt haben. Jetzt kann man sich nicht mehr für uns einsetzen. Schreib unserem J. ins J. I. [das Krankenhaus Joodsche Invalide] in Asd. Schreib ihm, dass wir in völliger Ruhe aufgebrochen sind. Nochmals danke für alles und herzliche Grüße an alle eure R. H.B. [Seite mit Adressfeld:] Bitte einwerfen! Plurimam salutem dico vobis et omnibus necessariis. [Latein: Ich grüße euch und alle Lieben sehr.] Diese (mit Bleistift beschriftete) Briefkarte wurde kurz darauf an den Gleisen gefunden; sie trägt den Poststempel «8.ix.43». Der Ortsname endet mit «-oek» – Zuidbroek? 9 Aller Wahrscheinlichkeit nach der Brief an Maria Tuinzing vom 2. September 1943; das ­Telegramm ist nicht erhalten geblieben. 10 Wahrscheinlich Anne-Marie van den Bergh-Riess, eine Freundin von Swiep van Wermes­ kerken. Ihr illegaler Brief ist nicht erhalten geblieben. 11 Han Wegerif.

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BILDNACHWEIS

Bildnachweis

J. van Dyck / Stadtarchiv, Amsterdam: Tafel 16 unten Jüdisches Museum, Amsterdam: Frontispiz, Tafel 1, 4 oben, 5, 6, 7, 9, 9, 11, 12, 13, 14 oben, 15, 17, 21, 22, 23, 24, 25, 29, 30, 31, 32

VERZEICHNIS DER BRIEFE

Verzeichnis Briefe Briefe von Etty der Hillesum

Briefe von Etty Hillesum an Gera Bongers

6. Februar 1942: S. 708–710 Hes Hijmans und andere

24. August 1942: S. 719–724 Netty van der Hof

25. Juni 1942 (Fragment?): S. 713–717 Osias Kormann

14. August 1942: S. 718; 18. August 1942: S. 719; 15. September 1942: S. 726; 22. September 1942: S. 726–727; 28. September 1942: S. 727–728; 4. Oktober 1942: S. 729–730; 9. Oktober 1942: S. 730–731; 28. Oktober 1942: S. 731–732; 4. November 1942: S. 733–734; 15. November 1942: S. 734–735; zwischen 22. und 26. Dezember 1942: S. 739–741; 16. Januar 1943: S. 756; 21. Januar 1943: S. 757; 4. Februar 1943 (Fragment): S. 758; nach dem 4. Februar 1943: S. 758–759; 21. Februar 1943: S. 759; 24. März 1943: S. 760; Frühjahr 1943 (?): S. 761; Frühjahr 1943: S. 762; 8. April 1943: S. 762–763; 5. Mai 1943: S. 763–764; 28. Mai 1943: S. 764–765 Klaas Kort

Februar 1942: S. 711 (Übersetzung des Briefes aus dem Russischen auf der Grundlage der Übertra­ gung ins Niederländische von Betty van Luin) Mien Kuyper

3. September 1943: S. 840 Hans Lakmaker

Vor 1940 (?): S. 699; 25. Januar 1942: S. 707 Christine van Nooten

21. Juni 1943: S. 772–773; 26. Juni 1943 (Poststempel): S. 773–774; 1. Juli 1943: S. 781–785; 5. Juli 1943 (Poststempel): S. 788–789; 8. Juli 1943: S. 797–799; vor dem 31. Juli 1943: S. 804–806; 8. Au­ gust 1943: S. 811–812; 12. August 1943: S. 815–816; 19. August 1943: S. 820; 24. August 1943: S: 835; 27. August 1943: S. 836; 1. September 1943: S. 836–837; 4. September 1943: S. 840; 7. September 1943: S. 840–841

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Verzeichnis der Briefe Milli Ortmann

21. Juni 1943: S. 771–772; 29. Juni 1943: S. 779–780; 6. Juli 1943: S. 796–797; 8. Juli 1943 (?): S. 800; 9. Juli 1943: S. 801–802 Aimé van Santen

25. Januar 1942: S. 704–707 Johanna und Klaas Smelik und andere

3. Juli 1943: S. 785–788 Julius Spier

5. August 1941 (?): S. 700; Anfang August 1941 (?) (Fragment): S. 700–701; 26. August 1941 (Frag­ ment): S. 702; 16. April 1942: S. 711–713; Juli 1942 (?): S. 717–718 Hanneke Starreveld

Nach 1941: S. 702–704 Henny Tideman

11. September 1942: S. 724–725; 18. August 1943: S. 817–818 Maria Tuinzing

5. Juni 1943: S. 765; Mitte Juni 1943: S. 770–771; 10. Juli 1943: S. 802–803; Juli 1943 (Fragment): S. 804; 7.–8. August 1943: S. 806–811; 11. August 1943: S. 812–814; 2. September 1943: S. 837–840 Han Wegerif und andere

23. November 1942: S. 735–736; 29. November 1942: S. 737–739; 7. Juni 1943: S. 766–768; 8. Juni 1943: S. 769–770; nach dem 26. Juni 1943 (Fragment): S. 775–778; 29. Juni 1943: S. 780–781; 5.– 9. Juli 1943: S. 789–795; nach dem 18. August 1943 (Fragment): S. 818–820; 22. August 1943 (Frag­ ment): S. 820–822; 24. August 1943: S. 822–835 Swiep van Wermeskerken

28. oder 29. November 1942: S. 736–737; 9. Juli 1943 (Poststempel): S. 800; 14. August 1943: S. 817 Zwei Schwestern in Den Haag

Ende Dezember 1942: S. 741–755

PERSONENREGISTER Von Pierre Bühler Personenregister

Bei Personen, die von Etty Hillesum mit ihrem Vornamen genannt werden, ist der Vorname mit Verweis auf den Nachnamen ins Register aufgenommen. Wenn der Nachname unbekannt ist, finden sich die Seitenzahlen direkt hinter dem Vornamen. Seitenzahlen können auch auf Werke oder Zitate von Personen verweisen, ohne dass diese an der Stelle namentlich genannt sind. Kur­ sive Seitenzahlen verweisen auf die Anmerkungen, meist auf Erläuterungen zu den Personen, teils auch auf deren Werke. Abélard, Pierre  236 f., 273, 894 Abrascha  25, 63, 76, 867 Achterberg, Gerrit  909 Acton, Harold  899 Adelaar, Familie E.  836, 957 Adelaar, Familie R.  836, 882, 957 Adelaar, R. 953 Adelaars siehe Adelaar, Familie E. und Adelaar, Familie R. Adler, Alfred  32 f., 65, 70, 870 f. Adpana  383, 391, 405, 907 Adri siehe Holm, Adriana Joanna Ahlfeld, Werner  257, 897 Alcoforado, Marianna  476, 914 Alice Levie siehe Levie, Liesl Ammers-Küller, Jo van  308, 903 Andersen, Elisabeth 891 Andreas, Friedrich Carl 895, 914 Andreas-Salomé, Lou  396, 412 f., 478, 568, 871, 876, 895, 911, 914, 920 Anna  30, 870 Arendonk, C. van  81, 878 Arvers, Félix  252, 896 Asscher, Abraham 925 Augustinus  160, 473, 477, 487, 490, 492, 508, 517, 554, 566, 692, 886, 915, 932 Aust, Herbert 956 Bach, Johann Sebastian  105, 241, 392, 507, 889, 895, 926 Bading, H. 869

Bakunin, Michail Alexandrowitsch  927 Barrett-Browning, Elisabeth  187, 888 Bart  304 Baudelaire, Charles  305 Becker, Bruno Borisowitsch  83 f., 159, 201, 305, 313, 376, 433, 532, 547, 689, 869–871, 879, 885 f., 901–903, 905 Beethoven, Ludwig van  88, 266 f., 276, 282, 323 f., 363, 398, 412, 508, 659, 831, 899 Beets, Nicolaas  893 Behr, B.  953 Bender, Hermina Geertruida (Mien)  360, 906 Beppie  462, 914 Bergh, George van den  82, 878 Bergh, Herman van den  945 Bergh-Riess, Anne-Marie van den  775, 792, 808, 813, 819, 821 f., 837, 856, 945, 961 Bernstein, Jacob  897 Betz, Maurice  232, 238 f., 246, 250, 252, 276, 325, 347, 894–896, 900, 905 Birenhak, Mozes  732, 932, 936 Birenhak-Keller (Bierenhack), Perla Laja  695, 732, 932 f. Bloem, Jakobus Cornelis  78, 877 Blumenthal-Weiss, Ilse  316, 318, 334, 342, 350, 394, 781, 904, 949 Boasson, Herman  768, 789, 792, 823, 943, 956 Boccaccio, Giovanni  160, 886 Bodenheimer, Familie  674, 930 Bonger, Willem Adriaan  82–84, 878 Bongers, Familie  116, 881 f., 919

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Personenregister Bongers, Gerharda Johanna (Gera)  94, 117, 152, 201, 211 f., 229, 622 f., 708–710, 795, 844, 880, 882, 884, 919, 935, 952 Bongers, Louise Gerharda Jacoba (Loes)  708, 872, 880 Bongers, Maria Antoinetta (Riet)  140, 446, 451, 884, 890 Bool, Johan Melchior (Jan, Joop)  85, 102, 314 f., 334, 879 f., 904 Booven, Henri van  809, 954 Bordewijk, Ferdinand  294, 901 f. Bosboom, M.  925 Botticelli, Alessandro di Mariano Filipepi  214, 892 Braak, Menno ter  82, 191, 878, 890 Brabander, Gerard den  909 Brahms, Johannes  234, 894 Brand, C. W. L.  907 Brand, J. H.  224, 893 Brouwer, Johan  795, 952 Bruggen-de Haan, Carolina Lea (Carry) van  133, 883 f. Bryan, F. C. A.  816, 955 Buber, Martin  224, 893 Buchman, Frank  887, 910 Buddha  599 Bulgakow, Michail Afanassjewitsch  877 Busoni, Ferruccio  889 Busse, Dr.  896 Cahen, Cato siehe Vleeschhouwer-Cahen, Cato Cahen, Ella  257, 897 Calmeyer, H. G.  955 Carl siehe Fransen, Carl Carlebach, Joseph  858 Casanova, Giovanni Giacomo  492, 915 Cats, Alfred  256, 896 f. Cézanne, Paul  568, 573, 920 Chambers, Oswald  538, 918 Chopin, Frédéric  302, 889, 893 Claartje siehe Mesdag, Clara van Cleveringa, R. P.  877 Cohen, David  795, 896, 920, 925 Cohen, Gertrud Gotthelf (Trude)  255, 257, 570, 845, 896–898, 920 Cohen, Jacques (Jacob)  896 f. Cohen, Johan  953 Cohen, Rudolf Ephraim (Ru)  672, 674, 896 f., 930

Cor siehe Glassner, Evaristos Couperus, Louis  901 Cramer, Hilde  839, 849, 958 Creveld, E. van 883 Cronheim, Paul  738 f., 938 Daan (Daantje) siehe Sajet, Daan D’Aarnals  874 D’Annunzio, Gabriele  887 Dante, Alighieri  622, 628 Dassow, Alfred  249, 896 Davids, Henriëtte (Heintje)  401, 908, 910 f., 920 Davids, Louis  910 Debussy, Claude Achille  889 Deken, Aagje  941 Deppner, E.  931, 940 Descartes, René  194, 890 Dicky (Dirkje) siehe Jonge, Dicky de Diebold, Bernhard  40 f., 871 f. Diepenbrock, Alphons  904 Dietrich, Marlene  290, 901 Dischner, J. H.  833, 931, 957 Doornink, Martinus van  949 f. Dostojewski, Fjodor Michailowitsch  45, 48, 81, 109, 135 f., 158, 166, 225, 232 f., 235, 237–239, 246 f., 260, 264, 267 f., 274, 279 f., 284, 301, 305, 357, 394, 396, 402, 473, 487, 608 f., 627, 629, 652, 872, 884, 886 f., 893–895, 898, 901, 909 Douwes Dekker, Eduard (Multatuli)  205, 219, 891, 893 Dresden, Sem  904 Durant, William James (Will)  46 f., 52, 78, 89, 873 Duse, Eleonora  176, 179, 201, 887 Eckhart (Eckehardt), Meister  719, 722, 783, 935, 950 Ehrenburg, Ilja  945 Ehrlich, Max  502, 795, 830, 915, 920, 952, 956 Eichwald  735, 737, 937 Einstein, Albert  868 Eisner, Herman  957 Eldering, Petra (Pim)  939 Elsschot, Willem  902 Emilie siehe Well, Cornélie Pauline Emilie van de Esso, Isaäc van  901 Esso-van Son, Louise van  282, 901

Personenregister Eucalyptus, Eukalyptus siehe Glassner, Evaristos Ewald (Rilkes Freund)  602 Falkenstein, Lieselotte  945 Fein siehe Feinstein, Walter Feinstein, Walter  499, 607, 915 Fichtmüller, Vilma  49, 269, 873, 899 Fischer, Franz  943, 948 Förster, Elisabeth  933 Fr. siehe Fraenkel Frank, Abraham Jacob  957 Frank, Familie  836 Frank, G.  741, 938 Frank-Schmidt, Hertha Regina 957 Fraenkel, Dr.  663, 720–722, 928, 935 Fränkel, Georg  685, 932 Frans siehe Steenhoven, Frans van Fransen, Carl  339 f., 905 Fransen, Käthe  42 f., 183, 193, 224, 229, 231 f., 280, 295, 300 f., 306, 314, 321, 339 f., 357, 389, 394, 409–411, 437 f., 451, 523, 547, 567, 577, 580, 584, 587, 737–739, 767, 770, 780 f., 804, 839, 872 Franziskus von Assisi  145, 688, 885 Fré siehe Lobatto, Frederik August Freud, Sigmund  36 f., 166, 220, 259, 278, 858, 870 f., 879, 882, 905, 914 Friedl  30, 870 Frits siehe Lobstein, Siegfried Fünten, Ferdinand Hugo aus der  578, 920, 948 Furtwängler, Wilhelm  903 Gans, Abraham  953 Gans, M.  801, 953 Gantvoort, H. J.  785, 798, 950 Gast, Peter  914 Gauguin, Paul  160, 886 Geiger, Max Otto  308, 326, 330, 334, 344, 354, 375, 398, 428, 442, 496, 507, 903, 907 Geiger-Sprüngli, H.  308, 354, 377, 507, 903, 907 Gelder, Familie  815, 955 Gelder, Hartog (Herman)  953, 955 Gelder, Philip  955 Gelder, Simon van (Jim)  795, 952 Gelder-van Son, Reine 955 Gelderen, Chr. van  702, 933

Gemmeker, Albert Konrad  745, 795, 801 f., 807 f., 819, 823 f., 830–835, 931, 938, 940, 951, 956–959 Gera siehe Bongers, Gerharda Johanna Gerhardt, Paul  926 Glassner, Evaristos Edgar (Cor, Eucalyptus, Eukalyptus)  227, 282, 302, 323, 348, 364, 368, 377, 394, 428, 439, 500, 507, 568, 570, 780, 796 f., 800, 848, 894, 901, 949 Gneisenau, Mary  476 Goethe, Johann Wolfgang (von)  60, 328, 577, 783, 874, 920, 950 Gogh, Vincent van  205, 214, 256, 415 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch  32, 64, 82, 870 Goldschmidt, Paul  776, 810, 947 f., 951 Goldschmidt-Koppel, Adele  776, 810, 948 Goldstein, Chaja  795, 952 Gorki, Maxim  808, 954 Goya y Lucientes, Francisco José de  415 Grete siehe Wendelgelst-Blankenstein, ­Margarete Gribojedow, Alexander Sergejewitsch  181, 888 Grohs, Sylvia  390, 908, 911 Groot, C. H. (Kees) de  52, 70, 319, 874 f., 933 Groot, Hilligje de  774, 945 Groote, Geert  890 Grünberg, Fritz  741, 938 Guibert, Comte de  916 Güsten, Theo  952 Haan, Jacob Israël de  884 Haan, Setske de siehe Marxveldt, Cissy van Haanen  678, 932 Hagen, Henrica Elisabeth Maria (Jet, Jetje) van der  395–398, 518, 737, 819, 909, 916, 937 Hamburger, Käthe  430, 911 Hammer, Hedda  268–270, 899 Han siehe Wegerif, Hendrik Johannes sen. Hanneke siehe Starreveld, Hanneke Hannes  781, 949 Hans siehe Wegerif, Hendrik Johannes jun. Hansje siehe Lansen, Johanna Maria Harster, Wilhelm  807, 954 Hartogh, A. V.  931, 940, 960 Hartung  899 Haussmann  718, 732 f., 740 f., 935 Hedda siehe Hammer, Hedda Hedin, Sven  899

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Personenregister Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  48, 873 Heiden (Heidin), Konrad  699, 933 Heil-Verver, Frieda Mary (Fri)  135, 883 f. Heine, Heinrich  888, 901, 906 Heleen siehe Querido-Pimentel, Heleen Héloïse  236 f., 273, 894 Henny siehe Tideman, Henny Hermine, Tante  800, 802, 953 Herodes  827 Hertha siehe Levi, Hertha Hesje siehe Hijmans, Hes Hetty E.  294, 314, 326, 334, 366, 369 f., 376, 379, 381 f., 394, 499, 547, 902, 904 Hijmans, Hes (Hesje)  262, 444, 509 f., 642, 719–724, 838 f., 898, 935 Hillesum, Etty passim Hillesum, Familie  880, 882, 924, 935, 944 f., 950, 953, 955, 958 f. Hillesum, Hanna (Hans)  896 f. Hillesum, Jacob (Jaap, Bruder)  129, 159, 189, 192–194, 219, 242, 245, 255, 258, 301, 304 f., 400 f., 484, 570, 611 f., 623, 629 f., 637, 759, 776, 779 f., 784, 791, 798, 806, 842, 845, 847, 870, 875, 883, 896 f., 923, 933, 941, 946, 959, 961 Hillesum, Jeremia Elia  786 f., 950 Hillesum, Jeremias Meier  786 f., 950 Hillesum, Louis (Levie, Vater)  81, 114, 129, 177 f., 192, 212 f., 215–220, 272, 302 f., 313 f., 319, 339, 426, 565, 606, 691, 762, 768, 773–775, 781–785, 788 f., 791 f., 797–799, 803–805, 808, 811–813, 815 f., 836–839, 842, 845, 853, 890, 916, 922, 944, 950, 953–955, 959, 961 Hillesum, Michaël (Mischa, Bruder)  128 f., 179, 183, 189 f., 192 f., 199, 212, 217, 226, 234, 236, 238, 241, 257, 266, 268, 272, 281 f., 302, 314, 319 f., 398–400, 404, 419, 425, 431, 437, 447, 484, 548 f., 565, 568, 570, 584, 606, 608, 611 f., 676, 711–713, 771–780, 782, 793, 796–799, 801 f., 805, 836, 840, 842, 845–848, 852–854, 856, 871, 873, 875, 882 f., 889 f., 893 f., 897, 901, 934, 940, 944, 947, 955, 957–959, 961 Hillesum, Rebecca (Riva, Mutter)  117, 119, 192 f., 198, 212, 273 f., 297, 300, 302, 304 f., 314, 426, 488, 511, 548, 570, 606, 759, 773–775, 777 f., 783, 785, 791 f., 798, 801, 804 f., 816, 836, 845–847, 853, 897, 958 f., 961

Hillesum, Rebecca und Louis (Eltern)  112, 116 f., 128, 212 f., 256, 300, 302, 309, 311, 319 f., 323, 426, 459, 464, 486, 549, 578, 616, 623, 644, 687, 718 f., 768, 771 f., 777–780, 782, 786, 788–791, 793, 796, 798, 801–803, 822, 836, 840, 852–854, 856, 873, 875, 880, 890, 902, 935, 944–947, 951, 953–955, 958 f., 961 Hillie  239, 895 Himmler, Heinrich  944 Hitler, Adolf  613, 858, 884, 904, 933, 937, 945 Hoele (Hulle) siehe Krijn, Jacques Hof, Netty van der siehe Pieridis-van der Hof, Annette Holitscher, Arthur  401, 910 Holm, Adriana Joanna (Adri)  25, 98, 159 f., 177, 212, 229, 302–305, 312, 314, 334, 339, 346, 364, 400, 428, 518, 520, 595, 597, 599, 614, 708–710, 781, 868, 875, 885, 894, 911, 916 Holman (SD-Offizier)  951 Homer  799, 805, 837 Hommerson, Adrianus Henrikus  81, 877 Horowitz, Familie 882 Horváth, Ödön von  204, 891 Houthakker, Bernard  508, 916 Huberman, Bronislaw  913 Huisman, Wils (Wilsje)  82, 85, 283, 573, 878 Husserl, Edmund  929 Ibsen, Henrik  887 Ivens, Joris  911 Iwan der Schreckliche  613 Jaap siehe Hillesum, Jacob Jaapje siehe Querido, Jaap Daniël Jacobs, Familie  773, 945 Jan siehe Bool, Johan Melchior Jeanne L. siehe Liedmeier-van der Eng, ­Adriana Margaretha Jessurun Lobo, Samuel Jacques  904 Jesus Christus  215, 395, 505, 654 f., 688, 872, 918 Jet (Jetje) siehe Hagen, Henrica E. M. van der Jim siehe Gelder, Simon van Joel., Claartje  724, 935 Jong, Johannes de  928 Jonge, Dicky (Dick, Dirkje) de  140, 144 f., 147 f., 229, 236, 241, 275, 302 f., 305, 314, 339, 363 f., 372, 388, 542, 589, 594 f., 599, 602, 614, 631, 646, 649, 710, 884 f., 899, 926

Personenregister Joop siehe Bool, Johan oder Vleeschhouwer, Joseph Isidoor Jopie siehe Smelik, Johanna F. oder ­Vleeschhouwer, Joseph Isidoor Juliana siehe Vasseur, Juliana C. W. Jung, Carl Gustav  85, 88, 91–93, 101, 118, 161, 166, 201, 252, 270, 274, 278, 282, 295, 297, 299 f., 357, 394–396, 402, 410 f., 431 f., 472 f., 529, 579, 611, 639, 643 f., 706, 715, 867 f., 871, 873, 879, 882, 886, 888, 891, 899–902, 905 f., 909, 912, 914, 921, 934 Juul siehe Vasseur, Juliana C. W. Kafka, Franz  877 Kálmán, Emmerich  428, 430, 911 Kant, Immanuel  398, 909 Kastein, Jozef  213, 892 Keszy  81, 878 Keulen, Claartje van siehe Mesdag, Clara van Keulen, Jan van  871 Kierkegaard, Søren Aabye  166, 190, 201, 652, 887 Kinkel, Gottfried  205, 891 Klaas siehe Smelik, Klaas Klabund  916 Klatt, Fritz  347, 359, 388, 906, 908 Klemperer, Otto  903 Knap, Max  196, 890 Koning, David  939 Korff, Frederik Willem Adrianus  780, 949 Kormann, Gerd  857–859 Kormann, Max Osias  663 f., 668, 670, 718 f., 723, 726–735, 739–741, 756–765, 768, 776, 790 f., 795, 850, 855, 857–859, 927 f., 933, 935 f., 940 Kormann, Osias (M. O. Kormanns älterer Bruder)  858, 927 Kormann, Shimen  857 Kort, Klaas  240, 570, 711, 895, 920, 934 Kraak, Willem K.  811, 954 f. Krijn, Adolph  792, 951 f. Krijn, Herman  952 Krijn, Jacques (Hoele, Hulle)  521 f., 528, 792, 917, 952 Krijn, Leo  428, 608, 792, 911, 917, 922, 951 f. Krijn-Spier, Alice Julie  522, 525, 528, 566, 868 f., 875, 881, 900 f., 911, 917, 919, 952 Kroonder, Fernando George  391, 908 f. Kropotkin, Pjotr Aleksejewitsch  509, 916, 927

Kropveld, Alfred  150, 160, 885 f. Kruger, Paul  893 Kruskal, Herbert  741, 750, 939 Kruskal-Gradenwitz, Edda  939 Kuik, Jan van  799, 950 Kuiper, Johanna E.  908, 916 Kuiper, Taco  141, 884 f., 908 Kuyper, Mien  238, 257, 268, 570, 606, 778, 796, 804, 815, 840, 845, 848, 875, 889 f., 893 f., 909, 911, 920, 952 Kuyper, R.  894 Lakmaker, Hans  699, 707, 933 f. Lakmaker, Leman  707, 934 Lakmaker-Voorzanger, Sophia  934 Langenscheidt, G.  916, 923 Lansen, Familie  950 Lansen, Johanna Maria (Hansje)  788 f., 812, 836, 950 Lansen, Pieter Johannes Bernardus  785, 950 Laqueur, Ernst  677, 770, 776, 840, 872, 931, 944, 947 Laqueur, Renata Liselotte Margarete  776, 947 f. Last, Jef  930 Laufer, Rosa  857, 927 f. Laurillard, Eliza  893 Lee, Tante  737, 938 Leeuwen, Freek van  930 Leguyt, J.  721, 780, 935, 949 Lemcke (Wehrmachtsoffizier)  951 Lennep, D. J. van  884 Leonardo da Vinci  487 Leonie siehe Snatager, Leonie Lermontow, Michail Jurjewitsch  31 f., 48, 53, 78, 204, 504, 701, 870, 874, 891 Lespinasse, Julie de  509, 916 Lessing, Gotthold Ephraim  920 Levi, Hertha R.  49, 59 f., 62, 65, 67, 87, 133, 135, 137 f., 140, 163, 165, 171, 229, 249, 251, 268, 270, 287 f., 309 f., 312, 328, 344, 385 f., 416, 439, 447 f., 453–455, 458, 468–471, 475, 480, 529, 539 f., 560 f., 563 f., 602, 647, 655, 873, 875, 880, 896, 914, 925 f. Levie, Alice siehe Levie, Liesl Levie, Liesl  26, 31, 189, 197, 213, 235, 275, 291, 295–298, 301–303, 305 f., 310, 314, 319, 325, 334, 336, 349, 372 f., 382 f., 389 f., 395, 397–399, 406, 415, 421 f., 426, 442, 446, 479–481, 485 f., 498, 500, 508, 516 f., 525,

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Personenregister 555, 571, 585, 589 f., 595, 602, 609, 611, 630, 635, 637, 840, 869 f., 889, 921 f., 928 Levie, Liesl und Werner  214, 290, 301, 334, 340, 354, 391, 394, 400, 414, 425 f., 428, 448, 454 f., 480, 493, 525, 558, 608, 610, 617 f., 630, 771, 788, 791, 902, 911, 913, 924, 944 Levie, Mirjam  584, 771, 869, 903, 944 Levie, Renate  425, 427, 584 f., 771, 869, 911, 944 Levie, Werner  213 f., 296, 349, 357, 370, 382 f., 390, 399, 425–427, 430 f., 439, 479 f., 489, 508, 520, 525, 596, 601 f., 607, 629, 635, 640, 650, 840, 869, 892, 908, 913, 921, 958 Levie-Friedland, L.  840, 924, 958 Li Tai Pe (Li Po)  510, 916 Liedmeier-van der Eng, Adriana Margaretha (Jeanne L.)  447, 902, 913 Liesl siehe Levie, Liesl Lindeman, Dora  884 Lindeman, Familie  884 Liszt, Franz  889 Lizzy siehe Levie, Liesl Lobatto, Frederik August (Fré)  364 f., 907 Lobstein, Jacques  959 Lobstein, Siegfried (Frits)  848, 959 Löb, Ernst  748, 928 f., 941 Löb, George  748, 928 f., 941 Löb, Rob  664, 748 f., 928 f., 941 Loekie  314, 326, 353, 406, 903 Loes siehe Bongers, Louise Gerharda Jacoba Löwenstein  555, 919 Loonstijn  942 Loopuit  629 f., 923 Lou siehe Andreas-Salomé, Lou Louis (Lout) siehe Zimmerman, Louis Lubotschka  827, 855, 935, 956, 961 Maeterlink, Maurice  268, 887, 899 Maginot, André  671, 753, 930 Mahler, Familie  734 f., 737 f., 850, 937 Mahler, Gustav  297, 894, 903 f. Mahler, Josef Israel  737, 937 Mahler-Abraham, Hedwig  737, 768, 937 Maimonides, Moses ben Maimon  426, 858, 911 Mann, Thomas  109, 881 Maria siehe Tuinzing, Maria Marjo siehe Tal, Marjo Marsman, Hendrik  82, 191, 878

Marx, Karl  132, 883 Marxveldt, Cissy van  809, 954 Mastenbroek, Gerard  314, 904 Max siehe Knap, Max, oder Witmondt, ­Meijer, oder Max (Schüler von Etty) Max (Schüler von Etty)  555, 612, 919 Mechanicus, Philip  776, 783, 789–791, 793, 803, 809 f., 819, 821, 831, 839, 855, 946 f., 951, 953, 956–958, 961 Meerlo, Philip Leonard van  390, 908 Mees, G. H.  869, 954 Mendelssohn-Bartholdy, Felix  889 Mendes da Costa, Judith  664, 928 Mengelberg, Willem  772, 903, 944, 958 Menko, S. N.  953 Mesdag(-Keulen), Clara (Claartje) van  39, 227, 232, 871 Meyer, E.  779, 948 Meyers, M. E.  877 Meylink, Bernard  42, 111, 153, 158 f., 321–323, 392, 586, 611, 709 f., 867, 872, 880, 886 Meysenbug, Malwida von  478, 914 Michelangelo  487 Mien siehe Kuyper, Mien Minny  724, 935 Mischa siehe Hillesum, Michaël Modersohn-Becker, Paula  813, 816, 955 Molitor, Jan  877 Montagnu, Familie  897 Morrison  899 Mozart, Wolfgang Amadeus  348, 570, 577, 889, 896 Müller, Johannes  660, 927 Müller, Wilhelm  915 Multatuli siehe Douwes Dekker, Eduard Münchhausen, Baron von  194, 890 Münsterberger, Werner  199, 259, 496, 890 f. Mussolini, Benito  954 Mussorgski, Modest Petrowitsch  889 Napoleon Bonaparte  30 Nelson, Herbert  390, 908, 920 Nelson, Rudolf  908, 915, 920 Nethe, A.  127, 646, 710, 795, 881, 926 Nethe, Erich  287, 881, 901 Nethe, Erwin  881 Nethe, Hans Werner (HW)  881 Nethe(s), Familie E.  107, 286, 300, 597, 702, 801, 838, 875, 881, 884, 952 Netty siehe Pieridis-van der Hof, Annette

Personenregister Neuberg, Julius  683, 932 Neuburger, Friedrich  936 Nietzsche, Friedrich  264, 267, 478, 481, 505, 564, 699, 914, 933 Nötzel, Karl  207, 551, 553, 555, 574 f., 579, 887, 891 f., 919 Nooten, C. C. J. W. van  797, 837, 952 Nooten, J. C. J. C. (Christine)  772–774, 781–785, 788 f., 797–799, 801, 804–806, 811 f., 815–817, 835–837, 840 f., 856, 944, 952–954, 957 f., 961 Nooy, Gebrüder  939 Obstfelder, Sigbjørn  312, 903 Ortmann-Blankenstein, Emilie (Milli)  771 f., 778–780, 796–798, 800–802, 873, 944, 948, 953 Ortmann, Theo  944 Ostaijen, Paul van  227, 894 Ottenstein, Hans  831 f., 957 Otto siehe Sluizer, Otto Oudkerk, Sara  946 Ovid  205, 799, 891 Paluka  896 Parijs, Samuel  158, 586, 608, 886, 921 f. Pascal, Blaise  264, 887, 898 Pater, Walter  473, 914 Paul siehe Goldschmidt, Paul Peper, Joseph (Jo)  850, 960 Perron, Edgar du  82, 191, 195, 201, 247, 878, 890, 895 Peter I., der Große  57 Petertje  116, 881 Petzal, Werner  733, 764, 850, 936 Pfister, Oskar  118, 200, 214, 871, 882, 891 Pieck, Henri 954 Pieridis-van der Hof, Annette (Netty)  543, 559, 567, 569, 585, 713–717, 843–845, 918 f., 935 Pieter siehe Starreveld, Pieter Pijper, Willem  904 Pimentel, Béatrice (Bé)  257, 897 Pindar  885 Platon  256, 897 Poelstra, Wiep(kje)  30, 105 f., 142 f., 152, 164, 320, 792, 839, 870, 881, 898, 943 Poincaré, Raymond  793, 952 Polak, Gerard  850, 960 Polak, J. E.  767, 943

Polak, Leo  265, 898 Polak, Rudolf Jan (Jan)  217, 290 f., 357, 527, 893 Poons, Sylvain  920 Pos, Hendrik Josephus  82, 315, 878 f., 904 Postma, Jacob  847, 959 Pourtalès, Guy de  478, 914 Praag, Elias van  909, 911 Presser, Jacques  956 Prins, Familie  116, 881 Proelss, Maria (Bobby)  873 Pütz, Gertrud Franziska siehe Reiman, Leonie Puis, Henri du (Hans)  73, 876, 902 Puschkin, Alexander Sergejewitsch  159, 277, 319, 330, 504, 547, 701, 704, 871, 878, 886, 905, 934 Puttkammer, Erich August Paul  806, 953 f. Querido, Andries  897 Querido, Jaap Daniël (Jaapje)  257, 897 Querido-Pimentel, Heleen  257, 897 Raalte, van  911 Rachmaninow, Sergei Wassiljewitsch  266 f., 889, 898 Rapschinskiï, Boris  201, 207, 891 Rathenau, Walther  181 f., 184, 187, 243, 625, 888, 895, 923 Rauter, Johann Baptist Albin  772, 801, 874 f., 944, 958 f. Ravel, Maurice  889 Reger, Max  241, 268, 889, 895 Reiman, Leonie  363, 907 Rembrandt Harmenszoon van Rijn  412, 910 Renate siehe Levie, Renate Renesse, George van  882, 897 Riet siehe Bongers, Maria Antoinetta Rijk, George van  933 Rilke, Rainer Maria  76 f., 126, 128, 136, 187, 205, 232, 237–239, 242 f., 245–247, 250, 252–254, 258 f., 262, 265, 271, 275 f., 290, 303, 313 f., 316–320, 322, 325, 333 f., 339, 342 f., 345–347, 349–352, 358 f., 369 f., 387 f., 395–397, 400 f., 404 f., 409–415, 419–421, 425, 428–430, 432, 436, 448 f., 465, 473, 476, 478, 487, 492, 496, 505 f., 509 f., 512–514, 540 f., 547, 554 f., 568 f., 573, 577, 579 f., 602, 609–611, 616, 627, 629 f., 632 f., 635, 637–639, 641, 644 f., 649, 652, 662, 665 f., 668, 676, 688, 693,

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Personenregister 696, 720–722, 733, 811, 818, 876, 887 f., 891, 894–896, 898, 903–906, 908–916, 918–926, 929, 932, 935 f., 954 Rilke-Westhoff, Clara  876, 920 Rittelmeyer, Friedrich  94, 98, 120, 176, 880, 882 Rob  838, 958 Robert  702, 933 Rocco, Hanni  873 Rocco, Hedwig (Hedl)  49, 249, 268 f., 873, 886, 896, 924 Rodenko, Paul Thomas Basilius  81, 878 Rodin, Auguste  237, 252, 395 f., 404, 412, 465, 868, 876 f., 894, 911 Roelants, Maurice  890 Roland Holst-van der Schalk, Henriëtte G. A.  699, 933 Rolland, Romain  256, 896 Romein, Jan Marius  315, 884, 887, 904 Romein-Verschoor, Annie H. M.  133, 883 f. Rosen, Willy  795, 830 f., 915, 920, 952, 956 f. Rosenbaum, Julius siehe Rosen, Willy Rosenberg, Egon (Semmy)  726, 728, 732, 740 f., 756, 760–762, 764, 935 f., 938 Rottenberg siehe Rosenberg, Egon Rümke-Everts, H. W. J. (Jet)  554, 893, 919 Ruth siehe Spier-Busse, Ruth Sabarte Belacortu, Familie  932 Saint-Saëns, Camille  889 Sajet, Ben  882 Sajet, Daan (Daantje)  125, 357, 882, 906 Sallust  799, 837 Salomon  836 Santen, Aimé van  80–82, 85, 186, 304–307, 314, 334, 376, 433, 437, 447, 704–707, 842 f., 877, 912, 959 Santen, Joseph (Joop) van  843, 959 Schaap, Louis  677, 726, 767, 931, 935, 947 Scherer, Georg  894 Schey, Hermann  314, 903 Schiller, Friedrich von  289, 901 Schipper, Klaas  388, 542, 908 Schlesinger, Kurt  834, 854, 951, 957, 961 Schmidt, F.  920 Schneegans  894 Schol, Jacob  745, 940, 956 Scholten, P.  767, 877, 943 Schot, Aleida Gerarda  153, 158, 315, 410, 497, 874, 885 f.

Schripperman  790, 951 Schubart, Walter  620, 627, 636 f., 922, 924 Schubert, Franz Peter  570, 894, 915 Schumann, Robert Alexander  302, 347, 507, 901 f., 906 Schwarz, Josef  349, 906 Seelman  936 Seroen, Berthe  314, 903 f. Seyß-Inquart, Arthur  889, 931 Shakespeare, William  652, 745 Simon, Julius  774, 783, 799, 836, 945 Sinzheimer, Hugo  699, 933 Skrjabin, Alexander Nikolajewitsch  889 Slauerhoff, Jan Jacob  191, 890 Slottke, Gertrud  801, 953 Sluizer, Otto  257, 897 Sluzker, Edwin  923 Smelik, Johanna F. (Jo, Jopie)  108, 360–363, 554, 627, 689, 759, 785–788, 881, 899, 906, 923, 932, 941, 950 Smelik, Klaas  108, 359–363, 554, 662 f., 668–671, 759, 785–788, 881, 906 f., 927, 930, 932, 941 f. Smelik, Petronella (Tante Piet)  274, 900 Smit, Wisse Alfred Pierre  949 f. Snatager, Leonie (Elletje)  44, 102, 314, 326, 328, 334, 364, 366, 368 f., 375 f., 380, 384, 398–400, 404, 406–408, 422, 430, 432 f., 440, 445 f., 463 f., 472, 493, 533, 541, 548, 559, 620, 821 f., 872, 907, 911 f., 918 f., 923, 956 Söderblom, Lars Olof Jonathan  793, 952 Sokrates  897 Sombart, Werner  892 Sonja  269, 301, 899 Spaander, Winy  217, 893 Spanjaard, J.  848, 883, 959 Spengler, Oswald  46 Spetter, Ies  850, 960 Speyer  737, 937 Spiegelenberg, Johan Hendrik  555, 919 Spier, Alice siehe Krijn-Spier, Alice Spier, Arthur  900 Spier, Eduard  685, 739, 932, 954 Spier, Gustav  900 Spier, Isidore  809, 954 Spier, Jo  809, 954 Spier, Julius Philipp (S.) passim Spier, Ludwig  900 Spier, Paul  880, 900

Personenregister Spier, Rosie  900 Spier, Wolfgang  545, 895 f., 919, 924 Spier-Busse, Ruth  249, 545, 895 f., 919, 924 Spinoza, Baruch de  272, 900 Spira, Camilla  833, 957 Stahl, Johanna  308, 903 Stalin, Josef  884 Stanley Jones, E.  505, 908, 915 f. Starreveld, Hanneke  449, 465, 472, 503, 508, 548 f., 702–704, 911, 913 f., 919, 929 f., 934 Starreveld, Hanneke und Pieter  431 f., 437, 447, 486, 488, 519, 594, 911–913 Starreveld, Pieter  503, 505, 520, 911 f. Starreveld, Rogier  703, 934 Steenhoven, Frans van  67, 93 f., 139, 159, 191, 778, 839, 875, 880, 890, 948 Stefan, Paul  297, 902 Stein, Edith T. H.  664, 929 Stein, F.  928 Stein, Rosa M. A. A.  664, 929 Steiner, Rudolf  880 Stekel, Wilhelm  38, 205, 871 Stella  314, 351, 376, 408, 410, 414, 511, 904, 907 Stendhal  165 f., 264, 887 Stertzenbach, Herbert  737, 937 f. Stertzenbach, Werner  737, 937 f. Stokvis, Benno  924, 958 f. Suarès, André  165, 227, 235, 239, 243 f., 247, 255, 263–265, 284, 301, 886 f., 893–895, 898 Swiep siehe Wermeskerken, Alida Gerrigje Tagen  731, 936 Tal, Marjo  52, 69, 874 Telders, B. M.  877 Telemann, Georg Philipp  241, 268, 889 Terenz  425, 911 Thomas a Kempis  86, 160, 229, 879 Thurn und Taxis-Hohenlohe, Marie von  887 Tide siehe Tideman, Henny Tideman, Henny  66, 73, 93 f., 140, 150–153, 159, 163 f., 167, 170, 177, 181, 190, 201, 227, 229, 261, 268, 270, 274 f., 279, 284, 287, 290, 294, 296, 301–303, 314, 323, 333 f., 340, 348, 377, 394, 398, 400, 428 f., 439, 444–446, 448, 451, 459, 471, 481, 519, 529, 536, 554 f., 570 f., 585, 593, 601, 612, 646, 653–655, 657, 660, 672–674, 676, 689, 694, 724 f., 767, 817–819, 839, 852–855, 875, 879, 882, 884, 886 f., 890 f., 894, 901, 905, 912, 919, 925 f., 930 f.

Tielrooy, Johannes Bernardus  315, 904 Todtmann, Heinz  834, 957 Toebosch  53, 304, 874 Toet-Smelik, Cato (Tante Totebel, To)  360, 906 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch  30, 70, 81, 101, 260, 412, 668, 854, 869, 898, 929 Toos siehe Vleeschhouwer-Cahen, Cato Toscanini, Arturo  913 Trantz, Irene G. V.  894 Tromp, Marteen Harpertszoon  578, 921 Trude siehe Cohen, Gertrud Gotthelf Tschechow, Anton Pawlowitsch  336, 905 Tuinzing, Maria  677, 694, 737–739, 765, 770–771, 776, 780 f., 792, 802–804, 806–815, 836–840, 849, 852–856, 931 f., 942, 950, 954 f., 958, 961 Tuinzing, R. W.  856, 961 Tullius-Spier, Virginie Elisabeth (Gina)  100, 880 Turksma, Suze  960 Ungar, Imre  222, 233, 236, 238, 265 f., 276, 314, 893 Unger  761, 942 Urbanitzky, Grete von  516, 522, 916 f. Valkhoff, Johan  177, 314, 887 f. Vasseur, Johannes B.  894 Vasseur, Juliana Clothilde Wilhelmina (Juul)  115, 228, 702, 881, 894 Veidt, Konrad  262, 898 Veling, Sophia Michael (Phia)  337, 905 Verdi, Giuseppe  896 Verheij-Oudendijk, Johanna Elisabeth (Jo)  81 f., 877 f. Verwey, Albert  28, 869 Vestdijk, Simon  349 f., 906, 909 Veterman, Eduard  434, 502, 513, 909, 911 f., 915 f. Veterman, Etty 915 Veterman-van Witsen, Katy  503, 915 Viktor Emanuel II.  806, 954 Vis, Douwe J.  223, 226 f., 240, 246, 257, 310 f., 323, 363, 373 f., 399, 412, 527, 536, 570, 573, 893, 897, 905, 909 f., 917 f. Visser’t Hooft, Willem A.  945 Vleeschhouwer, Benjamin  813, 839, 955 Vleeschhouwer, Familie  960 Vleeschhouwer, Hans  850, 955, 960

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Personenregister Vleeschhouwer, Joseph Isidoor (Jopie)  655, 657, 659 f., 664, 672 f., 677 f., 684, 689–691, 720 f., 727 f., 731 f., 734–737, 756, 758, 768, 771, 791, 793, 813 f., 819, 821 f., 839, 849–856, 926, 930, 932, 935, 937, 958, 960 f. Vleeschhouwer, Juda Elisa  850, 960 Vleeschhouwer, Liesbeth  955 Vleeschhouwer-Cahen, Cato (Toos)  678, 839, 926, 931 Vorrink, Koos  874 Vries, Isaac S. de  668–670, 929 Vries, Vera Karlovna de  305, 902 Wagner, Richard  739, 938 Waller, Ellen  849, 960 Wallis, Eddy  911 Walter, Bruno  903 Waterman, A.  847 f., 959 Weber, Carl Maria von  896 Wegerif, Cornelis  781, 949 Wegerif, Ella  870 Wegerif, Heleen Wilhelmina  870 Wegerif, Hendrik Johannes jun. (Hans)  42 f., 130 f., 153, 231, 241, 318, 322 f., 326, 379, 394, 627, 737–739, 780 f., 822, 837, 852–855, 870, 872, 883 Wegerif, Hendrik Johannes sen. (Han)  30, 42, 71, 73, 109, 127, 139, 153, 165, 168, 170, 183, 186, 195, 201 f., 205, 213 f., 222, 224, 226, 229, 231, 234, 240, 242, 257, 261, 270, 276, 279, 291 f., 294, 298 f., 303, 305 f., 320–322, 326, 329 f., 336, 343, 346, 353, 362, 373 f., 376, 380, 391, 409 f., 412, 415, 417, 423–425, 432 f., 440–442, 444–446, 451 f., 454, 458 f., 473 f., 503 f., 509, 524, 542, 547, 550 f., 555 f., 565, 570, 603, 605, 644, 648, 655, 689, 735–739, 765–770, 775–778, 780 f., 788–795, 800, 811, 818–835, 837, 839, 843, 847, 852–856, 870, 872, 875, 883, 886 f., 898, 902 f., 909, 914, 920, 922 f., 925, 931, 935, 943, 949, 953, 956, 958, 960 f. Wegerif, Hester Albertha Geertruida (Tante Hes)  277, 279, 901 Wegerif, W. J.  169, 887, 949 Wegerif, Willem Jan (Wim)  310, 519, 870, 903, 916 Wegerif, Willemina Johanna  870

Weil  391, 909 Weil (Weyl), José  499, 607, 623, 625, 915, 942 Weinreb, Friedrich  776, 789, 849, 942, 947, 951, 960 Well, Cornélie Pauline Emilie van de  81, 877 Wendelgelst, Bertus A. J. (Bart)  948 f. Wendelgelst-Blankenstein, Margarete (Grete)  780, 793, 797, 800, 944, 948 f. Wenzel, Maria  81, 878 Wermeskerken, Alida Gerrigje (Swiep)  395–398, 406 f., 409, 518, 607, 736 f., 775, 792, 800, 805, 813, 817, 822, 837, 839, 856, 909 f., 945, 961 Westhoff, Clara siehe Rilke-Westhoff, Clara Wieland, Christoph  577, 920 Wiep(kje) siehe Poelstra, Wiep(kje) Wijk, Jan Hein van  699, 933 Wijk, Nicolaas van  34, 79–82, 84 f., 704, 870 f., 877–879 Wilhelm, Richard  270, 899 Wils(je) siehe Huisman, Wils Wim siehe Wegerif, Willem Jan Winkelman, Henri  878 Wissbrun  555, 919 Witkowski, Frau  605, 922 Witkowski, Selmar  574, 714, 725, 900, 920, 935 Witmondt, Meijer (Max)  355–357, 360, 362, 376, 462 f., 664, 671, 691, 737 f., 929, 932, 938 Witmondt-Hulleman, Neeltje  737, 938 Wolf, Hugo  376–378, 907, 920 Wolff, Familie 875 Wolff, Lenie  71, 222, 238, 314, 319, 875 f., 887 f. Wolff, Leo de  629 f., 923 Wolff, Sam de  776, 923, 945 f. Wolfsky, Leo  320, 905 Wolterbeek, A. C. (An)  302 f., 577, 890, 905, 920 Zamenhof, Ludovic Leizer  257, 898 Zatskoy, Wladimir Petrowitsch  80, 877 Zeeman, Jan  792, 951 Zeeman, W. P. C.  792, 951 Ziegler, Erich  831, 957 Zimmerman, Louis  191, 414, 884 f., 890, 910, 912 Zöpf, Willi 956 Zweig, Stefan  247, 895

SCHLAGWORTREGISTER Von Pierre Bühler Schlagwortregister

Dieses Schlagwortregister will wie auf einer Landkarte die Erlebnis-, Gedanken- und Sprachwelt Etty Hillesums verzeichnen. Regelmäßige Erfahrungen und Handlungen, die den Alltag der Auto­ rin prägen, wie Kopf- und Magenschmerzen, Müdigkeit, Lesen, Schreiben oder Beten werden nur dann berücksichtigt, wenn sie explizit thematisiert werden. Da Etty Hillesum ihre Sprache vielfach poetisch variiert, werden teils in Klammern thematisch benachbarte Begriffe angegeben. Erfahrun­ gen und Überlegungen aus dem Durchgangslager Westerbork sind unter dem Begriff «Wester­ bork» zu finden. Unter dem Schlagwort «Bild(er)» sind auch Sprachbilder oder Metaphern aufge­ führt, um Etty Hillesums sprachschöpferisches Talent zu würdigen. Abgehärtet / verhärtet  648 f., 749 f. Abschied nehmen, innerlich (sich trennen; alles aufgeben; alles loslassen)  594, 602–604, 608 f., 634, 668, 675, 725, 803, 840 f., 854, 856 Absolut / relativ (alles oder nichts; Absolutheit; Relativierung)  147–151, 187 f., 195–197, 392, 476, 508, 531, 814 Ambivalenz(en) (Gegensätzlichkeiten; Stim­ mungsschwankungen; Widersprüchlich­ keiten; Höhen / Tiefen; Pol / Gegenpol; labil; hin- und hergerissen sein)  24–31, 33, 35, 43, 59–63, 65 f., 69–72, 74–79, 86, 98–100, 106–109, 111–114, 117, 126, 130 f., 134, 137, 140–142, 146, 149, 151, 154, 156 f., 162 f., 168, 172, 183, 187 f., 193, 198–201, 210, 214, 218, 220, 230, 275, 293, 310, 320, 330, 334 f., 337 f., 341 f., 345 f., 379, 388, 401, 422 f., 431, 437, 469, 474 f., 482 f., 485 f., 488 f., 526–528, 557, 571, 596, 662, 675, 849 Angst (Lebensangst, Todesangst; Abgrund; Leere; Schwindelgefühl; Schwebegefühl)  23 f., 31, 36, 54, 66, 135, 143, 146, 161, 166, 174, 181, 183, 192 f., 201, 208, 215, 226, 283, 293, 307, 323 f., 330 f., 333 f., 378, 405, 434, 452, 459, 467, 475, 492, 498, 507 f., 518, 560, 581, 595, 606, 630, 641, 654, 669, 677, 716, 821, 840

Arbeit (Studium; Übersetzung; Unterricht; Sekretariat; Gespräch mit Menschen; Briefe beantworten)  28–33, 39, 53, 64, 79–85, 101, 114, 116 f., 131, 135, 150 f., 153– 156, 166, 168, 220, 233, 239, 257, 281, 291, 354, 396, 402, 404–406, 447, 453, 482, 497, 511, 545, 559, 633, 701, 727, 846 f., 849 Aufgabe (Lebensaufgabe; Vermittlungsauf­ gabe; einander Aufgabe sein; Aufträge wahrnehmen)  37, 42, 62, 67, 76, 84, 105–108, 114, 123, 126, 141, 169, 179, 216, 218, 261, 271 f., 286, 366, 369, 371, 375, 441, 488, 532, 551–553, 569, 577 f., 647, 665, 672, 689, 700 f., 727, 732, 846 f. Auseinandersetzung(en) (Leben als Kampf; Schlachten führen; sich mit den Proble­ men auseinandersetzen; bewältigen; Selbstbeherrschung; zu sich stehen / flie­ hen; auf sich selbst gestellt sein; sich selbst ein Maßstab sein; Kämpfe im In­ neren; Siegen / Besiegtsein)  59–64, 66, 73, 79, 91, 96, 106 f., 118 f., 125, 134, 161, 169, 175 f., 179 f., 184 f., 192 f., 201 f., 207 f., 212, 216, 224, 256, 262, 321, 374 f., 378, 431, 434, 457, 489, 504, 515, 535, 541, 546, 560, 577 f., 613, 618, 624, 648, 655, 659, 680, 693, 700, 715 Auserwählt sein (gezeichnet sein)  630, 651, 839

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Schlagwortregister Baracke (siehe auch Westerbork, Baracken)  315, 471, 522, 591, 653 Bedeutungsschwere  92, 118, 413 Bedrohungen  463, 519, 525, 563, 581, 602, 622 Befreiung (Erlösung; Freiheit)  35, 50, 63, 141, 172 f., 215, 248 f., 259 f., 279, 344, 371, 463, 473, 479, 567, 593, 726 Bekennen (sich vollständig zu jemandem)  469 f., 684 Besitz (Habgier; Herrschsucht; Festklam­ mern; beherrschen / geschehen lassen; verfügen / gedeihen lassen)  48–51, 61 f., 70, 102, 137, 355, 358 f., 362, 374, 458, 499, 561, 565, 573 f., 730 Beten (Gespräch mit Gott; Schma Israel; siehe auch Knien)  58, 132, 190, 242, 292, 306 f., 324, 340, 360, 380 f., 399, 448, 463, 471, 522, 562, 589 f., 598, 603, 608, 614, 617, 620–623, 625, 628, 631, 646, 650, 677, 689, 692 f., 721, 749, 803, 817, 830 Bewusstsein (Bewusstes / Unbewusstes)  58, 278, 376, 520, 715, 844 Beziehung zu Han Wegerif  62, 109, 139, 165, 183, 195, 225 f., 279, 291 f., 294, 298 f., 329 f., 362, 373 f., 376, 417, 422 f., 440–442, 444 f., 459, 473 f., 503, 524, 648 Beziehung zu den Mitmenschen (Freund­ schaft; Verbundenheit; Gemeinschaft; Geselligkeit; Mitgefühl; mitten unter den Menschen sein; gemeinsam arbeiten; ge­ genseitiger Blick; den anderen an­ schauen; in anderen lesen; in anderen einen Weg finden; die Mitmenschen ver­ stehen; die anderen in sich aufnehmen; die Mitmenschen in sich tragen) 30 f., 36, 39 f., 47, 52, 56, 65, 79–85, 87 f., 90, 92, 98 f., 110 f., 118–121, 130 f., 177 f., 184, 186, 190, 200 f., 206, 210, 224, 236, 239, 246, 249, 257, 262–264, 275, 283, 287, 289, 297 f., 301–305, 310, 320, 323, 325 f., 345, 355, 359, 361, 363, 367, 375 f., 379 f., 383, 385, 396–401, 404, 406–408, 411 f., 417, 422–424, 442, 445 f., 450, 468, 475, 480, 485, 504, 512–514, 523 f., 530, 539, 555, 558 f., 562, 571, 573, 592, 619, 641, 644, 654, 658 f., 661 f., 665, 667, 674 f., 682, 685–687, 689, 695, 707, 714–716, 725, 727 f., 759, 761, 765, 778, 838 f., 843–845, 848

Bibel Allgemein  85 f., 88, 160, 212 f., 327 f., 410, 421, 436, 473, 525, 554, 574 f., 599 f., 616, 646, 668, 760, 772, 783, 808 f., 811, 836, 840, 854, 856 Genesis  212, 554, 574 f., 744 f., 822 f. (siehe auch Ebenbild Gottes; ­Schöpfung, Geschöpf Gottes) Exodus  565, 786 (siehe auch Wüste) Leviticus  210, 212 Josua  729, 772 Hiob  328 Psalmen  214, 575, 600, 837 f., 840 Kohelet  181, 246, 684 Hohelied  556 Jesaja  811 Evangelisten  487 Matthäus  210, 212, 412, 418, 420, 422, 620, 632, 638, 666, 668, 672, 674, 678, 680, 687, 805, 827 Lukas  634, 818 Johannes 114, 185, 447, 467, 480, 575 Paulusbriefe 40, 212 f., 320, 328 f., 630, 676, 685, 706, 717, 755, 811 Bild(er) (Sprachbilder; Figuren; Lebensbild; Sinnbild; Spiegelbild; Traumbild; Bil­ der / Erlebnis)  50, 71, 148, 162, 190, 201, 239, 245, 248 f., 258 f., 262, 275, 283, 295, 646, 661, 787, 823 – dichterische Sprach­ bilder: Alter der Seele 309, 694; Anker­ platz  367, 370; Aufnahmebaracke des Besseren in euch sein  656; Ausfalltore in die Welt  684; Bildhauer (Schreiben wie ein)  446; Brust (nackte Brust des ­Lebens)  491; Buch (einen Menschen wie ein Buch lesen; das Leben als ein Buch)  432, 682; Damm im reißenden Fluss  494; Dankbarkeitstränen  817; Disteln  206; Dolchstöße gegen den Himmel (Bäume wie)  392; Drähte des zwanzigs­ ten Jahrhunderts (Stacheldrähte sind die)  745; Duft der Seelen  569; Ebbe / Flut  263 f., 271, 464; Feld, brachliegendes (ich bin wie ein)  587; Felsblock, Granitblock, Granithöhle (in mir)  168, 228, 436, 446, 510; Festung, uneinnehmbare  622; ­flügellahm  528; Flutwelle der Trauer  605; Flutwellen aus Juden  772; Foto­ platte in mir  614; Früchte und Blüten tragen  683; Füll­federhalter wie einen

Schlagwortregister Hammer schwingen  614; Gebet (ich möchte ein einziges, großes Gebet sein)  686; Geburtsprozesse (in mir)  598; Ge­ fäße aus Worten  600; Gerüst des Tages  180; Getreidefelder ­(innere)  317; Gras­ halme im Sturm (Menschen wie)  791; Grundmelodie (meine)  108, 183, 504; Hafenfeuer in der Ferne  260; Haus (der Mensch als ein offenes Haus, mit Vorhal­ len, Gängen und Zimmern)  252, 262, 284, 659; Hochebenen in mir, weite  656; Hektare an Zeit  495; Herden / Horden von Gedanken und G ­ efühlen  256; Herz, das denkende (der Baracke, eines ganzen Konzentrations­lagers)  653, 687; Hiero­ glyphen (Menschen wie zu entziffernde)  661; Himmel, dritter (für dreistöckige Eisenpritsche in Westerbork)  775; Höhle der Nacht  240; Hügel im grauen Ozean  272; Hüterin sein  656, 660; karge Zeiten in mir  621; Klaviatur (das Herz als)  368; Korb der Nacht  240; Landschaften des eigenen Herzens, weite  679; Lebens­ strom (mit Schnellen, Strudel)  186; Lehmboden (in mir)  488; Lichtung  204, 526; Meer  124, 230, 282, 410, 576; ­Maschinengewehrfeuer der Bürokratie (Schreibmaschinen wie)  749; Mittelalter, mein finsterstes  192; Mutterschoß 188; Nachtseite  513; Narben von Worten in der Seele  281 f.; Nieselregen (ich fühle mich wie ein)  138, 521; obdachlose Fra­ gen  511; Obstgarten  249; Ort (mein Schreibtisch, der beste Ort auf dieser Erde)  839; Ozean / Festland  29 f.; Ozean / Kanäle 281 f.; Ozean der Ewigkeit  241; Ozean der Zeit  245; Panzer der Schwäche  683; Pfade, dornige  199; Pfad des Tages  256; Pfade der Geschichte  743; Pfahl im tosenden Meer  125; Pflaster auf vielen Wunden sein  696; Quelle, lebens­ spendende  423; Säule im Herzen  124; Schätze, versunkene  674; Schaum­ kronen, tanzende  576; Schiff über dem Ozean  245, 367; Schlachtfeld, blutiges, von Worten (das Tagebuch als)  662; Schleuse (das Herz als Schleuse für eine Flut des Leids)  664; Schluck Wasser (den Tausenden einen Schluck Wasser geben)  690; Schmelztiegel  134, 209, 341;

Schoß der Nacht (aus dem Schoß der Nacht in den Tag geboren werden)  248; Schülerin Gottes  660; Schuhsohle, abge­ nutzte (ich fühle mich wie eine)  688; Schwan auf dunklem Teich  245; Seelen­ landschaft  273; Seelenmeer / Seelen­ see / Seelenozean  378; Seiltanzen über dem Abgrund  145; Setzlinge (Menschen als)  668; Silberflotte untergegangen  674; Skelett (innerstes Skelett des Lebens)  661; Spinne (ich fühle mich wie eine)  787 f.; Stamm des Tages  240; Sterne, weidende  391 f.; Sternenfrüchte  393; Strom des Lebens (mit Zuflüssen)  276, 294, 384; ein Stückchen Seele sein  656; südlich meines Zwerchfells  222, 465, 491 f., 542, 714; Sumpf  194 f.; Tempel voller Weisheit (Bibliothek als)  159, 408; in Tränen wegschwimmen  827; Trans­ portboulevard (Bahnsteig für die Züge in Westerbork – «Boulevard des Misères»)  834, 854; Trapez (das Leben als)  465; Treibholz auf dem Ozean nach dem Schiffbruch  619, 623; Überschwemmung aus Menschen  752; Unterkunft aus Wor­ ten  181; Urquell (das Leben als)  677; Vagabundenherz  470; Vogel, freier (das Herz wie ein) 642, 645; Vogel, kleiner (ich fühle mich wie ein kleiner Vogel in einer schützenden Hand)  645; Wasser (durch das kristallklare Wasser blicken)  649; Wassergraben, das Leben als  296; Wellen  30, 103, 125, 204, 294, 384, 451, 484, 819; Wellenschlag (meines Herzens)  264, 818; Weltenseele  295; Werkstatt, in der Titanen die Welt neu schmieden  689; Wogen der Angst und der Vernich­ tung  757; Wortpalette  560; Wünschel­ rute  329; zarte Triebe in mir  351; Zieh­ harmonika (mein Leben wie eine)  500; Zimmer (ein ruhiges Zimmer mit mir herumtragen)  291, 458; Zinnen des ­Palastes (auf den Zinnen des Palastes der Geschichte)  624; Zufriedenheit, betrübte  781; Zügel des Pferdes anziehen  382 Bindungen / Sich-Losreißen (Verbunden­ heit / Gebundenheit; Loskommen; den anderen freilassen; den anderen nicht belasten)  95 f., 137, 140, 184, 209, 240, 312, 331, 344, 359, 365, 371, 400, 404,

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Schlagwortregister 416 f., 426, 433, 446, 454, 458, 472, 486 f., 489, 497, 518, 598, 606, 617, 634, 645, 647, 668, 679, 705, 816, 859 Chirologie (Handlesekunst; Therapieübun­ gen; Ringkampf )  23, 25, 27, 30, 35, 41, 59 f., 71, 74 f., 102, 137, 139, 142 f., 153 f., 177, 188, 190, 207, 286 f., 300, 304 f., 308, 497, 522, 702, 709 f., 714 f., 777 f., 844 f. Chronistin werden (Chronik dieser Zeit; Zeugnis; Zeugin sein; eine kleine Stimme sein; etwas zu sagen haben; ein Wörtchen mitreden; Geschichten auf­ schreiben und nacherzählen; etwas wei­ tersenden; Tat für die Nachwelt, vor der ganzen Menschheit; nicht Chronistin von Gräueltaten; nicht Chronistin des täglichen Lebens; Chronik von Wester­ bork, in Märchen)  125 f., 132, 290, 331, 353, 357, 376, 499, 585 f., 613 f., 642, 647, 673, 685 f., 687, 690, 722, 743, 787, 794, 812, 818, 823 Dämonisch / undämonisch (Dämonen (in­ nere / äußere); mephistophelisch)  108, 129, 271, 291, 312, 328, 330, 348, 369, 371 f., 378, 406, 431, 479, 507, 554, 618, 648, 655, 677, 714 f. Dankbarkeit  199 f., 203 f., 274, 306 f., 323, 337, 375, 412, 470, 557, 631, 651, 657, 661, 694 f., 725, 796 f., 800, 817, 835–838, 841, 854 Denken (Begreifen; Ergründen; Verstand; Vernunft; Gehirn; Denkmaschine; «zer­ denken»; Denken / Erleben, Fühlen; Ver­ nunft / Trieb; rationale / irrationale Mo­ mente; Verstand / anderes Organ für das Unbegreifliche)  51, 88, 96, 126, 130, 135, 142, 148, 157, 166 f., 169 f., 174–176, 187– 190, 197, 202, 245, 249, 256, 343, 382 f., 426, 492, 535, 572, 574 f., 579, 590, 613, 636 f., 685 f., 749, 763, 770, 846 Depression(en) (Verzweiflung; Melancholie; Tief; Schwere; schwer / leicht)  35, 53 f., 100, 106, 114, 127 f., 138, 141, 145, 196, 218, 243, 312, 382, 419 f., 433, 476, 495, 506, 510, 527–529, 534, 583, 596, 616, 626 f., 651, 663, 668, 700, 705, 730, 746, 750, 769, 794–796, 813 Deutschland (die Deutschen; das deutsche Volk; deutsche Soldaten / Beamte; deut­

sche Mütter und Söhne; Liebesgabe nach Deutschland)  41–46, 78 f., 158, 308 f., 332 f., 340, 355, 378, 394, 419, 433, 478, 579, 589, 608 f., 705, 715, 769, 819 Distanz / Nähe (Distanz / Schmerz; Ferne / in­ nere Nähe)  132, 164, 249, 292, 319, 333, 338, 369, 381, 384 f., 389, 407, 439, 450, 600, 628, 764, 801 f., 855 Disziplin (Selbstdisziplin; Seelenhygiene; ­Tagesablauf; Lebensrhythmus; Sich-­ Zügeln)  29, 63, 88, 101, 111, 131, 147, 166, 168, 180, 194, 231, 234, 248, 255, 263, 293, 306, 313, 325, 337, 340 f., 375, 382, 413, 418 f., 438, 450, 509, 512, 534, 566, 716, 760, 817 Drucke(n), japanische(n) (Schreiben wie in)  465, 500 f., 503 Durchhalten (Durchhaltevermögen; Wider­ standskraft; sich durchschlagen; diese Zeit durchleben; mit dem Leben abrech­ nen / Resignation; Akzeptanz /Abstump­ fung)  237, 243, 453–455, 471, 497 f., 526, 528, 533, 540, 583, 596–599, 602, 613, 618 f., 623, 627, 630, 633, 636, 638, 642, 647, 676, 749 f., 785 f., 804 Ebenbild Gottes (siehe auch Schöpfung, Ge­ schöpf Gottes)  212, 253 f., 265, 271, 488, 749, 819, 822 f. Ehe (Heiraten, Scheinehe)  170–172, 209, 352 f., 356, 431, 457–459, 482 f., 485 f., 488, 514, 539, 564, 577, 589, 647 f., 683 f. Eifersucht (Neid)  49 f., 69 f., 97, 106, 137, 140, 236, 246, 270, 363 f., 404, 555, 570–573 Einfachheit (natürlich; selbstverständlich; verworren / unkompliziert; einfach / tief­ gründig)  32, 34, 36, 114, 135, 139, 167, 174, 176, 181, 185, 187 f., 268, 272, 293, 354, 402, 412, 422, 432, 495, 524 f., 579, 589, 613, 615, 620, 633 f., 649, 653, 736 Einsamkeit («zu zweit mit sich selbst», «aus zwei Menschen bestehen»; die Einsam­ keit mit sich herumtragen; Absonderung; Einzelgängerin sein)  87, 120 f., 129 f., 319, 390, 428 f., 440, 524, 558 f., 596, 649, 661, 682, 689, 838 Elend (Not)  111, 341, 459, 564, 578, 583, 588, 593, 611, 613, 634, 638, 658 f., 663, 672 f., 684, 688, 696, 750, 753, 755, 766, 772, 786 f., 794, 798, 814

Schlagwortregister Entwicklung (Beziehung zu sich selbst; Reife­ prozess; Wachstumsprozess; Bewusstwer­ dung; Wandlungen; Selbstvertrauen; Selbstwertgefühl; sich selbst akzeptieren; in sich wachsen lassen; neugeboren; Ent­ wicklungspotential / schon fertig sein)  23–25, 27 f., 30 f., 34–37, 39 f., 46, 48–51, 53–55, 68, 72, 76, 85 f., 89 f., 92 f., 95 f., 98 f., 102, 105 f., 112 f., 121–124, 129 f., 136, 139, 152 f., 161 f., 168, 174 f., 184, 189–191, 194–196, 202 f., 207, 209 f., 213 f., 218– 220, 229, 231, 237, 242, 248 f., 251, 256, 261, 264, 267, 270, 275, 277, 280, 288, 292 f., 295–297, 319, 325 f., 346, 349, 355, 359, 376, 379, 401 f., 416 f., 422, 434, 437 f., 458, 464, 472, 474 f., 481, 485, 487, 493, 499, 514–516, 525 f., 534, 537 f., 545, 565, 593, 596 f., 610–612, 628 f., 635 f., 641–643, 657, 677, 679, 686 f., 700 f., 703 f., 708–710, 728, 750, 791 Erfüllung / Unerfülltheit (Erfüllung / Verlan­ gen, Wünsche; Vollständigkeit / Verstüm­ melung; fertig / unfertig)  203 f., 231, 325, 388 f., 544, 560, 641, 684, 702 f., 733 Essensproblem (Gefräßigkeit /Askese; Magen­ problem; Hunger; Fasten; Sinnlichkeit / Askese)  180, 197–199, 203, 321 f., 374 f., 395, 516, 534 f., 847 Evangelium der Heiligen Zwölf, Evangelium des vollkommenen Lebens  194 f., 267, 372 Ewigkeit (ein Stückchen, ein Hauch Ewig­ keit; Ewigkeitswert; Gefühl der Ewigkeit; für immer; ein für alle Mal) 84, 135, 149, 151, 167, 183, 234, 241, 525, 552, 562, 564, 566, 591, 602, 658 Familie (Eltern; Brüder; Wohngenossen; ­Eltern-Kinder-Beziehung; Erziehung; siehe auch Westerbork, Familie)  35, 42, 56 f., 116 f., 119 f., 122, 124 f., 127 f., 130 f., 153, 178 f., 189, 192–194, 198, 212 f., 215– 220, 226, 240, 245, 249, 261, 271 f., 274, 281, 297, 302, 314, 319 f., 398 f., 404, 426, 484, 521 f., 528, 545, 547, 565, 570, 578, 611 f., 711–713, 818, 842, 845–848 Forderungen an sich / Erwartungen an die A ­ ußenwelt (Anspruch /Anspruchslosigkeit; von außen erwarten / in sich entwickeln)  147, 191, 210 f., 373 f., 392, 524, 526 f., 530, 543, 551, 591, 607, 620, 705, 813, 849

Fragen /Antworten (Rätsel)  511, 734, 824, 855 Fremdheit (Entfremdung; fremd / vertraut)  76 f., 121, 244, 334 f., 379, 415, 438 f., 582, 606, 691, 737 Freude (Lebensfreude)  49, 64 f., 68 f., 73, 77 f., 127, 179, 266 f., 282, 357, 382, 397, 428, 535, 576, 607, 653, 676, 733, 798 f., 804 Frieden (Weltfrieden und innerer Frieden; den Frieden in sich erobern)  257 f., 261, 290, 293, 407, 552, 610, 678, 775, 806, 811 Fülle / Leere  28, 71 f., 174, 247, 273, 346, 399, 434, 448, 501, 514 f., 518, 537, 622, 674, 712, 813, 816, 855 Gedicht (Gedichtzeile; Dichtkunst; von Gott zur Dichterin gemacht; im Lager Dichter sein)  126, 245, 249, 254–256, 305, 412, 510, 578, 653, 662, 673, 687, 704 f., 722, 843 Gefühle (mit sich herumtragen; aushalten; Durchgangsheime / Zufluchtsort für große Gefühle; Abstellkammer für Ge­ fühle; Strom der Gefühle; eingekerkerte Gefühle; erleben, fühlen, erfahren; volles Gewicht der Emotionen) 445, 447, 463, 474, 477, 481, 503, 550, 575 Gegenwart (ganz präsent sein; das Hiesige; jeder Tag; dieser eine Tag; der Tag als Ganzes; von Tag zu Tag; das Jahr der Tage; in den Tag hineinwachsen; einen Tag nie von vornherein aufgeben; den zu Ende gehenden Tag loslassen und einen neuen Tag empfangen; Tag und Nacht; jeder Augenblick; die besten Augenbli­ cke)  225 f., 238, 243, 245, 248, 258 f., 262, 264, 272, 276, 351, 409, 419, 426, 450, 480, 534 f., 537 f., 558, 568, 601, 644, 676, 679, 688, 840 Geltungsdrang (Anerkennungsbedürfnis; Ehr­ geiz; Eitelkeit; Hochmut / Demut; Über­ schätzung / Minderwertigkeitsgefühl)  65  f., 108, 120, 133–135, 137 f., 143, 155, 177 f., 235, 264, 280–282, 289, 342, 345, 381, 396 f., 401 f., 408, 427 f., 439, 470, 498, 518 f., 530, 542, 556, 574, 592, 683 f. Geschenk (Gnade; Gnade / Technik; Geben und Nehmen)  52, 54, 94, 100, 152, 252, 276, 312, 357, 373, 383, 388, 405 f., 424, 455, 481, 519, 557, 572, 591, 614, 626, 637 f., 724 f.

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Schlagwortregister Geschichte (Schulbuchgeschichte / wirkliche Geschichte; historisches Bewusstsein; beschämendes Stück der Menschheitsge­ schichte; ein Stück jüdischer Geschichte; das Urteil der Geschichte; lebensfähige Generation)  456, 470, 614, 624, 633, 643, 648, 691, 743, 750 f., 823, 834 Gesichter (Menschengesichter)  57 f., 92, 113, 246, 273, 275, 301, 331, 352, 397, 412, 422, 500, 548, 566, 584, 589 f., 611, 616 f., 630, 667, 691, 748, 752, 786, 790, 822, 831, 833, 835 Gesundheit / Krankheit (körperliche / geistige Krankheit; Genesung; Erholung)  99, 134, 155 f., 160, 173, 226, 271, 280, 288, 292, 322, 410, 414, 426, 450 f., 490, 492, 495, 509, 521, 533, 536, 577 f., 605, 651, 658, 682–686, 688, 691 f., 694 f., 708, 711–714, 717 f., 727, 729, 731 f., 735 f., 740, 757–759, 763 f., 767, 783, 791 f., 843, 848, 850 f. Glaube (an Gott; Gottvertrauen)  36, 167, 175, 242, 271, 293, 417, 536, 574, 582, 610 f., 618, 623, 632, 674, 690, 712 Glück / Unglück  73, 87, 115, 292, 399 f., 422, 666, 703, 725, 824 Gott (Gottesverständnis; Gott als Banner; Gottes letzte Rätsel; Gott im Alltag; Um­ gang mit Gott; in Gottes Armen / in nie­ mandes Fängen; in Gott ruhen; mit Gott zusammenarbeiten; Gott helfen; für Gott sorgen; Gott Gastfreundschaft gewähren; Gott in den Herzen der Menschen zu­ tage fördern; Gottes Bleibe in uns; ein Stückchen von Gott in uns, in den ande­ ren; Liebesbriefe an Gott; Gott verzei­ hen)  28, 36, 63, 73, 88, 102, 105, 122, 130, 132, 136, 201 f., 206, 217, 233, 241 f., 249, 253 f., 260 f., 270 f., 281, 290 f., 293, 295, 306 f., 350, 394, 409, 522, 538, 558, 578, 582, 600, 610, 615 f., 618, 620–622, 628, 630, 642 f., 651–655, 657–659, 671 f., 677, 682, 688, 690, 692, 706, 717 f., 721, 724 f., 767, 777, 780, 817 f., 826 f., 839 Grenzen (eng / weit; Umzäunung; Veren­ gung / Erweiterung; uferlos / konzentriert; Grenzen aufgeben; über alle Grenzen hinweg)  183 f., 215, 224, 245, 261, 273, 284, 338 f., 347, 378, 380 f., 439, 469, 475, 553, 610, 787, 791, 794, 806

Harmonie (Gleichgewicht; Zentrum; Mittel­ punkt; Mittelweg; Schwerpunkt; Urstoff; Zusammenhänge; allumfassende For­ meln; die Hauptlinie behalten; viele kleine Dinge / große Dinge des Lebens; Einzelheiten / das große Ganze; Persön­ liches / Überpersönliches; Einklang mit dem Kosmos; alles zusammenführen; alles aus einem Stück; mit sich einig sein)  55 f., 101, 107 f., 111, 113, 121, 123–126, 128, 138 f., 142, 148, 162 f., 165, 167, 182, 186 f., 196, 206, 221, 240, 249, 251, 271, 289, 293 f., 296, 299, 303, 305, 315 f., 329, 338, 346, 348 f., 370, 381, 405, 418 f., 429, 431, 436 f., 497 f., 504, 518, 523, 537, 558, 579, 591, 596 f., 604, 610, 623, 634, 639, 684, 705, 715 f., 731, 777, 794, 804, 814, 844 f. Hass (Hass gegen die Deutschen; Abneigung gegen Mitmenschen; Missgunst; Gereizt­ heit; Bekämpfung des Hasses in uns)  41–46, 130, 137, 158, 314, 333, 336, 392, 394, 419, 457, 491, 552, 580, 586 f., 591, 598, 608, 663, 666, 668–670, 755, 810 Heimweh / Heimat (sich überall heimisch füh­ len; zu Hause unter dem Himmel; sich selbst eine Heimat sein)  139, 147, 183, 204, 243, 308, 414, 427, 488, 600, 664, 850 Helfen (Hilfsbereitschaft; den Mitmenschen Beistand sein; den anderen einen Weg aufzeigen; den Mitmenschen formend entgegentreten; die Mitmenschen zu den eigenen Quellen zurückbegleiten; Inspi­ ratorin sein; die Vermittlerin für all die anderen werden; in allen Menschenher­ zen nach Gott graben; «Sozialarbeit»)  36, 83, 93, 96, 106 f., 110, 119, 128, 136, 145, 191, 282, 298, 314, 318, 326, 334, 337, 359 f., 363, 366, 371, 404, 426, 440, 453, 459, 490, 506, 514, 522, 528, 533, 536, 581, 589, 603 f., 606 f., 613, 616, 620, 634, 654, 658, 664, 678, 727, 760 Herz (Herz / Kopf des Menschen; Herz / Ge­ hirn der Menschheit; das Herz ausbauen; geräumiges Herz)  50, 53, 70–72, 92, 124, 126, 133, 163, 185, 231 f., 236, 249, 287 f., 310, 476 f., 595, 622, 630 f., 634, 642, 644 f., 651, 653, 664, 673, 687, 706, 760, 765, 767, 786, 814

Schlagwortregister Himmel (ein Stückchen Himmel überall; der Himmel ist über mir aufgespannt; im Himmel leben / der Himmel lebt in mir; zu Hause unter dem Himmel)  127, 551 f., 587 f., 602, 625, 652 f., 655 f., 664, 692, 725 Hineinhorchen (Hineinhören; sich nach in­ nen wenden; sich versenken; sich einfüh­ len; sich von innen führen lassen; in an­ dere hineinhören; Aufmerksamkeit; innere Stimme)  88, 91, 97, 109, 131 f., 135, 143, 146, 165, 171, 174 f., 179, 234, 263, 277, 286, 303, 316, 352, 361 f., 401, 415, 422, 641 f., 658, 682 f., 703, 780 f. Hölle  127, 479, 490, 587, 622, 628 f., 632, 634, 692, 724, 757, 771 f., 818, 825, 846 Hoffnung (hoffnungsvoll / hoffnungslos; siehe auch Neubeginn; Zukunft)  77 f., 111, 484, 617, 620, 763, 792, 800, 824, 848, 855 f. Homoerotisch (Lesbe; lesbisches Begehren)  259, 397, 409, 517 Humor (Komik; Heiterkeit; Ironie; Scherz; Lachen / Weinen; Clownerie, Ausgelas­ senheit; Spott)  68 f., 111, 119, 128 f., 151, 206, 215, 217, 282, 287, 296, 324, 332, 339, 343, 427, 516, 546 f., 565, 569, 597 («mein Humor ist meine Widerstandskraft»), 605, 615 f., 628, 638, 747 f., 753, 760, 766, 771 f., 776, 780, 786, 794 f., 808, 822, 831, 833, 838 f., 852 f., 854 Ich-haft (Ich-Zustand; Ego; egozentrisch; Egoismus; Selbsterhaltungstrieb; Ich / Ge­ meinschaft; das Ich / das Kosmische; vom eigenen Ich weggehen)  100, 127, 137, 140, 206, 214, 260, 343, 428, 431, 498, 503 f., 512 f., 515 f., 521–523, 529, 539, 587, 606, 623 f., 674 f., 716, 763, 839, 844 Innen / außen (Innenwelt /Außenwelt; Innen­ leben / äußere Umstände; Innenraum; innere Horizonte; das eigene Innenleben bilden; innere Stärke; innere Bereiche­ rung; innere, tiefere Quellen)  50, 55 f., 89 f., 93 f., 97 f., 106 f., 126, 153 f., 175 f., 179, 197, 209, 219, 241, 245, 256, 260, 273, 277, 290 f., 315, 318, 320, 328, 331 f., 339, 405, 427 f., 452 f., 456, 463, 499, 507, 519 f., 576, 581, 594, 652, 750, 813 In-sich-Ruhen (Ruhe / Unruhe; Ruhepausen; Geduld / Ungeduld; Gelassenheit;

Chaos / Ordnung; innere Spannungen; Krisen / schöpferische Pausen; ausklingen lassen; Gesammeltsein / Zerstreuungen; sich innerlich vorbereiten; in mir lesen; extrovertiert / introvertiert)  23, 39, 41, 53–56, 58–60, 62, 66 f., 69–72, 88, 91, 93, 101–103, 107, 111–114, 122, 124, 126, 131, 134, 139, 143, 147, 151, 154, 157, 163, 167, 175, 179, 183, 208, 213, 215 f., 223, 231–233, 239, 251, 257, 268, 292 f., 313, 318, 341 f., 347, 351, 356–358, 367 f., 370, 372, 379, 396, 400, 410 f., 413, 421, 425, 428 f., 436, 443, 448, 463, 465, 467, 471, 490, 496 f., 515, 534, 538, 542 f., 564, 581, 595, 600, 616, 623 f., 630 f., 633–636, 639, 641, 646, 651, 655, 657, 667, 678, 686 f., 689, 692, 695 f., 704 f., 712, 715 f., 719, 726, 729, 780 f., 782 f., 844 f., 847, 852 In-sich-Tragen (alles; die anderen; dieses Stück Zeitalter; eigene Jahreszeiten; ­eigene Landschaften; ein ruhiges Zim­ mer)  459, 567, 587, 645, 693, 717 Irrenhaus (Wahnsinn)  117, 197, 420, 630, 632, 637, 712, 744, 794, 838 Judenrat (siehe auch Westerbork, Judenrat)  285 f., 333, 353, 457, 619, 623, 644, 648, 656, 732, 736 f., 757, 772–775, 782, 815, 859 Judentum / Christentum (Jüdin / Christin)  42, 137, 215, 363, 395, 453, 670 f., 826, 702, 857 f. Judenverfolgung (Judenfrage; Deportation, Transporte; «zu Tode gejagt quer durch Europa»; siehe auch Konzentrationslager; Stern, gelber; Westerbork)  42, 55, 57 f., 79 f., 82–84, 95, 173, 189, 209, 212, 256, 272, 277, 292, 303, 315, 323, 332 f., 363, 377, 390, 452 f., 455–457, 462, 491, 507, 509, 519, 521, 528, 536, 548, 551, 565, 578, 581, 584, 588, 592, 594, 596, 607, 611, 614 f., 646, 648, 650, 663, 672, 702, 710, 757, 764, 829, 834, 858 Katastrophe (Naturkatastrophe)  293, 392, 628, 715, 772, 821 Klarheit schaffen (klar / ungefähr; den anderen in mir zur Klarheit führen)  105–107, 126, 128, 133, 143, 179 f., 241, 250, 252, 256, 297 f., 305, 326, 374, 380, 448, 494, 504, 520, 545, 604, 649, 680

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Schlagwortregister Klischeevorstellung (klischeehaft)  242, 529 f., 544, 573, 609, 618 Kloster (Klosterleben; Klosterzelle; Mönche; mönchisch)  107, 159, 198, 208, 292, 463, 524, 553, 569, 596, 677, 709 Knäuel (Kloß; seelische Verstopfung; Verkramp­ fung)  24, 26 f., 46, 133, 136, 147, 153–155, 158, 168, 281, 298, 309, 335, 436, 822 Knien (Niederknien; «das Mädchen, das nicht knien konnte»; siehe auch Beten)  51, 146, 151, 197, 201, 221, 241, 256, 260 f., 321 f., 343, 408 f., 419, 531, 557, 569, 595 f., 631, 634, 664, 678 f., 693 Konzentrationslager (Arbeitslager, Lager; ganz Europa ein einziges Lager; siehe auch Westerbork)  55, 79, 82, 95, 169, 178, 205, 209, 258, 266, 320, 325, 356, 394, 452, 457, 471, 488, 491, 563, 578, 592 f., 601, 603, 607, 613, 615, 619, 628, 638, 668 f., 685, 743, 807, 852, 858 f. Koran  766 Kraft / Kräfte, schöpferische (Urkraft; Kräfte, innere; Substanz in mir; schöpferisch / materialisiert; geistige Reichtümer; Kraft schöpfen aus dem Leiden; Mangel an Kraft)  36 f., 53 f., 64, 90, 179 f., 186, 190 f., 199, 214, 220, 241, 259, 290, 309, 314, 370–372, 377 f., 382, 390, 394, 417, 422, 425, 450 f., 470 f., 476, 481, 483, 486, 494, 504, 512, 533, 542, 547, 563, 572, 576, 590, 602, 625, 628, 633, 642, 675 f., 680 f., 693–695, 700 f., 706, 727, 731, 751, 788, 802, 844 Krieg (Verwüstung; Zerstörung; Kriegsge­ winnler)  188, 242, 315, 360, 362, 392 f., 426, 442, 462, 491, 502, 536, 583, 665 Kunst (Kunstwerk; Gemälde; Künstler sein; künstlerischer Prozess; Kunst als Zu­ fluchtsstätte in schwierigen Zeiten; Kunst als Verarbeitung von Leiden; Kunstleben im Lager)  266 f., 377 f., 381 f., 395 f., 400, 410, 465, 496, 499, 540 f., 547, 607 f., 665 f., 675, 696, 713, 817 f., 832 f., 850 Leben (das Leben ist schön, gut, reich, wert gelebt zu werden; das beste Leben; das Leben ausschöpfen; Lebenskraft; Sinn des Lebens; Rätsel des Lebens; Liebe zum Leben; Lebensweg; Lebensstrom; Leben

im Geist; Leben auf jedem Fleck dieser Erde; lange leben)  30, 34, 37, 39, 41, 58 f., 64, 73, 85, 91, 94 f., 100, 108, 112–113, 115 f., 121, 129, 138, 142 f., 146 f., 153, 159, 161, 165, 170 f., 174, 183, 185, 188 f., 196, 199, 204 f., 209 f., 224, 229, 234–236, 240, 243, 250 f., 264, 268, 276 f., 291, 294, 296, 310 f., 325–327, 346, 349, 357, 364, 369 f., 382, 384, 387, 392–394, 456, 465 f., 487, 491, 496 f., 512, 532, 537 f., 541, 548 f., 552, 555, 557, 563, 567 f., 578, 581 f., 584 f., 591, 593, 602 f., 609 f., 623, 630–632, 634 f., 637, 648, 652–654, 657, 659, 661 f., 667, 673, 682, 689 f., 695, 716 f., 719, 722, 743, 777, 787 f., 804, 809, 839, 847 Lebensanschauungen (Strömungen; -ismen; Sozialismus; Kommunismus; Calvinis­ mus; Theorien von Rasse und Volk)  42 f., 45, 215, 218 f., 570, 577, 600 Leib und Seele (Körper und Geist; Fleisch und Blut; Seelenleben; Leiblichkeit; phy­ sisch / psychisch; materiell / geistig; obere / untere Schicht; ein Stückchen Seele sein; beseelt sein)  24, 26–28, 36, 39, 42 f., 50, 56, 59–63, 69, 74–76, 88 f., 98, 100, 108–110, 112, 116, 132 f., 148, 150, 168, 170 f., 174 f., 186, 189, 198, 202 f., 219 f., 223, 225, 231, 248 f., 274, 279, 292 f., 309, 325, 328–331, 335 f., 342, 351, 355 f., 358 f., 371 f., 382 f., 388 f., 391, 408 f., 415 f., 420, 422 f., 438 f., 463–466, 473, 478, 483 f., 490–493, 495, 497, 517, 520, 523, 530 f., 533, 543, 545, 550, 553, 556, 569, 574, 579, 590, 592, 608, 624, 627, 635, 651–654, 656, 658, 660, 666, 671, 676, 680, 690, 694–696, 706, 710, 715, 717, 726 f., 760 f., 781, 787, 791 Leiden (Schmerz; Seelenschmerz; Grund­ schmerz; eigenes Leiden / Leiden der Menschheit; Quellen des Leidens; Wun­ den; Bereitschaft zum Leiden; Leiden und Freude; Leidensweg; Leiden als Teil des Lebens; mit dem Leiden gütig sein; leiden, aber nicht verzweifelt sein; leiden, aber nicht daran zu Grunde gehen)  96, 108 f., 125, 133, 169, 173, 182, 199, 205, 216 f., 223, 243 f., 336 f., 340–344, 392–394, 439, 454, 456 f., 466, 469, 471, 510, 531, 549, 557, 561, 576, 578, 583–585, 590, 592, 595, 613, 620, 625, 628, 637, 651,

Schlagwortregister 664, 679–681, 685 f., 690 f., 702, 726, 750, 767, 781, 783, 787, 799, 839 Leitmotiv meines Lebens (Lebensmotto)  400, 402 f., 534, 568, 822 f. Lesen (Abschreiben; Exzerpte; Bücher; Bü­ cherregale; lesen / verarbeiten)  36, 106 f., 131, 135 f., 156 f., 159 f., 165, 180, 182, 186, 195, 214, 225, 232, 235–237, 239 f., 245, 255, 396, 411, 415, 429, 432, 473, 478, 553, 819, 850, 855 Liebe (I) (Erotik; Sexualität; Sinnlichkeit; Begehren; Libido; Liebe zu einem einzi­ gen Menschen; volle Hingabe; mit dem anderen eins werden)  23 f., 27–29, 34 f., 37–39, 48, 50, 59–66, 74–76, 86–88, 104–106, 108, 116, 136, 148–152, 163, 170 f., 173, 184–187, 196, 204, 237, 279, 284, 287, 292 f., 298, 324, 327–331, 335 f., 338, 340 f., 346, 355 f., 358, 361 f., 364, 368, 371–374, 387–389, 406 f., 409, 412, 416, 422 f., 449, 460, 470, 474, 478 f., 517, 543 f., 567, 569 f., 580 f., 622, 626, 636, 665, 692, 700 f. Liebe (II) (umfassendere Liebe; bedingungs­ lose Liebe; zu allen Menschen; für den ganzen Kosmos; auf einer höheren Ebene; Liebe und Mitgefühl; Mitleid; Menschenliebe; Nächstenliebe; Feindes­ liebe; Verbrüderung zwischen Feinden)  34, 37, 88, 92, 104 f., 140, 171, 182, 185, 201, 208, 210, 212 f., 217, 219, 225, 235, 238, 247, 258, 271, 287 f., 320, 322, 324, 326, 328 f., 332, 344, 353, 373 f., 384 f., 387 f., 392, 422 f., 441, 456 f., 472, 485, 527, 540, 561, 565, 567, 593, 598, 606, 624, 638, 648 f., 655, 661, 663, 665, 667, 669, 676 f., 685, 691 f., 700 f., 715, 719, 728, 731, 755, 787, 801, 804, 810, 818 f., 844, 855 Lilien auf dem Feld (und Vögel des Himmels)  666, 668, 672 Literatur / Leben  210, 240, 255, 396, 401 Mann-Frau-Beziehung (Frauenemanzipation; Frauenproblem; Mädchen / Junge; Mann / Mensch; die Aufgabe der Frauen an den Männern; Geschlechterverwandt­ schaft)  26, 37–39, 59–66, 77, 97, 100, 104 f., 108, 118, 123, 140 f., 148–152, 164, 166, 170 f., 174, 201 f., 238, 288 f., 336,

345, 357, 361 f., 365, 369 f., 382 f., 385–388, 409, 416, 430, 440 f., 444, 452, 472 f., 522, 527 f., 529, 538, 543–545, 561 f., 565, 567, 573, 581, 598 f., 665, 696, 700 Marokkanerin  234, 277, 377, 415, 435, 554 Materialismus, materialistisch (materiell / kos­ misch fühlen)  288–290, 293 Mensch (Menschheit; Menschenkenntnis; Kern des Menschen; das Menschliche; alle Menschen Brüder; an den Menschen glauben; den Weg zu den Menschen fin­ den; «Homo sum»)  40 f., 55, 73, 97, 110, 112, 115, 129, 175 f., 269, 286, 289, 296, 309, 320, 365, 390, 393, 396 f., 401, 406 f., 424, 440, 447, 464, 489, 508, 605, 609, 611 f., 618, 634 f., 666, 676, 729, 760, 763, 791, 844 Menstruation  202, 220 f., 274, 279 f., 353, 398, 410, 433, 438, 475 f., 542, 546, 612 Mittel / Ziel, Zweck  118, 120, 123, 290, 329 f., 373, 532 Moralisch, sittlich (moralischer Mensch; ­moralische Pflichten; moralische Entrüs­ tung; moralische Gefahren; ungerechte Verteilung der Güter; Ethik)  306, 311, 378, 381, 457, 505, 548, 563, 593, 611, 618, 623, 675, 678 f., 727 f., 749, 755, 839 Müdigkeit (Niedergeschlagenheit; Beklem­ mung; Mutlosigkeit; Ohnmacht)  85, 96, 131, 139, 154, 159, 190, 226, 275, 284 f., 307, 313, 466, 483, 513, 521, 537, 555, 573 f., 584 f., 591, 595, 695, 740, 785 f., 796, 814, 840 Musik  59, 93 f., 180, 207, 217, 241, 266, 282, 302 f., 314, 363, 368, 398 f., 410, 451, 496, 507, 556, 570, 577, 676, 720, 810, 830, 850 f. Mystik (Meditation; Ekstasen; Entrückung von allem)  88, 91, 541, 556, 604, 676, 722, 775 Natur (Blumen; Bäume; Sterne; Landschaf­ ten; Wolken; Regenbogen; Verwelken in der Natur; Gesetze der Natur)  46, 48 f., 51, 68, 73, 102, 113 f., 129, 134, 214, 225, 233, 238 f., 256, 273, 300–302, 306, 323 f., 367, 375, 377 f., 380, 382, 390–393, 399, 406, 408, 410, 414 f., 418, 420 f., 423–425, 427, 431, 435, 438–440, 442, 445, 449, 453, 460, 491, 493, 501, 506, 508 f., 528,

983

984

Schlagwortregister 536, 539, 550, 552, 554, 566, 568, 571, 573–576, 582–584, 598, 600, 606, 610, 612, 621 f., 625, 634, 639, 646, 664, 668, 672 f., 686, 708, 794 Neubeginn (neue Sprache finden; alles neu sagen; neue Zeit vorbereiten; neue Welt, neue Städte aufbauen; neue Gebiete kul­ tivieren; auf ein neues Jahrhundert hin; Lebensgefühl in das neue Zeitalter hin­ überretten; den Weg zu etwas Strahlen­ dem und Neuem finden; neue Einsichten aus den Lagern gewinnen)  146, 204, 224, 336–338, 341, 393, 531, 573, 585 f., 630– 632, 640, 647, 652, 708, 750, 787 f. Objektivität / Emotionen (Objektiv-Sein; Sachlichkeit; objektives Wissen / subjekti­ ves Erleben; objektiv / dichterisch; Fak­ ten / Stimmungen; Beobachtung, Beob­ achtungsgabe)  45, 125, 147, 159, 164, 175 f., 178, 262, 285, 378, 431, 443, 446 f., 475, 481, 597, 607 f., 614, 648 Offenheit für alles (Raum, Platz für alles; alles im Voraus akzeptieren; allem ins Auge blicken; sich allem stellen; Verbunden­ heit mit allem; die ganze Welt in mir)  162, 203, 217, 232, 264, 326, 417, 513, 518, 520, 560, 583, 587, 630, 636, 641 f., 802 Opfer  479, 490, 557, 630, 823 f., 849 Passivität /Aktivität (Erkennen / Erkanntwer­ den; Verstehen / Verstandenwerden; Emp­ fänger sein; Ausgeliefertsein; gehen / ge­ führt werden; wollen / geschehen lassen)  53, 97 f., 120, 134–136, 145, 179, 203, 499, 594, 597, 618, 627, 686–688, 706, 802 f. Polen  209, 366, 457, 479, 488, 554, 558, 579, 582 f., 634, 660, 757, 773, 775–777, 779 f., 782, 786, 789, 802, 822, 827, 829, 833, 848, 856 Privilegien (Intrigen; Gerangel; egoistisches Ringen; Kampf um Amtspapiere; «Stem­ pelitis»; Kuhhandel)  619 f., 623, 634, 640, 685, 777, 793 f., 800, 821, 831 f., 852 Psychologie (Psychoanalyse; psychologisches Laboratorium; psychologische Prozesse; Komplexe; psychologischer Magen; psy­ chologischer Staub; psychiatrische An­ stalt)  91 f., 99, 115, 145 f., 155, 166, 168,

172, 176, 178, 193, 199 f., 202, 211, 229, 246, 278, 297 f., 414, 443, 489, 517, 658, 711, 714 Psychologie / Literatur  201, 207, 247 Rachegefühl  315, 394, 560, 587 Rätsel (alles so rätselhaft; alles so unbegreif­ lich; alles durcheinander; greifbar / unfass­ bar)  130, 185, 204, 260, 494, 507, 633, 652, 671 f., 726, 750, 770, 772, 774 f., 782, 824 Räume, weite (Horizont, weiter; Ebenen, weite; breite Flüsse, hohe Gebirge und weite Ebenen in mir; innerer Raum / kos­ mischer Raum; im Raum leben, der noch gewährt ist)  64, 69 f., 93, 102, 228, 235, 268, 290, 310, 317, 377, 394, 451, 480, 501, 509, 522, 530, 552, 596, 599, 601 f., 635, 637, 649, 656 f., 673, 678, 692 Reisen (viele Landschaften; in der ganzen Welt herumreisen)  331, 344, 348, 352–354, 366, 413 f., 448, 561, 627, 673, 685 Religiosität (religiös / irreligiös, eigentlich reli­ giös)  37, 274, 277 Rucksack (Koffer; Gepäck)  609, 616, 625, 642, 644, 646, 668, 684, 720, 729 f., 734 f., 747, 765 f., 777, 790, 840, 852–854 Russland (Russischunterricht; russische Spra­ che; russische Steppen in mir; russisches Leben; Expertin russischer Angelegenhei­ ten; Russland-Europa; Rilke nach Russ­ land zurückbringen; Osten / Westen)  45, 93, 115, 135, 139, 163, 243, 246 f., 396, 413 f., 472 f., 501, 532, 551, 553, 558 f., 563, 570, 575 f., 585, 609, 636–638, 664, 681, 694, 760, 809, 838, 847, 854–856 Scham / Schamlosigkeit (Schamgefühl, Schande)  24, 35, 43, 132, 176, 194 f., 247 f., 290, 350, 408 f., 724, 793 f. Schicksal (eigenes Schicksal / Massenschicksal; sein eigenes Schicksal tragen; in schick­ salhaftem Mechanismus verstrickt; Gefühl des Unabwendbaren; Schick­ sal / Zufall; Schicksal / Flucht)  57, 95, 154, 267, 323, 327, 331 f., 357, 419, 457–460, 507, 591, 603, 614, 618 f., 627, 642 f., 647, 663, 704, 729, 770, 776, 803, 824, 835, 855

Schlagwortregister Schönheit (Anmut; schön / hässlich)  89, 148, 177, 228, 266, 381, 442, 445, 556, 574 f., 651, 664 f., 687 Schöpfung, Geschöpf Gottes (Gottes Erde; Mitkreatur; siehe auch Ebenbild Gottes)  73, 131, 195, 202 f., 235, 418, 445, 466, 489, 496, 531, 540, 554, 561, 566, 568 f., 574 f., 591, 627, 633, 644, 653, 658, 663, 673, 675, 689, 717, 804 Schreiben (Schriftstellerin werden; Sprache, Worte finden; eine Form finden; einen Gegenstand finden; Gestalten; «Schöp­ fen»; die allernötigsten Worte; einfache Worte; Schreiben aus innerer Notwendig­ keit; Schreibtalent; schreibende Hand; Tagebuch; Schreibtisch)  23 f., 29, 35 f., 45 f., 48 f., 69 f., 88 f., 97, 102, 105 f., 109 f., 112–115, 120–122, 124, 131, 136 f., 142–145, 157–159, 162 f., 185, 188, 196 f., 200, 205, 210 f., 214, 219 f., 227–229, 234, 238, 251, 255, 257, 261, 265, 267 f., 272 f., 283, 285 f., 299 f., 306, 308, 316, 327, 356–358, 360, 368, 382 f., 387, 389 f., 395 f., 405 f., 411, 418–421, 433–436, 453, 458, 462, 467 f., 475, 479, 481 f., 488, 494 f., 497 f., 500 f., 503 f., 509–512, 516 f., 526, 538, 540, 542, 549 f., 554, 559 f., 568, 571, 578, 580, 600, 604, 610, 613 f., 626, 639, 643 f., 647, 649–653, 659, 661 f., 667 f., 673, 679 f., 688 f., 694, 701, 728, 732, 737, 739, 743 f., 755, 765, 782, 785, 792, 794, 812–814, 821, 823, 830, 834, 854 Schülerin, Jüngerin werden (Vermächtnis)  310, 483, 660 Schuldgefühl(e)  54, 57, 126, 205 f., 232, 373 f., 380, 417, 507 f., 714, 731, 838 f. Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch (das ungeborene Kind)  221, 224–226, 229, 451 Schwangerschaft, geistige (schwanger gehen)  421, 484, 488 Schweigen (Stille; Worte / Wortlosigkeit)  181, 420 f., 428, 467 f., 501, 601, 614, 639, 739 f. Selbstvergessenheit  33, 88 f., 112, 235, 778 Sicherheit / Unsicherheit (Zuversicht; Gebor­ genheit; Gewissheit / Ungewissheit; Ver­ trauen / Mangel an Vertrauen; Erschütte­ rungen; Zweifel; Prüfung)  66 f., 100, 124, 155, 174, 176–178, 180, 187, 192, 194,

201, 204, 208 f., 259, 263, 297, 345, 349 f., 354, 439, 453, 495, 502 f., 508, 516, 520, 523, 549, 569, 615, 632, 644, 701, 849 Sorge(n) (kleine Dinge des Alltags / große Sorge; Kummer; Sorgen / Schicksal)  101, 117, 235, 322, 336, 394, 432, 434, 563, 606, 610, 614 f., 621, 627, 632 f., 636, 678, 686 f., 777, 782, 805 f. Spiel, Spielerei (Spielzeug; Spielen / Ernstma­ chen; Spiel / Schicksal; Schauspiel mitten im Elend; Revue während der Vorberei­ tung eines Transports)  24, 31, 59–61, 68, 104, 110 f., 141, 143, 219, 282 f., 298, 330, 357, 389, 409, 436, 486, 495, 510, 529, 550, 564, 603, 671, 675, 690, 709, 713, 725, 793, 795, 832 f., 838, 850 Stern, gelber (gelber Fleck)  452, 455–457, 484, 498, 560, 664, 702, 748, 773, 807, 834 Talmud  766 Tanzen  364 f., 428 Tod, Sterben (Fallen; Leben und Sterben; den Tod ins Leben integrieren; das Wie des Sterbens)  67, 79–84, 125, 181–183, 211, 244, 265, 271, 350, 352, 578, 583, 588 f., 598, 604 f., 619, 654–657, 660, 726, 768, 787, 830 f., 835, 839 Todeswunsch (Suizidgedanken, Selbstmord)  141, 172, 177, 181–183, 191, 193, 244, 280, 360, 612, 642, 669 f., 781, 787 Traum, Traumdeutung  68, 116, 127, 143, 203, 219, 221, 338 f., 345, 347–349, 354, 380, 407, 517, 579 f., 599, 623, 654 f. Traurig / fröhlich (Weltentraurigkeit / eigene Traurigkeit; Schwermut; Trauer; Weinen; Tränen; Frohsinn; im Leiden froh sein; «Sie strahlen immer so»; siehe auch Freude)  122, 140 f., 162–165, 172 f., 217, 219, 239, 265–267, 275, 293, 295, 308, 328 f., 343, 393 f., 410, 416, 421, 475, 502, 513 f., 524 f., 528 f., 536, 561, 595 f., 605, 621, 625, 631, 640, 646, 660, 690, 716, 725, 776, 794 f., 806, 817, 827, 838, 854 Treue / Untreue  45, 61 f., 87, 145, 162, 171, 214, 225, 237, 270, 288, 349 f., 366, 440 f., 454, 468–470, 475, 573, 610, 621, 627, 631 f., 655, 679, 718, 739, 806, 855 Unlust (Unzufriedenheit; Überdruss; alles abhandengekommen)  191, 220, 248, 250,

985

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Schlagwortregister 280, 298, 302, 311, 332, 337, 397, 399, 436 f., 502, 521, 612 Untergang (Vernichtung; jüdisches Schicksal; dem Untergang Platz einräumen; Unter­ gang / neuer Anfang)  493 f., 584 f., 588, 595, 601, 605, 687, 742, 761, 780, 806 f., 848 Unterleib  105, 204, 403, 491, 542, 567, 574, 829 Ursprung des Bösen in den Menschen (Hass; Krieg; Katastrophen; Sinnlosigkeiten)  392 f., 529, 531 f., 578, 610, 633, 777, 793 Verantwortung (für sich, für andere, für einen Mann, für ein Kind; man selbst werden; den eigenen Lebensweg gehen; aus sich heraus leben)  182, 185, 188, 205 f., 221, 226, 331, 351, 365 f., 371, 373, 407, 429, 433, 445 f., 469–471, 482 f., 498, 500, 504, 506, 519, 532, 548, 552, 563, 569, 596, 615, 632–634, 638, 648, 653 f., 702, 715 f., 736, 802 Verarbeiten (bei sich selbst anfangen; an sich selbst arbeiten; aneignen; einordnen; wahrhaben; ins Leben umsetzen; den­ ken / leben; sich beteiligen; bereit sein, sein ganzes Leben zu ändern)  36, 99, 126, 128, 137 f., 141, 145 f., 151–153, 157 f., 161, 195, 197, 200, 207–209, 212, 217, 221, 223, 233, 237 f., 260, 263 f., 279, 283, 318, 341 f., 345, 357, 363, 365 f., 369, 371, 383 f., 392 f., 397, 426, 428, 432, 436, 454, 463 f., 466, 476, 504, 512, 521, 523, 531 f., 534, 536, 550, 552, 579, 587, 589, 594 f., 604, 615 f., 633, 639 f., 661, 675, 683, 685, 693, 696, 701, 713, 739, 750, 780 f., 810, 823 f., 837, 849 f. Vergangenheit  52, 272, 356 f., 360 f., 363, 367, 431, 435, 590 f., 767, 770 Vergeben (Verzeihen; Versöhnung; Fehler ak­ zeptieren)  210, 212 f., 218, 234, 363 f., 480, 557, 572, 580, 636, 666, 674, 718, 827 Wahrheit (Wahrheit / Masse; meine eigene Wahrheit)  44 f., 131, 201, 240, 365 f. Weltfremd (wirklichkeitsfremd)  452, 456, 489, 512, 625 Weltinnenraum  352, 358, 652 Werte (die hohen / großen / letzten Werte ­dieses Lebens; auf unsere letzten Werte

geprüft; das Gute und das Schlechte in sich)  350, 454 f., 462, 466, 474, 495, 512, 540, 659, 755, 814 Westerbork Alle später aufsuchen, die wir haben weggehen lassen  685 Alte, invalide und kranke Menschen  747, 750–752, 775, 787, 800, 808, 810, 830, 834, 838 f. Baracken  659 f., 667, 671, 719, 723 f., 736, 744 f., 752–754, 770, 775, 809, 814, 821, 836 Begegnungen  660, 664, 668–670, 719 f., 723, 741 f., 744 f., 748 f., 751–755, 765, 767, 769 f., 775–778, 782, 793, 806–809, 819–821, 823, 827 f. Bibliothek, Bücher  738 f., 809 Familie (Angst um seine Nächsten)  771–777, 779–783, 785–787, 789 f., 793, 796–798, 801–803, 805, 808, 815, 836 f., 840 f., 852 f. Freundschaften (Gemeinschaft)  659, 682, 720–722, 730–732, 737, 740, 756 f., 763 f., 767 f., 776, 783, 789, 792, 795, 803, 805, 811, 814, 822, 841, 850, 854, 859 Gleichheit / Ungleichheit (Gesellschafts­ unterschiede; gerechtes System)  752, 754, 793 Heimweh, Sehnsucht nach Westerbork (mit Westerbork verwachsen)  659, 667, 681 f., 686–688, 691, 718 f., 734, 740, 757, 761–763, 767 Helfen in Westerbork  667, 670, 674 f., 691, 723, 738, 756, 767, 769–771, 824–828 Hilfe von Freundinnen und Freunden  678, 724, 737, 767, 773 f., 778, 782–785, 788 f., 795–797, 800, 811 f., 815 f., 835–838, 840, 849, 856 Inszenierung des Kommandanten am Zug  833–835 Judenrat (Fehler; Handel mit Juden; ­Erschütterungen)  656, 732, 736 f., 764, 772, 774, 776 f., 782 Kinder, Babys (und ihre Mütter; schwangere Frau; Frau mit Mutter­ milch)  739, 748, 767, 769, 786, 808, 810, 813, 820 f., 823–829, 831, 833

Schlagwortregister Kommandant Gemmeker und seine Hofnarren beim Vorbereiten eines Zuges  833–835 Lager und Gelände  659, 727, 742, 744, 753 f., 766, 773, 807, 819, 821 Leben (Alltag; Arbeit; Essen)  667, 682, 687, 719–721, 730 f., 735, 742–744, 768, 770 f., 773–775, 778, 783–785, 789, 805, 809–811, 815 f., 819 f., 836 f. Natur (Heide; Lupinenfeld; Vögel; Him­ mel; Sonne, Mond und Sterne)  664, 671 f., 719–721, 723, 736, 743, 762, 769–771, 781, 786, 794, 806, 820 f., 851 «Notgemeinschaft» («Überschwemmung aus Menschen»; Gedränge; Lärm; Platznot; Kälte; Mäuse; Läuse; Schlamm; Sandsturm; Misshandlun­ gen; Kollektivstrafen; Repressalien; Mangel an Kleidern; Mangel an Hy­ giene; Krankheit; tägliches Sterben; Verarmung; Abstumpfung)  582 f., 661, 671, 681 f., 687, 690 f., 718, 723 f., 727–729, 732 f., 736, 738 f., 745–747, 752–755, 767, 769 f., 772, 775, 778, 783 f., 786 f., 792 f., 799, 810, 813, 815 f., 819–832 Stacheldraht  659, 667, 676, 681, 688, 719, 722, 727 f., 742 f., 745 f., 749 f., 767–771, 773, 782, 807 f., 812, 821 f., 851, 859 Transporte nach Westerbork und von Westerbork aus (Massenmord; «ein Volk auf Durchreise»; Razziatrans­ porte; Transportlisten; Güterwag­ gons / Viehwagen; Ankunft der Züge; Vorbereitung und Abfahrt der Züge; Selbstmorde vor dem Transport; Verladen der Mitjuden)  723 f., 734 f., 738, 742 f., 746–748, 751, 766–772, 775 f., 779–781, 786, 789 f., 793–796, 798, 800–802, 830–835, 838, 840 f., 848, 852–856 «Unterwelt von Westerbork» (dunkle Machtpositionen im Lager)  790, 793 Wille (Wahl; «Du sollst wollen»; «Man soll»; Entscheidung; Wille / Verwirklichung; freiwillig / gezwungen; Widerwille; nichts mehr wollen)  32, 34, 59–62, 69 f., 143, 211, 248, 405, 463, 553, 623, 661, 686 f.

Wirklichkeit / Fantasie (Traumwelt / echte Welt; wirkliche / unwirkliche Welt; Fanta­ sieren; Intuition; die Wirklichkeit durch­ leuchten; härteste Realität; Wirklich­ keit / Vision)  28–32, 54, 61 f., 67 f., 75, 109, 135 f., 167, 174, 184, 191, 194, 206, 211, 227, 229–231, 238, 245, 269, 284 f., 385, 420, 446, 456, 476, 494, 542 f., 546, 557, 610, 618, 665, 676, 680, 761, 794, 823 Wissen (Wissenschaft; Wissen / Weisheit; ­Wissen / Liebe; Lernen; Unwissen)  40 f., 47, 79–85, 135, 154, 159, 164, 213, 278, 574, 598, 611, 683 Wüste  266 f., 280, 495, 518, 565, 786 Wut (legitime / illegitime Wut; Empörung; Rebellion; Aufbegehren)  60, 78, 329, 335, 393 f., 505, 514, 593, 643, 755 Zärtlichkeit (eine große / tausend kleine)  444 f., 568 f., 655 Zeit (Zeiten)  39, 52, 90, 99, 101, 169, 175, 185, 245, 495, 503, 567, 569 Zeit, diese (dieses Jahrhundert; dieses Zeit­ alter; diese Erde; diese Welt; schwierige Zeiten)  113, 125, 133 f., 138, 169, 175, 181, 184, 188, 208, 250, 324 f., 337, 356, 392 f., 420, 435, 452 f., 459, 466, 470, 480, 486, 488 f., 506, 523, 525, 528 f., 533, 548, 553, 582, 584, 588, 598, 601, 617, 628, 630 f., 633, 637, 643, 651, 654, 658, 665–668, 760, 783 Zerbrechlichkeit (Schwäche; Empfindlich­ keit; Fehlbarkeit; mögliche Abstürze; die Wehrlosen und das Wehrlose in mir)  206, 344, 371 f., 441, 485 f., 492, 562, 590, 593, 631, 655, 683, 685, 696 Zukunft (Ziel; heute / morgen; der morgige Tag; noch ein langes Leben; Leiden vor­ wegnehmen; Zukunft nie vorausdenken; geschehen lassen)  33 f., 52–54, 66 f., 71 f., 131, 156, 161, 176, 183, 187, 197, 211, 219, 225, 327, 337, 366, 385–387, 406, 410 f., 422, 454, 469, 471, 478, 480, 496, 538, 550 f., 564, 570, 574, 591, 596 f., 615, 632, 634, 648 f., 668, 678 f., 695 f., 712, 741, 750, 776, 783, 787 f., 805, 835, 848, 856

987

Etty Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg geboren. Sie stu­ dierte Jura und begann ein Slawistik-Studium, das sie während der deut­ schen Besatzung abbrechen musste. Ab Juli 1942 arbeitete sie für den «Ju­ denrat» im Durchgangslager Westerbork, um das Leiden der von dort aus Deportierten zu lindern. Am 7. September 1943 musste sie mit ihren Eltern und einem ihrer Brüder den Zug nach Auschwitz-Birkenau besteigen. Das Rote Kreuz verzeichnete den 30. November 1943 als ihr Todesdatum. Klaas A. D. Smelik, Professor em. für Hebräisch und Judaistik an der Uni­ versität Gent, ist Gründungsdirektor des Etty-Hillesum-Forschungszent­ rums zuerst in Gent, dann in Middelburg. In Zusammenarbeit mit Gideon Lodders und Rob Tempelaars hat er die erste kritische Gesamtausgabe von Etty Hillesums Tagebüchern und Briefen herausgegeben. Pierre Bühler, Professor em. für Systematische Theologie an der Universität Zürich. Sein Forschungsschwerpunkt sind Hermeneutik, Religionsphilo­ sophie und Literatur der Moderne, insbesondere Søren Kierkegaard, Fried­ rich Dürrenmatt, Paul Ricœur sowie Leben und Werk Etty Hillesums. Christina Siever, Dr. phil., Sprachwissenschaftlerin, hat u. a. Salo Mullers Erinnerungen sowie die «Liturgik» von Gerardus van der Leeuw aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt. Simone Schroth, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, wurde mit einer Ar­ beit über Anne Franks Het Achterhuis promoviert. Sie hat u. a. Texte von Anne Frank, Klaartje de Zwarte-Walvisch, Carry Ulreich und Selma van de Perre aus dem Niederländischen übersetzt. Hetty Berg ist seit April 2020 Direktorin des Jüdischen Museums Berlin. Zuvor war sie mehr als dreißig Jahre lang am Jüdischen Historischen Mu­ seum in Amsterdam tätig.

I

Die Familie Hillesum 1931. Von links nach rechts: Etty, Rebecca HillesumBernstein, Mischa, Jaap, Louis Hillesum

II

Deventer um 1925

III

Etty Hillesum um 1930. Foto: Leo Zeldenrust

IV

Oben: In Deventer 1929. Etty Hillesum steht ganz rechts. Unten: Die Abschlussklasse des Gymnasiums. Etty Hillesum befindet sich in der hinteren Reihe, zweite von rechts.

V

Etty Hillesum in Amsterdam, 1934

VI

Etty Hillesum in ihrem Zimmer, fotografiert von ihrem Mitbewohner Bernard Meylink, 1937. Sie rauchte nicht, hat sich aber für diese Aufnahme nach dem Vorbild von Kinostar-Fotos mit Zigarette in Szene gesetzt.

VII

Han Wegerif um 1939

VIII

Der «Spier-Club» zu Hause bei Julius Spier, um 1941. Von links nach rechts: Henny Tideman, Adri Holm, Etty Hillesum, Julius Spier. Foto: Han Wegerif

IX

Jaap und Etty Hillesum im Garten in Deventer, um 1930

X

Oben: Das Wohnhaus von Etty Hillesum in Amsterdam, Gabriël Metsu­ straat 6, um 1938. Ihr Zimmer befand sich schräg oberhalb der Straßen­ laterne. Unten: Im Wintergarten, rechts Etty Hillesum

XI

Julius Spier um 1938

Adri Holm um 1940

Henny Tideman um 1939

Dicky de Jonge um 1940

Gera Bongers um 1945

XII

Hanneke Starreveld um 1946

Pieter Starreveld in seinem Atelier, 1947

XIII

Liesl Levie um 1939

Werner Levie um 1940

Johanna Smelik um 1939

XIV

Klaas Smelik

Swiep van Wermeskerken

XV

Julius Spier in seiner Wohnung in der Courbetstraat, um 1940

XVI

Oben: Etty Hillesum (links) und Leonie Snatager Unten: Das Haus in der Courbetstraat 27 (Eingang ganz links) in Amsterdam, in dem Julius Spier wohnte.

XVII

Das «marokkanische Mädchen»: Das Foto aus einer Zeitschrift (um 1939) war für Etty Hillesum von großer Bedeutung. Sie hängte es sich an die Wand und erwähnte es mehrfach in ihren Tagebüchern.

XVIII

Das Café de Paris in der Beethovenstraat

Maria Tuinzing

Christine van Nooten

XIX

XX

Etty Hillesum 1941. In diesem Jahr begann sie ihr Tagebuch.

XXI

Die Hefte des Tagebuchs

XXII

Julius Spier um 1930

XXIII

Porträt von Etty Hillesum, gezeichnet von Han Wegerif, Amsterdam 1937

XXIV

Mischa Hillesum um 1935

XXV

Etty Hillesum um 1939

XXVI

Julius Spier bei einer Gesangsübung, begleitet von Evaristos Glassner, um 1941

Meldung der Adressänderung von Etty Hillesum

XXVII

Plan des Durchgangslagers Westerbork

XXVIII

Osias Kormann (vorne) bei der Befreiung des Lagers Westerbork

XXIX

Philip Mechanicus um 1935

XXX

Am 7. September 1943 warf Etty Hillesum auf dem Transport nach Auschwitz diese an Christine van Nooten adressierte Postkarte aus dem Zug.

XXXI

Rückseite der Postkarte

XXXII

Etty Hillesum um 1940

Zum Buch Die Tagebücher der jungen Niederländerin Etty Hillesum sind ein bewegendes Dokument des Holocaust und viel mehr als das: Sie wurden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gerühmt. Vor allem sind sie aber auch eines: große Literatur. Mit dieser Ausgabe liegen erstmals in deutscher Sprache Etty Hillesums sämtliche Schriften vor. Sie lässt eine Schriftstellerin und Denkerin neu entdecken, die zu Recht mit Anne Frank, Simone Weil und Edith Stein verglichen wird. Zehn Monate nach Beginn der deutschen Besetzung der Niederlande begann die siebenundzwanzigjährige Etty Hillesum (1914–1943) unter dem Eindruck einer Psychotherapie, ein Tagebuch zu schreiben. Sie wollte Ordnung in ihr Leben bringen, den Dingen auf den Grund gehen, Gott finden, aber auch Zeugin des Schicksals ihres Volkes werden. Inmitten des Schreckens berichtet sie von der Suche nach Einfachheit und Achtsamkeit und schließlich nach Licht in der „Hölle auf Erden“. Die erlebte sie seit dem Sommer 1942 im Durchgangslager Westerbork, wo sie in der „Sozialen Versorgung der Durchreisenden“ arbeitete. Ihre Briefe aus dieser Zeit beschreiben den täglichen Horror.

Über die Autorin Etty Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg geboren. Sie studierte Jura und begann ein Slawistik-Studium, das sie während der deutschen Besatzung abbrechen musste. Ab Juli 1942 arbeitete sie für den „Judenrat“ im Durchgangslager Westerbork, um das Leiden der von dort aus Deportierten zu lindern. Am 7. September 1943 musste sie mit ihren Eltern und einem ihrer Brüder den Zug nach Auschwitz-Birkenau besteigen. Das Rote Kreuz verzeichnete den 30. November 1943 als ihr Todesdatum.