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German Pages [810]
Die Originalausgaben ‚Trail Sinister‘ und ‚Black Boomerang’ erschienen bei Martin Secker & Warburg Ltd, London
Schweinezüchter Sefton Delmer
© 1961 und © 1962 by Sefton Delmer Alle Rechte der deutschen Ausgabe bei Nannen-Verlag GmbH, Hamburg Umschlaggestaltung Werner Rebhuhn Gesamtherstellung Kleins Druck- und Verlagsanstalt GmbH, Lengerich (Westf.) Printed in Germany 1962 Eingescannt mit OCR-Software ABBYY Fine Reader
Inhalt Buch 1 Vorwort I. Der Herr Professor 2. Schuljunge im feindlichen Ausland
3. Strafe dem Verräter 4. Die Söckchen 5. Lord Beaverbrook ‚empfiehlt’
6. Berlins ‚Goldene Zwanziger‘ 7. Der Tod eines Reporters 8. Verräterischer Selbstmord 9. Die Wundermänner 10. Ernst Röhm 11. Ich lerne Hitler kennen 12. Ein Doppelagent 13. Fräulein Betty
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14. Mitglied des Zirkus Hitler 15. Werkzeug der Mächte 16. Kanzler in Handschellen I7. Der Reichstagsbrand 18. Olga und Valentin 19. Als Reporter in Paris 20. Ich wittere eine Krise 21. Das Ende Ernst Röhms 22. Isabel – und die Saar 23. Ich lasse mir einen Knüller entgehen 24. Rote und Rebellen 25. Die Abmagerungskur 26. Gefahrenzulage 27. Madrid 28. Die Amateurkommissare 29. Exzentriker im Kriege 30. Der rothaarige Pimpernell 31. Berlin – Prag – Jerusalem 32. Hitler macht kehrt, aber ich merke es nicht 33. Pfannkuchen mit Kaviar
141 159 178 187 204 220 226 233 245 256 264 285 293 306 325 334 352 367 376 387
34. Maria Osten 35. Schmach und Schande in Polen 36. Der letzte Rückzug
395 401 408
Buch 2 37. Eine Auskunft für den Führer 38. Englisch für Invasoren 39. Hitlers jüdischer ‚Onkel Doktor’ 40. Endlich beim Secret Service! 41. Gustav Siegfried Eins 42. «Es spricht der Chef ...» 43. Rudolf Hess – eine verpfuschte Angelegenheit 44. Roosevelt wird eingeweiht 45. ‚Deutscher Kurzwellensender Atlantik’ 46. Soldatensender Calais 47. «... Beförderung im Westen bedeutet Tod im Osten ...» 48. ‚Schwarze Literatur’ 49. Die ‚Dolce Vita’ von MB – und die Gefangenen 50. Zermürbungstropfen 51. D-Day und der Dödel
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52. Otto John 53. Sender Köln hat Besuch 54. Brieftaube zum Frühstück 55. «Der Bart ist ab» 56. Mea Culpa 57. 1946 mit dem Rucksack durch Deutschland 58. Des Kanzlers «lieber General» 59. Peggy, Felix und Selina 60. «Einmal ein Verräter, immer ein Verräter» 61. Budapest 62. Urteil ohne Berufung 63. Drachentöter oder Kannibale?
Nachwort
580 606 619 626 637 660 670 687 691 722 731 739
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Anhang 1. Zum Geheimabkommen zwischen der Reichswehr und der Roten Armee 2. Um einen Brief von Dr. Adenauer 3. ‚Die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich’ 4. Dokumente der ‚schwarzen Propaganda’
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Dieses Buch gehört Pegweg, Felix und Eena Verbürgte Zitate von Sefton Delmer: „Man mag heute darüber sagen, was man will, Deutschland war im Jahre 1936 ein blühendes, glückliches Land. Auf seinem Antlitz lag das Strahlen einer verliebten Frau. Und die Deutschen waren verliebt - verliebt in Hitler. Und sie hatten allen Grund zur Dankbarkeit. Hitler hatte die Arbeitslosigkeit bezwungen und ihnen eine neue wirtschaftliche Blüte gebracht. Er hatte den Deutschen ein neues Bewusstsein ihrer nationalen Kraft und ihrer nationalen Aufgabe vermittelt.“ - Die Deutschen und ich, Hamburg, 1961, S. 288
„Mit Greuelpropaganda haben wir den Krieg gewonnen. Und nun fangen wir erst richtig damit an! Wir werden diese Greuelpropaganda fortsetzen, wir werden sie steigern, bis niemand mehr ein gutes Wort von den Deutschen annehmen wird, bis alles zerstört sein wird, was sie etwa in anderen Ländern noch an Sympathien gehabt haben, und diese selber so durcheinander geraten sein werden, dass sie nicht mehr wissen, was sie tun. Wenn das erreicht ist, wenn sie beginnen, ihr eigenes Nest zu beschmutzen, und das nicht etwa zähneknirschend, sondern in eilfertiger Bereitschaft, den Siegern gefällig zu sein, dann erst ist der Sieg vollständig. Endgültig ist er nie. Die Umerziehung (Reeducation) bedarf sorgfältiger, unentwegter Pflege wie Englischer Rasen. Nur ein Augenblick der Nachlässigkeit und das Unkraut bricht durch, jenes unausrottbare Unkraut der geschichtlichen Wahrheit.“ nach der Kapitulation 1945 zum deutschen Völkerrechtler Prof. Grimm
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-28957368.html
Vorwort Vor längerer Zeit las ich ein Buch, in dem eine junge Amerikanerin ihre Erlebnisse als Braut des Besitzers einer Hühnerfarm beschrieb. Sie nannte es «Das Ei und ich». Ich fand diesen Titel hervorragend. Und wahrscheinlich spukte er noch immer in meinem Unterbewusstsein, als mein deutscher Verleger Henri Nannen mich aufforderte, ihm einen Titel für die deutsche Ausgabe meiner Autobiographie vorzuschlagen. Ich sandte ihm folgendes Telegramm: VORSCHLÄGE ‚DIE DEUTSCHEN UND ICH’ BESTEN GRUSS DELMER
Wie man aus dem Umschlag und der Titelseite dieses Buches ersieht, stimmte Nannen meinem etwas gewagten Vorschlag zu. Und nun bin ich gespannt auf die Reaktion meiner Verehrer in den Redaktionen der Deutschen Soldatenzeitung und ähnlich gesinnter Blätter. Bestimmt werden sie sich darauf stürzen und darin einen Beweis für meine unverminderte ‚Arroganz’ den Deutschen gegenüber sehen, vielleicht sogar – in Anbetracht dieses Geständnisses über meine entfernte Ideen-Assoziation zwischen Eiern und Deutschen! – eine Bestätigung jener germanophagen Tendenzen, die sie mir gern nachsagen. Trotzdem möchte ich hoffen, dass Sie, meine verehrten Leserinnen und Leser, dieses Buch ohne Vorurteil oder vorgefasste Ideen zur Hand nehmen und lesen werden und dass Sie es für das nehmen, was es ist: für den ehrlichen, ungeschminkten Bericht über einige der wichtigsten Episoden im privaten und beruflichen Leben eines englischen Zeitungsreporters, der, weil er zufällig in Deutschland geboren wurde und hier einen grossen Teil seiner Kindheit verlebte, bessere Voraussetzungen als die Mehrzahl seiner Kollegen mitbrachte – ich behaupte das mit aller Bescheidenheit! –, um über die Angelegenheiten einer Welt zu berichten, die während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts von dem deutschen Problem beherrscht wurde.
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Und mein Interesse für Deutschland ist auch heute noch nicht erloschen – auch heute nicht, da dieses Land geteilt ist und ich mit meiner Frau nach Polen fahren muss, wenn ich ihr den Strand von Misdroy zeigen möchte, den ich als kleiner Junge vor dem Ersten Weltkrieg so geliebt habe. Bevor ich jedoch dieses Buch auch in Deutschland der öffentlichen Zustimmung oder Ablehnung übergebe, muss ich noch einmal den guten Freunden danken, die mir mit ihrem Rat oder ihrem Gedächtnis geholfen oder mich von früheren Schweigegelübden entbunden haben, allen voran meinem früheren Chef Lord Beaverbrook, dessen leitende Hand mein Leben und meine Karriere durch mehr als dreissig Jahre gesteuert hat. Mein Dank gilt auch den Angestellten der Wiener Library und des Royal Institute of International Affairs, die es mir ermöglichten, in ihren unschätzbaren Sammlungen von Urkunden zur Zeitgeschichte mein Tatsachenmaterial zu überprüfen. Und er gilt auch Frau Gerda v. Uslar, die sich der harten Arbeit unterzogen hat, die Lebenserinnerungen eines Autors zu übersetzen, der noch immer mit zäher Beharrlichkeit auf dem Wunsch besteht, die von ihm so geliebte deutsche Sprache möge sich weniger an das Latein Ciceros anlehnen als an das Englisch Bernard Shaws oder Ernest Hemingways. Wenn Sie, verehrter Leser, sich in diesem Buch an gelegentlichen Anglizismen stossen sollten, schimpfen Sie bitte nicht auf Frau v. Uslar! Schimpfen Sie auf mich! In neun von zehn Fällen entstanden diese Konstruktionen auf meine ausdrückliche Bitte hin. Zuletzt, aber am allerherzlichsten, danke ich meiner Frau. Sie musste sich mit all der Unordnung abfinden, die ein Mann verursacht, der gewohnt ist, in Büros und Hotelzimmern zu arbeiten, wo Zimmermädchen und Sekretärinnen hinter ihm aufräumen, und der jetzt zum erstenmal zu Hause gearbeitet hat.
D. S. D. Mai 1962
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The Valley Farm, Lamarsh, Near Bures, Suffolk.
1. Der Herr Professor Viele Jahre meines Lebens hindurch habe ich mich insgeheim geschämt, weil ich in Berlin geboren bin. Ich versuchte es zu vertuschen. Ich wollte nicht, dass man mich für einen Deutschen hielt. Ich war Engländer, und zwar voll und ganz. Aber es liess sich nicht vertuschen. Irgendwie schien die Welt immer wieder in eine Situation zu geraten, die den Mann am Schalter, der in meinen Pass blickte, zu den Worten veranlasste: «Ach, Geburtsort Berlin, ja? Bitte, treten Sie mal da auf die Seite, ich werde Sie dann später rannehmen.» Und wenn er alle anderen abgefertigt hatte und ich endlich an der Reihe war, kam die unvermeidliche Frage: «Warum sind Sie in Berlin geboren?» Ich bin in Berlin geboren, weil mein australischer Vater an der Universität Berlin Lektor für englische Sprache und Literatur war. Frederick Sefton Delmer konnte nicht einfach seine Vorlesungen und Seminare absagen, um seine ebenfalls aus Australien stammende Frau zu ihrer Entbindung nach England zu begleiten. Und sie wiederum wollte nicht ohne ihn nach England fahren. So kam es denn, dass ich, Denis Sefton Delmer, am 24. Mai 1904 in der bescheidenen kleinen Gartenhauswohnung meiner Eltern in der Kantstrasse in Berlin W das Licht der Welt erblickte und prompt durch den britischen Generalkonsul William Boyle als Untertan Seiner Britannischen Majestät König Eduard VII. registriert wurde. Warum hatte mein Vater sich Berlin für seine Lehrtätigkeit ausgesucht? Mein Vater war ein ungewöhnlicher Mensch. Er ist der einzige mir bekannte Fall eines Jungen, der von der See weglief, um zur Schule zu gehen. Und es war nicht so sehr die See, von der er weglief, als vielmehr der Walfang und der Walfischtran. Denn mein Grossvater James Delmer – ein gigantischer Ire mit einem schwarzen Vollbart, kühnen blauen Augen und einer ungeheuer wilden und herrischen Hakennase – war ein Walfänger. Er verdiente gutes Geld, 15
indem er Wale in der Antarktis jagte und mit einer Ladung Walfischspeck in seinen Heimathafen Hobart in Tasmanien zurückkehrte. Ja, er verdiente so gut dabei, dass er wünschte, auch seine Söhne sollten Walfänger werden. Als jedoch mein Vater im Alter von acht Jahren von meinem Grossvater auf eine Fahrt mitgenommen wurde, packte ihn unüberwindliche Abneigung gegen alles, was mit dem Walfang und der See zu tun hatte. Denn nicht genug damit, dass das Schiff meines Gross vaters höchst ungemütlich schlingerte und rollte, der Oberbootsmann versuchte obendrein noch, dem Kind eine Portion Tranöl einzuflössen. «Das ist gut für dich, mein Junge», sagte er. «Wenn du das trinkst, wirst du gross und stark wie dein Vater.» Die einzige Wirkung aber war, dass mein Vater sich entschloss, nie wieder auf See zu gehen, sich stattdessen an seine Bücher setzte und eifrig lernte. Und er ging auch nie wieder auf See. Nie wieder, das heisst nicht bis zum Jahre 1895, als er im Zwischendeck von Melbourne nach Neapel fuhr, zusammen mit einem anderen Stipendiaten der Universität Melbourne, einem jungen Neuseeländer namens Dr. Harold Williams (dem späteren Auslandsredakteur der Times). Das Reisestipendium meines Vaters war die Krönung einer langen Reihe von Stipendien und Preisen, mit deren Hilfe er seinen Weg durch Schule und Universität gemacht hatte. Denn obwohl mein Grossvater es sich leicht hätte leisten können, weigerte er sich doch hartnäckig, auch nur einen Penny für Dinge zu bezahlen, die er so grundsätzlich ablehnte wie Schule und Bücherwissen. Doch trotz all seiner Begabung und seinem Fleiss erlangte mein Vater nie den akademischen Grad, der für die von ihm ersehnte orthodoxe akademische Karriere an einer englischen Universität so wesentlich war. Was hinderte ihn daran? Religiöser Zweifel und eine kompromisslose Integrität, die in meiner Generation fast unglaubhaft erscheint. Mein Vater wollte Pfarrer werden. Während er sich jedoch auf den geistlichen Stand vorbereitete, kamen ihm jene ‚Zweifel’ über gewisse Punkte der anglikanischen Doktrin, die für seine Zeit so typisch sind. So verzichtete er denn auf diesen Beruf. Aber zu seinem Unglück mussten sich damals alle Studenten, bevor sie einen akademischen Grad erlangen konnten, zu genau denselben Dogmen bekennen, die er als Theologe nicht hatte schlucken können. Und mein Vater weigerte sich, zu unterschreiben, was er nicht glaubte, obwohl er wusste, dass es sich in diesem Fall um eine rein formelle Geste handelte – mit dem Ergebnis, dass dieser junge Mann, dem die höchsten akademischen Aus-
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zeichnungen seiner Universität zuerkannt worden waren, die Universität Melbourne ohne die offizielle Qualifikation für den von ihm erwählten Beruf verlassen musste. Er reiste durch Italien und Deutschland, zog von Universität zu Universität wie die fahrenden Scholaren des Mittelalters. Schliesslich kam er nach Berlin, wo der junge Australier der Lieblingsschüler des Kunsthistorikers Hermann Grimm wurde. Und es war Professor Hermann Grimm, der letzte ehrwürdige Spross der grossen Märchenerzählerdynastie – in meinem Haus steht heute noch ein Biedermeiertisch, den er meinem Vater zur Hochzeit schenkte –, der meinem Vater seinen ersten Universitätsposten als Lektor für englische Sprache und Literatur an der Universität Königsberg verschaffte. Die Deutschen, grosszügig und verständnisvoll wie so oft, schätzten den echten Gelehrtengeist meines Vaters und taten ihr Bestes, um dem ihn so kränkenden Mangel eines akademischen Grades abzuhelfen. Nachdem mein Vater acht Jahre an deutschen Universitäten – zuerst in Königsberg und dann in Berlin – gelehrt hatte, wurde ihm 1908 der Professorentitel verliehen. Eine Auszeichnung für jeden deutschen Akademiker jener Tage und eine ganz aussergewöhnliche Ehre für einen Ausländer. Für unseren Briefträger und Herrn Mühling, den Frisör an der Strassenecke, war es eine grosse Erleichterung. Jetzt endlich konnten sie meinen Vater mit einem Titel anreden und brauchten sich nicht mehr auf das beschämend nackte ‚Herr’ zu beschränken. Mein Vater selbst tat, als lache er über seine Professorenwürde, aber ich glaube doch, dass er insgeheim sehr erfreut war. Ich war es auf jeden Fall. Nie wieder in meinem Leben habe ich mich so stolz und geschmeichelt gefühlt wie an dem Tag, an dem diese Ehrung in der Vossischen Zeitung verkündet wurde. Mein Vater, ein grosser, schlanker, dunkelhaariger Mann mit einem Seehundschnurrbart, wie er damals Mode war, kam in den Tiergarten, wo ich mit meiner Kinderfrau spazierenging, und hob mich auf die Rahmenstange seines Fahrrads, so dass ich mit ihm nach Hause fahren und den Glorienschein seines Ruhms einheimsen konnte. Ich wurde bei dem Gehoppel über das Kopfsteinpflaster unserer Strasse (es war nicht mehr die Kantstrasse: wir hatten eine neue Wohnung in einem Häuserblock an der Spree) zwar kräftig durchgeschüttelt, aber welch erhebendes Gefühl war es dafür, als Herr Heike, der Kaufmann an der Ecke, hinter seinem grossen, glänzenden kupfernen Kaffeebehälter hervorkam, zur Ladentür eilte und uns mit einem tiefen Bück-
ling begrüsste. «Guten Abend, Herr Professor!» sagte er lächelnd, und sein Mund legte sich in jene ehrerbietige Falte, die mich immer an die Falte erinnerte, mit der er seine Kaffeetüte kniffte und schloss. Die ganze Strasse entlang kamen die Geschäftsleute aus ihren Läden und die Portiers aus ihren Logen hervor, um dem Herrn Professor und seinem kleinen Sohn einen guten Abend zu wünschen. Sie taten das nicht etwa, weil sie ihn als Kunden gewinnen wollten oder auf Trinkgelder hofften, sondern weil sie diesen Engländer, der ein so ausgezeichnetes Deutsch sprach, ehrlich gern hatten. Ausserdem war es auch eine gewisse Auszeichnung für die Strasse, dass etwas so Seltenes wie eine englische Familie aus Australien hier wohnte. Auch an der Universität war mein Vater beliebt und angesehen. Die Studenten luden ihn zu ihren Bierabenden ein, obgleich er fast Abstinenzler war, ja sie ernannten ihn sogar zum Ehrenmitglied einer ihrer Verbindungen. Er lud sie seinerseits ein, mit ihm Tennis zu spielen, oder fuhr mit ihnen zum Schwimmen und Rudern an die Seen ausserhalb Berlins. Und es gab manchen armen Studenten, dem er mit einem Darlehen half, das in den meisten Fällen nie zurückgezahlt wurde. (Einige allerdings zahlten ihre Schulden – unter ganz besonderen Umständen, von denen später die Rede sein wird.) Mit seinen Kollegen stand mein Vater sich ebenfalls gut. Ich muss jedoch gestehen, dass ich als kleiner Junge die Sonntagsausflüge mit den anderen Professoren und ihren Familien manchmal etwas lästig fand. Der Beginn einer solchen ‚Landpartie’ machte noch viel Spass. Wir bestiegen die Stadtbahn mit der geschäftigen kleinen Lokomotive, auf deren weissem Schild unser Bestimmungsort prangte: GRUNEWALD. Voller Entzücken sog ich den meiner Ansicht nach hochromantischen Duft unseres Bahnhofs ein – eine Mischung aus Rauch, Wasserdampf, Urin und Karbolsäure. Ich wurde nicht müde, die blaubemützten Türschliesser mit den blanken Messingknöpfen an der Uniform zu beobachten, wenn sie mit einer raschen Handbewegung die schweren Messingklinken der Abteiltüren zuschnappen liessen, während der Zug anrollte und prustend aus dem Bahnhof fuhr. Auch die dicke Polin, die vor dem Bahnhof Grünewald unter der alten Eiche sass, stand hoch in meiner Gunst. Wie eine riesige Teepuppe hockte sie unter ihren schweren Röcken und Schürzen bei ihren Körben mit Früchten und Süssigkeiten. Und wenn sie uns für zehn Pfennig Karamelbonbons oder saure Drops verkaufte, dann lachte sie, und der blonde Haarknoten über ihrem apfelbäckigen slawischen Bauerngesicht nickte und schaukelte, bis ich glaubte, nun müsse er herunterfallen. 18
All das war ein herrliches Vergnügen. Aber dann kam der langweilige Teil. Wir Kinder mussten uns in Reih und Glied aufstellen wie kleine preussische Soldaten und losmarschieren, während unsere Kinderfrauen und ‚Fräuleins’ die Rolle der Unteroffiziere übernahmen. «Links, rechts! Links, rechts!» bellte uns das grosse borstige ‚Fräulein’ der jungen Brandls an. Und wenn wir etwa hundert Schritte marschiert waren, folgte stets das strenge Kommando: «Singen!» Gehorsam piepsten wir los: «Das Wandern ist des Müllers Lust!» Aber ach, dieses Wandern im Grünewald war keineswegs des jungen Delmers Lust! Ein Abweichen nach links oder rechts in die lockenden Schonungen und Haine war streng verboten. Wir mussten weitermarschieren und uns eisern an die Route halten, die die Herren Professoren bestimmt hatten – einen staubigen Weg entlang, der durch weisse, an die Stämme der hohen Kiefern genagelte Abfallkörbe markiert war; die Körbe wiederum machten Reklame für die Gastwirtschaft «Ritzhaupt, Schildhorn», die unser Ziel war. Hinter uns kamen, entsprechend dem strengen preussischen LandpartieProtokoll, die Professorenfrauen. Sie unterhielten sich mit gesetzten Worten über Haushalt und Kindererziehung. Meine arme Mutter! Für sie waren diese Ausflüge eine noch schwerere Prüfung als für mich. In angemessenem Abstand folgten dann die Professoren selbst, in ein ernsthaftes Gespräch über gelehrte Themen vertieft, die Panamahüte sorgsam mit feinen schwarzenSeidenschnüren auf dem mit einer Weste bekleideten Bauch verankert. Denn es hätte der Würde Abbruch getan, wenn der Wind einen Professorenhut erfasst hätte und der Herr Professor gezwungen gewesen wäre, zwischen den Bäumen hinter ihm herzujagen. Wenn wir schliesslich in der Gastwirtschaft am Havelufer anlangten, durften wir nicht etwa Wasserrad fahren-wie wir vulgären Delmers es stets taten, wenn wir allein hier waren. Stattdessen liessen wir uns alle an einem endlos langen Tisch nieder, stopften uns mit Kaffee, Kuchen und Schlagsahne voll und dann, wenn wir satt waren, standen wir auf und wanderten wieder heimwärts. Ich zweifle nicht daran, dass diese Landpartien, so lästig sie waren, uns guttaten und hohen erzieherischen Wert hatten. Jedenfalls bewahrten sie uns Delmers davor, in unseren gesellschaftlichen Beziehungen auf die englische und die amerikanische Kolonie beschränkt zu sein, wie dies bei den meisten uns bekannten englischen Familien der Fall war. Mein Vater bestand sogar darauf, dass meine Schwester und ich in un-
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seren ersten Lebensjahren nur deutsch sprachen. Hätten wir mit ihm und meiner Mutter englisch gesprochen und mit unserem ‚Fräulein’ und unseren kleinen deutschen Freunden deutsch, so wäre dabei seiner Ansicht nach nur ein abscheulicher Sprachenmischmasch herausgekommen. 1909, als ich fünf Jahre alt war, beschloss mein Vater, dass es nun für meine Schwester und mich an der Zeit sei, die englische Sprache zu erlernen, damit wir sie ebenso beherrschten wie die deutsche. So schickte er uns denn mit unserer Mutter auf Verwandtenbesuch nach Australien, während er selbst für die Weidemannsche Buchhandlung seine Geschichte der englischen Literatur schrieb, die zu einem Standardwerk für deutsche Schulen und Universitäten werden sollte. Als ich achtzehn Monate später zurückkehrte, sprach ich nicht allein englisch, sondern sogar – zur Bestürzung meines phonetisch empfindlichen Vaters – ein breites Australisch. Hat mein Vater auf Grund seiner Tätigkeit an der Universität und vor allem an der Kriegsakademie, wo er mit Generalstabsoffizieren zusammenkam, den Krieg zwischen England und Deutschland voraussehen können? Jedenfalls hörte ich, wenn er bei Tisch über Politik sprach, immer wieder aus seinem Mund ernste Warnungen vor den aggressiven Absichten der deutschen Regierung. Er übte scharfe Kritik an Asquith’s liberalem Kabinett und seiner gefährlichen Bereitwilligkeit, an die Friedens- und Freundschaftsbeteuerungen des Kaisers zu glauben. Immer von Neuem betonte er, die beste Art, einen Krieg zu vermeiden, sei für England die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht; eine solche Massnahme würde den Deutschen zeigen, dass wir bereit seien zu kämpfen. So heftig waren die Worte, mit denen mein Vater bei Tisch den gefährlichen Grössenwahn’ und die ‚Labilität’ des Kaisers anprangerte, dass sie mich fast in Schwierigkeiten mit der Polizei brachten. Denn ich schluckte sie nur allzu eifrig. Eines Morgens, als ich mit meinem ‚Fräulein’ im Tiergarten spazierenging, begegneten wir dem Kaiser bei einem Ausritt mit einigen Herren seines Hofs. Er sass auf einem weissen Schlachtross und trug die leuchtend weisse Uniform und den silbernen Harnisch der Gardekürassiere. Vervollständigt wurde dieser Anzug durch einen silbernen Helm. «Der sieht ja aus wie’n richtja Lohengrin!» bemerkte ein unehrerbietiger Berliner. Aber ich war unendlich beeindruckt – so sehr, dass ich vergass, meinen Matrosenstrohhut abzunehmen. «Zieh den Hut vor Seiner Kaiserlichen Majestät, du ungezogener Bengel!» sagte mein ‚Fräulein’ 20
und riss ihn mir vom Kopf. Das Gummiband schnappte zurück und kniff mich. Vielleicht war dies der Hauptgrund, warum sich der junge Delmer, während der Kaiser zu ihm hinschaute, zum Echo seines Vaters machte und sagte: «Der Kaiser ist auch ungezogen. Und das ist ein englischer Matrosenhut, kein deutscher.» Das war er tatsächlich: er kam direkt aus den Army and Navy Stores in London, und auf dem Hutband stand ‚H. M. S. Orion’. Aber dieses Körnchen Wahrheit in meinem empörenden Ausspruch besänftigte keineswegs den Schutzmann mit seiner Pickelhaube und dem grossen Schleppsäbel. Er hielt mir eine strenge Lektion über das Verbrechen der Majestätsbeleidigung und drohte mir, mich mit auf die Wache zu nehmen. Doch trotz all seiner Warnreden gegen die ‚knieweiche Dummheit’ von Asquith und Haldane und die aggressiven Ambitionen des Kaisers und seiner Ratgeber hörte mein Vater nie auf, die Deutschen zu bewundern und zu lieben. Noch bis zur allerletzten Minute hoffte er, es werde keinen Krieg geben, obgleich er fürchtete, dass es dazu kommen werde. Dies ist einer der Gründe, warum er sich noch in Deutschland befand, als am 4. August 1914 der Krieg zwischen England und Deutschland ausbrach. Er und mit ihm wir, seine Familie, wurden im Feindesland von diesem Ereignis überrascht.
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2. Schuljunge im feindlichen Ausland Wenn ich heute höre, wie Adenauer die Rückgliederung der verlorenen deutschen Ostgebiete fordert und sein Kabinettskollege Seebohm mit pathetischen Worten von der deutschen Mission spricht, Osteuropa vom bolschewistischen Jodi zu befreien, muss ich unwillkürlich an jene sonnigen Juli- und Augusttage des Jahres 1914 denken. Und ich frage mich: «Ist es möglich? Sind sie noch einmal dazu fähig? Hat 1945 ebensowenig Eindruck auf sie gemacht wie 1918?» Im Sommer 1914 erlebte ich es zum erstenmal, wie die Deutschen, die ich liebte und als freundliche Menschen kennengelernt hatte, sich plötzlich in eine an Raserei grenzende Ekstase nationaler Angriffslust hineinsteigerten, die sie für Patriotismus hielten. Die Eltern der kleinen Mädchen und Jungen, mit denen ich im Kurpark gespielt hatte – Menschen, die bis dahin immer nett zu mir gewesen waren –, starrten mich auf einmal mit hassverzerrten Gesichtern an und scheuchten mich von ihren Kindern fort. «Mach, dass du wegkommst, englischer Lausejunge!» riefen sie. «Du verdienst eine tüchtige Tracht Prügel! Raus!» Ich weiss, dass in England im August 1914 die Dinge nicht viel besser standen. Als die Deutschen ihre Verträge brachen, in Belgien einmarschierten und England dem Kaiser den Krieg erklärte, warf der Londoner Mob Steine in deutsche Bäckerläden, verbrannte deutsche Musik und zwang den Prinzen Ludwig von Battenberg, der damals erster Seelord war, seinen Abschied zu nehmen. Aber in England erschienen Protestbriefe in den Zeitungen, während in Deutschland nichts dergleichen geschah. Meine Mutter, meine Schwester und ich verbrachten gemeinsam mit Freunden die Sommerferien im Südharz. Mein Vater war nicht mitgekommen; er war in Berlin geblieben, um seine Vorlesungen für das nächste Semester vorzubereiten. Das ist wiederum ein Grund, warum er nicht rechtzeitig aus Deutschland herauskam. Denn mein Vater blieb in Berlin und wartete auf uns, anstatt ohne uns abzureisen, wie er es 22
hätte tun sollen. Dabei gab es genug drohende Vorzeichen der kommenden Ereignisse, sogar in dem hübschen kleinen Kurort Bad Sachsa. Auf dem Jahrmarkt des Ortes war ein Zelt mit einem Kinematographen, in dem die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich und seiner Gemahlin gezeigt wurde. Wir gingen alle hin, um die Bilder zu sehen. Bei jeder Vorführung erhob sich ein Kriegsgeschrei. «Nieder mit Serbien! Nieder mit den Mördern!» ertönten Stimmen aus dem Publikum. «Das sollen sie büssen!» schrien andere. «Österreich muss marschieren!» Und die Leute applaudierten, so wie die Deutschen es in jenen Tagen immer taten, wenn einer laut den Krieg forderte. Als ich ein paar Tage später beim Aufwachen aus dem Fenster schaute, waren die schönen grünen Wiesen von Bad Sachsa übersät mit kampierenden Soldaten – Soldaten, an denen ich zum erstenmal die feldgraue Uniform sah, die sie beim Einmarsch in Belgien tragen sollten. Auch eine Nachrichteneinheit war dabei, die über eine nagelneue Funktelegraphenstation verfügte. Zusammen mit den Kurgästen und Einwohnern von Bad Sachsa sah ich zu, wie die Soldaten den hohen Mast emporkurbelten, die Antennen anbrachten und den Motor ihres elektrischen Generators anlaufen liessen. Sein Rattern und Dröhnen sandte ein zorniges Echo durch die Täler – das erste Echo des modernen Kriegs. Alle Menschen um uns sprachen mit leuchtenden Augen von den tapferen Jungem und davon, wie sie es den Russen und den Franzosen geben würden, wenn der Kaiser ihnen Gelegenheit dazu verschaffte. Die Engländer würden sich, wie alle erklärten, aus der Sache heraushalten. Dann, am 26. Juli, war jede telegraphische Verbindung zwischen Bad Sachsa und Berlin plötzlich abgeschnitten. Zwar wurde das nicht öffentlich bekanntgegeben – die Menschen gingen noch immer in das kleine Postamt und gaben ihre Telegramme auf, aber keines wurde übermittelt. Mein Vater erhielt nie eine der Depeschen, in denen meine Mutter ihn um Instruktionen bat. So blieben wir denn in Bad Sachsa. Und dann kam die Szene mit den Eltern meiner Gespielen im Kurpark. Meine Mutter beschloss, dass wir abreisen müssten. Im Zug sprachen wir Delmers nur deutsch; wir wollten keinen weiteren «Engländer-raus»-Rummel erleben. Die Eisenbahnstrecken waren blockiert. Zug um Zug mit hurraschreienden Soldaten fuhr an uns vorüber. Die Leute in unserem Abteil winkten und hurraten zurück und erzählten einander mit freudestrahlenden Gesichtern: «Diesmal gibt’s Krieg. Diesmal werden wir’s ihnen wirklich zeigen!»
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Wenn ich heute an das alles zurückdenke, habe ich den Eindruck, dass vieles an dieser Begeisterung künstlich war. Die Menschen hatten sich hineingesteigert, weil es für richtig und patriotisch galt, den Krieg herbeizuwünschen. «Ein kurzer, fröhlicher Krieg!» erklärte der kahlgeschorene alte Geheimrat auf dem Fenstersitz mit blitzenden Augen. Ich starrte ihn fasziniert an. Denn sein Schädel war zwar kahlgeschoren, aber er trug einen riesigen Tirpitzbart, der wie ein umgekehrtes V aus Haaren wirkte. Er unterhielt sich mit einem Studenten, der ihm gegenüber sass und der uns allen erzählt hatte, er sei unterwegs, um sich bei seinem Regiment zu melden. «Genau das, was unser Vaterland braucht», versicherte der Geheimrat munter. «Ein kleiner Aderlass hat noch nie geschadet. Jetzt wird unser Kaiser der Welt einmal beweisen können, wer wir sind. Welchem Regiment gehören Sie an, Herr Assessor?» Es war ein patriotisches Gespräch, wie sie serienweise in den Geschichten aus dem «glorreichen Krieg von 1870 in meinem Schullesebuch standen. Vierundzwanzig Stunden später, am Abend des 31. Juli, hielten wir nach einer Reise, die anstatt sechs Stunden eine Nacht und einen Tag gedauert hatte, auf einem Nebengleis direkt vor Berlin. Ein befrackter Kellner kam aus einem kleinen Restaurant, dessen Garten an die Bahnlinie grenzte, und las uns die offizielle Mobilmachungsorder vor. Eine Serviette hing ihm aus der Tasche, und in der Hand hielt er das Extrablatt des «Berliner Tageblatts’ mit der Bekanntmachung. Seine Stimme überschlug sich in patriotischem Eifer, und die Spitzen seines steifgewichsten Kaiser-Wilhelm-Schnurrbarts zitterten. «Drei Hurras!» schrie er. «Drei Hurras für Seine glorreiche Majestät, den Kaiser, für unsere tapfere Armee und unsere tapfere Marine. Hurra! Hurra! Hurra!» Der ganze Zug stimmte ein, und dann sangen sie «Heil dir im Siegerkranz». Fahrgäste sprangen auf die Schienen, um das historische Extrablatt des Kellners zu sehen. Einige Enthusiasten wollten ihn auf die Schultern heben, aber er winkte ab. «Ich muss sofort weg, mich melden – als Kriegsfreiwilliger!» verkündete er pathetisch. Damit stürzte er ins Restaurant zurück und ward nicht mehr gesehen. Am Anhalter Bahnhof drängte sich eine unübersehbare aufgeregte Menge. Der «kurze fröhliche Krieg, von dem der Geheimrat gesprochen hatte, war genau das, was an jenem Abend jeder Berliner sich wünschte oder doch seinen Nachbarn und sich selber gegenüber zu wünschen vorgab.
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«Deutschland, Deutschland über alles» und «Heil dir im Siegerkranz» dröhnte es betäubend in unsere Ohren, und zwischendurch erhoben sich gellende Rufe: «Nieder mit England!», «Es lebe der Kaiser!». Nieder mit England – obgleich wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Krieg eingetreten waren. Aber ebenso wie die Eltern meiner kleinen Freunde in Bad Sachsa hatten auch die Berliner nun entschieden, dass es Krieg mit England geben werde. England war der Verräter. England war der Hauptfeind. Die Kriegspropaganda hielt sie gefangen. Ich sah eine Gruppe jubelnder Patrioten, die einen überraschten und verwirrten Japaner auf den Schultern durch die Strassen trugen. «Hoch die Japaner!» riefen sie. «Hoch! Hoch! Hoch!» Eine Abendzeitung hatte ein Extrablatt mit der Meldung herausgebracht, dass die Japaner auf der Seite Deutschlands in den Krieg eingetreten seien – ein Exklusivknüller, der nur achtundzwanzig Jahre zu früh kam! Als wir endlich zu Hause anlangten, fanden wir meinen Vater in seinem Studierzimmer vor. In seinen weissen Flanelltennishosen und der dicken weissen Strickjacke sah er wie ein bekümmerter Eisbär aus. Rings um ihn breitete sich ein Wust von Zeitungen und Notizen. Er war beim Schreiben, als wir hereinkamen, bei der Vorbereitung seiner Universitätsvorlesungen für das nächste Semester. An diesem Abend und all die folgenden Wochen hindurch berieten meine Eltern immer wieder, ob meine Mutter versuchen sollte, mit meiner Schwester und mir nach England zu kommen, während mein Vater in Berlin blieb, oder ob wir alle bleiben und darauf hoffen sollten, dass man uns eines Tages gestattete, gemeinsam Deutschland zu verlassen. Mehrere Male änderten meine Eltern den schon gefassten Entschluss. Auf der verlassenen Britischen Botschaft stellten uns die amerikanischen Diplomaten, die jetzt die englischen Interessen vertraten, drei neue britische Pässe aus – nicht die sauber gebundenen kleinen blauen Bücher, die heutzutage ausgegeben werden, sondern mächtige, unhandliche Bögen aus steifem Pergament, die, wenn man sie auseinanderfaltete, so gross wirkten wie die ‚Times’. Aber wir fuhren nicht ab, obgleich wir unsere Pässe hatten – und einmal sogar unsere Fahrkarten. Nicht, bevor drei weitere Jahre verstrichen waren. Als die Nachrichten über die deutschen Siege in Belgien und Frankreich durchkamen, nahmen das Kriegsfieber und die patriotische Hysterie rings um uns immer grössere Ausmasse an. Die Menschen wurden zusehends aggressiver, je näher der Endsieg zu rücken schien.
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Jeden Tag schrieb Herr Ziethen, der alte Polizeiwachtmeister von der Wache uns gegenüber, mit seiner steifen, sorgfältigen Handschrift den Heeresbericht nieder. Dann watschelte er, den Zwicker auf die Nase geklemmt, die Pickelhaube auf dem Kopf und den Schleppsäbel an der Seite, auf die Strasse hinaus und wies mit zitternden Händen der wartenden Menge das Papier vor. «Ruhe! Ruhe!» kommandierte er. Daraufhin verlas er feierlich und langsam die grossen Neuigkeiten, und die Menge brach in Jubelrufe aus und stimmte ein vaterländisches Lied an. Und während der Wachtmeister noch das Blatt mit Reisszwecken anheftete und das Glasfenster seines Bekanntmachungskastens schloss, wurden von den Baikonen und aus den Fenstern ringsum die Fahnen herausgehängt. Und nicht nur deutsche Fahnen. Aus den Fenstern der Ausländer, die in unserer Strasse wohnten, wehten dänische, griechische, Schweizer und schwedische Fahnen und sogar ein oder zwei Sternenbanner. Alle wollten sie ihre Freude über die deutschen Siege zeigen. Nur ein einziger Balkon auf der ganzen Strasse blieb kahl und schmucklos – der Balkon der Delmers. Und obgleich ich wusste, dass es nicht recht von mir war, war ich in meinem Jungenherzen doch verzweifelt und ärgerlich über dieses Abseitsstehenmüssen. Ich wünschte mir, an der Freude der übrigen Strassenbewohner teilnehmen und auch eine Fahne heraushängen zu können. Einmal war ich sogar schon mit einer kleinen Fahne auf unserem Balkon – ausgerechnet dem Royal Standard, der von der Jacht Seagull meines englischen Grossonkels Edward Williamson stammte und den dieser mir bei unserem letzten Besuch in England vor dem Krieg geschenkt hatte. Gerade wollte ich ihn in einen Geranienkasten stecken, als die feste Hand meiner Mutter mich zurückzerrte und uns vor einem historischen Skandal bewahrte. Selbst Herrn Mühling, unseren jüdischen Frisör, hatte das Kriegsfieber dieser ersten Monate gepackt. Nicht, dass er sich etwa, wie einige andere Ladenbesitzer, geweigert hätte, uns weiter zu bedienen, oder seine Schere weggelegt hätte, wenn ich in sein Geschäft kam, um mir die Haare schneiden zu lassen. Er war so freundlich wie stets und machte noch immer denselben alten Witz, wenn er die beiden dicken Bände des Berliner Adressbuchs als Unterlage auf meinen Stuhl packte: «Pass auf, Tommy, jetzt bist du ein Riese. Du sitzt auf Grossberlin.» Jeden Tag verliess Herr Mühling sein Geschäft und wanderte zu dem Gartenzaun des Biergartens Charlottenhof, der in ein Lazarett umgewandelt worden war. Dort stand er, führte patriotische Gespräche mit den Verwundeten und beschenkte sie mit Zigaretten. Und ich ging gern mit ihm, stellte mich daneben und hörte zu.
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«Und wie war’s draussen an der Front?» fragte Herr Mühling. «Herrlich! Einfach herrlich!» antwortete der Soldat in der blau und weiss gestreiften Lazarettuniform, und seine blauen Augen in dem blassen, blutleeren Gesicht leuchteten auf. «Mein Sohn ist auch draussen», sagte Herr Mühling stolz. «Er soll zum Offizier befördert werden. Und er schreibt mir auch immer, wie herrlich es an der Front ist. Es muss ein erhebendes Gefühl sein, Feinde fürs Vaterland zu töten.» Armer kleiner Herr Mühling. Er war ausser sich vor Stolz, dass seinem Sohn, einem ungewöhnlich begabten jungen Menschen, der der Primus in der Oberprima meines Gymnasiums gewesen war, trotz seiner jüdischen Abstammung das Offizierspatent verliehen werden sollte. Nur vier Monate später kam die Nachricht, dass der junge Siegfried Mühling bei dem Massaker von Langemarck gefallen war. Die alte Mama Mühling, die von Anfang an die schlimmsten Befürchtungen gehabt hatte, wurde von schwerer Melancholie befallen und musste in eine Anstalt für Geisteskranke gebracht werden, wo sie bald darauf starb. Moses Mühling überlebte sie nicht lange. Doch in jenen ersten Wochen und Monaten war auch der freundliche alte Herr Mühling von der Glut rechtschaffener Begeisterung für den Kaiser, das deutsche Heer und den Krieg erfüllt. Und was für Gerüchte damals umgingen! Eins, das meine romantische Phantasie ganz gefangennahm, besagte, dass zwei von russischen Offizieren gelenkte Autos von Frankreich aus versuchten, mit einer Ladung französischen Golds für den Zaren quer durch Deutschland nach Russland zu gelangen. Ein Sekundaner aus meiner Schule, der zusammen mit Sekundanern von anderen Berliner Schulen, mit einer Armbinde und einem Gewehr versehen, Brücken und Eisenbahnübergänge bewachen musste, erzählte mir stolz, wie sie hinter den «Goldautos» her seien. Jeden Tag wurden Wagen angehalten und nach dem geheimnisvollen Gold und den ebenso geheimnisvollen Russen durchsucht. Einige, wie zum Beispiel der uns befreundete Industrielle Rechberg, wurden angeschossen. Dreissig Jahre später, als es während des Zweiten Weltkriegs meine Aufgabe war, die Deutschen irrezuführen und zu täuschen, erinnerte ich mich an dieses Gerücht und machte erfolgreich Gebrauch davon. Ich habe heute einen kleinen Sohn von zehn Jahren – genauso alt wie ich zu jener Zeit, als mir die Prüfung auferlegt wurde, inmitten einer Orgie der Kriegshysterie als kleiner englischer Junge ein deutsches
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Gymnasium zu besuchen. Ich verstehe heute, warum meine Eltern so angstvoll berieten, ob meine Mutter nicht lieber meinen Vater in Berlin allein lassen und mit den Kindern nach England zurückkehren solle, als uns der charakterlichen Gefährdung durch die Doppelzüngigkeit auszusetzen, die ein Leben im Feindesland unweigerlich erforderte. Aber ich bin froh, dass wir nicht wegfuhren. Ich glaube nicht, dass diese Erfahrung mir irgendwie geschadet hat. Und ich hatte auf diese Weise auch Gelegenheit, zu beobachten, wie die künstlich aufgeputschte Kriegsbegeisterung der Deutschen sich allmählich abkühlte, wie Missmut, Apathie und Zynismus an die Stelle der heroischen Tiraden traten, die in den ersten Wochen allenthalben zu hören waren. Und als einen weiteren Gewinn unseres Dableibens verzeichne ich die Erfahrungen mit jenen anderen Deutschen, die sich, unberührt von der Hysterie um sie herum, uns gegenüber stets freundlich, hochherzig und menschlich verhielten. Nicht dass ich nicht auch meine Schwierigkeiten gehabt hätte – besonders in jener allerersten Zeit. Draussen im Tiergarten beschloss ein dicker Junge aus meiner Klasse gemeinsam mit einem anderen viel kleineren, dass Ehre und Vaterlandsliebe von ihnen verlangten, einen Kampf mit dem ‚dreckigen Engländer‘ zu beginnen. Er hiess Schneider und sein Spitzname lautete ‚Bomme’. Bommes Vater hatte aus Patriotismus – und wohl auch aus kaufmännischer Tüchtigkeit – seine Zahnarztstuhlfabrik in eine Munitionsfabrik umgewandelt. Und Bomme fühlte sich wichtig. Stunden um Stunden – so wenigstens erschien es mir damals – tänzelten wir auf dem Beton des so peinlich öffentlichen ‚Grossen Wegs’ herum und bearbeiteten einander mit den Fäusten: zwei kleine Jungen in gestreiften Kieler Matrosenblusen, kurzen blauen Hosen, Schuhen und Söckchen. Immer mehr Leute blieben stehen, um uns zuzusehen – Dienstmädchen mit Kinderwagen, gesetzt dreinblickende Eltern, die einen Spaziergang mit ihren Kindern machten, und natürlich auch eine Menge kleine Jungen und Mädchen. Ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen dabei, denn ich musste immer daran denken, dass mein Vater mir eingeschärft hatte, nichts zu tun, was die Aufmerksamkeit der Leute auf mich lenken musste. Schneider begleitete seine nicht sehr wirksamen Angriffe mit wilden Schmähreden gegen England, die ich – das war meine erste Lehrstunde in Diplomatie! – klüglich unbeantwortet liess. Der andere Junge, ein fröhliches und schmächtiges kleines Kerlchen namens Fritz Belleville (sein Vater war der Chefstenograph des Reichs-
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tags), war eifrig damit beschäftigt, einen laufenden Kommentar zu liefern und allen Umstehenden zu erklären, dass ‚Bomme’ einem verhassten Feind eine Abreibung erteile. Um seinen eigenen Patriotismus zu betonen – zweifellos hielt er das für ratsam, da sein französischer Nachname ihn schon verdächtig gemacht hatte –, fuhr Fritz mit einem jener vierrädrigen Selbstfahrer – ‚Fliegende Holländer‘ hiessen sie – auf mich los, die damals um 1914, als es noch keine Roller gab, der ganze Stolz kleiner Jungen waren. Doch ich versetzte Fritzi einen kräftigen Stoss, der sein Fahrzeug umkippte und ihn, alle viere ausgestreckt, auf dem Parkweg landen liess. Unterdessen hatten sich so viele Menschen um uns geschart, dass ich schon befürchtete, ein Schutzmann könne erscheinen, um sich zu vergewissern, was hier los war. (Wir kleinen Jungen, die im Tiergarten spielten, hatten mächtigen Respekt vor der Polizei.) Aber genau im richtigen Augenblick tauchte Harry Deglau auf, ein grosser Junge aus meiner Klasse, der zwei Jahre älter war als Bomme und ich. Er machte dem Kampf ein Ende und schickte uns beide nach Hause. Wir gehorchten ihm und überliessen das Feld der Ehre Fritzi, der zurückblieb, um der versammelten Menge einen Bericht über die denkwürdige Schlacht zu liefern. Ich habe Harry Deglau sein Eingreifen in diesem kritischen Augenblick nie vergessen, und dreissig Jahre später, als ich Offizier der Kontrollkommission war und Deglau ein kranker und enttäuschter Angehöriger der Polizeitruppe, die Polen besetzt hatte, suchte ich ihn in Berlin auf und konnte ihm einen kleinen Dank für die Hilfe erstatten, die er mir seinerzeit auf dem ‚Grossen Weg’ im Tiergarten geleistet hatte. Als ich ihn fand, lag er auf einer Pritsche zwischen anderen kranken Soldaten ausgerechnet auf dem Schulhof meines alten Berliner Gymnasiums, aus dem man ein Lazarett gemacht hatte. Die Vorlesungen, an denen mein Vater arbeitete, als wir am Abend des 31. Juli nach Berlin zurückkehrten, wurden nie gehalten. Professor Alois Brandl, der rotbäckige, schnurrbärtige Shakespeare-Spezialist, der als Dekan der Fakultät meines Vaters vorstand, teilte ihm mit, dass die Universität grössten Wert auf seine weitere Mitarbeit lege, falls er sich als Deutscher naturalisieren lasse und ein treuer Untertan Seiner Kaiserlichen Majestät werde. Drei Tage nachdem mein Vater diesen Vorschlag offiziell abgelehnt hatte, klingelte um fünf Uhr dreissig morgens ein Polizist an unserer Wohnungstür. Es war ein Schutzmann von der Polizeiwache auf un-
serer Strasse. Höflich bat er meinen Vater, aufzustehen, sich anzukleiden, das Nötigste zusammenzupacken und mitzukommen. Mein Vater, so erklärte er, solle ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht werden. «Es tut mir sehr leid, Herr Professor», entschuldigte er sich, «aber ich habe den dienstlichen Befehl. Mir ist es, genau wie jedem anderen aus der Strasse hier, sehr peinlich, wenn ich dem Herrn Professor Unannehmlichkeiten machen muss. Ich bin sicher, dass es sich nur um einen Irrtum handelt, der sich bald aufklären wird. Dann können der Herr Professor wieder nach Hause in seine Wohnung zurück.» Und damit stellte er seine Pickelhaube auf dem Fussboden ab und setzte sich, eine Tasse Kaffee in den Händen, direkt unter die gekreuzten Ruder aus der Universitätszeit meines Vaters, seine Crewfotografien und die anderen athletischen und akademischen Trophäen, die unser ‚Entrée’ zierten, wie der Flur einer Berliner Wohnung in jenen Tagen vornehm benannt wurde. (Er war tatsächlich ein sehr freundlicher und verständnisvoller Polizist; das sollten mein Schulkamerad Hans Herwarth von Bittenfeld – bis vor Kurzem Botschafter der Bundesregierung in London – und ich ein paar Monate später bestätigt finden, als derselbe Mann uns vor einem vor Wut zitternden Eisverkäufer in Schutz nahm, den wir auf dem Nachhauseweg von der Schule geneckt hatten.) Doch an jenem Septembermorgen des Jahres 1914 muss der freundliche Schutzmann mich wohl für einen sehr groben und unhöflichen kleinen Jungen gehalten haben. Denn ich stand in der Flurtür und starrte ihn unentwegt an. Ich hatte bis dahin noch nie einen Polizisten ohne seinen Helm gesehen. Und dieser Schutzmann in der blauen Uniform mit der grossen Pistole in dem gelben Lederhalfter hatte nicht allein einen grossen und spitzen roten Schnurrbart, sondern auch feuerrote Haare. Und ich sah genau die Grenzlinie zwischen seiner weissen Stirn und dem roten, sonnenverbrannten Gesicht, die Linie, an der sein Helm endete. Irgendwie machten all diese Eindrücke jenen Zeitpunkt dreifach denkwürdig. Vielleicht halfen sie uns auch, die Fassung zu bewahren, denn keiner von uns machte eine Szene oder brach in Tränen aus. Nicht einmal eine ‚Grüne Minna’ oder ein anderes Transportfahrzeug war vorhanden, als mein Vater zusammen mit den anderen britischen Zivilgefangenen vom Alex zu dem Zug geführt wurde, der sie ins Internierungslager bringen sollte. Dieses Lager war für sie auf dem Rennplatz Ruhleben in der Nähe von Spandau eingerichtet worden. Sie
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wurden unter Bewachung durch die grauen unfreundlichen Strassen von Berlin geführt und mussten, so gut sie konnten, ihre Sachen mitschleppen. Die Menschen, die sich auf den Bürgersteigen drängten, verhöhnten sie und überhäuften sie mit patriotischen Schmähungen – genau wie sie zwanzig Jahre später höhnten und schimpften, wenn Juden mit geschorenem Kopf und einem Schmähschild auf der Brust auf einem Karren durch die Strassen gefahren wurden. Zweimal schaffte ich es, meinen Vater zu sehen, während er in Ruhleben war. Das erstemal war es nur ein kurzer Blick, den ich erhaschen konnte. Irgendwo hatten wir gehört, dass nicht weit vom Lager entfernt eine Brücke über einen Wasserlauf führte, von der aus man ins Lager hineinsehen konnte. So zogen wir denn eines Sonntags los, ohne Rücksicht auf die Polizeiverordnung, die meiner Mutter und uns verbot, die Grenzen des Berliner Stadtbezirks zu überschreiten. Und tatsächlich war da eine Brücke und in einiger Entfernung das Lager mit seinem Stacheldrahtzaun und seinen Beobachtungstürmen. Ich kletterte auf das Brückengeländer. «Mammi, Mammi», rief ich, «ich kann ihn sehen! Da hinten vor einer Art Baracke stehen viele Männer, und er steht fast am Ende der Schlange und liest in einem Buch. Er hat seinen alten Pelzmantel an!» Meine arme Mutter hatte Tränen in den Augen, als ich ihr das berichtete, aber sie konnte nicht auch auf das Geländer klettern, weil sie uns damit alle verdächtig gemacht hätte. Die zweite Begegnung war das Resultat eines Winks, den unser guter englischer Pfarrer, der Reverend Harold Williams, uns gegeben hatte. Pastor Williams, der Kaplan an der kleinen Kirche der Britischen Botschaft im Montbijoupark, war freiwillig in Deutschland geblieben, um sich derer anzunehmen, die hier gestrandet waren. Er stattete dem Lager Ruhleben regelmässig jede Woche einen Besuch ab. «Sie hätten vielleicht die Chance, ihn einmal zu sprechen», hatte er nach dem Abendgottesdienst in der Kirche zu meiner Mutter gesagt. «Sie müssen auf dem Weg zwischen dem Lager und den Badehäusern auf ihn warten.» Er fertigte eine kleine Zeichnung an, um ihr die Stelle genau zu zeigen. «Möglicherweise können Sie nächsten Donnerstag um Mittag herum Ihren Mann für einen kurzen Augenblick dort sehen, wenn er zur Entlausung hinübergeht. Aber Sie müssen Geduld haben, die Zeit steht nicht genau fest. Und nehmen Sie sich in Acht, damit Sie nicht auffallen.» Es waren nicht nur drei, sondern vier Menschen, die am folgenden Donnerstag auf dem verschlammten Weg standen und sich den kalten
Wind und den Sprühregen ins Gesicht wehen liessen. Denn Dr. Gisela Naprawnik, eine treue Studentin meines Vaters, hatte darauf bestanden, mit meiner Mutter, meiner Schwester und mir nach Ruhleben hinauszufahren. «Um euch kaiserlich deutsche Unterstützung zu verleihen», hatte sie lachend gesagt. Es war unerhört tapfer von ihr und typisch für jene anderen Deutschen, die sich um die offiziellen Parolen nicht kümmerten. Denn Gisela Naprawnik war Lehrerin und Staatsbeamtin. Dadurch, dass sie an jenem Morgen mit uns kam, riskierte sie nicht allein ihre Stellung und ihre Karriere, sondern auch ihre Freiheit. Jeder von uns trug etwas bei sich, das er meinem Vater geben wollte, falls er eine Gelegenheit dazu bekam: ein Glas Marmelade, Tee, einen Korb mit Konserven, eine Wollmütze und einen Schal. Ich muss wohl ein sehr nervöser kleiner Junge gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass es mir vorkam, als hätten wir schon Stunden gewartet, als sich endlich ein Hintertürchen in dem mit Stacheldraht gesicherten Lattenzaun auftat. Heraus kam mein Vater unter Bewachung eines Landsturmmannes mit geschultertem Gewehr. Er sah grau, hager und kränklich aus. Aber als er uns erblickte, kam ein Lächeln auf sein Gesicht, das gleiche verlegene, sich selbst ironisierende Lächeln, mit dem er uns an jenem Abend begrüsst hatte, als wir aus Bad Sachsa kamen und ihn in seinem Arbeitszimmer vorfanden. Es blieb uns knapp die Zeit, ihn zu umarmen und ihm rasch unsere Päckchen zuzustecken, bevor der Landsturmmann ihn auf das Badehaus zudrängte. Es war schon eine erstaunliche Freundlichkeit von dem Mann gewesen, dass er das Treffen überhaupt zugelassen hatte. In der kurzen Unterhaltung mit meiner Mutter hatte mein Vater ihr eine erschreckende Neuigkeit mitgeteilt: Er war als englischer Spion angeklagt und eine formelle Untersuchung gegen ihn war eröffnet worden. Der Gedanke, dass man ausgerechnet meinen Vater der Spionage verdächtigte, erschien meiner Mutter und Gisela Naprawnik damals als der Gipfel der Ungerechtigkeit. (Fräulein Dr. Naprawnik stammte aus Dresden und empfand die ganze Verachtung der echten Sächsin für die angeblich barbarischen und arroganten Preussen!) Heute, nach sechs Jahren des heissen Kriegs mit Hitler und vielen Jahren des kalten Kriegs, den Moskau führt, bin ich etwas erfahrener in den Methoden der Spionage und Gegenspionage, und wenn ich jetzt an jene Zeit zurückdenke, muss ich doch zugeben, dass die deutsche Ab32
wehr oder wie diese Organisation sich im Jahre 1914 sonst nannte, allen Anlass hatte, meinen Vater etwas genauer unter die Lupe zu nehmen – und meine Mutter übrigens auch. Ich bin sicher, dass die britische M.1.51 es getan hätte, wenn meine Eltern während des Kriegs als Deutsche in England gelebt und sich so verhalten hätten, wie sie sich in Deutschland verhielten. Denn trotz allem, was wir erlebt hatten, betrug mein Vater sich vor seiner Internierung so, als sei nichts geschehen, was ihn veranlassen könnte, seine Gewohnheiten zu ändern. Und zu diesen Gewohnheiten gehörten seine Spaziergänge im Tiergarten. Nun war aber einer seiner Lieblingsspaziergänge, der Weg vom Bahnhof Tiergarten zum Bahnhof Zoo, zu einem riesigen Militärdurchgangslager gemacht worden, in dem die Truppen rasteten, die auf der Durchreise durch Berlin waren. Man war 1914 noch so sorglos, dass man dieses Lager keineswegs für das Publikum sperrte. Den Berlinern stand es frei, zwischen den Soldaten umherzuschlendern, mit ihnen über ihre Fronterlebnisse zu plaudern und Zigaretten, Schokolade und andere gute Sachen an sie zu verteilen. Mein Vater mit seiner angeborenen irisch-australischen Neugier und seinem menschlichen Mitgefühl konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich mit den Soldaten zu unterhalten, und der Anlass ergab sich um so leichter, als wir Gymnasiasten von unseren Lehrern aufgefordert worden waren, den Soldaten ‚Liebesgaben’ zu bringen. So machten denn die Delmers ihren Nachmittagsspaziergang öfters durch das Lager. Ich erinnere mich noch heute an den Geruch nach Schweiss und Leder, der von den Soldaten ausging, während mein Vater mit ihnen plauderte und meine Mutter, meine Schwester und ich fröhlich Kaffee und Kakao aus Thermosflaschen ausschenkten und Zigaretten verteilten. Ein Spion, der über die nötigen Verbindungen verfügte, um seine Nachrichten durchzugeben, hätte es hier leicht gehabt, das Wissen des Kriegsministeriums in London über die Aufstellung und die Bewegungen der verschiedenen deutschen Truppenteile mit wertvollem Material zu vervollständigen – vor allem da die meisten der hier auf den sandigen Reitwegen zwischen Bahnhof Zoo und Bahnhof Tiergarten kampierenden Truppen Einheiten angehörten, die von der Westfront abgezogen und nach Osten geworfen wurden, um den in Ostpreussen
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M. I. 5 = Abteilung 5 der Military Intelligence, die mit der Abwehr der feindlichen Agententätigkeit beauftragt ist.
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eindringenden Russen zu begegnen. Es war jene panische Truppenverschiebung, die z