Die Verdammten dieser Erde 3499112094, 9783499112096


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Die Verdammten dieser Erde
 3499112094, 9783499112096

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Zu

diesem

B uch

Der Titel dieses Buches stammt aus der Internationale: «Wacht auf, Ver­ dammte dieser Erden!» Man hat es das «kommunistische Manifest der anti­ kolonialen Revolution» genannt, man spricht schon von Fanonismus, und in der Tat: sein Einfluß in der Dritten Welt wächst von Tag zu Tag. Wer ist Frantz Fanon? Ein Bauernsohn, 1924 in Martinique gehören. E r hat in Frankreich Philosophie und Medizin studiert, während des Krieges als Partisan gekämpft. 1953 &n8 er a^s Arzt nach Algerien und wurde zum Chef­ arzt der psychiatrischen Klinik in Blida-Joinville ernannt. Drei Jahre später richtete er an den französischen Generalgouverneur in Algerien einen berühmt gewordenen Brief, in dem er seine Demission begründete. Von nun an arbei­ tete er für die Nationale Befreiungsfront, zeitweilig als Botschafter der provi­ sorischen algerischen Regierung in Accra. Im Dezember 19 61 starb er in N ew York an Leukämie, am selben Tag, an dem sein Hauptwerk, Die Verdamm­ ten dieser Erde, in Paris veröffentlicht wurde. Das große einleitende Kapitel, «Von der Gewalt», erinnert an Georges Sorels Reflexionen über die Gewalt. Sorel wie Fanon predigen die Gewalt. Beide sprechen ihr zu: eine befreiende und integrierende Wirkung auf die un­ terdrückten, ausgebeuteten Massen. Beide warnen vor den «Politikern», den Befriedem, den Intellektuellen. Dennoch sind die Unterschiede groß. Wäh­ rend Sorels (präfaschistische) Gewalttheorie auf einen Mythos zielt, der eine in Trägheit erstarrte Welt auf rütteln soll, meint der von Fanon die Antwort auf ein bestehendes Gewaltsystem: sie soll den Unterdrückten «aufklären», von seiner Versteinerung, von seinen irrationalen Ängsten und somit am Ende von der kolonialen Herrschaft befreien, mag sie auch unter der Maske des NeoKolonialismus auftreten. «Dieses Volk, dem man immer gesagt hat, daß es nur die Sprache der Ge­ walt verstehe, beschließt, sich durch Gewalt auszudrücken. Im Grunde hat der Kolonialherr ihm seit jeher den Weg gezeigt, den es wählen muß, wenn es sich befreien will.» Gewalt, Gegengewalt; Terror, Gegenterror - Fanon stellt sich diesem Zirkel, er weiß, daß er zu einem neuen Irrationalismus führen kann, begegnet dem aber durch die rationale Analyse der Möglichkeiten für den Kam pf der unterjochten und auch nach ihrer Befreiung noch ausgebeuteten Völker der Dritten Welt, dieser «Verdammten dieser Erde». Indem Fanon von ihnen spricht, spricht er auch von uns. (Übrigens in «unserer» Sprache, einer geborgten und, wie es uns oft scheinen mag, verge­ waltigten Sprache.) E r stellt der westlichen Welt die Diagnose: von außen her, unerbittlich, und nicht in der Absicht zu helfen, zu retten - im Gegen­ teil. Das macht sein Buch zum Skandal, wie Sartre sagt, vielleicht aber auch zum heilsamen Schock: «Europäer, schlagt dieses Buch auf, dringt in es ein! Habt den Mut, es zu lesen, w eil es euch beschämen w ird und weil die Scham, wie Marx gesagt hat, ein revolutionäres Empfinden ist.»

Frantz Fanon

Die Verdam m ten dieser Erde V orw ort von Jean-Paul Sartre

ro ro ro Row ohlt

rororo aktuell — Herausgegeben von Freimut Duve (vormals Fritz J. Raddatz)

i- 2 0 . Tausend 21.-30. Tausend 31.-38. Tausend 39.-45. Tausend 46.-53. Tausend 54.-58. Tausend 59.-63. Tausend 64.-67. Tausend

Mai 1969 Juni 1969 Februar 1971 Juni 1971 Oktober 1972 August 1974 Mai 1976 Februar 1978

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Mai 1969 Die Originalausgabe erschien bei Franqois Maspero, Fditeur, Paris, unter dem Titel «Les Damnes de la terre» Aus dem Französischen übertragen von T raugott K önig Lizenzausgabe mit Genehmigung des Suhrkamp Verlages © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 7966 Für die Originalausgabe © 19 6 1 by Franqois Maspero, Fditeur, Paris Umschlagentwurf Werner Rebhuhn unter Verwendung zweier Fotos (Dirk Alvermann «Algerien», Berlin, i960) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck!Schleswig Printed in Germany 580-ISBN 3 499 77209 4

Inhalt

V orw ort von Jean-Paul Sartre 1. Von der G ew alt

Von der Gewalt im internationalen Kontext 2. Größe und Sdiwädien der Spontaneität

7 27 74 84

3. Mißgeschicke des nationalen Bewußtseins

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4. Ober die nationale K u ltu r

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Gegenseitige Begründung von Nationalkultur und Befreiungskampf 5. Kolonialkrieg und psychische Störungen

Serie A Serie B Serie C Serie D Von der Kriminalität des Nordafrikaners zum Nationalen Befreiungskrieg Schlußfolgerung

18 1 190 194 207 2 15 223 226

239

Vorwort

Es ist noch nicht lange her, da zählte die Erde zwei M illiarden Einwohner, das heißt 500 Millionen Menschen und eine M illiarde 500 Millionen Ein­ geborene. Die ersten verfügten über das Wort, die anderen entliehen es. Zwischen jenen und diesen dienten käufliche Duodezfürsten, Feudalherren und eine aus dem Boden gestampfte falsche Bourgeoisie als Vermittler. In den Kolonien zeigte sich die Wahrheit nackt; die »Mutterländer« be^ vorzugten sie bekleidet; der Eingeborene mußte die »Mutterländer« lieben. Wie Mütter. Die europäische Elite begann, eine Eingeborenenelite aufzu­ bauen; man wählte Jünglinge aus, brannte ihnen die Prinzipien der west­ lichen Kultur auf die Stirn und stopfte ihnen tönende Knebel in den Mund, große teigige Worte, die ihnen an den Zähnen klebten; nach einem kurzen Aufenthalt im Mutterland schickte man sie verfälscht nach Hause zurück. Diese lebenden Lügen hatten ihren Brüdern nichts mehr zu sagen; sie hall­ ten nur noch wider. Aus Paris, London und Amsterdam lancierten w ir die Wörter »Parthenon! Brüderlichkeit!«, und irgendwo in A frik a, in Asien öffneten sich Lippen: » ... thenon!. . . lichkeit!« Das w ar das Goldene Zeitalter. Es ging zu Ende: die Münder öffneten sich allein; die gelben und schwarzen Stimmen sprachen zw ar noch von unserem Humanismus, aber nur, um uns "unsere Unmenschlichkeit vorzuwerfen. Wir hörten uns diese höflidien V or­ träge einer Verbitterung ohne M ißfallen an. Zunächst w ar es eine stolze V er­ wunderung: Wie? Sie sprechen ganz allein? D a seht ihr, was w ir aus ihnen gemacht haben! Wir zweifelten nicht daran, daß sie unser Ideal annähmen, da sie uns ja beschuldigten, ihm nicht treu zu sein. Jetzt glaubte Europa an seine Mission: es hatte die Asiaten zivilisiert und eine neue A rt geschaf­ fen: die abendländischen Neger. Ganz unter uns fügten w ir, weil w ir prak­ tisch waren, hinzu: Und außerdem lassen w ir sie ruhig schimpfen, das er­ leichtert sie; Hunde, die bellen, beißen nicht. Es kam eine andere Generation und änderte die Fragestellung. Ihre Schrift­ steller und Dichter versuchten mit einer unglaublichen Geduld, uns zu er­ klären, daß unsere Werte sich schlecht mit der Wirklichkeit ihres Lebens vertrügen, daß sie sie weder gänzlich verwerfen noch gänzlich annehmen könnten. Das bedeutete ungefähr: Ih r macht Monstren aus uns, euer H u ­ manismus erklärt uns für universal, und eure rassistische Praxis partiku-

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larisiert uns. W ir hörten ihnen ohne Aufregung zu: die Kolonialbeamten werden nicht dafür bezahlt, Hegel zu lesen, deshalb lesen sie ihn auch we­ nig. Aber sie brauchen diesen Philosophen gar nicht, um zu wissen, daß das unglückliche Bewußtsein sich in seinen Widersprüchen verstrickt. Ohne Sinn und Nutzen. Setzen w ir also ihr Unglück fort, es w ird keine Folgen haben. Wenn es in ihrem Stöhnen, so sagten uns die Experten, die Spur einer For­ derung gäbe, wäre es die nach der Integration. Das kommt natürlich nicht in Frage: man würde das System, das ja bekanntlich auf der Überausbeu­ tung beruht, zugrunde richten. Aber es genügt, ihnen diesen Köder hinzu­ halten, und sie werden spuren. Was einen Aufstand anging, waren w ir ganz ruhig: welcher bewußte Eingeborene würde sich dazu hinreißen lassen, die schönen Söhne Europas zu meucheln, nur um schließlich ein Europäer zu werden wie sie? K urz, w ir ermutigten diese Melancholien und fanden es gar nicht schlecht, den P rix Goncourt auch einmal an einen N eger zu ver­ geben. Das w ar vor 39. 19 6 1. Hören Sie: »Verlieren w ir keine Zeit mit sterilen Litaneien oder ekelhafter Nachäfferei. Verlassen w ir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhun­ derte lang . . . hat es im Namen eines angeblichen »geistigen Abenteuers< fast die gesamte Menschheit erstickt.« Dieser Ton ist neu. Wer wagt ihn anzuschlagen? Ein A frikaner, ein Mann der Dritten Welt, ein ehemaliger Kolonisierter. E r fügt hinzu: »Europa hat ein derart wahnsinniges und chaotisches Tempo erreicht. . . , daß es sich auf Abgründe hinbewegt, von denen man sich lieber so schnell wie möglich entfernen sollte.« Anders ge­ sagt: es ist im Eimer. Eine Wahrheit, die man nicht gerne ausspricht, von der w ir jedoch alle - nicht wahr, meine werten Miteuropäer? - bis unter die H aut überzeugt sind. Allerdings mit einem Vorbehalt. Wenn zum Beispiel ein Franzose px an­ deren Franzosen sagt: »Wir sind im Eimer!« - was, meines Wissens, seit 19 30 fast täglich passiert - , so ist das eine leidenschaftliche Rede, glühend vo r Wut und Liebe, bei der der Redner sich mit allen seinen Landsleuten ins selbe Boot setzt. Und dann fügt er im allgemeinen hinzu: »Wenn n ic h t...« Das heißt: es d arf kein einziger Fehler mehr gemacht werden; wenn seine Ratschläge nicht strikt befolgt werden, dann, und nur dann, w ird sich das Land auflösen. K urz, es ist eine Warnung, die von einem Ratschlag begleitet wird, und solche Ansichten schockieren um so weniger, als sie im eigenen Land geäußert werden. Wenn dagegen Fanon von Eu­

ropa sagt, es renne in sein Verderben, so ist er weit davon entfernt, einen A larm ruf auszustoßen: er stellt einfach eine Diagnose. Dieser A rzt sagt weder, daß es keine Rettung gebe - es sind ja schon Wunder passiert - , noch w ill er ihm Mittel zu seiner Heilung reichen. E r stellt lediglich fest, daß es in Agonie liegt. U nd zw ar von außen her, auf Grund von Sym ­ ptomen, die er hat sammeln können. Was die Behandlung angeht: Nein, er hat andere Sorgen im K o p f; ob Europa krepiert oder überlebt, ist ihm egal. Aus diesem Grunde ist sein Buch skandalös. Und wenn man dann halb be­ lustigt, halb peinlich berührt stammelt: »Der gibt es uns aber!«, dann ent­ geht einem der eigentliche Kern des Skandals: denn Fanon »gibt« uns überhaupt nichts; sein W erk - so brennend wichtig es für andere ist bleibt uns gegenüber eiskalt. Es w ird oft von uns gesprochen, zu uns nie­ mals. Schluß mit den schwarzen Goncourt-Preisen und den gelben NobelPreisen: die Zeit der kolonisierten Preisträger ist vorbei. Ein ehemaliger Eingeborener »französischer Zunge« biegt diese Sprache zu neuen Forde­ rungen um, benutzt sie und wendet sich nur an die Kolonisierten: »Einge­ borene aller unterentwickelten Länder, vereinigt euch!« Was für ein A b­ stieg! Für die Väter waren w ir die einzigen Gesprächspartner; die Söhne finden nicht einmal, daß sich ein Gespräch mit uns lohne: w ir sind nur noch die Gegenstände der Rede. Sicher, Fanon erwähnt beiläufig unsere be­ rühmten Verbrechen, S ltif, H anoi, M adagaskar, aber er macht sich nicht einmal die Mühe, sie zu verurteilen: er benutzt sie nur. Wenn er die T ak ­ tiken des Kolonialismus auseinandernimmt, das komplexe Spiel der Be­ ziehungen, die die Kolonialherren mit dem »Mutterland« verbinden oder in Gegensatz zu ihm bringen, so tut er das alles für seine Brüder . Sein Ziel ist es, ihnen beizubringen, wie man unsere Pläne vereiteln kann. K u rz, in dieser Stimme entdeckt die Dritte Welt sich und spricht zu sich. M an weiß, daß sie nicht homogen ist und daß man in ihr noch versklavte Völker trifft, Völker, die eine falsche Unabhängigkeit erworben haben, an­ dere, die um ihre Souveränität kämpfen, und wieder andere, die die volle Freiheit errungen haben, jedoch unter der ständigen Drohung einer impe­ rialistischen Aggression leben. Diese Unterschiede sind aus der Kolonialge­ schichte hervorgegangen, das heißt aus der Unterdrückung. In der einen Kolonie hat sich das Mutterland damit begnügt, einige Feudalherren zu bezahlen, in der anderen Kolonie hat es, nach dem Prinzip »D ivide et impera«, eine Kolonisiertenbourgeoisie aus dem Boden gestampft. Wieder woanders hat es ein doppeltes Spiel gespielt: die Kolonie ist gleichzeitig Ausbeutungs- und Ansiedlungskolonie. So hat Europa die Spaltungen und

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Gegensätze vermehrt, künstlich Klassen und manchmal auch Rassismen geschaffen und mit allen Mitteln versucht, eine Aufspaltung der koloni­ sierten Gesellschaften in verschiedene Schichten hervorzurufen und sie zu vertiefen. Fanon verheimlicht nichts: um gegen uns zu kämpfen, muß die ehemalige Kolonie auch gegen sich selbst kämpfen. Oder vielmehr: beides ist ein und dasselbe. Im Feuer des Kam pfes müssen alle inneren Barrieren zerschmelzen, die ohnmächtige Bourgeoisie von Geschäftemachern und com -

pradores, das stets privilegierte Stadtproletariat, das Lumpenproletariat der Slums, alle müssen sich nach den Positionen der ländlichen Massen ausrichten, dem eigentlichen Reservoir der nationalen und revolutionären A r­ mee. In diesen Gegenden, deren Entwicklung der Kolonialismus bewußt gestoppt hat, tritt die Bauernschaft, wenn sie sich erhebt, sehr bald als die

radikale Klasse auf: sie kennt die nackte Unterdrückung, sie leidet sehr viel mehr darunter als die Arbeiter der Städte, und damit sie nicht verhungere, ist nicht weniger nötig als die Sprengung aller Strukturen. Wenn sie siegt, w ird die nationale Revolution eine sozialistische sein. Wenn sie ihren Elan verliert, wenn die Kolonisiertenbourgeoisie die Macht ergreift, w ird der neue Staat trotz seiner formalen Souveränität in den Händen der Impe­ rialisten bleiben. Das w ird deutlich am Beispiel Katangas. Die Einheit der Dritten Welt ist noch nicht hergestellt. Dieses Unternehmen ist noch im Gang und setzt in jedem Land, vor und nach Erreichung der Unabhän­ gigkeit, die Vereinigung aller Kolonisierten unter Führung der Bauernklas­ se voraus. Das ist es, was Fanon seinen afrikanischen, asiatischen und la­ teinamerikanischen Brüdern auseinandersetzt: Entweder w ir verwirklichen alle gemeinsam und überall den revolutionären Sozialismus, oder w ir w er­ den einer nach dem andern durch unsere ehemaligen Tyrannen geschlagen werden. E r verheimlicht nichts, weder die Schwächen noch die Zwietracht noch die Mystifizierungen. H ier nimmt eine Bewegung einen schlechten Ausgang, dort verliert sie nach durchschlagenden Anfangserfolgen an G e­ schwindigkeit; woanders bleibt sie stecken. Wenn sie wieder in Gang kom­ men soll, müssen die Bauern ihre Bourgeoisie ins Meer werfen. D er Leser w ird eindringlich vor den gefährlichsten Entfremdungen gewarnt: der Füh­ rer, der Personenkult, die westliche Kultur, aber auch die Rückkehr der afrikanischen K ultur aus der fernen Vergangenheit. Die wahre K u ltur ist die Revolution, das heißt, sie w ird im Feuer des Kam pfes geschmiedet. Fanon spricht mit lauter Stimme, w ir Europäer können ihn hören; der Be­ weis dafür ist, daß Sie dies Buch in den Händen halten. Fürchtet er denn nicht, daß die Kolonialmächte aus seiner Offenheit Profit schlagen? io

Nein, er fürchtet nichts. Unsere Verfahrensweisen sind veraltet, sie können die Emanzipation manchmal bremsen, aber sie können sie nicht zum Stehen bringen. Und glauben w ir nicht, daß w ir unsere Methoden der neuen Si­ tuation anpassen könnten! D er Neo-Kolonialismus, dieser faule Traum der Mutterländer, ist Schall und Rauch. Es gibt keine »Dritte K raft«, es sei denn eine Schmalspur-Bourgeoisie, die schon der Kolonialismus an die Macht gebracht hat. Unser Machiavellismus kann wenig ausrichten in die­ ser sehr aufgeweckten Welt, die unsere Lügen eine nach der anderen auf­ gespürt hat. Dem Kolonialherrn bleibt nur ein M ittel: die Gewalt, wenn er noch welche hat. D er Eingeborene hat nur eine W ahl: die Knechtschaft oder die Souveränität. Was kümmert es Fanon, ob Sie sein Werk lesen oder nicht? Für seine Brüder entlarvt er unsere alten Machenschaften und ist si­ cher, daß w ir keine neuen auf Lager haben. Zu ihnen sagt er: Europa hat seine Pfoten äuf unsere Erdteile gelegt, und w ir müssen so lange auf sie einstechen, bis es sie zurückzieht. D er Augenblick ist günstig: nichts pas­ siert in Bizerta, in Elisabethville, im algerischen B led ,, worüber nicht die ganze Erde informiert würde; die Blöcke beziehen entgegengesetzte Posi­ tionen und respektieren einander gegenseitig; profitieren w ir von dieser Windstille, treten w ir in die Geschichte ein, unser Einbruch soll sie zum erstenmal zur Universalgeschichte machen. Käm pfen w ir! Mangels ande­ rer Waffen w ird die Geduld des Messers genügen. Europäer, schlagt dieses Buch auf, dringt in es ein. Nach einigen Schritten im Dunkeln werdet ihr Fremde um ein Feuer versammelt sehen. Tretet heran und hört zu: Sie beraten über das Schicksal, das sie euren Niederlas­ sungen und euren Söldnern zugedacht haben. Sie werden euch vielleicht se­ hen, aber sie werden fortfahren, miteinander zu sprechen, ohne auch nur die Stimme zu dämpfen. Diese Gleichgültigkeit ist wie ein Stich ins H erz: die Väter, Kreaturen des Schattens, eure Kreaturen, waren tote Seelen; ihr gabt ihnen Licht, sie wandten sich nur an euch, und ihr machtet euch nicht einmal die Mühe, diesen »Zombies«1 zu antworten. Die Söhne ignorie­ ren euch: sie erleuchtet und wärm t ein Feuer, das nicht das eure ist. Ihr, in respektvollem Abstand, werdet euch flüchtig, nächtig, befangen fühlen: jetzt seid ihr an der Reihe; in jenem Dunkel, aus dem eine andere Morgen­ röte hervorgehen wird, seid ihr jetzt die »Zombies«. Wenn es so ist, werdet ihr sagen, warum werfen w ir das Buch dann nicht aus dem Fenster? Warum sollen w ir es lesen, wenn es gar nicht für uns ge-1 1 Lebende Leichname ähnlich den Vampiren. Anm. d. Obers. II

schrieben ist? Aus zwei Gründen: der erste ist, daß Fanon euch seinen Brü­ dern erklärt und für sie den Mechanismus unserer Entfremdungen darlegt. Profitiert davon, um euch selbst als Gegenstände zu erkennen. Unsere O p­ fer kennen uns durch ihre Wunden und ihre Ketten: das macht ihr Zeugnis unwiderlegbar. Es genügt, daß sie uns zeigen, was w ir aus ihnen gemacht Haben, um zu erkennen, was w ir aus uns genladit haben. Ist das nützlich? Ja , weil Europa in großer Gefahr ist, zu krepieren. Aber, werdet ihr immer noch sagen, w ir leben doch im Mutterland und mißbilligen die Ausschrei­ tungen. Das stimmt: ihr seid keine Kolonialherren, aber ihr taugt deswegen noch nicht mehr. Sie sind eure Pioniere, ihr habt sie nach Obersee geschickt, sie haben euch bereichert. Ihr habt sie gewarnt: wenn sie zuviel Blut flie­ ßen ließen, würdet ihr sie mit den Lippen verurteilen. Ebenso unterhält ein Staat - von welcher A rt auch immer - im Ausland einen Schwarm von Agitatoren, Provokateuren und Spionen, von denen er sich distanziert, wenn man sie faßt. Ihr, die ihr so liberal, so menschlich seid, die ihr die Liebe zur Kultur bis zur Preziosität treibt, ihr scheint zu vergessen, daß ihr Kolonien habt und daß man dort in eurem Namen mordet. Fanon o f­ fenbart seinen Kam pfgefährten - vo r allem denen, die etwas zu verwest­ licht bleiben - die Solidarität der »Mutterländer« mit ihren kolonialen Agenten. H abt den Mut, ihn zu lesen, aus diesem ersten Grund, daß er euch beschämen wird, und weil die Scham, wie M arx gesagt hat, ein revo­ lutionäres Empfinden ist. Seht, auch ich kann mich nicht von der subjekti­ ven Illusion frei machen. Auch ich sage euch: »Alles ist verloren, wenn nicht...« Als Europäer stehle ich einem Feind sein Buch und mache es zu einem Mittel, Europa zu heilen. Profitiert davon! U nd das ist der zweite Grund: wenn man von dem faschistischen Geschwätz Sorels absieht, so w ird man feststellen, daß Fanon seit Engels der. erste ist, der die »Geburtshelferin der Geschichte« wieder ins rechte Licht setzt. Und glaubt nicht etwa, daiß ein zu heißes Blut oder eine unglückliche Kindheit ihm eine besondere Vorliebe für die Gew alt gegeben hätten! E r macht sich nur zum Interpreten der Situation, das ist alles. Aber das genügt, um Schritt für Schritt die D ialektik darzulegen, die die liberale Heuchelei euch ver­ birgt und die uns ebenso hervorgebradit hat wie ihn. Im vorigen Jahrhundert hielt die Bourgeoisie die Arbeiter für Neider, die durch vulgäre Gelüste außer Rand und Band gekommen seien, aber sie w ar dennoch bemüht, diese brutalen Gewaltmenschen in unsere A rt miteinzuschließen: wenn sie nicht Menschen und frei wären, wie hätten sie dann ih­

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re Arbeitskraft frei verkaufen können? In Frankreich, in England gibt sich der Humanismus universal. M it der Zwangsarbeit ist es genau das Gegenteil: kein Vertrag, wohl aber die Einschüchterung; die Unterdrückung zeigt sich also offen. Unsere Sol­ daten in Obersee lehnen den Universalismus des Mutterlandes ab und wen­ den auf die menschliche Gattung einen numerus clausus an: weil keiner seinesgleichen ausplündern, unterjochen oder töten kann, ohne ein Verbre­ chen zu begehen, erheben sie es zum Prinzip, daß der Kolonisierte kein Mensch ist. Unsere »Stoßtruppe« hat den A uftrag erhalten, diese abstrakte Gewißheit in Realität zu verwandeln: es ist der Befehl ergangen, die Be­ wohner des annektierten Territoriums auf die Stufe eines höheren Affen hinabzudrücken, um dem Kolonialherrn die Rechtfertigung dafür zu ge­ ben, daß er sie wie Arbeitstiere behandelt. Die koloniale G ew alt hat nicht nur den Zweck, diesen unterdrückten Menschen Respekt einzujagen, sie versucht sie zu entmenschlichen. A n nichts w ird gespart, um ihre Traditio­ nen zu vernichten, um ihre Sprachen durch unsere zu ersetzen, um ihre K u l­ tur zu zerstören, ohne ihnen die unsere zu geben; sie werden durch E r­ schöpfung abgestumpft. Wenn sie, krank und unterernährt, immer noch Wi­ derstand leisten, w ird die Angst ihnen den Rest geben: erst setzt man dem Bauern das Gewehr auf die Brust, dann kommen die Zivilisten, die sich auf seinem Boden niederlassen und ihn mit der Reitpeitsche zwingen, für sie zu arbeiten. Wenn er Widerstand leistet, schießen die Soldaten, und ein Mensch ist tot; wenn er nachgibt, verkümmert er und ist kein Mensch mehr; die Schande und die Furcht werden seinen Charakter brüchig machen, sei­ ne Person auflösen. Die Operation w ird rücksichtslos durchgeführt, von Experten: die »psychologische Behandlung« ist keine moderne Erfindung, ebensowenig wie die Gehirnwäsche. Und dennoch, trotz so vieler Anstren­ gungen, ist das Ziel nirgends erreicht: weder im Kongo, w o man den N e ­ gern die Hände abhackte, noch in Angola, wo man erst kürzlich die Lippen der Unzufriedenen durchlöcherte, um sie mit Schlössern zu verriegeln. Und ich behaupte nicht, daß es unmöglich sei, einen Menschen in ein Tier zu verwandeln: ich sage nur, daß man es nicht erreicht, ohne ihn ganz erheb­ lich zu schwächen. Schläge genügen niemals, man muß ihn im Zustand der Unterernährung halten. Das ist der Arger mit der Versklavung: wenn man ein M itglied unserer A rt zähmt, vermindert man seinen Ertrag, und so wenig man ihm auch gibt, ein Mensch als Arbeitstier w ird immer mehr kosten, als er einbringt. Aus diesem Grund sind die Kolonialherren ge­ zwungen, die Abrichtung auf halbem Wege abzubrechen. Das Ergebnis: 13

weder Mensch noch Tier, sondern ein Eingeborener. Geschlagen, unterer­ nährt, krank, verängstigt, aber nur bis zu einem gewissen G rad, hat er, ob gelb, schwarz oder weiß, immer die gleichen Wesenszüge: er ist faul, hin­ terhältig und stiehlt, lebt von nichts und kennt nur die Gewalt. Arm er Kolonialherr: da liegt sein ganzer Widerspruch. E r müßte, wie es (so sagt man) das Genie tut, jene, die er ausplündert, töten. Aber gerade das ist nicht möglich, denn er muß sie ja auch ausbeuten. Weil er das Mas­ saker nicht bis zum Völkerm ord treibt und die Versklavung nidit bis zur Vertierung, verliert er die Zügel, und die Operation kehrt sich in ihr G e­ genteil um; eine unbestechliche Logik w ird sie bis zur Dekolonisation füh­ ren. Jedoch nicht sofort. Zunächst herrscht der Europäer. E r hat schon verloren, aber er merkt es nicht, daß die Eingeborenen falsche Eingeborene sind. Sei­ ner Meinung nach tut er ihnen Böses an, um das Böse, das sie in sich haben, zu zerstören oder zurückzudrängen. Nach drei Generationen werden ihre verderblichen Instinkte verschwunden sein. Welche Instinkte? Diejenigen, die die Sklaven dazu treiben, ihren H errn zu ermorden? Wieso erkennt er darin nicht seine eigene Grausamkeit wieder, die sich jetzt gegen ihn kehrt? Wieso findet er in der Brutalität dieser unterdrückten Bauern nicht seine Kolonialherrnbrutalität wieder, die sie mit allen Poren eingesogen haben und von der sie nicht genesen können? D er Grund dafür ist einfach: diese herrische Persönlichkeit, die von ihrer Allmacht berauscht ist und fast verrückt vor Angst, sie zu verlieren, erinnert sich nicht mehr sehr gut daran, daß auch sie ein Mensch w ar, sie hält sich für eine Peitsche oder fü r ein G e­ wehr. Sie ist schließlich zu der Meinung gelangt, daß die Domestizierung »niederer Rassen« durch die Manipulierung ihrer Reflexe erreicht werde. Sie vernachlässigt das menschliche Gedächtnis, die unauslöschlichen Erinne­ rungen. Und dann ist da vor allem das, was sie vielleicht niemals gewußt hat: w ir werden zu dem, was w ir sind, nur durch die radikale innere N e­ gation dessen, was man aus uns gemacht hat. Drei Generationen? Von der zweiten an haben die Söhne, kaum daß sie das Licht der Welt erblickten, gesehen, wie ihre Väter geschlagen wurden. In der Sprache der Psychiatrie ist das ihr »Trauma«. Für das ganze Leben. Aber diese ständig wiederhol­ ten Aggressionen bringen sie gerade nicht dazu, sich zu unterwerfen, son­ dern reißen sie vielmehr in einen unerträglichen Widerspruch, der sich frü­ her oder später gegen den Europäer kehren wird. Wehn man sie dann ih­ rerseits abbricht, wenn man sie die Scham, den Schmerz und den Hunger erfahren läßt, so w ird man in ihren Körpern nur eine vulkanische Wut er­

zeugen, deren G ew alt der des Druckes gleich ist, der auf sie ausgeübt wird. Die kennen nur die Gew alt, sagen Sie? Natürlich. Zunächst ist es nur die des Kolonialherrn und bald nur die ihre, das heißt, unsere eigene, die wie ein Spiegelbild auf uns zurückgeworfen wird. Täuschen w ir uns nicht! Ge­ rade durch diese blinde Wut, durch diesen G roll und diese Verbitterung, durch ihr permanentes Verlangen, uns zu töten, gerade durch die ständige Anspannung gewaltiger Muskeln, die Angst haben, sich zu entspannen, sind die Menschen: durch den Kolonialherrn, der sie zu Menschen der Qual gemacht hat, und gegen ihn. Wenn auch nodi blind und abstrakt, ist doch der H aß ihr einziges Gut. D er H err ruft ihn hervor, weil er versucht, sie zu vertieren, und es gelingt ihm nicht, ihn zu brechen, w eil seine Interes­ sen ihn auf halbem Wege anhalten lassen. So bleiben die falschen Eingebo­ renen noch Menschen durch die Macht und die Ohnmacht des Unterdrükkers, die sich bei ihnen in die hartnäckige Ablehnung einer Vertierung ver­ wandeln. Das übrige ist dann klar. Natürlich sind sie fau l: das ist Sabota­ ge. H interlistig und diebisch: bei G ott! Ihre kleinen Diebstähle sind der Beginn eines unorganisierten Widerstandes. Das genügt noch nicht: es gibt einige, die sich selbst bestätigen, indem sie mit bloßen Händen gegen Gewehre vorgehen. Das sind ihre Helden. U nd andere machen sich zu Menschen, indem sie Europäer ermorden. M an erschlägt sie: als Bandi­ ten und M ärtyrer begeistern sie durch ihren Opfertod die terrorisierten Massen. Terrorisiert, ja : in diesem neuen Moment w ird die koloniale Aggression bei den Kolonisierten als Terror verinnerlicht. Darunter verstehe ich nicht nur die Furcht, die sie vo r unseren unerschöpflichen Unterdrückungsme­ thoden haben, sondern auch die, die ihnen ihre eigene Wut einflößt. Sie sind eingekeilt zwischen unseren Waffen, die auf sie gerichtet sind, und jenen entsetzlichen Gelüsten, jenen Mordgelüsten, die in ihnen aufsteigen und die sie nicht immer erkennen. Denn es ist zunächst nicht ihre Gew alt, son­ dern unsere, die in ihnen anwächst und sie zerreißt. Und im ersten M o­ ment verdrängen diese Unterdrückten jene uneingestandene Wut, die von ihrer und unserer M oral mißbilligt wird, aber andererseits gerade das letzte Residuum ihrer Menschlichkeit ist. Lesen Sie Fanon, und Sie werden er­ kennen, daß zur Zeit ihrer Ohnmacht das kollektive Unterbewußtsein^ der Kolonisierten die Mordlust ist. Diese zurückgehaltene Wut dreht sich, wenn sie nicht ausbricht, im Kreise herum und richtet unter den Unterdrückten selbst Verheerungen an. Um sich von ihr zu befreien, schlachten sie sich untereinander ab: die Stämme 15

kämpfen gegeneinander, weil sie den eigentlichen Feind nicht angreifen können - und man kann sich darauf verlassen, daß die Kolonialpolitik ihre Rivalitäten schüren wird. Der Bruder, der sein Messer gegen seinen Bruder erhebt, glaubt das verabscheute Bild ihrer gemeinsamen Erniedri­ gung ein für allemal zu tilgen. Aber diese Sühneopfer können ihren Blut­ durst nicht stillen; sie werden nur dann nicht gegen unsere Maschinenge­ wehre marschieren, wenn sie sich zu unseren Komplizen machen. Den Pro­ zeß der Entmenschlichung, den sie zurückweisen, beschleunigen sie aus ei­ gener K raft. Unter den belustigten Blicken des Kolonialherrn wappnen sie sich gegen sich selbst mit übernatürlichen Schranken, indem sie bald alte, furchterregende Mythen aufleben lassen, bald sich durch allerstrengste R i­ ten fesseln. So flieht der Besessene vor seiner eigentlichen Begierde in eine Manie, die ihn in jedem Augenblick in Anspruch nimmt. Sie Unzen: das beschäftigt sie; das entspannt ihre schmerzlich gespannten Muskeln, und außerdem ist der Tanz oft unbewußt die geheime Pantomime des Nein, das sie nicht sagen dürfen, der Morde, die sie nicht zu begehen wagen. In bestimmten Gegenden ist die Besessenheit ihre letzte Zuflucht. Was einst nur eine religiöse Erscheinung w ar, eine bestimmte Kommunikation des Gläubigen mit dem Heiligen, w ird zu einer W affe gegen Verzweiflung und Demütigung: die Zars, die Loas, die Stammesheiligen steigen zu ihnen her­ ab, steuern ihre G ew alt und verzehren sie in Trancezuständen bis zur E r­ schöpfung. Gleichzeitig werden sie von diesen hohen Persönlichkeiten be­ schützt: das heißt, die Kolonisierten wehren sich gegen die koloniale Ent­ fremdung, indem sie die religiöse Entfremdung verstärken. M it dem ein­ zigen R esu lu t, daß sie schließlich beide Entfremdungen aufeinanderhäufen und die eine die andere verstärkt. So glauben in bestimmten Psychosen die Halluzinierten, die der täglichen Beleidigungen müde sind, eines Tages eine Engelstimme zu hören, die ihnen schmeichelt. Die Schmähungen hören deshalb nicht auf, sie wechseln jetzt nur mit Beglückwünschungen ab. Das ist eine Abwehr und der Zweck ihres Abenteuers: die Person ist aufgelöst, der Kranke entwickelt sich zum Wahnsinn hin. Fügen Sie, für einige streng ausgewählte Unglückliche, noch jene andere Besessenheit hinzu, von der ich oben gesprochen habe: die westliche Kultur. Ich an ihrer Stelle, werden Sie sagen, würde meine Zars der Akropolis vorziehen. Gut, Sie haben verstan­ den. Allerdings nicht ganz, denn Sie sind nicht an ihrer Stelle. Noch nicht. Andernfalls würden Sie wissen, daß jene keine andere Wahl haben: sie häu­ fen aufeinander. Zw ei Welten, das ergibt zwei Besessenheiten: man tanzt die ganze Nacht, und in der Morgendämmerung drangt man sich in die

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Kirchen, um die Messe zu hören. Von Tag zu Tag w ird der Riß größer. Unser Feind verrät seine Brüder und macht sich zu unserem Komplizen. Seine Brüder machen es ebenso. Der Eingeborenenstatus ist eine Neurose, die vom Kolonialherrn bei den Kolonisierten mit ihrer Zustimmung einge­ führt und aufrecherhalten wird. Den Status eines Menschen verlangen und gleichzeitig verleugnen: dieser Widerspruch ist explosiv. Deshalb explodiert er auch, das wissen Sie eben­ sogut wie ich. Und w ir leben in der Zeit der Explosionen. Ob der Anstieg der Geburten die Hungersnot vergrößert, ob die Neuankömmlinge befürch­ ten müssen, etwas mehr zu leben als zu sterben - die Sturmflut der G e­ walt reißt alle Schranken nieder. In Algerien und Angola massakriert man die Europäer öffentlich. Das ist der Moment des Bumerangs, die dritte Phase der G ew alt: sie kommt auf uns zurück, sie schlägt uns, und w ir ver­ stehen so wenig wie früher, daß es die unsre ist. Die »Liberalen« erstarren vor Entsetzen: sie geben zu, daß w ir mit den Eingeborenen nicht gerade sehr höflich umgegangen sind, daß es gerechter und klüger gewesen wäre, ihnen im Rahmen des Möglichen bestimmte Rechte zuzubilligen; sie w a­ ren bereit, sie schubweise und ohne Kaution in unseren geschlossenen K lub aufzunehmen: und jetzt werden sie von der barbarischen und tollwütigen Entfesselung ebensowenig verschont wie die bösen Kolonialherren. Die Lin­ ke des Mutterlandes ist in Verlegenheit: sie kennt das wahre Los der Ein­ geborenen, ihre erbarmungslose Unterdrückung, sie verurteilt ihren A u f­ stand nicht, weil sie weiß, daß w ir alles getan haben» um ihn hervorzuru­ fen. Aber es gibt einfach Grenzen, denkt die Linke: diesen Guerillakäm p­ fern müßte es am Herzen liegen, sich ritterlich zu verhalten; das wäre das beste M ittel, zu beweisen, daß sie Menschen sind. Manchmal tadelt sie so­ gar: »Ihr geht zu weit, w ir werden euch nicht mehr unterstützen.« Sie pfeifen darauf: diese Unterstützung kann sich die Linke an den H ut stecken. Sobald der K rieg begonnen hätte, haben sie jene harte Wahrheit erkannt: w ir »Mutterländer« taugen alle, wie w ir sind, gleich wenig; w ir haben alle von ihnen profitiert, sie haben nichts zu beweisen, sie werden nieman­ den bevorzugt behandeln. Sie haben nur eine einzige Aufgabe, ein einzi­ ges Z iel: den Kolonialismus mit allen Mitteln zum Teufel zu jagen. Und die Einsichtigsten unter uns wären zur N ot bereit, das gelten zu lassen, aber sie können nicht umhin, in dieser Kraftprobe ein ganz unmenschliches M it­ tel zu sehen, zu welchem Untermenschen gegriffen haben, um eine Mensch­ lichkeitscharta gewährt zu bekommen. Man soll sie ihnen also so schnell wie möglich zubilligen, und dann mögen sie durch friedliche Unterneh­ *7

mungen versuchen, sie zu verdienen. Wie rassistisch sind doch unsere schö­ nen Seelen! Es w ird ihnen gut tun, Fanon zu lesen. Diese ununterdrückbare G ew alt ist, wie er genau nachweist, kein absurdes Unwetter, auch nicht das Wieder­ auf leben wilder Instinkte, ja nicht einmal die Wirkung eines Ressentiments: sie ist nichts Weiter als der sich neu schaffende Mensch. Diese Wahrheit ha­ ben wir, glaube ich, gewußt und wieder vergessen: keine Sanftmut kann die Auswirkungen der Gew alt auslöschen, nur die G ew alt selbst kann sie tilgen. Und der Kolonisierte heilt sich von der kolonialen Neurose, indem er den Kolonialherrn mit W affengewalt davonjagt. Wenn seine Wut aus­ bricht, findet er sein verlorenes Selbstverständnis wieder, und er erkennt sich genau in dem Maße, wie er sich schafft. Von weitem halten w ir seinen Krieg für den Triumph der Barbarei. Aber er bewirkt durch sich selbst die fortschreitende Emanzipation des Käm pfers und vernichtet in ihm und außerhalb seiner Schritt für Schritt die koloniale Finsternis. Sobald dieser Krieg ausbricht, ist er erbarmungslos. Man bleibt entweder terrorisiert oder w ird selbst terroristisch. Das heißt: sich entweder den Auflösungsprozes­ sen eines verfälschten Lebens überlassen oder die ursprüngliche Einheit er­ ringen. Wenn die Bauern zu den Waffen greifen, verbleichen die alten M y­ then, die Tabus werden eins nach dem anderen umgestülpt: die Waffe des Käm pfers ist seine Menschlichkeit. Denn in der ersten Zeit des Aufstands muß getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unter­ drückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch. D er Überlebende fühlt zum erstenmal einen nationalen Boden unter seinen Füßen. Von diesem Moment an weicht die N ation nicht mehr von ihm: man findet sie dort, wohin er geht, wo er ist, niemals wei­ ter weg - sie w ird eins mit seiner Freiheit. Aber nach der ersten Ü berra­ schung reagiert die Kolonialarmee: man muß sich vereinigen, oder man w ird abgeschlachtet. Die Stammesstreitigkeiten klingen ab, verschwinden nach und nach: schon darum, weil sie die Revolution gefährden, aber vo r allem, weil sie keine andere Funktion hatten, als die G ew alt an falschen Feinden abzureagieren. Wenn sie bestehenbleiben - wie im Kongo - , so deshalb, weil sie von Agenten des Kolonialismus geschürt werden. Die N a ­ tion setzt sich in Marsch: für jeden Bruder ist sie überall da, w o andere Brüder kämpfen. Diese brüderliche Liebe ist die Kehrseite des Hasses, den sie gegen uns nähren: Brüder, sofern jeder von ihnen getötet hat oder in jedem Augenblick getötet haben kann.

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Fanon zeigt seineil Lesern die Grenzen der »Spontaneität«, die Notwen­ digkeit und die Gefahren der »Organisation«. Aber wie riesig auch die Aufgabe sein mag, auf jeder Entwicklungsstufe des Unternehmens vertieft sich das revolutionäre Bewußtsein. Die letzten Kom plexe verflüchtigen sich. M an komme uns bloß nicht mit dem »Abhängigkeitskomplex« bei einem Soldaten der »Nationalen Befreiungsarmee« (A L N ). Von seinen Scheuklappen befreit, gewinnt der Bauer das Bewußtsein seiner Bedürf­ nisse, die er, als sie ihn töteten, zu ignorieren versuchte; jetzt entdeckt er sie als unendliche Forderungen. In dieser Volksgewalt können - wenn man fünf, acht Jahre standhalten w ill wie die Algerier - militärische, so­ ziale und politische Notwendigkeiten nicht unterschieden werden. Der Krieg schafft - und sei es nur durch die Frage des Kommandos und der Verantwortlichkeiten - neue Strukturen, die die ersten Institutionen des Friedens sein werden. So entsteht also der Mensch bis hin zu neuen T radi­ tionen, den zukünftigen Töchtern einer Gegenwart des Schreckens; so wird er legitimiert durch ein Recht, das täglich im Feuer des Kam pfes entsteht. Wenn der letzte Kolonialherr getötet, davongejagt oder assimiliert ist, w ird die A rt der Minderheit verschwinden und der sozialistischen Brüderlich­ keit Platz machen. Und das ist noch nicht alles: dieser Käm pfer überspringt die Etappen. Man kann sich vorstellen, daß er nicht seine H aut riskiert, um sich schließlich auf derselben Stufe wie der alte »mutterländische« Mensch wiederzufinden. Sehen Sie seine Geduld: vielleicht träumt er manchmal von einem neuen Dien-Bien-Phu, aber glauben Sie mir, er rechnet nicht wirklich damit: er ist ein kämpfender Bettler, der in seinem Elend gegen ausgezeichnet bewaffnete reiche Leute kämpft. In der E rw ar­ tung entscheidender Siege und oft ohne jede Erwartung setzt er seinem Gegner mit einem N ervenkrieg zu. Das geht nicht ohne schreckliche V er­ luste ab. Die Kolonialarmee w ird w ild : Absperrungen, Razzien, »Umsied­ lungen«1, Strafexpeditionen; Frauen und Kinder werden massakriert. E r weiß es: dieser neue Mensch beginnt sein Menschenleben mit dem Ende, er hält sich für einen potentiellen Toten. E r w ird getötet werden. Das heißt nicht nur, daß er das Risiko auf sich nimmt, sondern daß er sich dessen ge­ wiß ist. Dieser potentielle Tote hat seine Frau und seine Söhne verloren. E r hat so viele sterben sehen, daß er eher siegen w ill als überleben. Andere werden von seinem Sieg profitieren, nicht er, er ist zu müde. Aber diese

1 Zwangsevakuierungen der Bevölkerung vor der militärischen Säuberung eines Gebietes. Anm. d. Übers.

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Müdigkeit des Herzens ist der Grund für einen unglaublichen Mut. W ir finden unsere Menschlichkeit diesseits von Tod und Verzweiflung, er findet sie jenseits von Folter und Tod. W ir haben den Wind gesät, er ist der Sturm. Ein Sohn der Gew alt, schöpft er aus ihr in jedem Augenblick seine Menschlichkeit: w ir waren Menschen auf seine Kosten, jetzt macht er sich auf unsere Kosten zum Mensdien. Zu einem neuen Menschen - von bes­ serer Qualität. H ier hält Fanon an. E r hat den Weg gewiesen: als Wortführer der Käm p­ fer hat er die Vereinigung, die Einheit des afrikanischen Kontinents gegen alle Zwietracht und Partikularismen gefordert. Sein Ziel ist erreicht. Wenn er das historische Faktum der Dekolonisation vollständig beschreiben wolte, müßte er von uns sprechen: was keineswegs seine Absicht ist. Aber wenn w ir das Buch geschlossen haben, w irkt es, unabhängig von seinem Verfasser, in uns fort, denn w ir empfinden die K raft der revolutionären Völker, und w ir antworten darauf durch die Gewalt. Es entsteht also ein neues Moment der Gew alt, und diesmal muß man auf uns zu sprechen kommen, denn sie ist im Begriff, uns in dem Maße zu verändern, wie sich der Eingeborene durch sie verändert. Jeder mag seine Überlegungen wei­ terführen, wie er w ill, vorausgesetzt, daß er überhaupt überlegt: im heu­ tigen Europa, so betäubt es auch ist von den Schlägen, die man ihm bei­ bringt, in Frankreich, in Belgien, in England, ist die harmloseste Zerstreu­ ung des Denkens eine verbrecherische Komplizenschaft mit dem Kolonia­ lismus. Dieses Buch hat eigentlich kein Vorw ort nötig. Um so mehr, als es sich nicht an uns wendet. Ich habe trotzdem eines geschrieben, um die D ia­ lektik bis zu Ende zu führen: auch w ir Europäer werden dekolonisiert. Das heißt, durch eine blutige Operation w ird der Kolonialherr ausgerottet, der in jedem von uns steckt. Schauen w ir uns selbst an, wenn w ir den Mut dazu haben, und sehen wir, was mit uns geschieht. Zunächst müssen w ir ein unerwartetes Schauspiel über uns ergehen lassen: das Strip-tease unseres Humanismus. D a steht er also ganz nackt da, kein schöner Anblick. E r w ar nur eine verlogene Ideologie, die ausgeklügelte Rechtfertigung der Plünderung. Seine Empfindsamkeit und seine Preziosität waren ein A libi für unsere Aggressionen. Sie sehen gut aus, unsere Ge­ waltlosen: weder O pfer noch Henker. Kom mt mir bloß nicht damit! Wenn ihr keine O pfer seid, wenn die Regierung, für die ihr gestimmt habt, wenn die Armee, in der eure jungen Brüder gedient haben, ohne Hem ­ mungen oder Gewissensbisse einen »Völkermord« unternommen haben,

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dann seid ihr unzweifelhaft Henker. U nd wenn ihr euch dafür entscheidet, Opfer zu sein, ein oder zwei Tage Gefängnis zu riskieren, so habt ihr nur beschlossen, eure Hände aus dem Spiel zu ziehen. Aber ihr könnt sie nicht herausziehen, sie müssen bis zum Schluß drinbleiben. Seht doch endlich folgendes ein: wenn die G ew alt heute abend begonnen hätte, wenn es auf der Erde niemals Ausbeutung noch Unterdrückung gegeben hätte, dann könnte die demonstrative Gewaltlosigkeit vielleicht den Streit besänfti­ gen. Aber wenn das ganze System bis zu euren gewaltlosen Gedanken von einer tausendjährigen Unterdrückung bedingt* ist, dann dient eure Passi­ vität nur dazu, euch auf die Seite der Unterdrücker zu treiben. Ihr wißt genau, daß w ir Ausbeuter sind. Ihr wißt genau, daß w ir erst das Gold und die Metalle und dann das Erdöl der »neuen Kontinente« ge­ nommen und in unsere alten Mutterländer gebracht haben. Nicht ohne ausgezeichnete Ergebnisse: Paläste, Kathedralen, Industriestädte. Und dann, als die Krise drohte, waren die Kolonialmärkte da, um sie zu dros­ seln oder abzulenken. Das mit Reichtümern gemästete Europa billigte al­ len seinen Einwohnern de jure den Status von Menschen zu. Ein Mensch, das heißt bei uns: ein Kom plize, weil w ir alle von der kolonialen Ausbeu­ tung profitiert haben. Dieser fette und farblose Kontinent verfiel dem, was Fanon zu Recht »Narzißmus« nennt. Cocteau regte sich über Paris auf, »diese Stadt, die ständig von sich selbst spricht«. Und was tut Europa? Und Nordam erika, dieses übereuropäische Monstrum? Dieses Geschwätz von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Liebe, Ehre, Vaterland, was weiß ich. Das hinderte uns nicht daran, gleichzeitig rassistische Reden zu halten: dreckiger Neger, dreckiger Jude, dreckiger Araber. Liberale und zarte gu­ te Seelen - mit anderen Worten, Neokolonialisten - gaben sich schokkiert über diese Inkonsequenz. Ob aus Irrtum oder schlechtem Gewissen: nichts ist bei uns konsequenter als rassistischer Humanismus, w eil der Euro­ päer nur dadurch sich zum Menschen hat machen können, daß er Sklaven und Monstren hervorbrachte. Solange es Eingeborene gab, wurde dieser Schwindel nicht entlarvt. M an stieß bei der Spezies Mensch auf eine ab­ strakte Forderung nach Universalität, die dazu diente, realistischere P rak­ tiken zu kaschieren: jenseits der Meere gab es eine Rasse von Untermen­ schen, die dank unserer H ilfe vielleicht in tausend Jahren unseren Status erreicht haben würden. K urz, man verwechselte die ganze Spezies Mensch mit der Elite. Heute bringt der Eingeborene seine Wahrheit zutage. So­ fort offenbart unser so geschlossener Klub seine Schwäche: er w ar nicht mehr und nicht weniger als eine Minorität. Schlimmer noch: weil die an-

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dem sich gegen uns zu Menschen machen, w ird deutlich, daß w ir die Feinde der Spezies Mensch sind. Die Elite offenbart ihre eigentliche N atu r: sie ist eine Bande. Unsere teuren Werte verlieren ihre Flügel, von nahem betrachtet w ird man nicht einen einzigen finden, der nicht mit Blut befleckt ist. Wenn Sie ein Beispiel haben wollen, so denken Sie an das schöne W ort: Wie groß­ mütig ist Frankreich! Großmütig, wir? U nd S£tif? U nd jene acht Jahre grausamer Krieg, der mehr als eine M illion Algerier das Leben gekostet hat? Und die »G £gine«! ? Aber verstehen Sie recht, man wirft uns nicht etwa vor, irgendeine Mission verraten zu haben, aus dem einfachen Grun­ de nämlich, daß w ir gar keine hatten. Die Großmut selbst steht in Frage. Dieses schön klingende Wort hat nur einen Sinn: zugebilligter Status. Was die neuen und befreiten Menschen betrifft, die uns gegenüberstehen, hat niemand die Macht noch das Privileg, irgend jemandem irgend etwas zu geben. Jeder hat alle Rechte. Ober alle. U nd wenn die Spezies Mensch sich eines Tages vollendet hat, w ird sie sich nicht als die Summe der Bewohner des Erdballs definieren, sondern als die unendliche Einheit ihrer Wechsel­ seitigkeiten. H ier halte ich an. Sie werden die Arbeit mühelos beenden kön­ nen. Es genügt, zum ersten- und zum letztenmal unseren aristokratischen Tugenden ins Gesicht zu schauen: sie schwinden dahin. Wie sollten sie die Aristokratie der Untermenschen überleben, die sie hervorgebracht hat? Vor einigen Jahren hat ein bürgerlicher - und kolonialistischer - Kommenta­ tor zur Verteidigung des Westens nur noch sagen können: »Wir sind keine Engel, aber w ir haben wenigstens Gewissensbisse.« Was für ein Einge­ ständnis! Früher hatte unser Kontinent andere Stützen: das Parthenon, Chartres, die Menschenrechte, das Sonnenrad. Heute weiß man, was sie wert sind. U nd man kann uns nur noch durch das ganz allerchristlichste Gefühl von unserer Schuld aus dem Schiffbruch retten. Das ist das Ende: Europa ist an allen Ecken leck. Was ist denn geschehen? Ganz einfach dies: bisher waren w ir die Subjekte der Geschichte, jetzt sind w ir ihre Objekte. Das Kräfteverhältnis hat sich umgekehrt, die Dekolonisation hat begon­ nen. Alles, was unsere Söldner versuchen können, ist, deren Vollendung zu verzögern. Außerdem müssen die alten »Mutterländer« ihre ganze K raft für eine im voraus verlorene Schlacht einsetzen. Diese alte koloniale Bru­ talität, die den zweifelhaften Ruhm von Bugeaud ausmachte, finden w ir am Ende des Abenteuers verhundertfacht wieder, und doch reicht sie nicht1 1 Folter mit Elektrizität. Anm. d. Obers.

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mehr aus. Man schickt seine Truppen nach Algerien, sie halten sich dort seit sieben Jahren, ohne Erfolg. Die G ew alt hat die Richtung geändert. Als wir siegreich waren, übten w ir sie aus, ohne daß sie uns zu verändern schien. Sie zersetzte die anderen, und w ir - die Menschen, unser Humanismus blieben intakt. Durch den Profit geeint, nannten die Mutterländer ihre ge­ meinsamen Verbrechen Brüderlichkeit und Liebe. Heute, wo dieselbe Ge­ w alt überall blockiert ist, kommt sie durch unsere Soldaten auf uns zurück, wird verinnerlicht und besitzt uns. Die Rückbildung beginnt: der K olo­ nisierte setzt sich wieder zusammen, und w ir, ob U ltras oder Liberale, K o ­ lonialherren oder »Mutterländer«, w ir zersetzen uns. Schon herrschen die nackte Wut und die nackte Angst: in den »Ratonnades« 1 treten sie offen zutage. Wo sind jetzt die Wilden? Wo ist die Barbarei? Nichts fehlt, nicht einmal das Tam tam: die Hupen geben den Rhythmus für »Alg£rie Fran9aise«, während die Europäer Moslems lebendig verbrennen lassen. Fanon erinnert daran, daß vor nicht allzu langer Zeit die Psychiater auf ihren Kongressen über die Eingeborenenkriminalität entsetzt waren: diese Leute töten sich gegenseitig, sagten sie, das ist nicht normal; die H irn­ rinde des Algeriers muß unterentwickelt sein. In Zentralafrika haben an­ dere festgestellt, daß »der A frikaner sein Stirnhirn sehr wenig benutzt«. Diese Wissenschaftler sollten heute einmal ihre Untersuchung in Europa fortsetzen und besonders bei den Franzosen. Denn auch w ir müssen seit einigen Jahren von Gehirnträgheit befallen sein: die Patrioten ermorden jetzt ein bißchen ihre Landsleute; im Falle der Abwesenheit lassen sie den Hausmeister und das Haus in die Luft gehen. Das ist nur ein A nfang: für den Herbst oder für das nächste Frühjahr ist der Bürgerkrieg vorgesehen. Das Stirnhirn scheint jedoch in bestem Zustand zu sein. Ist es nicht viel­ mehr so, daß, da w ir mit den Eingeborenen nicht fertig werden, die Ge­ w alt zu uns zurückkehrt, sich in uns anstaut und einen Ausgang sucht? Die Vereinigung des algerischen Volkes bringt die Entzweiung des fran­ zösischen Volkes hervor. A u f dem gesamtem Territorium des Mutterlandes führen die Stämme Kriegstänze auf und bereiten sich auf den K am pf vor. D er Terror hat A frik a verlassen und sich bei uns eingenistet. Denn es gibt hier einfach Irre, die uns mit unserem Blut die Schande bezahlen lassen wol­ len, daß w ir vom Eingeborenen geschlagen worden sind; und dann gibt es die anderen, alle anderen, die ebenso schuldig sind - wer ist denn nach Bizerta, nach den Septembermorden auf die Straße gegangen, um »genug« 1 1 Pogrome gegen »Ratons«, d. h. Araber. Anm. d. Übers.

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zu rufen? - , aber besonnener: die Liberalen, die allerhärtesten der weiJ dien Linken. Auch in ihnen steigt das Fieber. Und die Streitsucht. Aber welchen Schiß sie haben! Sie verschleiern sich ihre Wut durch Mythen, durch komplizierte Riten. Und die Bezahlung der endgültigen Rechnung und die Stunde der Wahrheit zu verzögern, haben sie einen großen Medizin­ mann an unsere Spitze gestellt, dessen Aufgabe es ist, uns um jeden Preis in der Dunkelheit zu lassen. Es ist nichts zu machen: von den einen prokla­ miert, von den anderen verdrängt, dreht sich die G ew alt im Kreise. Eines Tages w ird sie in Metz ausbrechen, am nächsten Tag in Bordeaux. Sie ist hier ausgebrochen, sie w ird dort ausbrechen, wie bei jenem Spiel, wo einer dem anderen unbemerkt einen Gegenstand zusteckt. Jetzt werden w ir Schritt für Schritt den Weg gehen, der zum Eingeborenenstatus führt. Aber damit w ir vollständig zu Eingeborenen würden, müßte unser Land von den früheren Kolonisierten besetzt werden, und w ir müßten vo r Hunger krepieren. Das w ird nicht geschehen: nein, w ir sind geradezu verhext vom verfallenen Kolonialismus und werden bald von ihm geritten werden, senil und arro­ gant, wie w ir sind. Das ist unser Z ar, unser Loa. Und beim letzten Kapitel von Fanon werden Sie sich überzeugen, daß es besser ist, ein Eingeborener auf der tiefsten Stufe seines Elends zu sein als ein ehemaliger Kolonialherr. Es ist nicht gut, daß ein Polizeibeamter gezwungen ist, zehn Stunden am T ag zu foltern. Bei diesem Arbeitsstil werden eines Tages die N erven durch­ gehen, wenn den Henkern nicht in ihrem eigenen Interesse verboten wird, Überstunden zu machen. Wenn man die M oral der N ation und der Armee mit der Strenge der Gesetze verteidigen w ill, dann ist es nicht gut, daß je­ ne durch diese systematisch demoralisiert wird, noch daß ein Land republi­ kanischer Tradition seine Jugendlichen zu Hunderttausenden putschistischen Offizieren anvertraut. Es ist nicht gut, meine Landsleute, Sie, die Sie alle die in unserem Namen begangenen Verbrechen kennen, es ist w irk­ lich nicht gut, daß Sie niemandem auch nur ein Wort davon sagen, nicht einmal Ihrer eignen Seele, aus Angst, über sich selbst zu Gericht sitzen zu müssen. Anfangs haben Sie nichts gewußt, ich w ill es glauben, dann haben Sie gezweifelt, jetzt wissen Sie, aber Sie schweigen immer noch. Acht Jahre Schweigen, das korrumpiert. Und zudem noch umsonst: heute steht die sengende Sonne der Folter am Zenit und blendet alle Länder. Unter die­ sem Licht gibt es kein Lachen, das nicht falsch klänge, kein Gesicht, das sich nicht schminken müßte, um die Wut oder die Angst zu kaschieren, keine Handlung, die nicht unseren Ekel oder unsere Komplicenschaft verriete. Heute genügt es, daß sich zwei Franzosen treffen, und eine Leiche ist zw i-

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sehen ihnen. Sagte ich »eine«? Frankreich w ar einst der Nam e eines Lan­ des. Passen w ir auf, daß es nicht der N am e einer Neurose wird. Gibt es eine Heilung? Ja . Die G ew alt kann, wie die Lanze des Achill, die Wunden vernarben lassen, die sie geschlagen hat. Heute sind w ir gefesselt, gedemütigt, krank vor Angst: auf der tiefsten Stufe. Glücklicherweise ge­ nügt das der kolonialistischen Aristokratie noch nicht: die kann ihre V er­ zögerungsmission in Algerien nur erfüllen, wenn sie die Kolonisierung der Franzosen vollendet hat. W ir weichen der Auseinandersetzung täglich aus. Aber seien Sie sicher: w ir werden ihr nicht entgehen, die Totschläger brau­ chen sie; sie werden uns auf den K o p f kommen und uns zusammenschla­ gen. Dann w ird die Zeit der Medizinmänner und Fetische zu Ende sein: sie müssen sich schlagen oder in den Lagern verkommen. Das ist der letzte Moment der D ialektik: Sie verurteilen diesen Krieg, aber Sie wagen noch nicht, sich mit den algerischen Käm pfern solidarisch zu erklären. Keine Angst! Verlassen Sie sich auf die Kolonialherren und auf die Söldner: die werden Sie schon auf Vordermann bringen. Vielleicht werden Sie dann, mit dem Rücken zur Wand, diese neue Gew alt loslassen, die von alten, wiederaufgewärmten Schandtaten in Ihnen heraufbeschworen wird. Aber das ist dann eine andere Geschichte. Die des Menschen. Die Zeit nähert sich, dessen bin ich sicher, wo w ir uns denen anschließen werden, die sie heute machen. September 19 6 1

Jean-Paul Sartre

i. Von der Gewalt

Nationale Befreiung, nationale Wiedergeburt, Rückgabe der N ation an das V olk, Commonwealth, wie die verwendeten Rubriken und neu erfun­ denen Formeln auch heißen mögen - die Dekolonisation ist immer ein Phänomen der Gewalt* Wo man auch hinsieht: persönliche Begegnungen, Neubenennungen von Sportclubs, Zusammensetzung der Cocktail-Parties, der Polizei, der Aufsichtsräte staatlicher oder privater Banken - die D e­ kolonisation ersetzt ganz einfach eine bestimmte »Art« von Menschen durch eine andere »Art« von Menschen. Ohne Übergang findet ein totaler und vollständiger Austausch statt. Natürlich könnte man auch das A u f­ tauchen einer neuen N ation, die Errichtung eines neuen Staates, seine diplomatischen Beziehungen, seine politische und wirtschaftliche Orien­ tierung beschreiben. W ir haben uns jedoch entschlossen, gerade von jener

tabula rasa zu reden, die zu Beginn jede Dekolonisation kennzeichnet. Sie stellt vom ersten Tage an die M inimalforderung des Kolonisierten dar. In der T at ist der Beweis für ihren Erfolg ein von Grund auf ver­ ändertes soziales Panorama. D ie außerordentliche Bedeutung dieser V er­ änderung besteht darin, daß sie gewollt, verlangt, gefordert wird. Die Notwendigkeit dieser Veränderung existiert im Rohzustand, übermächtig und zwingend, im Bewußtsein und im Leben der kolonisierten Männer und Frauen. A ber die Eventualität dieser Veränderung w ird zugleich als schreckenerregende Zukunft im Bewußtsein einer anderen »Art« von Männern und Frauen erlebt: der Kolonialherren. Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu ver­ ändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. Sie kann nicht das Resultat einer magischen Operation, eines natürlichen Erdstoßes oder einer friedlichen Übereinkunft sein. Die Dekolonisation ist bekannt­ lich ein historischer Prozeß; das heißt, sie kann nur in dem Maße verstan­ den werden, ihre Intelligibilität finden, sich selbst durchschaubar sein, in dem die geschichtsbildende Bewegung, die ihr Form und Inhalt gibt, er­ kannt w ird. Die Dekolonisation ist das Zusammentreffen zweier von Geburt an antagonistischer Kräfte, die ihre Eigentümlichkeit gerade aus jener Substantivierung gewinnen, welche die koloniale Situation abson­ dert und speist. Ihre erste Konfrontation hat sich unter dem Zeichen der

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G ew alt abgespielt, und ihr Zusam menleben-genauer: die Ausbeutung des Kolonisierten durch den Kolonialherrn - wurde mit H ilfe von Bajonetten und Kanonen erzwungen. D er Kolonialherr und der Kolonisierte sind alte Bekannte. Und der Kolonialherr kann tatsächlich mit Recht behaup­ ten, »sie« zu kennen. E r ist es, der den Kolonisierten geschaffen hat und noch fortfährt, ihn zu schaffen. D er Kolonialherr gewinnt seine Wahrheit, das heißt seine Güter, aus dem Kolonialsystem. D ie Dekolonisation geschieht niemals unbemerkt, denn sie betrifft das Sein, sie modifiziert das Sein grundlegend, sie verwandelt die in Unwesentlich­ keit abgesunkenen Zuschauer in privilegierte Akteure, die in gleichsam grandioser Gestalt vom Lichtkegel der Geschichte erfaßt werden. Sie führt in das Sein einen eigenen, von den neuen Menschen mitgebrachten R h yth ­ mus ein, eine neue Sprache, eine neue Menschlichkeit. Die Dekolonisation ist wahrhaft eine Schöpfung neuer Menschen. Aber diese Schöpfung emp­ fängt ihre Legitim ität von keiner übernatürlichen Macht: das kolonisierte »Ding« w ird Mensch gerade in dem Prozeß, durch den es sich befreit. In der Dekolonisation steckt also die Forderung einer vollständigen In­ fragestellung der kolonialen Situation. Ihre Definition ist, wenn man sie genau beschreiben w ill, in dem altbekannten Satz enthalten: »Die letzten werden die ersten sein.« D ie Dekolonisation macht diesen Satz wahr. Deshalb ist, wenigstens von außen gesehen, jede Dekolonisation ein Erfolg. D ie nackte Dekolonisation läßt durch alle Poren glühende Kugeln und blutige Messer ahnen. Denn wenn die letzten die ersten sein sollen, so kann das nur als Folge eines entscheidenden und tödlichen Zusammen­ stoßes der beiden Protagonisten geschehen. Dieser ausdrückliche Wille, die letzten an die Spitze rücken zu lassen, sie in einem (wie gewisse Leute meinen: allzu schnellen) Tempo die berühmten Sprossen, die eine organi­ sierte Gesellschaft kennzeichnen, hinaufklettern zu lassen, kann nur siegen, wenn man alle M ittel, die G ew alt natürlich eingeschlossen, in die W aag­ schale wirft. M an desorganisiert keine, wenn auch noch so prim itive Gesellschaft mit einem solchen Programm, wenn man nicht von A nfang an, das heißt schon von der Formulierung dieses Programms an, entschlossen ist, alle Hindernisse zu durchbrechen, die man au f dem Weg antreffen wird. D er Kolonisierte, der beschließt, dieses Programm zu realisieren, sich zu seinem M otor zu machen, ist von jeher auf die G ew alt vorbereitet. Seit seiner

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Geburt ist es für ihn klar, daß diese sperrige, mit Verboten gespickte Welt nur durch die absolute G ew alt in Frage gestellt werden kann. D ie koloniale Welt ist eine in Abteile getrennte Welt. Zweifellos ist es überflüssig, ihre Einteilung in Eingeborenen- und Europäerstädte, in Schu­ len für Eingeborene und Schulen fü r Europäer nochmals zu beschreiben, wie es auch überflüssig ist, auf die Apartheid in Südafrika hinzuweisen. Trotzdem, wenn w ir in das Innere dieser Abtrennung eindringen, so w ird das zumindest den Vorteil haben, einige der Kraftlinien, die sie enthält, deutlich zu machen. Eine Analyse der kolonialen Welt, ihrer Einrichtung, ihrer geographischen Gestalt w ird uns ermöglichen, das Gerüst zu bestim­ men, von dem die dekolonisierte Gesellschaft ausgeht, wenn sie sich neu organisiert. D ie kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt. D ie Trennungslinie, die Grenze w ird durch Kasernen und Polizeiposten markiert. D er recht­ mäßige und institutioneile Gesprächspartner des Kolonisierten, der W ort­ führer des Kolonialherrn und des Unterdrückungsregimes ist der Gendarm oder der Soldat. In den kapitalistischen Ländern schiebt sich zwischen die Ausgebeuteten und die Macht eine Schar von Predigern und Morallehrern, die für Desorientierung sorgen. Das Unterrichtswesen, gleichgültig, ob weltlich oder religiös; die Ausbildung von moralischen Reflexen, die vom Vater auf den Sohn übertragen werden; die vorbildliche Anständigkeit von Arbeitern, die nach fünfzig Jahren guter Dienste mit einer Medaille bedacht werden; die allgemein ermunterte Liebe zur Eintracht und zur bürgerlichen Bravheit - all diese geradezu ästhetischen Formen des R e­ spekts vo r der etablierten Ordnung schaffen um den Ausgebeuteten eine Atmosphäre der Unterwerfung und Entsagung, welche den Ordnungs­ kräften ihre Arbeit beträchtlich erleichtert. Dagegen sind es in den kolo­ nialen Gebieten der Gendarm und der Soldat, die, ohne ;~4 e Vermittlung, durch direktes und ständiges Eingreifen den Kontakt zum Kolonisierten aufrechterhalten und ihm mit Gewehrkolbenschlägen und Napalmbomben raten, sich nicht zu rühren. M an sieht, der Agent der Macht benutzt die Sprache der reinen G ew alt. D er Agent erleichtert nicht die Unterdrückung und verschleiert nicht die Herrschaft. E r stellt sie zur Schau, er manifestiert sie mit dem guten Gewissen der Ordnungskräfte. Der Agent trägt die G ew alt in die Häuser und in die Gehirne der Kolonisierten.

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Die von den Kolonisierten bewohnte Zone ist der von den Kolonialherren bewohnten Zone nicht komplementär. Die beiden Zonen stehen im Gegen­ satz zueinander, aber nicht im Dienste einer höheren Einheit. Beherrscht von einer rein aristotelischen Logik, gehorchen sie dem Prinzip des gegen­ seitigen sich Ausschließens: es gibt keine mögliche Versöhnung, eines der beiden Glieder ist zuviel. Die Stadt des Kolonialherrn ist eine stabile Stadt, ganz aus Stein und Eisen. Es ist eine erleuchtete, asphaltierte Stadt, in der die Mülleimer immer von unbekannten, nie gesehenen, nicht einmal erträumten Resten überquellen. Die Füße des Kolonialherrn sind niemals sichtbar, außer vielleicht am Meer, aber man kommt niemals nah genug an sie heran. Von soliden Schuhen geschützte Füße, während die Straßen ihrer Städte sauber, glatt, ohne Löcher, ohne Steine sind. D ie Stadt des Kolonialherrn ist eine gemästete, faule Stadt, ihr Bauch ist ständig vo ll von guten Dingen. Die Stadt des Kolonialherrn ist eine Stadt von Weißen, von Ausländern. Die Stadt des Kolonisierten, oder zumindest die Eingeborenenstadt, das N egerdorf, die Medina, das Reservat, ist ein schlecht berufener O rt, von schlecht berufenen Menschen bevölkert. M an w ird dort irgendwo, irgend­ wie geboren. M an stirbt dort irgendwo, an irgendwas. Es ist eine Welt ohne Zwischenräume, die Menschen sitzen hier einer au f dem andern, die Hütten eine auf der andern. Die Stadt des Kolonisierten ist eine ausge­ hungerte Stadt, ausgehungert nach Brot, Fleisch, Schuhen, Kohle, Licht. Die Stadt des Kolonisierten ist eine niedergekauerte Stadt, eine Stadt auf Knien, eine hingelümmelte Stadt. Eine Stadt von Negern, eine Stadt von Bicots1. D er Blick, den der Kolonisierte au f die Stadt des K olonial­ herrn wirft, ist ein Blick geilen Neides. Besitzträume. A ller Arten von Besitz: sich an den Tisch des Kolonialherrn setzen, im Bett des Kolonial­ herrn schlafen, wenn möglich mit seiner Frau. D er Kolonisierte ist ein Neider. D er Kolonialherr weiß das genau. Wenn er jenen Blick unver­ sehens überrascht, stellt er mit Bitterkeit, aber immer wachsam fest: »Sie wollen unseren Platz einnehmen.« Das ist w ahr, es gibt keinen K oloni­ sierten, der nicht mindestens einmal am T ag davon träumt, sich auf dem Platz des Kolonialherrn niederzulassen. Diese in Abteile getrennte, diese zweigeteilte Welt w ird von verschiedenen Menschenarten bewohnt. D ie Eigenart des kolonialen Kontextes besteht darin, daß die ökonomischen Realitäten, die Ungleichheiten, der enorme 1 Schimpfwort für Araber (d. Übers.).

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Unterschied der Lebensweisen niemals die mensdilichen Realitäten ver­ schleiern können. Wenn man den kolonialen Kontext in seiner Unmittel­ barkeit wahrnimmt, so w ird offenbar, daß das, was diese Welt zerstückelt, zuerst die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer bestimmten A rt, einer bestimmten Rasse ist. In den Kolonien ist der ökonomische Unterbau zugleich ein Oberbau. Die Ursache ist Folge: man ist reich weil weiß, man ist weiß weil reich. Deshalb müssen die marxistischen Analysen immer etwas gedehnt werden, wenn man sich mit dem kolonialen Problem be­ faßt. Bis zum Konzept der von M arx genau untersuchten präkapitalisti­ schen Gesellschaft hin müßte hier alles neu durchdacht werden. D er Leib­ eigene ist anderen Wesens als der Ritter, aber ein Bezug auf das göttliche Recht ist nötig, um diesen versteinerten Unterschied zu rechtfertigen. In den Kolonien hat sich der von weither gekommene Ausländer mit H ilfe seiner Kanonen und seiner Maschinen breitgemacht. Trotz der gelungenen Domestizierung, trotz der Besitzergreifung bleibt der Kolonialherr immer Ausländer. Weder die Fabriken noch der Besitz noch das Bankkonto kennzeichnen die »herrschende Klasse«. Die herrschende A rt ist zunächst die, die von woanders kommt, die nicht den Autochthonen ähnelt, die A rt der »anderen«. Die Gew alt, die hinter der Einrichtung der kolonialen Welt steht, die zur Zerstörung der eingeborenen Gesellschaftsformen unermüdlich den R h yth ­ mus schlägt, das ökonomische Bezugssystem, das Erscheinungsbild, die Kleidung ohne Einschränkung zugrunde richtet, w ird vom Kolonisierten in dem Moment für sich beansprucht und übernommen werden, da die kolonisierte Masse, entschlossen, zur aktiven Geschichte zu werden, sich auf die verbotenen Städte stürzen wird. Die koloniale Welt in die Luft zu sprengen, das ist von jetzt an ein sehr klares, sehr verständliches Aktions­ bild; es kann von jedem einzelnen Kolonisierten übernommen werden. Die koloniale Welt auflösen heißt nicht, daß man nach dem Niederreißen der Grenzen Übergänge zwischen den beiden Zonen einrichten wird. Die koloniale W elt zerstören heißt nicht mehr und nicht weniger, als eine der beiden Zonen vernichten, sie so tief wie möglich in den Böden einstampfen oder vom Territorium vertreiben. Die Infragestellung der kolonialen Welt durch den Kolonisierten ist keine rationale Konfrontation von Gesichtspunkten. Sie ist keine Abhandlung über das Universale, sondern die wilde Behauptung einer absolut gesetzten Eigenart. Die koloniale Welt ist eine manichäische Welt. Dem K olonial­ 3i

herrn genügt es nicht, den Lebensraum des Kolonisierten physisch, das heißt mit H ilfe seiner Polizei und seiner Gendarmerie, einzuschränken* Wie um den totalitären Charakter der kolonialen Ausbeutung zu illu­ strieren, macht der Kolonialherr aus dem Kolonisierten ein A rt Quint­ essenz des Bösen.2 D ie kolonisierte Gesellschaft w ird nicht nur als eine Gesellschaft ohne Werte beschrieben. Es genügt dem Kolonialherrn nicht, zu behaupten, die Werte hätten die kolonisierte W elt verlassen oder, bes­ ser, es habe sie dort niemals gegeben. D er Eingeborene, heißt es, ist für die Ethik unerreichbar, ist Abwesenheit von Werten, aber auch Negation der Werte. E r ist, sagen w ir es offen, der Feind der Werte. Insofern ist er das absolute Obel: ein zersetzendes Element, das alles, was mit ihm in Berührung kommt, zerstört, alles, was mit Ästhetik oder M oral zu tun hat, deformiert und verunstaltet, ein H ort unheilvoller Kräfte, ein unbe­ wußtes und nicht faßbares Instrument blinder Gewalten. U nd H err M eyer konnte in. der Französischen Nationalversammlung ernsthaft sagen, man dürfe die Republik nicht prostituieren, indem man das algerische V o lk eindringen lasse. In der Tat, die Werte werden unwiderruflich ver­ giftet und infiziert, sobald man sie mit dem kolonisierten V olk in Kontakt bringt. Die Sitten des Kolonisierten, seine Traditionen, seine Mythen, vo r allem seine Mythen, sind selbst das Zeichen dieser Armut, dieser konsti­ tutionellen Verderbtheit. Deshalb muß man das D D T , daß die Schädlinge, die Krankheitserreger vernichtet, auf dieselbe Stufe stellen w ie die christ­ liche Religion, die die Ketzereien, die Instinkte, das Obel an seiner Wurzel bekämpft. Das Zurückweichen des gelben Fiebers und die Fortschritte der Heidenmission gehören zur selben Bilanz. Aber die triumphierenden Kommuniques der Missionen geben in Wirklichkeit über die Stärke der Entfremdungsfermente Auskunft, die man in das kolonisierte V olk ein­ geführt hat. Ich spreche von der christlichen Religion, und kein Mensch hat das Recht, sich darüber zu verwundern. D ie Kirche in den Kolonien ist ein Kirche von Weißen, ein Kirche von Ausländem . Sie ruft den kolonisierten Menschen nicht auf den Weg Gottes, sondern auf den Weg des Weißen, auf den Weg des H errn, auf den Weg des Ünterdrückers. Und wie man weiß, gibt es in dieser Geschichte viele Berufene und wenige Auserwählte. Manchmal geht dieser Manichäismus bis ans Ende seiner Logik und ent­ 2 Wir haben in Peau Noire, Masques Blancs den Mechanismus dieser manichäischen Welt aufgezeigt.

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menschlicht den Kolonisierten. Genaugenommen, er vertiert ihn. T at­ sächlich ist die Sprache des Kolonialherrn, wenn er vom Kolonisierten spricht, eine zoologische Sprache. M an macht Anspielungen auf die krie­ cherischen Bewegungen des Gelben, auf die Ausdünstungen der Eingebo­ renenstadt, auf die Horden, auf den Gestank, auf das Gewucher und Ge­ wimmel, auf das Gestikulieren. Wenn der Kolonialherr genau beschreiben und das richtige Wort finden w ill, bezieht er sich ständig auf das Tierreich. Der Europäer stößt sich selten an diesen »bildhaften« Ausdrücken. Aber der Kolonisierte spürt die Absicht des Kolonialherrn, den Prozeß, den man ihm macht, und weiß sofort, woran man denkt. Diese galoppierende Vermehrung, diese hysterischen Massen, diese Gesichter, aus denen jede Menschlichkeit gewichen ist, diese fettleibigen Körper, die an nichts mehr erinnern, diese Kohorte ohne K o p f noch Schwanz, diese Kinder, die nie­ mand zu gehören scheinen, diese der Sonne preisgegebene Faulheit, dieser vegetative Rhythmus, all das gehört zum kolonialen Vokabular. General de Gaulle spricht von »gelben Massen«, Mauriac von schwarzen, braunen und gelben, die bald hereinbrechen werden. D er Kolonisierte weiß das alles und lacht, wenn er in den Worten des andern als Tier auftritt. Denn er weiß, daß er kein Tier ist. Und genau zur selben Zeit, da er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu reinigen, um diese Menschlichkeit triumphieren zu lassen. Sobald der Kolonisierte anfängt, an den Fesseln zu zerren, den Kolonial­ herrn zu beunruhigen, schickt man ihm gute Seelen, die ihm auf »Kultur­ kongressen« das Wesen und die Reichtümer der westlichen Werte darlegen. Aber jedesmal, wenn von westlichen Werten die Rede ist, zeigt sich beim Kolonisierten eine A rt Anspannung, ein Starrkram pf der Muskeln. In der Dekolonisationsperiode w ird plötzlich an die Vernunft der Koloni­ sierten appelliert. Man bietet ihnen sichere Werte an, man erklärt ihnen bis zum Überdruß, daß die Dekolonisation nicht Regression bedeuten dürfe, daß man sich auf die erprobten, soliden, kanonisierten Werte stüt­ zen müsse. Es geschieht aber, daß der Kolonisierte, wenn er eine Rede über die westliche Kultur hört, seine Machete zieht oder sich doch ver­ sichert, daß sie in Reichweite seiner H and ist. Die Gew alt, mit der sich die Überlegenheit der weißen Werte behauptet hat, die Aggressivität, die die siegreiche Konfrontation dieser Werte mit den Lebens- oder Denkweisen der Kolonisierten gezeichnet hat, führt durch eine legitime Umkehr der Dinge dazu, daß der Kolonisierte grinst, wenn man diese Werte vor ihm

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heraufbeschwört. Im kolonialen Kontext hält der Kolonialherr erst dann in seiner Zermürbung des Kolonisierten inne, wenn dieser mit lauter und vernehmbarer Stimme die Überlegenheit der weißen Werte anerkannt hat. In der Dekolonisationsperiode aber macht sich die kolonisierte Masse über eben diese Werte lustig, beschimpft sie und spuckt auf sie aus vollem Halse. Dieses Phänomen bleibt gewöhnlich verschleiert, weil während der Dekolon'isationsperiode gewisse kolonisierte Intellektuelle in einen Dialog mit der Bourgeoisie des kolonialistischen Landes eintreten. Lange Zeit w ar die autochthone Bevölkerung nur als ununterschiedene Masse w ahr­ genommen worden. Die wenigen eingeborenen Individualitäten, die die kolonialistische Bourgeoisie hier und da hat kennenlernen können, bilde­ ten kein ausreichendes Gegengewicht gegen diese unmittelbare Wahrneh­ mung. Nuancen kamen nicht auf. Während der Befreiungsperiode dage­ gen sucht die kolonialistische Bourgeoisie fieberhaft nach Kontakten zu den »Eliten«. M it diesen Eliten w ird dann der berühmte D ialog über die Werte geführt. Wenn die kolonialistische Bourgeoisie feststellt, daß. es für sie unmöglich ist, ihre Herrschaft über die Kolonialländer aufrechtzu­ erhalten, beschließt sie, ein Rückzugsgefecht zu führen: auf dem Gebiet der Kultur, der Werte, der Techniken usw. Man d arf jedoch niemals aus den Augen verlieren, daß die überwältigende Mehrheit der kolonisierten Völker für diese Probleme unerreichbar ist. Für das kolonisierte V olk ist der wichtigste, w eil konkreteste Wert zuerst das Land: das Land, das das B rot und natürlich die Würde sichern muß. Aber diese Würde hat nichts mit der »Menschenwürde« zu tun. Von jenem idealen Menschen hat der Kolonisierte niemals gehört. Was er auf seinem Boden gesehen hat, ist, daß man ihn ungestraft festnehmen, schlagen, aushungern kann. Und niemals ist irgendein Morallehrer, niemals irgendein Pfarrer gekom­ men, um an seiner Stelle die Schläge zu empfangen oder sein B rot mit ihm zu teilen. M oralist sein heißt für den Kolonisierten etwas Handfestes: es heißt, den Dünkel des Kolonialherrn zum Schweigen bringen, seine offene G ew alt brechen, mit einem W ort: ihn rundweg von der Bildfläche ver­ treiben. D er berühmte Grundsatz, daß alle Menschen gleich seien, läßt in den Kolonien nur eine Anwendung zu: der Kolonisierte w ird behaup­ ten, daß er dem Kolonialherrn gleich sei. Ein Schritt weiter, und er w ird kämpfen wollen, um mehr zu sein als der Kolonialherr. Tatsächlich hat er schon beschlossen, den Kolonialherrn abzulösen, seinen Platz einzu­ nehmen. Man sieht, eine ganze materielle und moralische Welt bricht zusammen. D er Intellektuelle, der für seinen Teil dem Kolonialisten auf

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die Ebene des abstrakten Universalen gefolgt ist, w ird darum kämpfen, daß Kolonialherr und Kolonisierter in einer neuen Welt friedlich mit­ einander leben können. Aber was er nicht sieht, eben weil der Kolonia­ lismus ihn mit allen seinen Denkweisen infiziert hat, ist die Tatsache, daß der Kolonialherr, sobald der koloniale Kontext verschwindet, kein Interesse mehr hat, zu bleiben, zu koexistieren. Es ist kein Zufall, wenn noch vor jeder Verhandlung zwischen der algerischen und der fran­ zösischen Regierung die sogenannte »liberale« europäische Minderheit schon ihre Position bekanntgegeben hat: sie verlangt nicht mehr und nicht weniger als die doppelte Staatsangehörigkeit. M an w ill also, w äh­ rend man sich noch auf der abstrakten Ebene verschanzt, den K olonial­ herrn dazu verdammen, einen ganz konkreten Sprung ins Unbekannte zu machen. Sagen w ir es offen, der Kolonialherr weiß genau, daß keine Phraseologie die Realität ersetzen kann. Der Kolonisierte entdeckt also, daß sein Leben, sein Atmen, seine H erz­ schläge die gleichen sind wie die des Kolonialherrn. E r entdeckt, daß die H aut eines Kolonialherrn nicht mehr wert ist als die H aut eines Einge­ borenen. Diese Entdeckung teilt der Welt einen entscheidenden Stoß mit. Jede neue und revolutionäre Sicherheit des Kolonisierten rührt daher. Wenn nämlich mein Leben das gleiche Gewicht hat wie das des Kolonial­ herrn, dann schmettert mich sein Blick nicht mehr nieder, läßt mich nicht mehr erstarren, seine Stimme versteinert mich nicht mehr. Ich bin nicht mehr verw irrt in seiner Gegenwart. Ich mache ihn fertig. Nicht nur, daß seine Gegenwart mich nicht mehr stört, sondern ich bin schon dabei, ihm eine Falle nach der andern zu stellen, so daß er bald keinen andern Aus­ weg mehr haben wird als die Flucht. Der koloniale Kontext, haben w ir gesagt, ist durch die Zweiteilung ge­ kennzeichnet, die er der Welt aufzwingt. Die Dekolonisation vereinigt diese Welt, indem sie durch einen radikalen Beschluß ihre Heterogenität aufhebt und sie auf der Basis der Nation, manchmal der Rasse, zusam­ menschließt. M an kennt jenes grimmige Wort der senegalesischen Patrio­ ten über die M anöver ihres Präsidenten Senghor: »Wir haben die A frikanisierung der K ader verlangt, und siehe da, Senghor afrikanisiert die Europäer.« Das heißt, daß der Kolonisierte die Möglichkeit hat, sofort und auf Anhieb zu erkennen, ob die Dekolonisation stattgefunden hat oder nicht: das geforderte Minimum ist, daß die letzten die ersten werden. Aber der kolonisierte Intellektuelle fügt dieser Forderung Varianten hin­

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zu, und tatsächlich scheint es ihm nicht an Motivierungen zu fehlen: man kraucht Verwaltungskader, technische Kader, Spezialisten. D er Koloni­ sierte jedoch interpretiert jede solche Vergünstigung als Sabotagemanöver, und nicht selten kann man hier oder da einen Kolonisierten erklären hören: »Es hat sich nicht gelohnt, unabhängig zu w erd en . . . « In den kolonisierten Gebieten, wo ein wirklicher Befreiungskampf ge­ führt wurde, wo das Blut des Volkes geflossen ist und die Dauer der be­ waffneten Phase die Rüdekehr der Intellektuellen zur Massenbasis be­ günstigt hat, w ird der ganze Oberbau abgerissen, den diese Intellektuellen den kolonialistischen bürgerlichen Kreisen entlehnt hatten. In ihrem narzistischen Monolog hatte nämlich die kolonialistische Bourgeoisie mit H ilfe ihrer Universitätslehrer in die K öpfe des Kolonisierten die V or­ stellung verankert, daß es »bleibende Werte« gebe, allen menschlichen Irrtümern zum Trotz. Die »bleibenden Werte« des Westens, versteht sich. D er Kolonisierte nahm die Berechtigung dieser Ideen hin, und man konn­ te in einem Winkel seines Gehirns einen wachsamen Posten entdecken, der sich für die Verteidigung des abendländischen Sockels verantwortlich fühlte. Während des Befreiungskampfes geschieht es jedoch, in einem Moment, da der Kolonisierte wieder K ontakt zu seinem V olk bekommt, daß dieser künstliche Wachtposten sich in Staub auflöst. A lle abendländi­ schen Werte, Triumph der Menschenwürde, des Wahren und des Schönen, werden zu leb- und farblosen Nippsachen. A lle diese Reden erscheinen als eine Anhäufung leerer Wörter. Diese Werte, die die Seele zu adeln schienen, erweisen sich als unbrauchbar, weil sie nicht den konkreten K am pf betreffen, in den das V olk eingetreten ist. Das gilt vor allem für den Individualismus. D er kolonisierte Intellektuel­ le hatte von seinen Lehrern gelernt, daß das Individuum sich behaupten müsse. Die kolonialistische Bourgeoisie hatte dem Kolonisierten die Idee einer Gesellschaft von Individuen eingehämmert, wo jeder sich in seine Subjektivität einschließt, wo der Reichtum ein Reichtum des Geistes ist. D er Kolonisierte, der das Glück hat, sich während des Befreiungskampfes unter das V olk zu mischen, w ird die Falschheit dieser Theorie entdecken. Schon die Organisationsformen des Kam pfes bieten ihm ein ungewohntes Vokabular. D er Bruder, die Schwester, der Genosse sind Wörter, die bei der kolonialistischen Bourgeoisie verpönt sind, weil für sie mein Bruder meine Brieftasche und mein Genosse mein Geschäftstrick ist. D er koloni­ sierte Intellektuelle erlebt, in einer A rt Autodafe, die Zerstörung all seiner Idole: er büßt seinen Egoismus, die anklagende Arroganz und den

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kindischen Eigensinn dessen ein, der immer das letzte Wort haben w ill. Dieser durch die kolonialistische K u ltur zermürbte Intellektuelle w ird auch die Beständigkeit der D o rf Versammlungen, die Festigkeit der Volks­ ausschüsse, die außerordentliche Fruchtbarkeit der Bezirks- und Zellen­ versammlungen entdecken. D ie Angelegenheit jedes einzelnen ist vön nun an die Angelegenheit aller, weil faktisch alle von den Söldnern entdeckt, also massakriert, oder alle gerettet werden. Das »Abhauen«, diese athe­ istische Form des Heils, verbietet sich in diesem Kontext von selbst. Seit einiger Zeit spricht man viel von Selbstkritik. Aber weiß man, daß das zuerst eine afrikanische Einrichtung war? In den Dschemaas, den Dorfversammlungen N ord- und Westafrikas, w ill es die Tradition, daß die Konflikte, die in einem D o rf ausbrechen, öffentlich verhandelt wer­ den. Selbstkritik vor der Gemeinschaft also, jedoch mit etwas Humor, weil jedermann entspannt ist und weil w ir letztlich alle dasselbe wollen. Seine Berechnung, sein Verstummen, seine Hintergedanken und seine Geheim­ niskrämerei, all das gibt der Intellektuelle auf, je mehr er ins V olk ein­ taucht. Und es ist wahr, daß man dann sagen kann, die Gemeinschaft siege schon auf dieser Stufe, sie erzeuge ihre eigene Aufklärung, ihre eige­ ne Vernunft. Aber es kommt vor, daß die Dekolonisation in Gebieten stattfindet, die nicht genügend vom Befreiungskampf aufgerüttelt worden sind, und man findet die gleichen Intellektuellen als geschäftstüchtige, gerissene und ver­ schlagene Leute wieder. Sie haben die Verhaltensweisen und Denkformen bewahrt, die sie im Umgang mit der kolonialistischen Bourgeoisie ange­ nommen hatten. A ls verwöhnte Kinder, gestern des Kolonialismus, heute der neuen Staatsmacht, organisieren sie die Plünderung der Reichtümer, die dem Land geblieben sind. Unerbittlich versuchen sie durch Schiebung oder legale Diebstähle, durch Im port-Export, durch Aktiengesellschaf­ ten, Börsenspekulation, Schiebungen, sich herauszuziehen aus der Misere, die jetzt eine nationale ist. Sie verlangen nachdrücklich die Nationalisie­ rung des Handels, das heißt die Reservierung der M ärkte und guten Gelegenheiten einzig für die eigenen Leute. D oktrinär verkünden sie die Notwendigkeit, die Ausplünderung der N ation zu nationalisieren. In der Phase der austerity und der ökonomischen Dürre ruft der E rfolg ihrer Plünderungen schnell die Wut und die G ew alt des Volkes hervor. Dieses elende und unabhängige V olk kommt im gegenwärtigen afrikanischen und internationalen Kontext immer rascher zu einem sozialen Bewußt­ sein. Das werden die kleinen Individualitäten sehr bald begreifen.

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D er Kolonisierte hat die Kultur des Unterdrückers angenommen und sich au f sie eingelassen; er hat dafür zahlen müssen. Unter anderem damit, daß er sich die Denkformen der kolonialen Bourgeoisie zu eigen machte. Das zeigt sich in der Unfähigkeit des kolonisierten Intellektuellen zum Dialog. E r kann sein Ich nicht hinter dem Gegenstand oder der Idee zurücktreten lassen. Wenn er dagegen mitten unter dem V olk kämpft, fällt er von einem Erstaunen ins andere. E r ist buchstäblich entwaffnet durch die Gutgläubigkeit und Anständigkeit des Volkes. Dann wiederum ist er ständig der G efahr ausgesetzt, in eine Vergötterung des Volkes zu ver­ fallen. E r sagt zu jedem Satz des Volkes ja und amen, nachdem er ihn zu einer Sentenz gemacht hat. Aber der Fellache, der Arbeitslose, der Aus­ gehungerte nimmt nicht die Wahrheit für sich in Anspruch. E r sagt nicht, er sei die Wahrheit: er verkörpert sie. D er Intellektuelle verhält sich in dieser Periode objektiv wie ein gewöhn­ licher Opportunist. Sein Taktieren hat nicht auf gehört. Das V olk denkt keineswegs daran, ihn zurückzustoßen oder an die Wand zu drücken. Das V olk verlangt nur, daß niemand seine eigene Suppe koche. D er koloni­ sierte Intellektuelle w ird jedoch hinter der Bewegung des Volkes Zurück­ bleiben, weil er einem merkwürdigen K u lt des Details frönt. Nicht, daß das V olk rebellisch wäre gegen die Analyse. Es w ill sich aufklären lassen, es w ill die Zwischenglieder einer Argumentation verstehen, es w ill sehen, wie die Dinge laufen. Aber der kolonisierte Intellektuelle bevorzugt zu Beginn seines Zusammenlebens mit dem V olk das Detail und vergißt schließlich die Niederlage des Kolonialismus, den eigentlichen Gegenstand des Kam pfes. Mitgerissen von der vielfältigen Bewegung des Kam pfes, neigt er dazu, sich in lokale Aufgaben zu verbeißen, die er mit Eifer ver­ folgt, aber fast immer verabsolutiert. E r sieht nicht jederzeit das Ganze. E r möchte seine Disziplinen, Spezialitäten, Bereiche unversehrt in jene furchtbare Zerkleinerungs- und Mischmaschine einführen, die eine Volksrevolutiön darstellt. A n bestimmten Punkten der Front engagiert, passiert es ihm, daß er die Einheit der Bewegung aus dem Auge verliert und im Falle eines lokalen Scheiterns sich dem Zw eifel, ja der Verzweiflung hin­ gibt. Das V olk dagegen nimmt von A nfang an allgemeine Positionen ein. Das Land und das B rot: was tun, um das Land und das Brot zu bekommen? Und dieser eigensinnige, scheinbar beschränkte, enge Aspekt des Volkes ist letzthin das umfassendste und wirksamste Operations­ modell. Auch das Problem der Wahrheit muß berücksichtigt werden. Innerhalb

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des Volkes ist die Wahrheit von jeher etwas Einheimisches. Keine absolute Wahrheit, keine Rede über die Transparenz der Seele kann diese Position zerbröckeln. A u f die Lüge der kolonialen Situation antwortet der K o lo­ nisierte mit einer gleichen Lüge. Sein Verhalten ist offen gegenüber den eigenen Leuten, verkram pft und undurchsichtig gegenüber den Kolonial­ herren. Wahr ist, was die Auflösung des Kolonialregimes vorantreibt, was das Entstehen der N ation begünstigt. Wahr ist, was die Eingeborenen schützt und die Ausländer verdirbt. Im kolonialen K ontext gibt es keine unbedingte Wahrheitsregel. U nd das Gute ist ganz einfach das, was ihnen schadet. M an sieht also, daß der ursprüngliche Manichäismus, der die K olonial­ gesellschaft beherrschte, in der Dekolonisationsperiode intakt geblieben ist. Und zw ar deshalb, weil der Kolonialherr nie aufhört, der Feind, der Antagonist zu sein, mit einem W ort: der Mann, den es zu töten gilt. Der Unterdrücker ruft in seiner Zone die Bewegung hervor: eine Bewegung der Herrschaft, der Ausbeutung, der Plünderung. In der anderen Zone nährt das zusammengekauerte, geplünderte kolonisierte Ding nach K r ä f­ ten diese selbe Bewegung, die von den Küsten des Landes aus unmittelbar bis in die Paläste und Docks des »Mutterlandes« reicht. In dieser erstarr­ ten Zone ist die Oberfläche unbeweglich, die Palme wiegt sich vor den Wolken, die Wellen des Meeres brechen sich an den Kieselsteinen, die Rohstoffe kommen und gehen und rechtfertigen die Anwesenheit des K o ­ lonialherrn, während sich der Kolonisierte, hingekauert, mehr tot als lebendig, im immergleichen Traum verewigt. Der Kolonialherr macht die Geschichte. Sein Leben ist ein Epos, eine Odyssee. E r ist der absolute Be­ ginn: »Dieses Land, w ir haben es zu dem gemacht, was es ist.« E r ist die infnerwährende Ursache: »Wenn w ir Weggehen, ist alles verloren, dieses Land w ird ins M ittelalter zurückfallen.« Schwerfällige, durch Fie­ ber und prim itive Bräuche von innen gepeinigte Wesen stehen ihm gegen­ über, ein gleichsam mineralischer Rahmen für die alles verändernde D y ­ namik des kolonialen Handelssystems. D er Kolonialherr macht die Geschichte und weiß, daß er sie macht. Und w eil er sich ständig auf die Geschichte seines Mutterlandes bezieht, gibt er deutlich zu verstehen, daß er hier der Vorposten dieses Mutterlandes ist. D ie Geschichte, die er schreibt, ist also nicht die Geschichte des Landes, das er ausplündert, sondern die Geschichte seiner eigenen N ation, in deren Namen er raubt, vergewaltigt und aushungert. Die Unbeweglichkeit, zu

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welcher der Kolonisierte verdammt ist, kann nur dadurch in Frage gestellt werden, daß der Kolonisierte beschließt, der Geschichte der Kolonisation, der Geschichte der Ausplünderung ein Ende zu setzen, um die Geschichte seines Landes, die Geschichte der Dekolonisation beginnen zu lassen. Eine in Abteile getrennte, manichäische, unbewegliche Welt, eine Welt von Statuen: die Statue des Generals, der das Land erobert, die Statue des Ingenieurs, der die Brücke gebaut hat. Eine selbstsichere Welt, die mit ihren Steinen die gepeitschten und zerschundenen Rücken erdrückt. Das ist die koloniale Welt. D er Eingeborene ist ein eingepferchtes Wesen, die

Apartheid ist nur eine besondere Form der kolonialen Trennung über­ haupt. Als erstes lernt der Eingeborene, auf seinem Platz zu bleiben, die Grenzen nicht zu überschreiten. Deshalb sind die Träume des Eingebore­ nen Muskelträume, Aktionsträume, aggressive Träume. Ich träume, daß ich springe, daß ich schwimme, daß ich renne, daß ich klettere. Ich träume, daß ich vor Lachen berste, daß ich den Fluß überspringe, daß ich von Äutorudeln verfolgt werde, die mich niemals einholen. Während der Kolonisation hört der Kolonisierte nicht auf, sich zwischen neun U hr abends und sechs U hr früh zu befreien. Diese in seinen Muskeln sitzende Aggressivität w ird der Kolonisierte zu­ nächst gegen seinesgleichen richten. Das ist die Periode, w o sich die Neger gegenseitig auffressen und wo die Polizisten, die Untersuchungsrichter sich nicht mehr zu helfen wissen angesichts der erstaunlichen nordafrikanischen Krim inalität. W ir werden später sehen, was von diesem Phänomen zu halten ist.3 Gegenüber der kolonialen Ordnung befindet sich der Koloni­ sierte in einem Zustand permanenter Spannung. Die Welt des K olonial­ herrn ist eine feindliche Welt, die ihn zurückstößt, aber gleichzeitig ist sie eine Welt, die seinen N eid erregt. Wir haben gesehen, daß der Kolonisierte immer davon träumt, sich an der Stelle des Kolonialherrn niederzulassen. Nicht, ein Kolonialherr zu werden, sondern den Platz des Kolonialherrn einzunehmen. Dessen feindselige, drückende, aggressive Welt erscheint der kolonisierten Masse, die von ihr gewaltsam ausgeschlossen bleibt, nicht als H ölle, der man so schnell wie möglich entkommen möchte, sondern als ein Paradies in greifbarer Nähe, bewacht von furchteinflößenden Blu t­ hunden. D er Kolonisierte ist immer auf der H ut, weil er die vielfältigen Zeichen der kolonialen Welt nur schwer entziffern kan n ;.er weiß niemals, ob er 3

Siehe Kapitel 5: Kolonialkrieg und psychische Störungen

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die Grenze schon überschritten hat oder nicht. In der vom Kolonialisten eingerichteten Welt gilt der Kolonisierte von vornherein als der Schuldige. Die Schuld des Kolonisierten ist keine übernommene Schuld, eher eine A rt Fluch, ein Damoklesschwert. In seinem Innern nämlich erkennt der Kolonisierte keine Instanz an. E r ist unterworfen, aber nicht gezähmt. E r ist erniedrigt, aber nicht von seiner Niedrigkeit überzeugt. E r wartet ge­ duldig, daß der Kolonialherr in seiner Wachsamkeit nachlasse, um sidi auf ihn zu stürzen. Die Muskeln des Kolonisierten liegen ständig auf der Lauer. Man kann nicht sagen, daß er beunruhigt, daß er terrorisiert sei. In Wirklichkeit ist er immer bereit, die Rolle des Freiwilds aufzugeben, um die des Jägers zu übernehmen. D er Kolonisierte ist ein Verfolgter, der ständig davon träumt, Verfolger zu werden. Die sozialen Symbole - Gen­ darmen, Zapfenstreiche in den Kasernen, militärische Paraden und Flag­ genhissungen - dienen gleichzeitig als Verbots- und als Reizmittel. Für den Kolonisierten besagen sie nicht: »Aufruhr ist zwecklos«, sondern: »Bereite dich auf deinen K am p f gut vor.« U nd wenn der Kolonisierte wirklich je dazu neigen sollte, einzuschlafen, zu vergessen: die Anmaßung des Kolonialherrn und sein Eifer, die Stabilität des Kolonialsystems zu beweisen, würden ihn immer von neuem daran erinnern, daß die große Konfrontation nicht auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben werden kann. Dieser Drang, den Platz des Kolonialherrn einzunehmen, bewirkt eine ständige Anspannung der Muskulatur. Bekanntlich verstärkt unter ge­ gebenen emotionalen Bedingungen die Anwesenheit eines Hindernisses die Tendenz zur Bewegung. Die Beziehung zwischen dem Kolonialherrn und dem Kolonisierten ist eine Massenbeziehung. D er Zahl setzt der Kolonialherr seine Stärke ent­ gegen. D er Kolonialherr ist ein Exhibitionist. Sein Sicherheitsbedürfnis führt ihn dazu, den Kolonisierten mit lauter Stimme daran zu erinnern: »Der H err hier bin ich.« D er Kolonialherr hält beim Kolonisierten eine Wut aufrecht, die er am Ausbrechen hindert. D er Kolonisierte ist in die engen Maschen des Kolonialismus eingezwängt. Aber w ir haben gesehen, daß der Kolonialherr nur eine Pseudo-Versteinerung erreicht. Die Mus­ kelspannung des Kolonisierten befreit sich periodisch in blutigen E xplo­ sionen: Stammesfehden, Qof-Käm pfen, in denen sich ganze Gruppen von Einheimischen aufreiben, und Schlägereien zwischen einzelnen. A u f der individuellen Stufe findet man eine wahre Negation des gesun­ den Menschenverstandes. Während der Kolonialherr oder der Polizist 4i

den Kolonisierten den ganzen Tag lang ungestraft schlagen, beschimpfen, auf die Knie zwingen kann, w ird derselbe Kolonisierte beim geringsten feindlichen oder aggressiven Blick eines anderen Kolonisierten sein Messer ziehen. Denn die letzte Zuflucht des Kolonisierten besteht darin, seine Würde gegenüber seinesgleichen zu verteidigen. In den Stammesfehden leben die alten, in das kollektive Gedächtnis eingegangenen Ressentiments wieder auf. D er Kolonisierte stürzt sich mit H aut und Haaren in der­ artige Racheakte und w ill sich dadurch einreden, daß der Kolonialismus nicht existiere, daß alles so geblieben sei wie früher, daß seine Geschichte einfach weitergehe. W ir haben es hier eindeutig mit einer kollektiven Form von Ersatzhandlungen zu tun. Brüder vergießen ihr Blut, als verhülfe ihnen ein solches Handeln dazu, das wahre Hindernis zu übersehen, die wahre Entscheidung zu vertagen, die auf nichts anderes hinauslaufen kann als auf den bewaffneten K am pf gegen den Kolonialismus. Die leib­ haftige Selbstzerstörung eines Kollektivs ist also einer der Wege, auf denen sich die physische Anspannung des Kolonisierten entlädt. A lle diese Verhaltensweisen sind Todesreflexe gegenüber der Gefahr, Selbstmord­ handlungen, die das Leben und die Herrschaft des Kolonialherrn nur noch mehr konsolidieren und ihm zugleich bestätigen, daß diese Menschen nicht vernünftig sind. Auch mit H ilfe der Religion gelingt es dem Kolonisierten, den Kolonialherrn zu vergessen. D er Fatalismus entlastet den Unterdrükker von jeder Initiative, weil er die Ursache der Übel, des Elends, des Schicksals auf G ott schiebt. So nimmt der einzelne die Zersetzung als von G ott beschlossen hin, er w irft sich vor dem Kolonialherrn und dem Schick­ sal auf den Bauch und gelangt durch eine A rt innere Wiederherstellung des Gleichgewichts zu steinerner Gelassenheit. Inzwischen geht das Leben jedoch weiter, und aus den schreckenerregen­ den Mythen, an denen die unterentwickelten Gesellschaften so reich sind, leitet der Kolonisierte Hemmungen und Verbote ab, die seine Aggressi­ vität eindämmen: unheilvolle Geister suchen ihn jedesmal heim, wenn er einen falschen. Schritt tut, Leopardenmenschen, Schlangenmenschen, sechsbeinige Hunde, Zombies, eine ganze Menagerie von winzigen oder riesen­ haften Tieren, baut um den Kolonisierten eine Welt von Verboten, Absperrungen, Hemmungen auf, weit schrecklicher als die kolonialistische Welt. Dieser magische Überbau, der die Eingeborenengesellschaft prägt, erfüllt in der D ynam ik der Libidostruktur präzise Funktionen. Eines der Kennzeichen der unterentwickelten Gesellschaften ist nämlich, daß die Libido zunächst eine Gruppen-, eine Familienangelegenheit ist. M an kennt 42

dieses von den Ethnologen genau beschriebene Phänomen: in manchen Gesellschaften muß der verheiratete Mann, der von sexuellen Beziehun­ gen mit einer anderen Frau träumt, diesen Traum öffentlich eingestehen und dem Gatten oder der beleidigten Familie eine Steuer in Naturalien oder Arbeitstagen zahlen. Was übrigens beweist, daß die sogenannten prähistorischen Gesellschaften dem Unbewußten eine große Bedeutung beimessen. Die Atmosphäre von Mythos und Magie verhält sich, indem sie mir Angst macht, wie eine unzweifelhafte Realität. Indem sie mir Schrecken einjagt, integriert sie mich in die Traditionen, in die Geschichte meines Landstri­ ches oder meines Stammes, aber gleichzeitig beruhigt sie mich, sie gewährt mir einen Status, stellt mir einen Bürgerbrief aus. Das Geheimnis ist in den unterentwickelten Ländern immer eine Sache des K ollektivs: es grün­ det ausschließlich auf Magie. Wenn ich mich in dieses unentwirrbare Geflecht einspinne, wo die Handlungen sich mit kristallklarer Permanenz wiederholen, so finde ich die Fortdauer einer mir gehörigen Welt, einer uns gehörigen Welt bestätigt. Die Zombies, glauben Sie mir, sind viel schreckenerregender als die Kolonialherren. Und das Problem besteht dann nicht mehr darin, sich nach der eisenstrotzenden Welt des Kolonia­ lismus auszurichten, sondern dreimal nachzudenken, bevor man uriniert, ausspuckt oder in die Nacht hinausgeht. D ie übernatürlichen, magischen Kräfte erweisen sich als erstaunlich molk , d. h. wirksam und real. Die Kräfte des Kolonialherrn sind unendlich be­ schnitten, von Fremdheit geschlagen. Wozu noch gegen sie kämpfen, wenn nichts anderes zählt als die erschreckende Feindlichkeit der mythischen Strukturen? So löst sich das koloniale Problem in einem dauernden G ei­ sterkampf, einem Schattenboxen zwischen Phantasmen, von selber auf. Dasselbe V olk, einst in unwirkliche Zirkel verfallen und einem unfaß­ baren Schrecken preisgegeben, aber glücklich, sich in der Q ual eines A lp ­ traums aufgeben zu können - es löst sich, kaum daß der Befreiungs­ kam pf begonnen hat, aus seinen Befangenheiten, organisiert sich neu und zeigt sich, in Blut und Tränen, ganz realer und direkter Auseinander­ setzungen fähig. Den Mudschahidins (den algerischen Partisanen) zu essen geben, Wachen aufstellen, den notleidenden Familien zu H ilfe kommen, den erschlagenen oder eingesperrten Mann ersetzen: das sind die kon­ kreten Aufgaben, denen das V olk im Befreiungskampf sich stellt. In der kolonialen Welt konzentriert sich das affektive Vermögen des

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Kolonisierten auf der Oberfläche der H au t; sie ist empfindlich wie eine offene Wunde gegen ätzende Stoffe. U nd die psychische Disposition sdirumpft ein, verkram pft und entlädt sich in muskulären Reaktionen, die manchen Wissenschaftler auf die Idee gebracht haben, der Kolonisierte sei ein Hysteriker. Sein A ffekt, der sich gleichsam in einem Zustand dauernder Erektion befindet und zugleich von einem inneren Zensor am Ausbruch gehindert wird, reagiert sich in motorischen Entladungen ab und findet in der Krise eine erotische Befriedigung.

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Andererseits können w ir das affektive Leben des Kolonisierten in mehr oder weniger ekstatischen Tänzen sich erschöpfen sehen. Deshalb muß eine Studie über die koloniale Welt unbedingt das Phänomen des Tanzes und der Besessenheit zu verstehen suchen. D er Kolonisierte ientspannt sich in diesen Muskelorgien, die seine schärfste Aggressivität und seine unmittel­ barste Gewalttätigkeit kanalisieren, verwandeln und ableiten. Im Kreis des Tanzes ist alles erlaubt. E r beschützt und ermächtigt. Zu festgesetzten Stunden, an festgesetzten Daten finden sich Männer und Frauen an einem gegebenen O rt zusammen und werfen sich unter dem strengen Auge des Stammes in eine scheinbar ungeordnete, in Wirklichkeit aber streng ge­ regelte Pantomime, w o sich auf vielfache Weise - Neigungen des Kopfes, Krümmen der Wirbelsäule, Zurückwerfen des ganzen Körpers - hand­ greiflich die grandiose Anstrengung eines Kollektivs äußert, sich durch Exorzismen zu befreien und auszudrücken. D er kleine Hügel, den man erstiegen hat, wie um dem Monde näher zu sein, das U fer, das man hinab­ geglitten ist, wie um die Äquivalenz von Tanz und Waschung, Reinigung auszudrücken, das sind geheiligte Orte. Alles ist erlaubt, denn man ver­ sammelt sich nur, um die angestaute Libido, die verhinderte Aggressivität vulkanisch ausbrechen zu lassen. Symbolische Tötungen, bildliche Ritte, vielfältige eingebildete Morde, all das muß herauskommen. Die bösen Säfte ergießen sich, donnernd wie Lavamassen. Ein Schritt weiter, und w ir verfallen in volle Besessenheit. In Wirklichkeit sind es Besessenheitsübungen zur Befreiung von Besessenheit, die hier or­ ganisiert werden: Vampirismus, Besessenheit durch Dschinns, durch Zom ­ bies, durch Legba, den berühmten G ott des Vodu. Diese Zerstörungen der Persönlichkeit, diese Verdoppelungen, diese Auflösungen erfüllen eine »ökonomische« Funktion, die für die Stabilität der kolonisierten Welt unentbehrlich ist. A u f dem H inweg waren die Männer und Frauen unge­ duldig, zapplig, nervös. A u f dem Rückweg kehrt die Ruhe ins D o rf zu­ rück, der Frieden, die Unbeweglichkeit.

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Man w ird im Laufe des Befreiungskampfes eine eigenartige Abkühlung gegenüber diesen Praktiken erleben. M it dem Rücken zur Wand, das Messer an der Kehle oder, um genauer zu sein, die Elektrode an den Genitalien, w ird der Kolonisierte begreifen, daß die alten Geschiditen ihre Macht verloren haben. Nachdem er sich jahrelang dem Irrealen, den erstaunlichsten Phantasmen hingegeben hat, geht der Kolonisierte endlich, das Maschinengewehr in der Faust, gegen die einzigen Kräfte vor, die ihm sein Sein streitig ge­ macht haben: die des Kolonialismus. Und der junge Kolonisierte, der in einer Atmosphäre von Eisen und Feuer aufwächst, kann es sich leisten, Witze zu reißen über die Zombie-Ahnen, die zweiköpfigen Pferde, die wiedererwachenden Toten, die Dschinns, die ein Gähnen ausnutzen, um in den Körper zu fahren. D er Kolonisierte entdeckt die Realität und ver­ ändert sie in der Entfaltung seiner Praxis, in der Ausübung der Gew alt, in seinem Befreiungsplan. W ir haben gesehen, daß diese G ew alt während der ganzen Kolonial­ periode, obwohl sie sich unter der H aut ansammelt, leerläuft. W ir haben gesehen, wie sie durch die emotionalen Entladungen des Tanzes oder der Besessenheit kanalisiert wird. W ir haben gesehen, wie sie sich in Bruder­ kämpfen erschöpft. Das Problem ist jetzt, zu begreifen, wie diese G ew alt sich reorientiert. Während sie sich zuvor in Mythen gefiel und Gelegen­ heiten für einen kollektiven Selbstmord suchte, werden ihr nun neue Bedingungen ermöglichen, die Richtung zu wechseln. Durch die Befreiung der Kolonien ist der gegenwärtigen Epoche ein theo­ retisches Problem von entscheidender Bedeutung auf gegeben: wann kann man sagen, daß die Situation für eine nationale Befreiungsbewegung reif sei? Wer soll ihre Avantgarde stellen? D a die Dekolonisation vielfältige Formen angenommen hat, zögert die Vernunft und verbietet sich zu sagen, was eine wirkliche Dekolonisation und was eine falsche sei. W ir werden sehen, daß es für den Betroffenen eine dringliche Aufgabe ist, über die M ittel, die Taktik, daß heißt die Verfahrensweise und die Organisation, zu entscheiden. Wird sie nicht gelöst, so liefert m an sich einem Voluntaris­ mus aus, der dem blinden Z u fall und den schlimmsten Möglichkeiten der Reaktion T ür und T or öffnet. Welches sind die Kräfte, die in der Kolonialperiode der G ew alt des K olo­ nisierten neue Wege, neue Ansatzpunkte bieten? D a sind zunächst die

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politischen Parteien und die intellektuellen oder kaufmännischen Eliten. Für bestimmte politische Formationen ist es jedoch kennzeichnend, daß sie Prinzipien verkünden, aber keine Parolen ausgeben. Die A ktivität dieser nationalistischen politischen Parteien erschöpft sich, solange die Kolonialmacht herrscht, im W ahlkampf-Betrieb und in einer Folge von philosophisch-politischen Abhandlungen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker, über das Menschenrecht auf Würde und Brot und in der un­ unterbrochenen Beteuerung des Grundsatzes: »Ein M ensch-eine Stimme.« Die nationalistischen politischen Parteien bestehen nie auf der Notwen­ digkeit der Kraftprobe, weil ihr Ziel eben nicht die radikale Um wälzung des Systems ist. A ls Pazifisten und Legalisten im Grunde Parteigänger der Ordnung (der neuen), stellen diese politischen Kreise der kolonialistischen Bourgeoisie offen die Forderung, die ihnen wesentlich ist: »Gebt uns mehr Macht.« Gegenüber dem spezifischen Problem der G ew alt verhalten sich die Eliten zweideutig. Sie sind gewalttätig in ihren Worten und reformi­ stisch in ihren Taten. Wenn die bürgerlich-nationalistischen Politiker etwas sagen, so geben sie ohne Umschweife zu verstehen, daß sie es nicht wörtlich meinen. Dieser Charakter der nationalistischen politischen Parteien ist durch die Q ualität ihrer K ader wie ihrer Anhängerschaft zu erklären. Diese A n ­ hängerschaft ist städtisch: sie besteht aus Arbeitern, Lehrern, kleineren H andwerkern und Kaufleuten, die angefangen haben, von der kolonialen Situation zu profitieren - für ein Butterbrot, versteht sich - , und die nun ihre Sonderinteressen anmelden. Sie verlangen die Verbesserung ihrer Lage, die Erhöhung ihrer Löhne. Der Dialog zwischen diesen politischen Parteien und dem Kolonialismus ist niemals abgerissen. Man diskutiert über Verbesserungen, parlamentarische Vertretung, Pressefreiheit, V er­ einsfreiheit. Man diskutiert über Reformen. So kann es auch nicht über­ raschen, daß eine große Zahl von Eingeborenen in den Lokalverbänden der politischen Formationen des »Mutterlandes« aktiv ist. Diese Einge­ borenen kämpfen für das abstrakte Schlagwort »Die Macht dem Proleta­ riat« und vergessen dabei, daß in ihrem* Land zunächst um die Forderun­ gen dieses Landes gekämpft werden muß. D er kolonisierte Intellektuelle läßt seine Aggressivität dem kaum verhüllten Willen zugute kommen, sich der kolonialen Welt anzupassen. E r stellt seine Aggressivität in den Dienst seiner eigenen, seiner individuellen Interessen. So entsteht leicht eine Klasse von individuell befreiten Sklaven, von Freigelassenen. Was der Intellektuelle fordert, ist die Möglichkeit, die Freigelassenen zu vermeh­

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ren, die Möglichkeit, eine authentische Klasse von Freigelassenen zu orga­ nisieren. Die Massen dagegen wollen nicht die Erfolgschancen von einzel­ nen sich vergrößern sehen. Nicht den Status des Kolonialherrn verlangen sie, sondern seinen Platz. D ie Kolonisierten wollen in ihrer überwältigen­ den Mehrheit die Farm des Kolonialherrn. Sie haben nicht die Absicht, mit dem Kolonialherrn in einen Wettbewerb zu treten. Sie wollen seinen Platz. Die Bauernschaft w ird von der Propaganda der meisten nationalistischen Parteien systematisch vernachlässigt. Es ist jedoch offenkundig, daß in den Kolonialländern nur die Bauernschaft revolutionär ist. Sie hat nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. D er Bauer, der Deklassierte, der Aus­ gehungerte ist der Ausgebeutete, der am schnellsten entdeckt, daß sich nur die G ew alt bezahlt macht. Für ihn gibt es keinen Kompromiß, keine Möglichkeit, sich zu arrangieren. Kolonisation oder Dekolonisation, das ist ganz einfach eine Frage der Stärke. D er Ausgebeutete entdeckt, daß seine Befreiung alle M ittel voraussetzt, vor allem die Stärke. Als 1956, nach der Kapitulation G u y Mollets vor den Kolonialherren Algeriens, die N ationale Befreiungsfront in einem berühmten Flugblatt feststellte, daß der Kolonialismus nur nachgebe, wenn ihm das Messer an der Kehle sitze, hat tatsächlich kein Algerier diese Ausdrücke zu gewalttätig gefun­ den. Das Flugblatt drückte nur aus, was alle Algerier empfanden: der Kolonialismus ist keine Denkmaschine, kein vernunftbegabter Körper. E r ist die G ew alt im Naturzustand und kann sich nur einer noch größeren G ew alt beugen. Im Moment der entscheidenden Auseinandersetzung tritt die kolonialistische Bourgeoisie, die bis dahin immer ruhig geblieben w ar, in Aktion. Sie führt einen neuen Begriff ein, der im Grunde nur ein Produkt der kolonialen Situation ist: Gewaltlosigkeit. In ihrer Rohform bedeutet diese Gewaltlosigkeit für die kolonisierten intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten, daß die kolonialistische Bourgeoisie die gleichen Interessen hat wie sie, daß es also unvermeidlich und dringlich ist, zu einer Einigung über das gemeinsame Wohl zu gelangen. Die Gewaltlosigkeit ist ein Versuch, das koloniale Problem am grünen Tisch zu regeln, noch vor jeder unwider­ ruflichen Geste, jedem Blutvergießen, jeder bedauerlichen Handlung. Wenn aber die Massen, ohne darauf zu warten, bis am grünen Tisch Platz genommen wird, nur auf ihre eigene Stimme hören und mit Brand­ schatzungen und Attentaten beginnen, dann sieht man die »Eliten« und

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die Führer der nationalistischen bürgerlichen Parteien zu den Kolonia­ listen stürzen und ihnen sagen: »Es ist sehr ernst! Niemand weiß, wie das enden wird, es muß eine Lösung, ein Kompromiß gefunden werden.« Dieser Begriff des Kompromisses ist sehr wichtig für das Phänomen der Dekolonisation”, denn er ist keineswegs einfach. D er Kompromiß betrifft nämlich gleichermaßen das Kolonialsystem wie die junge nationale Bour­ geoisie. Die Vertreter des Kolonialsystems entdecken, daß die Massen alles zu zerstören drohen. Die Sabotage der Brücken, die Zerstörung der Farmen, die Strafexpeditionen, der K rieg treffen die Wirtschaft hart. Auch die nationale Bourgeoisie kann die möglichen Folgen dieses Taifuns nicht absehen. Sie muß befürchten, daß dieser gewaltige Sturm sie hinweg­ fegen w ird ; deshalb beschwört sie die Kolonialherren immer wieder: »Noch können w ir das Blutbad aufhalten, noch haben die Massen V er­ trauen zu uns, macht schnell, wenn ihr nicht alles verderben wollt.« Ein Schritt weiter, und der Führer der nationalistischen Partei distanziert sich von aller Gewaltanwendung. E r versichert nachdrücklich, daß er nichts mit diesen M au-M au, diesen Terroristen, diesen Mördern zu tun habe. Bestenfalls verschanzt er sich in einem Niemandsland zwischen Terro­ risten und Kolonialherren und bietet sich als »Unterhändler« an: da die Kolonialherren nicht mit den M au-M au verhandeln können, ist er gern bereit, Verhandlungen anzubahnen. A u f diese Weise macht sich die Nach­ hut des nationalen Kam pfes, jener Teil des Volkes, der niemals aufgehört hat, auf der anderen Seite zu stehen, durch einen schier akrobatischen Trick zum Vortrupp der Verhandlungen und des Kompromisses - und das gelingt ihr, weil sie sich wohl gehütet hat, den Kontakt mit dem K o lo ­ nialismus jemals abzubrechen. V or der Verhandlung begnügen sich die meisten nationalistischen Parteien damit, jene »Wildheit« zu erklären, zu entschuldigen. Sie identifizieren sich nicht mit dem K am p f des Volkes, und nicht selten lassen sie sich in geschlossenen Klubs dazu hinreißen, solche aufsehenerregenden A ktio­ nen, die der Presse und der Öffentlichkeit des »Mutterlandes« als abscheu­ lich gelten, auch ihrerseits zu verurteilen. Das Bemühen, die Dinge objektiv zu sehen, dient dieser Politik des Immobilismus als Rechtfertigung. Aber diese klassische H altung der kolonisierten Intellektuellen und der Führer der nationalistischen Parteien ist in Wirklichkeit nicht objektiv. Im Grunde bezweifeln diese Leute, daß die ungeduldige G ew alt der Massen das w irk­ samste Mittel' zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen sei. Oft sind sie auch von der Unwirksam keit der gewaltsamen Methoden überzeugt. Für



sie ist ohne Frage jeder Versuch, die koloniale Unterdrückung mit G ew alt zu brechen/ein verzweifeltes, ein selbstmörderisches Unternehmen, weil in ihren Gehirnen die Panzer und die Jagdflugzeuge der Kolonialherren einen enormen Platz einnehmen. Wenn man ihnen sagt: »Es gilt zu han­ deln«, sehen sie schon Bomben auf ihre K öpfe fallen, Panzer auf den Straßen heranrücken, das Maschinengewehr, die Polizei . . . und bleiben sitzen. Sie brechen erst auf als Verlierer. Ihre Unfähigkeit, durch die G e­ walt zu siegen, braucht nicht bewiesen zu werden, sie zeigen sie in ihrem täglichen Leben und in ihrer Taktik. Sie stehen immer noch auf jenem puerilen Standpunkt, den Engels in seiner berühmten Polemik gegen Dühring, jenes Monstrum an Puerilität, eingenommen hat: »Ebensogut wie Robinson sich einen Degen verschaffen konnte, ebensogut dürfen w ir an­ nehmen, daß Freitag eines schönen Morgens erscheint mit einem geladnen R evolver in der H and, und dann kehrt sich das ganze »G ew alt-V erhält­ nis um: Freitag kommandiert, und Robinson muß schanzen. . . Also der R evolver siegt über den Degen, und damit w ird es doch wohl auch dem kindlichsten Axiom atiker begreiflich sein, daß die G ew alt kein bloßer Willensakt ist, sondern sehr reale Vorbedingungen zu ihrer Betätigung erfordert, namentlich Werkzeuge, von denen das vollkommnere das unvollkommnere überwindet; daß ferner diese' Werkzeuge produziert sein müssen, womit zugleich gesagt ist, daß der Produzent vollkommnerer Gewaltwerkzeuge, vulgo Waffen, den Produzenten der unvollkommneren besiegt, und daß, mit Einem Wort, der Sieg der Gew alt beruht auf der Produktion von Waffen, und diese wieder auf der Produktion überhaupt, also - auf der »ökonomischen Macht Ich habe mich entschlossen, meinem Sohn die Augen auf eine

andere Sonne zu öffnen. d ie m u t t e r

. . . O mein S o h n . . . Sohn eines bösen und verderblichen

Todes. d er r eb ell

Nein, Mutter, eines lebenskräftigen und prächtigen Todes.

d ie m u t te r

Weil du zuviel gehaßt hast.

d er r eb el l

Weil ich zuviel geliebt habe.

d ie m u t t e r

Schone mich, ich ersticke in deinen Banden.

Ich blute aus deinen Wunden. d er r eb el l

Und die Welt schont midi nicht. . . Es gibt in der Welt keinen

armen Gelynchten, keinen armen Gefolterten, in dem ich nicht ermordet und gedemütigt werde. d ie m u t t e r d er r eb el l

G ott im Himmel, befreie ihn. Mein H erz, du befreist mich nicht von meinen Erinnerungen. . .

Es w ar an einem Novemberabend . . . Und plötzlich durchfuhr Lärm die Stille. W ir waren aufgesprungen, w ir, die Sklaven; wir, der M ist; w ir, die Tiere mit den geduldigen Hufen. W ir rannten wie Wahnsinnige; Schüsse ertönten. . . W ir schlugen zu. Der Schweiß und das Blut erfrischten uns. W ir schlugen zu zwischen den Schreien, und die Schreie wurden schriller, und großer Lärm erhob sich gegen Osten, das waren die Wirtschaftsgebäude, die brannten, und die Flamme berührte zart unsere Backen. Dann kam der Sturm auf das H er­ renhaus. M an schoß aus den Fenstern. W ir traten die Türen ein. Das Zimmer des H errn w ar weit offen. Das Zimmer des H errn w ar hell erleuchtet, und der H err saß da, ganz ru h ig . . . und die unsrigen blieben stehen . . . es w ar der H err . . . Ich trat ein. Du bist es, sagte er ganz ruhig

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zu mir . . . Ich w ar es, gerade ich, sagte ich ihm, der gute Sklave, der treue Sklave, der sklavische Sklave, und plötzlich waren seine Augen zwei ver­ ängstigte Schaben zur Regenzeit. . . Ich schlug zu, das Blut spritzte: das ist die einzige Taufe, an die ich mich heute erinnern kann.7 M an begreift, daß in dieser Atmosphäre alles Alltägliche verschwindet. Man kann nicht mehr Fellache, Zuhälter oder Alkoholiker sein wie früher. Die G ew alt des Kolonialregimes und die Gegengewalt des Kolonisierten halten sich die Waage und entsprechen einander in einer außerordentlichen Homogenität. Diese Herrschaft der G ew alt w ird um so furchtbarer sein, je dichter die Besiedlung durch das »Mutterland« ist. D ie Entfaltung der G ew alt innerhalb des kolonisierten Volkes w ird der G ew alt, die das be­ kämpfte Kolonialregime ausübt, proportional sein. Die Regierungen des »Mutterlandes« sind in der ersten Phase der Aufstandsperiode Sklaven der Kolonialherren. Diese Kolonialherren drohen gleichzeitig den K o lo­ nisierten und ihrer eigenen Regierung. Sie werden gegen die einen wie gegen die anderen die gleichen Methoden anwenden. Die Ermordung des Bürgermeisters von Evian gleicht in ihrem Mechanismus und ihren M oti­ vierungen der Ermordung von A li Boumendjel. Für die Kolonialherren gibt es nicht die Alternative algerisches Algerien oder französisches A l­ gerien, sondern: unabhängiges Algerien oder koloniales Algerien. Alles andere ist Literatur oder Verrat. Die Logik des Kolonialherrn ist unerbitt­ lich, und man ist nur dann über die im Verhalten des Kolonisierten er­ kennbare Gegenlogik entsetzt, wenn man nicht vorher die Denkmechanis­ men des Kolonialherrn durchschaut hat. Sobald der Kolonisierte die Gegengewalt wählt, ziehen die Repressalien der Polizei automatisch die Repressalien der nationalen Kräfte nach sich. Doch gibt es keine Ä qu i­ valenz der Resultate, denn Maschinengewehrfeuer aus dem Flugzeug oder Beschuß durch die Flotte übersteigen an Grauen und Ausmaß die A nt­ worten des Kolonisierten. Dieses H in und H er des Terrors klärt endgültig auch die Entfremdetsten der Kolonisierten über ihre Lage auf. Sie stellen au f dem K am pfplatz fest, daß alle angehäuften Reden über die Gleichheit der Menschen nicht die Binsenwahrheit verschleiern können, daß die im Sakam ody-Paß getöteten oder verletzten sieben Franzosen die Entrüstung der zivilisierten Welt heraufbeschwören, während die Plünderung der Guergour-Dörfer, der Dechra Djeräh, das Blutbad unter der Bevölkerung, 7 Aim£ Clsaire, Et les chiens se taisaient. 68

wodurch jener Ü berfall aus dem Hinterhalt erst veranlaßt worden w ar, nicht zählen. Terror, Gegen-Terror, G ew alt, G egen -G ew alt. . . Das ist es, was. die Beobachter vo ll Bitterkeit feststellen, wenn sie den Zirkel des Hasses beschreiben, der in Algerien so offenkundig und so hartnäckig ist. In den bewaffneten Käm pfen gibt es einen Punkt, von dem aus kein Z u ­ rück mehr möglich ist. E r w ird fast immer durch die riesige, alle Bereiche des kolonisierten Volkes einbeziehende Unterdrückung bestimmt. Algerien erreichte diesen Punkt 1955 mit den 12 0 0 0 O pfern von Philippeville und 195 6 mit der Aufstellung städtischer und ländlicher M ilizen durch Lacoste.8

8 Man muß auf diese Periode zurückkommen, um die Bedeutung dieser Ent­ scheidung der französischen Regierungsgewalt in Algerien zu ermessen. So kann man in Nr. 4 der Resistance Algirienne vom 28. März 1957 lesen: »Entsprechend dem Wunsch der Vollversammlung der Vereinten Nationen hat die französische Regierung die Schaffung von städtischen Milizen in Algerien beschlossen. Schluß mit dem Blutvergießen, hatte die UNO gesagt. Lacoste ant­ wortet: Stellen wir Milizen auf. Waffenstillstand, riet die UNO. Lacoste brüllt: Bewaffnen wir die Zivilisten. Die beiden sich bekämpfenden Parteien werden aufgefordert, in Kontakt miteinander zu treten, um sich über eine demokratische und friedliche Lösung zu einigen, empfahl die UNO. Lacoste verfügt, daß von jetzt an jeder Europäer Waffen tragen und auf jeden schießen soll, der ihm verdächtig erscheint. Vor allem die wilde, ungerechte, an Völkermord grenzende Unterdrückung wird von den Behörden bekämpft werden müssen, so glaubt man. Lacoste antwortet: Systematisieren wir die Unterdrückung, organisieren wir die Jagd auf Algerier. Und symbolisch überträgt er die zivile Gewalt den Militärs und die militärische Gewalt den Zivilisten. Der Kreis ist geschlossen. In der Mitte der Algerier, entwaffnet, ausgehungert, gejagt, gestoßen, geschlagen, ge­ lyncht und bald erschlagen, weil suspekt. Heute gibt es in Algerien keinen Fran­ zosen, der nicht ermächtigt und aufgefordert wäre, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Einen Monat nach dem Appell der UNO zur Ruhe: kein Franzose, der nicht das Recht und die Pflicht hätte, Verdächtige aufzuspüren und zu ver­ folgen. Einen Monat nach der Verabschiedung des endgültigen Antrags der Vollver­ sammlung der Vereinten Nationen gibt es keinen Europäer in Algerien, der an dem entsetzlichsten Ausrottungsuntemehmen der Gegenwart unbeteiligt wäre. Eine demokratische Losung? Gut, konzediert Lacoste, beginnen wir mit der Aus­ rottung der Algerier. Bewaffnen wir zu diesem Zweck die Zivilisten, und lassen wir die Dinge dann laufen. Die gesamte Pariser Presse hat die Schaffung dieser bewaffneten Gruppen mit Zurückhaltung aufgenommen. Faschistische MÜizen, hat man gesagt. Ja. Aber was ist der Faschismus auf der Ebene des Individuums und des Völkerrechts anderes als der Kolonialismus innerhalb eines traditionell kolonialistischen Landes? Systematisch legalisierte und ermunterte Morde, hat

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Damals wurde für jedermann und selbst für die Kolonialherren deutlich, »daß man nicht wieder von vorn anfangen konnte« wie früher. Trotzdem führt das kolonisierte V olk nicht Buch. Es vermerkt die riesigen Lücken in seinen Reihen als ein notwendiges Übel. D a es nun einmal beschlossen hat, durch die G ew alt zu antworten, ist es auf alles gefaßt. Es verlangt nur, daß m^n auch von ihm nicht erwartet, für die anderen Buch zu führen. A u f die Formel »Alle Eingeborenen sind gleich« antwortet der Kolonisierte: man behauptet. Aber trägt die algerische Haut nicht seit 130 Jahren immer offenere, immer zahlreichere, immer tiefere Wunden? Vorsicht, rät der MRPAbgeordnete Kenne-Vignes; schafft man mit der Aufstellung der Milizen nicht die Gefahr, daß bald ein Abgrund zwischen den beiden Gemeinschaften Algeriens klaffen wird? Ja. Aber ist der Kolonialstatus nicht die organisierte Unter­ drückung eines ganzen Volkes? Die Algerische Revolution ist gerade die bewußte Verneinung dieser Unterdrückung und dieses Abgrundes. Die Algerische Revolu­ tion wendet sich an die okkupierende Nation und sagt ihr: Nehmt eure Nägel aus der zerschundenen und verwundeten algerischen Haut! Laßt das algerische Volk zu Wort kommen! Die Schaffung dieser Milizen soll die Aufgaben der Armee erleichtern, heißt es. Sie wird militärische Einheiten zur Bewachung der tunesischen und marokkani­ schen Grenze frei machen. Eine 600000 Mann starke Armee. Fast die Gesamt­ heit der Marine und Luftwaffe. Eine riesige, rasche Polizei, die die Ex-Folterknechte des tunesischen und marokkanischen Volkes in sich aufgenommen hat. 100000 Mann starke Landeinheiten. Man muß die Armee erleichtern. Schaf­ fen wir städtische Milizen. So sehr überzeugt die hysterische und verbrecherische Tollwut von Lacoste sogar die klarsichtigen Franzosen. In Wahrheit enthält die Schaffung dieser Milizen in ihrer Rechtfertigung ihren eignen Widerspruch. Die Aufgaben der französischen Armee sind unendlich. Sobald man ihr zum Ziel setzt, das algerische Volk zu knebeln, schließt sich das Tor zur Zukunft für immer. Vor allem versagt man sich, das Ausmaß und das Gewicht der Algerischen Revo­ lution zu analysieren, zu verstehen und abzumessen; Bezirksobmänner, Häuser­ blockobmänner, Straßenobmänner, Gebäudeobmänner, Etagenobmänner . . . Zum horizontalen Netz kommt heute noch das vertikale. In 48 Stunden sind 2000 Bewerbungen registriert. Die Europäer Algeriens sind dem Aufruf Lacostes zum Mord sofort nachgekommen. Von jetzt an darf jeder Europäer in seinem Abschnitt die überlebenden Algerier bestimmen. Informa­ tionen, schnelle Antwort auf den Terrorismus, Festnahme der Verdächtigen, Liquidierung der >Ausreißer

Die privaten Firmen, die in unterentwickelten Ländern investieren wollen, stellen dafür Bedingungen, die erfahrungsgemäß unannehmbar oder irreal sind. Sie bestehen darauf, daß sich ihr K ap ital sofort verzinst, und wollen von langfristigen Investitionen nichts wissen. Dies ist ein traditionelles Prinzip bei allen »Übersee«-Geschäften. Den Wirtschaftsplänen der neuen Regierungsmannschaften stehen diese Kapitalisten ablehnend, oft mit un­ verhohlener Feindschaft gegenüber. Allenfalls wären sie bereit, den jungen Staaten Geld zu leihen unter der Bedingung, daß mit diesem Geld Fertig­ waren und Maschinen aus dem »Mutterland« gekauft werden. A u f diese Weise wollen sie ihre eigene Hochkonjunktur fördern. D ie westlichen Finanzgruppen gehen mit äußerster Vorsicht zu Werke. Sie wollen keinerlei Risiko eingehen. Daher fordern sie eine politische Stabilität und ein ruhiges soziales Klim a, Bedingungen, wie sie angesichts des Elends der Bevölkerung, unmittelbar nachdem die Unabhängigkeit erreicht ist, unmöglich zu erfüllen sind. A u f der Suche nach solchen Garantien, die eine ehemalige Kolonie nicht geben kann, verlangen sie die Aufrechterhaltung gewisser Garnisonen oder den Eintritt des jungen Staates in ökonomische oder militärische Pakte. Die Privatgesellschaften setzen ihre eigne Regierung unter Druck, damit sie in eben diesen Ländern militärische Stützpunkte errichtet, die den A uftrag haben, ihre Interessen fcu schützen. Schließlich verlangen diese Gesellschaften von ihrer Regierung Bürgschaften für alle Investitio­ nen, die sie in unterentwickelten Ländern vornehmen wollen. N u r wenige Länder erfüllen jedoch die von den Trusts und Monopolen geforderten Bedingungen. Deshalb bleiben die Kapitalien mangels siche­ rer Absatzmärkte in Europa blockiert. Sie liegen fest, und zw ar um so mehr, als die Kapitalisten sich weigern, im eigenen Lande zu investieren. Die Gewinne sind dort tatsächlich sehr gering, und die steuerlichen Be­ lastungen entmutigen auch die kühnsten Unternehmer. Die Situation ist auf lange Sicht katastrophal. Das K ap ital zirkuliert nicht mehr; zumindest aber verlangsamt sich sein Umschlag beträchtlich. Die Schweizer Banken weisen das »heiße Geld« zurück. Europa erstickt an seinem Überfluß. Trotz der enormen Summen, welche die Rüstung verschlingt, befindet sich der internationale Kapitalismus in einer Sack­ gasse.

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Aber noch eine andere G efahr bedroht ihn. In dem Maße nämlich, wie die Dritte Welt durch den Egoismus und die Unmoral der westlichen Nationen sich ihrem Schicksal überlassen oder zur Regression, jedenfalls zur Stagnation verurteilt sieht, werden die unterentwickelten Völker beschließen, eine autarke Kollektivwirtschaft zu entwickeln^ D ie west­ lichen Industrien werden dann bald ihrer überseeischen Absatzmärkte be­ raubt sein. Die Maschinen werden sich in den Lagerhäusern stapeln, und auf dem europäischen M ark t w ird ein unerbittlicher K am pf zwischen den konkurrierenden Finanzgruppen und Trusts beginnen. Die Schlie­ ßung von Fabriken, Aussperrung und Arbeitslosigkeit werden das euro­ päische Proletariat dahin bringen, in einen offenen K am pf gegen das kapitalistische Regime einzutreten. Dann werden die Monopole einsehen, daß es in ihrem wohlverstandenen Interesse liegt, den unterentwickelten Ländern zu helfen, und zw ar massiv und ohne allzu viele Bedingungen. M an sieht, daß die jungen Nationen der Dritten Welt keinen Grund haben, den kapitalistischen Ländern zu schmeicheln. W ir sind mächtig durch unser gutes Recht und die Richtigkeit unserer Positionen. W ir müs­ sen den kapitalistischen Ländern sagen, daß das grundlegende Problem der gegenwärtigen Epoche nicht der K am p f zwischen den sozialistischen Regimes und ihnen ist. Dieser K alte Krieg, der zu nichts führt, muß be­ endet, die Vorbereitungen zum atomaren Weltkrieg müssen gestoppt, die unterentwickelten Länder mit großzügigen Investitionen und technischer H ilfe unterstützt werden. Das Schicksal der Welt hängt von der A ntw ort ab, die auf diese Frage gegeben werden wird. Schließlich sollten die kapitalistischen Länder den Versuch aufgeben, ihre sozialistischen Nachbarn für ein »europäisches Schicksal« zu gewinnen, um sie von den farbigen und unterernährten Massen zu trennen. Was auch der General de Gaulle sagen mag: die Leistung Gagarins ist kein Erfolg, der »Europa Ehre macht«. Seit einiger Zeit nehmen die Staatsmänner und die Intellektuellen des kapitalistischen Westens der Sowjetunion gegen­ über eine ambivalente H altung ein. Einst haben sie mit vereinten Kräften versucht, den Sozialismus zu vernichten; heute begreifen sie, daß man mit ihm rechnen muß. Sie zeigen sich infolgedessen liebenswürdig, eröffnen eine Charme-Offensive nach der anderen und erinnern das sowjetische V olk fortwährend daran, daß es »zu Europa gehört«. Wer von der Dritten Welt wie von einer Sturmflut spricht, die ganz Europa zu verschlingen droht, wer durch eine solche Agitation die fort­ schrittlichen Kräfte in der Welt, die der Menschheit ein künftiges Glück

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verheißen, zu spalten hofft, der w ird sich täuschen. Natürlich hat die Dritte Welt keineswegs vor, einen Kreuzzug des Hungers gegen Europa zu führen. Sie erwartet von denen, die sie jahrhundertelang versklavt haben, nur eines: der Mensch muß wieder in seine Rechte eingesetzt wer­ den, der Mensch muß endlich und ein für allemal überall auf der Welt triumphieren. Dazu verlangen w ir die H ilfe Europas. Abei* es ist klar, daß w ir die N aivität nicht bis zu dem Glauben treiben, die europäischen Regierungen würden uns dabei helfen. W ir rechnen nicht mit ihrer Zusammenarbeit und ihrem guten Willen. Das kolossale Werk, den Menschen, den ganzen Menschen zur Welt zu bringen, w ird nur mit der H ilfe der europäischen Massen gelingen. D ie Massen Europas müssen sich darüber klarwerden, daß sie sich in den kolonialen Fragen oft, allzu­ oft mit unseren gemeinsamen Herren verbündet haben. Heute müssen sie sich entscheiden, sie müssen aufwachen, zu einem neuen Bewußtsein kom­ men und ihren verantwortungslosen Dornröschenschlaf ein für allemal aufgeben.

2 . Größe und Schwächen, der Spontaneität

D ie Überlegungen über die Gew alt haben uns bewußt gemacht, daß zw i­ schen den Kadern der nationalistischen Partei und den Massen oftmals ein Abstand, ein Unterschied im Rhythmus besteht. In jeder politischen oder gewerkschaftlichen Organisation gibt es die altbekannte Kluft zwischen den Massen, die die sofortige und totale Verbesserung ihrer Lebensbedingungen verlangen, und den Kadern, die in Erwägung der Schwierigkeiten, die ihnen die Arbeitgeber entgegenstellen könnten, die Forderungen der Massen begrenzen und einschränken. Deshalb kann man oft eine hartnäckige Unzufriedenheit der Massen gegenüber den Kadern feststellen. Jedesmal, wenn eine Forderung durchgesetzt wurde und die K ader den Sieg feiern, haben die Massen schlankweg den Eindruck, sie seien verraten worden. Die Politisierung dieser Massen w ird durch immer häufigere Demonstrationen zur Durchsetzung ihrer Forderungen, durch immer häufigere Gewerkschaftskonflikte herbeigeführt werden. Ein poli­ tisierter Gewerkschaftler weiß, daß ein lokaler Konflikt keine entschei­ dende Auseinandersetzung zwischen ihm und der Arbeitgeberschaft ist. Die kolonisierten Intellektuellen, die in ihren jeweiligen Mutterländern das Funktionieren der politischen Parteien studiert haben, bauen in den Kolonien ähnliche Formationen auf, um die Massen zu mobilisieren und die Kolonialverwaltung unter Druck zu setzen. D ie Entstehung nationa­ listischer Parteien in den kolonisierten Ländern geht H and in H and mit der Bildung einer intellektuellen und kaufmännischen Elite. D ie Eliten messen der Organisation als solcher eine entscheidende Bedeutung bei, und der Fetischismus der Organisation ersetzt oft eine rationale Untersuchung der kolonialen Gesellschaft. D er Begriff Partei ist ein aus dem Mutter­ land eingeführter Begriff. Dieses Instrument der modernen Käm pfe w ird so, wie es ist, einer vielgestaltigen, aus dem Gleichgewicht geratenen Wirklichkeit aufgepfropft, in welcher Sklaverei, Leibeigenschaft, Tausch­ handel, H andw erk und Börsenspekulation nebeneinander bestehen. Die Schwäche der politischen Parteien beruht nicht nur auf der mechani­ schen Übernahme einer Organisation, die den K am p f des Proletariats innerhalb einer hochindustrialisierten kapitalistischen Gesellschaft leitet. Auch auf der begrenzten Ebene der Organisation hätten Neuerungen und Anpassungen eingeführt werden müssen. D er große Irrtum, der Geburts­

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fehler der Mehrheit der politischen Parteien in den unterentwickelten G e­ bieten lag darin, daß sie sich nach dem klassischen Schema vorrangig an die bewußtesten Elemente wendeten: an das Proletariat der Städte, die Handwerker und die Beamten, das heißt an einen winzigen Teil der Be­ völkerung, der kaum mehr als ein Prozent ausmacht. Wenn nun dieses Proletariat die Propaganda der Partei verstünde und seine Literatur läse, wäre es viel weniger darauf vorbereitet, den even­ tuellen Losungen eines unversöhnlichen Kam pfes für die nationale Be­ freiung Folge zu leisten. Mehrfach ist darauf hingewiesen worden: in den kolonialen Territorien ist das Proletariat der vom Kolonialregime am meisten verhätschelte Teil des Volkes. Das embryonale Proletariat der Städte ist relativ privilegiert. In den kapitalistischen Ländern hat das Proletariat nichts zu verlieren, aber eventuell alles zu gewinnen. In den kolonisierten Ländern hat das Proletariat alles zu verlieren. Es stellt näm­ lich den Teil des kolonisierten Volkes dar, der für das Funktionieren der Kolonialmaschine notwendig und unentbehrlich ist: Straßenbahnfahrer, Taxichauffeure, Bergarbeiter, Hafenarbeiter, Dolmetscher, Krankenpfle­ ger usw. . . . Aus diesen Elementen setzt sich die treueste Anhängerschaft der nationalistischen Parteien zusammen, und durch die privilegierte Stel­ lung, die sie im Kolonialsystem einnehmen, bilden sie die »bürgerliche« Fraktion des kolonisierten Volkes. Daher erklärt sich auch, daß die Anhängerschaft der nationalistischen poli­ tischen Parteien vo r allem städtisch ist: Werkmeister, Arbeiter, Intellektu­ elle und Kaufleute wohnen hauptsächlich in den Städten. Ihre Denkweise ist schon in vielen Punkten von dem technischen und relativ wohlhabenden Milieu geprägt, in dem sie sich bewegen. H ier ist der »Modernismus« König. Es sind die gleichen Kreise, die gegen die obskurantistischen T rad i­ tionen kämpfen, die althergebrachten Sitten reformieren wollen und damit einen offenen K am p f gegen den alten Granitsockel führen, der das na­ tionale Erbe bildet. D ie nationalistischen Parteien hegen in ihrer überwiegenden Mehrheit großes Mißtrauen gegenüber den ländlichen Massen. Diese Massen machen nämlich auf sie den Eindruck, in Trägheit und Unfruchtbarkeit dahinzudämmem. Ziemlich schnell kommen die Mitglieder der nationalistischen Parteien (Arbeiter der Städte und Intellektuelle) zu dem gleichen abwer­ tenden U rteil über das Land wie die Kolonialherren. Wenn man versucht, die Gründe für dieses Mißtrauen der politischen Parteien gegenüber den

ländlichen Massen zu verstehen, muß man sich die Tatsache vor Augen führen, daß der Kolonialismus seine Herrschaft oft durch die organisierte Versteinerung des Landlebens verstärkt und etabliert hat. Beherrscht von Marabuten, Medizinmännern und Häuptlingen, leben die ländlichen Mas­ sen noch im Feudalstadium, wobei die ganze Macht dieser mittelalterlichen Struktur von den kolonialistischen Verwaltungs- und Militärbeamten ge­ stützt wird. D ie junge nationale Bourgeoisie, die vor allem Handel treibt, w ird auf vielen Gebieten mit diesen Feudalherren in Konkurrenz treten: Marabute und Medizinmänner, die den Kranken den Weg zum A rzt versperren, Dschemaas, die durch ihre Rechtsprechung die Anw älte überflüssig machen, Kaids, die ihre politische und administrative G ew alt ausnutzen, um einen H andel oder eine Verkehrslinie zu eröffnen, Häuptlinge, die sich im N a ­ men der Religion und der Tradition der Einführung neuer Handelspro­ dukte widersetzen. Dam it die junge Klasse kolonisierter H ändler und Kaufleute sich ent­ wickeln kann, müssen diese Behinderungen und Barrieren verschwinden. D ie Eingeborenenkundschaft, die das Jagdrevier der Feudalherren dar­ stellt und der der K a u f neuer Produkte mehr oder weniger verboten ist, bildet also einen M arkt, den man sich streitig macht. So steht die feudale Oberschicht als eine Wand zwischen den jungen ver­ westlichten Nationalisten und den Massen. Jedesmal, wenn die Eliten eine Unternehmung starten, die sich an die ländlichen Massen wendet, ant­ worten die Stammeshäuptlinge, Bruderschaftshäupter und traditionellen Autoritäten mit Warnungen, Drohungen und Exkommunizierungen. Diese traditionellen Obrigkeiten, die von der Besatzungsmacht bestätigt worden sind, beobachten mit M ißfallen die Infiltrierungsversuche der Eliten auf dem Land. Sie wissen, daß die Ideen, die von diesen städtischen Elementen eingeführt werden könnten, das Prinzip des Fortbestehens der Feudalherr­ schaft anfechten. Deshalb ist ihr Feind keineswegs die Besatzungsmacht, mit der sie im großen und ganzen auf gutem Fuße leben, vielmehr jene Modemisten, die die autochthone Gesellschaft auseinanderreißen und ihnen damit ihr Brot nehmen wollen. D ie verwestlichten Elemente hegen gegenüber den bäuerlichen Massen ähnliche Gefühle, wie man sie auch beim Proletariat der industrialisierten Länder findet. Die Geschichte der bürgerlichen und der proletarischen R e ­ volutionen hat gezeigt, daß die bäuerlichen Massen die Revolution oft bremsen. In den industrialisierten Ländern sind die bäuerlichen Massen im

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allgemeinen die am wenigsten bewußten, am wenigsten organisierten und die anarchistischsten Elemente. Sie weisen einen Kom plex von Wesens­ zügen auf - Individualismus, Disziplinlosigkeit, Gewinnsucht, Neigung zu großen Entladungen und tiefer Resignation - , die ein objektiv reak­ tionäres Verhalten ausmachen. W ir haben gesehen, daß die nationalistischen Parteien ihre Methoden und ihre Lehren von den westlichen Parteien übernehmen; deshalb richtet sich ihre Propaganda meistens nicht an jene Massen. Eine rationale Analyse der kolonisierten Gesellschaft hätte ihnen dagegen gezeigt, daß die kolo­ nisierten Bauern in einem traditionellen Milieu leben, dessen Strukturen intakt geblieben sind, während in den Industrieländern dieses traditionelle Milieu durch die Fortschritte der Industrialisierung brüchig geworden ist. In den Kolonien findet man dagegen innerhalb des embryonalen Prole­ tariats individualistische Verhaltensweisen. Die landlosen Bauern, die das Lumpenproletariat bilden, verlassen das Land, w o ihnen die demographi­ schen Verhältnisse unlösbare Probleme stellen, und strömen in die Städte, drängen sidi in Slums zusammen und versuchen, in die durch die K olo­ nialherrschaft entstandenen H äfen und Städte einzusickern. Die bäuer­ lichen Massen dagegen leben weiter in einem unveränderlichen Rahmen, die überzähligen Münder haben keine andere Wahl, als in die Städte zu emigrieren. D er zurückbleibende Bauer verteidigt hartnäckig seine T ra­ ditionen und stellt in der kolonisierten Gesellschaft das disziplinierte Element dar, dessen Sozialstruktur eine gemeinschaftliche bleibt. Es ist wahr, daß dieses unbewegliche, in strenge Rahmen gespannte Leben von Zeit zu Zeit Ausbrüche von religiösem Fanatismus oder von Stammes­ kämpfen verursachen kann. Aber in ihrer Spontaneität bleiben die länd­ lichen Massen diszipliniert und altruistisch. Das Individuum geht in der Gemeinschaft auf. D ie Bauern hegen ihrerseits Mißtrauen gegenüber dem Stadtmenschen. D a er wie ein Europäer gekleidet ist, seine Sprache spricht, mit ihm arbeitet und manchmal in seinem Viertel wohnt, wird er von den Bauern als ein Überläufer betrachtet, der alles, was das nationale Erbgut bildet, auf­ gegeben hat. D ie Stadtmenschen sind »Verräter, Verkaufte«, die mit dem Okkupanten unter einer Decke zu stecken scheinen und im Rahmen des Kolonialsystems hochzukommen versuchen. Deshalb hört man die Bauern oft sagen, die Stadtmenschen hätten keine Moral. W ir haben es hier nicht mit dem herkömmlichen Gegensatz von Stadt und Land zu tun. Es han­

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delt sich um den Gegensatz zwischen dem Kolonisierten, der von den Vorteilen des Kolonialismus ausgeschlossen ist, und demjenigen, der sich arrangiert, um von der kolonialen Ausbeutung zu profitieren. Die Kolonialisten nutzen übrigens diesen Gegensatz in ihrem K am pf gegen die nationalistischen Parteien aus. Sie mobilisieren die Bergbewoh­ ner, die Bledbewohner gegen die Städter. Sie hetzen das H interland gegen die Küsten auf, sie reaktivieren das Stammesleben, und man braucht sich nicht zu wundern, daß sich Kalondschi zum König von K asai krönen läßt, wie man sich auch nicht zu wundern .braucht, daß die Versammlung der Häuptlinge von Ghana N ’Krum ah vor einigen Jahren sehr zu schaf­ fen gemacht hat. Den politischen Parteien gelingt es nicht, ihre Organisation auf dem Lande Fuß fassen zu lassen. Anstatt die bestehenden Strukturen zu benutzen und ihnen einen nationalen oder progressiven Inhalt zu geben, wollen sie im Rahmen des Kolonialsystems die traditionelle Wirklichkeit umwälzen. Sie glauben, die N ation in Marsch setzen zu können, während die Ketten des Kolonialsystems noch schwer auf ihr lasten. Sie suchen nicht den K on­ takt mit den Massen. Sie stellen nicht ihre theoretischen Kenntnisse in den Dienst des Volkes, sondern versuchen, das V o lk nach einem feststehenden Schema zu mobilisieren. Deshalb schleusen sie aus der H auptstadt unbe­ kannte oder zu junge Parteiführer in die D örfer ein, die, von der zen­ tralen Behörde eingesetzt, das Douar oder D o rf wie eine Zelle führen wollen. Die Häuptlinge werden ignoriert, manchmal sogar schikaniert. Die Geschichte der zukünftigen N ation tritt mit einer merkwürdigen G e­ dankenlosigkeit auf der kleinen Lokalgeschichte, das heißt der einzigen nationalen A ktualität herum, während man doch die Geschichte des D or­ fes, die Geschichte der traditionellen K lan - und Stammeskonflikte har­ monisch in die entscheidende Aktion, zu der man das V olk aufruft, einfügen müßte. D ie Alten, die in den traditionellen Gesellschaften mit Respekt umgeben werden und im allgemeinen mit einer unantastbaren moralischen Autorität bekleidet sind, werden öffentlich lächerlich gemacht. D ie Behörden des Okkupanten tun gut daran, diese Gehässigkeiten aus­ zunutzen: sie informieren sich über die geringsten Beschlüsse dieser K a ri­ katur einer Obrigkeit, und schon schlägt die Polizeiunterdrückung zu, die vollkommen im Bilde ist, w eil sie sich auf präzise Informationen stützt. Die eingeschleusten Parteiführer und die wichtigsten Mitglieder der neuen Versammlung werden verhaftet. 88

Die erlittenen Niederlagen bestätigen die »theoretische Analyse« der na­ tionalistischen Parteien. Die katastrophale Erfahrung beim Versuch einer Mobilisierung der ländlichen Massen verstärkt ihr Mißtrauen und ver­ festigt ihre Aggressivität gegenüber diesem Teil des Volkes. Nach dem Sieg des nationalen Befreiungskampfes wiederholen sich die gleichen Feh­ ler, die dann dezentralistisdie und autonomistische Tendenzen nähren. Das Stammeswesen der Kolonialphase macht dem Regionalismus der nationalen Phase P latz; seine institutionelle Form ist der Föderalismus. Aber es geschieht, daß die ländlichen Massen, trotz dem geringen Einfluß der nationalistischen Parteien auf sie, in entscheidender Weise in den R ei­ fungsprozeß des nationalen Bewußtseins eingreifen, entweder um die A ktion der nationalistischen Parteien zu übernehmen oder, seltener, um sich ganz einfach an die Stelle dieser sterilen Parteien zu setzen. Die Propaganda der nationalistischen Parteien findet in den bäuerlichen Massen immer ein Echo. D ie Erinnerung an die antikoloniale Zeit bleibt in den Dörfern lebendig. Die Frauen summen noch den Kindern die G e­ sänge ins Ohr, die einst die Krieger, die der Eroberung Widerstand leiste­ ten, begleitet haben. M it zw ölf, mit dreizehn Jahren kennen die kleinen Dorfbewohner die Namen der Alten, die bei dem letzten Aufstand dabei­ gewesen sind, und die Träume in den Douars, in den D örfern sind nicht die Träume von Luxus oder E rfolg bei Prüfungen, die die Kinder der Städte haben, sondern Träume der Identifikation mit irgendeinem Käm p­ fer, dessen heldenhafter Tod noch heute reichlich Tränen fließen läßt. Sobald die nationalistischen Parteien versuchen, die embryonale Arbeiter­ klasse der Städte zu organisieren, kommt es auf dem Lande zu scheinbar absolut unerklärlichen Explosionen. Zum Beispiel der berühmte Aufstand au f M adagaskar von 1947. Die kolonialistischen Behörden bleiben förm­ lich: ein Bauernaufstand. Heute wissen w ir jedoch, daß die Dinge, wie immer, viel komplizierter waren. Während des zweiten Weltkriegs dehn­ ten die großen Kolonialgesellschaften ihre Macht aus und bemächtigten sich aller noch freien Ländereien. Zur selben Zeit sprach man von der eventuellen Ansiedlung jüdischer, kabylischer und antillischer Flüchtlinge auf der Insel. Es ging sogar das Gerücht von einer bevorstehenden, von den Kolonialherren unterstützten Invasion durch die Weißen Südafrikas. Daher konnten nach dem K rieg die Kandidaten der nationalistischen Liste einen überwältigenden Wahlsieg feiern. Unmittelbar danach begann die

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Unterdrückung der Zellen des »Mouvement D&nocratique de la Renova­ tion Malgache« (Demokratische Bewegung zur Erneuerung Madagaskars). Um zum Ziel zu kommen, bediente sich der Kolonialismus der altbekann­ ten M ittel: Massen Verhaftungen, rassistische Propaganda unter den Stäm­ men und Gründung einer Partei mit den unorganisierten Elementen des Lumpenproletariats. Diese sogenannte Partei der Entrechteten Madagaskars gab der kolonialen Obrigkeit durch ihre eindeutigen Provokationen die legale Bürgschaft für die Aufrechterhaltung der Ordnung. Die alltägliche Operation der im voraus geplanten Auslöschung einer Partei nimmt hier riesenhafte Ausmaße an. Die ländlichen Massen, die sich seit drei oder vier Jahren in der Defensive befinden, fühlen sich plötzlich in Todesgefahr und beschließen, sich den kolonialistischen Kräften entschlossen entgegenzu­ setzen. M it Spießen, oft nur mit Steinen und Stöcken bewaffnet, stürzt sich das V olk in einen allgemeinen Aufstand für die nationale Befreiung. D er Rest ist bekannt. Diese bewaffneten Aufstände sind nur eines der M ittel, mit denen die ländlichen Massen in den nationalen K am pf eingreifen. Manchmal über­ nehmen die Bauern die Agitation der Städter, wenn die nationalistische Partei in den Städten Gegenstand einer polizeilichen Verfolgung ist. A u f­ gebauscht, maßlos aufgebauscht, erreichen die Nachrichten das Land: V er­ haftung der Führer, Maschinengewehrfeuer gegen Demonstranten, die Stadt vom Blut der Schwarzen überschwemmt, die K inder der Kolonialherren baden im Blut der Araber. Dann bricht der angestaute, der bis zum äußer­ sten gereizte H aß los. D er nächste Polizeiposten w ird gestürmt, die Gen­ darmen werden zerstückelt, der Lehrer w ird massakriert, der A rzt kommt nur deshalb mit dem Leben davon, weil er gerade unterwegs ist, usw. . . . Sofort schickt man Befriedungskolonnen in diese Orte, bombardiert sie aus der Luft. Dann w ird die Fahne der R evolte enthüllt, die alten kriege­ rischen Traditionen leben wieder auf, die Frauen jubeln Beifall, die M än­ ner organisieren sich und beziehen Stellung in den Bergen, der Guerilla­ kam pf beginnt. Spontan schaffen die Bauern eine allgemeine Unsicherheit, der Kolonialismus bekommt Angst, richtet sich au f einen K rieg ein oder verhandelt. Wie reagieren die nationalistischen Parteien auf diesen entscheidenden Einbruch der bäuerlichen Massen in den Befreiungskampf? W ir haben ge­ sehen, daß die Mehrheit der nationalistischen Parteien die Notwendigkeit einer bewaffneten Aktion nicht auf ihr Programm geschrieben hat. Sie

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widersetzen sich zw ar nicht der Fortdauer des Aufstands, aber sie begnü­ gen sich damit, auf die Spontaneität der Landbewohner zu vertrauen. Im großen und ganzen verhalten sie sich diesem neuen Element gegenüber, als handelte es sich um ein Manna, das vom Himmel fällt, und beten zum Schicksal, daß dies anhalten möge. Sie beuten das Manna aus, aber sie ver­ suchen nicht, den Aufstand zu organisieren. Sie schicken keine Kader aufs Land, um die Massen zu politisieren, um das Bewußtsein aufzuklären, um das Kam pfniveau zu heben. Sie hoffen, daß die Aktion der Massen, fort­ gerissen von ihrer eigenen Bewegung, sich nicht verlangsamen möge. Es gibt keine Ansteckung der ländlichen Bewegung durch die städtische. Jede entwickelt sich nach ihrer eigenen D ialektik. Die nationalistischen Parteien versuchen nicht, in die bäuerlichen Massen, die in diesem Moment ganz zu ihrer Verfügung stehen, Losungen zu lan­ cieren. Sie schlagen ihnen kein Ziel vor, sie hoffen einfach, daß diese Bewegung fortdauern möge und daß die Bombardements ihrer nicht H err werden. M an sieht also, daß die nationalistischen Parteien nicht einmal bei diesem Anlaß die ihnen gebotene Möglichkeit ausnutzen, die ländlichen Massen zu integrieren, zu politisieren und ihr Kam pfniveau zu heben. Man bleibt bei der geradezu verbrecherischen Position des Mißtrauens gegenüber dem Land. D ie politischen K ader vergraben sich in den Städten, geben dem K o lo­ nialismus zu verstehen, daß sie mit den Aufständischen nichts zu tun ha­ ben, oder reisen ins Ausland ab. Es passiert selten, daß sie sich dem V olk in den Bergen anschließen. In Kenia zum Beispiel hat während des M auM au-Aufstands kein bekannter Nationalist seine Zugehörigkeit zu dieser Bewegung proklamiert oder versucht, diese Menschen in Schutz zu nehmen. Es gibt keine fruchtbare Aussprache* keine Konfrontation zwischen den verschiedenen Schichten der N ation. Deshalb finden w ir im Moment der Unabhängigkeit, die nach der Unterdrückung der ländlichen Massen und der Übereinkunft zwischen dem Kolonialismus und den nationalistischen Parteien gekommen ist, dieses Unverständnis noch verstärkt. D ie Land­ bewohner verhalten sich ablehnend gegenüber den von der Regierung vo r­ geschlagenen Strukturreformen wie gegenüber den sozialen Neuerungen, selbst den objektiv progressiven, eben weil die Verantwortlichen des gegen­ wärtigen Regimes während der Kolonialperiode nicht dem ganzen V olk die Ziele der Partei, die nationale Orientierung, die internationalen Pro­ bleme usw. erklärt haben. 9i

A u f das Mißtrauen, das die Landbewohner und die Feudalherren in der Kolonialperiode gegenüber den nationalistischen Parteien hegten, folgt in der nationalen Periode eine ähnliche Feindseligkeit. Die kolonialistischen Geheimdienste, die nach der Gewinnung der Unabhängigkeit nicht ab­ gerüstet haben, unterhalten die Unzufriedenheit und können dadurch den jungen Regierungen noch ernste Schwierigkeiten bereiten. Alles in allem zahlt die Regierung nur für ihre Trägheit in der Befreiungsperiode und für ihre ständige Mißachtung der Landbevölkerung. Die N ation kann einen vernünftigen, sogar progressiven K o p f haben, aber der riesige K ö r­ per bleibt schwach, störrisch, nicht-kooperativ. Die Versuchung w ird also groß sein, diesen Körper zu brechen, indem man die Verwaltung zentralisiert und das V olk fest an die Kandare nimmt einer der Gründe, weshalb man oft sagen hört, in den unterentwickelten Ländern sei ein gewisser G rad von D iktatur notwendig. Die Führer miß­ trauen den ländlichen Massen. Dieses Mißtrauen kann übrigens ernste Formen annehmen. So zum Beispiel bei bestimmten Regierungen, die noch lange nach Erreichung der Unabhängigkeit das H interland als ein nicht befriedetes Gebiet betrachten, in das sich der Staatschef oder die Minister nur anläßlich von M anövern der nationalen Armee hineinwagen. Dieses H interland ist praktisch eine Unbekannte. Paradoxerweise erinnert die nationale Regierung durch gewisse Züge in ihrem Verhalten gegenüber den ländlichen Massen an die Kolonialmacht: »Man weiß nicht recht, wie diese Massen reagieren werden.« Und die jungen Führer zögern nicht, zu sagen: »N ur mit dem Knüppel kann man dieses Land auis dem M ittelalter heraus­ treiben.« Aber, w ir haben es gesehen, die Gedankenlosigkeit, mit der die politischen Parteien während der Kolonialphase mit den ländlichen M as­ sen umgegangen sind, konnte für die nationale Einheit und den beschleu­ nigten Aufbruch der N ation nur schädlich sein. Manchmal versucht der Kolonialismus, die nationalistische Bewegung zu entzweien und auseinanderzureißen. Anstatt die Scheiks und die H äupt­ linge gegen die »Revolutionäre« der Städte aufzuhetzen, organisieren die Eingeborenenbüros die Stämme und Bünde in Parteien. Gegenüber der städtischen Partei, die anfing, »den nationalen Willen zu verkörpern« und eine G efahr für das Kolonialregime darzustellen, entstehen Grüppchen, Strömungen und Parteien, auf ethnischer oder regionalistisdier Basis. Ein ganzer Stamm mausert sich zur politischen Partei, die von den Kolonia­ listen aus der N ähe beraten wird. Die »Table ronde« kann beginnen. Die 9*

Einheitspartei w ird in der Arithmetik der Tendenzen ertränkt werden.1 Die Stämmesparteien widersetzen sich der Zentralisation, der Einheit, und prangern die D iktatur der Einheitspartei an. Später w ird diese Taktik von der nationalen Opposition angewandt. Unter den zwei oder drei nationalistischen Parteien, die den Befreiungs­ kam pf geführt haben, hat der O kkupant seine Wahl getroffen. Die M oda­ litäten dieser Wahl sind altbekannt: wenn eine Partei die ganze N ation vertritt und sich als einziger Verhandlungspartner dem Okkupanten auf­ gezwungen hat, vermehrt dieser seine Verzögerungsmanöver und schiebt die Stunde der Verhandlungen so weit wie möglich hinaus. Die Verzöge­ rung w ird benutzt, um die Forderungen dieser Partei auseinanderzuneh­ men oder bei der Führung die Beseitigung bestimmter »extremistischer« Elemente durchzusetzen. Wenn sich dagegen keine Partei wirklich durchgesetzt hat, begnügt sich der Okkupant damit, diejenige zu bevorzugen, die ihm am »vernünftig­ sten« erscheint. Die nationalistischen Parteien, die nicht an den Verhand­ lungen teilgenommen haben, beeilen sich dann, die Übereinkunft zwischen der anderen Partei und dem Okkupanten zu verurteilen. Die Partei, die ihre Macht vom Okkupanten erhält und sich der G efahr bewußt ist, die die rein demagogische und verworrene Position der Konkurrenz­ partei darstellt, versucht sie zu vernichten und verurteilt sie zur Ille­ galität. Die verfolgte Partei hat keine andere Wahl, als in den V or­ städten und auf dem Lande Zuflucht zu suchen. Sie trachtet, die. ländlichen Massen gegen »die Verkauften der Küste und die Bestochenen der H aupt­ stadt« aufzuhetzen. Jeder Vorw and ist dann gut genug: religiöse A rgu­ mente, Reform pläne der neuen nationalen Obrigkeit, die.mit der Tradition brechen. M an beutet die obskurantistische Neigung der ländlichen Massen aus. D ie sogenannte revolutionäre Lehre stützt sich in Wirklichkeit auf den rückständigen emotionalen und spontan reagierenden Charakter des Landes. M an munkelt hier und da, daß sich in den Bergen etwas rege, daß das Land ungeduldig sei. Man versichert, daß in irgendeiner Ecke die Gen^ darmerie das Feuer auf die Bauern eröffnet habe, daß Verstärkungen hin-' geschickt worden seien, daß da? Regime kurz vor dem Zusammenbruch stehe. Die Oppositionsparteien, die kein klares Programm, sondern nur das Ziel haben, einmal die Regierungsmannschaft abzulösen, legen ihr Schicksal in die H ände der spontan und obskur reagierenden bäuerlichen Massen. Umgekehrt kommt es auch vor, daß die Opposition sich nicht mehr auf

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die ländlichen Massen, sondern auf die progressiven Elemente, die G e­ werkschaften der jungen N ation stützt. In diesem F all appelliert die R e­ gierung an die Massen, den Forderungen der Arbeiter Widerstand zu leisten, die dann als die Manipulationen anti-traditionalistischer Aben­ teurer denunziert werden. Was w ir für die politischen Parteien feststellen konnten, trifft, mutatis mutandis, auch für die Gewerkschaften zu. A n­ fangs sind die gewerkschaftlichen Formationen in den Kolonialgebieten regelrecht lokale Ableger der Gewerkschaften des Mutterlandes, und die Losungen sind das Echo der Losungen des Mutterlandes. Wenn die entscheidende Phase des Befreiungskampfes Gestalt annimmt, beschließen einige eingeborene Gewerkschaftler, nationale Gewerkschaften zu gründen. Massenweise verlassen die Autochthonen die alte, vom Mutter­ land importierte Gewerkschaft. D ie Gründung einer eigenen Gewerkschaft bedeutet für die städtische Bevölkerung ein neues Druckmittel gegenüber dem Kolonialismus. W ir haben schon gesagt, daß das Proletariat in den Kolonien embryonal ist und die am meisten begünstigte Fraktion des Volkes darstellt. Die im K am pf entstandenen nationalen Gewerkschaften organisieren sich in den Städten, und ihr Programm ist vor allem ein politisches und nationales Programm. Aber diese nationale Gewerkschaft, in der entscheidenden Phase des Unabhängigkeitskampfes entstanden, ist im Grunde die legale Mobilisierung der bewußten und dynamischen natio­ nalen Elemente. Die von den politischen Parteien verachteten ländlichen Massen bleiben weiterhin aus dem Spiel. Es gibt natürlich eine Gewerkschaft der Land­ arbeiter, aber diese Organisation entspricht lediglich der formalen N o t­ wendigkeit, »dem Kolonialismus eine Einheitsfront entgegenzustellen«. Die Gewerkschaftsfunktionäre, die ihre Kam pferfahrung in den gewerk­ schaftlichen Verbänden des Mutterlandes gewonnen haben, sind nicht in der Lage, die ländlichen Massen zu organisieren. Sie haben jeglichen K o n ­ takt mit der Bauernschaft verloren und beschäftigen sich hauptsächlich mit der Organisierung der M etall- und Hafenarbeiter, der Angestellten von Gas- und Elektrizitätswerken usw. In der Kolonialzeit sind die gewerkschaftlichen Verbände eine außer­ ordentlich wirksame Stoßtruppe. In den Städten können die G ew erk­ schaften jeden Augenblick die ganze Kolonialwirtschaft lahmlegen oder jedenfalls bremsen. D a die europäische Bevölkerung oft in den Städten konzentriert ist, sind die psychologischen Auswirkungen solcher Demon-

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strationen auf diese Bevölkerungskreise beträchtlich: keine Elektrizität, kein Gas, keine M üllabfuhr, die Waren verfaulen auf den Kais. A u f diese kleinen Inseln des Mutterlandes, die die Städte im kolonialen Rahmen bilden, übt die A ktion der Gewerkschaft eine tiefgehende W ir­ kung aus. Die Hauptstadt, als die Festung des Kolonialismus, kann die ihr angetane Schande kaum verwinden. Aber das H interland, die bäuer­ lichen Massen, haben an dieser Auseinandersetzung keinen Anteil. Vom nationalen Gesichtspunkt aus besteht also ein Mißverhältnis zw i­ schen der Bedeutung der Gewerkschaften und dem Rest des Landes. Seit der Unabhängigkeit haben die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter den Eindruck, auf der Stelle zu treten. Das begrenzte Ziel, das sie sich gesetzt hatten, offenbart sich, soweit es erreicht ist, als sehr dürftig, gemes­ sen an der riesigen Aufgabe eines nationalen Aufbaus. Die Gewerkschafts­ führer entdecken, daß sie sich gegenüber der nationalen Bourgeoisie, deren Beziehungen zur Macht oft sehr eng sind, nicht mehr mit der üblichen Agitation begnügen können. Von jeher von den ländlichen Massen iso­ liert und unfähig, über die Vororte der Städte hinaus zu agitieren, nehmen die Gewerkschaften immer eindeutiger politische Positionen ein. In W irk­ lichkeit sind die Gewerkschaften Kandidaten für die Regierungsmacht. Sie versuchen mit allen Mitteln, die Bourgeoisie in die Enge zu treiben: Protestaktionen gegen die Aufrechterhaltung der ausländischen Stütz­ punkte auf dem nationalen Territorium, Verurteilung der Handelsab­ kommen, Parteinahme geghi die Außenpolitik der nationalen Regierung. D ie jetzt »unabhängigen« Arbeiter bewegen sich im Leerlauf. Unmittel­ bar nach der Erreichung der Unabhängigkeit erkennen die Gewerkschaften, daß die sozialen Forderungen, offen ausgesprochen, das übrige Land em­ pören würden. Die Arbeiter sind ja die Günstlinge des Regimes. Sie stellen die wohlhabendste Fraktion des Volkes dar. Eine Agitation, die darauf zielte, die Lebensbedingungen der Arbeiter und Docker zu verbessern, w äre nicht nur unpopulär, sondern würde auch die Feindschaft der völlig mittellosen Massen der Landbevölkerung hervorrufen. So treten also die Gewerkschaften auf der Stelle, da ihnen jede gewerkschaftliche Tätigkeit versperrt ist. Dieses Unbehagen zeugt nur von der objektiven Notwendigkeit eines Sozialprogramms, das endlich die Gesamtheit des Landes berücksichtigte. D ie Gewerkschaften entdecken plötzlich, daß auch das Hinterland auf­ geklärt und organisiert werden muß. Aber weil sie sich keinen Augenblick

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damit beschäftigt haben, zwischen sich und den ländlichen Massen Transmissionsriemen zu schaffen, und da gerade diese Massen die einzigen spontan revolutionären Kräfte des Landes darstellen, machen die Gewerk­ schaften die Erfahrung ihrer Unwirksam keit und entdecken den anachro­ nistischen Charakter ihres Programms. Die Gewerkschaftsführer, die in ihre politisch-gewerkschaftliche Agitation eingespannt sind, steuern automatisch auf die Vorbereitung eines Staats­ streiches hin. Aber auch hierbei bleibt das H interland ausgeschaltet. Es handelt sich um eine begrenzte Auseinandersetzung zwischen der natio­ nalen Bourgeoisie und der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. Die nationale Bourgeoisie knüpft an die alten Traditionen des Kolonialismus an und zeigt ihre M ilitär- und Polizeikräfte, während die Gewerkschaften Versammlungen abhalten und Zehntausende von Mitgliedern mobilisieren. Die Bauern, denen diese nationale Bourgeoisie und diese Arbeiter, die sich schließlich satt essen können, fremd sind, schauen achselzuckend zu. Sie zucken mit den Achseln, denn sie sind sich bewußt, daß beide P ar­ teien sie als ihre H ilfstruppe betrachten. Die Gewerkschaften, die Parteien oder die Regierung benutzen die bäuerlichen Massen in einer A rt von moralischem Machiavellismus als träge, blinde M anövrierkraft. A ls rohe Kraft. Unter bestimmten Umständen dagegen beeinflussen die bäuerlichen Massen in entscheidender Weise gleichzeitig den nationalen Befreiungskampf und die Perspektiven, für die sich die zukünftige N ation entscheidet. Diese Erscheinung ist für die unterentwickelten Länder von fundamentaler Be­ deutung, deshalb wollen w ir sie hier im einzelnen untersuchen. W ir haben gesehen, daß in den nationalistischen Parteien der W ille, den Kolonialismus zu brechen, .sich sehr gut mit einem anderen Willen ver­ trägt: sich auf gütliche Weise mit ihm zu einigen. Innerhalb dieser Parteien spielen sich manchmal zwei Prozesse ab. Erstens beginnen intellektuelle Elemente, nach einer gründlichen Analyse der kolonialen Wirklichkeit und der internationalen Lage, das ideologische Vakuum der nationalen Partei und ihre taktischen und strategischen Mängel zu kritisieren. Sie setzen den Führern ständig mit entscheidenden Fragen zu: »Was ist der Nationalismus? Was versteht ihr unter diesem Wort? Was besagt diese Vokabel? Unabhängigkeit, für wen? Und vo r allem, wie glaubt ihr sie zu erreichen?« Gleichzeitig verlangen sie eine energische Lösung der me­ thodischen Probleme. Sie schlagen vor, den Wahlkampfmitteln »jedes

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andere Mittel« hinzuzufügen. Beim ersten Geplänkel entledigen sich die Führer schnell dieser Quertreiber, die sie gerne als pubertär bezeichnen. Aber weil ihre Forderungen weder der Ausdruck einer Quertreiberei noch ein Zeichen von Unreife sind, müssen die revolutionären Elemente, die solche Positionen vertreten, isoliert werden. D ie mit ihrer Erfahrung drapierten Führer weisen »diese Abenteurer und Anarchisten« unerbitt­ lich zurück. Der Parteiapparat sträubt sich gegen jede Neuerung. Die revolutionäre Minderheit sieht sich allein gegenüber einer Führung, die Angst hat, in einen Sturm hineingerissen zu werden, dessen Aspekte, K raft und Rich­ tung sie nicht einmal ahnt. D er zweite Prozeß betrifft die führenden und untergeordneten Kader, die wegen ihrer A ktivitäten den Verfolgungen durch die kolonialistisdie Polizei ausgesetzt waren. Es ist interessant, daß diese Männer durch ihre hartnäckige Arbeit, ihren Opfermut und einen beispielhaften Patriotismus in die Führungskreise aufgestiegen sind. Diese von der Basis kommenden Männer sind oft kleine, ungelernte Arbeiter, Saisonarbeiter und manchmal wirkliche Arbeitslose. In einer nationalen Partei aktiv sein heißt für sie nicht, Politik machen, sondern das einzige Mittel ergreifen, um vom tieri­ schen Zustand zum menschlichen Zustand Zu gelangen. Diese Männer, die von dem übertriebenen Legalismus der Partei behindert werden, zeigen oft im Rahmen der ihnen anvertrauten Arbeiten einen Initiativgeist, einen M ut und eine Kampfbegeisterung, die sie den Unterdrückungskräften des Kolonialismus fast automatisch verdächtig machen. Verhaftet, verurteilt, gefoltert, amnestiert, benutzen sie die Entspannungsperiode, um ihre Ideen auszuarbeiten und ihre Entschlossenheit zu festigen. In den Hungerstreiks, in der gewaltsamen Solidarität gemeinsamer Gefängnislöcher erleben sie ihre Befreiung als Gelegenheit, den bewaffneten K am pf auszulösen. Aber draußen macht gleichzeitig der Kolonialismus, der von allen Seiten be­ stürmt zu werden beginnt, Annäherungsversuche an die gemäßigten N a ­ tionalisten. Es kommt also zu einem an Spaltung grenzenden Bruch zwischen der illegalistischen und der legalistischen Tendenz der Partei. Die Illegaiisten merken, daß sie unerwünscht sind. M an geht ihnen aus dem Wege. Unter unendlichen Vorbehalten kommen ihnen die Legalisten der Partei ent­ gegen, aber sie fühlen sich schon als Fremde. Sie treten jetzt in Kontakt mit den intellektuellen Elementen, deren Positionen sie einige Jahre früher 97

kennenlernen konnten. Eine illegale Partei entsteht neben der legalen und sanktioniert diese Begegnung. Aber die Verfolgung dieser unbelehrbaren Elemente intensiviert sich, je mehr die legale Partei sich dem Kolonialis­ mus annähert, um ihn »von innen heraus« zu verändern. Die illegale Mannschaft der nationalistischen Parteien befindet sich also in einer histo­ rischen Sackgasse. Von den Städten zurückgestoßen, gruppieren sich diese Leute zunächst in den Vororten. Aber das Polizeinetz spürt sie auch hier auf und zwingt sie, die Städte endgültig zu verlassen, der Arena des politischen Kam pfes zu entfliehen. Sie ziehen sich auf das Land, in die Berge, zu den bäuer­ lichen Massen zurück. Zunächst schließen sich die Massen über ihnen zusammen und verbergen sie vo r den polizeilichen Nachforschungen. Ein nationaler M ilitant, der beschließt, anstatt in den Stadtvierteln mit der Polizei Versteck zu spielen, sein Schicksal in die H ände der bäuerlichen Massen zu legen, verliert niemals. D er bäuerliche Mantel schließt sich über ihm mit einer unerwarteten Behutsamkeit und Stärke. A ls wirkliche Verbannte des Hinterlandes, abgeschnitten vom städtischen Milieu, wo sie die Begriffe »Nation« und »politischer Kam pf« entwickelt hatten, sind diese Menschen jetzt wahrhaft Partisanen geworden. Ständig ge­ zwungen, auf der Flucht vor den Polizisten den O rt zu wechseln und nachts zu marschieren, um kein Aufsehen zu erregen, haben sie Gelegen­ heit, ihr Land zu durchziehen und kennenzulemen. Vergessen sind die C a f& , die Diskussionen über die nächsten Wahlen, die Gemeinheiten irgendeines Polizisten. Ihre Ohren hören die wahre Stimme des Landes, ihre Augen sehen das große, unendliche Elend des Volkes. Sie werden sich bewußt, daß kostbare Zeit mit nutzlosen Kommentaren über das K olonial­ regime verschwendet worden ist. Sie verstehen endlich, daß die V er­ änderung. etwas anderes sein muß als eine Reform , eine Verbesserung. Sie begreifen in einer A rt Taumel, der nicht mehr aufhört, daß die politische Agitation in den Städten immer unfähig sein w ird, das Kolonialregime zu verändern und umzuwälzen. Diese Männer gewöhnen sich daran, mit den Bauern zu sprechen. Sie erkennen, daß die ländlichen Massen nie aufgehört haben, das Problem ihrer Befreiung in der Anwendung der G ew alt, in der Vertreibung der Fremden vom Land, im nationalen Kam pf , im bewaffneten Aufstand zu sehen. Alles ist einfach. Diese Männer entdecken ein kohärentes V olk, das in einer A rt Unbeweglichkeit dahinlebt, aber dessen moralische Werte, dessen Verbundenheit mit der N ation intakt geblieben sind. Sie entdecken

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ein großzügiges, opferwilliges, hingabebereites, ungeduldiges und stolzes Volk! M an versteht, daß die Begegnung dieser von der Polizei gehetzten Militanten mit diesen vor Ungeduld kochenden und aufstandbereiten Massen eine Mischung von einer ungewöhnlichen Explosivkraft ergeben kann. Die aus den Städten gekommenen Männer gehen jetzt in die Schule des Volkes, und gleichzeitig geben sie dem V olk eine politische und militärisdie Ausbildung. Das 'V o lk wetzt seine Waffen. Die Kurse dauern nämlich nicht lange, denn die Massen, die wieder die Spannung ihrer Muskeln spüren, drängen die Führer, die Dinge vorwärts zu treiben. Der bewaffnete K am pf hat begonnen. D er Aufstand verstört die politischen Parteien. Ihre D oktrin hat nämlich immer die Unwirksam keit jeder Kraftprobe versichert, ihre Existenz selbst ist eine ständige Verurteilung jedes Aufstands. Insgeheim teilen bestimmte politische Parteien den Optimismus der Kolonialherren und sind froh, nidit in diese Raserei verwickelt zu sein, von der man sagt, daß sie blutig niedergeschlagen werden müsse. Aber das einmal entfachte Feuer verbreitet sich wie eine Epidemie über das ganze Land. Panzer und Flug­ zeuge kehren nicht mit den erwarteten Erfolgen zurück. Angesichts dieser Ausbreitung des Obels beginnt der Kolonialismus nachzudenken. Inner­ halb des unterdrückten Volkes selbst werden Stimmen laut, die auf den E m st der Situation hinweisen. Das V olk aber läßt sich in seinen Hütten und in seinen Träumen von dem neuen nationalen Rhythmus anstecken. Leise singt es in seinem Herzen den ruhmreichen Käm pfern endlose Hymnen. Der Aufstand hat schon die ganze N ation ergriffen. Jetzt sind die Parteien isoliert. D ie Führer des Aufstandes erkennen jedoch eines Tages die N otwendig­ keit, diesen Aufstand auf die Städte auszudehnen. Diese Erkenntnis ist nicht zufällig. Sie bestätigt die D ialektik, die die Entwicklung eines be­ waffneten nationalen Befreiungskampfes lenkt. Obwohl das Land eine unerschöpfliche Reserve an Volksenergien darstellt und die bewaffneten Gruppen eine allgemeine Unsicherheit herrschen lassen, zweifelt der K o lo­ nialismus nicht wirklich an der Solidität seines Systems. E r fühlt sich nicht grundsätzlich in Gefahr. Der Führer des Aufstandes beschließt also, den K rieg zum Feind zu tragen, das heißt in die ruhigen und protzigen Städte. Wenn der Aufstand in den Städten Fuß faßt, sieht sich die Führung vor schwierigen Problemen. W ir haben gesehen, daß die meisten der Führer in

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den Städten geboren oder aufgewadisen sind und ihre natürliche Um welt verlassen hatten, weil sie von der kolonialistischen Polizei verfolgt und von den vorsichtigen und »vernünftigen« Kadern der politischen Parteien nicht verstanden wurden. Ih r Rückzug aufs Land w ar gleichzeitig eine Flucht vo r der Unterdrückung und Ausdruck ihres Mißtrauens gegenüber den alten politischen Organisationen. Ihre natürlichen Antennen in den Städten sind die bekannten Nationalisten innerhalb der politischen P ar­ teien. A ber w ir haben ja gesehen, daß sich ihre jüngste Geschichte gerade abseits der unentschlossenen, in eine endlose Reflexion über die Untaten des Kolonialismus verstrickten Parteiführer abgespielt hatte. D ie erste Fühlungnahme der Leute aus dem Maquis mit ihren ehemaligen Freunden, gerade? mit denen, die sie für die progressivsten halten, bestä­ tigt übrigens ihre Befürchtungen und nimmt ihnen sogar jedes Bedürfnis, die alten Bekannten wiederzusehen. Wenn der Aufstand, der vom Land ausgeht, in die Städte eindringt, dann viel eher durch die Fraktion jener Landbevölkerung, die am Stadtrand hängengeblieben ist und im kolo­ nialen System noch keinen Knochen zum N agen gefunden hat. D ie Men­ schen, die die wachsende Bevölkerungszahl auf dem Land und die kolo­ niale Enteignung dazu gebracht hat, den Boden ihrer Familie zu verlassen, umkreisen unermüdlich die verschiedenen Städte in der Hoffnung, eines Tages hineinzugelangen. In dieser Masse, in diesem V o lk der Slums, in­ mitten des Lumpenproletariats w ird der Aufstand seine Lanzenspitze gegen die Städte finden. Das Lumpenproletariat, diese H ord e4von Aus­ gehungerten, die aus der Stammes- oder Klangemeinschaft herausgerissen sind, bildet eine der spontansten und radikalsten unter den revolutionären Kräften eines kolonisierten Volkes. In K enia haben die britischen Kolonialbehörden in den Jahren vo r dem M au-M au-Aufstand ihre Einschüchterungsmaßnahmen gegen das Lumpen­ proletariat verstärkt. Polizeikräfte und Missionare haben in den Jahren 1950 und 19 5 1 ihre Bemühungen koordiniert, um sich in ihrer Weise mit dem enormen Zufluß von jugendlichen vom Land und aus den Wäldern zu beschäftigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt nicht durchsetzen konnten und sich dem Diebstahl, der Unzucht, dem Alkoholismus usw. hingaben. D ie Jugendkrim inalität in den kolonisierten Ländern ist das direkte P ro­ dukt der Existenz eines Lumpenproletariats. Auch im Kongo wurden von 19 57 an drakonische Maßnahmen ergriffen, um die »jungen Strolche«, die die öffentliche Ordnung störten, aufs Land zurückzudrängen. M an er-

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öffnete Obdachlosenlager, die man der Mission anvertraute, natürlich unter dem Schutz der belgischen Armee. D ie Bildung eines Lumpenproletariats ist eine Erscheinung, die einer eigenen Logik gehorcht, und weder die emsige Tätigkeit der Missionare noch die Verfügungen der Zentralgewalt können sein Anwachsen ein­ dämmen. Dieses Lumpenproletariat ist dabei, wie eine Meute Ratten, trotz Tritten und Steinwürfen, die Wurzeln des Baumes anzunagen. D er Slum beweist die physische Entschlossenheit des Kolonisierten, die feindliche Festung, koste es, was es wolle, und wenn nötig auf unter­ irdischen Wegen zu erobern. Das Lumpenproletariat, das mit allen sei­ nen Kräften auf die »Sicherheit« der Stadt drückt, ist die uneindämmbare Fäulnis, der Krebsschaden mitten in der Kolonialherrschaft. Die Zuhälter, die Herumlungerer, die Arbeitslosen, die Vorbestraften werfen sich also au f den Appell hin wie robuste Arbeiter in den Befreiungskampf. Diese Beschäftigungslosen und Deklassierten werden durch die militante und entschlossene A ktion auf den Weg der N ation zurückfinden. Sie rehabili­ tieren sich nicht gegenüber der Kolonialgesellschaft oder ihrer M oral; ganz im Gegenteil: sie bejahen ihre Unfähigkeit, anders in die Stadt hinein­ zukommen als durch die G ew alt der Granate oder des Revolvers. Diese Arbeitslosen und Untermenschen rehabilitieren sich gegenüber sich selbst und gegenüber der Geschichte. Auch die Prostituierten, die 2000-FrancMädchen, die Verzweifelten, alle jene Männer und Frauen, die sich zw i­ schen Wahnsinn und Selbstmord bewegen, werden ihr Gleichgewicht wiederfinden, sich auf den Marsch machen und entschlössen an der großen Prozession der erwachten N ation teilnehmen. Die nationalistischen Parteien begreifen diese neue Erscheinung nicht, die ihre Auflösung beschleunigt. D er Einbruch des Aufstandes in die Städte verändert das Gesicht des Kam pfes. D ie kolonialistischen Truppen, die überall aiifs Land verteilt waren, fluten jetzt überstürzt in die Städte zurück, um die Sicherheit von Menschen und Besitz zu garantieren. Die Unterdrückung verzettelt ihre Kräfte, an allen Enden taucht die G efahr auf. Das ganze Land, die ganze Kolonie gerät in einen Rausch. Die be­ waffneten Bauerngruppen erleben das Nachlassen der militärischen Um ­ klammerung. D er Aufstand in den Städten ist eine unerhoffte Sauerstoff­ zufuhr. Die Führer des Aufstands, die sehen, wie das V olk der Kolonialmaschine mit Begeisterung und H ingabe entscheidende Schläge versetzt, verstärken ihr Mißtrauen gegenüber der traditionellen Politik. Jeder errungene E r­

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folg rechtfertigt ihre Feindschaft gegenüber dem, was sie jetzt »Gegurgel«, »Gerede«, »Blagologie«1, sterile Agitation nennen. Sie entwickeln einen wahren H aß auf die »Politik«, auf die Demagogie. Deshalb erleben w ir zu Beginn einen wirklichen Triumph des Spontaneitätskultes. Die zahlreichen Bauernaufstände auf dem Lande beweisen überall, wo sie ausbrechen, die dichte und allenthalben spürbare Gegenwart der Nation. Jeder bewaffnete Kolonisierte ist ein Stück der jetzt lebendigen N ation. Diese Bauernaufstände bringen das Kolonialregime in Gefahr, mobilisieren seine Kräfte, indem sie sie zerstreuen, und drohen, sie jeden Augenblick zu ersticken. Sie gehorchen einer einfachen Lehre: die N ation soll leben. Es gibt kein Programm, keine Ansprachen, keine Resolutionen, keine Tendenzen. Das Problem ist k lar: die Fremden müssen verschwin­ den. Bilden w ir eine gemeinsame Front gegen den Unterdrücker und ver­ stärken w ir diese Front durch den bewaffneten Kam pf. Solange die Unruhe des Kolonialismus anhält, schreitet die nationale Sache vorwärts und w ird zur Sache eines jeden. Schon zeichnet sich das Befreiungsunternehmen ab und breitet sich über das ganze Land aus. In dieser Periode ist das Spontane König. D ie Initiative ist lokalisiert. A u f jedem Posten bildet sich eine Miniaturregierung und übernimmt die Macht. In den Tälern und Wäldern, im Dschungel und in den Dörfern, überall stößt man auf eine nationale Autorität. Jeder läßt durch seine Aktion die N ation existieren und verpflichtet sich, sie an seinem O rt zum Sieg zu führen. W ir haben es mit einer Strategie der totalen und radikalen Unmittelbarkeit zu tun. Das Ziel, das Programm jeder spontan gebilde­ ten Gruppe ist die lokale Befreiung. Wenn die N ation überall ist, dann ist sie auch hier. Ein Schritt weiter, und sie ist nur noch hier. T aktik und Strategie vermischen sich. Die Kunst der Politik verwandelt sich ganz einfach in die Kunst der Kriegführung. D er politische M ilitant ist der K äm pfer. K rieg führen und Politik machen sind ein und dasselbe. Das enterbte Volk, das gewöhnt ist, im engen Kreis der Stammeskämpfe und Stammesrivalitäten zu leben, w ird in einer feierlichen Atmosphäre das Gesicht der N ation von seinen lokalen Zügen reinigen. In einer wahrhaft kollektiven Ekstase beschließen verfeindete Familien, alles auszulöschen, alles zu vergessen. D ie Versöhnungen häufen sich. Hartnäckiger und einge­ wurzelter H aß w ird ans Licht gebracht, um desto sicherer ausgerottet zu

1 blague = Schwindel (d. Übers.).

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werden. Man nimmt die N ation auf sich: das läßt das Bewußtsein fort­ schreiten. Die nationale Einheit ist zunächst die Einheit der Gruppe, das Verschwinden der alten Streitigkeiten und die endgültige Okerwindung des Zögerns und Abwartens. Gleichzeitig erfaßt die Reinigung die wenigen Autochthonen, die durch ihre Tätigkeiten, durch ihre Komplicenschaft mit dem Okkupanten das Land entehrt haben. D ie Verräter und Besto­ chenen dagegen werden verurteilt und bestraft. In diesem pausenlosen Marsch, zu dem es aufgebrochen ist, entdeckt sich das V olk als souveränen Gesetzgeber. Jeder so aus dem kolonialen Schlaf aufgeweckte^ Punkt lebt in einer überhöhten Temperatur. Eine ständige Herzlichkeit herrscht in den Dörfern, eine auffällige Großmut, eine entwaffnende Güte, ein nie­ mals lügengestrafter W ille, für die »Sache« zu sterben. A ll das erinnert gleichzeitig an eine Bruderschaft, eine Kirche, eine M ystik. Kein Autochthoner kann gleichgültig bleiben gegenüber diesem neuen Rhythmus, der die N ation mitreißt. Boten werden zu den benachbarten Stämmen ge­ sandt. Sie bilden das erste Verbindungssystem des Aufstands und bringen Tempo und Bewegung in die noch unbeweglichen Gebiete. Stämme, deren hartnäckige R ivalität wohlbekannt w ar, rüsten ab unter Jubel und T rä ­ nen und schwören sich Beistand und Unterstützung. Im brüderlichen Seite-an-Seite, im bewaffneten K am pf vereinigen sich die Menschen mit ihren Feinden von gestern. D er nationale Kreis vergrößert sich, und neue Überfälle begrüßen den A uftritt neuer Stämme. Jedes D o rf entdeckt sich als absoluter Handelnder und als Stafette. Die Solidarität zwischen den Stämmen und Dörfern, die nationale Solidarität ist zuerst an der wach­ senden Zahl der dem Feind zugefügten Schläge abzulesen. Jede neue Gruppe, die sich bildet, jede neue Salve, die losbricht, zeigt an, daß jeder den Feind jagt, daß jeder sich wehrt. Diese Solidarität manifestiert sich noch viel deutlicher in der zweiten Periode, die durch die Eröffnung der feindlichen Offensive gekennzeichnet ist. Nach der Explosion gruppieren, reorganisieren sich die Kolonialkräfte und entwickeln Kampfmethoden, die der N atur des Aufstands entspre­ chen. Diese Offensive w ird die euphorische und paradiesische Atmosphäre der ersten Periode in Frage stellen. Der Feind eröffnet die Attacke und konzentriert bedeutende Kräfte an bestimmten Punkten. Die lokale Gruppe w ird sehr schnell überrannt. Sie w ird es um so mehr, als sie sich anfangs auf der ganzen Linie dem K am pf stellen will. D er Optimismus, der in der ersten Periode geherrscht hat, macht die Gruppe unerschrok-

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ken, ja ihrer Lage unbewußt. Die Gruppe, die davon überzeugt w ar, daß ihr Posten die N ation sei, ist nicht bereit, sich abzusetzen, erträgt es nicht, ein Rückzugsgefecht zu liefern. Die Verluste sind zahlreich, und überall dringt Zw eifel in die Gemüter ein. Die Gruppe erleidet den lokalen Sturm als eine entscheidende Kraftprobe. Sie verhält sich buchstäblidi so, als ob hier und jetzt das Schicksal des ganzen Landes auf dem Spiel stünde. Aber, man hat es begriffen, dieses voluntaristische Ungestüm, das sein Schicksal ohne weiteres mit dem kolonialen System regeln w ill, ist als D oktrin der sofortigen Entscheidung dazu verurteilt, sich zu negieren. D er alltäglichste und praktischste Realismus macht dem Überschwang von gestern Platz und tritt an die Stelle der Ewigkeitsillusion. D ie Lek­ tion der Tatsachen, die vom Masdiinengewehrfeuer dahingemähten K ö r­ per führen zu einer totalen Neueinschätzung der Ereignisse. D er einfache Selbsterhaltungstrieb zeitigt eine beweglichere, flexiblere Haltung. Diese Veränderung der Kampftechnik ist charakteristisch für die ersten Monate des angolesischen Befreiungskrieges. M an erinnert sich, daß am 15 . M ärz 19 6 1 die angolesischen Bauern sich in Gruppen von zw ei-oder dreitausend Mann auf die portugiesischen Stellungen gestürzt haben. Männer, Frauen und Kinder warfen sich, bewaffnet oder nicht, mit ihrem M ut und ihrer Begeisterung in kompakten Massen und in mehreren Wellen auf Gegen­ den, wo der Kolonialherr, das M ilitär und die portugiesische Fahne herrschten. D örfer, Flugzeuge wurden umzingelt und oft auch gestürmt, aber Tausende von Angolesen sind vom kolonialistischen Maschinen­ gewehrfeuer dahingemäht worden. Die Führer des angolesischen A u f­ standes haben nicht lange gebraucht, um zu verstehen, daß sie etwas anderes finden mußten, wenn sie ihr Land wirklich befreien wollten. Des­ halb hat der angolesische Führer Holden Roberto seit einigen Monaten die Angolesische Nationalarmee reorganisiert, wobei er sich die Lehren der Verschiedenen Befreiungskriege und Guerillatechniken zunutze machte. Beim Guerilla ist der K am pf nämlich nicht mehr dort, wo man ist, son­ dern dort, wo man hinzieht. Jeder Käm pfer trägt das Vaterland zwischen seinen nackten Zehen mit sich herum. D ie nationale Befreiungsarmee stellt sich dem Feind nicht ein für allemal, sondern sie zieht von D o rf zu D orf, versteckt sich in den Wäldern und hüpft vor Freude, wenn in einem T al die Staubwolke feindlicher Kolonnen zu sehen ist. Stämme setzen sich in Bewegung, Gruppen wechseln die Stellungen. Die Leute aus dem N o r­ den ziehen nach dem Westen, die Leute aus der Ebene steigen in die Berge

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hinauf. Keine strategische Position ist privilegiert. D er Feind glaubt uns zu verfolgen, aber w ir bewegen uns immer so, daß er uns im Rücken hat, und w ir schlagen ihn genau in dem Möment, wo er uns für verschwun­ den hält. Jetzt verfolgen w ir ihn. M it seiner ganzen Technik und Feuer­ überlegenheit macht der Feind den Eindruck, sich zu verheddern und steckenzubleiben. W ir singen, w ir singen. Inzwischen begreifen die Führer des Aufstandes jedoch, daß man die Gruppen aufklären, instruieren, schulen, eine Armee schaffen, die A uto­ rität zentralisieren muß. D ie Zersplitterung der N ation, die zunächst zeigte, daß die N ation unter Waffen stand, muß korrigiert und überwun­ den werden. D ie Führer, die vor der Atmosphäre der müßigen Politik der Städte geflohen waren, entdecken die Politik neu, und zw ar nicht mehr als Einschläferungs- oder Mystifizierungstechnik, sondern als das einzige M ittel, den K am pf zu intensivieren und das V o lk auf die bewußte Führung des Landes vorzubereiten. Die Führer des Aufstandes erkennen, daß die Bauernerhebungen, so grandios sie auch sind, kontrolliert und orientiert werden müssen. D ie Führer kommen dahin, die Bewegung als spontane Erhebung abzulehnen und sie in einen revolutionären Krieg zu verwandeln. Sie entdecken, daß der E rfolg des Kam pfes die Klarheit der Ziele und der Methoden und vor allem, bei den Massen, die Kenntnis der zeitlich begrenzten D ynam ik ihrer Anstrengungen voraussetzt. Man kann drei Tage, zur N o t drei Monate standhalten, wenn man den V orrat der in den Massen lebendigen Kampfstimmung ausnutzt, aber man kann nicht in einem nationalen K rieg siegen, die furchtbare Kriegsmaschine des Fein­ des in die Flucht schlagen, die Menschen verändern, wenn man vergißt, das Bewußtsein des Käm pfers zu entwickeln. Weder der bis zum äußer­ sten entschlossene M ut noch die Überzeugungskraft der Losungen sind auf die Dauer ausreichend. Die Entwicklung des Befreiungskrieges versetzt übrigens dem Glauben der Führer einen entscheidenden Schlag. D er Feind verändert nämlich seine Taktik. Seine brutale Unterdrückungspolitik verbindet er im passen­ den Moment mit großen Entspannungsgesten, Spaltungsmanövern und der »psychologischen Aktion«. H ier und da versucht er mit Erfolg, die Stammeskämpfe wieder aufleben zu lassen, indem er Provokateure ein­ setzt und eine sogenannte Gegen-Subversion betreibt. D er Kolonialismus benutzt zur Erreichung seiner Ziele zwei Kategorien von Autochthonen. Zunächst die traditionellen Kollaborateure, Häuptlinge, Kaids, Medizin­ männer. D ie bäuerlichen Massen, die ja in die geschichtslose Wiederholung

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einer unbeweglichen Existenz versunken sind, fahren fort, die religiösen H äupter und die Abkömmlinge der alten Familien zu verehren. D er Stamm schlägt wie ein Mann den Weg ein, der ihm vom H äuptling ge­ wiesen wird. M it H ilfe von Pfründen und G old versichert sich der K o lo­ nialismus der Dienste dieser Vertrauenspersonen. Auch im Lumpenproletariat wird der Kolonialismus eine erhebliche Menge von Handlangern finden. Deshalb muß jede nationale Befreiungsbewe­ gung diesem Lumpenproletariat die größte Aufmerksamkeit widmen. Es antwortet immer auf den Appell zum Aufstand, aber jedesmal, wenn der Aufstand glaubt, ohne das Lumpenproletariat auskommen zu können, w ird sich diese Masse von Ausgehungerten und Deklassierten auf der Seite des Unterdrückers in den K am pf stürzen und am Konflikt teilneh­ men. D er Unterdrücker, der keine Gelegenheit versäumt, die N eger sich gegenseitig auffressen zu lassen, macht sich mit viel Geschick das man­ gelnde Bewußtsein und Wissen, diese Geburtsfehler des Lumpenprole­ tariats zunutze. Wenn das verfügbare Menschenreservoir nicht sofort vom Aufstand mobilisiert wird, kann man es als Söldnerheer auf seiten der kolonialistischen Truppen wiederfinden. In Algerien stellt das Lumpen­ proletariat die H arkis und Messalisten; in Angola hat es jene Straßen­ arbeiter geliefert, die heute den bewaffneten portugiesischen Kolonnen vorausgehen; im Kongo trifft man es bei den regionalistischen Demonstra­ tionen von Kasai und Katanga, und in L£opoldville benutzen es die Feinde des Kongo, um »spontane« Anti-Lumumba-Versammlungen zu organisieren. D er Gegner, der die Kräfte des Aufstands analysiert und den allgemeinen Feind, den das kolonisierte V olk darstellt, immer besser beobachtet, er­ kennt die ideologische Schwäche, die geistige Unbeständigkeit bestimmter Schichten der Bevölkerung. Neben einer disziplinierten und gut struk­ turierten A vantgarde des Aufstands entdeckt der Gegner eine Menschen­ masse, deren Engagement durch eine zu große Gewohnheit an physisches Elend, an Demütigung und Verantwortungslosigkeit ständig in Frage gestellt werden kann. D er Gegner w ird sich diese Masse zunutze machen, und sei es auch mit Holzhammermethoden. M it H ilfe von Bajonetten oder abschreckenden Bestrafungen w ird er Spontaneität schaffen. Ober den Kongo ergießen sich Dollars und belgische Francs, während sich in M adagaskar die Übergriffe gegen die H ovas vermehren und in Algerien Einheimische als Rekruten, regelrechte Geiseln, in die französischen Streit­

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kräfte gepreßt werden. D er Führer des Aufstands sieht die N ation buch­ stäblich untergehen. Ganze Stämme verwandeln sich in H arkis, begeben sich, mit modernen Waffen ausgerüstet, auf den Kriegspfad und über­ fallen den als nationalistisch ausgegebenen Rivalenstamm. D ie Einmütig­ keit im K am pfr die in den ersten Stunden des Aufstands so fruchtbar, so großartig w ar, zerfällt. D ie nationale Einheit zerbröckelt, der Aufstand steht vo r einem entscheidenden Wendepunkt. Die Politisierung der Mas­ sen w ird jetzt als historische Notwendigkeit erkannt. Dieser spektakuläre Voluntarismus, der mit einem Schlag das kolonisierte V o lk zur absoluten Souveränität führen wollte, diese Gewißheit, alle Teile der N ation mit dem gleichen Schwung und in der gleichen Erleuch­ tung mit sich reißen zu können, diese K raft, die die Hoffnung begründete, offenbaren sich der Erfahrung als eine sehr große Schwäche. Solange er glaubte, ohne Obergang vom Status eines Kolonisierten zum Status des souveränen Staatsbürgers einer unabhängigen N ation gelangen zu kön­ nen, solange er sich an das Trugbild der unmittelbaren Wirksamkeit seiner Muskeln hielt, machte der Kolonisierte keine wirklichen Fortschritte auf dem Wege der Erkenntnis. Sein Bewußtsein blieb rudimentär. D er K o lo­ nisierte w irft sich, wie w ir gesehen haben, mit Leidenschaft in den Kam pf, besonders dann, wenn es ein bewaffneter K am pf ist. Die Bauern haben sich mit um so mehr Begeisterung in den Aufstand gestürzt, als sie niemals aufgehört hatten, hartnäckig an einer praktisch antikolonialen Lebens­ weise festzuhalten. Von aller Ew igkeit her und infolge unzähliger Tricks und Auspendelungen, die an Taschenspielerkunststücke erinnern, hatten die Bauern ihre Subjektivität dem kolonialen Zugriff weitgehend ent­ ziehen können. Sie konnten schließlich glauben, daß der Kolonialismus nicht wirklich Sieger geblieben sei. D er Stolz des Bauern, seine Weige­ rung, in die Städte hinunterzugehen, mit der von Fremden aufgebauten Welt in Berührung zu kommen, seine ständigen Rückzugsbewegungen beim Herannahen der Vertreter der Kolonialverwaltung bedeuteten immer noch, daß er der Dichotomie des. Kolonialherrn seine eigene Dichotomie entgegensetzte. D er antirassische Rassismus und der Wille, seine H aut zu retten, der die A ntw ort des Kolonisierten au f die koloniale Unterdrückung kennzeich­ net, stellen natürlich hinreichende Gründe dar, sich in den K am pf zu stürzen. A ber man kann nicht einen Krieg durchstehen, eine ungeheure Unterdrückung ertragen, den Verlust der ganzen Familie erleben, um io 7

dann H aß oder Rassismus siegen zu lassen. D er Rassismus, der H aß, das Ressentiment, »das legitime Rachebedürfnis« können keinen Befreiungs­ krieg unterhalten. Diese Blitze im Bewußtsein, die den K örper auf stür­ mische Wege werfen, ihn in einen quasi pathologischen Traumzustand fallen lassen, w o das Gesicht des anderen mich in einen Taumel stürzt, w o mein Blut nach dem Blut des anderen schreit, wo mein Tod auto­ matisch den Tod des anderen verlangt, diese große Leidenschaft der ersten Stunden bricht auseinander, wenn sie sich von ihrer eigenen Substanz ernähren w ill. Es ist wahr, daß die nie endenden Obergriffe der kolonialistischen Streitkräfte die emotionalen Elemente immer wieder in den K am pf einführen, dem Militanten neue M otive fü r seinen H aß geben, neue Gründe, sich auf die Suche nach dem Kolonialherrn zu machen, um ihn zu erschlagen. Aber der Führer des Aufstands erkennt täglich »mehr, daß der H aß allein kein Programm liefern kann. Außer aus Perversion kann man nicht darauf vertrauen, daß der Gegner es schon so einrichten wird, daß er seine Verbrechen vermehrt, den »Graben« vertieft und damit das ganze V olk auf die Seite des Aufstands wirft. A u f jeden F a ll ver­ sucht der Gegner ja, die Sympathie bestimmter Bevölkerungsgruppen, be­ stimmter Gebiete, bestimmter Häuptlinge zu gewinnen. Im Laufe des Kam pfes erhalten die Kolonialherren und die Polizeikräfte Instruktionen: das Verhalten w ird nuanciert, »vermenschlicht«. M an geht sogar so weit, in die Beziehung Kolonialherr-Kolonisierter Wendungen wie »Monsieur« und »Madame« einzuführen. Die Gesten der Höflichkeit und des Ent­ gegenkommens vermehren sich. Der Kolonisierte hat konkret den E in­ druck, eine Veränderung zu erleben. D er Kolonisierte, der nicht nur, deshalb zu den Waffen gegriffen hat, weil er verhungerte oder die Auflösung seiner Gesellschaft mitansehen mußte, sondern auch, weil der Kolonialherr ihn wie ein Tier betrachtete, w ie ein Tier behandelte, ist sehr empfänglich für dieses Entgegenkommen. D er H aß w ird durch psychologisch geschickte Behandlung entschärft. Tech­ nologen und Soziologen analysieren die kolonialistischen Verhaltensweisen, schreiben eine Untersuchung nach der anderen über »Kom plexe«: Frustra­ tionskomplex, Kam pfkom plex, Kolonisierbarkeitskomplex. M an erhebt den Eingeborenen auf eine menschliche Stufe, man versucht, ihn mit H ilfe der Psychologie und, natürlich, einiger Geldstücke zu entwaffnen. Diese erbärmlichen Maßnahmen, diese übrigens wohldosierten Fassadenrepara­ turen haben schließlich gewisse Erfolge. D er H unger des Kolonisierten ist

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so groß, sein Hunger nach allem, was ihn zum Menschen macht - und sei es ein Butterbrot

ist so unbezähmbar, daß diese Almosen ihn hier und

da erschüttern können. Sein Bewußtsein ist so labil, so undurchsichtig, daß es bei dem geringsten Funken gerührt ist. D er große, undifferenzierte Wissensdurst vom A nfang ist ständig von der M ystifikation bedroht. Die gewaltsamen und umfassenden Forderungen, die den Himmel stürmen wollten, schrumpfen zusammen und werden bescheiden. D er ungestüme W olf, der alles verschlingen wollte, der Sturm, der eine echte Revolution vollbringen wollte, droht, wenn der K am pf andauert - und er dauert an —, unkenntlich zu werden. D er Kolonisierte läuft G efahr, sich jeden Augenblick durch irgendeine Konzession entwaffnen zu lassen. D ie Führer des Aufstands entdecken diese Unbeständigkeit des Koloni­ sierten mit Schrecken. Zunächst fassungslos, begreifen sie auf diesem neuen Um weg die Notwendigkeit, zu erklären und eine radikale Ausgrabung des Bewußtseins in A ngriff zu nehmen. Denn der K rieg dauert an, der Feind organisiert sich, verstärkt sich, errät die Strategie des Kolonisierten. D er nationale Befreiungskampf besteht nicht darin, mit einem einzigen Schritt eine ganze Etappe zu überspringen. Das Epos ist alltäglich, schwie­ rig, und die Leiden, die man ertragen muß, übersteigen alle Leiden der Kolonialperiode. Unten in den Städten scheinen sich die Kolonialherren geändert zu haben. Die Unsren sind glücklicher. Man respektiert sie. Aber ein T ag folgt dem anderen, und der in den K am p f eingetretene Koloni­ sierte, das V olk, das weiterhin seine Unterstützung geben muß, d arf nicht wankend werden. Sie dürfen sich nicht einbilden, das Ziel sei erreicht. Sie dürfen auch nicht, wenn man ihnen die wirklichen Ziele des Kam pfes erklärt, diese für unerreichbar halten. Noch einmal, man muß erklären, das V olk muß sehen, wohin es geht und wie man dahin kommt. Der K rieg ist keine Schlacht, sondern eine Folge lokaler Käm pfe, von denen in Wahrheit keiner entscheidend ist. M an muß also mit seinen Kräften haushalten, sie nicht mit einem Schlag auf die Waagschale werfen. Die Reserven des Kolonialismus sind reicher, bedeutender als die des Kolonisierten. D er K rieg dauert an. D er Gegner verteidigt sich. D ie große Auseinandersetzung kommt weder heute noch morgen. In Wirklichkeit hat sie mit dem ersten Tage begonnen und w ird nicht deshalb ein Ende finden, weil es keinen Gegner mehr gibt, sondern ganz einfach, weil dieser aus vielen Gründen erkennen w ird, daß es in seinem Interesse ist, diesen K am pf zu beenden und die Souveränität des kolonisierten Volkes anzuerkennen. Die Ziele des Kam pfes dürfen nicht

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in der Unbestimmtheit der ersten Tage steckenbleiben. Wenn man nicht aufpaßt, dann fragt sich das V olk jeden> Augenblick, bei der geringsten Konzession des Gegners, nach den Gründen für die Fortsetzung des K rie­ ges. M an hat sich so sehr an die Verachtung des Okkupanten gewöhnt, an seinen ausdrücklichen Willen, die Unterdrückung mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten, daß jede Initiative mit einem großmütigen Anstrich, jede Bereitschaft zum Entgegenkommen mit Erstaunen und Freude be­ grüßt wird. D er Kolonisierte neigt dann dazu, gleich vo r Freude zu jubeln. Deshalb muß man immer wieder alles erklären und dem M ili­ tanten verständlich machen, daß er sich durch die Konzessionen des G eg­ ners nicht blenden lassen darf. Diese Konzessionen, die nichts anderes als Konzessionen sind, betreffen nicht das Wesentliche, und vom Standpunkt des Kolonisierten aus kann man behaupten, daß eine Konzession nicht das Wesentliche betrifft, wenn sie nicht das Wesen des Kolonialregimes an­ greift. Die brutalen Formen der Anwesenheit des Okkupanten können vollstän­ dig verschwinden. Doch dieses auffallende Verschwinden erweist sich im Grunde als eine Verringerung seiner Ausgaben und als positive M aß­ nahme gegen die Verzettelung seiner Kräfte. E s w ird teuer bezahlt, näm­ lich mit dem P re is 1einer noch strengeren Zwangskontrolle des ganzen Landes. Historische Beispiele müssen angeführt werden, um das V olk davon zu überzeugen, daß sich die Maskerade der Konzession, das Prin­ zip der Konzession um jeden Preis für bestimmte Länder durch eine diskretere, aber totalere Unterjochung ausgezahlt hat. Das V olk, die Gesamtheit der Militanten müssen das historische Gesetz kennenlernen, das da besagt, daß bestimmte Konzessionen im Grunde Halseisen sind. Wenn keine Aufklärungsarbeit geleistet worden ist, dann ist man über die Leichtigkeit erstaunt, mit der die Führer bestimmter politischer Parteien sich auf namenlose Kompromisse mit dem ehemaligen Kolonisator ein­ lassen. D er Kolonisierte muß davon überzeugt werden, daß der Kolonia­ lismus ihm kein Geschenk macht. Was der Kolonisierte durch den poli­ tischen oder bewaffneten K am pf erreicht, verdankt er nicht dem guten Willen oder dem guten Herzen des Kolonialherrn, sondern es beweist nur die Unmöglichkeit, die Konzessionen weiter hinauszuschieben. Mehr noch, der Kolonisierte muß wissen, daß nicht der Kolonialismus diese Konzes­ sion macht, sondern er selbst. Wenn die britische Regierung beschließt, der afrikanischen Bevölkerung einige Sitze mehr in der Nationalversammlung von Kenia zuzubilligen, so kann man nur mit großer Schamlosigkeit und

Bewußtlosigkeit behaupten, die britische Regierung habe Konzessionen gemacht. Sieht man nicht, daß es das V olk von Kenia ist, das Konzessio­ nen gemacht hat? Es ist unbedingt notwendig, daß die kolonisierten V öl­ ker, die ausgeplünderten Völker die Geisteshaltung aufgeben, die sie bisher gekennzeichnet hat. D er Kolonisierte kann zur N o t einem Kom ­ promiß mit dem Kolonialismus zustimmen, aber niemals einer Kom promittierung. A lle diese Erklärungen, diese ununterbrochenen Aufklärungen des Be­ wußtseins, dieses langsame Fortschreiten au f dem Weg der Erkenntnis von der Geschichte der Gesellschaften, sind nur im Rahmen einer Organi­ sation, einer Mobilisierung des Volkes möglich. Diese Organisation w ird durch die revolutionären Elemente geschaffen, die zu Beginn des A u f­ stands aus den Städten gekommen sind oder sich im Laufe des Kam pfes dem Land anschließen. Dieser K ern bildet den embryonalen politischen Organismus des Aufstands. Aber auch die Bauern, die ihre Kenntnisse durch konkrete Erfahrung erweitern, erweisen sich durchaus als fähig, den K am pf des Volkes zu führen. Es entsteht ein Strom der gegenseitigen Belehrung und Bereicherung zwischen der kämpfenden N ation und ihren Führern. D ie traditionellen Institutionen werden verstärkt, vertieft und manchmal buchstäblich umgekrempelt. D ie Schlichtungsgerichte, die Dsdiemaas, die Dorfversammlungen verwandeln sich in Revolutionstribunale, in politisch-militärische Ausschüsse. In jeder Kam pfgruppe, in jedem D o rf tauchen Legionen von politischen Kommissaren auf. Das V olk, das an­ fängt, verschiedene Dinge nicht mehr zu begreifen, w ird durch diese politischen Kommissare aufgeklärt. Sie brauchen sich jetzt nicht mehr vor den Problemen zu fürchten, die, wenn sie ungeklärt blieben, zur Des­ orientierung des Volkes beitragen würden. D er bewaffnete M ilitant ist nämlich verärgert darüber, daß viele Eingeborene ihr Leben in den Städ­ ten fortsetzen, als ob sie mit dem, was in den Bergen passiert, nichts zu tun hätten, als ob sie nicht wüßten, daß die entscheidende Bewegung be­ gonnen hat. Das Schweigen der Städte, die Fortsetzung des alltäglichen Trotts machen auf den Bauern den schmerzlichen Eindruck, daß ein ganzer Sektor der N ation sich damit begnügt, den Ausgang des Spiels abzuwar­ ten. Diese Feststellungen empören die Bauern und bestärken sie in ihrer Neigung, die Städter zu verachten und pauschal zu verurteilen. D er poli­ tische Kommissar w ird sie dazu bringen müssen, diese Ansicht durch die Erkenntnis zu differenzieren, daß bestimmte Teile der Bevölkerung in

Sonderinteressen besitzen, die sich nicht immer mit dem nationalen Inter­ esse decken. Das V olk begreift dann, daß die nationale Unabhängigkeit eine V ielfalt von Realitäten zutage treten läßt, die manchmal divergierend und antagonistisch sind. Genau in diesem Moment des Kam pfes ist das Erklären von entscheidender Bedeutung, w eil es das V olk von einem all­ gemeinen und undifferenzierten Nationalismus zu einem sozialen und wirtschaftlichen Bewußtsein übergehen läßt. Das V olk, das zu Beginn des Kam pfes den primitiven Manichäismus des Kolonialherrn angenommen hatte - die Weißen und die Schwarzen, die A raber und die Roumis2 - , stellt jetzt kraft seiner Erfahrung fest, däß es Schwarze gibt, die weißer sind als die Weißen, und daß die Aussicht auf eine Nationalflagge, die Eventualität einer unabhängigen N ation bestimmte Bevölkerungsschichten nicht automatisch dazu bringt, auf ihre Privilegien oder ihre Interessen zu verzichten. Das V olk erkennt, daß andere Eingeborene ihren Geschäfts­ sinn nicht zurückstellen, sondern ganz im Gegenteil vom K rieg zu profi­ tieren scheinen, um ihre materielle Situation und ihre entstehende Macht zu verstärken. Die Eingeborenen treiben H andel und erzielen regelrechte Kriegsprofite auf Kosten des Volkes, das, wie immer, sich vorbehaltlos opfert und den nationalen Boden mit seinem B lu t tränkt. D er Käm pfer, der mit rudimentären Mitteln der kolonialistischen Kriegsmaschine die Stirn bietet, muß feststellen, daß er zur gleichen Zeit, da er die koloniale Unterdrückung abbaut, auf Umwegen dazu beiträgt, einen neuen Aus­ beutungsapparat aufzubauen. Diese Entdeckung ist unangenehm, schmerz­ lich und aufpeitschend. Alles w ar doch so einfach, auf der einen Seite die Bösen, auf der anderen Seite die Guten. A n die Stelle der idyllischen und irrealen Klarheit vom A nfang tritt ein H albdunkel, das das Bewußtsein untergräbt. Das V o lk entdeckt, daß das ungerechte Phänomen der Aus­ beutung einen schwarzen oder arabischen Anstrich bekommen kann. Es schreit »Verrat«, aber diesen Schrei muß man korrigieren. Das ist kein nationaler Verrat, sondern ein sozialer; man muß dem V olk beibringen, »H altet den Dieb« zu rufen. In seinem mühsamen Vorwärtsschreiten zu einer rationalen Erkenntnis hin muß das V olk auch die Vereinfachung aufgeben, in der es den Beherrscher gesehen hatte. D ie »Art« löst sich vor seinen Augen auf. Um sich herum entdeckt es, daß bestimmte K o lo­ nialherren nicht an der verbrecherischen H ysterie teilhaben, daß sie sich von der »Art« unterscheiden. Diese Menschen, die man unterschiedslos 2 Arabisches Wort für die Nicht-Eingeborenen (d. Übers.). 1 12

zum monolithischen Block der anwesenden Fremden redmete, verurteilen den Kolonialkrieg. Und alle Vorstellungen brechen zusammen, wenn Prototypen dieser »Art« auf die andere Seite übergehen, Neger oder Araber werden, Leiden, Folter und Tod auf sich nehmen. Solche Beispiele entwaffnen den pausdialen H aß, den der Kolonisierte gegenüber der fremden Bevölkerung empfand. D er Kolonisierte umgibt diese wenigen Leute mit einer herzlichen Sympathie und neigt in einer A rt affektiven Überschwangs dazu, ihnen absolut zu vertrauen. Im M ut­ terland, das man als unversöhnliche und blutgierige Rabenmutter ansah, nehmen zahlreiche und manchmal berühmte Stimmen Stellung, verurteilen die Kriegspolitik ihrer Regierung rückhaltlos und fordern dazu auf, end­ lich dem nationalen Willen des kolonisierten Volkes Rechnung zu tragen. Soldaten desertieren aus den kolonialistischen Reihen, andere lehnen es ausdrücklich ab, gegen die Freiheit eines Volkes zu kämpfen, gehen ins Gefängnis und leiden im Namen des Selbstbestimmungsrechts dieses Volkes. D er Kolonialherr ist nicht mehr einfach der Mensch, den man totschlagen muß. Mitglieder der kolonialistischen Masse zeigen, daß sie dem nationa­ listischen K am pf näher, unendlich näher stehen als gewisse Söhne der Nation. Das rassische und rassistische N iveau w ird nach zwei Richtungen hin überschritten. M an stellt nicht mehr jedem Neger oder jedem Moslem ein Echtheitszeugnis aus. M an greift nicht mehr nach seinem Gewehr oder Messer, wenn sich irgendein Kolonialherr nähert. Das Bewußtsein arbeitet sich mühsam zu partiellen, begrenzten, unbeständigen Wahrheiten vor. A ll das ist natürlich sehr schwierig. Die Aufgabe, das V olk zu erziehen, w ird gleichzeitig durch die Strenge der Organisation und durch das ideo­ logische N iveau ihrer Führer erleichtert werden. D ie Stärke des ideologi­ schen N iveaus entwickelt sich und wächst im Laufe des Kam pfes, der M anöver des Gegners, der Siege und der Rückschläge. Die Führung offen­ bart ihre Stärke und ihre Autorität, indem sie die Fehler verurteilt, von jedem Rückfall des Bewußtseins profitiert, um eine Lehre daraus zu zie­ hen, um neue Bedingungen für ein Fortschreiten zu schaffen. Jeder lokale Rückschlag w ird dazu genutzt, die Frage auf der Ebene aller Dörfer, aller Widerstandsnester aufzugreifen. D er Aufstand beweist sich selbst seine Rationalität und seine Reife jedesmal, wenn er anläßlich eines be­ stimmten Falles das Bewußtsein des Volkes fortschreiten läßt. Trotz der Umgebung, die manchmal glaubt, daß Nuancen Gefahren bergen und

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Risse in den Block des Volkes bringen, hält die Führung unerschütterlich an den Grundsätzen fest, die sie im nationalen K am pf und im allgemei­ nen K am pf des Menschen für seine Befreiung gewonnen hat. Es gibt eine Rücksichtslosigkeit und eine Geringschätzung von Subtilitäten und Einzel­ fällen, die typisch revolutionär ist, aber es gibt auch eine andere A rt von Rücksichtslosigkeit,. die der ersten auffallend ähnelt, hingegen typisch konterrevolutionär, abenteuerlich und anarchistisch ist. Wenn diese totale Rücksichtslosigkeit nicht sofort bekämpft wird, führt sie unweigerlich zur Niederlage der Bewegung innerhalb einiger Wochen. D er nationalistische M ilitant, der, verbittert über die demagogischen und reformistischen Taktiken der Parteiführer und enttäuscht von der »Poli­ tik«, der Stadt entflohen w ar, entdeckt in der konkreten Praxis eine neue Politik, die gar keine Ähnlichkeit mehr mit der alten hat. Es i^t eine Politik verantwortlicher Volksführer, die mit der Bewegung der G e­ schichte eins sind und mit ihren Muskeln und ihren Hirnen die Führung des Befreiungskampfes auf sich nehmen. Es ist eine nationale, revolutio­ näre und soziale Politik. Diese neue Realität, die der Kolonisierte jetzt kennenlernt, existiert nur durch die Aktion. D er Kam pf, der die alte koloniale Realität in die Luft sprengt, offenbart unbekannte Perspek­ tiven, läßt neue Bedeutungen auftauchen und legt seinen Finger auf die von dieser Realität kaschierten Widersprüche. Das kämpfende Volk, das Volk, das dank seinem K am pf diese neue R ealität aufbaut und kennenlemt, schreitet vorwärts, befreit vom Kolonialismus und im voraus gegen alle Mystifizierungsversudie, gegen alle Hymnen auf die N ation gewapp­ net. N u r die vom V olk ausgeübte Gew alt, die von der Führung organisierte und aufgeklärte G ew alt ermöglicht es den Massen, die gesellschaftliche Realität zu entziffern, und gibt ihnen den Schlüssel dazu. Ohne diesen Kam pf, ohne diese Erkenntnis in der Praxis ist alles nur K arneval und T ralala: ein Minimum an Neuordnung, ein paar Reformen an der Spitze, eine Nationalflagge und ganz unten die unteilbare, immer noch »mittel­ alterliche« Masse, die in ihrer dumpfen Bewegung verharrt.

3. Mißgeschicke des nationalen Bewußtseins

Daß der antikolonialistische K am pf sich nicht auf Anhieb unter einer na­ tionalen Perspektive abspielt, genau das lehrt uns die Geschichte. Lange Zeit richtet der Kolonisierte seine Anstrengungen auf die Beseitigung ge­ wisser Ungerechtigkeiten: Zwangsarbeit, körperliche Strafen, Ungleichheit der Löhne, Beschränkung der politischen Rechte usw. . . . Dieser K am pf fü r die Demokratie und gegen die Unterdrückung des Menschen w ird Schritt für Schritt die universalistische neoliberale Konfusion aufgeben, um, manchmal auf mühsamen Wegen, bei dem Anspruch auf Eigennationa­ lität anzulangen. Die mangelnde Vorbereitung der Eliten, das Fehlen einer organischen Verbindung mit den Massen, ihre Trägheit und, sagen w ir es offen, die Feigheit im entscheidenden Moment des Kam pfes sind der U r­ sprung tragischer Mißgeschicke. Das nationale Bewußtsein wird, statt der koordinierten Kristallisation der innersten Bestrebungen des gesamten Volkes, statt des unmittelbaren und handgreiflichsten Produkts der Volksmobilisierung, in jedem Fall nur eine zerbrechliche, grobe Form ohne Inhalt sein. D ie Brüche, die man in ihm entdeckt, erklären zur Genüge die Leichtigkeit, mit der man in den jungen unabhängigen Ländern von der N ation wieder zur ethnischen G e­ meinschaft, vom Staat wieder zum Stamm übergeht. Diese Risse geben über die Rückfälle Aufschluß, die dem nationalen Aufschwung, der na­ tionalen Einheit so schädlich, so abträglich sind. W ir werden sehen, daß diese Schwächen und die schwerwiegenden Gefahren, die sie einschließen, das historische Ergebnis der Unfähigkeit der nationalen Bourgeoisie in den unterentwickelten Ländern sind, die Volkspraxis zu rationalisieren, das heißt die Vernunft aus ihr abzuleiten. D ie klassische, gleichsam angeborene Schwäche des nationalen Bewußtseins der unterentwickelten Länder ist nicht nur die Folge der Verstümmelung des kolonisierten Menschen durch das Kolonialregime. Sie ist auch das E r­ gebnis der Trägheit der nationalen Bourgeoisie, ihrer Mittellosigkeit, der zutiefst kosmopolitischen Bildung ihres Geistes. Die nationale Bourgeoisie, die am Ende des Kolonialregimes die Macht übernimmt, ist eine unterentwickelte Bourgeoisie. Ihre ökonomische Macht

ist fast N u ll und jedenfalls nicht an der Macht der Bourgeoisie des Mutter­ landes zu messen, die sie abzulösen gedenkt. In ihrem voluntaristischen Narzißmus hat sich die nationale Bourgeoisie leicht davon überzeugt, daß sie die Bourgeoisie des Mutterlandes vorteilhaft ersetzen könne. Aber die Unabhängigkeit, von der sie schlankweg in die Enge getrieben wird, löst katastrophale Reaktionen aus und zwingt sie zu angstvollen Appellen an die Adresse des ehemaligen Mutterlandes. Die Universitäts- und Geschäfts­ eliten, die die aufgeklärteste Fraktion des neuen Staates bilden, sind näm­ lich gekennzeichnet durch ihre geringe Zahl, ihre Konzentration in der H auptstadt und die A rt ihrer Tätigkeit: H andel, landwirtschaftliche Unternehmen und freie Berufe. Es ist eine Bourgeoisie ohne Industrielle und Finanzleute. D ie nationale Bourgeoisie der unterentwickelten Länder ist nicht auf Produktion, Erfindung, A ufbau und A rbeit ausgerichtet, sie ist ausschließlich an Vermittlungstätigkeiten interessiert. Ins Geschäft ein­ zusteigen, auf dem laufenden zu bleiben, erscheint ihr als ihre eigentliche Berufung. Die nationale Bourgeoisie hat die Psychologie von kleinen Ge-, sdiäftemachern, nicht von Industriekapitänen. U nd es trifft wohl zu, daß die H abgier der Kolonialherren und das durch den Kolonialismus errich­ tete Embargo-System ihr kaum eine andere Wahl gelassen haben. Innerhalb des Kolonialsystems ist eine Bourgeoisie, die K ap ital ansammelt, eine Unmöglichkeit. Eben deshalb scheint es die historische Berufung einer authentischen nationalen Bourgeoisie in einem unterentwickelten Land zu sein, sich als Bourgeoisie, als Instrument des Kapitals aufzuheben und sich vollständig zum Sklaven des revolutionären K apitals zu machen, das das V olk darstellt. In einem unterentwickelten Land muß die authentische nationale Bour­ geoisie es sich zur gebieterischen Pflicht machen, die Aufgabe, zu der sie be­ stimmt w ar, zu verraten, sich in die Schule des Volkes zu begeben, das heißt dem V olk das intellektuelle und technische K ap ital zur Verfügung zu stellen, das sie auf den kolonialen Universitäten zusammengerafft hat. W ir werden leider sehen, daß sich die nationale Bourgeoisie von diesem heroischen und positiven, fruchtbaren und gerechten Weg recht oft ab­ wendet, um sich in allem Seelenfrieden auf den entsetzlichen, weil anti­ nationalen Weg einer klassischen Bourgeoisie, einer bourgeoisen Bourgeoi­ sie zu stürzen: platt, vernagelt, zynisch. Das Ziel der nationalistischen Parteien ist, wie w ir gesehen haben, von einem bestimmten Zeitpunkt an strikt national. Sie mobilisieren das V olk ii 6

für die Losung der Unabhängigkeit, und fü r den Rest verlassen sie sich auf die Zukunft. Wenn man diese Parteien über das wirtschaftliche Pro­ gramm des Staates, den sie fordern, über das Regime, das sie errichten wollen, befragt, so zeigen sie sich unfähig, zu antworten, eben w eil sie von der Wirtschaft ihres eigenen Landes gar keine Ahnung haben. Diese Wirtschaft hat sich immer abseits von ihnen entwickelt. Von den gegenwärtigen und potentiellen Reichtümern ihres Landes und seinen Bodenschätzen haben sie nur Bücherkenntnisse. Sie können also nur auf abstrakter, allgemeiner Ebene davon sprechen. Diese unterentwickelte, zahlenmäßig schwache v kapitallose Bourgeoisie, die den revolutionären Weg ablehnt, w ird nach k

Unabhängigkeit jämmerlich stagnieren. Sie

kann ihrem Genius keinen freien L a u f lassen, von dem sie, etwas vo r­ schnell, zu sagen pflegte, er sei durch die Kolonialherrschaft behindert ge­ wesen. D ie Dürftigkeit ihrer M ittel und der Mangel an Kadern nageln sie jahrelang an eine Wirtschaft mehr handwerklichen Typs fest. Aus ihrer notwendig beschränkten Perspektive ist eine nationale Wirtschaft eine auf den sogenannten Lokalprodukten basierende Wirtschaft. Große Reden werden über das H andwerk gehalten. Bei der Unmöglichkeit, für das Land und für sich rentablere Fabriken aufzubauen, umgibt die Bourgeoisie das H andw erk mit einer chauvinistischen Zärtlichkeit, die in die Richtung der neuen nationalen Würde geht und ihr übrigens substantielle Profite ver­ schafft. Dieser K u lt der Lokalprodukte, diese Unmöglichkeit, neue Richt­ linien zu finden, zeigt sich auch darin, daß die nationale Bourgeoisie in der typisch kolonialen Landwirtschaftsproduktion steckenbleibt. Die nationale Wirtschaft der Unabhängigkeitsperiode w ird nicht umorien­ tiert. Es geht immer noch um Erdnuß-, K akao- und Olivenernten. Auch im H andel mit Grundprodukten ist keine Veränderung eingetreten. Keine Industrie w ird aufgebaut. M an fährt fort, Rohstoffe zu exportieren, sich zu kleinen Landwirten für Europa, zu Spezialisten in Rohprodukten zu machen. Trotzdem fordert auch die nationale Bourgeoisie die Nationalisierung der Wirtschaft und des Handels, weil nationalisieren für sie nicht heißt, die gesamte Wirtschaft in den Dienst des Volkes stellen, alle Bedürfnisse der N ation befriedigen, den Staat an neuen sozialen Verhältnissen ausrichten, um deren Entwicklung zu fördern. Nationalisierung bedeutet für sie ganz einfach die Übertragung der aus der Kolonialperiode vererbten Vorrechte auf die Autochthonen.

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D a die Bourgeoisie weder genügend materielle noch genügend intellek­ tuelle M ittel hat (Ingenieure, Techniker), beschränkt sie ihre Ansprüche darauf, die einst von den Kolonialherren besetzten Geschäftsbüros und Handelshäuser einzunehmen. D ie nationale Bourgeoisie setzt sich einfach an die Stelle der ehemaligen europäischen Bevölkerung: der Ärzte, Rechts­ anwälte, Kaufleute, Vertreter,. Generalvertreter, Transithändler. Für die Würde des Landes und ihre eigene Rettung glaubt sie, alle diese Posten einnehmen zu müssen. Von jetzt an sollen sich die großen ausländischen Gesellschaften an sie wenden, wenn sie im Land bleiben oder sich dort niederlassen wollen. D ie nationale Bourgeoisie entdeckt für sich die histo­ rische Aufgabe, als Vermittler zu dienen. Wie man sieht, handelt es sich nicht um eine Berufung, das Land umzuwandeln, vielmehr darum, ganz prosaisch als Transmissionsriemen für einen Kapitalism us zu dienen, der, zur Tarnung gezwungen, sich heute mit der neokolonialistischen Maske schmückt. Die nationale Bourgeoisie gefällt sich ohne Kom plexe und vo l­ ler Würde in der R olle eines Geschäftsvertreters der westlichen Bourgeoisie. Diese lukrative Rolle, diese Kleinverdiener-Funktion, diese Enge der G e­ sichtspunkte, dieses Fehlen eines größeren Ehrgeizes zeigen die U nfähig­ keit der nationalen Bourgeoisie, die historische R olle einer Bourgeoisie zu erfüllen. D er dynamische Aspekt - Pioniere, Erfinder, Weltentdecker - , den man bei jeder nationalen Bourgeoisie findet, fehlt hier in kläglicher Weise. Bei der nationalen Bourgeoisie der Kolonialländer dominiert der Genießertyp, weil sie sich psychologisch mit der westlichen Bourgeoisie identifiziert, deren Lehren sie aufgesogen hat. Sie folgt der westlichen Bourgeoisie in ihrem negativen und dekadenten Stadium, ohne die ersten Etappen der Erforschung und Erfindung durchschritten zu haben, die in jedem Fall eine Errungenschaft dieser westlichen Bourgeoisie sind. Schon in ihrem Beginn identifiziert sich die nationale Bourgeoisie der K olonial­ länder mit dem Ende der westlichen Bourgeoisie. M an darf jedoch nicht annehmen, daß sie die Etappen überspringt. Sie beginnt vielmehr mit dem Ende. Sie ist schon gealtert, obwohl sie weder das Ungestüm noch die U n­ erschrockenheit noch den Voluntarismus der Jugend und des Mannesalters gekannt hat. In ihrer Dekadenz w ird die nationale Bourgeoisie von den westlichen Bourgeoisien beträchtlich unterstützt, die jetzt als Touristen auftreten, ver­ liebt in Exotismus, Ja g d und Casinos. D ie nationale Bourgeoisie organi­ siert Erholungs- und Entspannungszentren und Vergnügungskuren für die

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westliche Bourgeoisie. Diese Tätigkeit nimmt den Namen »Tourismus« an und w ird je nach den Umständen der nationalen Industrie angepaßt. Wer ein Beispiel für eine solche Um wandlung der ex-kolonisierten Bourgeoisie in einen Veranstalter von »Parties« für die westliche Bourgeoisie haben will, braucht nur an Lateinam erika zu denken. Die Casinos von H avanna und Mexico, die Strandbäder von R io, die kleinen Brasilianerinnen, die kleinen Mexikanerinnen, die dreizehnjährigen Mestizinnen, Acapulco, Copacabana sind die Stigmata dieser Verkommenheit der nationalen Bourgeoisie. Ohne Einfälle, auf sich selbst zurückgezogen, abgeschnitten vom Volk, geschwächt durch ihre angeborene Unfähigkeit, den Problem­ zusammenhang unter dem Aspekt der gesamten N ation zu durchdenken, übernimmt die nationale Bourgeoisie die R olle eines Geschäftsführers in Unternehmen des Westens und macht ihr Land zu einem Bordell Europas. Noch einmal, man muß sich das jämmerliche Schauspiel gewisser latein­ amerikanischer Republiken vor Augen führen. Nach einem kurzen Flug landen die Geschäftsleute der Vereinigten Staaten, die dicken Bankiers, die Technokraten »in den Tropen« und stürzen sich für acht bis zehn Tage in die süße Verderbnis, die ihre »Reservate« ihnen anbieten. Das Verhalten der nationalen Grundbesitzer ist praktisch mit dem der städtischen Bourgeoisie identisch. Die großen Landwirte haben seit der Proklam ation der Unabhängigkeit die Nationalisierung der Landw irt­ schaft gefordert. M it H ilfe verschiedener Tricks gelingt es ihnen, ihre H and auf die Farmen zu legen, die einst die Kolonialherren besessen hatten, und dadurch ihren Einfluß auf das ganze Gebiet zu verstärken. Aber sie machen nicht den Versuch, die Landwirtschaft zu reformieren, zu intensi­ vieren oder in eine wirklich nationale Wirtschaft zu integrieren. Die Grundbesitzer verlangen vielmehr von der öffentlichen G ew alt, daß sie die Erleichterungen und Vergünstigungen, von denen früher die aus­ ländischen Kolonialherren profitierten, zu ihren Gunsten verhundertfache. Die Ausbeutung der Landarbeiter w ird verschärft und legitimiert. M it H ilfe von zwei oder drei Slogans verlangen diese neuen Kolonialherren von den Landarbeitern eine gewaltige Arbeitsleistung, natürlich im Namen des nationalen Aufbaus. Es gibt keine Modernisierung der Landwirtschaft, keinen Entwicklungsplan, keine Initiativen, denn schon Initiativen, die ein Minimum an Risiko einschließen, würden in diesen Kreisen eine Panik hervorrufen und die zögernde, vorsichtige Landbourgeoisie, die mehr und mehr in den vom Kolonialismus errichteten Handelsverbindungen

steckenbleibt, völlig aus der Ruhe bringen. Initiativen sind in diesen G e­ bieten das Werk der Regierung. Die Regierung verfügt, ermutigt und finanziert sie. D ie Landbourgeoisie dagegen weigert sich, das geringste Risiko einzugehen. Sie ist dem Wagnis, dem Abenteuer abhold. Sie w ill nicht auf Sand bauen. Sie verlangt solide, schnelle Profite. Die eingesteck­ ten Profite, die im Vergleich zum Nationaleinkommen enorm sind, werden nicht wieder investiert. D er Sparstrumpf beherrscht die Psychologie dieser Grundbesitzer. Manchmal, besonders in den Jahren nach Erringung der Unabhängigkeit, zögert die Bourgeoisie nicht, die Profite, die sie aus dem nationalen Boden zieht, ausländischen Banken anzuvertrauen. D a­ gegen werden bedeutende Summen für Luxusgüter ausgegeben, für Autos, Villen und all jene Dinge, die von den Wirtschaftswissenschaftlern als cha­ rakteristisch für die unterentwickelte Bourgeoisie beschrieben worden sind. W ir haben gesagt, daß die zur Macht gelangte kolonisierte Bourgeoisie ihre Klassenaggressivität dazu verwendet, sich die früher von den Fremden besetzten Posten anzueignen. Sobald die Unabhängigkeit begönnen hat, gerät sie nämlich mit den individuellen Überbleibseln des Kolonialismus in Konflikt: mit den Rechtsanwälten, Kaufleuten, Landbesitzern, Ärzten, höheren Beamten. Sie führt einen unerbittlichen K am p f gegen diese Leute, die angeblich die nationale Würde verletzen. Energisch proklamiert sie: »Nationalisierung der Kader«, »Afrikanisierung der Kader«. Ihre H a l­ tung färbt sich mehr und mehr mit Rassismus. Brutal stellt sie der R e­ gierung immer wieder die gleiche Forderung: w ir brauchen diese Posten. Und sie dämpft ihre Aggressivität erst dann, wenn sie alle besetzt hat. Das Proletariat der Städte, die Masse der Arbeitslosen, die kleinen H and­ werker, die sogenannten kleinen Berufe schließen sich ihrerseits dieser nationalistischen H altung an, aber — seien w ir ihnen gegenüber gerecht sie ahmen nur das Verhalten der Bourgeoisie nach. Während die nationale Bourgeoisie in einen Wettstreit mit den Europäern tritt, beginnen die H andwerker und die kleinen Berufe einen K am pf gegen die nicht natio­ nalen A frikaner. A n der Elfenbeinküste sind es die regelrecht rassistischen antidahomeischen und antivoltaischen Aufstände. D ie Dahomeer und die Voltaer, die wichtige Posten im Kleinhandel einnahmen, sind seit der U n­ abhängigkeit der Gegenstand feindseliger Demonstrationen seitens der Elfenbeinküstler. Vom Nationalismus sind w ir zum Ultra-Nationalismus, zum Chauvinismus, zum Rassismus übergegangen. M an verlangt die Aus­ weisung dieser Ausländer, man verbrennt ihre Läden, man demoliert ihre

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Verkaufsstände, man lyncht sie, und die Regierung der Elfenbeinküste fordert sie tatsächlich auf, das Land zu verlassen, und erfüllt auf diese Weise jene Forderungen. Im Senegal sind es die antisudanesischen Demon­ strationen, die Mamadou D ia sagen lassen: »In Wirklichkeit hat das sene­ galesische V olk die M ystik M alis nur aus Anhänglichkeit an seine Führer angenommen. Sein Beitritt zu M ali hat keinen anderen Wert als den einer neuen Vertrauenskundgebung gegenüber der Politik dieser Führer. Das senegalesische Territorium w ar deshalb nicht weniger lebendig, um so mehr, als die sudanesische Anwesenheit in D akar sich zu aufdringlich gab, um sich vergessen zu lassen. Das erklärt, daß das Auseinanderbrechen der Föderation, anstatt Bedauern hervorzurufen, in den Volksmassen mit E r­ leichterung aufgenommen wurde und daß sich nirgends irgendeine Unter­ stützung für ihre Aufrechterhaltung zeigte.«1 Während bestimmte Schichten des senegalesischen Volkes sich auf die von ihren eigenen Führern gebotene Gelegenheit stürzen, die Sudanesen los­ zuwerden, die sie entweder im Handel oder in der Verwaltung störten, beschließen die Kongolesen, die ungläubig den massenhaften Aufbruch der Belgier miterlebten, die in Leopoldville und Elisabethville ansässigen Senegalesen unter Druck zu setzen und ihre Abreise zu erwirken. Wie man sieht, ist der Mechanismus bei beiden Erscheinungen identisch. Wenn die Europäer die Habsucht der Intellektuellen und der Geschäfts­ bourgeoisie der jungen N ation beschränken, dann sehen die Volksmassen der Städte die Konkurrenz hauptsächlich in Afrikanern einer anderen Nation. A n der Elfenbeinküste sind es die Dahomeer, in Ghana die N igerier, im Senegal die Sudanesen. Wenn die von der Bourgeoisie erhobene Forderung nach Negrisierung und Arabisierung der K ader nicht von einem authentischen N ationali­ sierungsunternehmen herrührt, sondern bloß dem Streben entspricht, die bisher vom Ausland besetzten Machtpositionen der Bourgeoisie zu über­ tragen, stellen die Massen auf ihrer Ebene die gleiche Forderung, wobei sie nur den Begriff »Neger« oder »Araber« auf die territorialen Grenzen beschränken. Zwischen den klangvollen Beteuerungen der Einheit des Kontinents und diesem den Massen von den Kadern inspirierten V er­ halten gibt es zahlreiche Zwischenstufen. Man erlebt ein ständiges H in 1 Mamadou Dia, Nations africaines et solidariti mondiale, Presses Universitaires de France, S. 140.

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und H er zwischen der afrikanischen Einheit, die mehr und mehr im Nebel­ haften verschwindet, und einer hoffnungslosen Rückkehr zum w iderw är­ tigsten und gehässigsten Chauvinismus. »A uf der senegalesischen Seite tragen die Führer, die die Haupttheoretiker der afrikanischen Vereinigung gewesen sind und verschiedentlich ihre politischen Lokalorganisationen und ihre persönlichen Stellungen dieser Idee geopfert haben, eine unleugbare Verantwortung, obwohl sie nur das Beste wollten. Ihr Fehler, unser Fehler ist es gewesen, im E ifer des Kam p­ fes gegen die Balkanisierung jenes präkoloniale Faktum zu vergessen, das der Territorialismus darstellt. Unser Fehler ist es gewesen, in unseren Analysen dieses Phänomen zu 'virenig beachtet zu haben, das eine Frucht des Kolonialismus, aber auch eine soziologische Tatsache ist, die eine Theorie über die Einheit, so lobenswert und sympathisch sie auch sein mag, nicht aus der Welt schaffen kann. W ir haben uns durch das Trug­ bild einer für den Geist höchst schmeichelhaften Konstruktion verführen lassen, und indem w ir unser Ideal fü r eine R ealität hielten, haben w ir geglaubt, daß es genüge, den Territorialismus und sein natürliches P ro­ dukt, den M ikrö-Nationalismus, zu verurteilen, um mit ihnen fertig zu werden und den E rfolg unseres chimärischen Unternehmens zu sichern.«2 Vom senegalesischen Chauvinismus zur Wolof-Stammestümelei ist der Weg nicht weit. Und tatsächlich, überall dort, wo die nationale Bourgeoi­ sie durch ihr engstirniges Verhalten und die Unbestimmtheit ihrer theore­ tischen Positionen nicht fähig war, die Gesamtheit des Volkes aufzuklären, die Probleme zunächst in der Perspektive des ganzen Volkes zu stellen und ihr Weltbild genügend zu erweitern, erlebt man einen Rückfall in die Stammespositionen; voller Ingrimm muß man den erstaunlichen Triumjph der ethnischen Gemeinschaften mitansehen. D a die Ablösung der Aus­ länder die einzige Parole der Bourgeoisie ist und da sie sich beeilt, sich in allen Bereichen Genugtuung zu verschaffen und Posten' einzunehmen, fordern auch die kleinen N ationalen‘. T axifah rer, Kuchen Verkäufer, Schuh­ putzer, daß die Dahomeer nach Hause gehen oder, noch schöner, daß die Fulbe und die Peuhl in ihren Busch und ihre Berge zurückkehren sollen. Unter diesem Gesichtspunkt muß man die Tatsache interpretieren, daß in den jungen unabhängigen Ländern hier und da der Föderalismus siegt. Die Kolonialherrschaft hat, wie man weiß, bestimmte Gebiete bevorzugt. 2 Mamadou Dia, a.a.O.

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D ie Wirtschaft der Kolonie ist nicht in die Gesamtheit des Landes inte­ griert. Sie ist stets durch Komplementärbeziehungen auf das jeweilige Mutterland ausgerichtet. D er Kolonialismus beutet fast niemals ein Land als Ganzes aus. E r beschränkt sich darauf, Rohstoffe zu entdecken, die er dann herauszieht und den Industrien des Mutterlandes zuführt, wodurch er in diesem speziellen Sektor einen relativen Reichtum schafft, während in der übrigen Kolonie die Unterentwicklung und das Elend zunehmen oder sich zumindest verfestigen. Sobald die Unabhängigkeit erreicht ist, erkennen die N ationalen der wohlhabenden Gebiete ihre Chance und weigern sich, in einem viszeralen und primären Reflex, die anderen Nationalen mitzuernähren. D ie an Erdnüssen, K ak ao und Diamanten reichen Gebiete heben sich von dem leeren Panorama des übrigen Landes ab. D ie Nationalen dieser Gebiete entwickeln einen H aß gegen die anderen, bei denen sie N eid, Appetit und Mordgelüste entdecken. Die alten präkolonialen Rivalitäten, die alten inter-ethnischen Haßgefühle brechen wieder auf. Die Balubas wei­ gern sich, die Luluas zu ernähren, Katanga konstituiert sich als Staat, und Albert Kalondschi läßt sich zum König von Süd-Kasai* krönen. Die afrikanische Einheit, eine verschwommene Formel, an die jedoch die M änner und Frauen A frikas leidenschaftlich geglaubt hatten und deren operativer Wert es w ar, auf den Kolonialismus einen ungeheuren Druck auszuüben, enthüllt ihr wahres Gesicht und zerbröckelt innerhalb ein und derselben nationalen R ealität in Regionalismen. D ie nationale Bourgeoi­ sie, die in ihre unmittelbaren Interessen verbohrt ist und nicht weiter sieht als bis zu den Enden ihrer Fingernägel, erweist sich als unfähig, auch nur die nationale Einheit zu verwirklichen und die N ation auf solide und fruchtbare Grundlagen zu stellen. Die nationale Front, die den Kolonialismus vertrieben hatte, bricht auseinander und muß ihre N ieder­ lage schlucken. Dieser unerbittliche Kam pf, den sich die ethnischen G e­ meinschaften und die Stämme liefern, diese aggressive Bemühung, die durch die Abreise der Fremden frei gewordenen Posten zu besetzen, lassen auch religiöse Streitigkeiten entstehen. A u f dem Land und im Busch ge­ winnen die kleinen Bruderschaften, die Lokalreligionen, die marabutischen Kulte ihre V italität zurück und nehmen den Zyklus der Exkomm unika­ tionen wieder auf. In den Großstädten erlebt man bei den Verwaltungs­ kadern die Konfrontation der beiden großen Religionen: Islam und Katholizismus.

D er Kolonialismus, der vor der Geburt der afrikanischen Einheit in seinen Grundfesten gezittert hatte, gewinnt seine Dimensionen zurück und ver­ sucht jetzt, diesen Einheitswillen zu brechen, wobei er alle Schwädien der Bewegung ausnutzt. E r mobilisiert die afrikanischen Völker, indem er ihnen die Existenz »geistiger« Rivalitäten offenbart. Im Senegal streut die Zeitung »Afrique Nouvelle« jede Woche den H aß des Islam und der A raber aus. Die Libanesen, die an der Westküste den größten Teil des Kleinhandels innehaben, werden mit nationaler Rache bedroht. Die Mis­ sionare erinnern die Massen jetzt plötzlich daran, daß die großen Reiche der Schwarzen lange vo r dem Auftreten des europäischen Kolonialismus durch die arabische Invasion zerstört worden waren. Es w ird sogar be­ hauptet, die arabische Besetzung habe dem europäischen Kolonialismus das Bett bereitet; man spricht von arabischem Imperialismus, man denun­ ziert den kulturellen Imperialismus des Islam. D ie Moslems werden all­ gemein von den Führurigsposten femgehalten. In anderen Gebieten ist es umgekehrt, hier werden die christianisierten Autochthonen als die objek­ tiven und bewußten Feinde der nationalen Unabhängigkeit angesehen., D er Kolonialismus nutzt alle diese Zwistigkeiten schamlos aus, glücklich darüber, die A frikaner, die sich gestern gegen ihn verbündet hatten, gegen­ einander aufhetzen zu können. D er Begriff der Bartholomäusnacht nimmt in manchen Köpfen Gestalt an, und der Kolonialismus grinst nur, wenn er die großartigen Erklärungen über die afrikanische Einheit hört. Inner­ halb derselben N ation spaltet die Religion das V o lk und hetzt die vom Kolonialismus und seinen Instrumenten unterhaltenen und verstärkten geistlichen Gemeinschaften gegeneinander auf. G anz unerwartete Phäno­ mene brechen hier und da auf. In Ländern mit katholischer oder prote­ stantischer Vorherrschaft geben sich die islamischen Minderheiten einer ungewohnten Devotion hin. Die islamischen Feste werden reaktiviert, der Islam verteidigt seinen Bereich um jede H andbreit gegen den wilden Absolutismus der katholischen Religion. M an kann Minister zu irgend­ welchen Individuen sagen hören, daß sie nach K airo gehen sollen, wenn sie nicht zufrieden sind. Manchmal verpflanzt der amerikanische Pro­ testantismus seine antikatholischen Vorurteile auf den afrikanischen B o­ den und schürt mit H ilfe der Religion die Stammesrivalitäten. Über den ganzen Kontinent hin kann diese religiöse Spannung das G e­ sicht des vulgärsten Rassismus annehmen. M an teilt A frik a in einen weißen und einen schwarzen Teil. Die Ersatzbezeichnungen: A frik a süd­

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lieh oder nördlich der Sahara, können diesen latenten Rassismus nicht verschleiern. A u f der einen Seite versichert man, daß das Weiße A frik a die Tradition einer tausendjährigen K u ltur habe, daß es mediterran sei und Europa fortsetze, daß es an der abendländischen K u ltur teilhabe. Das Schwarze A frik a bezeichnet man als eine träge, brutale, unzivilisierte - eine wilde Gegend. A u f der anderen Seite kann man den ganzen Tag lang »widerwärtige Betrachtungen hören über den Schleier der Frauen, über die Polygamie, über die angebliche Mißachtung des weiblichen G e­ schlechts bei den Arabern. Durch ihre Aggressivität erinnern alle diese Auslassungen an diejenigen der Kolonialherren. Die nationale Bourgeoi­ sie jedes dieser beiden großen Gebiete hat das kolonialistische Denken bis in seine verfaultesten Wurzeln hinein angenommen; es löst die Europäer ab und führt auf dem Kontinent eine für die Zukunft A frikas äußerst schädliche rassistische Philosophie ein. Durch ihre Trägheit und Nach­ äfferei begünstigt sie die Einpflanzung und Verstärkung des Rassismus, der die koloniale Ä ra kennzeichnete. Deshalb ist es gar nicht verwunder­ lich, wenn man in einem Land, das sich afrikanisch nennt, ausgesprochen rassistische Betrachtungen hört und die Existenz paternalistischer V er­ haltensweisen feststellt, die den bitteren Eindruck hinterlassen, man be­ finde sich in Paris, Brüssel oder London. In bestimmten Gegenden A frikas herrscht in aller Nacktheit der blö­ kende Paternalismus gegenüber den Schwarzen, die obszöne, aus der west­ lichen K u ltur geschöpfte Idee, der Schwarze sei für Logik und Wissen­ schaft unerreichbar. Manchmal kann man sogar feststellen, daß die schwarzen Minoritäten in eine H albsklaverei eingeschlossen sind, die jene Zurückhaltung, ja jenes Mißtrauen rechtfertigt, das die Länder des Schwarzen A frik a gegenüber den Ländern des Weißen A frik a empfinden. Nicht selten w ird ein Bürger des Schwarzen A frik a, der in einer Groß­ stadt des Weißen A frik a spazierengeht, von den Kindern als »Neger« behandelt oder von den Beamten in Negerfranzösisch angeredet. Nein, es ist leider nicht ausgeschlossen, daß die Schüler des Schwarzen A frik a in den Oberschulen nördlich der Sahara von ihren Mitschülern gefragt werden, ob es bei ihnen Häuser gibt, ob sie die Elektrizität ken­ nen, ob sie in ihrer Familie die Menschenfresserei praktizieren. Nein, es ist leider nicht ausgeschlossen, daß A frikaner von südlich der Sahara in bestimmten Gegenden nördlich der Sahara Landsleute treffen, die sie an­ flehen, sie mitzunehmen, »egal wohin, nur zu Negern«. Ähnlich ver­

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sichern in bestimmten jungen Staaten des Schwarzen A frik a Parlamen­ tarier, ja sogar Minister ernsthaft, daß ihrem Land nicht die G efahr einer Wiederbesetzung durch den Kolonialismus drohe, sondern die einer even­ tuellen Invasion der »vandalischen Araber aus dem Norden«. Wie man sieht, äußert sich die Unzulänglichkeit der Bourgeoisie nicht nur im ökonomischen Bereich. Im Namen eines engstirnigen Nationalismus oder der Rasse zur Macht gekommen, tritt die Bourgeoisie trotz den form al sehr schönen, aber vollständig inhaltslosen Erklärungen, die in kompletter Verantwortungslosigkeit mit Sätzen jonglieren, die direkt aus europäischen Traktaten über M oral oder politische Philosophie stammen, den Beweis ihrer Unfähigkeit an, auch nur einen minimalen humanistischen K ate­ chismus herrschen zu lassen. Wenn die Bourgeoisie stark ist und die Welt nach ihrer Macht einrichtet, dann zögert sie nicht, demokratische Ideen mit universalisierendem Anspruch zu vertreten. Fü r, diese ökonomisch gefestigte Bourgeoisie bedarf es außergewöhnlicher Bedingungen, um sie zur Nichtachtung ihrer humanistischen Ideologie zu treiben. D er west­ lichen Bourgeoisie gelingt es meist, ihren grundsätzlichen Rassismus durch eine Fülle von Nuancen zu verschleiern, was ihr ermöglicht, ihre Prokla­ mation der eminenten Würde des Menschen intakt zu halten. Die westliche Bourgeoisie hat genügend Barrieren und Geländer ange­ bracht, um die Konkurrenz derer, die sie ausbeutet und verachtet, nicht wirklich fürchten zu müssen. D er westliche bürgerliche Rassismus gegen­ über dem Neger oder dem »Bicot« ist ein Rassismus der Verachtung; es ist ein Rassismus, der abwertet. Aber der bürgerlichen Ideologie, die die Wesensgleichheit der Menschen proklamiert, gelingt es, die ihr eigene Logik zu bewahren, indem sie die Untermenschen auffordert, sich durch die westliche Humanität, die sie verkörpert, zu vermenschlichen. D er Rassismus der jungen nationalen Bourgeoisie ist ein Abwehrrassismus, ein auf der Angst basierender Rassismus. E r unterscheidet sich nicht wesentlich von den gewöhnlichen Stammeskämpfen, ja von den R iv a li­ täten zwischen »£o fs« oder Bruderschaften. M an begreift, daß die auf­ merksamen internationalen Beobachter die großen, schwungvollen Reden über die nationale Einheit kaum ernst genommen haben. Das liegt daran, daß die Zahl der offensichtlichen Brüche zu groß ist, um nicht deutlich zu machen, daß alle diese Widersprüche sich erst auflösen müssen, bevor die Stunde der Einheit gekommen ist.

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D ie afrikanischen Völker haben sich erst kürzlich entdeckt und haben be­ schlossen, das Kolonialregim e im Namen des Kontinents radikal unter Druck zu setzen. D ie nationalen Bourgeoisien dagegen, die sich, Gebiet für Gebiet, beeilen, ihre eigenen Schätze anzuhäufen und ein nationales Aus­ beutungssystem zu errichten, vermehren die Hindernisse für die V erw irk­ lichung dieser »Utopie«. D ie nationalen Bourgeoisien sind sich über ihre Ziele vollständig im klaren: sie sind entschlossen, dieser Einheit, dieser gemeinsamen Anstrengung von 250 Millionen Menschen, die Dummheit, den Hunger und die Unmenschlichkeit zu besiegen, den Weg zu versperren. Deshalb müssen w ir wissen, daß die afrikanische Einheit nur unter dem Druck und der Führung des Volkes entstehen kann, daß heißt unter M iß­ achtung der Interessen der Bourgeoisie. Auch in der Innenpolitik und im institutioneilen Rahmen w ird die na­ tionale Bourgeoisie den Beweis ihrer Unfähigkeit antreten. Bei einer ge­ wissen A nzahl von unterentwickelten Ländern ist das parlamentarische Spiel grundsätzlich verfälscht. Wirtschaftlich ohnmächtig und nicht in der Lage, kohärente gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, die auf dem Prinzip ihrer Klassenherrschaft beruhen, wählt die Bourgeoisie die L ö ­ sung, die ihr als die einfachste erscheint: die Einheitspartei. Sie besitzt noch nicht jenes gute Gewissen und jene Ruhe, die allein die wirtschaftliche Macht und die Beherrschung des Staatsapparats ihr verleihen könnten. Sie schafft einen Staat, der den Bürger nicht beruhigt, sondern ihn beun­ ruhigt. D er Staat, der durch seine Robustheit und gleichzeitig durch seine Z u ­ rückhaltung Vertrauen vermitteln, entwaffnen, beruhigen sollte, zwingt sich in spektakulärer Weise auf, stellt sich zur Schau, bedrängt, miß­ handelt den Bürger und zeigt ihm auf diese Weise, daß er in permanenter G efahr ist. D ie Einheitspartei ist die moderne Form der bürgerlichen D iktatur ohne Maske, ohne Schminke, skrupellos und zynisch. Diese D iktatur, das ist eine Tatsache, kommt nicht sehr weit. Sie hört nicht auf, ihren eigenen Widerspruch hervorzubringen. D a die Bourgeoi­ sie nicht die wirtschaftlichen M ittel hat, ihre Herrschaft zu sichern und einige Krumen an die Gesamtheit des Landes zu verteilen, da sie außer­ dem ganz damit beschäftigt ist, sich möglichst schnell, aber auch möglichst prosaisch die Taschen zu füllen, versinkt das Land immer mehr im M a­ rasmus. Und um diesen Marasmus zu kaschieren, um diese Regression zu verschleiern, um sich zu beruhigen und sich Anlaß zum Dünkel zu geben,

hat die Bourgeoisie keine andere Möglichkeit, als in der H auptstadt riesige Bauten zu errichten, sogenannte Prestigeaufwendungen zu machen. D ie nationale Bourgeoisie kehrt dem Innern, den Realitäten des brach­ liegenden Landes mehr und mehr den Rücken und schielt nach dem ehe­ maligen Mutterland, nach den ausländischen Kapitalisten, die sich ihre Dienste sichern. D a sie ihre Profite nicht mit dem V olk teilt und ihm in keiner Weise erlaubt, von den Pfründen zu profitieren, die ihr die großen ausländischen Gesellschaften zahlen, w ird sie die Notwendigkeit eines Volksführers entdecken, dem die doppelte R olle zufällt, das Regime zu stabilisieren und die Herrschaft der Bourgeoisie fortdauem zu lassen. Die bürgerliche D iktatur der unterentwickelten Länder gewinnt ihre Festig­ keit aus der Existenz eines Führers. In den entwickelten Ländern ist die bürgerliche D iktatur ja das Produkt der wirtschaftlichen Macht der Bour­ geoisie. In den unterentwickelten Ländern dagegen repräsentiert der Füh­ rer die moralische Macht, unter deren Schutz die Bourgeoisie der jungen N ation, mager und mittellos, sich zu bereichern beschließt. Das Volk, das den Führer jahrelang gesehen oder sprechen gehört hat, das von weitem in einer A rt Traum seine Konflikte mit der Kolonialmacht verfolgt hat, vertraut diesem Patrioten spontan. V or der Unabhängig­ keit verkörperte der Führer allgemein die Bestrebungen des Volkes: U n­ abhängigkeit, politische Freiheiten, nationale Würde. Nach erreichter U n­ abhängigkeit aber w ird der Führer, weit davon entfernt, die Bedürfnisse des Volkes konkret zu verkörpern, sich zum Vorkäm pfer der wirklichen Würde des Volkes zu machen, die aus dem Brot, dem Boden und der Rück­ gabe des Landes in die heiligen Hände des Volkes erwächst, seine eigent­ liche Funktion offenbaren: der Generalpräsident einer Gesellschaft pro­ fitgieriger Nutznießer zu sein, wie die nationale Bourgeoisie sie darstellt. Trotz seiner Anständigkeit und seinen ehrlichen Erklärungen ist der Füh­ rer objektiv der hartnäckige Verteidiger der heute gekoppelten Interessen der nationalen Bourgeoisie und der Ex-Kolonialgesellschaften. Seine A n ­ ständigkeit, die eine reine Veranlagung der Seele ist, verflüchtigt sich übrigens fortschreitend. D er Kontakt zu den Massen ist derart unwirklich, daß der Führer schließlich davon überzeugt ist, daß man ihm seine A utori­ tät übelnimmt und die dem Vaterland geleisteten Dienste anzweifelt. H art verurteilt er die Undankbarkeit der Massen und geht jeden T ag etwas entschiedener in das Lager der Ausbeuter über. E r verwandelt sich also wissentlich in einen Komplicen der jungen Bourgeoisie, die sich in K o r­ ruption und Genuß w älzt.

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D er Produktionsprozeß des jungen Staates versackt unaufhaltsam in der neokolonialistischen Struktur. D ie einst protegierte nationale Wirtschaft w ird heute buchstäblich dirigiert. D er Haushalt w ird von Anleihen und Wirtschaftshilfen gespeist. Dreim al im Ja h r begeben sich entweder die Staatschefs selbst oder Regierungsdelegationen in die ehemaligen Mutter­ länder oder woandershin auf Kapitalienfang. Die ehemalige Kolonialmacht vermehrt die Forderungen, häuft K on­ zessionen und Garantien an und trifft immer weniger Vorkehrungen, um die Abhängigkeit, in der sie die nationale Macht hält, zu verschleiern. Das V olk stagniert auf jammervolle Weise in unerträglichem Elend und w ird sich langsam des unaussprechlichen Verrats seiner Führer bewußt. Dieses Bewußtsein ist desto schärfer, je unfähiger die Bourgeoisie ist, sich als Klasse zu konstituieren. D ie Verteilung der Reichtümer, die von ihr or­ ganisiert wird, ist nicht in vielfältige Sektoren aufgefächert, nicht abge­ stuft, sie hierarchisiert sich nicht durdi Halbtöne. D ie neue Kaste beleidigt und empört um so mehr, als die überwiegende M ajorität, nämlich neun Zehntel der. Bevölkerung, weiterhin an Hunger sterben. Die skandalöse, rasche und unerbittliche Bereicherung dieser Kaste w ird begleitet von einem entscheidenden Erwachen des Volkes, von einem Bewußtseinsprozeß, der ein gewaltsames Morgen ankündigt. D ie bürgerliche Kaste, dieser Teil der Nation, der sich zu seinem Profit die gesamten Reichtümer des Landes aneignet, w ird mit einer ganz unerwarteten Logik über die anderen Neger oder Araber abwertende Urteile fällen, die in mehr als einer Hinsicht an die rassistische Lehre der ehemaligen Vertreter der Kolonialmacht er­ innern. Sowohl das Elend des Volkes wie die zügellose Bereicherung der bürgerlichen Kaste und ihre offen zur Schau getragene Verachtung für den Rest der N ation müssen die Meinungen und Haltungen verhärten. Aber die auftauchenden Bedrohungen werden die Festigung der Autorität und das Auftreten der D iktatur nach sich ziehen. D er Führer, der das auf­ opferungsvolle Leben eines Militanten und Patrioten hinter sich hat, bildet eine Sdiutzwand zwischen dem V olk und der habgierigen Bour­ geoisie, weil er das Unternehmen dieser Kaste sichert und gegenüber der Unverschämtheit, Mittelmäßigkeit und tiefen Unmoral dieser Bürger die Augen schließt. E r trägt dazu bei, den Bewußtseinsprozeß des Volkes zu bremsen. E r kommt der Kaste zu H ilfe, verbirgt dem V olk ihre Machen­ schaften und w ird dadurch der eifrigste Vollender des Mystifizierungsund BetäubungsWerkes an den Massen. Jedesmal, wenn er sich ans V olk

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wendet, erinnert er an sein Leben, das oft heldenhaft w ar, an die Käm pfe, die er im Namen des Volkes geführt, die Siege, die er in seinem Namen errungen hat, und gibt dadurch den Massen zu verstehen, daß sie ihm weiterhin vertrauen müssen. Eine Fülle von Beispielen zeigt, daß afrik a­ nische Patrioten in den vorsichtigen politischen K am pf der Älteren einen entschiedenen nationalistischen Stil gebracht haben. Diese Männer sind aus dem Busch gekommen. Sie haben zum großen Entsetzen des Herrschers und zur großen Schande der Nationalen der H auptstadt gesagt, daß sie aus dem Busch kämen und im Namen der Neger sprächen. Diese Männer, die die Rasse besungen, die ganze Vergangenheit auf sich genommen haben, Entartung und Anthropophagie, befinden sich heute - leider! - an der Spitze einer Mannschaft, die dem Busch den Rücken kehrt und pro­ klamiert, daß es die Berufung ihres Volkes sei, zu folgen, zu folgen und noch einmal zu folgen. D er Führer beruhigt das Volk. Unfähig, es zu einem konkreten Werk aufzufordern, unfähig, ihm wirklich die Zukunft zu öffnen, es auf den Weg des nationalen Aufbaus, also seines eigenen Aufbaus zu führen, w ird er noch Jah re nach der Erringung der Unabhängigkeit nur immer die G e­ schichte der Unabhängigkeit wiederkäuen, an die heilige Vereinigung des Befreiungskampfes erinnern. Weil er sich weigert, die nationale Bour­ geoisie zu vernichten, verlangt er vom V olk, zur Vergangenheit zurück­ zukehren und sich an dem Epos zu berauschen, das zur Unabhängigkeit geführt hat. E r bremst das Volk, objektiv, und bemüht sich eifrig, es entweder aus der Geschichte zu vertreiben oder nicht in ihr Fuß fassen zu lassen. Während des Befreiungskampfes hatte er das V olk wachgerüt­ telt, ihm einen heldenhaften und radikalen Vormarsch versprochen. Heute vermehrt er die Bemühungen, es einzuschläfern, und fordert es drei- oder viermal im Ja h r auf, sich der Kolonialzeit zu erinnern und den ungeheuren Weg zu ermessen, den es schon zurückgelegt hat. M ail muß jedoch sagen, daß die Massen gar nicht in der Lage sind, den zurückgelegten Weg zu würdigen. Dem Bauern, der immer noch in der Erde herumscharrt, dem Arbeitslosen, der immer noch arbeitslos ist, w ill es trotz den Nationalfesten, trotz den immerhin neuen Fahnen nicht ge­ lingen, sich davon zu überzeugen, daß sich in seinem Leben wirklich etwas geändert hat. D ie Bourgeoisie, an der Macht, kann noch so viele Demon­ strationen veranstalten, die Massen werden sich nicht täuschen lassen. D ie Massen haben Hunger, und daß es heute afrikanische Polizeikom­ missariate gibt, beruhigt sie nicht übermäßig. D ie Massen fangen an, zu

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schmollen, sich abzuwenden und sich fü r diese N ation, die ihnen keinen Platz einräumt, nicht mehr zu interessieren. Von Zeit zu Zeit w ird der Führer jedoch mobil, spricht im Radio, macht eine Rundreise, um zu besänftigen, zu beruhigen, zu mystifizieren. Der Führer ist um so notwendiger, als es keine Partei gibt. Während des U n­ abhängigkeitskampfes gab es zw ar eine Partei, die der heutige Führer geleitet hat. Aber seitdem ist sie kläglich zerfallen. Es existiert nur noch die formale Partei, der Name, das Emblem und die Parole. Die organische Partei, die den Massen die freie Zirkulation eines auf der Basis ihrer realen Bedürfnisse entstandenen Denkens ermöglichen sollte, hat sich in ein Syn­ dikat für individuelle Interessen verwandelt. Seit der Unabhängigkeit hilft die Partei dem V olk nicht mehr, seine Forderungen zu formulieren, sich seiner Bedürfnisse besser bewußt zu Werden und seine Macht besser anzuwenden. Heute hat die Partei die Aufgabe, die von der Spitze aus­ gehenden Instruktionen ins V olk gelangen zu lassen. Es gibt nicht mehr jenes fruchtbare H in und H er von der Basis zur Spitze und von der Spitze zur Basis, das die Demokratie in einer Partei begründet und garantiert. Ganz im Gegenteil, die Partei hat sich zur Schutzwand zwischen den Massen und der Führung gemacht. Es gibt kein Parteileben mehr. Die während der Kolonialzeit aufgebauten Zellen befinden sich heute in einem Zustand totaler Abrüstung. D er M ilitant nagt an seinem Zügel. Jetzt erst w ird man sich der Richtig­ keit der Positionen bewußt, die einige von ihnen während, des Befreiungs­ kampfes eingenommen hatten, als sie von den Führungsorganisationen verlangten, eine Theorie auszuarbeiten, Ziele festzulegen, ein Programm aufzustellen. Aber unter dem Vorwand, die nationale Einheit zu retten, hatten die Führer diese Aufgabe kategorisch abgelehnt. Unsere Theorie, wiederholte man, ist die nationale Vereinigung gegen den Kolonialismus. Und man marschierte, mit einem zur Theorie erhobenen gebieterisdien Slo­ gan bewaffnet, und die ganze ideologische A ktivität beschränkte sich auf eine Reihe von Variationen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker, über den Wind der Geschidite, der den Kolonialismus unaufhaltsam hin­ wegfegen werde. Wenn die Militanten verlangten, daß der Wind der Geschidite etwas besser analysiert werden solle, hielten die Führer ihnen die Hoffnung, die notwendige und unvermeidliche Dekolonisation und dergleichen vo r Augen. Seit der Unabhängigkeit versinkt die Partei in einer ganz offensichtlichen

Lethargie. M an mobilisiert die Militanten nur noch anläßlich sogenannter Volksdemonstrationen, internationaler Konferenzen und Unabhängig­ keitsfeiern. D ie lokalen Kader der Partei werden zu administrativen Posten, die Partei verwandelt sich in Administration, die Militanten keh­ ren in ihr normales Leben zurück und nehmen den leeren Titel eines Staatsbürgers an. Jetzt, da sie ihre historische Mission erfüllt haben, die darin bestand, die Bourgeoisie an die Macht zu bringen, werden sie energisch aufgefordert, sich zurückzuziehen, damit die Bourgeoisie ungestört ihre eigene Mission erfüllen kann. W ir haben jedoch gesehen, daß die nationale Bourgeoisie der unterentwickelten Länder unfähig ist, irgendeine Mission zu erfüllen. Nach einigen Jahren w ird das Auseinanderfallen der Partei offensichtlich, und jeder Beobachter, auch ein oberflächlicher, kann erkennen, daß die ehemalige Partei, die heute ein bloßes Gerüst ist, nur noch dazu dient, das V olk zu lähmen. D ie Partei, die während des Kam pfes die Gesamtheit der N ation an sich gezogen hatte, löst sich auf. Die Intellektuellen, die sich ihr am Vorabend der Unabhängigkeit angeschlossen hatten, bestätigen durch ihr jetziges Verhalten, daß dieser Anschluß kein anderes Ziel hatte, als bei der Verteilung der Unabhängigkeitstorte dabeizusein. D ie Partei w ird zu einem Vehikel für individuelle Erfolge. Indessen zeigt sich innerhalb des neuen Regimes eine Ungleichheit bei der Bereicherung und Aneignung. Manche fressen an mehreren Krippen und erweisen sich als brillante Spezialisten des Opportunismus. D ie Schie­ bungen häufen sich, die Korruption triumphiert, die Sitten verfallen. Die Raben sind heute zu zahlreich und zu gefräßig für die magere nationale Beute. D ie Partei, ein wahres Machtinstrument in den Händen der Bour­ geoisie, festigt den Staatsapparat und treibt die Einzäunung des Volkes, seine Lähmung voran. D ie Partei hilft den Machthabern, das V o lk im Zaum zu halten. Sie w ird mehr und mehr zum eindeutig antidemokratischen Zwangsinstrument. Sie ist objektiv (und manchmal auch subjektiv) der Kom plice der merkantilen Bourgeoisie. Wie die nationale Bourgeoisie ihre Aufbauphase überspringt, um sich in den Genuß zu stürzen, so über­ springt sie auf der institutioneilen Ebene die parlamentarische Phase und entscheidet sich für eine D iktatur nationalsozialistischen Typs. W ir wissen heute, daß der Schmalspur-Faschismus, der nun schon ein halbes Ja h r­ hundert lang in Lateinam erika triumphiert, das dialektische Resultat des halbkolonialen Staates in der Unabhängigkeitsperiode ist.

In diesen verarmten unterentwickelten Ländern, wo in der Regel der größte Reiditum neben dem größten Elend lebt, bilden die Armee und die Polizei die Pfeiler des Regimes: eine Armee und eine Polizei, die nochmals eine Regel, deren man sich erinnern muß - von ausländischen Experten beraten wird. D ie K raft dieser Polizei, die Macht dieser Armee entsprechen dem Marasmus, in dem das übrige Land versunken ist. Die nationale Bourgeoisie verkauft sich immer offener an die großen aus­ ländischen Gesellschaften. M it H ilfe von Pfründen reißt das Ausland Konzessionen an sich, die Skandale häufen sich, die Minister bereichern sich, ihre Frauen verwandeln sich in Kokotten, die Abgeordneten schieben, und es gibt nicht einen Polizisten, nicht einen Zollbeamten, der an dieser großen Karaw ane der Korruption nicht teilnähme. Die Opposition w ird aggressiver, und das V olk begreift ihre Propaganda auf Anhieb. D ie Feindseligkeit gegenüber der Bourgeoisie tritt jetzt offen zutage. D ie junge Bourgeoisie, die von frühzeitiger Senilität befallen zu sein scheint, schlägt die Ratschläge, die man ihr im Überfluß gibt, in den Wind und erweist sich als unfähig, zu verstehen, daß es in ihrem Interesse läge, die Ausbeutung wenigstens etwas zu kaschieren.

La Semaine Africaine, die christliche Zeitung von Brazzaville, schreibt an die Adresse der Fürsten des Regimes: »Ihr Männer auf euren Posten mit euren Frauen, ihr seid heute reich durch euren Kom fort, eure Aus­ bildung vielleicht, euer schönes Haus, eure Beziehungen, die vielfachen Aufgaben, die euch aufgeladen sind und euch neue H orizonte eröffnen. Aber euer ganzer Reichtum w ird zu einem Schutzpanzer, der euch hindert, das Elend zu sehen, das euch umgibt. Seht euch vor.« Diese Warnung der

Semaine A f ricaine an die Adresse der Handlanger von Joulou hat natür­ lich nichts Revolutionäres. La Semaine A f ricaine w ill den Blutsaugern des kongolesischen Volkes nur zu verstehen geben, daß G ott ihr Verhalten strafen w ird : »Wenn es in eurem .Herzen keinen Platz gibt für Rücksichten gegenüber den Leuten unter euch, dann w ird es auch für euch keinen Platz im Hause Gottes geben.« Es ist klar, daß sich die nationale Bourgeoisie wegen dieser Anklagen kaum beunruhigt. M it Europa liiert, bleibt sie fest entschlossen, von der Situation zu profitieren. D ie riesigen Profite, die sie durch die Ausbeutung des Volkes gewinnt, werden ins Ausland exportiert. Die junge nationale Bourgeoisie mißtraut dem Regime, das sie errichtet hat, oft mehr als die ausländischen Gesellschaften. Sie weigert sich, auf dem nationalen Boden 133

zu investieren, und zeigt gegenüber dem Staat, der sie schützt und ernährt, eine bemerkenswerte Undankbarkeit. A u f den europäischen M ärkten er­ wirbt sie ausländische Börsenwerte, verbringt das Wochenende in Paris oder in Hamburg. In bestimmten unterentwickelten Ländern erinnert sie durch ihr Verhalten an die Mitglieder eines gang, die nach jedem hold-up den Mitspielern ihren Teil vorenthalten und sorgsam den Rückzug vorbereiten. Diese Einstellung macht deutlich, daß die nationale Bour­ geoisie, mehr oder weniger bewußt, schließlich verlieren wird. Sie ahnt, daß die heutige Situation nicht bis in alle Ew igkeit dauern kann, aber sie w ill maximal von ihr profitieren. Eine solche Ausbeutung und ein solches Mißtrauen gegenüber dem Staat rufen jedoch unweigerlich die Unzu­ friedenheit der Massen hervor. Unter diesen Bedingungen verhärtet sich das Regime. D ie Armee w ird zur unentbehrlichen Stütze einer systema­ tischen Unterdrückung. Mangels eines Parlaments dient sie als Schieds­ richter. Aber früher oder später w ird sie ihre Bedeutung entdecken und der Regierung mit der ständig schwelenden G efahr eines Pronunciamiento drohen. Wie man sieht, hat die nationale Bourgeoisie bestimmter unterentwickelter Länder nichts aus den Büchern gelernt. Wenn sie besser auf die Länder Lateinamerikas geschaut hätte, dann hätte sie zweifellos die Gefahren erkannt, die sie bedrohen. Man kommt also zu der Schlußfolgerung, daß diese Mikro-Bourgeoisie, die soviel Lärm macht, dazu verurteilt ist, auf der Stelle zu treten. Eine bürgerliche Phase ist in den unterentwickelten Ländern unmöglich. Es w ird zw ar eine Polizeidiktatur geben und eine Kaste von Nutznießern, aber die Errichtung einer bürgerlichen Gesell­ schaft ist zum Scheitern verurteilt. Das Kollegium der aufgedonnerten Nutznießer, die sich die Banknoten auf den Fonds eines verarmten Landes gegenseitig aus der H and reißen, w ird früher oder später ein Strohhalm in den Händen der geschickt von ausländischen Experten manipulierten Armee sein. So praktiziert also das ehemalige Mutterland eine indirekte Regierung, und zw ar gleichzeitig durch die Bourgeoisie, die sie ernährt, und durch eine nationale Armee, die von ausländischen Experten aufgebaut w ird und das V olk fesselt, lähmt und terrorisiert. Diese wenigen Bemerkungen über die nationale Bourgeoisie führen uns zu einer Schlußfolgerung, die nicht verwundern sollte. In den unterent­ wickelten Ländern kann die Bourgeoisie keine Bedingungen für ihre Existenz und ihre Entfaltung finden. M it anderen Worten, die vereinten

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Anstrengungen der in einer Partei organisierten Massen und der Intellek­ tuellen, die mit wachem Bewußtsein und revolutionären Grundsätzen ausgerüstet sind, muß dieser unnützen und schädlichen Bourgeoisie den Weg versperren. D ie theoretische Frage, die man seit etwa fünfzig Jahren bei der Behand­ lung der Geschichte der unterentwickelten Länder stellt, nämlich: ob die bürgerliche Phase übersprungen werden könne oder nicht, muß durch die revolutionäre Aktion und nicht durch Nachdenken entschieden werden. Eine bürgerliche Phase in den unterentwickelten Ländern ließe sich nur dann rechtfertigen, wenn die nationale Bourgeoisie eine ausreichende wirtschaftliche und technische Macht hätte, um eine bürgerliche Gesellschaft aufzubauen, die Bedingungen für die Entwicklung eines umfangreichen Proletariats zu schaffen, die Landwirtschaft zu industrialisieren und schließlich eine authentische N ationalkultur zu ermöglichen. Eine Bourgeoisie, wie sie sich in Europa entwickeln konnte, hat mit der Verstärkung ihrer Macht eine Ideologie schaffen können. Diese dyna­ mische, gebildete, laizistische Bourgeoisie hat die Akkum ulation des K a ­ pitals vo ll verwirklicht und der N ation ein Minimum von Wohlstand gegeben. In den unterentwickelten Ländern existiert, wie w ir gesehen haben, keine wirkliche Bourgeoisie, nur eine kleine Kaste mit langen Zäh ­ nen, habgierig und gefräßig, die von dem Geist des Kleingewinns be­ herrscht w ird und sich mit den Dividenden abfindet, die ihr die ehemalige Kolonialmacht sichert. Diese Schmalspur-Bourgeoisie zeigt, daß sie keiner großen Ideen, keines Erfindungsgeistes fähig ist. Sie erinnert sich an das, w as sie in den westlichen Handbüchern gelesen hat, und w ird unmerklich nicht zu einer R eplik auf Europa, sondern zu seiner Karikatur. D er K am p f gegen die Bourgeoisie der unterentwickelten Länder ist kei­ neswegs eine theoretische Position. Es geht nicht darum, das von der G e­ schichte über sie gefällte Verdammungsurteil zu entziffern. D ie nationale Bourgeoisie in den unterentwickelten Ländern muß nicht deshalb ener­ gisch bekämpft werden, weil sie die allgemeine und harmonische Entwick­ lung der N ation zu hemmen droht, sondern weil sie buchstäblich zu nichts nützt. Mittelmäßig in ihren Gewinnen, in ihren Verwirklichungen, in ihrem Denken, versucht sie diese Mittelmäßigkeit zu kaschieren durch Prestige-Bauten auf eigene Faust, durch das Chrom ihrer amerikanischen Wagen, die Ferien an der R iviera, die Weekends in neonbeleuchteten Nachtlokalen.

Dieser Bourgeoisie, die sich mehr und mehr vom ganzen V olk abwendet, gelingt es nicht einmal, dem Westen gewichtige Konzessionen zu entreißen: größere Investitionen für die Wirtschaft des Landes, Errichtung be­ stimmter Industrien. Dagegen vermehren sich die Montagefabriken, w o­ mit die neokolonialistische Form der Ausbeutung, in welcher sich die nationale Wirtschaft abstrampelt, sanktioniert wird. M an kann also nicht sagen, die nationale Bourgeoisie verzögere die Entwicklung des Landes, lasse es Zeit verlieren oder drohe die N ation auf ausweglose Wege zu füh­ ren. Die bürgerliche Phase ist in der Gesdiidite der unterentwickelten Län­ der einfach überflüssig. Wenn sich diese Kaste einmal selbst vernichtet hat und von ihren eigenen Widersprüchen verschlungen ist, w ird man erken­ nen, daß sich seit der Unabhängigkeit nichts ereignet hat, daß man alles von vorne beginnen, noch einmal vom N ullpunkt ausgehen muß. Die Um ­ gestaltung w ird nicht innerhalb der Strukturen durchgeführt werden, die die Bourgeoisie im Laufe ihrer Herrschaft errichtet hat, weil ja diese Kaste nichts anderes getan hat, als das Erbe der Wirtschaft, der Gedanken und Einrichtungen des Kolonialismus unverändert zu übernehmen. Es ist leicht, diese Klasse zu neutralisieren, weil sie, wie w ir gesehen haben, zahlenmäßig, intellektuell und wirtschaftlich schwach ist. Wenn die ko­ lonisierten Territorien unabhängig werden, gewinnt die bürgerliche Kaste ihre Macht hauptsächlich aus den mit der ehemaligen Kolonialmacht ge­ schlossenen Abkommen. Sie w ird um so mehr Chancen haben, den kolonialistischen Unterdrücker abzulösen, je mehr Zeit man ihr gelassen hat, mit der Ex-Kolonialmacht ins Gespräch zu kommen. Aber die Widersprüche in den Reihen dieser Bourgeoisie sind so tief, daß sie dem Beobachter einen Eindruck von Unstabilität vermitteln. Es gibt noch keine Kastenhomogeni­ tät. Viele Intellektuelle zum Beispiel verurteilen das auf der Herrschaft einiger weniger basierende Regime. In den unterentwickelten Ländern fin­ den sich Intellektuelle, Beamte, ehrlich bemühte Eliten, die durchaus die Notwendigkeit einer Planung der Wirtschaft, einer gerichtlichen V erfol­ gung der Nutznießer, einer strengen Unterbindung der M ystifikation spü­ ren. Außerdem kämpfen sie für die massive Teilnahme des Volkes an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten. In den unterentwickelten Ländern, die zur Unabhängigkeit gelangen, gibt es fast immer eine kleine Zahl von anständigen Intellektuellen, die zw ar keine präzisen politischen Ideen haben, aber instinktiv dem W ettlauf nach Posten und Pfründen mißtrauen, der für die erste Zeit der U nab­

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hängigkeit symptomatisch ist. Die besondere Situation dieser Menschen (Ernährung einer zahlreichen Familie) oder ihre Vergangenheit (harte Erfahrungen, strenge moralische Erziehung) erklärt ihre so offensichtliche Verachtung für die Schieber und Nutznießer. M an muß sie in dem ent­ scheidenden K am pf für eine gesunde Orientierung der N ation zu benutzen verstehen. D er nationalen Bourgeoisie den Weg versperren heißt einer­ seits, die dramatischen Lösungen der ersten Periode der Unabhängigkeit, die Mißgeschicke der nationalen Einheit, den V erfall der Sitten, die Ver­ seuchung des Landes durch Korruption, die wirtschaftliche Regression und, binnen kurzer Zeit, das antidemokratische Regime, das auf G ew alt und Einschüchterung beruht, beseitigen. Aber es heißt andererseits, das einzige Mittel wählen, um vorwärtszukommen. Was die Entscheidung verzögert und die wirklich demokratischen und fortschrittlichen Elemente der jungen N ation einschüchtert, ist die schein­ bare Solidität der Bourgeoisie. In den neuerdings unabhängigen unter­ entwickelten Ländern tummelt sich die Gesamtheit der K ader in den vom Kolonialismus erbauten Städten. D a eine Analyse der Gesamtbevölkerung fehlt, neigen die Beobachter dazu, an die Existenz einer mächtigen und voll organisierten Bourgeoisie zu glauben. In Wirklichkeit gibt es, wie man heute weiß, keine Bourgeoisie. Nicht der Gfcist, der Geschmack oder die Manieren schaffen die Bourgeoisie. Nicht einmal die Hoffnungen. Die Bourgeoisie ist vo r allem das direkte Produkt bestimmter ökonomischer Realitäten. In den Kolonien ist die ökonomische Realität jedoch eine ausländische bürgerliche Realität. Vermittels ihrer Repräsentanten ist die Bourgeoisie des Mutterlandes in den Kolonialstädten anwesend. V o r der Unabhängig­ keit ist die Bourgeoisie in den Kolonien eine westliche Bourgeoisie, eine regelrechte Filiale der Bourgeoisie des Mutterlandes, die ihre Legitimität, ihre Stärke, ihre Stabilität von ebendieser Bourgeoisie des Mutterlandes erhält. Während der Agitationsphase, die der Unabhängigkeit vorausgeht, versuchen einheimische intellektuelle und kaufmännische Elemente sich mit dieser importierten Bourgeoisie zu identifizieren. Bei den einhei­ mischen Intellektuellen und Kaufleuten kann man einen permanenten Willen zur Identifizierung mit den bürgerlichen Repräsentanten des M ut­ terlandes antreffen. Diese Bourgeoisie, die die typischen Denkmechanismen des Mutterlandes vorbehaltlos und mit Begeisterung angenommen, ihr eigenes Denken groß­ artig entfremdet und ihr Bewußtsein auf typische ausländische Grund­

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lagen gestellt hat, w ird mit trockener Kehle feststellen, was eine Bour­ geoisie ausmache, sei das Geld. Die Bourgeoisie der unterentwickelten Länder ist eine Bourgeoisie im Geiste. Weder ihre wirtschaftliche Macht noch die Dynam ik ihrer K ader noch die Weite ihrer Konzeptionen sichern ihr die Qualität einer Bourgeoisie. Deshalb ist sie zu A nfang und lange Zeit eine Bourgeoisie von Beamten. Die Posten, die sie in der neuen natiofialen Verwaltung einnimmt, geben ihr Ruhe und Festigkeit. Wenn die Macht ihr die Zeit und die Möglichkeiten dazu läßt, w ird sie schließ­ lich einen kleinen Sparstrumpf haben, der ihre Herrschaft festigt. Aber sie w ird sich immer als unfähig erweisen, eine authentische bürgerliche Gesellschaft ins Leben zu rufen mit allen wirtschaftlichen und industriellen Konsequenzen, die das einschließt. Die nationale Bourgeoisie ist von A nfang an auf Vermittlungstätigkeiten ausgerichtet. Die Basis ihrer Macht liegt in ihrem Sinn für H andel und Kleinhandel, in ihrer Fähigkeit, sich Kommissionen zu verschaffen. Nicht ihr Geld arbeitet, sondern ihr Geschäftssinn. Sie investiert nicht, sie kann nicht jene Akkum ulation des Kapitals durchführen, die für das A ufblü­ hen und die Entfaltung einer authentischen Bourgeoisie notwendig ist. Bei diesem Tempo brauchte sie Jahrhunderte, um auch nur den ersten A nfang einer Industrialisierung zustande zu bringen. Jedenfalls w ird sie auf den unerbittlichen Widerstand des ehemaligen Mutterlandes stoßen, das im Rahmen der neokolonialistischen Abmachungen schon alle nötigen V or­ kehrungen getroffen hat. Wenn die Regierungsgewalt das Land aus der Stagnation herausreißen und mit großen Schritten zur Entwicklung und zum Fortschritt führen w ill, muß sie an erster Stelle den tertiären Sektor nationalisieren. Die Bourgeoisie, bei der Gewinn- und Genußsucht, Verachtung der Massen und der skandalöse Geist des Profits - des Diebstahls, müßte man sagen Trum pf sind, macht in diesem Sektor tatsächlich riesige Investitionen. Der einst von den Kolonialherren beherrschte tertiäre Bereich w ird von der jungen nationalen Bourgeoisie eingenommen. In einer Kolonialwirtschaft ist er bei weitem der wichtigste. Wenn man vorwärtsschreiten w ill, muß man sofort beschließen, ihn zu nationalisieren. Aber es ist klar, daß diese Nationalisierung nicht den Charakter einer strengen Verstaatlichung an­ nehmen darf. Es geht nicht darum, unpolitische Staatsbürger an die Spitze der Behörden zu setzen. Wo immer dieses Verfahren angewandt wurde, konnte man feststellen, daß die Regierungsgewalt im Grunde nur zum

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Sieg einer D iktatur von Beamten beitrug, die vom ehemaligen Mutter­ land ausgebildet worden waren und sich bald als unfähig erwiesen, für das nationale Ganze zu denken. Diese Beamten beginnen sehr schnell, die nationale Wirtschaft zu sabotieren, die Organisationen aufzulösen; die Folgen sind Korruption, Veruntreuung, Unterschlagung und sdiwarzer M arkt. Den tertiären Sektor nationalisieren bedeutet demokratische V er­ kaufs- und Einkaufsgenossenschaften organisieren, also diese Genossen­ schaften dezentralisieren, indem man die Massen für die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten interessiert. A ll das kann, wie man sieht, nur gelingen, wenn man das V o lk politisiert.- Zuvor w ird man sich die Notwendigkeit bewußt gemacht haben, ein für allemal ein entscheidendes Problem zu klären. Das Problem einer Politisierung der Massen wird zw ar heute in den unterentwickelten Ländern allgemein anerkannt. Aber es scheint nicht, daß man diese vordringliche Aufgabe in der richtigen Weise anpackt. Wenn man die Notwendigkeit einer Politisierung des Volkes versichert, dann gibt man damit gleichzeitig zu verstehen, daß man in der Aktion, die man unternimmt, vom V olk unterstützt werden will. Eine Regierung, die erklärt, sie wolle das V olk politisieren, drückt ihren Wunsch aus, mit dem V olk und für das V olk zu regieren. Das darf keine Sprachregelung zur Kaschierung einer bürgerlichen Herrschaft sein. Die bürgerlichen Regierungen der kapitalistischen Länder haben diese K ind­ heitsphase der Macht längst überschritten. Ganz kalt regieren sie mit H ilfe ihrer Gesetze, ihrer wirtschaftlichen Macht und ihrer Polizei. Jetzt, da ihre Macht gefestigt ist, sind sie nicht genötigt, ihre Zeit mit Demagogie zu vergeuden. Sie regieren nach ihrem Interesse und haben den Mut zu ihrer Macht. Sie haben eine Legitim ität geschaffen und sind sich ihres guten Rechtes sicher. D ie bürgerliche Kaste der neuerdings unabhängigen Länder hat noch nicht den Zynismus und die auf Macht gegründete Seelenruhe der alten Bour­ geoisien. D aher ihre Bemühungen, ihre eigentlichen Überzeugungen zu kaschieren, dem V olk Sand in die Augen zu streuen, kurz, sich populär zu machen. Aber Politisierung der Massen heißt nicht, drei- oder viermal im Ja h r Zehn- oder Hunderttausende von Männern und Frauen mobilisie­ ren. Diese Versammlungen und Großkundgebungen lehnen sich an die alte T aktik vo r der Unabhängigkeit an, da man seine Kräfte zeigte, um sich selbst und den anderen zu beweisen* daß man das V olk hinter sich habe. D ie Politisierung der Massen w ill nicht die Massen entmündigen, sondern sie erwachsen machen. i39

Das führt uns dazu, die Rolle der politischen Partei in einem unterent­ wickelten Land zu betrachten. W ir haben oben schon gesagt, daß verein­ fachende Geister, die übrigens der entstehenden Bourgeoisie angehören, immer wieder behaupten, in einem unterentwickelten Land sei die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten durch eine starke Regierungsgewalt, sprich: D iktatur, eine Notwendigkeit. Zu diesem Zweck vertraut man der Partei die Aufgabe an, die Massen zu überwachen. Die Partei verdoppelt die Verwaltung und die Polizei und kontrolliert die Massen, nicht um sich ihrer wirklichen Teilnahme an den Angelegenheiten der N ation zu versichern, sondern um ihnen ständig zu wiederholen, daß die Regierungs­ gewalt Gehorsam und Disziplin von ihnen erwarte. Diese Diktatur, die sich von der Geschichte getragen glaubt und für die Zeit nach der Errei­ chung der Unabhängigkeit für unentbehrlich hält, symbolisiert in W irk­ lichkeit die Entschlossenheit der bürgerlichen Kaste, das unterentwickelte Land erst mit der Unterstützung des Volkes, aber bald gegen es zu regie­ ren. D ie fortschreitende Umwandlung der Partei in einen Nachrichten­ dienst ist das Indiz, daß sich die Regierungsgewalt mehr und mehr in der Defensive befindet. D ie gestaltlose Masse des Volkes w ird als blinde K raft angesehen, die man entweder durch Mystifizierung oder durch Furcht vor den Polizeikräfteh ständig im Zaum halten muß. D ie Partei dient als Barometer, als Nachrichtendienst. D er M ilitant w ird in einen Denunzian­ ten verwandelt. M an betraut ihn mit Strafaktionen gegen rebellische D ör­ fer. D ie ersten Ansätze von Oppositionsparteien werden mit Stockschlägen und Steinwürfen vernichtet. Die Kandidaten der Opposition finden ihre Häuser in Brand gesteckt. Die Polizei greift zu Provokationen. Unter die­ sen Umständen ist die Partei natürlich eine Einheitspartei, und 99,99 .Pro­ zent der Stimmen entfallen auf den Regierungskandidaten. Tatsächlich herrscht in A frik a eine bestimmte Anzahl von Regierungen nach diesem Modell. A lle Oppositionsparteien, die übrigens meist progressistisch waren, für einen größeren Einfluß der Massen in der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten eintraten und eine Zügelung der verächtlichen und mer­ kantilen Bourgeoisie verlangten, sind durch Gummiknüppel und G efäng­ nisse zum Stillschweigen und zur Illegalität verurteilt worden. In vielen, heute unabhängigen afrikanischen Gebieten erlebt die politische Partei eine schwerwiegende Abwertung. In Gegenwart eines Parteimit­ glieds schweigt das V olk, macht sich zum Lamm und gibt Lobreden an die Adresse der Regierung und des politischen Führers ab. Aber abends

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auf der Straße, abseits vom D orf, im C af£ oder auf dem Fluß kann man sich von einer bitteren Enttäuschung des Volkes, seiner Verzweiflung und auch von seiner zurückgehaltenen Wut überzeugen. Anstatt das Volk zu ermuntern, seine Beschwerden auszusprechen, anstatt sich die freie Zirkulation seiner Vorstellungen über die Führung zur grundlegenden Aufgabe zu machen, bildet die Partei eine Wand und ein Verbot. Die Parteiführer verhalten sich wie gewöhnliche Feldwebel und erinnern das V olk ständig daran, daß es »Ruhe im Glied« halten müsse. Sobald die Kolonialmacht das Land dieser Partei überlassen hat, die behauptete, der Diener des Volkes zu sein und für seine Entfaltung zu arbeiten, beeilt sie sich, das V o lk in seine H öhle zurückzuschicken. Auch in der Frage der nationalen Einheit macht sie einen Fehler nach dem anderen. Die soge­ nannte nationale Partei verhält sich wie eine ethnische Partei. Sie ist im Grunde ein zur Partei erhobener Stamm. Während sie sich gern als natio­ nal ausgibt, im Namen des gesamten Volkes zu sprechen behauptet, orga­ nisiert sie heimlich und manchmal offen eine regelrechte ethnische D ik ­ tatur. W ir haben es nicht mehr mit einer bürgerlichen Diktatur, sondern mit einer Stammesdiktatur zu tun. Die Minister, die Regierungschefs, die Botschafter, die Präfekten werden aus dem Volksstamm des Führers ausgewählt, manchmal sogar direkt aus seiner Familie. D ie Familienregimes scheinen die alten Gesetze der Endogamie* wiederaufzunehmen, und man empfindet nicht Wut, sondern Schande angesichts dieser Dummheit, dieser Heuchelei, dieser intellektuellen und geistigen Armseligkeit. Die Regie­ rungschefs sind die eigentlichen Verräter A frikas, denn sie verkaufen es an den schlimmsten seiner Feinde: die Dummheit. Diese Stammestümelei der Regierungsgewalt hat natürlich Regionalismus und Separatismus zur Folge. Dezentralisierende Tendenzen tauchen auf und gewinnen die Ober­ hand, die N ation löst sich auf und fällt auseinander. D er Führer, der »Afrikanische Einheit« rief und an seine kleine Familie dachte, wacht eines Tages zwischen fünf Stämmen auf, die auch ihre Botschafter und Minister haben wollen; und immer noch unverantwortlich, immer noch unbewußt, immer noch armselig, zeigt er den »Verrat« an. W ir haben mehrfach auf die oft unheilvolle Rolle des Führers hingewiesen. Sie rührt daher, daß die Partei in bestimmten Gebieten wie ein gang organisiert ist, bei dem des Härteste die Führung übernimmt. M an spricht gern von der Überlegenheit dieses Führers, von seiner Kraft, und man zögert nicht, in einem komplicenhaften und leicht bewundernden Ton zu

sagen, er lasse seine engsten Mitarbeiter erzittern. Um alle diese Klippen zu umgehen, muß man hartnäckig darum kämpfen, daß die Partei nie­ mals ein gefügiges Instrument in den Händen eines Führers wird. Volks­ führer gibt es heute nicht mehr. Die Völker sind keine Herden mehr und brauchen nicht geführt zu werden. Wenn der Führer mich führt, dann soll er wissen, daß gleichzeitig ich ihn führe. Die N ation d arf nicht eine von einem Manitu gelenkte Angelegenheit sein. Je tz t versteht man die Panik, die sich der Führungskreise bemächtigt, sobald einer dieser Führer krank wird, weil sie dann von der Frage der Nachfolge gequält werden. Was w ird aus dem Land, wenn der Führer verschwindet? Die Führungs­ kreise, die vo r dem Führer abgedankt haben und, ohne Verantwortung und Bewußtsein, nur mit dem schönen Leben, das sie führen, beschäftigt sind, mit organisierten Cocktails, bezahlten Reisen und der Rentabilität ihrer Schiebungen, entdecken von Zeit zu Zeit die geistige Leere im H er­ zen der Nation. Ein Land, das auf die Fragen, die ihm die Geschichte stellt, wahrhaft ant­ worten, seine Städte und den Verstand seiner Bewohner entwickeln will, muß eine wirkliche Partei besitzen. Die Partei ist kein Instrument in den Händen der Regierung. G anz im Gegenteil, die Partei ist ein Instrument in den Händen des Volkes. Sie bestimmt die Politik, die die Regierung durchführt. Die Partei d arf niemals nur das Politbüro sein, in dem alle Mitglieder der Regierung und die großen Würdenträger des Regimes zu Hause sind. Das Politbüro bildet leider allzuoft die ganze Partei, seine Mitglieder halten sich permanent in der H auptstadt auf. In einem unter­ entwickelten Land muß die Führungsspitze der Partei die H auptstadt fliehen wie die Pest. Sie muß sich, mit Ausnahme einiger weniger, in den ländlichen Gebieten aufhalten. Man sollte es vermeiden, alles in der Großstadt zu zentralisieren. Keine Entschuldigung administrativer A rt kann diesen Trubel einer gegenüber neun Zehnteln des Territoriums schon übervölkerten und überentwickelten H auptstadt rechtfertigen. D ie P ar­ tei muß bis zum äußersten dezentralisiert werden. Das ist das einzige Mittel, die toten, die noch nicht zum Leben erwachten Gebiete zu akti­ vieren. Praktisch sollte es in jedem Gebiet mindestens ein M itglied des Politbüros geben, und man sollte es nicht zum Gebietschef ernennen, es sollte keine administrative G ew alt haben. Das Mitglied des regionalen Politbüros ist nicht verpflichtet, den höchsten R ang im regionalen Verwaltungsapparat

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einzunehmen. Es braucht sich nicht notwendig mit der Regierungsgewalt zu identifizieren. Für das V olk ist die Partei nicht die Autorität, sondern ein Organismus, mit dem es als V olk seine Autorität und seinen Willen durchsetzt. Je weniger Konfusion und Machtdualität herrschen, desto besser kann die Partei ihre Erziehungsrolle spielen und für das V olk eine entscheidende Garantie bilden. Wenn die Partei mit der Regierungsgewalt verschmilzt, dann bedeutet M ilitant der Partei sein soviel wie den kürze­ sten Weg einschlagen, um egoistische Ziele zu verfolgen, einen Posten in der Verwaltung zu ergattern, einen höheren Dienstgrad zu erreichen, die Rangstufe zu verbessern, E ir rie re zu machen. In einem unterentwickelten Land werden dynamische regionale Führungs­ organe den Wasserkopf H auptstadt nicht noch weiter anschwellen lassen; sie werden vielmehr den inkohärenten Strom der ländlichen Massen nach den Großstädten aufhalten. Die Einrichtung solcher Führungsorgane, die in einem Gebiet alle Kompetenzen haben, um es wachzurütteln, zum Leben zu erwecken, den Bewußtseinsprozeß bei den Staatsbürgern zu beschleunigen, ist in den ersten Tagen der Unabhängigkeit für jedes Land, das vorwärtskommen w ill, eine unumgängliche Notwendigkeit. Andernfalls scharen sich die Verantwortlichen der Partei und die Wür­ denträger des Regimes um den Führer. Die Verwaltungsorgane schwel­ len an, nicht weil sie sich entwickeln und differenzieren, sondern weil neue Vettern und neue Militanten auf einen Posten warten und hof­ fen, in die Staatsmaschinerie eindringen zu können. U nd jeder Staats­ bürger träumt davon, in die H auptstadt zu gelangen und seinen Teil vom Käse abzubekommen. D ie ländlichen Orte sind verlassen, die nicht ein­ gegliederten, nicht unterrichteten und nicht unterstützten ländlichen Mas­ sen wenden sich von einem schlecht bearbeiteten Land ab, strömen in die Vorstädte und lassen dadurch das Lumpenproletariat übermäßig anwachsen. Die Stunde einer neuen nationalen Krise ist nicht weit. W ir glauben daher, daß es unumgänglich ist, das Fiinterland zu privilegieren. Im äußersten Fall gäbe es nichts dagegen einzuwenden, daß die Regierung w o­ anders als in der H auptstadt sitzt. Man muß die H auptstadt entsakralisieren und den enterbten Massen zeigen, daß man sich entschlossen hat, für sie zu arbeiten. Das hat in gewisser Hinsicht die brasilianische Regie­ rung mit Brasilia zu tun versucht. Die Arroganz von R io de Janeiro w ar eine Beleidigung für das brasilianische Volk. Aber leider ist Brasilia eine 143

zweite, ebenso monströse Hauptstadt geworden wie die erste. D er einzige Gewinn dieses Unternehmens besteht darin, daß es heute eine Straße durch den U rw ald gibt. Nein, kein ernsthaftes M otiv steht der Wahl einer anderen H auptstadt oder der Verlegung der gesamten Regierung in eines der ärmsten Gebiete entgegen. Die H auptstadt ist ein von der K olonial­ periode übernommener Handelsbegriff. Aber in den unterentwickelten Ländern müssen die Kontakte zu den ländlichen Massen verstärkt wer­ den. W ir müssen eine nationale Politik, das heißt vor allem eine Politik für die Massen machen. W ir dürfen niemals den K ontakt zum V olk ver­ lieren, das für seine Unabhängigkeit und die konkrete Verbesserung seiner Existenz gekämpft hat. Die autodithonen Beamten und Techniker dürfen nicht in die Diagramme und Statistiken, sie müssen in den Körper des Volkes eindringen. Sie dür­ fen sich nicht mehr sträuben, wenn von einer Verlegung ins »Innere« die Rede ist. Es d arf nicht mehr Vorkommen, daß junge Frauen unterent­ wickelter Länder ihren Männern mit Scheidung drohen, wenn sie es nicht jedesmal arrangieren, die Zuweisung eines ländlichen Postens zu vermei­ den. Deshalb muß das Politbüro der Partei die benachteiligten Gebiete bevorzugen, und das Leben der Hauptstadt, ein künstliches, oberfläch­ liches, der nationalen R ealität wie ein Fremdkörper aufgepfropftes Leben, muß einen möglichst geringen Platz im Leben der N ation einnehmen, die allein grundlegend und heilig ist. In einem unterentwickelten Land muß die Partei so organisiert sein, daß sie sich nicht damit begnügt, nur Kontakte zu den Massen zu haben. Sie muß der direkte Ausdruck der Massen sein. D ie Partei ist keine V erw al­ tungsbehörde zur Übermittlung von Regierungsbeschlüssen, sie ist der energische W ortführer und der unbestechliche Verteidiger der Massen. Um zu dieser Auffassung der Partei zu gelangen, muß man sich vo r allem von der ganz westlichen, ganz bürgerlichen und demnach ganz verächtlichen Vorstellung befreien, daß die Massen unfähig seien, sich selbst zu regie­ ren. Die Erfahrung beweist vielmehr, daß die Massen die komplizierte­ sten Probleme genau verstehen. Einer der größten Dienste, die die alge­ rische Revolution dem algerischen Intellektuellen geleistet hat, ist der, daß sie ihn mit dem V olk in Kontakt gebracht und es ihm ermöglicht hat, das unaussprechliche Elend des Volkes zu sehen und gleichzeitig das Erwachen seiner Intelligenz, die Fortschritte seines Bewußtseins mitzuerleben. Das algerische V olk, diese Masse von Ausgehungerten und Analphabeten,

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diese Männer und diese Frauen, die jahrhundertelang in der äußersten Finsternis dahindämmerten, haben Panzern und Flugzeugen, N apalm ­ bomben und psychologischem Terror standgehalten, aber vor allem der Korruption und der Gehirnwäsche, den Verrätern und den »nationalen« Armeen von General Bellounis. Dieses V olk hat standgehalten, den Schwa­ chen, den Schwankenden, den Diktatorenlehrlingen zum Trotz. Dieses V olk hat standgehalten, weil ihm sein K am pf sieben Jah re lang Bereiche erschlossen hat, von deren Existenz es nicht einmal eine Ahnung hatte. Heute arbeiten W affenwerkstätten mitten im Dschebel mehrere Meter unter der Erde, heute arbeiten Volksgerichte auf allen Stufen, lokale Plan­ kommissionen organisieren die Aufteilung des Großgrundbesitzes und ent­ werfen das Algerien von morgen. Ein einzelner Mensch kann sich dem Verständnis eines Problems verschließen, aber die Gruppe, das D o rf be­ greifen mit einer erstaunlichen Schnelligkeit. Wenn man allerdings eine Sprache benutzt, die nur Juristen oder Wirtschaftswissenschaftlern ver­ ständlich ist, dann läßt sich leicht beweisen, daß die Massen gegängelt wer­ den müssen. Aber wenn man die konkrete Sprache spricht, wenn man nicht von dem abwegigen Willen besessen ist, die Karten durcheinanderzubrin­ gen, das V olk loszuwerden, dann stellt man fest, daß die Massen alle Nuancen, alle Listen begreifen. D er Rückgriff auf einen technischen Jargon bedeutet, daß man entschlossen ist, die Massen als Laien anzusehen. E r ver­ schleiert nur schlecht das Bedürfnis der Redner, das V olk zu betrügen, es draußen zu halten. Ein solches Verdunklungsunternehmen i$t eine Maske, hinter der sich ein noch weitläufigeres Plünderungsunternehmen verbirgt: man w ill dem V olk gleichzeitig seine Güter und seine Souveränität nehmen. Man kann dem V olk alles erklären, allerdings unter der Voraussetzung, daß man wirklich w ill, daß es versteht. Wenn man aber glaubt, daß man es nicht brauche, daß es im Gegenteil ein Hindernis sei für das gute Flo­ rieren der zahlreichen Privatgesellschaften und für die Einschränkung der Verantwortlichkeiten, die sich zum Ziel setzt, das V olk noch elender zu machen, dann ist die Frage entschieden. Wenn man meint, man könne ein Land ausgezeichnet regieren, ohne daß das V olk seine N ase hineinsteckt; wenn man meint, das V olk bringe allein durch seine Anwesenheit das Spiel durcheinander, halte es auf oder sabo­ tiere es durch seine natürliche Unwissenheit, dann d arf es kein Zögern mehr geben: das V olk muß herausgehalten werden. Es geschieht jedoch, daß das Volk, wenn man es zur Führung des Landes auffordert, die Be­ wegung nicht bremst, sondern beschleunigt. W ir Algerier haben im Laufe 14 5

dieses Krieges die Gelegenheit und das Glück gehabt, gewisse Difige am eigenen Leibe erfahren zu können. In bestimmten ländlichen Gegenden sind die politisch-militärischen Verantwortlichen der Revolution mit Situationen konfrontiert worden, die radikale Lösungen verlangten. W ir werden uns mit einigen dieser Situationen beschäftigen. Im Laufe der Jah re 1956/57 hatte der französische Kolonialismus ver­ botene Zonen geschaffen, der Personenverkehr in diesen Gebieten w ar streng reglementiert. Die Bauern hatten also nicht mehr die Möglichkeit, sich frei in die Stadt zu begeben und ihre Vorräte zu erneuern. Die Lebens­ mittelhändler häuften in dieser Periode enorme Profite an. Tee, Kaffee, Zucker, Tabak, Salz erreichten unerschwingliche Preise. Der schwarze M arkt blühte mit besonderer Unverschämtheit. D ie Bauern, die nicht in bar zahlen konnten, nahmen Hypotheken auf ihre Ernten, ja auf ihre Ländereien oder gaben Stück für Stück des Familienerbes weg und arbei­ teten schließlich auf Rechnung des Lebensmittelhändlers. Die politischen Kommissare reagierten, sobald sie diese G efahr erkannt hatten. Es wurde ein rationelles Versorgungssystem geschaffen: der Lebensmittelhändler, der sich in die Stadt begibt, w ird aufgefordert, bei national eingestellten Großhändlern einzukaufen, die ihm eine Rechnung mit genauen Preis­ angaben ausstellen. Wenn der Kleinhändler im Douar ankommt, muß er sich zunächst beim politischen Kommissar melden, der die Rech­ nung kontrolliert, die (Gewinnspanne festlegt und den Verkaufspreis der Waren bestimmt. Die festgesetzten Preise werden im Laden angeschlagen, und ein M itglied des Douar, eine A rt Kontrolleur, ist anwesend und informiert die Fellachen über den Preis, zu dem die Erzeugnisse verkauft werden müssen. Aber der Kleinhändler kommt schnell auf irgendeinen Trick, und nach drei oder vier Tagen erklärt er, daß seine Vorräte er­ schöpft seien. Heimlich nimmt er seinen Handel wieder auf und setzt seinen Verkauf auf dem schwarzen M arkt fort. D ie Reaktion der poli­ tisch-militärischen Autorität w ar radikal. Es wurden beträchtliche Strafen festgesetzt, und die in die Dorfkasse eingezahlten Geldbußen wurden teils für soziale Zwecke, teils für Arbeiten von kollektivem Interesse verwen­ det. Manchmal beschloß man auch, den .Handel fü r einige Zeit zu unter­ binden. Bei einem Rückfall wurde der Handelsfonds sofort beschlag­ nahmt und einem gewählten Verwaltungsausschuß unterstellt, der dem ehemaligen Besitzer eine Monatsrente auszahlte. Ausgehend von diesen Erfahrungen, erklärte man dem V olk das Funktio­

nieren der großen ökonomischen Gesetze, indem man sich auf konkrete Fälle stützte. Die Akkumulation des K apitals wurde aus einer Theorie zu einem ganz realen und ganz gegenwärtigen Verhalten. Das V olk verstand, wie man sich mit H ilfe eines Handels bereichern und diesen Handel ver­ größern kann. Je tz t erzählten die Bauern, daß irgendein Lebensmittel­ händler ihnen zu einem Wucherzins Geld lieh; andere erinnerten daran, wie man sie von ihren Ländereien vertrieben hatte und wie sie aus Land­ besitzern zu Arbeitern geworden waren. Je mehr das V o lk versteht, desto wachsamer w ird es, desto klarer sieht es, daß letztlich alles von ihm abhängt und daß sein H eil in seinem Zusammenhalt, in der Kenntnis seiner Interessen und im Erkennen seiner Feinde liegt. Das V olk versteht, daß Reichtum nicht die Frucht der Arbeit ist, sondern das Resultat eines organisierten und protegierten Diebstahls.. Die Reichen hören auf, achtens­ werte Männer zu sein, sie sind nur noch Raubtiere, Schakale und Geier, die sich vom Blut des Volkes nähren. In einer anderen Perspektive ge­ sehen: die Politkommissare mußten bestimmen, daß niemand mehr für irgend jemanden arbeiten darf. Das Land gehört denen, die es bebauen. Das ist ein Prinzip, das im Laufe der algerischen Revolution zu einem grundlegenden Gesetz geworden ist. Die Bauern, die Landarbeiter beschäf­ tigten, sind gezwungen worden, ihren ehemaligen Angestellten Teile des Landes abzugeben. Daraufhin konnte man feststellen, daß sich der Ertrag pro H ektar ver­ dreifachte, und zw ar trotz den zahlreichen Überfällen der Franzosen, den Luftangriffen und den Schwierigkeiten bei der Besorgung von Düngemit­ teln. D ie Fellachen, die bei der Ernte die gewonnenen Erzeugnisse absdiätzen und wiegen konnten, haben dieses Phänomen verstehen wollen. Sie haben sehr schnell entdeckt, daß die Arbeit kein einfacher Begriff ist, daß sie durch die Versklavung unmöglich wird, daß sie Freiheit, Verantwor­ tung und Bewußtsein voraussetzt. In den Gebieten, in denen w ir diese erfreulichen Erfahrungen machen, die Schaffung des Menschen durch die revolutionäre Institution miterleben konnten, haben die Bauern sehr deutlich jenes Prinzip begriffen, das be­ sagt, daß man mit um so mehr Lusfrarbeitet, je bewußter man die Anstren­ gung auf sich nimmt. M an hat den Massen verständlich machen können, daß Arbeit nicht nur Energieaufwand oder das Funktionieren bestimmter Mus­ keln ist, sondern daß man mehr mit seinem Verstand und seinem Herzen arbeitet als mit seinen Muskeln und mit seinem Schweiß. In diesen befrei­

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ten, von den ehemaligen Handelsverbindungen aber abgeschnittenen G e­ bieten konnte auch die früher einzig auf die Städte und den Export ausgerichtete Produktion umgestellt werden. Es entstand eine Konsum­ güterproduktion für das V olk und fü r die Einheiten der nationalen Befreiungsarmee. D ie Produktion von Linsen wurde vervierfacht, die Gewinnung von Kohle und H olz organisiert. Frischgemüse und K oh ­ len wurden von den nördlichen Gebieten durdi die Berge nach dem Süden geleitet, während die südlichen Zonen Fleisch nach dem Norden schickten. D ie F .L .N . hat diese Koordinierung beschlossen und ein Verkehrssystem auf die Beine gestellt. W ir hatten keine Techniker, keine Planer aus den großen westlichen Schulen. Gleichwohl erreichte die Tagesration in diesen befreiten Gebieten die bisher unbekannte Zah l von 3200 Kalorien. Das V olk hat sich mit diesem Sieg nicht begnügt, es hat sich theoretische Fra­ gen gestellt, zum Beispiel: warum gab es vor dem Befreiungskrieg in be­ stimmten Gebieten keine Apfelsinen, während jährlich Tausende von Tonnen ins Ausland exportiert wurden; warum waren einer großen Zahl von Algeriern Weintrauben unbekannt, während Millionen von alge­ rischen Trauben von den europäischen Völkern genossen wurden? Das V olk hat heute eine klare Vorstellung von dem, was ihm gehört. Das algerische V olk weiß, daß es der ausschließliche Besitzer des Bodens und der Bodenschätze seines Landes ist. U nd wenn manche die Hartnäckigkeit der F .L .N ., keine Übergriffe auf dieses Eigentum zu dulden, und ihren unerschütterlichen Willen, jeden Kompromiß über die Prinzipien abzu­ lehnen, nicht begreifen, dann müssen sie sich daran erinnern, daß das algerische V olk heute ein erwachsenes, verantwortliches, bewußtes Volk, kurz, daß es ein besitzendes V olk ist. Wenn w ir das algerische Beispiel gewählt haben, so nicht, um unser V olk zu glorifizieren, sondern um die Bedeutung zu zeigen, die der K am pf, den es geführt hat, für seinen Bewußtseinsprozeß hatte. Es ist klar, daß andere Völker auf anderen Wegen zu dem gleichen Ergebnis gekommen sind. In Algerien w ar, wie man heute weiß, die Kraftprobe unvermeidlich, aber andere Gebiete haben durch ihren politischen K am pf und die A u f­ klärungsarbeit der Partei ihre Völker zu den gleichen Ergebnissen geführt. In Algerien haben w ir begriffen, daß die Massen auf der H öhe der ihnen gestellten Probleme stehen. In einem unterentwickelten Land lehrt die Erfahrung, daß es nicht auf das Planen und Entscheiden von 300 Per­ sonen ankommt, sondern darauf, daß die Gesamtheit versteht und ent­

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scheidet, selbst um den Preis einer doppelten oder dreifachen Zeit. In Wirklichkeit w ird die »verlorene« Zeit des Erklärens und Vermenschlichens der Arbeit bei der Ausführung eingeholt. Die Leute müssen wissen, wohin sie gehen und warum sie dorthin gehen. D er politische Mensch muß sich klarmachen, daß die Zukunft versperrt bleibt, solange das Be­ wußtsein des Volkes rudimentär, bruchstückhaft, verschwommen ist. Wir, die politischen A frikaner, müssen ganz klare Ideen über die Situation unseres Volkes haben. Aber diese K larheit muß zutiefst dialektisch blei­ ben. Das Erwachen des gesamten Volkes geschieht nicht schlagartig, sein rationales Engagement für das nationale Aufbauw erk w ird linear sein, zunächst weil die Verkehrswege und Transmissionsmittel wenig entwikkelt sind, dann weil die Zeitvorstellung aufhören muß, die des Augen­ blicks oder der nächsten Ernte zu sein, um die der Welt zu werden, und schließlich weil die durch die Kolonialherrschaft tief im Gehirn eingegra­ bene Entmutigung immer noch wirksam ist. Aber w ir dürfen nicht außer acht lassen, daß der Sieg über die Zonen eines geringeren Widerstands, die Erbteile der materiellen und geistigen Beherrschung des Landes, eine N o t­ wendigkeit ist, der keine Regierung ausweichen kann. Nehmen w ir das Beispiel der Arbeit unter dem Kolonialregime. D er Kolonialherr hat immer behauptet, der Eingeborene sei langsam. Heute kann man in be­ stimmten unabhängigen Ländern hören, daß gewisse K ader dieses Urteil übernehmen. In Wirklichkeit wollte der Kolonialherr, daß der Sklave begeistert sei. Durch eine A rt M ystifikation, die die raffinierteste Ent­ fremdung bildet, wollte er den Sklaven davon überzeugen, daß das Land, das er bearbeitet, ihm gehöre, daß die Minen, in denen er seine Gesund­ heit verliert, sein Eigentum seien. D er Kolonialherr vergaß merkwür­ digerweise, daß ersieh an der Agonie des Sklaven bereicherte. Praktisch sagte er zum Kolonisierten: »Krepiere, damit ich mich bereichere.« Heute müssen w ir ganz anders Vorgehen. W ir dürfen dem V olk nicht sagen: »Krepiere, damit das Land sich bereichert.« Wenn w ir das Nationalein­ kommen erhöhen, die Einfuhr bestimmter unnötiger, ja schädlicher E r­ zeugnisse verringern, die landwirtschaftliche Produktion steigern und gegen das Analphabetentum kämpfen wollen, dann müssen w ir erklären. Das V o lk muß die Wichtigkeit des Einsatzes begreifen. Die öffentlichen Angelegenheiten müssen Sache der Öffentlichkeit werden. W ir stoßen also auf die Notwendigkeit, die Zellen an der Basis zu vermehren. Allzuoft nämlidi begnügt man sich damit, nationale Organisationen an der Spitze und immer ln der H auptstadt einzurichten: Frauen verbände, Jugendver­

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bände, Gewerkschaften usw. Aber wenn man sich einmal einfallen läßt, hinter das in der H auptstadt eingerichtete Büro zu sehen, wenn man in das Hinterzimmer geht, in dem sich die Archive befinden müßten, ist man bestürzt von der Leere, dem Nichts, dem Bluff. M an braucht eine Basis, Zellen, die Inhalt und Dynam ik vermitteln. Die Massen müssen sich ver­ sammeln, diskutieren, Vorschläge machen, Instruktionen erhalten können. D ie Staatsbürger müssen die Möglichkeit haben, zu sprechen, sich auszu­ drücken, zu erfinden. Die Zellenversammlung, die Versammlung des Kom i­ tees ist kein liturgischer A kt. Sie ist eine ausgezeichnete Gelegenheit für den Menschen, zu hören und zu reden. Bei jeder Versammlung vermehrt das Gehirn seine Assoziationswege, entdeckt das Auge ein mehr und mehr ver­ menschlichtes Panorama. D er starke Prozentsatz Jugendlicher in den unterentwickelten Ländern stellt die Regierung vo r ganz spezielle Probleme, die in aller Klarheit gelöst werden müssen. D ie untätige und oft analphabetische städtische Jugend ist allen Arten von zersetzenden Erfahrungen ausgeliefert. D er unterentwickelten Jugend werden meist Unterhaltungen der industriali­ sierten Länder angeboten. Normalerweise besteht eine Homogenität zwischen dem geistigen und materiellen N iveau der M itglieder einer Gesellschaft und den Vergnügungen, die sie sich bereitet. In den unterent­ wickelten Ländern dagegen verfügt die Jugend über Spiele, die für die Jugend der kapitalistischen Länder erdacht wurden: Kriminalromane, Spielautomaten, obszöne Fotos, pornographische Literatur, nichtjugend­ freie Film e und vo r allem der Alkohol . . . Im Westen dienen der fam i­ liäre Rahmen, das Schulwesen, der relativ hohe Lebensstandard der arbeitenden Massen als eine A rt Schutzwall gegen die unheilvolle Ein­ wirkung dieser Spiele. Aber in einem afrikanischen Land, in dem die geistige Entwicklung ungleichmäßig verläuft, in dem das gewaltsame A u f­ einanderstoßen zweier Welten die alten Traditionen beträchtlich erschüt­ tert und die Welt der Wahrnehmung aufgelöst hat, ist die Sensibilität des jungen Afrikaners hilflos den verschiedenen, in der westlichen K u ltur enthaltenen Aggressionen ausgeliefert. Seine Fam ilie erweist sich sehr oft als unfähig, diesen Gewalten Stabilität und Homogenität entgegen­ zusetzen. H ier muß die Regierung als Filter und Stabilisierer dienen. D ie Jugend­ kommissare der unterentwickelten Länder machen häufig einen Fehler. Sie begreifen ihre R olle in der Weise der Jugendkommissare der entwik-

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kelten Länder. Sie sprechen davon, die Seele zu stärken, den Körper auszubilden, den Ausdruck sportlicher Fähigkeiten zu erleichtern. Unserer Meinung nach müssen sie sich vor dieser Auffassung hüten. D ie Jugend eines unterentwickelten Landes ist oft eine untätige Jugend. M an muß sie zunächst beschäftigen. Deshalb muß der Jugendkom missar institutionell dem Arbeitsministerium verbunden sein, das eng mit dem Planungsmini­ sterium zusammenarbeitet. Beide Ministerien sind in einem unterentwikkelten Land notwendig. Die afrikanische Jugend muß nicht zum Stadion geschickt werden, sondern au f die Felder und in die Schulen. Ih r Stadion ist nicht ein in den Städten eingerichteter O rt für Schaustellungen, sondern ein bestimmter Raum innerhalb der Ländereien, die urbar gemacht, bear­ beitet und der N ation angeboten werden. D ie kapitalistische Auffassung vom Sport unterscheidet sich grundlegend von der, die in unterentwikkelten Ländern existieren müßte. D er afrikanische Politiker d arf sich nicht damit beschäftigen, Sportler auszubilden, sondern bewußte Menschen, die außerdem sportlich sind. Wenn der Sport nicht in das nationale Leben, das heißt in den nationalen A ufbau integriert ist, wenn man N ational­ sportler ausbildet anstatt bewußte Menschen, w ird man bald das Absin­ ken des Sports in Professionalismus und Kommerzialismus erleben. Der Sport d arf kein Spiel sein, keine Zerstreuung, die sich das Bürgertum der Städte gewährt. D ie wichtigste Aufgabe ist es, in jedem Augenblick zu begreifen, was sich bei uns abspielt. W ir dürfen nicht das Außergewöhn­ liche kultivieren, nach dem Helden suchen, einer anderen Form des Füh­ rers. W ir müssen das V o lk in die Höhe heben, das Gehirn des Volkes erweitern, es anfüllen, differenzieren, menschlich machen. W ir kommen noch einmal auf diese Besessenheit zurück, die w ir von allen afrikanischen Politikern geteilt sehen möchten, die Besessenheit von der notwendigen Aufgabe, das V o lk aufzuklären, die Arbeit zu durchleuchten, sie von ihrer historischen Undurchschaubarkeit zu befreien. In einem unter­ entwickelten Land verantwortlich sein heißt wissen, daß alles letztlich auf der Erziehung der Massen beruht, auf der Belebung des Denkens, auf dem, was pian allzu schnell Politisierung nennt. Man glaubt nämlich oft mit einer verbrecherischen Oberflächlichkeit, die Massen politisieren heiße, ihnen periodisch eine große politische Rede halten. M an glaubt, ein politischer Führer brauche n u r in einem belehren­ den Ton von den großen Dingen des Tages zu sprechen, um der unabweis­ baren Pflicht einer Politisierung der Massen zu genügen. Politisieren heißt

jedoch, den Geist öffnen, den Geist wecken, den Geist in die Welt setzen. Oder wie C & aire sagte: »Seelen erfinden.« D ie Massen politisieren heißt nicht und kann nicht heißen, eine politische Rede halten. Es heißt, leidenschaftlich darum kämpfen, den Massen verständlich zu machen, daß alles von ihnen abhängt; daß es an ihnen liegt, wenn w ir stagnieren, und daß es ebenfalls an ihnen liegt, wenn w ir vorwärtskommen; daß es keinen Demiurgen gibt, keinen berühmten und fü r alles verantwortlichen Mann, sondern daß das V olk der Demiurg ist und daß die Hände des Zauberers letztlich nur die Hände des Volkes sind. Um das zu realisieren, um es wirklich Fleisch und Blut werden zu lassen, müssen w ir - es sei nochmals gesagt - bis zum äußersten dezentralisieren. D ie Zirkulation von der Füh­ rung zur Basis und von der Basis zur Führung muß ein strenger Grundsatz sein, nicht aus formalistischen Gründen, sondern weil ganz einfach die Ein­ haltung dieses Grundsatzes die Garantie des H eils ist. Von der Basis stei­ gen die Kräfte auf, die der Führung D ynam ik geben und es ihr dialektisch ermöglichen, einen neuen Sprung zu verwirklichen. Noch einmal, w ir Algerier haben diese Dinge sehr rasch begriffen, denn kein M itglied irgend­ einer Führung hat die Möglichkeit gehabt, sich auf irgendeine Heilsmission zu berufen. D ie Basis kämpft in Algerien, und diese Basis weiß genau, daß ohne ihren täglichen* heldenhaften und schwierigen K am pf die Führung nicht standhalten würde. Ebenso wie sie weiß, daß ohne Führung die Basis in Inkohärenz und Anarchie auseinanderbrechen würde. D ie Führung ge­ winnt ihren Wert und ihre Festigkeit nur aus der Existenz des Volkes im K am pf. Es ist buchstäblich so, daß das V o lk sich freiw illig eine Führung gibt, nicht aber, daß die Führung das V o lk duldet. Die Massen müssen wissen, daß die Regierung und die Partei in ihrem Dienst stehen. Ein würdiges, das heißt seiner Würde bewußtes V o lk ist ein Volk, daß diese Grundwahrheiten niemals vergißt. Während der K o lo­ nialbesetzung hat man dem V olk gesagt, es müsse sein Leben für den Sieg seiner Würde hingeben. Aber die afrikanischen Völker haben bald be­ griffen, daß ihnen ihre Würde nicht nur vom Okkupanten bestritten wurde. D ie afrikanischen V ölker haben bald verstanden, daß Würde und Souveränität absolut äquivalent sind. Ein würdiges und freies V o lk ist ein souveränes V olk. Ein würdiges V o lk ist ein verantwortliches Volk. U nd es ist nutzlos, zu »zeigen«, daß die afrikanischen Völker infantil oder kraftlos seien. Eine Regierung und eine Partei haben das V olk, das sie verdienen. Und auf mehr oder weniger lange Sicht hat ein V o lk die R e­ gierung, die es verdient.

Die konkrete Erfahrung in bestimmten Gebieten bestätigt das. Im Laufe von Versammlungen kommt es manchmal vor, daß sich Militanten zur Lösung schwieriger Probleme auf die Formel »man muß n u r . . . « zurück­ ziehen. Diese voluntaristische Verkürzung, in der in gefährlicher Weise Spontaneität, vereinfachender Synkretismus und mangelhafte intellek­ tuelle Verarbeitung kulminieren, gewinnt häufig die Oberhand. Jedesmal, wenn man auf dieses Abdanken der Verantwortung bei einem Militanten stößt, muß man ihm nicht nur sagen, daß er unrecht hat, man muß ihn verantwortlich machen, ihn auffordern, seine Überlegungen bis zum Ende zu führen, und ihm den abscheulichen, unmenschlichen und letztlich sterilen Charakter dieses »man muß nur« deutlich machen. Niemand hat die Wahrheit gepachtet, weder der Führer noch der Parteikäm pfer. Die Suche nach der Wahrheit in lokalen Situationen ist eine kollektive Angelegen­ heit. Manche haben eine reichere Erfahrung, entwickeln ihre Gedanken schneller, haben in der Vergangenheit eine größere Zah l von geistigen Verbindungen hersteilen können. Aber sie müssen vermeiden, das V olk zu erdrücken, denn der Erfolg der angenommenen Entscheidung hängt von dem koordinierten und bewußten Engagement des gesamten Volkes ab. Niemand kann seinen K o p f aus der Schlinge ziehen. Jeder kann erschlagen oder gefoltert werden, und in der unabhängigen N ation w ird jeder Hunger leiden und am Marasmus teilhaben. D er kollektive K am p f setzt eine kollektive Verantwortung an der Basis voraus und eine kollegiale Verant­ wortung an der Spitze. J a , alle müssen für das gemeinsame Wohl in den K am pf verwickelt werden. Es gibt keine reinen Hände, keine Unschul­ digen, keine Zuschauer. W ir sind alle dabei, uns die H ände schmutzig zu machen in den Sümpfen unseres Bodens und der furchtbaren Leere unserer Gehirne. Jeder Zuschauer ist ein Feigling oder ein Verräter. Die Pflicht einer Führung ist es, die Massen hinter sich zu haben. Die Unterstützung der Massen setzt jedoch das Bewußtsein, das Verständnis der zu erfüllenden Mission, kurz, eine, wenn auch embryonale, Intellek­ tualisierung voraus. M an d arf das V olk nicht behexen, nicht in Emotion und Konfusion stürzen. N u r die unterentwickelten Länder, die von revolu­ tionären Eliten geführt werden, die aus dem V olk hervorgegangen sind, können heute den Einzug der Massen auf der Bühne der Geschichte er­ möglichen. A ber noch einmal, w ir müssen uns nachdrücklich und endgültig der Entstehung einer nationalen Bourgeoisie, einer Kaste von Privilegier­ ten widersetzen. D ie Massen politisieren heißt, jedem Staatsbürger die

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ganze N ation vergegenwärtigen, aus der Erfahrung der N ation die E r­ fahrung jedes Staatsbürgers machen. Wie es Präsident S£kou Tour£ in seiner Botschaft an den Zweiten Kongreß der Afrikanischen Schriftsteller gesagt hat: »Im Bereich des Denkens kann der Mensch behaupten, das Gehirn der Welt zu sein, aber auf der Ebene des konkreten Lebens, wo, jeder Eingrift das physische und geistige Sein beeinträchtigt, ist die Welt immer das Gehirn des Menschen, denn auf dieser Ebene spielt sich die Totalisierung der Gewalten und der denkenden Einheiten ab, hier sind die dynamischen Entwicklungs- »und Perfektionierungskräfte wirksam, hier vollzieht sich die Fusion der Energien, und hier prägt sich endgültig die Summe der intellektuellen Werte des Menschen ein.« Weil die individuelle Erfahrung national, ein Kettenglied der nationalen Existenz ist, hört sie auf, individuell, beschränkt, engstirnig zu sein, und kann einmünden in die Wahrheit der N ation und der Welt. Ebenso wie in der Kam pfphase jeder Käm pfer die N ation in seinem A rm hielt, muß in der Phase des nationalen Aufbaus jeder Staatsbürger in seiner konkreten täglichen A k ­ tion fortfahren, sich der Gesamtheit der N ation anzuschließen, die dialek­ tische Wahrheit der N ation zu verkörpern, hier und jetzt den Sieg des totalen Menschen zu wollen. Wenn der Bau einer Brücke das Bewußtsein derer, die daran arbeiten, nicht bereichern kann, dann soll die Brücke nicht gebaut werden, dann sollen die Staatsbürger fortfahren, den Fluß schwim­ mend oder mit der Fähre zu überqueren. D ie Brücke soll nicht vom H im ­ mel fallen, sie soll dem sozialen Panorama nicht von einem Deus ex machina aufgezwungen werden, sondern aus den Muskeln und dem G e­ hirn der Staatsbürger kommen. Gewiß, man braucht Ingenieure und Architekten, die vielleicht alle aus dem Ausland stammen, aber die V er­ antwortlichen der lokalen Partei müssen anwesend sein, damit die Tech­ nik in der Gehirnwüste der Staatsbürger Fuß fassen, damit die Brücke in ihren Details und ihrer Gesamtheit angenommen, geplant und ausgeführt werden kann. D er Staatsbürger muß sich die Brücke aneignen. Erst dann ist alles möglich. Eine Regierung, die sich als national erklärt, muß die Gesamtheit der N a ­ tion auf sich nehmen, und in den unterentwickelten Ländern stellt die Jugend einen ihrer wichtigsten Sektoren dar. Es gilt, das Bewußtsein der Jugendlichen zu heben, es aufzuklären, denn sie werden die nationale Armee bilden. Wenn diese Aufklärungsarbeit geleistet ist, wenn der N a ­ tionalverband der Jugendlichen seine Aufgabe erfüllt hat, die Jugend in die N ation zu integrieren* dann werden die Fehler vermieden werden

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können, die die Zukunft der Republiken Lateinamerikas belastet, ja unter­ graben haben. Die Armee ist niemals eine Kriegsschule, sondern eine Staatsbürgerschule, eine politische Schule. D er Soldat einer erwachsenen N ation ist kein Söldner, sondern ein Staatsbürger, der mittels der Waffen die N ation verteidigt. Deshalb ist es entscheidend, daß der Soldat weiß: er steht im Dienst des Landes und nicht im Dienst eines Offiziers, und sei dieser noch so ruhmreich. D er nationale Z iv il- und Kriegsdienst kann dazu beitragen, das N iveau des nationalen Bewußtseins zu heben, das Stammes­ wesen zu bekämpfen, das Land zu reinigen. In einem unterentwickelten Land w ird man sich bemühen, so schnell wie möglich die Männer und Frauen zu mobilisieren. M an muß sich hüten, die feudalen Traditionen fortzusetzen, die den Vorrang des männlichen Elements gegenüber dem weiblichen sanktionieren. Die Frauen werden den Männern gleichgestellt sein, nicht nur in den Artikeln der Verfassung, sondern im täglichen Leben, in der Fabrik, in der Schule, in den Versammlungen. Wenn man in den westlichen Ländern die Soldaten kaserniert, so ist damit noch nicht gesagt, daß das immer die beste Lösung ist. M an braucht die Rekruten nicht zu militarisieren. D er Dienst kann z ivil oder militärisch sein, aber jeder ge­ sunde Staatsbürger sollte in jedem Augenblick in einer kämpfenden Ein­ heit auf gehen können, um die nationalen und sozialen Errungenschaften zu verteidigen. Die großen Arbeiten von kollektivem Interesse sollten von Rekruten ausgeführt werden. Das ist ein ausgezeichnetes M ittel, die trägen G e­ biete zu aktivieren, einer größeren Anzahl von Staatsbürgern die R ea­ litäten des Landes verständlich zu machen. Die Armee darf nicht zur auto­ nomen Körperschaft werden, die, ohne Beschäftigung und Aufgabe, früher oder später damit anfangen w ird, »Politik zu machen« und die Regie­ rungsgewalt zu bedrohen. D ie Salongenerale, die ständig bei der Regie­ rung antichambrieren, träumen schließlich von einem Pronunciamiento. Das einzige M ittel, dem zu entgehen, ist die Politisierung der Armee, das heißt ihre Nationalisierung. Auch die Milizen gilt es zu vermehren. Im K riegsfall kämpft oder arbeitet die ganze Nation. Es d arf keine Berufs­ soldaten geben, die A nzahl der Berufsoffiziere muß auf ein Minimum reduziert werden. Zunächst, w eil die Offiziere, die sehr oft aus den Universitätskadem geholt werden, anderswo viel nützlicher w ären; ein In ­ genieur ist der N ation tausendmal unentbehrlicher als ein O ffizier. So­ dann, w eil man die Ausbildung eines Kastengeistes verhindern muß. W ir haben auf den vorhergehenden Seiten gesehen, daß der Nationalismus,

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dieser großartige Gesang, der die Massen gegen die Unterdrücker auf­ wiegelte, sich unmittelbar nadi Erreichung der Unabhängigkeit auflöst. D er Nationalismus ist weder eine politische Doktrin noch ein Programm. Wenn man diese Rückfälle, diese Stockungen, diese Brüche seinem Land wirklich ersparen w ill, muß man rasch vom nationalen Bewußtsein zum politischen und sozialen Bewußtsein übergehen. Die N ation existiert nir­ gends, wenn nicht in einem von der revolutionären Führung ausgearbeite­ ten Programm, das in vollem Bewußtsein und mit Begeisterung von den Massen übernommen wird. Die nationale Anstrengung muß ständig in den allgemeinen Rahmen der unterentwickelten Länder gestellt werden. Die Front des Hungers und der Finsternis, die Front des Elends und des ent­ stehenden Bewußtseins muß deih Geist und den Muskeln der Männer und Frauen gegenwärtig sein. D ie Arbeit der Massen, ihr Wille, die Land­ plagen zu besiegen, die sie jahrhundertelang aus der Geschichte des mensch­ lichen Geistes ausgeschlossen haben, müssen an die Arbeit und den Willen aller unterentwickelten Völker angeschlossen sein. Es gibt eine kollektive Anstrengung, ein gemeinsames Schicksal auf der Ebene aller unterent­ wickelten Menschen. Die Nachrichten, die die Völker der Dritten Welt interessieren, sind nicht die H eirat K önig Baudouins oder die Skandale der italienischen Bourgeoisie. Was w ir wissen wollen, das sind die E rfah ­ rungen, die die Argentinier oder die Birmanen im K am pf gegen den A n ­ alphabetismus oder die diktatorischen Tendenzen der Führer gemacht haben. Das sind die Gegenstände, die uns stärken, uns unterrichten und unsere Wirksamkeit verzehnfachen. Eine Regierung, die wirklich das V olk politisch und sozial befreien w ill, braucht also ein Programm. Ein ökono­ misches Programm, aber auch eine Theorie über die Verteilung der Reichtümer und über die sozialen Verhältnisse. Im Grunde muß man eine K o n ­ zeption vom Menschen, eine Konzeption von der Zukunft der Menschheit haben. Das bedeutet, daß keine demagogische Formel, keine Komplicen­ schaft mit dem ehemaligen Okkupanten ein Programm ersetzen kann. D ie zunächst unbewußten, bald aber mehr und mehr bewußten Völker werden dieses Programm mit Nachdruck fordern. G anz im Gegensatz zu dem, was man gemeinhin annimmt, entwickeln die afrikanischen Völker, die unterentwickelten Völker sehr schnell ein politisches und soziales Bewußt­ sein. Und oft gelangen sie schon vo r der nationalen Phase zu diesem so­ zialen Bewußtsein. Deshalb kann man in diesen Ländern die dringende Forderung nach einer sozialen Justiz finden, die sich mit einem noch prim i­ tiven Stammeswesen verbindet. Die unterentwickelten V ölker verhalten

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sich wie Ausgehungerte. Das bedeutet, daß die Tage derer, die sich heute in A frik a amüsieren, streng gezählt sind: ihre Macht w ird nicht endlos andauern. Eine Bourgeoisie, die den Massen als einziges Nahrungsmittel den Nationalismus gibt, verfehlt ihre Mission und verstrickt sich not­ wendig in eine Folge von Mißgeschicken. Wenn der Nationalismus nicht erklärt, bereichert und vertieft w ird, wenn er sich nicht sehr rasch in poli­ tisches und soziales Bewußtsein, in Humanismus verwandelt, dann führt er in eine Sackgasse. Die bürgerliche Führung der unterentwickelten Län­ der zwängt das Nationalbewußtsein in einen sterilen Formalismus ein, N u r das massenhafte Engagement der Männer und Frauen für bewußt gemachte und fruchtbare Aufgaben gibt diesem Bewußtsein Inhalt und Dichte. Dann hören die Fahne und der Regierungspalast auf, die Symbole der N ation zu sein. D ie N ation flieht diese erleuchteten und künstlichen Orte und geht auf das Land, w o sie Leben und D ynam ik erhält. D er le­ bendige Ausdruck der N ation ist das mobilisierte Bewußtsein der Gesamt­ heit des Volkes, die geeinte und aufgeklärte Praxis der Männer und Frauen. Ein Schicksal kollektiv gestalten heißt, Verantwortung in der Dimension der Geschichte übernehmen. Die Alternative ist die Anarchie, die Unterdrückung, das Auftauchen der Stammesparteien, des Födera­ lismus usw. Wenn die nationale Regierung national sein w ill, muß sie durch das V olk und für das Volk, für die Entrechteten und durch die Entrechteten regieren. Kein Führer, was auch immer sein Verdienst sein mag, kann sich an die Stelle des Volkswillens setzen, und die nationale Regierung muß, bevor sie sich mit dem internationalen Prestige beschäf­ tigt, jedem Staatsbürger seine Würde zurückgeben, die Gehirne ausstatten, die Augen mit menschlichen Dingen anfüllen, ein menschliches, weil von bewußten und souveränen Menschen bewohntes Panorama entwickeln.

4• Über die nationale Kultur

Um an der afrikanischen Revolution teilzunehmen, genügt es nicht, einen revolutionären Gesang zu schreiben, sondern man muß diese Revolution mit dem Volk machen. Mit dem Volk, und die Gesänge werden allein und von selbst kommen. Um eine authentische Aktion zu haben, muß man selber ein lebendiger Teil Afrikas und seiner Denkweise sein, ein Element dieser Volksenergie, die gänzlich für die Befreiung, den Fortschritt und das Glück Afrikas mo­ bilisiert ist. Außerhalb dieses einzigen Kampfes gibt es keinen Platz für den Künstler oder für den Intellektuellen, der nicht mit dem Volk in dem großen Kam pf Afrikas und der leidenden Menschheit engagiert und mobi­ lisiert ist, Sekou Toure1 Jede Generation muß in einer relativen Finsternis ihre Mission entdecken und sie entweder erfüllen oder verraten. In den unterentwickelten L än­ dern haben die vorhergehenden Generationen gleichzeitig der vom K o lo­ nialismus betriebenen Untergrabung widerstanden und das Reifen der gegenwärtigen K äm pfe vorbereitet. Jetzt, da w ir mitten im K am pf stehen, müssen w ir die Gewohnheit aufgeben, die A ktion unserer Väter zu ver­ kleinern oder Unverständnis gegenüber ihrem Schweigen oder ihrer Passi­ vität vorzutäuschen. Sie haben sich geschlagen, w ie sie konnten, mit den Waffen, die sie damals besaßen, und wenn das Echo ihres Kam pfes in der internationalen Arena keinen W iderhall gefunden hat, so muß man den Grund dafür weniger in mangelndem Heldenmut als in einer grundver­ schiedenen internationalen Situation sehen. Erst mußte mehr als ein K o lo­ nisierter sagen: »So geht das nicht weiter«, erst mußte mehr als ein Stamm sich erheben, erst mußte mehr als ein Aufstand niedergeschlagen, mehr als eine Demonstration unterdrückt werden, damit w ir heute mit einer solchen Siegesgewißheit standhalten können. Wir, die w ir entschlossen sind, dem Kolonialismus das Kreuz zu brechen, haben die historische Mission, alle Aufstände, alle Verzweiflungstaten, alle gescheiterten oder im Blut er­ tränkten Versuche zusammenzufassen. l »Le leader politique consid£r£ comme le reprlsentant d*une culture.« (Communication au deuxieme Congres des Ecrivains et Artistes Noirs, Rom 1959).

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Wir werden in diesem K apitel das als grundlegend empfundene Problem der Legitim ität des Anspruchs auf eine eigene N ationalität analysieren. Man muß leider feststellen, daß die politischen Parteien, die das V olk mobilisieren, sich kaum mit diesem Problem beschäftigen. Sie gehen von der erlebten Realität aus, und nur im Namen dieser A ktualität, die auf der Gegenwart und der Zukunft der Männer und Frauen lastet, fordern sie zur Aktion auf. Die politische Partei kann zw ar in bewegenden Aus­ drücken von der N ation sprechen, aber es interessiert sie dabei nur, daß das Volk, das sie hört, die N otwendigkeit begreift, am K am p f teilzuneh­ men, wenn es existieren w ill. Man weiß heute, daß der Kolonialismus in der ersten Phase des nationa­ len Kam pfes versucht, den nationalen Anspruch zu entschärfen, indem er in Ökonomismus macht. Sowie die ersten Forderungen erhoben werden, heuchelt er Verständnis und gibt mit einer großtuerischen Demut zu, daß das Land an einer ernsten Unterentwicklung leidet, die eine umfangreiche wirtschaftliche Anstrengung erfordert. U nd es kommt tatsächlich vor, daß einige aufsehenerregende Maßnahmen, etwa Arbeitsbeschaffungsprogramme, die Kristallisation des N ationalbe­ wußtseins um einige Jah re verzögern. Aber früher oder später muß der Kolonialismus erkennen, daß es ihm nicht möglich ist, ein wirtschaftlich­ soziales Reformprogramm zu verwirklichen, das die Bestrebungen der kolonisierten Massen befriedigte. Selbst was den Bauch angeht, stellt er nur seine angeborene Ohnmacht unter Beweis. D er kolonialistische Staat entdeckt sehr schnell, daß er, wenn er den nationalen Parteien durch rein wirtschaftliche Maßnahmen den Wind aus den Segeln nehmen wollte, für die Kolonien mehr tun müßte, als er selbst auf seinem eigenen Territorium getan hat. Und es ist kein Z u fall, wenn heute fast überall die Lehre des Cartierismus flpriert. Cartiers Verbitterung über den hartnäckigen Willen Frankreichs, andere Menschen an sich zu binden, die es w ird ernähren müssen, wo doch viele Franzosen nur unter Schwierigkeiten leben können, zeigt, wie unmöglich es für den Kolonialismus ist, sich in ein uneigennütziges H ilfs- und Unter­ stützungsprogramm zu verwandeln. Deshalb, ich sage es noch einmal, soll­ ten w ir nicht unsere Zeit damit verlieren, zu wiederholen, daß Hunger unter menschenwürdigen Bedingungen besser ist als Brot in der Knecht­ schaft. W ir können im Gegenteil davon überzeugt sein, daß der Kolonia­ lismus nicht in der Lage ist, den kolonisierten Völkern solche materiellen Lebensbedingungen zu schaffen, daß sie ihr Streben nach Menschenwürde

vergessen. "Wenn der Kolonialismus erst einmal begriffen hat, wohin ihn die Taktik sozialer Reformen führen muß, dann w ird er zu seinen alten Reflexen zurückfinden, die Polizeikräfte verstärken, Truppen entsenden und ein Terrorregime errichten, das seinen Interessen und seiner Psycho­ logie besser entspricht. Innerhalb der politischen Parteien, meistens aber an ihren Rändern, treten kolonisierte Intellektuelle auf, die sich mit Vorliebe für den Anspruch auf eine nationale Kultur, die Behauptung der Existenz einer solchen Ku ltur schlagen. Während die Politiker ihre Aktionen im Bereich der unmittel­ baren Realität durchführen, stellen sich die Intellektuellen in den Rahmen der Geschichte. Sie beschließen, auf die kolonialistische Theorie einer vo r­ kolonialen Barbarei aggressiv zu antworten. D er Kolonialismus reagiert nur wenig darauf. E r reagiert um so weniger, als die von der jungen kolo­ nisierten Intelligenz entwickelten Ideen von den Spezialisten des Mutter­ landes breit und öffentlich vorgetrageii werden. Es ist wirklich überflüssig, noch eigens zu betonen, daß zahlreiche europäische Forscher seit einigen Jahren die afrikanischen, mexikanischen und peruanischen Kulturen all­ gemein rehabilitiert haben, und man muß sich über die Leidenschaftlichkeit wundern, mit der die kolonisierten Intellektuellen die Existenz einer na­ tionalen Kultur verteidigen. Aber wer diese übertriebene Leidenschaft verurteilt, der vergißt, daß sein Ich sich bequem hinter einer französischen oder deutschen K ultur verschanzen kann, die schon Proben ihrer Existenz gegeben haben und von niemandem bestritten werden. Ich gebe zu, daß die Tatsache einer ehemaligen aztekischen K u ltur nicht viel an der E r­ nährungsweise des heutigen mexikanischen Bauern ändert. Ich gebe zu, daß alle Beweise, die für die Existenz einer reichen Songhaikultur erbracht werden könnten, nichts daran ändern, daß die Songhais heute unter­ ernährt, analphabetisch und, zwischen Himmel und Erde geworfen, mit leerem K o p f und leeren Augen dahinleben. Aber es ist mehrfach gesagt worden, daß diese leidenschaftliche Suche nach einer nationalen K u ltur vo r der kolonialen Ä ra durch das Bestreben der kolonisierten Intellek­ tuellen legitimiert ist, gegenüber der westlichen Ku ltur, in der sie zu ver­ sinken drohen, Abstand zu gewinnen. Weil sie sich bewußt werden, daß sie im Begriff sind, sich zu verlieren, also für ihr V olk verloren zu sein, machen sich diese Menschen verbissen und besessen daran, wieder K o n ­ takt zu finden zur ältesten, extrem vorkolonialen Quelle ihres Volkes. Gehen w ir noch weiter. Vielleicht, daß diese Leidenschaft und diese Be­ sessenheit von der geheimen Hoffnung genährt und geleitet werden, jen­

seits der gegenwärtigen Misere, dieser Selbstveraditung, dieser Abdankung und Selbstverleugnung, eine schöne und leuchtende Ä ra zu finden, die uns sowohl vo r uns selbst als auch vo r den anderen rehabilitiert. Ich sage noch einmal, daß ich in meinen Vermutungen sehr weit zu gehen gedenke. D a die kolonisierten Intellektuellen die gegenwärtige Geschichte ihres unter­ drückten Volkes nicht lieben können, für die augenblicklichen Barbareien keine Begeisterung empfinden, haben sie vielleicht unbewußt beschlossen, weiter zurückzugehen, tiefer hinabzusteigen, und ohne Zw eifel haben sie mit großem Jubel entdeckt, daß die Vergangenheit nicht voller Schande, sondern voller Würde, Ruhm und Feierlichkeit w ar. D er Anspruch auf eine vergangene nationale K u ltur rechtfertigt nicht nur eine zukünftige nationale Kultur. E r bewirkt auch, auf der Ebene des psycho-affektiven Gleichgewichts, eine Wandlung von entscheidender Bedeutung. Es ist viel­ leicht noch nicht genügend darauf hingewiesen worden, daß der Kolonia­ lismus sich nicht damit begnügt, der Gegenwart und der Zukunft des be­ herrschten Landes sein Gesetz aufzuzwingen. E r gibt sich nicht damit zufrieden, das V olk in Ketten zu legen, jede Form und jeden Inhalt aus dem Gehirn des Kolonisierten zu vertreiben. E r kehrt die Logik gleichsam um und richtet sein Interesse auch auf die Vergangenheit des unterdrückten Volkes, um sie zu verzerren, zu entstellen und auszulöschen. Dieses Unter­ nehmen einer Abwertung der vorkolonialen Geschichte gewinnt heute seine dialektische Bedeutung. Wenn man an die für die koloniale Epoche so charakteristischen Anstren­ gungen denkt, die kulturelle Selbstentfremdung der Eingeborenen herbei­ zuführen, begreift man, daß nichts zufällig geschehen ist: es w ar das von der Kolonialherrschaft angestrebte Ziel, den Eingeborenen einzuhämmem, der Kolonialismus müsse sie aus der Nacht herausreißen, und der Weggang des Kolonialherrn würde für sie die Rückkehr zu Barbarei, Vertierung und »Encanaillement« bedeuten. D er Kolonialismus versuchte also, sich dem Unbewußten der Eingeborenen nicht als eine gütige und wohlwollende M utter einzuprägen, die das K ind vor einer feindlichen Umgebung schützt, vielmehr als eine Mutter, die ein völlig perverses K ind ständig daran hin­ dert, sich das Leben zu nehmen und seinen unheilvollen Trieben freien L a u f zu lassen. D ie koloniale Mutter schützt das K ind vor sich selbst, vor seinem Ich, seiner Physiologie, seiner Biologie, seinem ontologischen U n­ glück. In dieser Situation ist der Anspruch des kolonisierten Intellektuellen kein Luxus, sondern die Forderung nach einem kohärenten Programm. Der

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kolonisierte Intellektuelle, der für seinen K am pf eine Legitimierung fin­ den und Beweise erbringen w ill, der bereit ist, alle Kleider abzulegen, um die Geschichte seines Körpers bloßlegen zu können, ist dazu verurteilt, in die Eingeweide seines Volkes einzutauchen. Dieses Eintauchen ist nicht spezifisch national. D er kolonisierte Intellek­ tuelle, der gegen die kolonialistischen Lügen ins Feld zieht, kämpft für den ganzen Erdteil. Die Vergangenheit w ird aufgewertet. Die der Vergangen­ heit entrissene und in ihrem ganzen Glanz entfaltete K u ltur ist nicht die seines Landes. Auch der Kolonialismus hat in seinen Bemühungen, die autochthone K ultur abzuwerten, nicht differenziert, er hat nur immer wieder behauptet, daß der Neger ein W ilder sei, und der N eger w ar für ihn weder der Angolese noch der N igerier: er sprach stets nur vom Neger. Für den Kolonialismus w ar dieser weite Kontinent eine H öhle von W il­ den, ein von Aberglauben und Fanatismus verpestetes Land, der Verach­ tung preisgegeben, vom Fludi Gottes heimgesucht: ein Land von Men­ schenfressern und Negern. Die Verurteilung ist kontinental. D ie Behaup­ tung des Kolonialismus, die vorkoloniale Periode sei von Menschheitsnacht beherrscht gewesen, betrifft die Gesamtheit des afrikanischen Kontinents. D ie Anstrengungen des Kolonisierten,-sich zu rehabilitieren und dem kolo­ nialen Fluch zu entgehen, vollziehen sich daher in derselben Dimension. D er kolonisierte Intellektuelle, der sich tief mit der westlichen K u ltur ein­ gelassen hatte und sich jetzt in den K o p f setzt, die Existenz einer einhei­ mischen K ultur zu proklamieren, tut das niemals im Namen von Angola oder Dahome. D ie Kultur, die er behauptet, ist die afrikanische Kultur. Wenn der Neger, der niemals so sehr N eger gewesen ist wie seit seiner Beherrschung durch den Weißen, eine K u ltur zu schaffen, K u ltu r zu be­ weisen beschließt, erkennt er, daß die Geschichte ihm ein genau abgesteck­ tes Terrain anweist, ihm einen genau vorgeschriebenen Weg zeigt, und daß er eine Negerkultur zum Ausdruck bringen muß. Und man kann nicht leugnen, daß die Hauptverantwortlichen für diese Rassisierung des Denkens oder zumindest der Denkweisen die Europäer sind und bleiben, die unablässig die weiße K u ltur den anderen Unkulturen gegenübergestellt haben. D er Kolonialismus hat seine Zeit nicht damit ver­ lieren wollen, die Kulturen der verschiedenen Nationen eine nach der an­ deren zu verneinen. Deshalb ist auch die A ntw ort des Kolonisierten von vornherein kontinental. In A frik a ist die kolonisierte Literatur der letzten zwanzig Jah re keine Nationalliteratur, sondern eine Negerliteratur. D er Begriff der Negritude zum Beispiel w ar die affektive, wenn nicht logische

Antithese zur Beleidigung der Menschheit durch den weißen Mann. Diese gegen die Verachtung des Weißen sturmlaufende Negritude hat sich in be­ stimmten Bereichen als allein fähig erwiesen, die Verbote und Verfluchun­ gen aufzuheben. Weil sich die Intellektuellen von Guinea oder Kenia vor allem mit dem pauschalen Ostrazismus, der synkretistischen Verachtung durch den Unterdrücker konfrontiert sahen, w ar ihre Reaktion, sich selbst zu bewundern und zu besingen. Gegen die bedingungslose Behauptung einer europäischen K ultur wurde die bedingungslose Behauptung einer afrikanischen Kultur gesetzt. In ihrer Gesamtheit ^teilen die Sänger der

Negritude das alte Europa dem jungen A frik a, die langweilige Vernunft der Poesie, die unterdrückende Logik der tosenden N atur gegenüber. A u f der einen Seite Steifheit, Zeremonie, Protokoll, Skeptizismus, a u f der an­ deren Seite Unbefangenheit, Ausgelassenheit, Freiheit, ja Üppigkeit. Aber auch Verantwortungslosigkeit. D ie Sänger der Negritude zögern nicht, die Grenzen des Kontinents zu überschreiten. Von Am erika her fallen schwarze Stimmen in diesen H ym ­ nus ein und geben ihm größere Fülle. Die »Schwarze Welt« entsteht, und Busia aus Ghana, Birago D iop aus Senegal, H am patl B a aus dem Sudan, Saint-Claire D rake aus Chicago sind bereit, die Existenz gemeinsamer Bande, identischer Kraftlinien zu behaupten. o Auch das Beispiel der arabischen Welt könnte hier angeführt werden. Die Mehrzahl der arabischen Territorien stand ja ebenfalls unter Kolonialherr­ schaft. D er Kolonialismus hatte in diesen Gebieten die gleiche Anstrengung gemacht, um den Eingeborenen einzuhämmern, ihre vorkoloniale G e­ schichte sei eine Barbarei gewesen. D er nationale Befreiungskampf w ar von einer kulturellen Erscheinung begleitet, die als Wiedererweckung des Islam bekannt ist. D ie Leidenschaft, mit der die heutigen arabischen Autoren ihr Volk an die großen Zeiten der arabischen Geschichte erinnern, ist eine A nt­ w ort auf die Lügen des Okkupanten. Die großen Namen der arabischen Literatur traten wieder ins Bewußtsein, und die Vergangenheit der ara­ bischen K ultur wurde mit der gleichen Besessenheit, mit dem gleichen Feuereifer gefeiert wie die der afrikanischen Kulturen. D ie arabischen Führer haben versucht, jene berühmte D ar E l Salam für sich in Anspruch zu nehmen, die im 12 ., 13 . und 14. Jahrhundert so hell geleuchtet hatte. D ie Arabische Liga konkretisiert heute im politischen Bereich diesen W il­ len, das Erbe der Vergangenheit wiederaufzunehmen und zu vollenden. Arabische Ärzte* und Lyriker nehmen über die Grenzen hinweg Verbin-

düng miteinander auf in dem Bemühen, eine neue arabisdie Kultur, eine neue arabische Zivilisation zu schaffen. Im Namen des Arabismus ver­ sammeln sidi diese Menschen, im Namen des Arabismus versuchen sie zu denken. Indes hat sich in der arabischen W elt das Nationalgefühl selbst unter der Kolonialherrschaft eine Lebendigkeit bewahrt, wie man sie in A frik a nicht antrifft. Deshalb kann man in der Arabischen L iga nicht jene spontane Gemeinsamkeit eines jeden mit allen erkennen. Im Gegenteil, jeder versucht die Leistungen seiner eigenen N ation zu besingen. D a sich die einzelnen Kulturen, im Gegensatz zu der für die afrikanische Welt typischen Undifferenziertheit, voneinander abheben, gelingt es den A ra ­ bern nicht immer, in der gemeinsamen Sache aufzugehen. Aber die kul­ turelle Realität ist nicht national, sondern arabisch. Es geht noch nicht darum, eine N ationalkultur zu sichern, die Bewegung der einzelnen N a ­ tionen zu fixieren, sondern gegenüber der pauschalen Verurteilung durch den Unterdrücker auf einer arabischen oder afrikanischen K u ltur zu be­ stehen. Im afrikanischen Bereich kann man ebenso wie im arabischen fest­ stellen, daß der Anspruch der Intellektuellen des kolonisierten Landes synkretistisch, kontinental und, im Fall der Araber, interkontinental ist. Diese historisch bedingte Notwendigkeit, die die afrikanischen Intellek­ tuellen ihre Ansprüche »rassisieren« läßt, so daß sie mehr von der afrik a­ nischen K u ltur als von einer N ationalkultur sprechen, führt sie in eine Sackgasse. Nehmen w ir zum Beispiel die Societe Africaine de Culture. Diese Gesellschaft wurde voll afrikanischen Intellektuellen gegründet, die sich kennenlemen und ihre Erfahrungen und Forschungen austauschen wollten. Das Ziel der Gesellschaft w ar es also, die Existenz einer afrik a­ nischen Kultur zu bestätigen, diese K u ltur im Rahmen bestimmter N a ­ tionen zu inventarisieren und die innere D ynam ik jeder dieser N ational­ kulturen zu offenbaren. Aber gleichzeitig entsprach die Gesellschaft einer anderen Forderung: sich neben die Societe Europeenne de Culture zu stel­ len, die sich in eine Societe Universelle de Culture zu verwandeln drohte. Diesem Beschluß lag also der Wille zugrunde, mit allen Waffen an dem internationalen Wettstreit teilzunehmen, mit einer Kultur, die aus den Eingeweiden des afrikanischen Kontinents selbst hervorsprüht. Sehr bald jedoch hat die Gesellschaft ihre Unfähigkeit offenbart, die verschiedenen Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen, und sich au f exhibitionistische Demon­ strationen beschränkt: den Europäern zeigen, daß es eine afrikanische K u ltur gibt, sich den großtuerischen und narzißtischen Europäern w ider­

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setzen. D arin erschöpft sich gewöhnlich das ganze Verhalten der Mitglieder. W ir haben gezeigt, daß diese H altung normal und durch die Lüge der westlichen Intellektuellen legitimiert w ar. Aber der V erfall der Ziele dieser Gesellschaft vertieft sich mit der Entwicklung des Begriffs der Negritude. D ie afrikanische Gesellschaft w ird die Kulturgemeinschaft der schwarzen Welt werden und schließlich die Neger-Diaspora miteinschließen, das heißt die vielen Millionen von Schwarzen, die über die amerikanischen Konti­ nente verbreitet sind. D ie N eger der Vereinigten Staaten, M ittel- und Südamerikas hatten tat­ sächlich das Bedürfnis, sich an eine kulturelle Stammutter zu klammern. Ihre Probleme waren nicht grundsätzlich unterschieden von denen der Afrikaner. D ie amerikanischen Weißen haben sich ihnen gegenüber nicht anders auf geführt, als es die Weißen in A frik a taten. Die Weißen hatten sich, wie w ir sahen, daran gewöhnt, alle N eger in einen T o p f zu werfen. Während des ersten Kongresses der Societe Africaine de Culture in Paris im Jah re 1956 haben die amerikanischen N eger spontan geglaubt, ihre Probleme seien dieselben wie die ihrer afrikanischen Brüder. Wenn die afrikanischen Intellektuellen von den afrikanischen Kulturen sprachen, dann erkannten sie den ehemaligen Sklaven den Anspruch auf Bürgerrecht zu. Aber nach und nach haben die amerikanischen N eger gemerkt, daß ihre existentiellen Probleme sich nicht mit denen der afrikanischen N eger deck­ ten. Die N eger von Chicago glichen den Negern von N igeria und Tan­ ganjika nur, insofern sie sich den Weißen gegenüber definierten. Sobald die ersten Gegenüberstellungen vorüber waren und die Subjektivität sich beruhigt hatte, erkannten die amerikanischen Neger, da^ die objektiven Probleme von Grund auf verschieden waren. Die »Autobusse der Frei­ heit«, in denen amerikanische Schwarze und Weiße versuchen, die Rassen­ diskriminierung aufzuheben, haben in ihrem Prinzip und in ihren Zielen wenig gemeinsam mit dem heldenhaften K am pf des angolesischen Volkes gegen den abscheulichen portugiesischen Kolonialismus. Deshalb beschlos­ sen die amerikanischen N eger während des zweiten Kongresses der

Societe Africaine de Culture die Gründung einer eigenen, amerikanischen Gesellschaft. D ie Negritude fand also ihre erste Grenze in den Erscheinungen, die von

der Geschichtlichkeit der Menschen zeugen. Die Negerkultur, die negroafrikanische K ultur zerfiel, weil die Menschen, die sie verkörpern w oll­ ten, erkannten, daß jede Ku ltur zunächst eine nationale ist und daß die

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Probleme eines Richard Wright oder Langston Hughes von den Problemen eines Leopold Senghor oder Jom o K enyatta grundverschieden waren. Ebenso mußten bestimmte arabische Staaten, die gerade den großen Ge­ sang von der arabischen Erneuerung angestimmt hatten, erkennen, daß ihre geographische Lage und die wirtschaftliche Abhängigkeit ihres Landes stärker waren als die Vergangenheit, die man wieder zum Leben erwecken wollte. Deshalb finden w ir heute die arabischen Staaten organisch mit den Gesellschaften der Mittelmeerkultur verbunden, weil diese Staaten mo­ dernen Einflüssen und neuen Handelsbeziehungen unterworfen sind, w äh­ rend die Beziehungen, die während der arabischen Periode herrschten, verschwunden sind. Entscheidend ist vor allem die Tatsache, daß die po­ litischen Regimes bestimmter arabischer Staaten derart heterogen und ein­ ander fremd sind, daß sich schon eine kulturelle Vereinigung dieser Staaten als unsinnig erweist. M an sieht also, daß das kulturelle Problem, wie es in den kolonisierten Ländern heute manchmal gestellt wird, zu ernsten Mißverständnissen A n ­ laß geben kann. D ie U nkultur der Neger, die der Kolonialismus prokla­ miert, die angeborene Barbarei der Araber mußten logisch zu einer Schwär­ merei nicht nur für die nationalen, sondern auch für die kontinentalen und bemerkenswert rassisierten kulturellen Erscheinungen führen. In A frik a denkt der Intellektuelle entweder negro-afrikanisch oder araboislamisdi, aber nicht spezifisch national. D ie K u ltur sieht sich mehr und mehr von der A ktualität abgeschnitten. Sie sucht an einem vo r Leiden­ schaft glühenden H erd Zuflucht und bahnt sich nur mühsam konkrete Wege, die doch allein zu Fruchtbarkeit, Homogenität und Dichte führen könnten. Wenn das Unternehmen des kolonisierten Intellektuellen auch historisch begrenzt ist, so trägt es dennoch in hohem Maße dazu bei, die Aktion der Politiker zu unterstützen und zu legitimieren. Es stimmt, daß das Verhalten des kolonisierten Intellektuellen manchmal die Aspekte eines Kults, einer Religion annimmt. Aber bei einer genauen Analyse dieser H altung erkennt man leicht, daß sie das Bewußtsein der G efahr spiegelt, die letzte Verbindung zum V o lk zu verlieren. D er offen bekannte Glaube an die Existenz einer nationalen K u ltur ist im Grunde der leidenschaftliche, verzweifelte Rückgriff auf irgend etwas. Um sein H eil zu finden, um der Vorherrschaft der weißen K u ltur zu entgehen, sieht der Kolonisierte sich gezwungen, zu unbekannten Wurzeln zurückzukehren und, komme was wolle, in diesem barbarischen V olk aufzugehen. Gerade weil er spürt, wie

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er sich entfremdet, das heißt zum lebendigen O rt von Widersprüchen wird, die unüberwindlich zu werden drohen, versucht er, diesem Sumpf zu entkommen, in dem er versinken müßte; mit Leib und Seele akzeptiert er die angestammte Kultur und beschließt, sie für sich in Anspruch zu nehmen und zu bestätigen. E r entdeckt, daß er für alles und für alle einstehen muß. E r macht sich nicht nur zum Verteidiger, sondern ist be­ reit, sich mit den anderen in einen T o pf werfen zu lassen, und kann jetzt über seine einstige Feigheit lachen. Dieses mühsame und schmerzliche Sichlosreißen ist notwendig. Andernfalls kommt es zu schwerwiegenden psycho-affektiven Verstümmelungen. Menschen ohne U fer, ohne Grenzen, ohne Farbe, Heimatlose, Nicht-Verwurzelte, Engel. So w ird man auch nicht erstaunt sein, manche Koloni­ sierte erklären zu hören: »Ich spreche als Senegalese und Franzose . . . Als Algerier und Franzose . . . « A u f die Notwendigkeit gestoßen, zwei N atio­ nalitäten, zwei Bestimmungen anzunehmen, wenn er glaubhaft sein will, wählt der arabisdie und französische, der nigerische und englische Intellek- • tuelle die Negation einer dieser Bestimmungen. Doch da er sich meist nicht entscheiden w ill oder kann, vereinigt er alle historischen Bestimmungen, die ihn bedingt haben, und versetzt sich radikal in eine »universale Per­ spektive«. D er Grund dafür ist, daß der kolonisierte Intellektuelle sich gierig auf die westliche K ultur gestürzt hat. Wie Adoptivkinder, die erst dann auf­ hören, die neue Familie zu erforschen, wenn sich in ihrer Psyche ein M ini­ mum an Sicherheit kristallisiert hat, versucht der Intellektuelle; die euro­ päische K u ltur zu der seinen zu machen. E r begnügt sich nicht damit, Rabelais oder Diderot, Shakespeare oder Edgar Allen Poe zu kennen, sondern er spannt sein Gehirn zur äußersten Komplicenschaft mit jenen Menschen an: D ie Dame w ar nicht allein Sie hatte einen Gatten Einen Gatten ganz w ie er sein muß E r zitierte Racine und Corneille U nd Voltaire und Rousseau U nd den Vater H ugo und den jungen Müsset Und Gide und Valdry Und so viele andere dazu.

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Rene Depestre >Face d la nuit< 16 7

Aber sobald die nationalistischen Parteien das V olk im Namen der natio­ nalen Unabhängigkeit mobilisieren, kann der kolonisierte Intellektuelle diese kulturellen Errungenschaften, die er jetzt plötzlich als entfremdend empfindet, manchmal mit einem Tritt beiseite stoßen. Aber das ist leichter zu proklamieren als wirklich zu tun. Dieser Intellektuelle, der über den Weg der K ultur in die westliche Zivilisation eingedrungen w ar, dem es gelungen war, in der europäischen Zivilisation aufzugehen, das heißt eine andere Gestalt anzunehmen, erkennt jetzt, daß die kulturelle Stamm­ mutter, der er sich zur Rettung seiner Eigenständigkeit anvertrauen möchte, ihm kaum die Leitfiguren bietet, die den Vergleich mit den zahlreichen Zaubergestalten der K ultur des Okkupanten aufnehmen könnten. Die Geschichte, die natürlich vom Westen und für dessen Zwecke geschrieben wurde, kann zw ar bestimmte Episoden der afrikanischen Vergangenheit aufwerten. Aber wenn er der Gegenwart seines Landes gegenübersteht und die Aktualität des Kontinents, den er zu dem seinen machen w ill, genau und »objektiv« beobachtet, w ird der Intellektuelle abgestoßen von Leere, Verrohung, Wildheit. E r spürt, daß er diese weiße K u ltur verlassen muß, daß er woanders suchen muß, irgendwo, und da er keine kulturelle N ahrung nach dem Maße des ruhmreichen Panoramas seines Unterdrükkers findet, kehrt er oft zu den Positionen der Leidenschaft zurück und entwickelt eine Psychologie, die von einer außerordentlichen Sensibilität und Empfindlichkeit beherrscht wird. Diese Rückzugsbewegung, die zu­ nächst von einer grundsätzlichen Forderung herrührt, ruft in seinem inneren Mechanismus und in seiner Physiognomie einen Reflex, eine Muskelspan­ nung hervor. So erklärt sich zur Genüge der Stil der kolonisierten Intellektuellen, die diese Phase des sich befreienden Bewußtseins ausdrücken wollen. Ein unausgeglichener, sehr bilderreicher Stil, denn das B ild ist die Zugbrücke, die es den unbewußten Energien erlaubt, in die umliegenden Weiden aus­ zuschwärmen. Ein nervöser, rhythmischer Stil, durch und durch von Eruptivität erfüllt. Farbig, von der Sonne gebräunt und gewaltsam. D ie­ ser Stil, der seinerzeit den Westen in Erstaunen gesetzt hat, ist keineswegs, wie immer angenommen wurde, ein rassisches M erkmal, sondern gibt vo r allem ein Handgemenge wieder, offenbart den Zw ang, unter dem dieser Mensch steht: sich wehe zu tun, wirklich rotes B lu t zu bluten, sich von einem Teil seines Wesens zu befreien, das schon die Keime der Fäulnis barg. Ein schmerzhafter, rascher K am pf, bei dem unweigerlich der Muskel an die Stelle des Begriffs treten mußte.

In der Dichtung erreicht dieser Stil zw ar ungewohnte Höhen, aber im Bereich der konkreten Existenz landet der Intellektuelle oft in einer Sack­ gasse. Wenn er den Höhepunkt des Brautfestes mit seinem V olk erreicht hat und sich wieder auf den Weg in den A lltag macht, bringt er von sei­ nem Abenteuer nichts als unfruchtbare Formeln mit. E r feiert die Bräuche, die Traditionen, das äußere B ild des Volkes, und seine zwanghafte, schmerzliche Suche erinnert nur an eine banale Sehnsucht nach Exotismus. Das ist die Periode, in der die Intellektuellen selbst die geringsten E r­ scheinungen des einheimischen Panoramas besingen. D er Bubu w ird hei­ liggesprochen, die Pariser oder italienischen Schuhe werden zugunsten der Babuschen abgelegt. Die Sprache des Beherrschers verwundet plötzlich die Lippen. Sein V olk wiederfinden heißt in dieser Periode manchmal, nur Neger sein wollen, nicht irgendein Neger, sondern ein wirklicher Neger, ein H und von Neger, so wie ihn der Weiße w ill. Sein V olk wiederfinden heißt, zum >Bicot< werden, so eingeboren, so unkenntlich wie möglich werden, sich die Flügel beschneiden, die man hatte wachsen lassen. D er kolonisierte Intellektuelle beschließt, eine Bestandsaufnahme der in der Kolonialw elt angenommenen schlechten Sitten zu machen und sich eilig der guten Sitten des Volkes zu erinnern, dieses Volkes, von dem man dekretiert hat, daß ihm alle Wahrheit zukomme. D er Skandal, den dieses Verhalten bei den auf dem Territorium ansässigen Kolonialisten auslöst, verstärkt nur die Entschlossenheit. Wenn die Kolonialisten, die ihren Sieg über die Assimilierten genossen hatten, sich bewußt werden, daß diese Menschen, die man für gerettet hielt, sich in der Negraille aufzulösen beginnen, gerät das ganze System ins Wanken. Jeder gewonnene, jeder bekehrte Kolonisierte, der ins kolonisierte V olk zunickzusinken beschließt, ist nicht nur ein M ißerfolg für das Kolonialunternehmen, sondern er symbolisiert auch die Zwecklosigkeit und Oberflächlichkeit der geleisteten Arbeit. Jeder Kolonisierte, der die Linie wieder in der anderen Richtung überschreitet, ist eine radikale Verurteilung der Methode und des Regimes, so daß der kolonisierte Intellektuelle in diesem Skandal, den er hervor­ ruft, eine Rechtfertigung für seinen A b fall findet und eine Ermutigung, au f dem eingeschlagenen Weg zu bleiben. Wenn w ir in den Werken kolonisierter Schriftsteller nach dieser Entwick­ lung suchen, können w ir drei Phasen finden, in denen sie sich abspielt. In der ersten Phase beweist der kolonisierte Intellektuelle, daß er die Kultur des Okkupanten assimiliert hat. Seine Werke entsprechen Punkt für Punkt denen seiner Kollegen im Mutterland. Ihre Inspiration ist europäisch, und

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man kann diese Werke sehr leicht einer ganz bestimmten Strömung der Literatur des Mutterlandes zurechnen. Das ist die Periode einer vollstän­ digen Assimilation der Kolonisiertenliteratur. Es gibt in ihr Klassizisten, Symbolisten und Surrealisten. In der zweiten Phase ist der Kolonisierte wankend geworden; erbeschließt, sich seiner Herkunft zu erinnern. Diese Periode entspricht ungefähr dem vollständigen Aufgehen in der autochthonen Tradition, das w ir eben beschrieben haben. Aber da der Intellektuelle nicht unter dem V olk lebt, da er mit seinem V olk nur äußere Beziehungen unterhält, begnügt er sich mit der Erinnerung. A lte Geschichten der Kindheit werden aus der Tiefe des Gedächtnisses hervorgeholt, alte Legenden werden neu interpretiert mit H ilfe einer entliehenen Ästhetik und einer unter anderen Himmeln entdeckten Weltanschauung. Manchmal ist diese Literatur des Vorge­ fechts von Humor und Allegorie beherrscht. Eine Periode der Angst, des Unbehagens, der Erfahrung des Todes und auch des Ekels. M an erbricht sich, aber darunter deutet sich schon das Lachen an. In der dritten, der sogenannten Kam pfperiode schließlich beginnt der Kolonisierte, nachdem er versucht hatte, sich im V o lk und mit dem V olk zu verlieren, im Gegenteil das V olk aufzurütteln. Anstatt die Lethargie des Volkes zu feiern, verwandelt er sich in einen Volkserwecker. K am pf­ literatur, revolutionäre Literatur, nationale Literatur. Im Laufe dieser Periode geschieht es, daß eine große Zahl von Männern und Frauen, die vorher nie daran gedacht hatten, ein literarisches Werk zu schaffen, jetzt, wo sie sich in außergewöhnlichen Situationen finden, im Gefängnis, im Maquis oder am Vorabend ihrer Hinrichtung, die Notwendigkeit spüren, ihre N ation auszusagen, den Satz zu formen, der das V o lk ausdrückt, sich zum W ortführer einer neuen, aktiven R ealität zu machen. D er kolonisierte Intellektuelle w ird sich indessen früher oder später be­ wußt, daß man seine N ation nicht mit H ilfe der K u ltu r beweist, sondern nur im K am pf zum Leben bringt, den das V o lk gegen die Besatzungs­ kräfte führt. Kein Kolonialismus leitet seine Legitim ität von der NichtExistenz einer Kultur in den beherrschten Gebieten ab. M an w ird den Kolonialismus niemals beschämen, indem man verkannte kulturelle Schät­ ze vo r ihm ausbreitet. D er kolonisierte Intellektuelle macht sich nicht bewußt, daß er genau in dem Moment, da er sich bemüht, eine Ku ltur zu schaffen, Techniken und eine Sprache benutzt, die dem Okkupanten entliehen sind. E r begnügt sich damit, diese Instrumente mit einem Siegel 170

zu versehen, das national sein soll, jedoch merkwürdig an Exotismus er­ innert. D er kolonisierte Intellektuelle, der mittels der K u ltur zu seinem V olk zurückkehrt, verhält sich in Wirklichkeit wie ein Ausländer. Manch­ mal w ird er nicht zögern, seinen Willen, so nahe wie möglich beim V olk zu sein, durch die Verwendung von Dialekten zu manifestieren, aber die Ideen, die er ausdrückt, die Dinge, die ihn beschäftigen, haben nichts gemein mit der konkreten Situation, in der die Männer und Frauen sei­ nes Landes stehen. Die Kultur, zu der sich der Intellektuelle hinwendet, ist sehr oft nur eine Reservoir von Partikularismen. E r w ill am V olk kleben und klebt nur an dessen sichtbarem Gewand, das bloß an der Oberfläche die Bewegung eines intensiven, ständig sich erneuernden unter­ irdischen Lebens wiedergibt. Diese äußere Wirklichkeit, die in die Augen springt und das V olk zu kennzeichnen scheint, ist im Grunde nur das tote und schon negierte Resultat vielfacher und nicht immer kohärenter Anpassungen an eine tiefere Substanz, die sich selbst mitten in einer E r­ neuerung befindet. Anstatt diese Substanz zu erforschen, läßt sich der Intellektuelle von jenen mumienhaften Fetzen hypnotisieren, die doch, in ihrer Erstarrung, nur die Negation, die Überschreitung, die Erfindung ausdrücken. Die K u ltur hat niemals die Durchsichtigkeit der Sitten. Sie entzieht sich jeder Vereinfachung. In ihrem Wesen ist sie das Gegenteil der Sitten, die immer ein V erfall der K u ltur sind. A n der Tradition kleben oder die aufgegebenen Traditionen wiederbeleben wollen heißt nicht nur, sich gegen die Geschichte wenden, sondern auch gegen das Volk. Wenn es einen bewaffneten oder sogar politischen K am pf gegen den unerbittlichen Kolonialismus führt, ändert die Tradition ihre Bedeutung. Was Technik eines passiven Widerstands w ar, kann in dieser Periode radikal verurteilt werden. In der Kam pfphase eines unterentwickelten Landes sind die Traditionen labil und von zentrifugalen Strömungen durchfurcht. Deshalb läuft der Intellektuelle oft G efahr, aus dem Schritt zu fallen. Die Völker, die gekämpft haben, werden für Demagogie immer unzugänglicher, und wenn man ihnen zu sklavisch folgen w ill, entpuppt man sich oft als ein gewöhnlicher Opportunist, ja als ein Nachzügler. A u f dem Gebiet der Plastik zum Beispiel beschränkt sich der kolonisierte Künstler, der um jeden Preis ein nationales Werk schaffen w ill, auf eine stereotype Reproduktion von Details. Diese Künstler, die immerhin die modernen Techniken vertieft und an den großen Strömungen der zeitge­ nössischen M alerei und Architektur teilgenommen haben, kehren der aus­ ländischen K u ltur den Rücken, lehnen sie ab, machen sich auf die Suche

nach dem echt Nationalen und feiern, was sie für die Konstanten einer nationalen Kunst halten. Aber sie vergessen, daß die Denkformen, die Ernährung, die modernen Informationstechniken, Sprache und Kleidung das H irn des Volkes dialektisch reorganisiert haben und daß die K o n ­ stanten, die während der Kolonialperiode Schutzgitter waren, radikale Veränderungen erleiden. D er Künstler, der die nationale Wahrheit zu beschreiben trachtet, wen­ det sich paradoxerweise der Vergangenheit, dem Unaktuellen zu. W orauf sich seine eigentlichen Intentionen richten, das sind die Rückstände des Denkens, das Äußere, die K adaver, das endgültig stabilisierte Wissen. Wenn der kolonisierte Intellektuelle jedoch ein authentisches W erk schaffen w ill, muß er wissen, daß die nationale W ahrheit zuerst die nationale Realität ist. E r muß zum Siedepunkt Vordringen, an dem sich dieses Wissen abzeichnet. V or der Unabhängigkeit w ar der kolonisierte M aler fü r das nationale Panorama unempfänglich. E r bevorzugte also das Abstrakte oder speziali­ sierte sich öfter noch auf das Stilleben. Nach Erreichung der Unabhängig­ keit läßt ihn sein Streben, sich dem V olk anzuschließen, an der genauen Wiedergabe der Realität festhalten. Es handelt sich hierbei um eine un­ rhythmische, heitere, bewegungslose Wiedergabe, die nicht an das Leben, sondern an den Tod erinnert. D ie Gebildeten geraten in Ekstase vo r dieser gut wiedergegebenen Wahrheit, aber man kann sich mit Recht fragen, ob diese Wahrheit real ist, ob sie nicht vielmehr überholt, negiert, in Frage gestellt ist durch die Epopöe, in der das V olk sich einen neuen Weg zur Geschichte bahnt. In der L yrik können w ir zu den gleichen Feststellungen kommen. Nach der assimilationistischen Phase der gereimten L y rik bricht der poetische Tam -Tam -Rhythm us aus. Eine L y rik der Revolte, aber eine analytische, beschreibende L yrik . D er Lyriker muß jedoch erkennen, das nichts das rationale und endgültige Engagement an der Seite des bewaffneten Volkes ersetzen kann. Zitieren w ir noch einmal Depestre: D ie Dame w ar nicht allein Sie hatte einen Gatten Einen Gatten der alles wußte Aber offen gesagt wußte er njchts Weil die K u ltur nicht ohne Konzessionen abgeht

Eine Konzession seines Fleisches und seines Blutes Eine Konzession seiner selbst an die anderen Eine Konzession, die aufw iegt D ie Klassik und Romantik U nd all das, womit man unseren Geist tränkt.

Rene Depestre, >Face ä la nuit< D er kolonisierte Lyriker, der sich damit beschäftigt, ein nationales Werk zu schaffen, der sich hartnäckig bemüht, sein V o lk zu beschreiben, verfehlt sein Ziel, denn er ist nicht bereit, bevor er dichtet, jene grundlegende K o n ­ zession zu machen, von der Depestre spricht. D er französische Lyriker Ren£ C har hat das wohl verstanden, wenn er daran erinnert: »Das G e­ dicht entsteht aus einer subjektiven Auflage und einer objektiven Wahl. Das Gedicht ist eine sich entwickelnde Ansammlung von bestimmenden ursprünglichen Werten in zeitgenössischen Beziehungen zu jemandem, den diese Situation zum ersten macht« (Ren£ Char, Partage formet). J a , die erste Aufgabe des kolonisierten Lyrikers ist es, das Sujet »Volk« seines Werkes k lar zu bestimmen. M an kann nicht entschlossen vorw ärts­ gehen, wenn man sich nicht zunächst seiner Entfremdung bewußt wird. W ir haben alles von der falschen Seite her angefaßt. D ie falsche Seite gibt uns nichts, als daß sie uns auf tausend Umwegen in ihre Richtung zurückführt, uns durch tausend Tricks, tausend Listen anzieht, verführt, gefangenhält. Ergreifen heißt in mancher Hinsicht auch ergriffen sein. Es genügt also nicht, daß man sich loszumachen versucht, indem man P ro­ klamationen und Ablehnungen anhäuft. Es genügt nicht, sich mit dem V o lk in jener Vergangenheit zu verbinden, in der es nicht mehr ist, son­ dern man muß sich ihm in jener schwankenden Bewegung anschließen, die es gerade angefangen hat und von der her alles plötzlich in Frage gestellt wird. A n diesen O rt einer verborgenen Gleichgewichtsstörung, in der sich das V o lk befindet, müssen w ir uns begeben, denn dort, daran besteht kein Zw eifel, überzieht sich seine Seele mit R eif, dort beginnt seine W ahr­ nehmung und sein Atem zu leuchten. K eita Fodeba, heute Innenminister der Republik Guinea, hat sich, als er Leiter der Afrikanischen Ballette war, nicht um die R ealität gedrückt, die ihm das V plk von Guinea bot. In einer revolutionären Perspektive hat er alle rhythmischen Formen seines Landes neu interpretiert. Aber er hat noch mehr getan. In seinem wenig bekannten lyrischen Werk findet man das ständige Streben, den historischen Moment des Kam pfes zu präzisieren,

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das Feld, in dem sich die Aktion abspielen wird, abzustecken, die Ideen, um die sich der Wille des Volkes kristallisiert, zum Sprechen zu bringen. H ier ist ein Gedicht von Keita Fodeba, eine authentische Aufforderung zur Reflexion, zur Entmystifizierung, zum Kam pf.

Afrikanische Morgendämmerung Gitarrenmusik

Es war in der Morgendämmerung, Der kleine Weiler, der die halbe Nacht hindurch zum Klang der Tam-Tams getanzt hatte, wachte hach und nach auf . Die flötenspielenden Hirten in Lumpen trieben die Herden ins Tal. Die mit Canaris ausgerüsteten Mädchen gingen im Gänsemarsch auf dem gewundenen Pfad zur Qüelle. Im H of des Marabuten summte eine K in­ dergruppe im Chor Verse aus dem Koran. Gitarrenmusik

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Es war in der Morgendämmerung. Kam pf des Tages mit der Nacht. Aber die Nacht war so erschöpft, daß sie nicht mehr konnte und langsam ver­ ging, Einige Sonnenstrahlen als Vorboten dieses Sieges des Tages tauchten schüchtern und bleich am Horizont auf, die letzten Sterne schwammen sanft unter Wolkenbergen dahin , gleich blühenden Feuertulpen, Gitarrenmusik

Es war in der Morgendämmerung, Und unten am Grund der weiten Ebene mit purpurnen Rändern die Silhouette eines gebückten Mannes, der sein Land bebaut: die Silhouette von Namany dem Bauern, Bei jedem Schlag seiner Daba flatterten die aufgescheuchten Vogel auf und erreichten pfeilschnell die friedlichen Ufer des Dscholiba, des großen Flusses Niger, Seine betaute graue Baumwollhose schlug das Gras zu beiden Seiten zu­ rück. Er schwitzte, unermüdlich, immer gebückt, geschickt sein Werkzeug handhabend; denn sein Korn mußte vor der nächsten Regenzeit einge­ bracht werden. Coramusik

Es war in der Morgendämmerung. Immer noch in der Morgendämmerung. Die Vögel flatterten in den Blättern herum und kündigten den Tag an. A u f dem feuchten Pfad der Ebene lief ein K ind, seinen kleinen Köcher über der Schulter, atemlos auf Naman zu. »Bruder Naman*, rief es ihn an, »der Häuptling des Dorfes ruft euch unter den Palaverbaum.* Coramusik

Überrascht über eine so frühe Vorladung legte der Bauer sein Werkzeug hin und ging auf den Weiler zu, der jetzt im Glanz der aufgehenden i 74

Sonne leuchtete. Schon hatten die Alten, ernster denn je, Platz genommen. Neben ihnen saß unbeweglich ein Mann in Uniform, ein Gendarm, und rauchte ruhig seine Pfeife. Coramusik

Naman nahm auf einem Schaffell Platz. Der Herold des Häuptlings erhob sich, um der Versammlung den Willen der Alten mitzuteilen: »Die Weißen haben einen Gendarmen geschickt, um einen Mann des Dorfes zu holen, der in ihrem Land in den Krieg ziehen soll. Die Notabein haben nach ihrer Beratung beschlossen, den repräsentativsten jungen Mann un­ serer Rasse auszuwählen, damit er in der Schlacht der Weißen von dem Mut zeugen kann, der unser Mandingo-Volk stets ausgezeichnet hat.* Gitarrenmusik

Naman, dessen imposante Statur und sichtliche Muskelstärke die Mädchen jeden Abend in harmonischen Strophen lobten, wurde offiziell ausgewählt. Die sanfte Kadia, seine junge Frau, hörte, entsetzt über diese Nachricht, plötzlich auf, ihren Mörser zu stampfen, trug ihn auf den Speicher und schloß sich wortlos in ihre Hütte ein, um mit erstickten Schluchzern ihr Unglück zu beweinen. Nachdem der Tod ihr den ersten Mann geraubt hatte, konnte sie es nicht fassen, daß die Weißen ihr Naman Wegnahmen, auf dem jetzt alle ihre Hoffnungen ruhten. Gitarrenmusik

Trotz ihren Tränen und Klagen wurde Naman am folgenden Tag vom ernsten Ton des Kriegs-Tam-Tams zum kleinen Hafen des Dorfes beglei­ tet, wo er sich auf einem Kahn zum Hauptort des Kreises einschiffte. An­ statt wie gewöhnlich auf dem D orf platz zu tanzen, kamen die Mädchen nachts in Namans Vorzimmer, um dort zu wachen und bis zum Morgen an einem Holzfeuer Geschichten zu erzählen. Gitarrenmusik

Mehrere Monate gingen dahin, ohne daß irgendeine Nachricht von Naman im Weiler eintraf. Die kleine Kadia beunruhigte sich so sehr, daß sie beim Medizinmann des Nachbardorfes Trost suchte. Selbst die Alten hatten über dieses Thema eine kurze Zusammenkunft, von der nichts durch­ sickerte. Coramusik

Eines Tages kam endlich ein Brief von Naman an die Adresse von Kadia im Dorfe an. Voll Sorge über das Schicksal ihres Mannes machte sich diese noch in derselben Nacht auf eine mühselige Wanderung zum Hauptort des Kreises, wo ein Übersetzer ihr das Schreiben vorlas.

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Naman war in Nordafrika, bei guter Gesundheit, und er erkundigte sich nach der Ernte, den Festen, den Tänzen, dem Palaverbaum, dem D o rf. . . Balafong

In dieser Nacht gewährten die Gevatterinnen der jungen Kadia die Gunst, ihren gewohnheitsmäßigen Abendpalavern im H of ihrer Ältesten beizu­ wohnen. Der Häuptling des Dorfes, glücklich über die Nachricht, ver­ anstaltete für alle Bettler der Umgebung ein Festmahl. Balafong

Wieder gingen mehrere Monate dahin, und alle wurden wieder ängstlich, denn von Naman erfuhr man nichts. Kadia wollte gerade noch einmal den Medizinmann konsultieren, als sie einen zweiten Brief erhielt, Naman war in Korsika und Italien gewesen und jetzt in Deutschland, und er pries sich glücklich, schon einen Orden erhalten zu haben, Balafong

Ein anderes Mal kam eine einfache Karte, die mit teilte, daß Naman von den Deutschen gefangengenommen worden war. Diese Nachricht lastete mit ihrem ganzen Gewicht auf dem Dorf. Die Alten hielten einen Rat ab und beschlossen, daß Naman von jetzt an berechtigt sei, den Douga zu tanzen, jenen heiligen Tanz des Geiers, den niemand tanzen darf, der nicht eine große Tat vollbracht hat, jenen Tanz der Malinkeskaiser, bei dem jeder Schritt eine Etappe der Geschichte des Mali darstellt. Für Kadia war es ein Trost zu sehen, wie ihr Mann zur Würde der Helden des Lan­ des erhoben wurde. Gitarrenmusik

Die Zeit verstrich . . . Es vergingen zwei Ja h r e . . . Naman war immer noch in Deutschland. Er schrieb nicht mehr. Gitarrenmusik

Eines Tages erhielt der Häuptling des Dorfes einige Zeilen aus Dakar, die die bevorstehende Ankunft von Naman ankündigten. Sofort dröhnten die Tam-Tams. Man tanzte und sang bis zum Morgengrauen. Die Mäd­ chen erfanden neue Weisen für seinen Empfang, denn die alten, die ihm gewidmet waren, sagten nichts über den Douga, diesen berühmten Tanz des Mandingo-Volkes. Tam-Tam

Aber einen Monat später schrieb der Gefreite Moussa, ein guter Freund von Naman, diesen tragischen Brief an Kadia: »Es war in der Morgen­ dämmerung. Wir waren in Tiaroye-sur-Mer. Im Laufe eines großen Strei­

test den wir mit unseren weißen Führern von Dakar hatten, hat eine Kugel Naman verraten. E r ruht in senegalesischer Erde.* Gitarrenmusik

Tatsächlich, es war in der Morgendämmerung. Die ersten Sonnenstrahlen, die gerade die Oberfläche des Meeres streiften, vergoldeten seine kleinen Kräuselwellen. Beim Wind der Brise neigten die Palmen , wie angewidert von diesem morgendlichen Kam pf , ihre Stämme sanft nach dem Ozean, ln lärmenden Schwärmen verkündigten die Raben mit ihrem Gekrächz der Umgebung die Tragödie, die die Morgendämmerung von Ttaroye mit Blut tränkte . . . Und im brennenden Azur , genau über dem Leichnam Namans, schwebte schwer ein riesiger Geier. E r schien ihm zu sagen: »Naman! Du hast diesen Tanz nicht getanzt, der meinen Namen trägt. Andere werden ihn tanzen.* Coramusik Wenn ich dieses lange Gedicht ausgewählt habe, so wegen seines unbe­ streitbaren pädagogischen Wertes. H ier sind die Dinge klar. Es ist ein genaues, fortschreitendes Expose. Das Verstehen des Gedichtes ist nicht nur ein intellektueller Prozeß, sondern auch ein politischer. Dieses Gedicht verstehen heißt die Rolle verstehen, die man zu spielen hat, sein eigenes Verhalten erkennen, seine Waffen schärfen. Es gibt keinen Kolonisierten, der die in diesem Gedicht enthaltene Botschaft nicht hörte, Nam an, der H eld der europäischen Schlachtfelder, Nam an, der nicht aufhörte, dem Mutterland Macht und Dauer zu sichern, Nam an, von den Polizeikräften durch Maschinengewehrfeuer erschossen, als er mit seiner heimatlichen Erde wieder in Verbindung treten w ill, das ist S£tif 1945, Fort-de-France, Saigon, D akar, Lagos. A lle diese N eger und diese »Bicots«, die für die Verteidigung der Freiheit Frankreichs oder der britischen Zivilisation ge­ kämpft haben, finden sich in diesem Gedicht von K eita Fodeba wieder. A ber K eita Fodeba sieht noch weiter. Nachdem der Kolonialismus die Autochthonen auf den Schlachtfeldern benutzt hatte, benutzt er sie nun als alte Käm pfer, um die Unabhängigkeitsbewegungen zu brechen. Die Vereine dieser ehemaligen Käm pfer gehören in den Kolonien zu den antinationalsten Kräften, die es gibt. Der Lyriker K eita Fodeba unter­ stützte den Innenminister der Republik Guinea darin, die vom fran­ zösischen Kolonialismus organisierten Komplotte zu vereiteln. M it H ilfe der ehemaligen Käm pfer wollten näihlich die französischen Geheimdienste die junge guineische Unabhängigkeit brechen.

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Wenn der Kolonisierte, der für sein V olk schreibt, die Vergangenheit benutzt, dann muß er es in der Absicht tun, die Zukunft zu öffnen, zur Aktion aufzufordern, die Hoffnung zu begründen. Aber um die Hoffnung zu sichern, um ihr Dichte zu geben, muß man an der Aktion teilnehmen, sich mit Leib und Seele dem nationalen K am pf verschreiben. Man kann von allem sprechen, aber wenn man von dieser einzigen Sache im Leben eines Menschen sprechen w ill, die darauf zielt, den H orizont zu öffnen, das Licht ins eigene Haus zu tragen, sich selbst und sein V olk aufzurich­ ten, dann muß man mit seinen Muskeln mitkämpfen. Die Verantwortung des kolonisierten Intellektuellen ist keine Verant­ wortung gegenüber der nationalen Kultur, sondern eine allgemeine V er­ antwortung gegenüber der ganzen N ation, von der die Kultur letztlich nur ein Aspekt ist. D er kolonisierte Intellektuelle d arf sich nicht damit beschäftigen, sich die Ebene seines Kam pfes auszusuchen, den Sektor, in dem er den nationalen K am pf zu führen gedenkt. Sich für die nationale Kultur schlagen heißt zunächst, sich für die Befreiung der N ation, der materiellen Stammutter schlagen, durch die die K u ltur erst möglich wird. Es gibt keinen kulturellen K am pf neben dem K am pf des Volkes. A ll diese Männer und Frauen zum Beispiel, die mit bloßen Fäusten gegen den französischen Kolonialismus in Algerien kämpfen, sind der nationalen algerischen Kultur nicht fremd. D ie algerische N ationalkultur nimmt im Laufe der Käm pfe Gestalt an, im Gefängnis, vor der Guillotine, in den eroberten und zerstörten französischen Mjlitärposten. Es genügt also nicht, in der Vergangenheit des Volkes unterzutauchen, um hier Elemente einer Kohärenz gegenüber den verfälschenden und ab­ gewerteten Unternehmungen des Kolonialismus zu finden. Man muß im gleichen Rhythmus arbeiten und kämpfen wie das Volk, um die Zukunft zu gestalten und den Boden vorzubereiten, auf dem schon starke Schöß­ linge sprießen. Die nationale Kultur ist nicht jene Folklore, in der ein abstrakter Populismus die Wahrheit des Volkes hat entdecken wollen. Sie ist nicht jene versteinerte Masse reiner Gesten, die weniger und weniger mit der gegenwärtigen Realität des Volkes vereinbar sind. D ie nationale Ku ltur ist die Gesamtheit der Anstrengungen, diö ein V olk im geistigen Bereich macht, um die Aktion zu beschreiben, zu rechtfertigen und zu besingen, in der es sich begründet und behauptet hat. In den unterent­ wickelten Ländern muß sich die nationale K u ltur also ins Zentrum des Befreiungskampfes selbsj stellen. Die afrikanischen Intellektuellen, die sich noch im Namen der negro-afrikanischen K u ltu r schlagen, die im N a ­

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men der Einheit dieser K u ltur zahllose Kongresse abgehalten haben, müssen sich heute bewußt werden, daß ihre Tätigkeit sich darauf reduziert hat, Bruchstücke miteinander zu konfrontieren oder Sarkophage zu ver­ gleichen. Es gibt keine Schicksalsgemeinschaft der senegalesischen und guineischen Nationalkulturen, aber eine Schicksalsgemeinschaft der guineischen und senegalesischen Nationen, die von demselben französischen Kolonialismus beherrscht wurden. Wenn die senegalesische N ationalkultur der guineischen N ationalkultur ähneln soll, so genügt es nicht, daß die Führer der beiden Völker beschließen, die Probleme in verwandten Perspektiven zu stellen: das Problem der Befreiung, die Gewerkschaftsprobleme, die ökonomischen Probleme. Selbst dann kann es keine absolute Identität geben, denn der Rhythmus des Volkes ist nicht der seiner Führer. Es kann keine streng identischen Kulturen geben. Sich vorstellen, daß man eine schwarze K ultur schaffen w ird, heißt vo r allem vergessen, daß der Neger im Begriff ist, zu verschwinden, weil diejenigen, die ihn ge­ schaffen haben, der Auflösung ihrer ökonomischen und kulturellen V o r­ herrschaft beiwohnen.2 Es w ird keine schwarze K u ltur geben, weil kein Politiker sich einbildet, dazu berufen zu sein, schwarze Republiken ent­ stehen zu lassen. Das Problem besteht darin, den Platz zu kennen, den diese Männer ihrem V olk einzuräumen beabsichtigen, die A rt der sozialen Beziehungen, die sie im Sinne haben, die Vorstellung, die sie sich von der Zukunft der Menschheit machen. Das allein zählt. Alles übrige ist Litera­ tur und M ystifikation. 1959 haben die in Rom versammelten afrikanischen Intellektuellen immer wieder von der Einheit gesprochen. Aber einer der größten Sänger dieser kulturellen Einheit, Jacques Rabemananjara, ist heute Minister der Regie­ rung von M adagaskar und hat als solcher mit seiner Regierung beschlos­ sen, in der Vollversammlung der Vereinten Nationen gegen das algerische V olk Stellung zu nehmen. Wenn Rabe sich selber treu wäre, hätte er zurücktreten und die Männer verurteilen müssen, die den Willen des 2 Bei der letzten Preisverteilung in Dakar hat der Präsident der Republik Sene­ gal, Leopold Senghor, vorgeschlagen, die Untersuchung des Begriffs der N£gritude auf das Programm zu setzen. Wenn der vom Präsidenten der Republik Senegal ausgedrückte Wunsch historischer Art ist, kann man damit nur einverstanden seinrWenn es jedoch darum geht, ein schwarzes Bewußtsein zu fabrizieren, so bedeutet das ganz einfach, der Geschichte, die schon das Verschwinden der Mehr­ heit der Neger zur Kenntnis genommen hat, den Rücken zu kehren.

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madegassischen Volkes zu verkörpern behaupten. Die 90000 Toten von M adagaskar haben Rabe nicht den A uftrag gegeben, sich auf der V ollver­ sammlung der Vereinten Nationen den Bestrebungen des algerischen V o l­ kes zu widersetzen. D ie negro-afrikanische Kultur, verdichtet sich um den K am pf der Völker und nicht um Gesänge, Gedichte oder um Folklore. Senghor, der Mitglied der Societe Africaine de Culture ist und mit uns an der Frage der afrik a­ nischen Kultur zusammengearbeitet hat, hat sich ebenfalls nicht gescheut, seiner Delegation die Weisung zu geben, die französischen Thesen über Algerien zu unterstützen. Die Zugehörigkeit zur negro-afrikanischen K u l­ tur, zur kulturellen Einheit A frikas besteht zunächst in einer bedingungs­ losen Unterstützung des Befreiungskampfes der Völker. Man kann nicht die Ausbreitung der afrikanischen Ku ltur wollen, wenn man nicht konkret zur Existenz der Bedingungen dieser Ku ltur beiträgt, das heißt zur Befrei­ ung des Kontinents. Ich sage, keine Rede, keine Proklam ation über die K u ltur w ird uns von unseren Hauptaufgaben ablenken: der Befreiung des nationalen Terri­ toriums, dem unablässigen K am pf gegen die neuen Formen des Kolonia­ lismus und der hartnäckigen Weigerung, uns am G ipfel gegenseitig zu bewundern.

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Gegenseitige Begründung von Nationalkultur und Befreiungskampf

D a die Kolonialherrschaft total und nivellierend ist, hat sie es in kurzer Zeit geschafft, die kulturelle Existenz des unterdrückten Volkes gründlich zu zerrütten. Die Negation der nationalen Realität, die durch die Besat­ zungsmacht eingeführten neuen juristischen Verhältnisse, die Verdrängung der Eingeborenen und ihrer Gebräuche an die Peripherie der kolonialen Gesellschaft, die Enteignung, die systematische Unterjochung der Männer und Frauen machen dieses Verbleichen der K u ltur möglich. V or drei Jahren habe ich auf unserem ersten Kongreß dargelegt, wie in der kolonialen Situation jede Dynam ik sehr schnell einer Erstarrung weicht. D er kulturelle Bereich w ird abgeteilt durch Schutzgitter und Weg­ weiser. Es sind Abwehrmechanismen elementarster A rt, die sich in mehr als einer H insidit auf einen bloßen Selbsterhaltungstrieb beschränken. Das Kennzeichen dieser Periode ist, daß sich der Unterdrücker nicht mehr mit der objektiven Nichtexistenz der unterdrückten N ation und K u ltur zu­ friedengibt. E r macht alle Anstrengungen, um den Kolonisierten dazu zu bringen, die Minderwertigkeit seiner in instinktive Verhaltensweisen ab­ gesunkenen Kultur einzugestehen, die Unwirklichkeit seiner N ation zuzu­ geben und, im äußersten Fall, den unorganisierten und unvollendeten Charakter seiner eigenen biologischen Struktur. Die Aeaktion der Kolonisierten ist nicht einhellig. Während die Massen der kolonialen Situation die heterogensten Traditionen entgegenstellen, während sich der handwerkliche Stil in einem immer stereotyperen For­ malismus verfestigt, stürzt sich der Intellektuelle frenetisch in die kram pf­ hafte Aneignung der K ultur des Okkupanten, wobei er es nicht unterläßt, seine nationale K ultur abzuwerten, oder er verschanzt sich in der ausführ­ lichen, methodischen, leidenschaftlichen, und bald steril werdenden A u f­ zählung der Werte seiner eigenen Kultur. Beide Versuche laufen auf unerträgliche Widersprüche hinaus. Ob Über­ läufer oder Konsolidieren der Kolonisierte bleibt immer wirkungslos, eben weil keine strenge Analyse der kolonialen Situation vorgenommen wird. Die koloniale Situation bringt fast die gesamte nationale Kultur zum Erliegen. Im Rahmen einer Kolonialherrschaft w ird und kann es keine nationale Kultur, kein nationales Kulturleben, keine nationalen kulturellen Erfindungen oder Veränderungen geben. H ier und da tauchen 181

mutige Versuche auf, die kulturelle D ynam ik wieder in Schwung zu bringen, den Themen, Formen und Klangfarben eine neue Orientierung zu geben. Das unmittelbare, greifbare, evidente Ergebnis dieser vereinzelten Wiederbelebungsversuche ist jedoch gleich N ull. Aber wenn man ihre Nachwirkungen bis zur äußersten Grenze verfolgt, kann man erkennen, daß sich eine Erhellung des nationalen Bewußtseins, ein Infragestellen der Unterdrückung, eine Öffnung auf den Befreiungskampf hin vorbereitet. Unter der Kolonialherrschaft ist die N ationalkultur eine bestrittene K u l­ tur, deren Zerstörung systematisch betrieben wird, und sehr bald eine zur Illegalität verurteilte Kultur. Dieser Begriff der Illegalität w ird unmittel­ bar in den Reaktionen des Okkupanten erkennbar, der die Vorliebe für die Traditionen als Treue zum Geist der N ation, als Ablehnung der U nter­ werfung deutet. Schon dieses Festhalten an den von der Kolonialherrschaft verurteilten Formen der K ultur ist eine nationale Demonstration. Aber sie gehorcht dem Gesetz der Trägheit. Es kommt zu keiner Offensive, zu keiner Neubestimmung der Verhältnisse. Es kommt nur zu einer krampfhaften Anklammerung an einen Kern, der immer dürftiger, immer träger, immer leerer wird. Nach ein oder zwei Jahrhunderten der Ausbeutung kann man einen regelrechten Schwund im Panorama der nationalen K u ltur feststellen. Sie w ird zu einem Reservat motorischer Gewohnheiten, alter Traditionen der Kleidung, zerfallener Institutionen. Sie ist unbeweglich, unschöpfe­ risch, steril. Verelendung des Volkes, nationale Unterdrückung und Hem ­ mung der K ultur sind ein und dasselbe. Nach einem Jahrhundert K o lo ­ nialherrschaft findet man nur noch eine äußerst erstarrte, abgelagerte, versteinerte K ultur vor. D er V erfall der nationalen R ealität und die Agonie der nationalen K ultur sind voneinander abhängig. Deshalb w ird es entscheidend, die Entwicklung dieser Abhängigkeitsverhältnisse w äh­ rend des Befreiungskampfes zu verfolgen. D ie Verneinung der K ultur, die Verachtung motorischer oder emotionaler nationaler Demonstrationen, die Illegalität jeder Organisation tragen dazu bei, beim Kolonisierten aggressive Verhaltensweisen entstehen zu lassen. Aber diese Verhaltens­ weisen sind wenig differenzierte, anarchistische, unwirksame Reflexe. D ie koloniale Ausbeutung, das Elend, die ständige Hungersnot treiben den Kolonisierten mehr und mehr zum offenen und organisierten K am pf. Nach und nach und unmerklich verdichtet sich die N otwendigkeit einer entscheidenden Auseinandersetzung und w ird von der großen Mehrheit

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des Volkes empfunden. Immer neue, vorher nicht existierende Spannun­ gen treten auf. Die internationalen Ereignisse, der um sich greifende Zusammenbruch der Kolonialreiche, die Widersprüche innerhalb des kolonialistischen Systems unterhalten und verstärken die Kampfbereitschaft, lassen ein nationales Bewußtsein entstehen und geben ihm Kraft. Diese auf allen Stufen der kolonialen Realität vorhandenen neuen Span­ nungen haben Rückwirkungen auf die Kultur. In der autochthonen Lite­ ratur zum Beispiel kommt es zu einer relativen Überproduktion. Sie differenziert sich und w ird aus einer minderwertigen R eplik auf die Beherrschung, die sie früher w ar, zu einem partikularisierenden Willen. Die Intelligenz, die während der Unterdrückungsperiode wesentlich rezeptiv w ar, w ird jetzt produktiv. Diese Literatur beschränkt sich zu­ nächst gern auf das lyrische und tragische Genre. Später bringt sie auch Romane, Erzählungen und Essays hervor. Es scheint eine A rt innere O rga­ nisation, ein Ausdrucksgesetz zu sein, daß sich die lyrischen Äußerungen in dem Maße verringern, wie sich die Ziele und Methoden des Freiheits­ kampfes präzisieren. D ie Themen werden von Grund auf erneuert. T at­ sächlich stößt man immer weniger auf jene bitteren und verzweifelten A nklagen, jene Ausbrüche einer tönenden Gew alt, die den Okkupanten, alles in allem, beruhigen. D ie Kolonialisten haben in der vorhergehenden Periode diese Versuche ermutigt und erleichtert. Tatsächlich werden bei­ ßende Anklagen, Schilderungen des Elends, Ausbrüche der Leidenschaft vom Okkupanten einer kathartischen Operation gleichgesetzt. Sie erleich­ tern heißt in gewisser Weise, die Dramatisierung vermeiden, die Atm o­ sphäre entspannen. Aber das kann nur eine Übergangssituation sein. D er Fortschritt des nationalen Bewußtseins im V olk verändert und präzisiert nämlich die literarischen Äußerungen des kolonisierten Intellektuellen. Das Zusam­ menwachsen des Volkes ist für ihn eine Aufforderung, über den bloßen Aufschrei hinauszukommen. D ie K lage stellt sich der Anklage, dann dem Appell. In der folgenden Periode taucht die Losung auf. Die K ristalli­ sation des nationalen Bewußtseins revolutioniert die literarischen Genres und Themen und schafft gleichzeitig ein vollständig neues Publikum. Während der kolonisierte Intellektuelle sich anfangs ausschließlich an die Adresse des Unterdrückers wandte, entweder um ihn zu bezirzen oder um ihn im Namen ethnischer oder subjektivistischer Kategorien anzu­ klagen, richtet er sich jetzt mehr und mehr an sein Volk.

Erst von diesem Moment an kann man von einer nationalen Literatur

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sprechen. Jetzt werden die typisch nationalen Themen aufgegriffen und verdeutlicht. Es ist eine wirkliche Kam pfliteratur, insofern sie ein ganzes V olk zum K am pf für die nationale Existenz aufruft. Eine Kam pfliteratur, weil sie das nationale Bewußtsein schult, ihm Form und Konturen ver­ leiht, ihm' neue und unbegrenzte Perspektiven eröffnet. Eine Kam pflite­ ratur, weil sie sich verantwortlich fühlt, weil sie verzeitlichter W ille ist. Auch die mündliche Literatur, die Märchen, Heldengesänge, Volkslieder von früher beginnen sich zu verändern. D ie Märchenerzähler beleben ihr bisher starres Repertoire von Episoden, führen immer entscheidendere Neuerungen ein, um die Konflikte zu aktualisieren, die besungenen Kam pfform en, Heldennamen und Waffenarten zu modernisieren. Die Technik der Anspielungen verbreitet sich. D ie Formel »Vor langer, langer Z e it . . . « w ird ersetzt durch die zweideutige Formel »Was w ir erzäh­ len wollen, hat sich irgendwo abgespielt, aber es könnte sich auch hier abspielen, heute oder morgen«. Das algerische Beispiel ist in dieser H in­ sicht bezeichnend. Von 1952/53 an revolutionierten die Märchenerzähler ihre stereotypen und langweiligen Vortragsmethoden und den Itihalt ihrer Erzählungen von Grund auf. Das früher nur spärliche Publikum w ird kompakt. Das Heldenlied mit seinen alten Typisierungskategorien taucht wieder auf. Es ist ein wirkliches Schauspiel, das wieder einen kulturellen Wert gewinnt. D er Kolonialismus hat sehr wohl gewußt, warum er diese Märchenerzähler von 1955 an systematisch verhaften ließ. Die Anteilnahme des Volkes an dem neuen Heldenepos ruft einen neuen Atemrhythmus, vergessene Muskelspannungen hervor und bereichert die Vorstellungswelt. Jedesmal, wenn der Erzähler seinem Publikum eine neue Episode darbietet, kann man einer regelrechten Anrufung beiwoh­ nen. Dem Publikum w ird die Existenz eines neuen Menschentyps offen­ bart. Die Gegenwart ist nicht mehr über sich selbst geschlossen, sondern offengelegt. Der Erzähler läßt seiner Phantasie freien L au f, erfindet, w ird schöpferisch. Es kommt sogar vor, daß Figuren, die sich für eine solche Veränderung schlecht eignen, wie Straßenräuber oder mehr oder weniger asoziale Wegelagerer, aufgegriffen und umgemodelt werden. In einem kolonisierten Land muß man Schritt für Schritt das Auftauchen der Phan­ tasie, die Neuschöpfung in den Volksliedern, Balladen und Sagen ver­ folgen. D er Erzähler nähert sich allmählich der Erwartung des Volkes und gelangt, scheinbar allein, in Wirklichkeit aber von den Anwesenden unterstützt, zur Suche neuer Vorbilder, nationaler Vorbilder. Komödie und Farce verschwinden oder verlieren ihren Reiz. Die Dramatisierung

spielt sich nicht mehr im krisenhaften Bewußtsein des Intellektuellen ab. Da sie den Charakter der Verzweiflung und der R evolte verloren hat, ist sie zum gemeinsamen Schicksal des Volkes geworden: Teil einer sich vo r­ bereitenden oder schon ablaufenden Aktion. Auch im Kunsthandwerk geraten die abgelagerten und erstarrten Formen in Bewegung. Die Holzschnitzerei zum Beispiel, die in Tausenden von Exemplaren immer wieder bestimmte Gesichter oder bestimmte Posen dargestellt hatte, w ird differenzierter. Die ausdruckslose oder bedrückte Maske belebt sich, die Arme zeigen die Neigung, sich vom Körper zu lösen, eine Aktion anzudeuten. Kompositionen mit zwei, drei oder fünf Personen tauchen auf. Das lawinenhafle Auftreten von Amateuren oder Dissidenten zwingt die traditionellen Schulen, wieder schöpferisch zu werden. Diese neue K raft in diesem Bereich des kulturellen Lebens w ird sehr oft übersehen. Dennoch ist ihr Beitrag zum nationalen K am pf ent­ scheidend. D urdi die Belebung von Gesichtem und Körpern, durch die Darstellung einer Gruppe auf demselben Sockel fordert der Künstler zu einer organisierten Bewegung auf. Wenn man die Auswirkungen des erwachenden Nationalbewußtseins auf die Keram ik untersucht, kann man die gleichen Feststellungen treffen. Auch sie gibt ihren Formalismus auf. Krüge, Schalen und Teller verändern sich zunächst in ganz unmerklicher, dann aber in auffälliger Weise. Die früher auf eine kleine Zahl beschränkten Einfärbungen, die traditionellen Gesetzen der Harmonie gehorchten, vermehren sich unter der Auswirkung des revolutionären Aufschwungs. Bestimmte Ockerfarben, bestimmte Blaus, die von aller Ew igkeit her innerhalb eines vorgegebenen kultu­ rellen Bereichs verboten schienen, setzen sich ohne Skandal durch. Ebenso wird die Nichtdarstellung des menschlichen Gesichts, die, den Ethnologen zufolge, für manche Gebiete charakteristisch ist, plötzlich zu einem ganz relativen Prinzip. Die Spezialisten des Mutterlandes entdecken diese V er­ änderungen sehr rasch und verurteilen sie insgesamt im Namen eines kodifizierten Stils, eines kulturellen Lebens, wie es sich im Rahmen der Kolonialsituation entwickelt hatte. Sie erkennen die neuen Formen nicht an, sie kommen den Traditionen der autochthonen Gesellschaft zu H ilfe. Die Kolonialisten sind es, die sich zu Verteidigern des Eingeborenenstils aufwerfen. M an erinnert sich noch gut daran (und das Beispiel hat eine gewisse Bedeutung, weil es sich hier nicht um eine rein koloniale Realität handelt), wie die weißen Jazz-Spezialisten reagierten, als sich nach dem zweiten W eltkrieg neue Stile, wie der Bebop, herauskristallisierten. D er

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Ja z z durfte nämlich nur die gebrochene und verzweifelte Wehmut eines alten Negers zwischen zwei Whiskies sein, die Verfluchung seiner selbst und der Rassenhaß der Weißen. Sobald der N eger sich und die Welt anders wahrnimmt, die Hoffnung aufkeimen läßt und von der rassistischen Welt Abstand gewinnt, verliert seine Trompete natürlich den gestopften K lang und seine Stimme die Heiserkeit. D ie neuen Stile des Ja z z sind nicht nur ein Produkt der wirtschaftlichen Konkurrenz; man muß in ihnen ganz zweifellos auch eine der Folgen der unvermeidlichen, wenn auch lang­ samen N iederlage der Welt der Südstaaten in den U S A sehen. U nd es ist keine Utopie, wenn man annimmt, daß in etwa 50 Jahren der Ja z z als abgehackter Aufschrei eines armen verfluchten Negers nur noch von den Weißen verteidigt werden w ird, die als einzige an dem erstarrten B ild einer bestimmten Verhaltensweise, einer bestimmten Form der N £gritude festhalten werden. Im Tanz, im Lied, in den traditionellen Riten und Zeremonien entdeckt man denselben Aufschwung, dieselben Veränderungen, dieselbe Ungeduld. Lange vor der politischen oder bewaffneten Phase des nationalen K am p­ fes kann ein aufmerksamer Leser also spüren und sehen, wie sich die neue K raft, der bevorstehende K am pf ankündigt. Ungewohnte Formen des Ausdrucks, neue Themen, denen nicht mehr nur die Macht der Anrufung eignet, sondern die der Versammlung, der Zusammenrufung »im Hinblick auf . . . « Alles trägt dazu bei, die Sensibilität des Kolonisierten zu wecken, die kontemplativen oder verzweifelten Haltungen unaktuell und unan­ nehmbar zu machen. Indem der Kolonisierte die Intentionen und die D ynam ik des Kunsthandwerks, des Tanzes und der Musik, der Literatur und des mündlich überlieferten Heldengesanges erneuert, gewinnt auch seine Wahrnehmung eine andere Struktur. D ie Welt verliert ihren Fluch. A lle Bedingungen für die unvermeidliche Auseinandersetzung treten zu­ sammen. W ir haben das Auftauchen der Bewegung in den Äußerungen der Kultur erlebt. W ir haben gesehen, daß diese Bewegung, diese neuen Formen mit der Reifung des Nationalbewußtseins zusammenhingen. Sie streben indessen mehr und mehr danach, sich zu objektivieren, sich zu institutionalisieren. Daher die Notwendigkeit einer nationalen Existenz um jeden Preis. Es ist ein übrigens schwer erträglicher Fehler, im Rahmen der K olonial­ herrschaft kulturelle Erfindungen zu versuchen und die autochthone K u l­ tur aufzüwerten. Daher kommen w ir zu einer paradox wirkenden Be­ hauptung: in einem kolonisierten Land ist der elementarste, brutalste,

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undifferenzierteste Nationalismus die glühendste und wirksamste Form einer Verteidigung der N ationalkultur. Die K u ltur ist zunächst Ausdrude einer N ation, ihrer Vorlieben, ihrer Tabus, ihrer Vorbilder. A u f jeder Stufe der Gesellschaft entstehen andere Tabus, andere Werte, andere V o r­ bilder. Die nationale K ultur ist die Summe aller dieser Wertungen, die Resultante der inneren und äußeren Spannungen der gesamten Gesell­ schaft und ihrer verschiedenen Schichten. D a die K u ltur in der K olonial­ situation der doppelten Unterstützung der N ation und des Staates beraubt ist, gerät sie in V erfall und Agonie. Die Existenzbedingung der Kultur ist also die nationale Befreiung, die Wiedergeburt des Staates. Die N ation ist nicht nur Bedingung der Kultur, ihres Aufschwungs, ihrer ständigen Erneuerung, ihrer Vertiefung. Sie ist auch eine Notwendigkeit. Der K am pf für die nationale Existenz gibt zunächst die K u ltur frei, öffnet ihrer Produktion die Türen. Später w ird dann die N ation der K u ltur die Existenzbedingungen und den Rahmen für ihren Ausdruck sichern. Die N ation vereinigt die verschiedenen, unentbehrlichen Elemente, die als einzige der Kultur Glaubwürdigkeit, Gültigkeit, Dynam ik und Schöp­ fungskraft verleihen können. U nd es ist ihr nationaler Charakter, der die Kultur auch für andere Kulturen zugänglich macht und es ihr ermöglicht, andere Kulturen zu beeinflussen und in sie einzudringen. Was nicht exi­ stiert, kann kaum auf das Reale einwirken. Zunächst muß die Wiederher­ stellung der N ation der nationalen K u ltur das Leben geben, und zw ar im biologischen Sinne des Ausdrucks. Wir haben die immer stärkere Sprengung der alten kulturellen Ablage­ rungen verfolgt und die Erneuerung des Ausdrucks, das Ankurbeln der Phantasie am Vorabend des entscheidenden Kam pfes um die nationale Befreiung erlebt. Hier stellt sich jedoch eine entscheidende Frage. Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen dem Kam pf, dem politischen oder bewaffneten K o n ­ flikt, und der Kultur? Kommt während des Konflikts das kulturelle Leben zum Erliegen? Ist der nationale K am pf eine Äußerung der Kultur? Oder muß man sagen, daß der Befreiungskampf, mag er auch nachträglich für die Kultur fruchtbar sein, in sich selbst die K u ltur negiert? Ist der Be­ freiungskampf ein kulturelles Phänomen oder nicht? Wir sind der Meinung, daß der organisierte und bewußte K am p f eines kolonisierten Volkes um die Wiederherstellung der nationalen Souverä­ nität die stärkste Äußerung einer Kultur ist, die es überhaupt gibt. Nicht

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allein der E rfolg des Kam pfes verleiht der K ultur Gültigkeit und K raft; sie w ird auch während des Kam pfes nicht einfrieren. Der K am pf selbst entwickelt in seinem A blauf und seinem inneren Prozeß die verschiedenen Richtungen der K ultur und deutet neue an. D er Befreiungskampf gibt der nationalen K ultur nicht ihren alten Wert und ihre früheren Konturen wieder: er strebt eine grundsätzliche Neuordnung der Beziehungen zw i­ schen den Menschen an und kann daher weder die Formen noch die In ­ halte der K u ltur unberührt lassen. Nach dem K am pf verschwindet nicht nur der Kolonialismus, sondern auch der Kolonisierte. Diese neue Menschlichkeit - für sich selbst und für die anderen - kann nicht umhin, einen neuen Humanismus zu definieren, der in den Zielen und den Methoden des Kam pfes vorgezeichnet ist. Ein K am pf, der alle Schichten des Volkes mobilisiert, der die Absichten und ungeduldigen Bestrebungen des Volkes ausdrückt, der nicht zögert, sich fast ausschließ­ lich auf dieses V olk zu stützen, muß zwangsläufig siegen. Sein Wert besteht darin, daß er ein Höchstmaß von günstigen Bedingungen für die Entwicklung der K ultur schafft. Wenn die nationale Freiheit unter diesen Bedingungen erkämpft worden ist, kann nicht jene so qualvolle kulturelle Unentschlossenheit herrschen, die man in einigen neuerlich unabhängig gewordenen Ländern antrifft, weil die N ation durch die A rt und Weise ihrer Entstehung und ihrer Existenz die K u ltur fundamental beeinflußt. Eine aus der bewußten Aktion des Volkes hervorgegangene N ation, die die realen Bestrebungen des Volkes verkörpert und den Staat verändert, kann nur in den Formen einer außergewöhnlichen kulturellen Fruchtbar­ keit existieren. D ie Kolonisierten, die sich um die K u ltur ihres Landes Sorgen machen und ihr eine universale Dimension geben wollen, dürfen sich nicht einfach auf das Prinzip der unvermeidlich eintreffenden Unabhängigkeit ver­ lassen, das dem Bewußtsein des Volkes nicht eingezeichnet ist. N ationale Befreiung als Ziel ist etwas anderes als die Methoden des Kam pfes und der Inhalt, den das V o lk ihm gibt. Auch die Zukunft der Kultur, auch der Reichtum einer N ationalkultur scheint uns eine Funktion der Werte zu sein, die den Befreiungskampf geprägt haben. H ier nun gilt es, das Pharisäertum gewisser Leute zu verurteilen. D er A n­ spruch auf N ationalität, hört man öfters sagen, gehört einer Phase an, die die Menschheit schon hinter sich hat. Die Stunde der großen Blöcke hat geschlagen, die Nachzügler des Nationalismus müssen ihre Fehler korri­ gieren. W ir sind vielmehr der Meinung, daß es ein folgenschwerer Fehler

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ist, die nationale Etappe überspringen zu wollen. Wenn die Kultur eine Äußerung des Nationalbewußtseins ist, so zögere ich für unseren Fall nicht, zu sagen, daß das Nationalbewußtsein die am meisten entwickelte Form der K ultur ist. Das Selbstbewußtsein ist kein Sichabsdiließen gegenüber der Kommuni­ kation. D ie philosophisdie Überlegung lehrt uns vielmehr, daß es deren Voraussetzung ist. N u r das Nationalbewußtsein, das kein Nationalismus ist, vermag uns eine internationale Dimension zu geben. In A frik a nimmt dieses Problem heute besondere Formen an. Die Geburt eines N ational­ bewußtseins läuft hier mit der Entstehung eines afrikanischen Bewußtseins parallel. D ie Verantwortlichkeit des Afrikaners gegenüber seiner N atio­ nalkultur ist zugleich eine Verantwortlichkeit gegenüber einer negroafrikanischen Kultur. Diese Koppelung ist kein metaphysisches Prinzip, sie ist das Bewußtsein von einem banalen Gesetz, demzufolge jede unab­ hängige afrikanische N ation, die dem Kolonialismus verhaftet bleibt, eine umzingelte, gebrechliche und ständig gefährdete N ation ist. Wenn der Mensch das ist, was er tut, dann besteht die dringlichste A u f­ gabe des afrikanischen Intellektuellen im Aufbau seiner Nation. Wenn dieser Aufbau w ahr ist, das heißt, wenn er den ausdrücklichen Willen des Volkes darstellt, die afrikanischen Völker in ihrer Ungeduld offenbart, dann ist er notwendig von der Entdeckung und Schaffung universalisierender Werte begleitet. Anstatt die N ation von den anderen Nationen zu entfernen, führt der nationale Befreiungskampf sie auf der Bühne der Geschichte ein. Innerhalb des Nationalbewußtseins entwickelt und belebt sich das internationale Bewußtsein. Und diese doppelte Entwicklung ist letztlich der Nährboden jeder Kultur.

Rede vor dem Zweiten Kongreß der Schwarzen Schriftsteller und Kunstler, Rom 1959.

j. Kolonialkrieg und psychische Störungen

Aber der K rieg geht weiter. U nd w ir werden noch jahrelang die viel­ fachen und manchmal unheilbaren Wunden zu verbinden haben, die unseren Völkern durch die kolonialistische Landplage zugefügt worden sind. D er Imperialismus, der heute gegen eine konkrete Befreiung der Menschen kämpft, hinterläßt überall Fäulniskeime, die w ir unerbittlich auf spüren und aus unseren Ländern und unseren Gehirnen ausmerzen müssen. W ir behandeln hier das Problem der psychischen Störungen, die aus dem nationalen Befreiungskrieg des algerischen Volkes entstanden sind. Solche psychiatrischen Anmerkungen w ird man in diesem Buch vielleicht unangebracht, ja ausgesprochen deplaciert finden. W ir können aber buch­ stäblich nichts dafür. Es hat nicht an uns gelegen, daß in diesem K rieg psychiatrische Erscheinungen, Störungen der Verhaltens- und Denkweisen bei den Akteuren der »Befriedung« oder innerhalb der »befriedeten« Bevölkerung eine solche Bedeutung angenommen haben. Tatsache ist, daß sich schon die Kolonisation als eine große Lieferantin für psychiatrische Kliniken erwiesen hatte. In verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten ha­ ben w ir seit 1954 die Aufmerksamkeit der französischen und internatio­ nalen Psychiater auf die Schwierigkeit gelenkt, einen Kolonisierten korrekt zu »heilen«, das heißt, ihn einem sozialen Mileu kolonialen Typs durch und durch homogen zu machen. Weil der Kolonialismus eine systematische Negation des anderen ist, eine blindwütige Entschlossenheit, dem anderen jedes menschliche Attribut abzustreiten, treibt er das beherrschte V olk dazu, sich ständig die Frage zu stellen: »Wer bin ich eigentlich?« Die Abwehrmechanismen, die aus dieser gewaltsamen Konfrontation des Kolonisierten mit dem Kolonialsystem entstehen, organisieren sich zu einer Struktur, in der sich die kolonisierte Persönlichkeit offenbart. Um diese »Empfindlichkeit« zu verstehen, braucht man nur die A nzahl und die Tiefe der Wunden zu untersuchen, die einem Kolonisierten während eines einzigen unter dem Kolonialregime verbrachten Tages zugefügt werden. M an muß vor allem daran denken, daß ein kolonisiertes V olk nicht einfach ein beherrschtes V olk ist. U nter der deutschen Besetzung sind die Franzosen durchaus Menschen geblieben. Unter der französischen

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Besetzung sind die Deutschen Menschen geblieben. In Algerien dagegen gibt es nicht nur eine Fremdherrschaft, sondern die buchstäbliche Ent­ schlossenheit, ein Gebiet einfach in Besitz zu nehmen. Die Algerier, die Frauen im »H aik«, die Palmenhaine und die Kam ele bilden das Panorama, die natürliche Kulisse für die Anwesenheit des Menschen, nämlich des Franzosen. Die feindliche, widerspenstige, zutiefst rebellische N atu r w ird in den Kolonien durch den Busch, die Moskitos, die Eingeborenen und die Fieber­ krankheiten repräsentiert. Die Kolonisierung ist gelungen, wenn diese ganze unbezähmbare N atur schließlich doch niedergezwungen ist. Eisen­ bahnlinien durch den U rw ald, Trockenlegung der Sümpfe, politische und wirtschaftliche Nichtexistenz der Eingeborenen - das ist in Wirklichkeit ein und dasselbe. Wenn in der Kolonisierungsperiode, in der es noch keinen bewaffneten Widerstand gibt, die Summe der schädlichen Reizungen eine bestimmte Schwelle überschreitet, brechen die Abwehrmechanismen der Kolonisierten zusammen; sie finden sich dann in beträchtlicher Anzahl in den psychia­ trischen Kliniken wieder. In dieser ruhigen Periode einer gelungenen K o lo­ nisierung gibt es also eine regelrechte und umfangreiche Psychopathologie, die unmittelbar von der Unterdrückung hervorgerufen wird. Heute ist der nationale Befreiungskrieg, den das algerische V olk seit sie­ ben Jahren führt, eben weil er für das V olk total ist, ein günstiger Boden für das Ausbrechen psychischer Störungen geworden.1 W ir führen hier einige algerische und französische Krankheitsfälle an, die w ir behandelt

1 In der Einführung zu unserem Buch Van V de la Revolution Algerienne, die in den beiden ersten Ausgaben nicht veröffentlicht wurde, haben wir schon darauf hingewiesen, daß die menschliche Hinterlassenschaft Frankreichs in Algerien eine ganze Generation von Algeriern sein wird, die vom willkürlichen und kollektiven Totschlag mit allen seinen psychoaffektiven Nachwirkungen geprägt ist. Jene Franzosen, die die Folter in Algerien verurteilen, nehmen ständig einen streng französischen Standpunkt ein. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung: Man will das Gewissen der gegenwärtigen und potentiellen Folterknechte retten und versucht, die moralische Zersetzung der französischen Jugend zu verhindern. Was uns angeht, können wir mit diesem Vorgehen nur einverstanden sein. Be­ stimmte, hier zusammengestellte Beobachtungen, besonders die Fälle 4 und 5 der Serie A, illustrieren und rechtfertigen in trauriger Weise diese Angst der fran­ zösischen Demokraten. Unsere Absicht ist es jedenfalls, zu zeigen, daß die er­ littene Folter, wie man sich leicht denken kann, die Persönlichkeit des Gefolterten zutiefst zerstört.

haben und die uns besonders bezeichnend erscheinen. Es versteht sich von selbst, daß w ir hier keine wissenschaftliche Arbeit liefern. Jede diagnostische, nosologische oder therapeutische Diskussion w ird beiseite gelassen. Die wenigen hier benutzten technischen Termini dienen einzig und allein als Markierungen. W ir müssen jedoch zwei Punkte besonders hervorheben: Im allgemeinen ordnet die klinische Psychiatrie die verschiedenen Stö­ rungen unserer Kranken unter die Rubrik »Reaktive Psychosen« ein. Sie konzentriert sich auf das Ereignis, das die Krankheit ausgelöst hat, mag auch hier und da die Rolle des Nährbodens (psychologische, affektive und biologische Geschichte des Patienten) und der Um welt erwähnt werden. In den hier behandelten Fällen scheint uns das auslösende Ereignis haupt­ sächlich die blutige und unbarmherzige Atmosphäre, die allgemeine V er­ breitung unmenschlicher Praktiken und der unabweisbare Eindruck zu sein, daß man einer wirklichen Apokalypse beiwohne. D er F all z der Serie A ist eine typische reaktive Psychose, aber die Fälle i, 2, 4 und 5 der Serie B lassen eine vielfältigere Kausalität zu, ohne daß man von einem besonderen auslösenden Ereignis sprechen könnte: es ist der Krieg, der oft den Charakter eines wahren Völkermordes annimmt. Es handelt sich um reaktive Psychosen, wenn man eine schon gebräuchliche Etikette benutzen w ill; man muß jedoch dem K rieg in seiner Totalität und in seiner Besonderheit eines Kolonialkriegs eine vorrangige Bedeutung beimessen. Nach den beiden großen Weltkriegen fehlte es nicht an Publi­ kationen über die Psychopathologie der in die militärische Aktion ver­ wickelten Soldaten und der Zivilisten, die das O pfer von Flucht und Bombardierung waren. D ie noch unbekannte Physiognomie bestimmter, hier angeführter psychiatrischer Krankheitsbilder bestätigt, sofern das überhaupt noch nötig ist, daß der Kolonialkrieg bis in seine Pathologie hinein sein eigenes Gesicht hat. Auch ein anderer sehr gebräuchlicher Begriff bedarf unserer Meinung nach einer leichten Dehnung: der der relativen Gutartigkeit von reaktioneilen Störungen. Es sind zw ar schon, wenn auch stets als etwas Außergewöhn­ liches, sekundäre Psychotisierungen festgestellt worden, das heißt Fälle, bei denen die Gesamtpersönlichkeit endgültig zerstört w ar. Bei uns jedoch schien die Bösartigkeit der pathologischen Prozesse die Regel zu sein. Es handelt sich um Störungen, die monatelang anhalten, das Ich in massive* Weise angreifen und fast immer eine mit bloßem Auge zu erkennende Brüchigkeit zurücklassen. Die Zukunft dieser Kranken ist jedenfalls ein-/ dcutig belastet. Ein Beispiel w ird unseren Standpunkt illustrieren. 192

In einem seit mehreren Jahren unabhängigen afrikanischen Land hatten w ir Gelegenheit, einen ehemaligen Widerstandskämpfer zu empfangen, einen Mann in den Dreißigern, der uns um R a t und H ilfe bat, weil sich beim Herannahen eines bestimmten Datums im Ja h r Schlaflosigkeit ein­ stelle, von Beklemmungen und überwertigen Selbstzerstörungsideen be­ gleitet. A n diesem kritischen Datum hatte er auf Befehl seiner Wider­ standsorganisation eine Bombe gelegt; zehn Personen hatten dabei den Tod gefunden.2 Dieser M ilitant, der keinen Augenblick auf die Idee kam, für seine ver­ gangene Aktion nicht mehr einzustehen, kannte sehr genau den Preis, den seine Person für die nationale Unabhängigkeit hatte zahlen müssen. Solche Grenzfälle werfen das Problem der Verantwortlichkeit im Rahmen der Revolution auf. D ie Erfahrungen, die w ir hier zitieren, betreffen die Periode von 1954 bis 1959. Einige der Patienten wurden in Algerien behandelt, entweder in Krankenhäusern oder in der Praxis, andere in den Sanitätsabteilungen der Nationalen Befreiungsarmee.

2 Die Umstände, unter denen diese Störungen auftraten, sind in mehr als einer Hinsicht interessant. Mehrere Monate, nachdem .sein Land unabhängig geworden war, machte er die Bekanntschaft einiger Angehöriger des ehemaligen Besatzungs­ landes. Er fand sie sympathisch. Diese Männer und Frauen begrüßten die er­ rungene Unabhängigkeit und bewunderten rückhaltlos den Mut der Patrioten im nationalen Befreiungskampf. Daraufhin erlitt unser Militant eine Art von Schwindelanfall. Er fragte sich voll Angst, ob sich unter den Opfern der Bombe nicht auch Leute hätten befinden können, die seinen Gesprächspartnern ähnlich waren. Gewiß, das betreffende Caf£ war ein Stammlokal notorischer Rassisten, aber nichts hinderte irgendeinen Passanten daran, ebenfalls einzutreten und etwas zu bestellen. Seit dem Tag dieses ersten Schwindelanfalls versuchte er, nicht mehr an die vergangenen Ereignisse zu denken. Paradoxerweise traten jedoch die ersten Störungen einige Tage vor dem kritischen Datum auf. Seitdem wiederholen sie sich regelmäßig. Anders gesagt, unsere Handlungen hören niemals auf, uns zu verfolgen, mögen auch ihr Charakter und ihre Motivierung sich hinterher als zutiefst modifiziert erweisen. Das ist eine jener Fallen, und nicht die geringste, die uns die Geschichte und ihre vielfachen Determinierungen stellen. Aber können wir dem Schwindel­ anfall entgehen? Wer wagte zu behaupten, daß das Schwindelgefühl nicht jede Existenz heimsucht?

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Serie A

H ier sind fünf Fälle zusammengestellt. Es handelt sich um Algerier und Europäer, bei denen nach ganz bestimmten Ereignissen reaktionelle psy­ chische Störungen aufgetreten sind.

Fall N r. i

Impotenz bei einem Algerier infolge der Vergewaltigung seiner Frau B. ist ein Mann von 2 6 Jahren. E r w ird uns vom Sanitätsdienst der Nationalen Befreiungsfront geschickt wegen heftiger M igräneanfälle und Schlaflosigkeit. E r ist ehemaliger Taxichauffeur und w ar seit seinem 18 . Lebensjahr in den nationalistischen Parteien aktiv. Seit 1955 ist er Mitglied einer Zelle der F .L .N . Bei mehreren Anlässen benutzt er sein T axi zur Beförderung von Flugblättern oder politischen Funktionären. A ls die Unterdrückung verschärft wird, beschließt die F .L .N ., den K rieg in die Stadtzentren zu tragen. B. hat den A uftrag, militärische Komman­ dos zu den Angriffspunkten zu bringen und oft auch auf sie zu warten. Eines Tages jedoch, nach einer relativ wichtigen Aktion, ist er mitten in der Europäerstadt durch eine äußerst gefährliche Umzinglung gezwun­ gen, sein T axi zu verlassen; das Kommando zerstreut sich und löst sich auf. B. gelingt es, dem Verfolgungsmanöver des Gegners zu entkommen, er taucht bei einem Freund unter und begibt sich, ohne seine Wohnung wiedergesehen zu haben, auf Befehl seiner Vorgesetzten in den nächsten Maquis. Mehrere Monte lang bleibt er ohne Nachrichten von seiner Frau und seiner kleinen, 20 Monate alten Tochter. E r erfährt dagegen, daß die Polizei ihn wochenlang in der Stadt gesucht hat. Nach zweijährigem A u f­ enthalt im Maquis erhält er endlich eine Nachricht von seiner Frau, die ihn bittet, sie zu vergessen: sie ist entehrt. E r soll nicht mehr daran denken, das gemeinsame Leben mit ihr wieder aufzunehmen. T ief beunruhigt bit­ tet er seinen Kommandanten um die Erlaubnis, heimlich in seine Woh­ nung zu gehen, was ihm verweigert wird. Statt seiner soll ein anderes Mitglied der F .L .N . versuchen, die Frau und die Verwandten von B. zu treffen.

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Zw ei Wodien später erhält der Kommandant der Einheit B.s einen ge­ nauen Bericht. Unmittelbar nach der Entdeckung des verlassenen Taxis (zwei Maschinen­ gewehrgurte waren darin gefunden worden) hatten sich französische Sol­ daten in Begleitung von Polizisten in B.s Wohnung begeben. D a er nicht zu Hause w ar, nahmen sie seine Frau mit und hielten sie über eine Woche lang fest. Sie w ird über ihren Mann befragt und zwei Tage lang ziemlich brutal geohrfeigt. Am dritten Tag schickt ein M ilitärangehöriger - sie kann nicht mehr genau sagen, ob es ein O ffizier w ar - die anderen hinaus und ver­ gewaltigt sie. Einige Zeit danach vergewaltigt sie ein zweiter, diesmal in Gegenwart der anderen, wobei er ihr sagt: »Wenn du eines Tages deinen Sdieiß-Gatten wiedersiehst, dann vergiß ja nicht, ihm zu sagen, was man dir angetan hat.« Sie bleibt noch eine Woche dort, ohne einem neuen Ver­ hör unterzogen zu werden. Danach bringt man sie in ihre Wohnung zu­ rück. Nachdem sie ihre Geschichte ihrer Mutter erzählt hat, überredet diese sie, B. alles zu sagen. Deshalb gesteht sie ihm ihre Entehrung, sobald sie Gelegenheit dazu erhält. Nachdem der erste Schock vorüber ist, gewinnt B., der jeden Augenblick von seiner Aktion voll beansprucht w ird, seine Ruhe zurück. Monatelang hört er zahllose Berichte von vergewaltigten oder gefolterten algerischen Frauen. E r hat Gelegenheit, mit Männern von vergewaltigten Frauen zu sprechen, und sein persönliches Unglück, die R olle eines betrogenen Ehe­ manns, werden für ihn zweitrangig. Im Jah re 1958 w ird er mit einer Mission im Ausland betraut. Als er wie­ der zu seiner Einheit zurückkehren soll, beunruhigt er seine Kameraden und Vorgesetzten durch eine ungewohnte Zerfahrenheit und Schlaflosig­ keit. Seine Abreise w ird hinausgeschoben und eine ärztliche Untersuchung angeordnet. In diesem Moment sahen w ir ihn. Der unmittelbare Kontakt w ar gut. Das Mienenspiel bewegt, vielleicht etwas zu sehr. Das Lächeln leicht übertrieben. Äußere Euphorie: »Es geht schon . . . es geht schon . . . Ich fühle mich schon besser. G ib mir einige Stärkungsmittel, Vitamine, und schreib mich wieder gesund.« Darunter ist ein latenter Angstzustand spür­ bar. E r w ird sofort stationär auf genommen. Vom zweiten Tag an bricht der äußere Optimismus zusammen; B. ist grüblerisch-depressiv, hat keinen Appetit und bleibt im Bett. E r weicht politischen Diskussionen aus und trägt ein offensichtliches Desinteresse für alles, was den nationalen K am pf angeht, zur Schau. E r vermeidet es,

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Nachrichten zu hören, die sich auf den Befreiungskampf beziehen. Das Eindringen in diese Schwierigkeiten ist sehr mühsam, aber nach einigen Tagen können w ir seine Geschichte rekonstruieren: Während seines Aufenthalts im Ausland läßt er sich auf ein sexuelles Abenteuer ein und scheitert. D a er die Erschöpfung, die nach Gewaltm är­ schen und Perioden der Unterernährung kein Wunder ist, für die Ursache hält, macht er zwei Wochen später einen neuen Versuch und sdieitert wie­ der. E r spricht mit einem Kameraden darüber, der ihm Vitam in B 12 emp­ fiehlt. E r nimmt es in Form von Tabletten. Ein neuer Versuch, ein neues Scheitern. Außerdem, einige Augenblicke vo r dem A kt, das unwider­ stehliche Bedürfnis, ein Foto seiner kleinen Tochter zu zerreißen. Diese symbolische Verbindung ließ an das Vorhandensein unbewußter Inzest­ neigungen denken. Aber einige Unterhaltungen und ein Traum (der Kranke erlebt die schnelle Verwesung einer kleinen Katze unter Entwick­ lung von unerträglichen Gerüchen) führen uns in eine ganz andere Rich­ tung. »Dieses Mädchen«, sagt er uns eines Tages (es handelt sich um seine kleine Tochter), »hat etwas Fauliges in sich.« Von dieser Periode an w ird die Schlaflosigkeit sehr quälend, und trotz einer ziemlich großen Dosis von Nervenberuhigungsmitteln entwickelt sich ein Zustand ängstlicher Erregung, der den ganzen Betrieb aufhält. Lachend erzählt er uns nun zum erstenmal von seiner Frau und sagt: »Sie hat vom Franzosen ge­ kostet.« In diesem Augenblick können w ir die ganze Geschichte rekon­ struieren. Das verwirrende B ild der Ereignisse ist jetzt ganz klar. E r teilt uns mit, daß er vo r jedem sexuellen Versuch an seine Frau denkt. A lle diese Mitteilungen scheinen uns von grundlegender Bedeutung zu sein. »Ich habe dieses Mädchen geheiratet, obwohl ich meine Kusine liebte. Aber die Eltern der Kusine haben ihre Tochter mit einem anderen ver­ heiratet. Daraufhin habe ich die Frau genommen, die meine Eltern mir zuerst vorgeschlagen hatten. Sie w ar sehr nett, aber ich liebte sie nicht. Ich sagte mir immer: Du bist ju n g . . . warte ein wenig, und wenn du die ideale Frau gefunden hast, wirst du dich scheiden lassen und eine gute Ehe schließen. Deshalb hing ich wenig an meiner Frau. Im Laufe der Zeit habe ich mich noch mehr von ihr entfernt. Schließlich kam ich nur noch meine Mahlzeiten einnehmen und schlafen, fast ohne ein W ort mit ihr zu sprechen. A ls ich im Maquis erfuhr, daß sie von Franzosen vergewaltigt worden war, empfand ich zunächst Wut über diese Dreckskerle. Dann habe ich mir gesagt: Ach was, das ist nicht so schwerwiegend; Sie ist nicht getötet w or­

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den. Sie kann ihr Leben von neuem beginnen. Einige Wochen danach habe ich mir bewußt gemacht, daß sie vergewaltigt wurde, weil man mich suchte. Im Grunde hat man sie vergewaltigt, um sie für ihr Schweigen zu bestrafen. Sie hätte ebensogut einen, ja mehrere Namen von Militanten angeben können, und dann hätte man unsere Organisation aufspüren, zerstören und vielleicht sogar mich verhaften können. Es w ar also nicht einfach eine Vergewaltigung aus Langeweile oder Sadismus, wie ich es oft in den Douars erlebt hatte, sondern die Vergewaltigung einer starrköpfi­ gen Frau, die eher alles erduldete, als ihren Mann zu verkaufen. Und dieser Mann war ich. Diese Frau hat mir das Leben gerettet und die Organisation beschützt. Meinetwegen w ar sie entehrt worden. Trotzdem sagte sie mir nicht: >Das habe ich für dich erlitten.« Sie sagte im Gegenteil: >Vergiß mich, fang ein neues Leben an, ich bin entehrt.« Von diesem Moment an habe ich beschlossen, meine Frau nach dem Krieg wieder zu mir zu nehmen, denn ich muß dir sagen, ich habe Bauern die Tränen ihrer Frauen abwischen sehen, die unter ihren Augen vergewaltigt worden sind. Das hat mich sehr erschüttert. Ich muß dir übrigens ge­ stehen, daß ich anfangs ihre H altung nicht verstehen konnte. Aber nach und nach sind w ir dazu gekommen, uns bei solchen Geschichten einzu­ schalten, um den Zivilisten alles zu erklären. Ich habe Zivilisten gesehen, die bereit waren, ein von französischen Soldaten vergewaltigtes und schwangeres Mädchen zu heiraten. A ll das hat mich dazu gebracht, das Problem mit meiner Frau neu zu durchdenken. Ich habe beschlossen, sie wieder anzunehmen, aber ich weiß noch nicht, wie ich reagieren werde, wenn ich sie wiedersehe. U nd oft denke ich, wenn ich das Foto meiner Tochter betrachte, daß auch sie entehrt ist. A ls ob alles, was von meiner Frau kommt, verfault wäre. Wenn sie sie gefoltert hätten, wenn sie ihr alle Zähne zerschlagen, einen Arm gebrochen hätten, hätte mir das nichts ausgemacht. Aber so etwas, kann man das vergessen? Und w ar sie gezwungen, mich über all das in Kenntnis zu setzen?« Dann fragt er mich, ob sein »sexuelles Versagen«, meiner Meinung nach, von seinem Mißgeschick verursacht sei. A ntw ort: »Das ist nicht unmöglich.« E r setzt sich aufs Bett: »Was würdest du tun, wenn dir so etwas passierte?« »Ich weiß n ich t. . . « »Würdest du deine Frau wieder annehmen?« »Ich glaube, ja.« i97

»Aha, siehst du . . . Du bist nicht ganz sicher . . . « E r verbirgt den K o p f in den Händen und verläßt nach einigen Augen­ blicken das Zimmer. Von diesem Tag an ist er wieder mehr und mehr bereit, politische Dis­ kussionen anzuhören, während die Migräneanfälle und die Appetitlosigkeit beträchtlich zurückgehen. Nach zwei Wochen, als er zu seiner Einheit zurückkehrt, sagt er zu m ir: »Wenn w ir unabhängig geworden sind, werde ich meine Frau wieder annehmen. Wenn es nicht gut geht, werde ich dich in Algier besuchen.«

F all N r. 2

Ungezielter Tötüngszwang bei dem Überlebenden einer Massenerschießung S., 37 Jah re alt, Fellache. Wohnt in einem Douar im Constantinois. H at sich niemals mit Politik beschäftigt. Seit Beginn des Krieges ist seine Heimat der Schauplatz erbitterter K äm pfe zwischen den algerischen Streitkräften und der französischen Armee. S. hat auf diese Weise Gelegen­ heit, Tote und Verwundete zu sehen. Aber er hält sich weiterhin aus dem Spiel. Von Zeit zu Zeit kommen die Bauern seines Dorfes, wie das ge­ samte Volk, den durchziehenden algerischen Käm pfern zu H ilfe. Aber eines Tages, A nfang 1958, findet nicht weit vom D ouar ein mörderischer Ü berfall statt. D ie feindlichen Kräfte starten eine Operation und belagern das D orf, in dem übrigens keine Soldaten sind. A lle Einwohner werden zusammengetrieben und verhört. Niemand gibt eine Antwort. Einige Stunden später kommt ein französischer O ffizier im Hubschrauber an und sagt: »Dieser Douar macht zuviel von sich reden; zerstört ihn!« Die Sol­ daten fangen an, die Häuser in Brand zu stecken, während die Frauen, die ein paar Kleidungsstücke zusammenraffen oder ein paar Vorräte zu retten versuchen, mit Gewehrkolben zurückgetrieben werden. Einige B au­ ern nutzen die allgemeine Verwirrung aus, um zu entkommen. D er O ffi­ zier gibt den Befehl, die übriggebliebenen Männer zu sammeln; er läßt sie in die N ähe eines V adi führen, wo das Blutbad beginnt. 29 Männer wer­ den aus nächster N ähe getötet. S. w ird von zwei Kugeln verwundet, die eine schlägt durch den rechten Schenkel, die andere durch den linken Arm und verursacht einen Bruch des Oberarms. S. w ird ohnmächtig. Inmitten einer Gruppe der A .L .N . kommt er wieder zu Bewußtsein. E r w ird vom Sanitätsdienst behandelt und entlassen, sobald er sich fortbewegen kann. 198

Unterwegs beunruhigt er die Eskorte durch sein immer abnormeres Ver­ halten. E r verlangt ein Gewehr, obwohl er Zivilist und körperbehindert ist, und weigert sich, vor irgend jemandem herzugehen. E r w ill keinen hinter sich haben. Eines Nachts bemächtigt er sich der W affe eines Käm p­ fers und schießt ungeschickt auf die schlafenden Soldaten. E r w ird brutal entwaffnet, die Hände werden ihm gebunden, und so trifft er in der psy­ chiatrischen K linik ein. Er erklärt uns zunächst, daß er nicht tot sei und daß er den anderen einen guten Streich gespielt habe. Nach und nach gelingt es uns, die Geschichte seines verfehlten Mordes zu rekonstruieren. S. ist nicht ängstlich, sondern eher überreizt mit heftigen Erregungsphasen, die von Schreien begleitet sind. E r zermürbt alle mit seinem unaufhörlichen Geschwätz, die Station ist in ständigem Alarmzustand wegen seines offen bekundeten Willens, »alle Welt zu töten«. Während seines Krankenhausaufenthalts greift er mit den erstbesten Waffen etwa acht Kranke an. Pfleger und Ärzte wer­ den nicht verschont. M an fragt sich schon, ob man es nicht mit einer jener versteckten Formen von Epilepsie zu tun habe, die durch eine fast ständig akute, ungezielte Aggressivität gekennzeichnet ist. Eine Schlafkur w ird verordnet. Vom dritten Tag an wird uns bei täg­ lichen Gesprächen-die Dynam ik des pathologischen Prozesses immer deut­ licher. Die geistige Verwirrung läßt langsam nach. H ier einige Passagen aus den Erklärungen des Kranken: »Gott ist mit mir . . . dann ist er also nicht mit denen, die tot sind . . . Ich habe ein verdammtes Glück gehabt . . . Im Leben muß man töten, um nicht selbst getötet zu werden . . . Wenn ich denke, daß ich nichts von ihren Geschichten wußte . . . Es gibt Franzosen unter uns. Sie verkleiden •ich als Araber. M an muß sie alle töten. Gib mir ein Maschinengewehr. Alle diese sogenannten Algerier sind Franzosen . . . und sie lassen mich nicht in Ruhe. Sobald ich einschlafen will, kommen sie in mein Zimmer. Aber jetzt kenne ich sie. A lle wollen mich töten. Aber ich werde mich wehren. Ich werde sie alle ausnahmslos töten. Ich werde sie, einen nach dem andern, niedermachen und dich auch. Ihr w ollt mich umbringen? Aber dazu müßt ihr euch anders anstellen. M ir macht es nichts aus, euch tu erschlagen. Die Kleinen, die Großen, die Frauen, die Kinder, die Hunde, die Vögel, die Esel . . . alle kommen dran . . . Dann werde ich endlich ruhig schlafen können . . . « All das w ird in abgehackter Diktion gesagt, die H altung bleibt feindlich, itolz und verächtlich. 199

Nach drei Wochen verschwindet die Erregung, aber ein verbissenes Schwei­ gen und eine gewisse Neigung zur Einsamkeit lassen uns eine noch schlim­ mere Entwicklung befürchten. Nach einem M onat jedoch bittet er um seine Entlassung, er w ill ein H andw erk lernen, das mit seiner K örper­ behinderung vereinbar ist. Daraufhin w ird er der Sozialfürsorge der F .L .N . anvertraut. Nach sechs Monaten wiedergesehen. Befinden gut.

Fall N r. 3

Angstbesetzte Depersonalisationspsychose nach zwanghafter Tötung einer Frau D j., ehemaliger Student, Soldat in der A .L .N ., 19 Jah re alt. A ls er in der K lin ik eintrifft, ist seine Krankheit schon mehrere Monate alt. D ie Sym ­ ptome sind sehr charakteristisch: er ist stark deprimiert, hat trockene L ip ­ pen und ständig feuchte Hände. Unablässiges Stöhnen, hartnäckige Schlaf­ losigkeit. Zw ei Selbstmordversuche seit Beginn der Störungen. Während des Gesprächs nimmt er eine H altung ein, als ob er akustische H alluzina­ tionen hätte. Manchmal heftet sich der Blick einige Augenblicke lang auf einen Punkt im Raum, wobei sich das Gesicht belebt und dem Beobachter den Eindruck vermittelt, der Kranke wohne einem Schauspiel bei. V er­ schwommene Gedanken. Einige Erscheinungen, die in der Psychiatrie unter dem Namen »Sperrung« bekannt sind: eine angefangene Bewegung oder ein angefangener Satz werden plötzlich ohne einen ersichtlichen Grund abgebrochen. Aber vor allem ein Element erregt unsere Aufm erk­ samkeit: der K ranke spricht von seinem vergossenen Blut, von seinen Adern, die sich leeren, von seinem Herzen, das bisweilen aussetzt. E r fleht uns an, den Blutfluß zu stoppen, nicht mehr zuzulassen, daß er selbst im Krankenhaus von Vampiren ausgesaugt wird. Von Zeit zu Zeit kann er nicht mehr sprechen und verlangt einen Bleistift. E r schreibt: »Ich habe keine Stimme mehr, mein ganzes Leben flieht.« Diese erlebte Depersonali­ sation läßt uns eine ernste Entwicklung befürchten. Während unserer Unterhaltungen spricht der K ranke mehrfach von einer Frau, die ihn verfolge. D a w ir vorher von ihm erfahren hatten, daß seine Mutter, die er sehr liebte, gestorben w ar und daß nichts ihn über diesen Verlust trösten könne (die Stimme hatte sich in diesem Moment erheblich gedämpft, einige Tränen waren aufgetaucht), richte ich d ie‘Nachforschun­ gen auf das B ild der Mutter. A ls ich ihn bitte, jene Frau, von der er be­ 200

sessen ist, zu beschreiben, erklärt er mir, es sei keine Unbekannte, er kenne sie sehr gut, denn er habe sie ja getötet. Jetzt stellt sich also die Frage, ob w ir es mit einem unbewußten Schuldkomplex nach dem Tod der Mutter zu tun haben, wie Freud ihn in Trauer und Melancholie beschrieben hat. W ir bitten den Kranken, uns ausführlicher von dieser Frau zu sprechen, und können auf diese Weise folgende Geschichte rekonstruieren: »Aus der Stadt, in der ich Student w ar, bin ich in den Maquis gegangen. Nach einigen Monaten bekam ich Nachrichten von zu Hause. Ich erfuhr, daß meine Mutter von einem französischen Soldaten aus nächster N ähe getötet worden w ar und daß die Soldaten zwei meiner Schwestern mit­ genommen hatten. Bis heute weiß ich noch nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich wurde durch den Tod meiner Mutter furchtbar erschüttert. D a mein Vater schon vo r einigen Jahren gestorben ist, w ar ich der einzige Mann der Familie, und mein einziger Ehrgeiz w ar es immer gewesen, es zu etwas zu bringen, um die Existenz meiner Mutter und meiner Schwe­ stern zu verbessern. Eines Tages sind w ir auf eine Kolonialbesitzung ge­ gangen, w o der Verwalter, ein aktiver Kolonialist, schon zwei algerische Zivilisten erschlagen hatte. W ir kamen nachts an. Aber er w ar nicht da. N u r seine Frau w ar im Haus. Als sie uns sah, flehte sie unis an, sie nicht zu töten: »Ich weiß, daß Sie wegen meines Mannes kommen«, sagte sie, »aber er ist nicht d a . . . wie oft habe ich ihm gesagt, daß er sich nicht in die Politik mischen soll.« M an beschloß, auf den Mann zu warten. Aber ich betrachtete die Frau und dachte an meine Mutter. Sie saß auf einem Sessel und schien abwesend. Ich fragte mich, warum man sie nicht töte. Und plötzlich merkte sie, daß ich sie ansah. Schreiend w a rf sie sich auf mich: »Ich flehe Sie a n . . . töten Sie mich nicht. . . Ich habe Kinder.« Einen Augenblick später w ar sie tot. Ich hatte sie mit meinem Messer getötet. D er Anführer entwaffnete mich und gab den Befehl, aufzubrechen. Einige Tage später wurde ich vom Sektionschef verhört. Ich glaubte, man würde mich töten, aber das w ar mir egal.3 Dann begann ich, mich nach den Mahlzeiten zu erbrechen und schlecht zu schlafen. Und dann ist diese Frau jeden Abend gekommen, um mein Blut zu verlangen. U nd wo ist das Blut meiner Mutter?« Am Abend, sobald der Kranke ins Bett geht, »wird das Zimmer immer

3 Nachdem ein geriditsärztlidies Gutachten den pathologischen Charakter der Handlung nachgewiesen hatte, wurde das vom Generalstab der A .L .N . eingeleitete Strafverfahren eingestellt.

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von denselben Frauen eingenommen«. Es ist ein und dieselbe Frau in zahllosen Exemplaren. Sie haben alle ein klaffendes Loch im Bauch. Sie sind alle ausgeblutet, bleich und erschreckend mager. Diese Frauen be­ lästigen den jungen Kranken und verlangen, daß er ihnen ihr vergossenes Blut wiedergibt. Das Geräusdi von fließendem Wasser erfüllt dabei das Zimmer und verstärkt sich bis zum Donner eines Wasserfalls. D er junge Kranke sieht, wie sich das Parkett des Zimmers mit Blut durchtränkt, mit seinem Blut, während die Frauen immer rosiger werden und ihre Wunden sich schließen. Schweißgebadet und von Angst geschüttelt wacht er au f und bleibt bis zum Morgengrauen in einem Erregungszustand. D er junge Kranke w ird einige Wochen behandelt, und die oneiroiden E r­ scheinungen (Alpträume) sind praktisch verschwunden. Trotzdem bleibt ein Bruch in seiner Persönlichkeit. Sobald er an seine Mutter denkt, er­ scheint die aufgeschlitzte Frau als verwirrendes Double. So wenig wissen­ schaftlich das erscheinen mag: w ir glauben, daß nur die Zeit eine Besserung für die zerrissene Persönlichkeit des jungen Mannes w ird bringen können.

Fall N r. 4

Ein europäischer Polizist, der unter Depressionen leidet, trifft im Kranken­ haus eines seiner Opfer , einen algerischen Patrioten , der von Stupor be­ fallen ist A ., 28 Jah re alt, verheiratet, kinderlos. W ir erfahren, daß seine Frau und er sich seit Jahren erfolglos bemühen, K inder zu haben. E r w ird uns von seinen Vorgesetzten wegen Verhaltensstörungen geschickt. D er unmittelbare Kontakt ist gut. D er K ranke erzählt uns spontan von seinen Schwierigkeiten. Das Einvernehmen mit seiner Frau und seinen Schwiegereltern ist zufriedenstellend, die Beziehungen zu seinen Arbeits­ kollegen sind gut, auch genießt er das W ohlwollen seiner Vorgesetzten. Was ihm auf die N erven fällt, sind die Schreie, die er nachts hört und die ihn nicht schlafen lassen. Und er erzählt uns, daß er seit einigen Wochen vo r dem Schlafengehen tatsächlich die Fensterläden schließt und die Ritzen verstopft (wir sind mitten im Sommer), zur großen Verzweiflung seiner Frau, die vor H itze erstickt. Außerdem steckt er sich Watte in die Ohren, um die Heftigkeit der Schreie zu dämpfen. Manchmal dreht er sogar mit­ ten in der Nacht das Radio an oder legt Platten auf, um dieses nächtliche Geschrei nicht zu hören. 202

Darin legt uns A . ausführlich sein D ram a dar: Seit mehreren Monaten ist er bei einer A nti-F.L.N .-Brigade. Anfangs mußte er Gaststätten oder Caf£s überwachen. Aber nach einigen Wochen arbeitet er fast ständig auf dem Kommissariat. H ier hat er Gelegenheit, Verhöre durchzuführen, was niemals ohne »ein paar Rempeleien« abgeht. »Weil die ja nichts gestehen wollen.« »Manchmal«, erklärt er, »möchte man ihnen sagen, daß sie, wenn sie etwas M itleid mit uns hätten, sprechen würden, ohne uns zu zwingen, ganze Stunden damit zu verbringen, ihnen die Informationen W ort für Wort aus der N ase zu ziehen. Aber erklären Sie denen mal was. A u f alle Fragen antworten sie: Ich weiß nicht. Nicht'einm al ihre Namen. Wenn man sie fragt, w o sie wohnen, ^Jgen sie: Ich weiß nicht. D a ist man dann natürlich gezwungen, sie sich vorzunehmen. Aber sie brüllen zu sehr. Anfangs machte mir das Spaß. Aber dann fing es an, mir durch M ark und Bein zu gehen. Heute brauche ich nur einen schreien zu hören, und ich kann Ihnen genau sagen, wie weit er ist, in welchem Stadium des Verhörs man mit ihm ist. Ein K erl, der zwei Faustschläge und einen Schlag mit dem Knüp­ pel hinter die Ohren bekommen hat, hat eine ganz bestimmte A rt zu reden, zu schreien, zu sagen, daß er unschuldig ist. Wenn man ihn zwei Stunden an den Knöcheln auf gehängt hat, hat er eine andere Stimme. Nach der >Badewanne< wieder eine andere Stimme. Und so weiter. Aber vo r allem nach der Elektrizität, da w ird es unerträglich. M an möchte jeden Augenblick meinen, daß der K erl abkratzt. Natürlich gibt es auch welche, die nicht schreien: das sind die Harten. Die glauben, daß man iie sofort töten wird. W ir haben aber gar kein Interesse daran, sie zu töten. Was w ir brauchen, das sind Informationen. Man muß sie also erst zum Schreien bringen, und früher oder später sind sie soweit. Das ist dann schon ein Sieg. Dann macht man weiter. Ich sage noch einmal: W ir würden uns das lieber ersparen. Aber die machen uns die Aufgabe nicht leicht. Jetzt höre ich ihre Schreie schon bei mir zu Haus. V or allem die Schreie von denen, die im Kommissariat gestorben sind. H err Doktor, dieser Jo b ekelt mich an. Wenn Sie mich heilen, werde ich um eine Versetzung nach Frankreich bitten. Wenn sie ablehnen, werde ich den Dienst quittieren.« Nach dieser Schilderung verschreibe ich einen Krankenurlaub. D a der P a­ tient eine Einweisung ablehnt, behandle ich ihn privat. Eines Tages, kurz vor der therapeutischen Sitzung, werde ich dringend ins Krankenhaus ge­ rufen. A ls A . in meine Wohnung kommt, bittet meine Frau ihn, auf mich zu warten, aber er w ill lieber einen Rundgang im Krankenhaus machen

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und mir dabei entgegenkommen. A ls ich einige Augenblicke später zurück­ kehre, treffe ich ihn unterwegs. E r lehnt sich an einen Baum, macht einen vollkommen niedergeschmetterten Eindruck, zittert, ist in Schweiß ge­ badet und von Angst geschüttelt. Ich nehme ihn in meinen Wagen und fahre ihn zu mir. A ls er auf dem D iw an liegt, erzählt er mir sofort, er habe in der Anstalt einen meiner Kranken getroffen, der auf der Polizei verhört worden w ar; es ist ein algerischer Freiheitskämpfer, der wegen »stuporöser post-commotioneller Störungen« (nach Gehirnerschütterung) behandelt wird. Ich erfahre also, daß der Polizist aktiv an den Folterun­ gen dieses Kranken teilgenommen hat. Ich verschreibe einige Beruhigungs­ mittel, die den Angstzustand von A . dämpfen. Nach seinem Weggang begebe ich mich auf die Station, wo der Freiheitskämpfer liegt. Das Per­ sonal hat nichts bemerkt. D er Kranke bleibt jedoch unauffindbar. Endlich entdeckt man ihn in einer Toilette, wo er versuchte, sich umzubringen. E r hatte den Polizisten wiedererkannt und geglaubt, der sei gekommen, um ihn auf die Polizei zurückzubringen. In der Folge hat A . mich noch mehrfach aufgesucht. Nach einer deutlichen Verbesserung ist es ihm gelungen, sich aus gesundheitlichen Gründen nach Frankreich zurückversetzen zu lassen. Was den algerischen Freiheits­ käm pfer angeht, so hat sich das Personal lange bemüht, ihn zu überzeugen, daß es sich um eine Täuschung handeln müsse, daß kein Polizist ins K ran­ kenhaus kommen dürfe, daß er erschöpft gewesen sei und daß er hier sei, um behandelt zu werden usw.

F a ll Nr* $

Ein europäischer Polizei-Inspektor foltert seine Frau und seine Kinder R ., 30 Jah re alt, konsultiert uns spontan. E r ist Polizei-Inspektor und stellt seit einigen Wochen fest, »daß irgend etwas bei ihm nicht mehr stimmt«. Verheiratet, drei Kinder. E r raucht viel: fünf Schachteln Zigaretten pro Tag. E r hat keinen Appetit mehr und w ird oft von Alpträumen beun­ ruhigt. Diese Träume haben keine besonderen Kennzeichen. Was ihn am meisten stört, ist das, was er »Tobsuchtsanfälle« nennt. Zunächst kann er keinen Widerspruch ertragen: »Herr D oktor, erklären Sie mir das. Wenn ich auf Widerspruch stoße, möchte ich zuschlagen. Sogar außerhalb der Arbeit möchte ich auf die Leute eindreschen, die mir den Weg versperren. Ein Nichts. Ich gehe zum Beispiel am K iosk Zeitungen kaufen. Es sind

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viele Leute da. Natürlich muß man anstehen. Ich strecke den Arm aus (der T y p im Kiosk ist ein Kumpel), um meine Zeitungen zu nehmen. Irgend jemand in der Schlange sagt mit leicht pikierter Miene: >Sie sind noch nicht an der Reihe.< Sofort möchte ich zusdilagen und sage bei m ir: >Mein Lie­ ber, wenn ich dich ein paar Stunden vornähme, würdest du ganz schön die Schnauze halten.Senegalesen< angestellt. Aber die schlagen entweder zu stark und machen den K erl in einer halben Stunde zum Krüppel, oder sie schlagen nicht richtig, und das hat keinen Zweck. Man muß nämlich intelligent sein, um bei dieser Arbeit E rfolg zu haben. Man muß wissen, wann man anziehen und wann man nachlassen soll. Dazu muß man den richtigen Riecher haben. Wenn der K erl reif ist, braucht man nicht mehr weiter zu schlagen. Deshalb muß man die Arbeit allein machen, da kann man die Fortschritte besser kontrollieren. Ich habe was gegen die, die ihre Typen von andern vorbereiten lassen und jede Stunde nachsehen, wie weit er ist. W orauf es vo r allem ankommt: dem K erl nicht den Eindruck zu geben, daß er nicht lebend wieder herauskommt. Sonst fragt er sich nämlich, warum er spre­ chen soll, wenn ihm das nicht einmal das Leben retten kann. In diesem F all hätten Sie gar keine Chance, irgend etwas herauszubekommen. E r muß eine Hoffnung haben: die H offnung bringt ihn nämlich zum Sprechen. Aber was mich am meisten verrückt macht, ist die Geschichte mit meiner Frau. Irgend etwas stimmt da nicht mehr. Sie müssen das wieder ein­ renken, H err Doktor.« D a seine Behörde ihm eine Erholung verweigert, und da er kein Attest von einem Psychiater haben w ill, w ird eine Behandlung »ohne Unter­ brechung der Arbeit« eingeleitet. M an kann sich leicht die Schwächen einer solchen Lösung vorstellen. Dieser Mann wußte ganz genau, daß seine Störungen direkt von der A rt seiner Tätigkeit in den Verhörzellen ver­ ursacht wurden, obwohl er versuchte, die Verantwortung da* J pauschal auf »die Ereignisse« abzuwälzen. D a er nicht vorhatte (das wäre ja Blöd­ sinn gewesen), mit dem Foltern aufzuhören (dann hätte er ja den Dienst quittieren müssen), bat er mich ohne Umschweife, ihm zu helfen, daß er die algerischen Freiheitskämpfer ohne Gewissensbisse, ohne Verhaltens­ störungen, sozusagen mit Gelassenheit foltern könne.4

4 Wir haben es hier mit einem kohärenten System zu tun, das nichts unberührt läßt. Der Henker, der die yögel liebt oder in aller Ruhe eine Sonate spielt: das ist lediglich eine Etappe. Ein Schritt weiter, und wir treffen auf eine Existenz, die eindeutig von einem radikalen und absoluten Sadismus gekennzeichnet ist. 206

Serie B

H ier haben w ir einige Fälle oder Gruppen von Fällen zusammengestellt, bei denen das auslösende Ereignis zunächst die Atmosphäre des totalen Krieges ist, der in Algerien herrscht.

Fall N r. i

Zwei algerische Jungen von i j und 14 Jahren ermorden ihren europäischen Spielkameraden Es handelt sich um ein gerichtsärztliches Gutachten. Zw ei algerische Ju n ­ gen von 13 und 14 Jahren, Schüler einer Grundschule, werden angeklagt, einen ihrer europäischen Kameraden getötet zu haben. Sie haben die T at zugegeben, das Verbrechen ist rekonstruiert, den Akten sind Fotos bei­ gefügt. M an sieht, wie der eine das O pfer hält, während der andere mit dem Messer zusticht. Die angeklagten Kinder nehmen ihre Erklärungen nicht zurück. W ir haben länge Gespräche mit ihnen. Ihre typischsten Aus­ sagen seien hier wiedergegeben:

a) Der 13 jährige: »Wir hatten uns nicht mit ihm gezankt. Jeden Donnerstag gingen w ir mit ihm auf dem Berg über dem D o rf katapultschießen. E r w ar unser guter Kam erad. E r ging nicht mehr in die Schule, denn er wollte Maurer werden wie sein Vater. Eines Tages haben w ir beschlossen, ihn zu töten, weil die Europäer alle Araber töten wollen. W ir können ja noch nicht die Großen töten. Aber da er in unserem A lter war, ging es. W ir wußten nicht, wie w ir ihn töten sollten. W ir wollten ihn in einen Graben werfen, aber dann wäre er vielleicht nur verletzt worden. Deshalb haben w ir von zu Hause ein Messer mitgenommen und ihn getötet.« »Aber warum gerade ihn?« »Weil er mit uns spielte. Ein anderer wäre nicht mit uns dort ’raufgegangen.« »Es w ar doch aber ein Spielkamerad.« »Warum wollen sie uns denn töten? Sein Vater ist M ilizsoldat und sagt, daß man uns alle umbringen muß.« »Aber er hatte dir nicht so etwas gesagt?« 207

»Er? Nein.« »Du weißt, daß er jetzt tot ist?« »Ja.« »Was ist der Tod?« »Das ist, wenn es zu Ende ist und man in den Himmel kommt.« »Hast du ihn getötet?« »Ja.« »Macht es dir etwas aus, jemanden getötet zu haben?« »Nein, weil sie uns ja töten wollen.« »Ärgert es dich, im Gefängnis zu sein?« »Nein.«

b) Der 14jährige: Dieser Angeklagte bildet einen deutlichen Gegensatz zu seinem Kam e­ raden. E r ist schpn fast ein Mann, ein Erwachsener in der Kontrolle seiner Muskeln, seiner M imik, seiner Stimme und des Inhalts seiner Antworten. Auch er leugnet nicht, getötet zu haben. Warum hat er getötet? E r ant­ wortet nicht auf die Frage, aber er fragt mich, ob ich schon einmal einen Europäer im Gefängnis gesehen hätte. H at es jemals einen Europäer ge­ geben, der nach dem M ord an einem Algerier verhaftet wurde? Ich ant­ worte ihm, daß ich tatsächlich noch keine Europäer im Gefängnis gesehen habe. »Aber es gibt doch täglich Algerier, die getötet werden, oder etwa nicht?« »Ja.« »Warum trifft man dann nur Algerier im Gefängnis? Können Sie mir das erklären?« »Nein. Aber sage mir, warum hast du diesen Jungen getötet, der doch dein Spielkamerad war?« »Das werde ich Ihnen erk lären . . . Haben Sie etwas von der R ivet-G eschichte gehört?«5 »Ja.« »Zwei meiner Verwandten sind an diesem T ag getötet worden. Zu Hause hieß es, daß die Franzosen geschworen haben, uns alle, einen nach dem anderen, zu töten. H at man einen einzigen Franzosen für alle diese A l­ gerier, die getötet worden sind, verhaftet?«

Rivet ist ein Dorf, das seit einem bestimmten Tag des Jahres 19 j 6 in der Ge­ gend des Algerois berühmt ist. Eines Abends nämlich drangen französische Sol­ daten in das Dorf ein, zerrten 40 Menschen aus ihren Betten und ermordeten sie.

5

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»Ich weiß es nicht.« »Eben. Niemand ist verhaftet worden. Ich wollte in den Dschebel hinauf­ gehen, aber ich bin noch zu klein. A lso habe ich mit X . beschlossen, einen Europäer zu töten.« »Warum?« »Was hätte man denn Ihrer Meinung nach tun müssen?« »Ich weiß es nicht. Aber du bist noch ein K ind, und das sind die A n­ gelegenheiten der Erwachsenen.« »Aber sie töten auch K in d e r. . . « »Aber das w ar kein Grund, deinen Kameraden zu töten.« »Ich habe ihn aber getötet; Madien Sie jetzt mit mir, was Sie wollen.« »Hatte dein Kam erad dir etwas angetan?« »Nein, er hatte mir nichts angetan.« »N a a ls o . . . « »Was: na also . . . «

F all N r. 2

Selbstbeschuldigungswahn und suizidales Verhalten in Gestalt eines »ter­ roristischen Akts* bei einem 22jährigen Algerier D er K ranke w ird uns von der französischen Gerichtsbehörde geschickt. Diese Maßnahme wurde auf Grund eines gerichtsärztlichen Gutachtens getroffen, das in Algerien arbeitende französische Psychiater angefertigt hatten. Es handelt sich um einen abgemagerten Mann in völlig verwirrtem Zu­ stand. Am ganzen Körper hat fer Blutergüsse, und zwei Kiefernbrüche machen jede Nahrungsaufnahme unmöglich. Deshalb w ird er seit mehr als zwei Wochen mit H ilfe von Injektionen ernährt. Nach zwei Wochen verschwindet die Gedankenleere. Es kann ein Kontakt hergestellt werden, und es gelingt uns, die dramatische Geschichte dieses jungen ^Mannes zu rekonstruieren: Während seiner Jugend w ar er ein begeisterter Pfadfinder, einer der wich­ tigsten Führer der Moslem-Pfadfinder. Aber mit 19 Jahren gab er die Pfadfinderei völlig auf, um sich nur noch mit seinem Beruf zu beschäftigen: Büromaschinentechnik. E r studierte mit großem E ifer und träumte davon, ein großer Spezialist in seinem Beruf zu werden. Am 1. Novem ber 1954 w ar er ganz in seine beruflichen Probleme versunken und zeigte keinerlei

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Reaktion auf den nationalen Befreiungskampf. Den Verkehr mit seinen hemaligen Kameraden hatte er einschlafen lassen. E r bezeichnet sich selbst n dieser Epoche als einen, der »mobilisiert ist, um seine technischen Fähig­ keiten zu vertiefen«. Jm die Mitte des Jahres 1955 bekommt er bei einem Abend im Familien­ kreis jedoch plötzlich den Eindruck, daß seine Verwandten ihn als Veräter ansehen. Nach einigen Tagen verwischt sich dieser flüchtige Eindruck wieder, aber es bleibt eine gewisse Unruhe zurück, ein gewisses Unbehagen, las er nicht begreifen kann. ir schlingt von nun an seine Mahlzeiten hinunter, geht der Familie aus lern Weg, schließt sich in sein Zimmer ein. E r vermeidet jeden Kontakt. Jnter diesen Umständen kommt es zu der Katastrophe. Eines Tages hört t

mitten auf der Straße um halb eins, wie eine Stimme ihn deutlich »Feig­

ing« nennt. E r dreht sich um, sieht aber niemanden. E r beschleunigt den >chritt und beschließt, nicht mehr arbeiten zu gehen. E r bleibt in seinem Zimmer und ißt kein Abendbrot. In der Nacht bricht die Krise aus. Drei Stunden lang hört er alle möglichen Beschimpfungen, Stimmen in seinem £o p f und in der Nacht: »Verräter . . . Feigling . . . alle deine Brüder, die terben . . . V e rräte r. . . V e rräte r. . . « line unbeschreibliche Angst bemächtigt sich seiner: »Mein Herzschlag w ar [8 Stunden lang auf 13 0 gestiegen. Ich glaubte, ich würde sterben.« Seitdem kann der Kranke nichts mehr hinunterschlucken. E r magert zuehends ab, verschanzt sich in einer absoluten Dunkelheit, weigert sich, einen Eltern zu öffnen. Um den dritten Tag stürzt er sich ins Gebet. [7 bis 18 Stunden täglich bleibt er auf den Knien, wie er mir sagte. Am vierten T ag geht er plötzlich in die Stadt, »wie ein Irrer«, mit »einem iart, der mir auch noch das Aussehen eines Irren gab«, ohne Jacke und Krawatte. A u f der Straße weiß er nicht, wohin er w ill. Aber er geht los md findet sich nach einiger Zeit in der Europäerstadt. Sein Aussehen (er Reicht eher einem Europäer) scheint ihn vor Anrufen und Kontrollen durch lie französischen Streifen zu schützen. \ber neben ihm werden A lgerier und Algerierinnen verhaftet, geschubst, )esdiimpft, durchsucht. . . E r hat keinen Ausweis bei sich. Die spontane Höflichkeit der feindlichen Streifen bestätigt ihn in seinem Wahn: »Alle Veit weiß, daß er mit den Franzosen ist. Selbst die Soldaten haben A n ­ weisungen: sie lassen ihn in Ruhe.« \uch scheinen ihm die Blicke der verhafteten Algerier, die, die H ände hin:er dem Nacken, auf die Durchsuchung warten, mit Verachtung geladen zu

>10

sein. Von einer unbezwingbaren Erregung gepackt, entfernt er sich mit großen Schritten. E r gelangt vo r das Gebäude des französischen General­ stabs. Am Gitter stehen mehrere Soldaten mit Maschinengewehren. E r geht auf die Soldaten zu, stürzt sich auf einen von ihnen, w ill ihm sein Maschinengewehr entreißen und brüllt dabei: »Ich bin ein Algerier.« E r w ird schnell übermannt und auf die Polizei gebracht, wo man alles unternimmt, um die Namen seiner Anführer und der Mitglieder des Wider­ standsnetzes, dem er angehört, herauszubekommen. Nach einigen Tagen erkennen die Polizisten und Soldaten, daß sie es mit einem Kranken zu tun haben. Ein Gutachten w ird angefordert, das die Existenz von psychi­ schen Störungen feststellt und eine Einweisung verschreibt. »Was ich wollte«, sagt er uns, »das w ar nur sterben. Selbst noch auf der Polizei glaubte und hoffte ich, daß sie mich nach den Folterungen töten würden. Ich w ar froh, geschlagen zu werden, denn das bewies mir, daß sie midi als ihren Feind ansahen. Ich konnte diese Anschuldigungen nicht mehr hören, ohne zu reagieren. Ich bin kein Feigling. Ich bin keine Memme. Ich bin kein Verräter.«6

Fall N r. 3

Neurotisches Verhalten einer jungen Französin , deren Vater, ein hoher Be­ amter, bei einem Feuerüberfall getötet wurde Diese Studentin von 2 1 Jahren konsultiert mich wegen leichter Angst­ zustände, die sie in ihrem Studium und in ihren Beziehungen zu anderen behindern. Ständig feuchte Handflächen mit wirklich beunruhigenden Perioden, wo ihr »das Wasser von den Händen läuft«. Thorakale Be­ klemmungsgefühle, begleitet von nächtlichen Migränen. K au t an den Fin­ gernägeln. Was vor allem auffällt, ist die Leichtigkeit eines Oberflächen­ kontakts, während unterschwellig eine erhebliche Angst spürbar bleibt. D er immerhin erst kurze Zeit zurückliegende To$l ihres Vaters w ird von der Kranken mit einer derartigen Unbekümmertheit erwähnt, daß w ir unsere Nachforschungen sofort auf ihre Beziehungen zu ihrem V ater rich­ ten. Die deutliche, absolut klarsichtige Darstellung, die sie uns gibt - eine Klarsicht, die an Unempfindlichkeit grenzt - , sollte uns, gerade durch ihre 6 Im Laufe des Jahres 1955 waren Fälle dieser Art in Algerien sehr zahlreich. Leider hatten nicht alle Kranken die Chance, in die Klinik zu kommen.

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Rationalität, die Störung dieses jungen Mädchens, Wesen und Ursprung ihres Konflikts offenbaren. »Mein Vater w ar ein hoher Beamter. E r hatte eine riesige Landregioi) unter sich. Seit den Ereignissen hat er sich mit leidenschaftlicher Wut in die Jagd auf Algerier gestürzt. Es kam so weit, daß er nicht mehr aß und nicht mehr schlief, so sehr erregte ihn die Unterdrückung des Aufstands. Ohne etwas tun zu können, mußte ich die langsame Verwandlung meines Vaters mitansehen. Endlich beschloß ich, ihn nicht mehr zu besuchen und in der Stadt zu bleiben. Denn jedesmal, wenn ich zu Hause w ar, konnte ich nächtelang nicht schlafen, weil mir die von unten zu mir heraufdringenden Schreie ständig zusetzten. Im Keller und in den nicht mehr benutzten Zimmern folterte man Algerier, um ihnen Informationen zu entreißen. Sie können sich nicht vorstellen, wie grauenhaft das sein kann, die ganze Nacht so schreien zu hören. Manchmal frage ich mich, wie ein menschliches Wesen das aushalten kann - ich sage nicht einmal, zu foltern, sondern nur die Schmerzensschreie zu hören. Es dauerte endlos. Schließlich bin ich nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. D ie seltenen M ale, da mein V ater 'mich in der Stadt besuchte, konnte ich ihm nicht ins Gesicht schauen, ohne ent­ setzlich bedrückt und erschreckt zu sein. Es wurde mir immer schwieriger, ihn zu umarmen. Ich hatte nämlich lange in dem D o rf gewohnt. Ich kannte dort fast alle Familien. Ich hatte mit den jungen Algeriern meines Alters gespielt, als w ir klein waren. Jedesmal, wenn ich nach Hause kam, teilte mir mein Vater mit, daß wieder Personen verhaftet worden waren. Schließlich wagte ich nicht mehr, auf die Straße zu gehen, so sicher w ar ic * überall auf H aß zu stoßen. Im tiefsten Innern gab ich diesen Algeriern recht. Wenn ich Algerierin wäre, wäre ich im Maquis.« Eines Tages jedoch erhält sie ein Telegramm: ihr Vater ist schwer ver­ wundet. Sie begibt sich ins Krankenhaus und findet ihn bewußtlos. Kurz darauf stirbt er. Während eines Erkundungszuges mit einer militärischen Abteilung w ar er verwundet worden: die Patrouille w ar in einen H inter­ halt der A .L .N . geraten. »Die Beerdigung hat mich angewidert«, sagt sie. »Alle diese offiziellen Personen, die über den Tod meines Vaters weinten, dessen »hohe mora­ lische Qualitäten die Eingeborenenbevölkerung gewonnen hatten«, er­ regten Ekel in mir. A lle Welt wußte, daß das nicht stimmt. Jeder wußte genau, daß mein Vater die Verhörzentren der ganzen Gegend unter sich hatte. Es w ar bekannt, daß die Zahl der zu Tode Gefolterten bis zu zehn

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pro Tag betrug, und trotzdem wurden Lügen über die Hingabe, die Selbst­ vergessenheit, die Liebe zum Vaterland usw. hergebetet. Ich muß sagen, daß diese Worte für mich jetzt keinen Wert mehr haben, nicht viel jeden­ falls. Ich bin sofort in die Stadt zurückgekehrt und allen Behörden aus dem Weg gegangen. Man hat mir Unterstützung angeboten, aber ich habe sie abgelehnt. Ich w ill kein Geld von ihnen. Das ist der Lohn für das von meinem V ater vergossene Blut. D avon w ill ich nichts. Ich werde arbeiten.«

Fall N r. 4

Verhaltensstörungen bei algerischen Jungen unter io Jahren Es handelt sich um Flüchtlinge, Söhne von Kämpfern oder Zivilisten, die von den Franzosen getötet wurden. Sie sind auf verschiedene Zentren in Tunesien und M arokko verteilt. Diese Kinder gehen zur Schule und ma­ chen gemeinsame Spiele und Spaziergänge. Die Kinder werden regelmäßig von Ärzten untersucht. A u f diese Weise haben w ir eine gewisse Anzahl von ihnen zu sehen bekommen: a) Sehr ausgeprägte Liebe zu Elternbildern. Alles, was einem Vater oder einer Mutter ähnelt, w ird mit großer Hingabe gesucht und eifersüchtig aufbewahrt. b) Geräuschphobie. Diese Kinder sind sehr betroffen, wenn man sie be­ straft. Großer Hunger nach Ruhe und Zuneigung. c) Viele leiden unter Schlaflosigkeit mit Neigung zum Schlafwandeln. d) Periodisches Bettnässen. e) Sadistische Neigung. Oft beobachtetes Spiel: ein gespanntes Blatt P a­ pier w ird wütend mit vielen Löchern durchbohrt. Ar/^B leistiften und N ä ­ geln w ird m it verzweifelter Beständigkeit gekaut. Häufige Zankereien trotz grundsätzlicher starker Zuneigung untereinander.

Fall N r. $

Kindbettpsychosen bei Flüchtlingsfrauen Kindbettpsychosen nennt man psychische Störungen, die vor oder wenige Wochen nach der Niederkunft auftreten. D er Determinismus dieser K rank­ heiten ist sehr komplex. Aber man nimmt an, daß die beiden H aupt­ ursachen eine Funktionsstörung der endokrinen Drüsen und ein »affek­

tiver Schock« sind. Letzteres entspricht ungefähr dem, was man allgemein »große Aufregung« nennt. A n der tunesischen und marokkanischen Grenze befinden sich seit der Ent­ scheidung der französischen Regierung, auf Hunderten von Kilometern die Politik des Glacis und der verbrannten Erde zu praktizieren, nahezu 300 000 Flüchtlinge. M an weiß, in welchem Elend sie leben. Kommissionen des Internationalen Roten Kreuzes haben sich mehrfach an O rt und Stelle von den dort herrschenden katastrophalen Zuständen überzeugt und den internationalen Organisationen empfohlen, die H ilfe für diese Flüchtlinge zu intensivieren. Angesichts der Unterernährung, die in diesen Lagern herrscht, w ar also vorauszusehen, daß die schwangeren Frauen eine be­ sondere A nfälligkeit für Kindbettpsychosen zeigen würden. Die häufigen Überfälle durch französische Truppen, die »das Recht auf Verfolgung des Feindes« ausüben, die Luftangriffe mit Bomben und M a­ schinengewehrbeschuß - bekanntlich sind die Bombardierungen marok­ kanischer und tunesischer Gebiete nicht mehr zu zählen; die von SakietSidi-Youssef, dem tunesischen M ärtyrerdorf, w ar die mörderischste - , das Auseinandergerissen werden der Familien bei der Flucht: das alles schafft eine Atmosphäre permanenter Unsicherheit. K u rz, es gibt wenige geflüch­ tete Algerierinnen, bei denen nicht vor oder nach der Niederkunft psy­ chische Störungen auf traten. Diese Störungen können verschiedene Formen annehmen. Es sind entweder Erregungszustände, die sich manchmal bis zur Raserei steigern, oder schwere, anhaltende Depressionen mit häufigen Selbstmordversuchen oder schließlich Angstzustände mit Tränen, Gejammer und Flehen um Barm ­ herzigkeit usw. Auch die Wahninhalte sind verschieden: Verfolgungswahn, wahnhafte Aggressivität gegen die Franzosen, die das K ind töten wollen, oder das Gefühl des unmittelbar bevorstehenden Todes, wobei die K ra n ­ ken unsichtbare Henker anflehen, ihr K ind zu verschonen. Auch hier muß darauf hingewiesen werden, daß die Grundinhalt

nicht

durch die Linderung und den Rückgang der Störungen beseitigt werden. Die Situation der geheilten Kranken unterhält und nährt diese patholo­ gischen Kerne.

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Serie C Affektiv-intellektuelle Veränderungen und psychische Störungen nach der Folter

In dieser Serie haben w ir die Fälle von mehr oder weniger ernsthaft E r­ krankten zusammengestellt, deren Störungen unmittelbar nach oder wäh­ rend der Folter aufgetreten sind. Wir haben sie in verschiedene Untergrup­ pen eingeteilt, weil w ir beobachten konnten, daß jeder Foltermethode, unabhängig davon, wie schwer die Persönlichkeit geschädigt wird, charak­ teristische Krankheitsbilder entsprechen.

Untergruppe N r. i

Nach unmethodischen, sogenannten vorbeugenden Folterungen W ir beziehen uns hier auf die brutalen Methoden, bei denen es sich weni­ ger um Folterungen handelt als darum, jemanden zum Sprechen zu brin­ gen. D ie Erfahrung, daß der Schmerz von einer bestimmten Schwelle an unerträglich w ird, gewinnt hier eine besondere Bedeutung. Diese Schwelle muß also so schnell wie möglich erreicht werden. Es w ird keine Feinarbeit geleistet, es handelt sich um einen massiven Ü berfall: mehrere Polizisten schlagen zu gleicher Zeit los, vier Polizisten umringen den Gefangenen und werfen ihn sich mit Faustschlägen zu, einer verbrennt ihm mit einer Zigarette die Brust, ein anderer bearbeitet seine Fußsohlen mit Stock­ schlägen. Einige der in Algerien angewandten Methoden erschienen uns be­ sonders gr/usam - w ir beziehen uns auf die Mitteilungen der Gefolterten: a) Injektionen von Wasser durch den Mund, dazu Spülungen mit Seifen­ lauge unter hohem Druck.7 b) Einführen einer Flasche in den After. Zw ei Formen der sogenannten Unbeweglichkeitsfolter: c) D er Gefangene muß sich hinknien, die Arme parallel zum Boden aus­ strecken, die Handflächen der Decke zukehren, Oberkörper und K o p f gerade halten. Keine Bewegung ist erlaubt. H inter dem Gefangenen sitzt

7 Diese Art der Folter ist die Ursache einer großen Anzahl von Todesfällen. Nach solchen Einläufen unter hohem Druck wird die Darmschleimhaut an vielen Stellen verletzt, Mikro-Perforationen in der Darmwand sind die Folge. Es kommt dann häufig zu Luftembolien und Bauchfellentzündungen.

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rin Polizist auf einem Stuhl und wacht mit Knüppelschlägen über seiner Jnbeweglidikeit. i) D er Gefangene steht mit dem Gesicht zur Wand, die Arm e erhoben, die H ände an die Wand gelehnt. A udi hierbei hagelt es Schläge bei der geringsten Bewegung, der geringsten Andeutung einer Erschlaffung. Es gibt zwei Kategorien von Gefolterten: solche, die etwas wissen, solche, die nichts wissen. 1. D ie etwas wissen, trifft man selten in irgendwelchen medizinischen Behandlungsstellen. M an weiß zwar, daß dieser oder jener Freiheitskämp­ fer in französischen Gefängnissen gefoltert worden ist, aber man begegnet ihm nicht als Kranken.8 2. D ie nichts wissen, kommen dagegen sehr oft zu uns. W ir sprechen hier nicht von Algeriern, die bei Razzien geschlagen werden. Auch sie kommen nicht als Kranke zu uns. W ir sprechen ausdrücklich von nichtorganisierten Algeriern, die verhaftet und gefoltert worden sind.

Psychiatrische Krankheitsbilder a) Agitierte Depressionen: vier Fälle . Diese Kranken sind ständig traurig ohne wirkliche Angst, deprimiert, meistens im Bett. Sie fliehen jeden K o n ­ takt und entwickeln plötzlich eine heftige Erregung, deren Bedeutung schwer zu verstehen ist.

b) Psychisch bedingte Appetitlosigkeit: fünf Fälle . Diese Kranken stellen ein schweres Problem dar, denn ihre psychisch bedingte Appetitlosigkeit ist begleitet von einer Phobie gegen jeden körperlichen Kontakt mit an­ deren. D er Pfleger, der sich dem Kranken nähert und versucht, ihn zu berühren, ihn zum Beispiel an der H and zu fassen, w ird sofort heftig zurückgestoßen. Es ist nicht möglich, eine künstliche Ernährung vorzu­ nehmen oder Medikamente zu verabreichen.9

c) Allgemeine Bewegungsunruhe: elf Fälle. H ier haben w ir es mit K ran ­ ken zu tun, die nicht ruhig bleiben können. Als ständige Einzelgänger sind 8 Wir sprechen natürlich von Algeriern, die etwas wissen und trotzdem unter der Folter nicht ausgesagt haben; ein Algerier, der etwas sagt, wird bekanntlich so­ fort getötet. 9 Das medizinische Personal muß sich Tag und Nacht beim Kranken ablösen, um ihm zu erklären, ihm zuzureden. Es versteht sich, daß die Methode »Brutali­ sieren wir den Kranken etwas« (gewaltsame künstliche Ernährung) hier nicht wirksam angewandt werden kann. ,

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sie nur schwer dazu zu bringen, sich mit dem A rz t in seinem Sprech­ zimmer aufzuhalten. In dieser ersten Untergruppe sind uns zwei Gefühle besonders häufig auf gef allen: Erstens das der Ungerechtigkeit. Daß sie Tage und Nächte für nichts ge­ foltert worden sind, scheint bei diesen Menschen etwas zerbrochen zu ha­ ben. Einer der Gepeinigten hatte eine besonders schmerzliche Erfahrung: Nach ein paar Tagen nutzlosen Folterns gewannen die Polizisten die Über­ zeugung, daß sie einen friedlichen Menschen vor sich hatten, der nichts mit irgendeiner Widerstandsorganisation zu tun hatte. Trotz dieser Über­ zeugung soll ein Polizei-Inspektor gesagt haben: »Laßt ihn nicht so ein­ fach laufen. Nehmt ihn euch noch etwas vor, dann bleibt er ruhig, wenn er draußen ist.«10 Zweitens eine Gleichgültigkeit gegenüber jedem moralischen Argument. Für diese Kranken gibt es keine gerechte Sache. Eine gefolterte Sache ist eine schwache Sache. Also muß man vor allem dafür sorgen, daß man stärker wird, und nicht danach fragen, ob die Sache gut ist. N u r die Stärke zählt.

Untergruppe N r. 2

Nach Folterungen mit Elektrizität In dieser Untergruppe haben w ir die Fälle von algerischen Freiheits­ kämpfern zusammengestellt, die hauptsächlich mit Elektrizität gefoltert wurden. Während früher die Elektrizität nur ein Teil eines Gesamtkom­ plexes von Foltermethoden war, wurden vom September 1956 an be­ stimmte Verhöre ausschließlich mit H ilfe der Elektrizität durchgeführt.

Psychiatrische Kran **jjeitsbilder a) Lokale oder allgemeine Zoenaestopathien (Störungen der Gemeinemp­ findungen): drei Fälle . Es handelt sich um Kranke, die Kribbeln im Körper 10 Diese vorbeugende Folter wird in bestimmten Gegenden zur »vorbeugenden Unterdrückung«. Deshalb hatten die Kolonialherren in Rivet, als dort noch Ruhe herrschte (die benachbarten Gebiete begannen unruhig zu werden), den Beschluß gefaßt, sich dadurch vor einer Überraschung zu sichern, daß sie ganz einfach eventuelle Mitglieder der F .L .N . liquidierten. An einem einzigen Tag wurden mehr als 40 Algerier getötet.

verspüren, den Eindruck haben, daß man ihnen die H and ausreißt, daß ihnen -der K o p f platzt, daß sie ihre eigene Zunge verschlucken.

b) Apathie, Willenlosigkeit, Interesselosigkeit: sieben Fälle . Diese Kranken sind völlig passiv, ohne Pläne, ohne Initiative, leben in den Tag hinein.

c) Phobische Angst vor Elektrizität: Angst, einen Schalter zu berühren, das Radio anzustellen, Angst vor dem Telephon. Absolute Unmöglichkeit für den A rzt, eine eventuelle Behandlung durch Elektroschocks auch nur anzudeuten.

Untergruppe N r. 3

Nach dem >Wahrheitsserum« Das Prinzip dieser Behandlung ist bekannt. Wenn ein Kranker unter einem unbewußten inneren Konflikt zu leiden scheint, der durch Gespräche nicht ermittelt werden kann, greift man zu Methoden der chemischen Befragung. Penthotal, intravenös injiziert, ist das verbreitetste M ittel, um den Kranken von einem Konflikt zu befreien, der seine Anpassungs­ möglichkeiten übersteigt. D er A rzt greift ein, um den Kranken von diesem »Fremdkörper«11 zu befreien. Man hat jedoch die Schwierigkeit erkannt, über die progressive Auflösung der psychischen Instanzen H err zu w er­ den. Nicht selten kam es zu erheblichen Verschlimmerungen oder zum Auftreten eines neuen, absolut unerklärlichen Krankheitsbildes. Deshalb hat man diese Technik mehr oder weniger aufgegeben. In Algerien haben die M ilitärärzte und Psychiater auf der Polizei reiche Möglichkeiten zum Experimentieren gefunden. Wenn das Penthotal bei Neurosen die Sperren beseitigt, die sich der Äußerung des inneren K on­ flikts widersetzen, muß es auch bei algerischen Freiheitskämpfern die politische Sperre beseitigen können, so daß man Geständnisse von den Gefangenen erlangt, ohne auf die Elektrizität zurückgreifen zu müssen (es gehört zur medizinischen Tradition, Schmerzen möglichst zu vermei­ den). Das ist die medizinische Form des »subversiven Krieges«. Die Szene ist die folgende. Zunächst: »Ich bin A rzt, ich bin kein Polizist. Ich bin da, um dir zu helfen.« A u f diese Weise gewinnt man nach einigen

11 In Wirklichkeit ist er ganz und gar nicht fremd. Der Konflikt ist nur das Er­ gebnis der dynamischen Entwicklung der Persönlichkeit, bei der es keine »Fremd­ körper« geben kann. Sprechen wir lieber von einem schlecht integrierten Körper. 218

Tagen das Vertrauen des Gefangenen.12 Dann: »Ich werde dir einige Spritzen geben, denn du bist ganz schön angeschlagen.« Mehrere Tage nimmt man irgendeine Behandlung vo r: Vitamine, herzstärkende Mittel, Zuckerserum. Am vierten oder fünften Tag intravenöse Injektion von Penthotal. Das Verhör kann beginnen.

Psychiatrische Krankheitsbilder a) Wortstereotypien: D er Kranke wiederholt ständig Sätze von der A rt: »Ich habe nichts gesagt. Glauben Sie mir, ich habe nicht gesprochen.« Diese Stereotypien sind von einer ständigen Angst begleitet, denn der Kranke hat oft keine Ahnung, ob man ihm Informationen entrissen hat oder nicht. Das Gefühl der Schuld gegenüber der verteidigten Sache und den Brüdern, deren Namen und Adressen man vielleicht preisgegeben hat, wiegt dabei besonders schwer. Keine Versicherung kann hier das zerrüttete Gewissen beruhigen.

b) Trübung der intellektuellen und sinnlichen Wahrnehmung: Der Kranke ist sich der Existenz der von ihm wahrgenommenen Gegenstände nicht sicher. Ein Gedankengang w ird zw ar assimiliert, aber in undifferenzierter Weise. D ie Fähigkeit, w ahr und falsch zu unterscheiden, ist gründlich ge­ stört. Alles ist gleichzeitig w ahr und falsch.

c) Phobische Angst vor jedem Tete-a-tete: Diese Angst entspringt dem quälenden Eindruck, man könne jeden Augenblick von neuem verhört werden.

d) Hemmungen: D er K ranke befindet sich immer in gespannter Aufm erk­ samkeit: er nimmt die gestellte Frage Wort für W ort auf, arbeitet Wort für W ort die beabsichtigte A ntw ort aus. Daher der Eindruck einer QuasiHemmung mit psychischer Verlangsamung, Unterbrechung der Sätze, Wiederholungen usw. Es ist klar, daß diese Kranken jede intravenöse Injektion hartnäckig ab­ lehnen.

12 Wir weisen auf den Fall von Psychiatern der Presence frangaise hin, die, wenn sie einen Gefangenen begutachten sollten, beim ersten Kontakt ihre dicke Freund­ schaft mit dem Verteidiger hervorzukehren und zu versichern pflegten, sie beide (der Anwalt und der Arzt) würden den Gefangenen dort herausholen. Alle unter diesen Umständen begutachteten Gefangenen sind guillotiniert worden. Die Psych­ iater brüsteten sich in unserer Gegenwart mit dieser eleganten Art, die »Wider­ stände« zu bezwingen. 219

Untergruppe N r. 4

Nach Gehirnwäsche In letzter Zeit w ar viel von der »psychologischen Aktion« in Algerien die Rede. W ir wollen hier keine kritische Untersuchung dieser Methoden vornehmen. W ir begnügen uns damit, ihre psychiatrischen Folgen anzu­ deuten. Es gibt in Algerien zwei Kategorien von Folterzentren mit Gehirn­ wäsche.

/. Für die Intellektuellen H ier besteht das Prinzip darin, den Gefangenen dazu zu bringen, eine Rolle zu spielen. M an weiß, auf welche sozialpsychologische Schule das zurückgeht.13

a) Kollaboration spielen: D er Intellektuelle w ird zur Kollaboration auf­ gefordert, indem man ihn Rechtfertigungen fü r diese Kollaboration aus­ arbeiten läßt. E r muß also eine Doppelexistenz führen: er ist ein als solcher bekannter Freiheitskämpfer, der vorbeugend aus dem Verkehr gezogen wurde. Ziel der Aktion ist es, die Elemente, die das N ational­ bewußtsein bilden, von innen her anzugreifen. E r soll nicht nur kollaborieren, sondern erhält die Anweisung, »frei« mit Gegnern und Unent­ schlossenen zu diskutieren und sie zu überzeugen. Das ist eine elegante A rt, ihn dazu zu bringen, daß er die Aufmerksamkeit der Freiheitskämpfer erregt und dadurch als Spitzel dient. Wenn er versichert, keine Gegner zu finden, dann gibt man ihm welche an oder fordert ihn auf, so zu tun, als ob es sich um Gegner handle. 13 Man weiß, daß sich in den Vereinigten Staaten eine sozialpsychologisdie Schule entwickelt hat, deren Vertreter der Meinung sind, das Drama des zeitgenössischen Individuums gründe darin, daß es keine Rolle mehr spielt, daß der gesellschaft­ liche Mechanismus ihn zu einem Rädchen im Getriebe macht. Daher versucht diese Therapeutik, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, innerhalb einer wirklichen Spieltätigkeit mehrere Rollen einzunehmen. Man spielt jede beliebige Rolle, man wechselt sogar die Rolle am selben Tage, man ist in der Lage, sich symbolisch an die Stelle jedes Beliebigen zu setzen. Die Fabrikpsychiater in den, Vereinigten Staaten, so scheint es, vollbringen wahre Wunder bei der Gruppenpsychotherapie: man erlaubt den Arbeitern, sich mit Helden zu identifizieren. Die Spannungen in den Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen werden dadurch beträchtlich vermindert. 220

k) Den Wert der französischen Leistungen und die Berechtigung der K o­ lonisation darlegen: Für diese Aufgabe w ird man weitgehend mit »poli­ tischen Beratern« umgeben: mit Offizieren für Eingeborenen-Angelegen­ heiten oder besser noch mit Psychologen, Sozialpsychologen, Soziologen usw.

c) Die Argumente der algerischen Revolution aufgreifen und sie nach­ einander widerlegen: Algerien ist keine Nation, ist niemals eine N ation gewesen und w ird auch niemals eine N ation sein. Es gibt kein »algerisches Volk«. Der algerische Patriotismus ist ein Nonsens. Die »Fellagas« sind Ehrgeizige, Kriminelle, arme betrogene Kerle. Der Reihe nach muß jeder Intellektuelle ein Expos£ über diese Themen anfertigen, und das Expos£ muß überzeugend sein. Am Ende jedes Monats werden Noten (die berühmten »Belohnungen«) verteilt, die zum Urteil darüber dienen, ob der Intellektuelle seine Lehre mit E rfolg abgeschlossen hat oder nicht.

d) Ein absolut pathologisches Kollektivdasein führen: Alleinsein ist ein A k t der Rebellion. Deshalb muß man immer mit einem anderen zusam­ men sein. Auch das Schweigen ist verboten. Man muß laut denken.

Zeugnis Es handelt sich um einen internierten und monatelang der Gehirnwäsche ausgesetzten Universitätslehrer. D ie Lagerleiter beglückwünschen ihn eines Tages zu seinen Fortschritten und kündigen ihm baldige Befreiung an. D a er die Taktiken des Feindes kennt, hütet er sich, diese Nachricht ernst zu nehmen. Es ist nämlich üblich, den Gefangenen ihre Entlassung an­ zukündigen und einige Tage vor dem festgelegten Datum eine K ollektivkritik-Sifczung einzuberufen. Am Ende der Sitzung w ird dann oft die Entscheidung gefällt, die Befreiung müsse hinausgeschoben werden, weil der Gefangene noch nicht alle Zeichen einer endgültigen Heilung aufzu­ weisen scheine. Die Sitzung, sagen die anwesenden Psychologen, hat das Fortbestehen des nationalistischen Virus an den Tag gelegt. Diesmal handelt es sich jedoch nicht um einen Trick. D er Gefangene w ird ohne Umschweife befreit. Als er draußen ist, in der Stadt und im Kreis seiner Familie, beglückwünscht sich der ehemalige Gefangene, daß er seine Rolle so gut gespielt hat. E r freut sich darauf, wieder seinen Platz im nationalen K am p f einzunehmen, Kind versucht schon, Kontakt mit den Leitern seiner Widerstandsorganisation aufzunehmen. In diesem Moment

durchzuckt ihn stechend eine furchtbare Idee. Vielleicht hat er niemanden getäuscht, weder die Aufseher noch die Mitgefangenen und vor allem nicht sich selbst. Welches Ende mußte das Spiel nehmen? Auch hier gilt, es, zu beruhigen und die H ypothek des Schuldgefühls aufzuheben.-

Psychiatrische Krankheitsbilder a) Phobie vor jeder kollektiven Diskussion. Sobald es zu einer Begegnung mit drei oder vier Personen kommt, tritt die Hemmung wieder auf, und Mißtrauen und verbissenes Schweigen stellen sidi mit besonderer H art­ näckigkeit ein. b) Unfähigkeit, eine bestimmte Position zu erklären und zu verteidigen. Das Denken spielt sich in antithetischen Begriffen ab. Alles, was behaup­ tet wird, kann im selben Augenblick mit der gleichen H eftigkeit geleugnet werden. Das ist sicher die schmerzlichste Nachwirkung, die w ir in diesem Kriege angetroffen haben. Eine unter Zwangsvorstellungen leidende Per­ sönlichkeit ist das Ergebnis der »psychologischen Aktion« im Dienst des algerischen Kolonialismus.

2, Für die Nicht-Intellektuellen In Zentren wie Berrouaghia geht man nicht mehr von der Subjektivität aus, um die Verhaltensweisen des Individuums zu modifizieren, man stützt sich vielmehr auf den Körper, den man zermürbt, in der Hoffnung, da­ durch das nationale Bewußtsein abtragen zu können - eine regelrechte Abrichtung. D ie Belohnung ist hier, daß man nicht gefoltert w ird oder daß man Nahrung erhält. a) M an muß gestehen, daß man nicht der F. L . N . angehört. M an muß es im Chor schreien. M an muß es stundenlang wiederholen. b) Dann muß man zugeben, daß man der F. L . N . angehörte, aber ein­ gesehen hat, daß es schlecht war. Also: Nieder mit der F .L .N . N un kommt die nächste Etappe: Die Zukunft Algeriens ist französisch, sie kann nur französisch sein. Ohne Frankreich kehrt Algerien ins M ittelalter zurück. W ir sind doch Franzosen. Es lebe Frankreich. H ier sind die festgestellten Störungen nicht ernst. D er leidende und schmerzende Körper verlangt nur Ruhe und Erholung.

Serie D

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Psychosomatische Störungen

Der algerische Kolonialkrieg hat nicht nur die psychischen Störungen ver­ mehrt und das Auftreten spezifischer Krankheitserscheinungen begünstigt. Neben der Pathologie der Folter, der Pathologie des Gefolterten und des Folterknechts wuchert in Algerien eine Pathologie der Atmosphäre, die die praktischen Ärzte in bezug auf Krankheiten, die sie nicht verstehen, gemeinhin glauben macht: »A ll das w ird mit dem verfluchten K rieg zu Ende sein.« In dieser vierten Serie sind Krankheiten von Algeriern zusammengestellt, von denen einige in Konzentrationslagern waren. Es handelt sich um psychosomatische Erkrankungen. Als psychosomatische Pathologie bezeichnet man den Gesamtkomplex der organischen Störungen, deren Auftreten von einer Konfliktsituation begünstigt w ird .14 Psychosomatisch, weil der Determinismus psychischen Ursprungs ist. Diese Krankheiten werden als eine Form der Anpassung des Organismus an den Konflikt angesehen, wobei die Störung gleich­ zeitig Symptom und Heilung ist. Genauer noch, der Organismus (noch einmal: es handelt sich um die kortiko-viszerale Einheit, die psychosoma­ tische Einheit der Alten) überwindet den Konflikt durch schlechte, aber ökonomische Mittel. E r w ählt das kleinere Übel, um die Katastrophe zu vermeiden. Im allgemeinen ist diese Pathologie heute sehr gut bekannt; aber die ver­ schiedenen therapeutischen Methoden, die angeboten werden (Entspan­ nung, Suggestion), erscheinen uns sehr zufällig. Es gibt zahlreiche Be­ schreibungen der Störungen, die im zweiten Weltkrieg aufgetreten sind, besonders in England während der Bombardierungen und in der Sowjet­ union bei der belagerten Bevölkerung, namentlich von Leningrad. Heute weiß man, daß man nicht von einer Kugel verwundet zu sein braucht, um im K örper wie im Gehirn unter der Existenz des Krieges zu leiden. Wie jeder K rieg hat auch der algerische seinen Tribut an kortiko-viszeraDiese Bezeichnung, die eine idealistische Auffassung widerspiegelt, wird mehr und mehr auf gegeben. Die kortiko-viszerale Terminologie, die aus sowjetischen Arbeiten - besonders von Pawlow - stammt, hat zumindest den Vorzug, dem Gehirn den richtigen Platz zuzuweisen, 4 as heißt, es als Matrix zu betrachten, auf der sich der Psychismus entwickelt. 14

len Krankheiten gefordert. Abgesehen von der Gruppe g), sind alle in Algerien angetroffenen Störungen schon anläßlich »klassischer« Kriege beschrieben worden. Die Gruppe g) erscheint uns typisch für den alge­ rischen Kolonialkrieg. Diese besondere pathologische Form (eine allge­ meine Verkram pfung der Muskeln) w ar schon vo r dem Beginn der R evo­ lution aufgefallen. Aber die Ärzte, die sie beschrieben, machten daraus einen Geburtsfehler des Eingeborenen, eine Besonderheit seines N erven­ systems, in der man den Beweis für die Vorherrschaft des extra-pyram i­ dalen Systems beim Kolonisierten finden w ollte.15 Diese Verkram pfung bedeutet in Wirklichkeit nur, daß die Starrköpfigkeit, das verbissene Schweigen, die Ablehnung der kolonialen Obrigkeit von einer bestimmten Körperhaltung begleitet ist, sich auf die Muskeln überträgt.

Psychiatrische Krankheitsbilder a) Magengeschwüre: Sehr verbreitet. D ie Schmerzen treten besonders nachts auf, begleitet von heftigem Erbrechen, Abmagerung, Depression und Mißmut, in seltenen Fällen Überreiztheit. Diese Kranken sind meist sehr jung: zwischen 18 und 25 Jahren. Im allgemeinen raten w ir von einem chirurgischen Eingriff ab. Zweim al wurde eine Magenresektion vorgenommen, in beiden Fällen wurde im selben Ja h r ein zweiter E in­ griff erforderlich.

b) Nierenkoliken: Auch hier erreichen die Schmerzen nachts ihren H öhe­ punkt. Natürlich läßt sich das niemals vorausberechnen. Diese Koliken können, was selten ist, bei Patienten zwischen 14 und 16 Jahren auftreten.

c) Menstruationsstörungen: Diese Störungen sind sehr bekannt, w ir w er­ den uns nicht dabei aufhalten. Entweder bleiben die Frauen drei oder vier Monate ohne Blutungen, oder die Regel w ird von erheblichen^Schmerzen begleitet, die sich auf den Charakter und das Verhalten auswirken.

d) Schlafsucht nach idiophatischem Zittern: Es handelt sich um junge E r­ wachsene, denen jede Ruhe versagt ist wegen eines allgemeinen feinschlägerigen Zitterns, das an eine totale Schüttellähmung (Parkinsonsche Krankheit) erinnert. Auch hier könnten »wissenschaftliche Geister« von einem extra-pyram idalen Determinismus sprechen.

e) Frühzeitiges Ergrauen der Haare: Bei denen, die aus Verhörzentren 15 Je höher man neurologisch entwickelt ist, desto weniger ist man extra-pyra­ midal. Wie man sieht, schien alles gut übereinzustimmen.

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zurückkehren, ergrauen plötzlich die H aare stellenweise oder vollständig. Die Störungen sind sehr oft von starker Asthenie mit Interesselosigkeit und Impotenz begleitet.

f) Paroxismale Tachykardien (Anfälle von Herz jagen): Plötzliche Be­ schleunigung des Herzschlags: 120, 130 , 140 in der Minute. Diese Tachy­ kardien sind von Beklemmung und Todesangst begleitet, das Ende der Krise ist durdi heftigen Schweißausbruch gekennzeichnet.

g) Allgemeine Verkrampfung, Muskelstarre: Es handelt sich um Kranke männlichen Geschlechts, denen bestimmte Bewegungen wie Treppensteigen, Schnellgehen, Laufen zunehmend Schwierigkeiten machen. In zwei Fällen ist diese Hemmung sogar gleich in voller Stärke aufgetreten. D ie Ursache liegt in einer charakteristischen Starre, die unwillkürlich an die Schädigung bestimmter Regionen des Gehirns denken läßt (der grauen Kerne des Zentrums). Diese Starre breitet sich langsam aus. D ie passive Beugung der unteren Glieder ist fast unmöglich. Keine Entspannung kann erreicht werden. Vollkommen verkram pft und unfähig zur geringsten willent­ lichen Entspannung, scheint der K ranke aus einem Stück gemacht zu sein. Die Gesichtszüge werden starr, drücken aber eine fortgeschrittene Stufe der Desorientierung aus. D er K ranke scheint »seine N erven nicht demobilisieren« zu können. E r ist in ständiger Spannung, in ständiger Erwartung zwischen Leben und Tod, wie es uns einer von ihnen sagte: »Sehen Sie, ich bin schon steif wie ein Toter.«16

16 Überflüssig zu erwähnen, daß es sich hier nicht um hysterische Krämpfe handelt.

Von der Kriminalität des Nordafrikaners zum Nationalen Befreiungskrieg

Man muß nicht nur für die Freiheit seines Volkes kämpfen. Man muß auch während der ganzen Zeit, die der K am pf dauert, diesem V olk und zunächst sich selbst die Dimension des Menschen wieder erschließen. Man muß die Wege der Gesdiidite zurückgehen, der Geschichte des von den Menschen verdammten Menschen, und die Begegnung seines Volkes mit den anderen Menschen möglich machen. D er M ilitant, der in einen bewaffneten Kam pf, in einen nationalen Krieg engagiert ist, hat tatsächlich Gelegenheit, täglich alle Verkümmerungen zu ermessen, die dem Menschen durch die koloniale Unterdrückung an­ getan werden. E r hat manchmal den zermürbenden Eindruck, sein ganzes V olk zurückführen, aus dem Brunnen, aus der Höhle herausführen j & u müssen. E r erkennt sehr oft, daß er nicht nur auf die feindlichen Kräfte Ja g d machen muß, sondern auch auf die Kristallisationsketne der V er­ zweiflung im K örper des Kolonisierten. Die Unterdrückungsperiode ist schmerzlich, aber der K am pf entwickelt durch die Rehabilitierung des unterdrückten Menschen einen Reintegrationsprozeß, der äußerst frucht­ bar und entscheidend ist. D er siegreiche K am pf eines Volkes verbürgt nicht nur den Sieg seiner Rechte. E r verleiht diesem V olk Dichte, K o ­ härenz und Homogenität. Denn der Kolonialismus hat nicht nur den einzelnen Kolonisierten entpersönlicht, die Entpersönlichung w ird ebenso auf der kollektiven Ebene erlebt, im Bereich der Sozialstrukturen. Das kolonisierte V olk sieht sich hier auf einen Kom plex von Individuen reduziert, die ihre Rechtfertigung allein in der Anwesenheit des K oloni­ sators haben. Der Kam pf, den ein V olk für seine Befreiung führt, bringt es, je nach den Umständen, dazu, die durch die zivile Kolonialverwaltung, die m ilitäri­ sche Besetzung und die wirtschaftliche Ausbeutung in sein Bewußtsein eingepflanzten angeblichen Wahrheiten entweder zu verwerfen oder ex­ plodieren zu lassen. Und nur der K am pf vermag diese Lügen über den Menschen, durch die auch die bewußtesten unter uns herabgewürdigt und buchstäblich verstümmelt werden, wirklich zu bannen. Wie oft haben w ir in Paris oder A ix, in A lgier oder Basse-Terre Koloni­ sierte heftig gegen die Behauptung, der Schwarze, der Algerier, der Viet­ namese sei faul, protestieren hören. Aber stimmt es nicht, daß ein eifrig

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arbeitender Fellache, ein Neger, der die Ruhepause ablehnt, unter dem Kolonialregime ganz einfach pathologisch wäre? Die Faulheit des K olo­ nisierten ist die bewußte Sabotage der Kolonialmaschine. Biologisch ge­ sehen: ein beachtliches Selbstschutzsystem, und auf jeden Fall eine gewisse Verzögerung der absoluten Beherrschung des ganzen Landes durch den Okkupanten. D er Widerstand der W älder und Sümpfe gegenüber dem Eindringen der Fremden ist der natürliche Verbündete des Kolonisierten. Das sollte man verstehen und nicht mehr behaupten, der Neger sei ein guter Arbeiter und der Bicot ein ausgezeichneter Bauer. Unter dem K o ­ lonialregime ist es die Wahrheit des Bicot, die Wahrheit des Negers, keinen Finger zu rühren, dem Unterdrücker nicht dabei zu helfen, seine Klauen noch tiefer in die Beute einzugraben. Der Kolonisierte, dessen politisches Bewußtsein noch nicht reif ist und der noch nicht entschlossen ist, die Unterdrückung abzuschütteln, hat die Aufgabe, sich jede noch so kleine Bewegung buchstäblich entreißen zu lassen. Das ist eine sehr kon­ krete Demonstration der Nicht-Kooperation oder jedenfalls einer mini­ malen Kooperation. Diese Bemerkungen über das Verhältnis des Kolonisierten zur Arbeit gelten auch für die Einhaltung der Gesetze des Unterdrückers, für die regelmäßige Zahlung der Steuern und Abgaben, für alle Beziehungen des Kolonisierten zum Kolonialsystem. Unter depn Kolonialregime sind D ank­ barkeit, Ehrlichkeit und Ehre leere Wörter. In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, eine alte Erfahrung bestätigt zu finden: Ehre, Würde, Respektierung des gegebenen Wortes vermögen sich nur im Rahmen einer nationalen und internationalen Homogenität zu äußern. Sobald einer wie ein H und liquidiert werden kann, bleibt ihm nur noch übrig, mit allen Mitteln sein Gewicht als Mensch wiederherzustellen. E r muß sich also mit seinem ganzen Gewicht gegen den Körper seines Folterers stem­ men, damit sein irgendwohin verirrter Geist schließlich die universale Dimension wiederfinäet. Ich konnte in diesen letzten Jahren sehen, daß im kämpfenden Algerien die Ehre, die Selbstaufopferung, die Liebe zum Leben, die Verachtung des Todes oft außerordentliche Formen annehmen. Nein, es handelt sich nicht darum, die Käm pfer zu besingen; es geht hier um eine banale Feststellung, die auch die rabiatesten Kolonialisten ge­ troffen haben: der algerische Käm pfer hat eine ungewöhnliche A rt, zu kämpfen und zu sterben, und kein Verweis auf den Islam oder auf das versprochene Paradies kann diese Selbstaufopferung bei der Beschützung des Volkes oder der Deckung der Brüder erklären. U nd dieses vernichtende

Schweigen - der Körper schreit natürlich

dieses Schweigen, das den

Folterer vernichtet! W ir stoßen hier, sage ich, auf das sehr alte Gesetz, das es irgendeinem Teil der Existenz verbietet, unberührt zu bleiben, wenn sich die N ation auf den Marsch macht, wenn der Mensch seine unbegrenzte Menschlichkeit gleichzeitig fordert und behauptet. Unter den Charakterzügen des algerischen Volkes, wie sie der Kolonialis­ mus geschaffen hatte, können w ir eine erschreckende Krim inalität festhalten. Vor 1954 waren sich Richter, Polizisten, Rechtsanwälte, Jou rna­ listen und Gerichtsärzte einig, daß sie ein Problem darstelle. D er Algerier, behauptete man, ist ein geborener Krim ineller. Es wurde eine ganze Theorie auf gestellt, es wurden wissenschaftliche Beweise dafür erbracht: das w ar 20 Jahre lang Gegenstand des Hochsdiulunterrichts. Algerische Medizinstudenten erhielten diesen Unterricht, und nachdem sich die Eliten mit dem Kolonialismus abgefunden hatten, fanden sie sich nach und nach auch mit den Geburtsfehlern des algerischen Volkes ab. Geborene Faulen­ zer, geborene Lügner, geborene Diebe, geborene Verbrecher. W ir wollen hier zunächst diese offizielle Theorie, ihre konkreten Grund­ lagen und ihre wissenschaftliche Argumentation darstellen. Dann werden w ir dieselben Tatsachen wieder aufgreifen und versuchen, sie neu zu inter­ pretieren.

Der Algerier tötet häufig: Es ist eine Tatsache, werden Ihnen die Richter sagen, daß vier Fünftel aller Gerichtsfälle mit Schlägen oder Verletzungen zu tun haben. D ie Kriminalitätsquote in Algerien ist eine der höchsten der Welt, behaupten sie. Es gibt keine kleinen Delinquenten. Wenn ein Algerier, und das gilt für alle N ordafrikaner, sich außerhalb des Gesetzes stellt, dann immer gleich in einem Höchstmaß.

Der Algerier tötet mit Grausamkeit: Die bevorzugte Waffe ist das Messer. Die Richter, »die das Land kennen«, haben sich eine kleine Philosophie über dieses Thema zusammengebastelt. Die Kabylen zum Beispiel bevor­ zugen die Pistole oder das Gewehr. Die Araber des Flachlands haben eine Vorliebe für das Messer. Einige Richter fragen sich, ob es für den Algerier nicht eine Notwendigkeit sei, Blut zu sehen. D er Algerier, w ird man Ihnen sagen, muß die Wärme des Blutes spüren, sich im Blut seines Opfers baden. Diese Richter, Polizisten und Ä rzte halten ganz ernst gemeinte Reden über die Beziehungen der islamischen Seele zum Blu t.17 Einige 17 Man weiß ja, daß der Islam verbietet, Fleisch zu essen, ohne sich versichert zu haben, daß das Tier ausgeblutet worden ist. Deshalb werden die Tiere geschäditet.

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Richter gehen sogar so weit, zu sagen, einen Menschen töten heiße für einen Algerier zunächst und vo r allem, ihn ausbluten lassen. D ie G rau­ samkeit des Algeriers zeigt sich vo r allem darin, daß er seinem O pfer eine große Zahl Verletzungen beibringt, manche sogar noch nach Eintritt des Todes. Die Obduktionen können diese Tatsache eindeutig bestätigen: weil alle Verletzungen gleich gefährlich sind, gewinnt man den Eindruck, der Mörder habe unzählige M ale töten wollen.

Der Algerier tötet aus einem nichtigen Anlaß: Oft stehen Richter und Polizisten fassungslos vo r den M otiven des Mordes: eine Geste, eine Anspielung, eine zweideutige Bemerkung, ein Streit um einen Olivenbaum in Gemeinbesitz, ein Tier, das sich in ein Achtel eines fremden Hektars hineinw agt. . . Gegenüber diesem M ord, manchmal gegenüber diesem doppelten und dreifachen M ord, ist das M otiv, von dem man die Recht­ fertigung und Begründung des Mordes erwartet, von einer hoffnungs­ losen Banalität. Daher oft der Eindruck, daß die soziale Gruppe die eigent­ lichen M otive verbirgt. D er Diebstahl eines Algeriers geschieht immer durch Einbruch, der manch­ mal von einem M ord, in jedem F all aber von einem A ngriff auf den Eigen­ tümer begleitet ist. A lle diese Elemente, zu einem Bündel vereinigt, schienen die algerische Krim inalität genügend zu spezifizieren; man konnte zur Systematisierung übergehen. D a ähnliche, wenn auch weniger prägnante Beobachtungen in Tunesien und M arokko gemacht wurden, sprach man immer mehr von der nord­ afrikanischen Krim inalität. Unter der ständigen Leitung des Professors Porot von der psychiatrischen Fakultät in A lgier untersuchten zwanzig Jah re lang mehrere Forschungsgruppen die Modalitäten dieser Krim inali­ tät, um eine soziologische, funktionale und anatomische Erklärung dafür zu liefern. W ir benutzen hier die wichtigsten Arbeiten der psychiatrischen Schule von A lgier über diese Frage. Die Ergebnisse zwanzigjähriger Forschun­ gen, w ir erinnern noch einmal daran, waren Gegenstand von meister­ haften Vorlesungen am Lehrstuhl für Psychiatrie. A u f diese Weise mußten die in A lgier approbierten Ärzte hören und ler­ nen, daß der Algerier ein geborener Verbrecher sei. Ich erinnere mich sogar an einen von uns, der diese eingepaukten Theorien ernsthaft ver­ trat und noch hinzufügte: »Das ist sthwer zu verkraften, aber es ist wissenschaftlich bewiesen.«

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D er N ordafrikaner ist ein Krimineller, sein Raubinstinkt ist bekannt, seine massive Aggressivität ist offensichtlich. D er N ordafrikaner liebt die Extreme, deshalb kann man ihm niemals ganz trauen. Heute der beste Freund, morgen der schlimmste Feind. Unempfindlich für Nuancen, ist ihm der Cartesianismus zutiefst fremd; der Sinn für Gleichgewicht, Aus­ gewogenheit, Maß läuft seiner innersten Konstitution zuwider. D er N ord ­ afrikaner ist gewalttätig von seiner Erbanlage her. Es ist ihm unmöglich, sich einer Selbstdisziplin zu unterwerfen, seine Triebe zu kanalisieren. Ja , der Algerier ist von Geburt an triebhaft. Aber, so präzisiert man, diese Triebhaftigkeit ist stark aggressiv und mordlüstern. A u f diese Weise kann man das unorthodoxe Verhalten des algerischen Melancholikers erklären. Die französischen Psychiater in A l­ gerien standen nämlich einem schwierigen Problem gegenüber. Sie waren gewöhnt, bei einem von Melancholie befallenen Kranken mit einem Selbst­ mord zu rechnen. D er algerische Melancholiker dagegen tötet. Jene K ran k ­ heit des moralischen Bewußtseins, die immer von Selbstanklagen und auto­ destruktiven Neigungen begleitet ist, nimmt beim Algerier hetero-destruk­ tive Formen an. D er melancholische Algerier bringt sich nicht um, er tötet. Das ist die von Professor Porot, in der Doktorarbeit seines Schülers Monserrat, genau untersuchte »mordsüchtige Melancholie«. Wie erklärt sich die Schule von A lgier diese Anomalie? Sich töten, sagt sie, heißt gewöhnlich, auf sich selbst zurückkommen, sich selbst betrachten, eine Introspektion vornehmen. D er Algerier aber streubt sich gegen das Innenleben. D er N ordafrikaner kennt kein Innenleben. E r entledigt sich seiner Sorgen, indem er sich auf seine Umgebung stürzt. E r analysiert nicht. Wenn die Melancholie per definitionem eine Krankheit des morali­ schen Bewußtseins ist, können beim Algerier natürlich nur Pseudo-Melan­ cholien entstehen, da ja die Dürftigkeit seines Bewußtseins wie auch die Brüchigkeit seines moralischen Sinnes bekannt sind. Diese Unfähigkeit, eine Situation zu analysieren, ein geistiges Panorama zu erschaffen, w ird verständlich, wenn man sich auf die zwei Kausalitätsreihen bezieht, die von den französischen Autoren angeboten werden. Zunächst, was die intellektuellen Fähigkeiten angeht: der Algerier ist geistig debil. Um diese Tatsache richtig zu verstehen, muß man sich die Diagnostik der Schule von A lgier vo r Augen führen. D er Eingeborene, heißt es hier, weist folgende Merkmale auf: K ein oder fast kein Gefühlsleben Äußerst leichtgläubig und beeinflußbar

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Zähe Verbohrtheit Geistige Infantilität ohne die Wißbegierde des westlichen Kindes Hysterische Erscheinungen und Reaktionen18 D er Algerier sieht nicht das Ganze. Die Fragen, die er sich* stellt, betreffen immer die Details und schließen jede Synthese aus. E r ist ein Haarspalter, klebt an den Gegenständen, verliert sidi ins Detail, ist unzugänglich für die Idee, sträubt sich gegen Begriffe. D er sprachliche Ausdruck ist auf ein Minimum beschränkt. Seine Bewegungen sind immer impulsiv und aggres­ siv. U nfähig, das Detail vom Ganzen her zu verstehen, verabsolutiert er das einzelne Element und nimmt den Teil für das Ganze. Deshalb hat er auch totale Reaktionen gegenüber Partialreizen, gegenüber Lappalien wie einem Feigenbaum, einer Geste, einem Schaf auf seinem Boden. Die an­ geborene Aggressivität sucht sich Wege, begnügt sich mit dem kleinsten Vorw and. Es ist Aggressivität in reinster Form.19 Wenn die deskriptive Arbeit geleistet ist, geht die Schule von A lgier zur Explikation über. A u f dem psychiatrisch-neurologischen Kongreß 1935 in Brüssel legte Professor Porot die wissenschaftlichen Grundlagen seiner Theorie dar. Bezugnehmend auf den Bericht von Baruk über .die Hysterie, wies er darauf hin, daß »der nordafrikanische Eingeborene, dessen höhere Aktivitäten (Hirnrinde) wenig entwickelt sind, ein primitives Wesen ist* dessen vorwiegend vegetatives und instinktives Leben vor allem vom Z w ischenhim reguliert wird«. U m die Bedeutung dieser Entdeckung von Professor Porot zu ermessen, muß man sich daran erinnern, daß das Charakteristikum der menschlichen A rt, verglichen mit den anderen Wirbeltieren, die Kortikalisation (höhere Entwicklung der Hirnrinde) ist. Das Zwischenhirn ist einer der prim itiv­ sten Teile des Gehirns, und der Mensch ist primär das Wirbeltier, bei w el­ chem die H irnrinde dominiert. Professor Porot sieht das Leben des nordafrikanischen Eingeborenen von 18 A. Porot, Annales Medico-Psychologiques, 1918. 19 Nach der Ansicht des Vorsitzenden einer Kammer in Algier schlägt sich die Aggressivität des Algeriers in seiner Liebe zur »Fantasie« nieder. »Diesen ganzen Aufstand«, sagte er 1955, »hält man zu Unrecht für einen politischen Aufstand. Von Zeit zu Zeit muß das einfach heraus, diese Rauflust.« Nach Ansicht eines Ethnologen hätte eine Serie von Projektivtests zur Kanalisierung der allgemeinen Aggressivität des Eingeborenen die Revolution im Dsdiebel Aur&s 195 j-1956 auf­ halten können.

den Zwischenhirninstanzen beherrscht. Das heißt, der Eingeborene ist in gewisser Weise der Hirnrinde beraubt. Professor Porot geht diesem Wider­ spruch nicht aus dem Wege; im A pril 1939 präzisiert er im Sud Medical

et Chirurgical in Zusammenarbeit mit seinem Schüler Sutter, der jetzt Professor der Psychiatrie in A lgier ist: »Der Primitivismus ist kein M an­ gel an Reife, kein Stillstand in der Entwicklung des intellektuellen Psychismus. E r ist eine soziale Bedingung, die zum Endpunkt ihrer Entwick­ lung gelangte, er ist in logischer Weise einem Leben angepaßt, das sich von dem unseren unterscheidet.« Schließlich kommen die Professoren auf die Grundlage ihrer Doktrin zu sprechen: »Dieser Primitivismus ist nicht nur eine Lebensweise, die aus einer speziellen Erziehung resultiert, er hat viel tiefere Wurzeln, und w ir nehmen sogar an, daß er sein Substrat in 'einer besonderen Anlage der Architektonik, zumindest der dynamischen H ier­ archie der Nervenzentren haben muß. M an sieht also, daß die Triebhaftig­ keit des Algeriers, die H äufigkeit und die Merkmale seiner Morde, seine ständige Neigung zur Straffälligkeit, sein Primitivismus kein Z u fall sind. W ir haben es mit einem kohärenten Verhalten zu tun, mit einem wissen­ schaftlich erklärbaren kohärenten Leben. D er Algerier hat keine Hirnrinde oder, um genauer zu sein, das beherrschende Element ist, wie bei den nie­ deren Wirbeltieren, das Zwischenhirn. D ie kortikalen Funktionen sind, wenn sie überhaupt existieren, sehr brüchig, praktisch nicht in die D yna­ mik der Existenz integriert. W ir stehen also weder vor einem Geheimnis noch vor einem Paradox. Das Zögern des Kolonisators, dem Eingeborenen eine Verantwortung zu übertragen, ist kein Rassismus oder Paternalismus, sondern beruht ganz einfach auf wissenschaftlicher Einschätzung der bio­ logisch begrenzten Möglichkeiten des Kolonisierten.« W ir wollen diese Übersicht mit einer Folgerung von D oktor Carothers, dem Experten der Weltgesundheitsorganisation, abschließen, die sich auf ganz A frik a bezieht. Dieser international anerkannte Fachmann hat die Quintessenz seiner Erfahrungen in einem 1954 erschienenen Buch darge­ boten.20 D oktor Carothers praktizierte in Zentral- und O stafrika, aber seine Schlußfolgerungen decken sich mit denen der nordafrikanischen Schule. Auch diesem Experten zufolge »benutzt der A frikan er sein Stim hirn sehr wenig. A lle Eigenarten der afrikanischen Psychiatrie können auf Trägheit des Stirnhirns zurückgeführt werden.«21 20 Carothers, Psychologie normale et pathologique de VAfricain, Etudes EthnoPsychiatriques, Paris 1954. 21 a.a.O., S. 176.

Um sich besser verständlich zu machen, benutzt D oktor Carothers einen sehr lebendigen Vergleich. E r behauptet, der normale A frikaner sei ein »lobotomierter Europäer«. M an weiß, daß die angelsächsische Schule in der Stillegung eines wichtigen Gehimteiles eine radikale Therapie für bestimmte ernste Formen von Geisteskrankheiten gefunden zu haben glaubte. D er dabei festgestellte grobe V erfall der Persönlichkeit führte dazu, daß diese Methode wieder aufgegeben wurde. Nach D oktor C aro­ thers ist die Ähnlichkeit zwischen dem normalen afrikanischen Eingebore­ nen und dem lobotomierten Europäer frappierend. Nach dem Studium der Arbeiten verschiedener in A frik a praktizierender Autoren bietet uns Carothers eine Schlußfolgerung an, die eine einheit­ liche Konzeption des A frikaners begründet. »Das sind Sachverhalte«, schreibt er, »die sich nicht mit den europäischen Kategorien decken. Sie sind in den verschiedenen Gebieten Ost-, West- und Südafrikas gesam­ melt worden, und die einzelnen Autoren hatten wenig oder gar keine Kenntnis von den Arbeiten der anderen. Die wesentliche Übereinstim­ mung zwischen diesen Arbeiten ist also sehr auffällig.«22 Zum Schluß wollen w ir noch darauf hinweisen, daß Carothers die MauM au-Revolte als den Ausdruck eines unbewußten Frustrationskomplexes beschrieb; eine Wiederholung könne durch spektakuläre psychologische Anpassungsmaßnahmen vermieden werden. Also ein ungewöhnliches Verhalten: die Häufigkeit der Krim inalität des Algeriers, die Banalität der aufgefundenen M otive, der mörderische und immer ausgesprochen blutige Charakter der Schlägereien stellten den Beob­ achtern ein Problem. D ie angebotene Erklärung, die Unterrichtsstoff ge­ worden ist, scheint letztlich auf folgendes hinauszulaufen. Die besondere Gehimstruktur des N ordafrikaners gibt gleichzeitig über die Faulheit des Eingeborenen, über seine intellektuelle und soziale Untauglichkeit und über seine quasi-animalische Triebhaftigkeit Aufschluß. Die Krim inalität des N ordafrikaners ist der Niederschlag einer bestimmten Anlage des Nervensystems. Sie ist eine neurologisch verständliche, auf der N atu r der Dinge, nämlich des biologisch organisierten Dinges, beruhende Reaktion. Die Nicht-Integration des Stirnhirns in die zerebrale D ynam ik erklärt die Faulheit, die Verbrechen, die Diebstähle, die Vergewaltigungen, das Lügen. U nd die Schlußfolgerung gab mir ein Unterpräfekt, der heute P rä­ 22 a.a.O., S. 178.

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fekt ist: »Diesen Naturwesen, die den Gesetzen ihrer N atur blind gehor­ chen, muß man strenge und unerbittliche Behörden entgegensetzen. Man muß die N atur zähmen und nicht überzeugen.« Disziplinieren, abrichten, niederknüppeln und neuerdings befrieden sind die Vokabeln, die von den Kolonialisten in den besetzten Gebieten am meisten gebraucht werden. Wenn w ir die Theorien der kolonialistisdien Wissenschaftler so ausführ­ lich dargelegt haben, dann weniger, um ihre Dürftigkeit und Absurdität zu zeigen, als um ein äußerst wichtiges theoretisches und praktisches Pro­ blem aufzugreifen. Unter den Fragen, die sich der Revolution stellten, unter den Themen, die politisch erklärt und entmystifiziert werden muß­ ten, w ar die algerische Krim inalität nur von untergeordneter Bedeutung. A ber die Gespräche, die gerade über dieses Thema stattfanden, waren so fruchtbar, daß sie uns den Begriff der individuellen und sozialen Befrei­ ung vertiefen und besser definieren halfen. Wenn man in der Revolution vor den Kadern oder den Militanten auf die algerische Krim inalität zu sprechen kommt; wenn man die Durchschnittszahl der Verbrechen, Delikte und Diebstähle der vorrevolutionären Zeit nennt; wenn man erklärt, daß die Physiognomie eines Verbrechens, die Häufigkeit der Delikte eine Funk­ tion der bestehenden Beziehungen zwischen Männern und Frauen, zw i­ schen den Menschen und dem Staat sind, die jeder versteht; wenn man die sichtliche Auflösung des Begriffes vom prädestinierten nordafrika­ nischen oder algerischen Kriminellen miterlebt, eines Begriffes, der in das Bewußtsein des Algeriers eingehämmert w ar, weil w ir schließlich »jäh­ zornig, streitsüchtig und böse sind, das ist nun einmal so« - dann kann man sagen, daß die Revolution Fortschritte macht. M an muß - das ist das große theoretische Problem - in jedem Augenblick und an jedem O rt erklären, entmystifizieren, Ja g d machen auf die Belei­ digung des Menschen, die man in sich trägt. M an d arf nicht darauf warten, daß die N ation neue Menschen hervorbringt. M an d arf nicht erwarten, daß sich die Menschen in einer ständigen revolutionären Erneuerung un­ merklich verändern. Es trifft zw ar zu, daß diese beiden Prozesse sehr wichtig sind, aber man muß dem Bewußtsein helfen. Wenn die revolutio­ näre Praxis auf allen Gebieten befreiend und fruchtbar sein w ill, d arf nichts Ungehöriges übrigbleiben. Besonders heftig spürt man die N otw en­ digkeit, das Geschehen zu totalisieren, alles mit sich fortzureißen, alles zu regeln, für alles verantwortlich zu sein. Dem Bewußtsein kommt es dann nicht sauer an, noch einmal umzukehren und, wenn nötig, auf der Stelle zu treten. Für eine progressive Kam pfeinheit bedeutet deshalb das Ende *34

eines Gefechts nicht Ruhe; es ist der Moment, wo das Bewußtsein eine weitere Wegstrecke zurücklegt, denn alles muß zugleich unterwegs sein. Ja , spontan gab der Algerier den Richtern und Polizisten recht.23 Die auf der Ebene des Narzißmus erlebte algerische Krim inalität mußte als Äuße­ rung einer echten Männlichkeit aufgefaßt werden. M an mußte das Pro­ blem im Rahmen der Kolonialgeschichte sehen, mußte zum Beispiel zeigen, daß die Krim inalität der in Frankreich lebenden Algerier von der K rim i­ nalität der unter der direkten kolonialen Ausbeutung stehenden Algerier grundlegend abwich. Zweitens fiel au f: in Algerien spielt sich diese Krim inalität praktisch im geschlossenen Kreis ab. D ie Algerier bestehlen, zerfleischen und töten ein­ ander gegenseitig, vergreifen sich aber selten an den Franzosen und gehen Schlägereien mit ihnen aus dem Wege. In Frankreich dagegen schafft der Emigrierte eine Krim inalität, die sich zwischen verschiedenen gesellschaft­ lichen Gruppen abspielt. Sie richtet sich vo r allem gegen Franzosen, und ihre Gründe sind radikal andere als in Algerien. Ein Paradox hät uns geholfen, den Militanten die Augen zu öffnen: seit 1954 stellt man ein fast vollständiges Verschwinden der Verbrechen nach gemeinem Recht fest. Keine Streitereien, keine bedeutungslosen Details ziehen mehr den Tod eines Menschen nach sich. Keine Wutausbrüche mehr, weil ein Nachbar die Stirn meiner Frau oder ihre linke Schulter gesehen hat. D er nationale K am p f scheint die angestaute Wut kanalisiert, alle affektiven oder emotionalen Regungen »nationalisiert« zu haben. Das hatten die französischen Richter und A nw älte schon festgestellt, aber der M ilitant mußte sich dessen bewußt werden und die Gründe dafür er­ kennen. Bleibt noch die Erklärung. Konnte man sagen, daß der Krieg, als bevorzugter Bereich für die Äuße­ rung einer endlich vergesellschafteten Aggressivität, die angeborenen M ord­ 23 Diese Identifizierung mit dem vom Europäer hervorgebrachten Bild war natürlich sehr ambivalent. Der Europäer schien nämlich dem gewalttätigen, lei­ denschaftlichen, brutalen, eifersüchtigen, stolzen, hochmütigen Algerier, der sein Leben für ein Nichts aufs Spiel setzt, eine ebenso ambivalente Hochachtung ent­ gegenzubringen. Wir weisen beiläufig darauf hin, daß die algerischen Europäer, wenn sie sich mit den Franzosen Frankreichs vergleichen, mehr und mehr dazu neigen, sich selbst mit diesem Bild des Algeriers, im Gegensatz zum Franzosen, zu identifizieren. 235

neigungen auf den Okkupanten hin kanalisiert hatte? Es ist eine banale Feststellung, daß die großen sozialen Explosionen die Häufigkeit der Straftaten und psychischen Störungen vermindern. Demnach ließe sich der Rückgang der algerischen Krim inalität ausgezeichnet durch die E x i­ stenz eines Krieges erklären, der Algerien in zwei Teile zerriß und die ganze Justiz- und Verwaltungsmaschinerie auf die Seite des Feindes w arf. In den schon befreiten Ländern des Maghreb bleibt jedoch diese während der Befreiungskämpfe festgestellte Erscheinung bestehen und konsolidiert sich mit der Unabhängigkeit. Demnach scheint der koloniale Kontext ge­ nügend originär zu sein, um eine Neuinterpretation der Krim inalität zu rechtfertigen. Wir haben sie für die Kämpfenden neu interpretiert. Heute weiß bei uns jeder, daß die Krim inalität nicht die Folge von angeborenen Eigenschaften des Algeriers ist noch von der Organisation seines N erven­ systems herrührt. D er Algerienkrieg, die nationalen Befreiungskriege las­ sen die wahren Protagonisten hervortreten. In der Kolonialsituation sind die Eingeborenen, wie w ir gezeigt haben, unter sich. Sie haben die N ei­ gung, sich gegenseitig als Schutzwand zu benutzen. Jeder verbirgt dem anderen den nationalen Feind. Wenn der Kolonisierte nach einem harten 16-Stunden-Tag sich todmüde auf seine M atte fallen läßt und das Weinen eines Kindes durch die Stoffwand dringt, so daß er nicht schlafen kann, dann ist es eben ein kleiner Algerier . Wenn er den Lebensmittelhändler, dem er einige Francs schuldet, um etwas Grieß oder ö l bittet und dieser ihm die Gefälligkeit verweigert, dann steigt ein riesiger H aß und eine unbändige Lust zu töten in ihm auf, und der Lebensmittelhändler ist ein

Algerier . Wenn er eines Tages dem C aid in die H ände läuft, dem er seit Wochen aus dem Wege geht, weil dieser »Steuern« verlangt, dann bleibt ihm nicht einmal mehr die Zeit, den europäischen V erw alter zu hassen; vo r ihm steht der Caid, der seinen H aß hervorruft, und es ist wieder ein

Algerier, D a der Eingeborene täglichen Mordversuchen ausgesetzt ist - Hunger, Vertreibung aus dem nicht bezahlten Zimmer, Vertreibung von der aus­ getrockneten Mutterbrust, zum Skelett abgemagerte Kinder, Schließung der Arbeitsstelle, die Arbeitslosen, die wie Krähen um den V erw alter herumstreichen sieht er schließlich in seinesgleichen einen unversöhn­ lichen Feind. Wenn er sich die Füße an einem großen Stein mitten auf dem Weg zerschindet, so w ar es ein Eingeborener, der ihn da hingelegt hat, und die paar Oliven, die man pflücken wollte, haben natürlich die Kinder

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von X . nachts aufgefressen. J a , in der Kolonialperiode tut einer in A lge­ rien und auch anderswo manches für ein K ilo Grieß. E r kann mehrere Personen töten. M an braucht Phantasie, um diese Dinge zu verstehen. Oder Gedächtnis. In den Konzentrationslagern haben oft Menschen für ein Stück Brot getötet. Ich erinnere mich an eine grauenhafte Szene. Es w ar in O ran im Jah re 1944. Aus dem Lager, wo w ir auf die Einschiffung warteten, warfen die Soldaten kleinen Algeriern B rot zu, das sie sich wutund haßerfüllt gegenseitig abjagten. Tierärzte könnten diese Erscheinun­ gen durch die berühmte peck-order erklären, die man in den Hühnerhöfen festgestellt hat: der verteilte Mais ist Gegenstand eines unerbittlichen Kam pfes. Das stärkste Geflügel verschlingt alle Körner, während das weniger aggressive sichtlich abmagert. Jede Kolonie hat die Tendenz, ein riesiger Hühnerhof, ein riesiges Konzentrationslager zu werden, wo nur das Gesetz des Messers herrscht. In Algerien hat sich seit dem nationalen Befreiungskrieg alles geändert. Sämtliche Vorräte einer Familie oder einer M etdia können an einem ein­ zigen Abend einer vorbeiziehenden Kompanie angeboten werden. Der einzige Esel der Familie kann für den Transport eines Verwundeten ge­ borgt werden. Und wenn der Besitzer einige Tage später erfährt, daß sein Tier vom Maschinengewehrfeuer eines Flugzeugs getroffen worden ist, dann stößt er keine Verwünschungen und Drohungen aus. E r w ird den Tod seines Tieres nicht bezweifeln, aber er w ird beunruhigt danach fragen, ob der Verwundete heil durchgekommen ist. Unter dem Kolonialregime macht man alles für ein K ilo Brot oder ein armseliges Schaf . . . D ie Beziehungen des Menschen zur Materie, zur Welt, zur Geschichte sind in der Kolonialperiode Beziehungen zur N ah ­ rung. In einer Atmosphäre der Unterdrückung wie der von Algerien heißt leben nicht mehr Werte verkörpern oder sich in die zusammenhän­ gende und fruchtbare Entwicklung einer Welt einfügen. Leben heißt hier nur: nicht sterben. Existieren heißt: das Leben erhalten. Jede Dattel ist ein Sieg. Nicht ein Resultat der Arbeit, sondern ein Sieg, der als Triurriph des Lebens empfunden wird. Datteln entwenden, sein Schaf das Gras des Nachbarn fressen lassen, das ist keine Verneinung des Eigentums anderer, keine Übertretung eines Gesetzes oder Respektlosigkeit. Das sind M ord­ versuche. M an muß gesehen haben, wie in Kabylien Männer und Frauen wochenlang Erde aus dem T al holten und in kleinen Körben hinauf­ schleppten, um zu verstehen, daß ein Diebstahl ein Mordversuch ist, nicht eine unfreundliche oder illegale Geste. Die einzige Perspektive ist dieser 237

immer mehr zusammenschrumpfende Magen, der zw ar immer anspruchs­ loser wird, den man aber dennoch zufriedenstellen muß. A n wen soll man sich also halten? D er Franzose sitzt im Flachland mit Polizisten, einer Armee und Panzern. Im Gebirge gibt es nur Algerier. Oben der Himmel mit seinen Jenseits Versprechungen, unten die Franzosen mit ihren sehr konkreten Versprechungen von Gefängnis, Niederknüppelung und H in­ richtung. Natürlich stößt man dann auf sich selbst. H ier ist der Kern jenes Selbsthasses, der die Rassenkonflikte in den Gesellschaften mit Rassen­ trennung kennzeichnet. D ie Krim inalität des Algeriers, seine Triebhaftigkeit, die Gewaltsamkeit seiner Morde sind also nicht die Folge einer Organisation des N erven­ systems noch eine Anzahl spezieller Charaktereigenschaften, sondern das direkte Produkt der Kolonialsituation. Daß die algerischen Käm pfer die­ ses Problem diskutierten, daß sie keine Angst hätten, die durch den K o lo­ nialismus in sie eingehämmerten Ansichten in Frage zu stellen, daß sie einsahen, daß jeder die Schutzwand des anderen' w ar und daß in W irk­ lichkeit jeder, der sich auf einen anderen stürzte, Selbstmord beging, sollte eine entscheidende Bedeutung für das revolutionäre Bewußtsein haben. Noch einmal: das Ziel des kämpfenden Kolonisierten ist das Ende der Fremdherrschaft. Aber er muß auch auf die Ausrottung aller Nichtwahr­ heiten aus sein, die durch die Unterdrückung in seinen K örper eingepflanzt wurden. In einem Kolonialsystem, wie es in Algerien existierte, beeinflus­ sen die vom Kolonialismus propagierten Ideen nicht nur die europäische Minderheit, sondern auch den Eingeborenen. D ie Befreiung muß sich auf alle Bereiche der Persönlichkeit erstrecken. D er O berfall und der Zusam­ menstoß, die Folter und das Niedermetzeln der Brüder läßt den Sieges­ willen Wurzeln schlagen, erneuert das Unbewußte und speist die V o r­ stellungswelt. Wenn die N ation in ihrer Gesamtheit aufbricht, dann ist der neue Mensch nicht ein nachträgliches Erzeugnis dieser Nation, er exi­ stiert schon mit ihr, entwickelt sich mit ihr, siegt mit ihr. Diese dialektische Notwendigkeit erklärt die Ablehnung von angepäßten Kolonisierungen oder oberflächlichen Reformen. D ie Unabhängigkeit ist nicht ein Wort, das man bannen kann, sondern eine unentbehrliche Lebensbedingung der wirklich befreiten Männer und Frauen, das heißt der Herren über alle materiellen M ittel, die eine radikale Veränderung der Gesellschaft möglich machen.

Schlußfolgerung

Los, meine Kam pfgefährten, es ist besser, wenn w ir uns sofort entschlie­ ßen, den Kurs zu ändern. D ie große Nacht, in der w ir versunken waren, müssen w ir abschütteln und hinter uns lassen. D er neue Tag, der sich schon am H orizont zeigt, muß uns standhaft, aufgeweckt und entschlossen an­ treffen. Unsere Träume, unseren alten Glauben und unsere Freundschaften aus der Zeit vor dem Leben müssen w ir aufgeben. Verlieren w ir keine Zeit mit sterilen Litaneien oder ekelhafter Nachäfferei. Verlassen w ir dieses Eu­ ropa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei nieder­ metzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei ande­ ren Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen eines angeblichen »gei­ stigen Abenteuers« fast die gesamte Menschheit erstickt. Seht, wie es heute zwischen der atomaren und der geistigen Auflösung hin und her schwankt. Und trotzdem kann man von ihm sagen, daß es alles erreicht hat. M it Energie, Zynismus und G ew alt hat Europa die Führung der Welt übernommen. Seht, wie der Schatten seiner Monumente sich ausbreitet und vergrößert. Jede Bewegung Europas hat die Grenzen des Raumes und des Denkens gesprengt. Europa hat jede Demut, jede Bescheidenheit zurückgewiesen, aber auch jede Fürsorge, jede Zärtlichkeit. N u r beim Menschen hat es sich knauserig gezeigt, nur beim Menschen schäbig, raubgierig, mörderisch. Brüder, wie sollten w ir nicht begreifen, daß w ir etwas Besseres zu tun haben, als diesem Europa zu folgen. Dieses Europa, das niemals aufgehört hat, vom Menschen zu reden, nie­ mals auf gehört hat, zu verkünden, es sei nur um den Menschen besorgt: w ir wissen heute, mit welchen Leiden die Menschheit jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt hat. Los, (genossen, Europa hat endgültig ausgespielt, es muß etwas anderes gefunden werden. W ir können heute alles tun, vorausgesetzt, daß w ir nicht Europa nachäffen, vorausgesetzt, daß w ir nicht von der Begierde besessen sind, Europa einzuholen.

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Europa hat ein derart wahnsinniges und chaotisches Tempo erreicht, daß es heute jedem Piloten, jeder Vernunft davonrast und sich in einem ent­ setzlichen Taumel auf Abgründe hin bewegt, von denen man sich lieber so schnell wie möglich entfernen sollte. Trotzdem brauchen w ir natürlich ein Modell, Schemata, Vorbilder. Für viele von uns ist das europäische Modell das anziehendste. M an hat auf den vorhergehenden Seiten sehen können, welches Mißgeschick uns diese Nachahmung eintrug. Die europäischen Errungenschaften, die europäische Technik, der europäische Stil dürfen uns nicht mehr in Versuchung führen und aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn ich in der europäischen Technik und im europäischen Stil den Men­ schen suche, stoße ich auf eine Folge von Negationen des Menschen, auf eine Lawine von Morden. Die Lage des Menschen, die Pläne des Menschen, die Zusammenarbeit der Menschen zur Lösung von Aufgaben, die die Totalität des Menschen ver­ größern, das sind neue Probleme, die wirkliche Erfindungen erfordern. Entschließen w ir uns, Europa nicht zu imitieren. Spannen w ir unsere Mus­ keln und Gehirne für einen neuen Kurs an. Versuchen w ir, den totalen Menschen zu erfinden, den zum Siege zu führen Europa unfähig war. V or zwei Jahrhunderten hatte sich eine ehemalige europäische Kolonie in den K o p f gesetzt, Europa einzuholen. Es ist ihr so gut gelungen, daß die Vereinigten Staaten ein Monstrum geworden sind, bei dem die G e­ burtsfehler, die Krankheiten und die Unmenschlichkeit Europas grauen­ hafte Dimensionen angenommen haben. Genossen, haben w ir nichts Besseres zu tun, als ein drittes Europa zu schaffen? D er Okzident hat ein Abenteuer des Geistes sein wollen. Im Namen des Geistes, des europäischen Geistes versteht sich, hat Europa seine Verbrechen gerechtfertigt und die Versklavung legitimiert, welcher es vier Fünftel der Menschheit unterworfen hatte. Ja , der europäische Geist hat merkwürdige Grundlagen. Das europäische Denken ist a u f immer ödere und abschüssigere Bahnen geraten. So wurde es ihm zur Gewohnheit,7Mufter weniger auf den Menschen zu stoßen. Ein permanenter Dialog mit sich selbst, ein immer obszönerer Narzißmus haben einer A rt Delirium das Bett bereitet, in dem die Arbeit des Gehirns zum Leiden wird, weil die Realitäten gar nicht mehr die des leben­ digen, arbeitenden und sich schaffenden Menschen sind, nur noch Wörter, verschiedene Zusammenstellungen von Wörtern, die Spannungen der in den Wörtern enthaltenen Bedeutungen. Es haben sich dennoch Europäer

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gefunden, die die europäischen Arbeiter aufriefen, diesen Narzißmus zu zerstören und mit dieser Entwicklung zu brechen. D ie europäischen Arbeiter sind diesen Appellen im Allgemeinen nicht ge­ folgt, denn auch sie glaubten sidi von dem wunderbaren Abenteuer des europäischen Geistes betroffen. A lle Elemente einer Lösung der großen Probleme der Menschheit sind zu verschiedenen Zeiten im Denken Europas aufgetaucht. Aber in seinem Handeln hat der europäische Mensch die ihm zufallende Mission nicht er­ fü llt: mit aller G ew alt auf diese Elemente zu setzen, ihre Anordnung, ihr Sein zu modifizieren, sie zu verändern und schließlich das Problem des Menschen auf eine unvergleichlich höhere Stufe zu heben. Heute erleben w ir eine Stagnation Europas. Fliehen w ir, Genossen, diese unbewegliche Bewegung, in der die D ialektik sich ganz allmählich zu einer Logik des Gleichgewichts gemausert hat. Nehmen w ir die Frage des Menschen wieder auf. Nehmen w ir die Frage nach der R ealität des G e­ hirns, der Gehimmasse der ganzen Menschheit wieder auf, deren Kom bi­ nationen vervielfältigt, deren Strukturen differenziert und deren Bot­ schaften vermenschlicht werden müssen. Los, Brüder, w ir haben viel zuviel Arbeit, um uns mit Rückzugsgefechten die Zeit vertreiben zu können. Europa hat getan, was es tun mußte, und alles in allem hat es seine Sache gut gemacht. Hören w ir auf, es anzu­ klagen, aber sagen w ir ihm ins Gesicht, daß es nicht mehr soviel Wind machen soll. W ir haben es nicht mehr zu fürchten, hören w ir also auf, es zu beneiden. Die Dritte Welt steht heute als eine kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muß es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können. Abier dann d arf sie auf keinen Fall von Ertrag, von Intensivierung, von Rhythmus sprechen. N ein, es handelt sich nicht um eine Rückkehr zur N atur. Es handelt sich ganz konkret darum, die Menschen nicht auf Wege zu zerren, auf denen sie verstümmelt werden, d g g Gehirn keinen R hyth­ mus aufzuzwingen, der es rasch auslöscht u n d rz$ri?üttet. Es d arf nicht ge­ schehen, daß der Mensch unter dem Vorwand, Europa einzuholen, hin und her gezerrt, sich selbst, seiner Intimität entrissen, zermürbt und getötet wird. Nein, w ir wollen niemanden einholen. Aber w ir wollen die ganze Zeit, T ag und Nacht, in Gesellschaft des Menschen marschieren, in Gesellschaft aller Menschen. Es kommt darauf an, den Zug nicht auseinanderzuziehen,

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weil sonst jede Reihe die vor ihr nicht mehr erkennen kann, und Men­ schen, die einander nicht mehr erkennen, begegnen einander immer weni­ ger und sprechen immer weniger miteinander. Für die Dritte Welt geht es darum, eine Geschichte des Menschen zu be­ ginnen, die den von Europa einst vertretenen großartigen Lehren, aber zugleich auch den Verbrechen Europas Rechnung trägt, von denen das verabscheuungswürdigste gewesen sein w ird : beim Menschen die patholo­ gische Zerstückelung seiner Funktionen und die Zerstörung seiner Einheit; beim K ollektiv der Bruch, die Spaltungen; und schließlich auf der uner­ meßlichen Ebene der Menschheit der Rassenhaß, die Versklavung, die Ausbeutung und vo r allem der unblutige Völkermord, nämlich das Bei­ seiteschieben von anderthalb Milliarden Menschen. Also, meine Kam pfgefährten, zahlen w ir Europa nicht Tribut, indem w ir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind. Die Menschheit erwartet etwas anderes von uns als diese fratzenhafte und obszöne Nachahmung. Wenn w ir A frik a und Lateinamerika in ein neues Europa verwandeln wollen, dann vertrauen w ir die Geschicke unserer Länder lieber den Euro­ päern an! Sie werden es besser machen als die Begabtesten unter uns. Wenn w ir jedoch wollen, daß die Menschheit ein Stück vorw ärts kommt, wenn w ir sie auf eine andere Stufe heben wollen als die, die Europa inne­ hat, dann müssen w ir wirkliche Erfindungen und Entdeckungen machen. Wenn w ir der Erwartung unserer Völker nadikommen wollen, dann müs­ sen w ir woanders als in Europa auf die Suche gehen. Mehr noch, wenn w ir der Erwartung der Europäer nadikommen wollen, dann dürfen w ir ihnen kein, wenn auch noch so ideales, B ild ihrer Gesell­ schaft und ihres Denkens zurückwerfen, fü r die sie von Zeit zu Zeit einen ungeheuren Ekel empfinden. Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen w ir eine neue H aut schaffen ein neues Denken entwickeln, einen neuen Men­ schen auf die Beine stellen.

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