Zeit haben - Zeit sein: Ein Plädoyer für Zeit 9783161618376, 9783161621857, 3161618378

Ständig stehen wir unter Zeitdruck; mit jedem neuen Mittel zur Zeitersparnis verstricken wir uns nur immer tiefer im Ges

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German Pages 208 [220] Year 2023

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Zur Fragestellung
2. Zum Aufbau
3. Zu Stil und Verfahren
4. Zeittheoretische Verortung. Für eine aporetische Philosophie der Zeit
I. Allotria zur Zeittheorie
1. Zeitsein: ‚Dass des Jetzt‘ – Geschehen der Zeit
1.1. Asynchronizität und Polytemporalität
1.2. Schem(at)en der Zeit: Qualität, Relation und Modalität
1.3. Qualität der Quantität von Zeit. Aporien der Zeit 1: Zählbarkeit
1.4. Konstitutive Unverfügbarkeit von Zeitgrenzen im Zeitvollzug
1.5. Ausspannen der Seele in der Zeit. Aporien der Zeit 2: Ständige Ewigkeit
1.6. Objektive Zeit als objektivierte: Die Zeit als Konstrukt
1.7. Es-gibt und Es-gilt-als
1.8. Objektivität der Subjektivität – Beharrlichkeit des Geschehens
1.9. Raummetaphern 1: Fluss und Fließen
2. Zeithaben: Weile, Zeitspannen und -richtungen
2.1. Zeithaben und Selbstsein
2.2. Gegen das Verständnis der Zeit als Enge und der Weile als Entzeitlichung
2.3. Allzeiterneuerte Gegenwart und Richtung
2.4. Erinnern, Wahrnehmen, Antizipieren und das Fokussieren auf Ereignisse
2.5. Erzählte Zeit
2.6. Tod, Grenzüberschreitung und Wunderstruktur der Wirklichkeit
2.7. Raummetaphern 2: Enge – Hörbilder gegen die „Oculartyrannis“
2.8. Pathologien der Zeit: Entzeitlichung, Zeitdruck, Melancholie und Fragmentierung
2.9. Ausnahmezustand und Feier der Zeit: Muße
2.10. Zusammenschau
3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis
3.1. Augenblick
3.2. Kairos
3.3. Geschichtliche Ereignisse
4. Schwelle: Der Einbruch von Chronos in den Augenblick – Revolution
II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie
1. Potentialisierung der Zeit, Wert-Liquidität und Verschuldung des Lebens
2. Ökonomie der Zeit und Zeitgewinn: Quantitative Zeit und Lebenszeit
3. Konkrete Zeit und historische Zeit: Allseitige Entwicklung
4. Allseitiger Genuss und Kritik der Arbeit
5. Zeit-Überfluss. Mit Bataille zu einer Ökonomie der Zeitverschwendung*
III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile
1. Teil: 4.0
1.1. Prophetie und Produktionslogik des Futur II
1.2. Technologische Eigenzeit: Mächtigkeit und allgegenwärtiger Augenblick
2. Teil: Langeweile
2.1. Vom Geschenk der Langeweile und Nietzsches Heroismus
2.2. Langweile als Schwelle: Muße, Freiheit, Glück
2.3. Pathos und Katharsis der Zeit
3. Schluss
IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess
1. Archetopos und Utopie
2. Der Historische Materialismus als Wunscharbeit am Selbst
3. Narrative Welterschließung, Utopie der Erkenntnis und die Methode der Entzauberung durch Verzauberung
4. Anthropologische Bestimmungen und das utopische Handeln als Anfangen
5. Geschichten von Utopie und Archetopos
Literaturverzeichnis
Register
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Zeit haben - Zeit sein: Ein Plädoyer für Zeit
 9783161618376, 9783161621857, 3161618378

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I

Otium Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße

Herausgegeben von Elisabeth Cheauré, Gregor Dobler, Monika Fludernik, Hans W. Hubert und Peter Philipp Riedl Beirat Barbara Beßlich, Christine Engel, Udo Friedrich, Ina Habermann, Richard Hunter, Irmela von der Lühe, Ulrich Pfisterer, Gérard Raulet, Gerd Spittler, Sabine Volk-Birke

27

II

III

Jochen Gimmel

Zeit haben – Zeit sein Ein Plädoyer für Zeit

Mohr Siebeck

IV Jochen Gimmel, geboren 1977; Studium der Philosophie, Soziologie und Historischen Anthropologie; 2013 Promotion; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 1015 „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ (Freiburg). orcid.org/0000-0001-7638-8687

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Projektnummer 197396619 SFB 1015. ISBN 978-3-16-161837-6 / eISBN 978-3-16-162185-7 DOI 10.1628/978-3-16-162185-7 ISSN 2367-2072 / eISSN 2568-7298 (Otium) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger aus der Minion gesetzt, von Hubert & Co in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und gebunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen. Umschlagabbildung: Jochen Gimmel. Printed in Germany.

V

Vorwort Dieses Buch ist ein Resultat meiner Arbeit am Sonderforschungsbereich 1015 Muße, an dem ich zwischen 2013 und 2021 mitwirken durfte. Obgleich meine Forschung nicht im engeren Sinne das T hema Zeit zum Gegenstand hatte, wurde für mich die Frage nach der besonderen Zeitlichkeit von Muße doch zu einem zentralen Anliegen. Mir ging es darum, diesen T hemenkomplex, der eine grundsätzliche Reflexion epistemologischer und metaphysischer Fragen notwendig macht, für die Praktische Philosophie fruchtbar zu machen und so einen Brückenschlag zu versuchen: Durch die theoretische Reflexion sollten Perspektiven für eine lebenspraktische Aneignung der Zeit eröffnet werden. Ich habe dazu die Form des Essays gewählt, da sie mir besonders geeignet erscheint, einen angemessenen Zugang zu dem durchaus widerspruchsträchtigen und darum nur schwer zu systematisierenden Problem der Zeit zu finden. Dass es mir möglich wurde, mich so intensiv mit Fragen der Zeit zu beschäftigen, verdanke ich dem SFB 1015. Ich danke der DFG, die Mittel und Strukturen für meine Forschungen in einem vergleichsweise komfortablen Zeit- und Finanzierungsrahmen bereitstellte. Der intensive interdisziplinäre Austausch mit den Mitgliedern und Mitarbeiter:innen des SFB war eine ungemeine Bereicherung für meine Arbeit. Stellvertretend für den ganzen SFB möchte ich an dieser Stelle Elisabeth Cheauré, Gregor Dobler und Philipp Riedl nennen, die mir gegenüber nicht nur Wohlwollen aufbrachten, sondern auch jede Menge Geduld und Offenheit. Die enge und freundschaftliche Zusammenarbeit insbesondere mit Andreas Kirchner, Tilman Kasten, Michael Vollstädt und T homas Jürgasch bot mir Rückhalt und intellektuellen Ansporn. Nicht zuletzt danke ich den Mitarbeitenden von Mohr Siebeck für ihre professionelle Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Buches. Meine Begeisterung für die Philosophie und eine Vielzahl der hier versammelten Motive verdanke ich auch Ute Guzzoni, die einen vertrauten Kreis, darunter auch mich, in intensiven Gesprächen über viele Jahre hinweg an ihren Gedanken hat teilhaben lassen und mir dabei einen eigenen Zugang zur Philosophie eröffnete, der weit über ein rein akademisches Interesse hinausgeht. Ute Guzzoni und alle anderen aus unserem Gesprächskreis werden deutlich bemerken können, dass sehr viele der hier aufgezeichneten Gedanken unserem Austausch entspringen. Vielen Dank!

VI

Vorwort

Sarah Gouda, die den Entstehungsprozess dieser Texte nicht nur begleitet, sondern ihn maßgeblich geprägt hat, gilt meine besondere Dankbarkeit. Durch ihre kluge Kritik, unermüdliche Hilfe und in langen gemeinsamen Gesprächen konnte dieses Buch erst Form annehmen. Freiburg, im März 2023

Jochen Gimmel

VII

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1 1. Zur Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1 2. Zum Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   4 3. Zu Stil und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   6 4. Zeittheoretische Verortung. Für eine aporetische Philosophie der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   8

I. Allotria zur Zeittheorie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23

1. Zeitsein: ‚Dass des Jetzt‘ – Geschehen der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23 1.1. Asynchronizität und Polytemporalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23 1.2. Schem(at)en der Zeit: Qualität, Relation und Modalität. . . . . . . .  28 1.3. Qualität der Quantität von Zeit. Aporien der Zeit 1: Zählbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  34 1.4. Konstitutive Unverfügbarkeit von Zeitgrenzen im Zeitvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 1.5.  Ausspannen der Seele in der Zeit. Aporien der Zeit 2: Ständige Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  42 1.6.  Objektive Zeit als objektivierte: Die Zeit als Konstrukt . . . . . . . .  49 1.7.  Es-gibt und Es-gilt-als . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  53 1.8.  Objektivität der Subjektivität – Beharrlichkeit des Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  56 1.9. Raummetaphern 1: Fluss und Fließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  59 2. Zeithaben: Weile, Zeitspannen und -richtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 2.1. Zeithaben und Selbstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 2.2. Gegen das Verständnis der Zeit als Enge und der Weile als Entzeitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 2.3. Allzeiterneuerte Gegenwart und Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  71 2.4. Erinnern, Wahrnehmen, Antizipieren und das Fokussieren auf Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  74 2.5. Erzählte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 2.6. Tod, Grenzüberschreitung und Wunderstruktur der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  84 2.7. Raummetaphern 2: Enge – Hörbilder gegen die „Oculartyrannis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  87

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.8.   Pathologien der Zeit: Entzeitlichung, Zeitdruck,   Melancholie und Fragmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   90 2.9.   Ausnahmezustand und Feier der Zeit: Muße . . . . . . . . . . . . . . .   98 2.10..  Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . .  106 3.1. Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  106 3.2. Kairos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 3.3. Geschichtliche Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  115 4. Schwelle: Der Einbruch von Chronos in den Augenblick – Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  120

II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 1. Potentialisierung der Zeit, Wert-Liquidität und Verschuldung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 2. Ökonomie der Zeit und Zeitgewinn: Quantitative Zeit und Lebenszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  135 3. Konkrete Zeit und historische Zeit: Allseitige Entwicklung . . . . . . .  139 4. Allseitiger Genuss und Kritik der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143 5. Zeit-Überfluss. Mit Bataille zu einer Ökonomie der Zeitverschwendung* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  148

III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  153 1. Teil: 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  154 1.1. Prophetie und Produktionslogik des Futur II . . . . . . . . . . . . . . . .  154 1.2. Technologische Eigenzeit: Mächtigkeit und allgegenwärtiger Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  158 2. Teil: Langeweile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161 2.1. Vom Geschenk der Langeweile und Nietzsches Heroismus . . .  161 2.2. Langweile als Schwelle: Muße, Freiheit, Glück . . . . . . . . . . . . . . .  165 2.3. Pathos und Katharsis der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  169 3. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  172

IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  175 1. Archetopos und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  175 2. Der Historische Materialismus als Wunscharbeit am Selbst . . . . . . .  180 3. Narrative Welterschließung, Utopie der Erkenntnis und die Methode der Entzauberung durch Verzauberung . . . . . . . . . . . . . . . .  184

Inhaltsverzeichnis

IX

4. Anthropologische Bestimmungen und das utopische Handeln als Anfangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  188 5. Geschichten von Utopie und Archetopos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  190 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  197 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  205

X

1

Einleitung Denn das Wesen des Lebens ist Gegenwart, und nur mythischer Weise stellt sein Geheimnis sich in den Zeitformen der Vergangenheit und der Zukunft dar. Dies ist gleichsam des Lebens volkstümliche Art, sich zu offenbaren, während das Geheimnis den Eingeweihten gehört. Das Volk sei belehrt, daß die Seele wandere. Dem Wissenden ist bekannt, daß die Lehre nur das Kleid des Geheimnisses ist von der Allgegenwart der Seele und daß ihr das ganze Leben gehört, wenn der Tod ihr Einzelgefängnis brach. Wir kosten vom Tode und seiner Erkenntnis, wenn wir als erzählende Abenteurer in die Vergangenheit fahren: daher unsre Lust und unser bleiches Bangen. Aber lebhafter ist die Lust […].1 T homas Mann, Joseph und seine Brüder

1. Zur Fragestellung Die in diesem Buch versammelten Texte entspringen der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Zeitlichkeit und Muße, das bei der Arbeit im Sonderforschungsbereich 1015 für mich bedeutsam wurde. Mein Forschungsschwerpunkt lag auf T hemen der Politischen und Praktischen Philosophie, bei Fragen nach der gesellschaftlichen Relevanz der Muße und ihrer konzeptionellen Bedeutung im Rahmen modernen Denkens. Dabei hätten mich dem ersten Anschein nach Fragen nach dem zeitlichen Charakter der Muße unbekümmert lassen dürfen. Dem war aber nicht so. Die interdisziplinäre Forschung im SFB 1015 war anfangs von der Leitthese getragen, dass Muße phänomenal durch Entzeitlichung und Verräumlichung bestimmt sei: Zeit als eine lineare und in ihrer Sukzession bedrängende Dimension2 verliere in Muße ihren (ihr zugeschriebenen) Zwangscharakter, da das Zeitbewusstsein in ihr verblasse und dadurch eine befreiende Erfahrung der Offenheit des Raumes möglich würde. Muße wurde so als eine „Freiheit von den Zwängen der Zeit“3 verstanden. Eine solche Identifikation der Zeit mit Zwang und Unfreiheit und die damit einhergehende, normativ aufgeladene GeT homas Mann, Joseph und seine Brüder I, Frankfurt am Main 2020, LVII. an Michael T heunissen erhielt sie den etwas sinistren Titel „Herrschaft der Zeit“. Vgl. Michael T heunissen, Negative T heologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, 37–88. 3  Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl, „Einleitung“, in: Burkhard Hasebrink/Peter 1 

2  Angelehnt

2

Einleitung

genüberstellung zur Offenheit des Raumes schien mir die lebensweltliche Zeiterfahrung allzu negativ aufzufassen und rief darum meinen Widerspruch hervor.4 Aus dieser Motivation heraus sind Texte entstanden, die vom Pathos einer Zeit-Apologie getragen sind, wenigstens aber ein Plädoyer für Zeit darstellen. In diesem Band sind die Wichtigsten davon versammelt. Warum sollte der Zeit oder dem Zeit-Bewusstsein grundsätzlich die Enge eines „Zeitkanals“5 zugeschrieben werden, der sich durch einen immensen Zeitdruck auszeichnet? Ist es denn nicht gerade die Zeit, die es erlaubt, dass Neues anbricht und ein Anfang gemacht werden kann, dass sich Überraschendes oder gar Wundersames ereignet, das uns staunen lässt? Alles Geschehen ist schließlich nicht nur von Zeit tingiert, sondern Zeit ist doch Geschehen – oder wenigstens dessen auszeichnende Dimension. Und ist nicht die Zeit das tragende Element möglicher Veränderungen und Verbesserungen unserer Lebensverhältnisse: Eröffnet sich uns die Lebenswelt nicht eigentlich in und durch Zeit? Für solche zeitliche Offenheit steht jedenfalls ein Begriff lebendiger Geschichte, die als die wesentliche Entfaltungsdimension von Freiheit betrachtet werden kann. Und macht nicht der „innere Sinn“, also der Kant’sche Zeitsinn (das zentrale Schema des Sinnbegreifens und Bedeutungsgeschehens), Welt erst sinnstiftend erfahrbar? Entfaltet sich alles konkrete Erfahren nicht als Vollzug und Affekt, also als etwas, das geschieht und dabei eine eigene Zeit aufruft? Auch ästhetische Eindrücke – selbst die von Bildern, Räumen oder Landschaften – sind als Erfahrungen, die wir ‚machen‘, oder die uns ‚plötzlich‘ überkommen, genuin zeitlich. Und war schließlich nicht Muße selbst als ein Glück aufgefasst worden, das darin bestand, den Menschen gerade Zeit zu schenken? Dieser geschenkten und sich selbst überlassenen Zeit in Muße wurde die Ausbildung eines feinen Sensoriums für die Fragilität alles Zeitlichen zugeschrieben, das unter Titeln wie ‚T heorie‘ und ‚Ästhetik‘ firmiert. Warum sollte man sich also überhaupt eine Freiheit von der Zeit wünschen? Zeit tritt uns auch keineswegs nur dann deutlich ins Bewusstsein, wenn es ihrer mangelt.6 Das zu behaupten, wäre wie zu sagen, wir wüssten vom Essen und Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (Linguae & litterae 35), Berlin/Boston 2014, 1–11, 3. 4  Gleichwohl gab es im SFB 1015 Muße von Beginn an auch andere Zugänge zum T hema Zeit, insbesondere was Fragen der Biographie, der psychologischen Zeitforschung, literarische Zugänge und geschichtliche Perspektiven anging. Gerade in der zweiten Förderphase wurde das Verhältnis von Raum und Zeit und die besondere Zeitlichkeit der Muße noch einmal vermehrt in den Blick genommen. 5  Günter Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“, in: Burkhart Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (Linguae & litterae 35), Berlin/Boston 2014, 26–33, 28. 6  „Zeit ist nicht nur wie die Aufmerksamkeit eine knappe Ressource, sondern eine, deren Wert erst im Entzug wirklich sichtbar wird, wenn sie ausgesetzt wird und ihre Endlichkeit offenbart. Dann lädt sie uns zu philosophischen Reflexionen über unsere Lebenszeit ein, über ihren Sinn und die Vielgestaltigkeit ihrer Erfahrungen.“ So formulieren Aleida Assmann und Andreas Dörpinghaus in der Einleitung „Ausgesetzte Zeiten“ zu dem sehr

1. Zur Fragestellung

3

Trinken nur durch den Hunger und den Durst. Wie wir aber beim Essen und Kochen, beim Schmecken und Kosten das Essen und Trinken erst in ihrer besonderen Qualität erfahren, so kommen uns die besonderen Zeitqualitäten gerade dann zum Bewusstsein, wenn wir Zeit haben und für sie nichts weiter tun müssen, also wenn wir Zeit als ein Geschenk und Glück erfahren dürfen. Das Motiv des Zeitgenusses als Zeiteröffnung werde ich weiterverfolgen und versuchen, ausgehend von einigen Überlegungen zur Zeittheorie Konsequenzen für die Praktische Philosophie zu beleuchten. Muße bedeutet meines Erachtens keineswegs eine Entzeit­lichung, sondern vielmehr die Möglichkeit, in einer sinnerfüllenden Weise in der Zeit zu sein. Die Möglichkeit, Zeit zu genießen, wird im Alltag durch ein Regime nicht abreißender Handlungsanforderungen beinahe ständig vereitelt. Alle Welt scheint durch Pläne, Termine und Geschäfte derart eingenommen zu sein, dass wir durch unsere eigenen Absichten und Handlungsziele in eine klaustropho­bische Zeitbeengung versetzt werden. Unter Zeitdruck – der eigentlich Handlungsdruck genannt werden müsste – bleibt die konkrete Zeit, die wir real verbringen, nicht nur unbeachtet, sondern sie wird durch die Pläne, denen sie unterstellt wird, regelrecht ihrer besonderen zeitlichen Qualität beraubt und fremd. So scheint dann Zeit etwas zu sein, das wir immerfort nutzen müssen und darum nie wirklich haben. Der rechte Augenblick, um die Zeit zu genießen, die wir ja selbst sind, wird immer weiter aufgeschoben, bis keine Zeit mehr bleibt. Das weist auf die grundsätzliche Problematik hin, die ich hier beleuchten will, nämlich auf die Spannung zwischen dem Fremdwerden der Zeit in ihrer effizienten ökonomischen Nutzung und der Zeit als existentieller Vollzugsdimension des Selbst. Letztlich vergeudet man seine Zeit gerade dann, wenn man sie nach der ökonomischen Leistungslogik einer Herstellungspraxis für ausstehende Zwecke sparen möchte oder mit ihr nach Maßgaben der Effizienz haushält und eben darum in Zeitnot gerät. In der sogenannten Zeitvergessenheit, die man treffender Terminvergessenheit nennen sollte, könnte Zeit dagegen als Zeit gerade unverstellt zur Geltung kommen. Es sind Momente der Muße, in denen Zeit rätselhaft wird und ihre Aporien offenbart, in denen sie als unmittelbarste und doch zugleich unvorstellbare Dimension des Lebensvollzugs erfahren werden kann. In Muße hat man die Zeit für das Geheimnis der Zeit. Damit meine ich nicht nur ein theoretisches Problembewusstsein, sondern auch, dass im Genuss der Zeit, dem Zeithaben, sich die Dinge und man selbst als Zeitgeschehen, als Zeitsein erweisen. So ergibt sich also der Titel: Zeit haben – Zeit sein. Ein Plädoyer für Zeit. lesenswerten Band Ausgesetzte Zeiten. Nachdenken über den Lauf der Dinge, Darmstadt 2022, 7–11, 11. Fraglich bleibt gleichwohl, was sich genau entzieht, wenn die Zeit ihren Wert offenbart. Entzieht sich denn tatsächlich die Zeit, wie es hier angedeutet wird, oder wird nicht vielmehr gerade sie wiederentdeckt und somit neu gewonnen, wenn das ‚Regime über die Zeit‘ brüchig wird? In diesem Text plädiere ich jedenfalls für ausgesetzte Zeiten als Zeit­ ein­lö­sungen, als Entfaltungsfreiräume der Zeit.

4

Einleitung

2. Zum Aufbau Im ersten, längeren Teil formuliere ich einen Essay zur Zeittheorie, der die oben genannten Zeitqualitäten entwickelt. Danach folgen drei Texte, die sich als exemplarische Fortführungen oder Anwendungen der Motive des ersten Teils betrachten lassen, obgleich sie zum Teil früher verfasst wurden. Alle vier Teile stehen jeweils für sich, gruppieren sich aber um die zugrunde liegende Frage nach der Zeit. I. Allotria zur Zeittheorie (Geschehen, Weile, Augenblick) II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeit-Ökonomie III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat im Prozess Jedes dieser T hemen spricht überbordende Problemkomplexe aus der Philo­ sophie und Kulturwissenschaft an, die hier selbstredend nicht aufgearbeitet werden können. Es wird nur eine exemplarische und fragmentarische Behandlung der T hemen möglich sein, was ich auch durch den an Adorno angelehnten Titel „Allotria“ andeuten will. So will auch dieser erste, im engeren Sinne zeittheoretische Teil keinen Überblick über philosophiegeschichtliche Positionen zur Zeittheorie geben (wenn auch zahlreiche angesprochen sind); er verfolgt lediglich den Anspruch, die hier leitende Auffassung plausibel zu machen und damit eine Grundlage aus der T heoretischen Philosophie für die Deutung der Zeit als Gegenstand der Praktischen zu schaffen. Zeit wird als ein Problem aufgeworfen, dem man, meines Erachtens, nur in der Anerkennung seiner radikal aporetischen Verfassung gerecht wird. Mit diesem zeit­theo­re­ti­schen Plädoyer für Aporetik wird das Fundament für die nachfolgenden Betrachtungen gelegt, die um die Frage kreisen, wie wir die Zeit als Zeit wieder für uns aneignen könnten. Der erste Teil (Allotria zur Zeittheorie) gliedert sich in drei Hauptkapitel: 1. Zeitsein: ‚Dass des Jetzt‘ – Geschehen der Zeit 2.  Zeithaben: Weile, Zeitspannen und -richtungen 3.  In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis Ich schließe ihn ab mit einem als ‚4. Schwelle‘ bezeichneten Zwischenkapitel, das sich der ideengeschichtlichen Untersuchung der Revolution als Einbruch des Chronos in den Augenblick widmet. Damit soll nicht nur ein Übergang zu den Inhalten der folgenden Teile hergestellt, sondern auch die Konsequenz aus dem theoretischen Teil für die realgeschichtliche Untersuchung exemplifiziert werden.

2. Zum Aufbau

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Im zweiten Teil rücken mit dem Problem der Zeitökonomie gesellschaftspolitische Fragen in den Vordergrund. Hinter der sprichwörtlich gewordenen Rede­ wendung time is money verbirgt sich ein Umschlagsmoment, das mit Marx als Kristallisation der Zeit im Warenwert begriffen werden kann. Das Geheimnis des Warenwerts beruht wesentlich auf einer Abstraktion von der Zeit, was im Umkehrschluss bedeutet, dass ein enormes emanzipatorisches Potential damit verbunden wäre, Zeit praktisch für das eigene Leben wieder zu konkretisieren und das bedeutet, sie zu genießen. Auch wenn diese Dimension im Konzept eines Zeitreichtums befreiter Gesellschaften bei Marx offen zu Tage liegt, muss sie nichtsdestotrotz gegenüber den produktionsfetischistischen und wenig wachstumskritischen Tendenzen in Teilen der marxistischen Tradition eigens herausgearbeitet werden. Hierzu werde ich auf George Bataille Bezug nehmen, um mit ihm Zeitverschwendung als ein zentrales Motiv zu rehabilitieren, wenn es darum geht, den Teufelskreis irrer Produktionssteigerung zu unterbrechen. Der dritte Teil schließt insofern unmittelbar an, als er eine scheinbar negative Zeiterfahrung, die Langeweile, mit dem allgegenwärtigen Beschäftigtsein durch digitale Medien ins Verhältnis setzt. Durch den seltsamen Titel ‚4.0‘ kommt ein Verständnis von Zeit zum Ausdruck, das in einer Art Futurismus sich verselbständigter Produktion die konkrete Zeitbedingtheit ausblendet. Aus der Perspektive eines Futur II, durch die Gewissheit von der im Grunde schon erfolgten Zukunft technologischen Fortschritts, wird die menschliche Gegenwart bloß noch im virtuellen Rückblick erfasst. Die quälende Zeit der Langeweile steht hierzu in einem ambivalenten Bezug: Die Entzeitlichung durch die technologische Revolution weist einerseits Ähnlichkeiten zur Langeweile auf, insofern sich in der „Leergelassenheit“7 der Langeweile „die Langeweile und der Zeitvertreib in eigentümlicher Weise [verschlingen]“8. So ließe sich die digitale Revolution geradezu als Langeweile beim medialen Purzelbaumschlagen ansprechen. Mit der erstaunlichen Wertschätzung, die Langeweile bei einem Autor wie ­Nietzsche (aber auch bei Heidegger oder Walter Benjamin) erfährt, erweist sie sich gegenüber der Zeitvergessenheit in der medialen Dauerbeschäftigung jedoch gerade auch als ein Schwellenphänomen, das Zeit als eine Dimension existentiellen Glücks aufrufen kann. Im vierten Teil gehe ich der Frage nach, inwiefern Zeit narrativ erschlossen werden kann und muss. Dahinter steht die Ausgangsthese (siehe dazu den ersten Teil), dass Zeit als ein Zeitvollzug auch darauf angewiesen ist, narrativ refiguriert (siehe Ricoeur) zu werden. Ich fokussiere hier konkret auf den Zusammenhang des Wünschens und der Muße, beziehungsweise auf die besonderen Zeitmodalitäten, die das Wünschen aufruft, nämlich Utopie und Heimat, ‚Archetopos‘. Aus 7  Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Klostermann Rote Reihe 6), 4.–5. Aufl., Frankfurt am Main 2010, 152. 8 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, 170.

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Einleitung

dieser Perspektive wird es möglich, nicht bloß den engen Bezug von T heorie und Muße neu zu diskutieren, sondern auch das Verhältnis von T heorie, Narration und Praxis zu hinterfragen. Dieses Essay knüpft an die Erörterung narratologischer Zeitmodi im ersten Teil an und schließt damit den Kreis.

3. Zu Stil und Verfahren In diesem Buch wechseln sich Passagen zur Begriffsarbeit mit metaphorologischen Untersuchungen und phänomenologischen Deskriptionen ab. Der Ton geht von vorsichtigen begrifflichen Umkreisungen über bis zur Polemik. Auch Autor:innen und Epochen geben sich hier ohne äußere Ordnungskriterien immer dann die Klinke in die Hand, wenn sie nur gerade etwas zu anstehenden Fragen beizutragen haben. Kurz, die hier vorliegenden Texte verfolgen keine wissenschaftliche Systematik im engeren Sinne oder eine strenge Methodik, sondern eher eine Textstrategie, die man etwas vollmundig als Verfahren theoretischen Assoziierens bezeichnen könnte. Wenn sie damit auch nicht allerorten als wissenschaftliche Texte durchgehen sollten, so hegen sie aber durchaus einen philosophischen Anspruch, der die Darstellung an drei Prinzipien ausrichtet: 1. Das Essay als philosophische Form: Auch in diesem Buch9 orientiere ich mich an der Aussage Adornos: Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben. Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte, anstatt den Geist nach dem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schöpfung aus dem Nichts vorzustellen. Glück und Spiel sind ihm wesentlich. Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria. Weder sind seine Begriffe von einem Ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten.10

Mir scheint das Essay zwar nicht die einzig angemessene Form der Philosophie zu sein, aber doch eine vorzügliche, da sie das Fragmentarische, Sprunghafte und in sich Widersprüchliche des lebendigen Denkanspruchs in ihrer Form reflektiert.11  9  Vgl. Jochen Gimmel/T homas Jürgasch/Andreas Kirchner, An den Grenzen der Muße. Essays zu einem prekären Begriff, Tübingen 2021, V–XII. 10  T heodor W. Adorno, „Das Essay als Form“, in: Tiedemann, Rolf (Hg.), Noten zur Literatur (Gesammelte Schriften 11), Frankfurt am Main 1997, 9–33, 11. 11  Siehe dazu Jochen Gimmel, „Philosophie als Wissenschaft? Zu meinem Verständnis von Philosophie, Wissenschaft und Muße“, in: Muße. Ein Magazin, 5,2 (2020), 113–119.

3. Zu Stil und Verfahren

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2. Subversives Lesen: Die Texte, auf die ich mich in diesem Buch beziehe, bespreche ich nicht im Sinne einer historisch-kritischen Untersuchung. Sie sind also nicht Gegenstand einer philosophiegeschichtlichen Erörterung, sondern für mich nur relevant hinsichtlich der Motive und sachlichen Argumente für meine Fragestellung. Das impliziert durchaus, dass ich in manchen Fällen Aussagen gegen den ursprünglichen Sinn der Autor:innen auslege – etwas, was mir keine große Last auf das Gewissen lädt, da schon die Idee ‚ursprünglichen Sinns‘ dazu herausfordert, diesen durch die ‚Arbeit des Begriffs‘ zu entschlüsseln und gewissermaßen zu verstoffwechseln. In der Regel hoffe ich jedoch, einen vielleicht unbeachteten Sinn durch verfremdende Kontextualisierung deutlicher oder einen offensichtlichen Sinn für die Argumentation dieses Buches fruchtbar machen zu können. Damit ziele ich auf ein Verstehen durch Verfremden, das in dem Verfahren, das Gadamer „Applikation“12 nannte, seine Entsprechung findet. 3. Konstellative Begriffsbildung: Für die Entwicklung philosophischer Fragestellungen erscheint mir ein streng definitorisches und rein formallogisches Verfahren nicht angemessen. Das hat seinen Grund darin, dass ich der Philosophie – als Auszeichnung – eine innewohnende Tendenz zur Aporie zuweise, die als Folge der thematischen Rahmenlosigkeit, man könnte auch sagen Radikalität oder Grundsätzlichkeit des philosophischen Fragens, verstanden werden kann.13 Aporie in diesem Sinne scheint mir kein zu lösendes Problem darzustellen, sondern vielmehr den Indikator eines angemessenen Sachzugangs. Dennoch kann und soll sich eine philosophische Untersuchung nicht in begrifflicher Vagheit verschanzen. Aus diesen Gründen scheint mir eine philosophische Methode, im weitesten Sinne des Wortes, angemessen, die eine dynamische und widerspruchstolerante Begriffsarbeit ermöglicht. Ich orientiere mich hierzu am konstellativen Denken Adornos.14 Dass sich das T hema der Zeit, dem quasi per definitionem die Aporie eingeschrieben ist, dankbar gegenüber einer aporie-freundlichen Herangehensweise erweist, ergibt sich aus der Sache.

12  „Aber solche Versetzung in den ursprünglichen Leser (Schleiermacher) ist etwas ganz anderes als Applikation. Sie überspringt gerade die Aufgabe der Vermittlung von Damals und Heute, von Du und Ich, die wir mit Applikation meinen und die etwa auch die juristische Hermeneutik als ihre Aufgabe erkennt.“ Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer Gesammelte Werke 1), Tübingen 1999, 339. 13  Vgl. Jochen Gimmel, „Philosophie als Wissenschaft? Zu meinem Verständnis von Philosophie, Wissenschaft und Muße“, in: Muße. Ein Magazin, 5.2 (2020), 113–119. 14  Siehe dazu ausführlich Gimmel et al., An den Grenzen der Muße, 1–40; Jochen Gimmel, Konstellationen negativ-utopischen Denkens. Ein Beitrag zu Adornos aporetischem Verfahren, Freiburg 2015, passim.

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Einleitung

4. Zeittheoretische Verortung. Für eine aporetische Philosophie der Zeit Eine Verortung in der langen und verschlungenen Geschichte der Zeittheorie ist alles andere als einfach. Auch wenn von einem etablierten Kanon zeittheoretischer Grundlagentexte gesprochen werden kann und die unterschiedlichen T heoriemodelle durchaus ihre Vorgänger und Konkurrenten wahr- und ernstgenommen haben, bekommt man doch den Eindruck, dass unter dem Titel Zeit gar nicht immer dieselbe Sache verhandelt wird. Diese Diskrepanz schlägt sich unter anderem in der vorherrschenden Tendenz zeittheoretischer Darstellungen nieder, allenthalben Zeitbegriff-Paare zu bilden, um die widersprüchlichen Momente des Zeitbegriffs zu fassen, ein Hang, der meines Erachtens auf eine Verlegenheit in der Sache hindeutet: Subjektive und objektive Zeit, chronologische Zeit und psychische Zeit, Weltzeit und Lebenszeit, Chronos und Äon, Zeit als Prozess und Zeit als Form, A-Zeit und B-Zeit, Modalzeit und Lagezeit, metrische Zeit und Weile beziehungsweise Dauer, absolute und relative Zeit, Zeitfluss und Zeit als Form der Anschauung, soziale Zeit und Eigenzeit, absolute Raumzeit und thermodynamische Prozesszeit. Diese Liste ließe sich vervollständigen und umgruppieren. Wenig plausibel scheint es mir, der Zeit an sich eine duale Struktur zuzuschreiben, die solche Paarbildung erforderlich machen würde. Genauer betrachtet ergänzt sich diese lose Vielzahl an Zeiten und Zeitpaaren zu keinem kohärenten Begriffsfeld. Ein gemeinsamer Gegenstand, der diese Begriffe in ein konsistentes Verhältnis setzen könnte, wird nicht unmittelbar ersichtlich. Das mag damit zu tun haben, dass Zeit eben kein ‚Gegenstand‘ im engeren Sinne ist und ‚Sichtbarkeit‘ (ebenso wie die Selbstevidenz räumlicher Vorstellungen) von Grund auf versagt – Umstände, die zum aporetischen Charakter der Zeit beitragen. Es klaffen stellenweise Abgründe zwischen diesen unterschiedlichen Zeitmodellen auf, die sich nicht durch das Ausräumen von Missverständnissen oder Fehlschlüssen beseitigen lassen. Einige dieser Begriffe und Begriffspaare sind zwar systematisch aufeinander bezogen und ergänzen sich, andere aber, die durchaus demselben fachlichen Gegenstandsbezug zugehören, bleiben schlicht unvermittelt. Ein Beispiel dafür wäre etwa die Diskrepanz des thermodynamischen Zeitbegriffs und der einer absoluten Raumzeit; hier divergieren die Zeitmodelle derart, dass sie sich nicht einmal über die basale Frage einig sind, ob der Zeit die Irreversibilität von Prozessen eignet, oder sie als eine Dimension verstanden werden müsste, deren Folgestruktur durchaus bidirektional aufgefasst werden kann.15 Es ist zweifelhaft, ob diese Modelle überhaupt auf dieselbe Sache beziehungsweise denselben Sachverhalt Bezug nehmen – wenn sie denn 15  Vgl. Claus Kiefer, „Die Rolle der Zeit in der Kosmologie“, in: Gerald Hartung (Hg.), Mensch und Zeit, Wiesbaden 2015, 25–34.

4. Zeittheoretische Verortung

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überhaupt auf irgendetwas Bezug nehmen und es sich bei diesen divergierenden Zeitbegriffen nicht um Effekte der funktionalen Modellierung theoretischer Konstrukte im Dienst der Erklärung konkreter Phänomene handelt.16 Unter dem Begriffsdach Zeit findet derart Disparates Unterschlupf, dass ein gutes Vertragen oder auch nur Tolerieren in dieser Hausgemeinschaft einzig möglich wird, wo man sich gegenseitig auch ignoriert. So verstanden mag es sich bei diesem Konglomerat an Zeitkonzepten um etwas handeln, was Wittgenstein eine „Familienähnlichkeit“17 nennt, um einen Zusammenhang also, der dadurch gestiftet ist, dass man beim selben Namen gerufen wird, obgleich man sonst nicht viel miteinander zu schaffen oder sich zu sagen hat. Im Grunde haben die genannten Zeitbegriffe zum Teil nicht mehr miteinander gemein als die Zeit mit dem Raum oder der Ewigkeit. – Von Fall zu Fall sogar weniger, da Raum und Ewigkeit nur in einer Verschränkung mit Zeit denkbar sind, während beispielsweise Kants Zeit als reine Form der Anschauung das Modell einer absoluten Zeit Newtons schlichtweg ad absurdum führt, oder die psychische Erlebenszeit keinen inneren Zusammenhang zur metrischen Zeit aufweist, unabhängig davon, ob man versucht, das Zeiterleben chronometrisch auszuzählen oder nicht. Das subjektiv-psychische Zeitempfinden kann auf eine Uhr genauso gut verzichten wie Kant auf die Vorstellung des fluiden „Undings“18 einer absoluten Zeit. 16  Ernst Cassirer hat den Versuch unternommen, die Einstein’sche Relativitätstheorie mit der Kant’schen Transzendentalphilosophie übereinzubringen und das insbesondere hinsichtlich des Zeitbegriffs. Kants Begriff des Zeit-Schemas wird hier gewissermaßen funktional gedeutet und als Funktion der Erkenntnis mit dem physikalischen Begriff enggeführt (Ernst Cassirer, Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921, 81–82 und 86). Anders verhält es sich bei rein explikations-pragmatischen Herangehensweisen: Die Fixierung auf die Funktion der Zeit (z. B. zeitliche Größenbestimmung von Bewegungen [physikalische Zeit] oder soziale Abstimmung in kollektiven Prozessen [soziale Zeit]) bei der Erklärung konkreter Phänomene, für die Zeitbestimmung zwar unabdingbar, aber nicht eigentlich interessensleitend ist, führt im Zweifelsfall zu parallel für sich Geltung beanspruchenden Zeitbegriffen, die bestimmte Funktionen der Zeit hypostasieren. Daraus ergeben sich disparate, hypothetische und zueinander indifferente Zeitbegriffe, deren Konfliktarmut wohl darauf zurückzuführen ist, dass sie nicht dasselbe erklären wollen. 17  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, hg. v. Joachim Schulte, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2008, § 67. 18  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 2. Auflage 1787 (Kants Werke. Akademie-Textausgabe 3), Berlin 1968, B 56.   Es lässt sich natürlich nicht abstreiten, dass Kant darum bemüht war, der Naturphilosophie Newtons in seinen Kritiken zum Recht zu verhelfen. Gleichwohl offenbart er dabei auch die Unzulänglichkeiten der Begriffe eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Kants Begriff der Zeit als reine Form der Anschauung stellt meines Erachtens weitaus mehr als ein „Reduktionsprogramm“ (Karen Gloy, Philosophiegeschichte der Zeit, München 2008, 130) von Newtons Zeitkonstrukt oder als eine bloße Subjektivierung desselben dar, sondern vielmehr eine Einsicht in den Status der Objektivität sinnlicher Anschauung. Der berühmte Disput zwischen Cassirer und Heidegger in Davos zeugt auf beeindruckende Weise auf beiden Seiten von dieser Revolution Kants im Verhältnis zu dem vergleichsweisen leeren Be-

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Einleitung

Die Disparität der Zeitbegriffe lässt sich wohl auch darum nicht gänzlich glätten, da sie Ausdruck des aporetischen Charakters ist, der die Zeit bestimmt. Bereits in den beiden klassischen Texten der Antike, auf die auch ich mich im ersten Teil dieses Buches ein weiteres Mal beziehen werde,19 dem IV. Buch der Physik bei Aristoteles (217b29–224a17) und dem XI. Buch der Confessiones des Augustinus, wird dieser aporetische Charakter in aller Deutlichkeit offenbar. Eine für die Zeit konstitutive Unfassbarkeit oder wenigstens Konzeptionssperrigkeit zeigt sich bereits in ihrem Verhältnis zu Veränderung und Bewegung, das in die Formel gebracht wurde: Zeit ist etwas an der Bewegung, aber nicht diese selbst (Aristoteles, Physik 219a9–10). Was aber sonst? Ist Zeit eine Form, die Prozesse überhaupt erst als solche erfahrbar sein lässt (so die schwer von der Hand zu weisende Lösung Kants im Bereich der transzendentalen Ästhetik)? Oder ist sie ein bloßes Merkmal von Ding-, Erfahrungs- und Erkenntnisprozessen und darum gegenüber ihrer Trägersubstanz nur akzidentiell? Oder stellt sie sogar eine akziden­tielle Verzerrung außerzeitlicher Wahrheiten dar, eine Temporal-Fragmentierung des Seins und damit gewissermaßen die Unwahrheits-Dimension schlechthin (das legt die Fixierung auf außerzeitliche Wahrheiten nahe)? Ist sie ein unheimliches Etwas, das unentwegt verfließt und alle Dinge und Bewegungen quasi im Hintergrund durchströmt, beziehungsweise mit sich reißt, ohne selbst von ihnen in Mitleidenschaft genommen zu werden (wie das ‚Unding‘ einer absoluten Zeit)? Oder meint sie schließlich doch den Vollzug weltlicher Prozesse und ist von Bewegung und Veränderung somit keineswegs sauber zu scheiden, sondern vielmehr das Kernmoment allen Geschehens (in diese Richtung weist etwa H ­ egel20)? Doch auch dann bezeichnet Zeit zugleich das Verhältnis all des ungleichförmigen Prozessierens als ein Verhältnisganzes. Lässt sich schließlich Identität mit Zeit vereinbaren, kann man Ein-selbes-sein als Vollzug verstehen und zusammendenken mit der sie vollziehenden Prozesszeit? Ich neige den Ansichten zu, die Zeit und Zeitvollzug beziehungsweise Prozessieren engführen, möchte aber solche Prozesszeit nicht als Gegensatz zu einem transzendentalen Begriff der Zeit verstehen, sondern vielmehr als dessen

griff der absoluten Zeit z. B. was das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit angeht. Vgl. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (Klostermann Rote Reihe 35), 7. Aufl., Frankfurt am Main 2010, 274–296. 19  Mir geht es dabei nicht um eine weitere und schon gar nicht um eine umfassendere oder treffendere Interpretation dieser Texte, sondern lediglich darum, an diesen vertrauten Zeitmodellen die für mich leitende aporetische Herangehensweise im Unterschied zu einer konstruktivistischen Auffassung zu verdeutlichen. 20  „Aber nicht in der Zeit entsteht und vergeht Alles, sondern die Zeit selbst ist diß Werden, Entstehen und Vergehen, das seyende Abstrahiren, der Alles gebärende und seine Geburten zerstörende Chronos.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) (Hauptwerke in sechs Bänden 6), Hamburg 1999, § 258.

4. Zeittheoretische Verortung

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Kehrseite.21 Eine solche Gegenwendigkeit der Zeit als Vollzugswirklichkeit und transzendentale Dimension müsste meines Erachtens in seiner widerspruchsträchtigen Form ausgehalten werden, um dem Erfahrungsgehalt des Zeitbegriffs Rechenschaft leisten zu können. Die aporetische Form, die das Nachdenken über Zeit immer wieder annimmt, ist der Zeit völlig angemessen, da diese die Wirklichkeit eben nicht bloß als ein vorliegendes Etwas erfasst, sondern als ein fragwürdiges „Dass“ des Wirkens von Wirklichkeit. Das Fragwürdigwerden selbst ist ein wirklichkeitsveränderndes Geschehen – Zeitvollzug. So steht auch Erkenntnis der Zeit nie gegenüber, kann sich nie von ihr abscheiden, sondern muss sie stets und immer wieder aufs Neue vollziehen, selbst wenn sie das Ewige oder Absolute denkt. Der Anfang des philosophischen Fragens, das Staunen, ist in diesem Sinne genuin zeitlich nicht bloß als Anfang, sondern als das Staunen selbst. Welt ist als Zeit nicht einfach da, sondern geschieht22, und erst im Hinblick darauf eröffnet sich die Kontingenz alles Weltlichen für das Denken als Denkmöglichkeit des Staunens: Dass es so ist, wie es ist, kann nicht als bloße Tatsache hingenommen werden, wenn man einmal das Wundersame an ihrem Dass ernst nimmt. Es ist die Zeit, die die Gewissheit des Soseins perforiert und das Wundern als Wirklichkeitsbezug ermöglicht. Dem vielschichtigen und in sich überkreuzten Geschehen der Zeit – ein Geschehen von Dingvollzügen, ein Geschehen der Relation dieser Vollzüge zueinander und schließlich das Geschehen des Erfahrens dieser Welt in der Zeit – könnte ein aporetisches Denken Rechenschaft leisten, das das eigenartige Zusammenfallen von Wirklichkeit und Wundersamkeit reflektiert, indem es die Wirklichkeit selbst als Geschehen begreift und aus der Opposition zu einem statischen Wahrheitsbegriff löst. Das Zeitliche an der Bewegung begreife ich in diesem Sinne nicht als äußeren Umstand an etwas Vorliegendem, sondern vielmehr als die Verhältnisdimension des Geschehens der Bewegtheit von Weltdingen in Bezug zu sich selbst und zu 21  Gewissermaßen sehe ich die frühe Metakritik an Kant durch Herder (vgl. Johann Gottfried Herder, Verstand und Erfahrung, Vernunft und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft 1799 [Johann Gottfried von Herder’s sämtliche Werke 3,16], Stuttgart und Tübingen 1830, 79–102) als zu pauschal an, da er die transzendentale Dimension dem Weltgeschehen nur gegenüberstellt, während sie durchaus als ein das Geschehen fundierender Effekt des Geschehens begriffen werden kann. An die von Herder dargestellte Entwicklung des Zeitdenkens und der darin vorgebrachten Idee einer Zeitpluralität von Eigenzeiten werde ich im Folgenden anknüpfen, diese aber mit einem transzendentalen Zeitbegriff als Evokationsmoment dieser Zeitpluralität verknüpfen. Zeit zugleich als Mannigfaltigkeit des Prozessierens und als reine Form zu begreifen, scheint mir nicht nur nicht widersprüchlich, sondern die Konsequenz einer Auffassung, die Wirklichkeit wesentlich als Geschehen begreift. 22  Sie geschieht quasi dreifach: im Vollzug, für die Erfahrung und als die Form des Erfahrungsvollzugs – und jedes dieser Momente zeitigt sich jeweils in Form der beiden anderen: Vollzug wird als Form erfahren, Erfahrung erhält als Vollzug ihre Form und Form erweist sich für die Erfahrung einzig als Vollzug.

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anderem, als das ‚Dass‘ des Geschehens von Wirklichkeit überhaupt – ein Rätsel und Wunder von Grund auf. Der zweite große zeittheoretische Aporiequell liegt in der Schwierigkeit, Zeit zu messen. Auch wenn sich dieses Buch gegen metrische Formen des Zeitverständnisses abgrenzt, ist die Frage nach der Zeit immer auch die nach ihrem Maß. Zeiteinheiten und Zeitpunkte (Jetzt als Einheit und Grenze) eindeutig und allgemeingültig zu bestimmen, ist anhand temporaler Relationen wie ‚vorher‘, ‚nachher‘, ‚bereits‘, ‚noch nicht‘, ‚immernoch‘ und so weiter nicht unmittelbar möglich. Dennoch stellen sie die einzigen offenkundigen Ausdrücke der Zeit als Größenverhältnisse dar. Nimmt man von raumtheoretischen Analogien Abstand, zeigt sich, wie problematisch die Idee eines Zeitmaßes ist, da Zeiten nicht wie Raumgrößen vorliegen: Sie lassen sich nicht nebeneinander ‚stellen oder legen‘, um Größenverhältnisse zu gewinnen.23 Zeit ist in diesem Sinne nicht ‚positiv‘ und wo sie exakt gemessen werden soll, muss ein Maß erst künstlich konstruiert werden, von dem keineswegs ausgemacht ist, inwiefern es überhaupt etwas mit Zeit zu tun hat (so etwa beim taktgebenden Räderwerk oder der Cäsium-­Schwingung von Uhren). Damit hängt ein dritter Bereich von Aporien angesichts der Zeit zusammen: ihre radikale Unvorstellbarkeit im Sinne des Sehsinns und damit ihre Verfehlung durch räumliche Analogien. Obgleich Zeit immer wieder als ein Gegenbegriff zum Raum verstanden wird und es in der Regel als offenkundig hingenommen wird, dass Zeit tatsächlich eine ums Ganze verschiedene Dimension der Erfahrung bezeichnet, wird sie doch immer wieder nach Raumvorstellungen modelliert, also durch Raumbilder in die Vorstellungswelt gezwungen und damit letztlich verräumlicht. Das führt zu gravierenden Missverständnissen und zu einer gewissen Zeit-Ignoranz, die von aufmerksamen Zeittheoretikern bemängelt wurde24. Zeittheorie muss darum buchstäblich selbstkritisch verfahren, nämlich Erkenntnismomente, die sich vom ‚Schauen‘ herleiten oder auf einer ‚Evidenz‘ des Sehsinns beruhen, vom eigentlichen Zeiterfahren unterscheiden und damit einen kritischen Erfahrungsbegriff der Zeit etablieren. Zeit ist nicht getrennt vom Raum als ‚etwas anderes‘ vorstellbar, sondern vielmehr in der Konjunktion mit dem Raum das, was wesentlich unvorstellbar bleibt. Wenn ich im Folgenden versuchen werde, auf ‚Hörmetaphern‘ zurückzugreifen, um der Eigenheit der Zeit besser gerecht zu werden, dann beabsichtige ich damit

Siehe dazu z. B. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, 61. natürlich Henri Bergson, Zeit und Freiheit, übers. v. Paul Fohr, 2. Aufl., Hamburg 1999.   Besonders nachdrücklich und in origineller Weise mit einer Kritik des Primats des Sehsinns verknüpft hat das Ulrich Sonnemann, Zeit, Geschichte, Zeitgeschichte: Zeit-Fragmente, Hochschul-Texte (Schriften 8), hg. v. Paul Fiebig/Friedrich Forssman, Springe 2021. Ich knüpfe, insbesondere was die Kritik der Raummetaphern von Zeit angeht, daran an. 23 

24  Vorneweg

4. Zeittheoretische Verortung

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nicht, eine alternative Hör-Vorstellung zu implementieren, sondern lediglich die Scheinplausibilität von Sehsinn-Imaginationen zu hinterfragen.25 Bei Aristoteles findet der aporetische Charakter der Zeit deutlich zum Ausdruck, wenn er die Zeit als Zahl bestimmt. Wie Zeit quantitativ verstanden werden kann, obgleich sie sich als gegebene Größe nicht offenbart, ist und bleibt eine zentrale Frage. Ich schließe an Gernot Böhmes Ausführungen an26, der einen Rückbezug des Zeitzahlbegriffs an Platon und das pythagoreische Zahlverständnis nahelegt. Davon ausgehend interpretiere ich die Zeitgröße in Abgrenzung zu den raumbasierenden Vorstellungen eines Aggregats (communio) oder der Kontinuität einer Ausdehnung (spatium) als qualitative Quantität im Sinne einer Intensität. Mit dieser Auslegung gehe ich über den engeren Gedankenkreis der aristotelischen Physik hinaus und versuche einen Deutungsrahmen zu schaffen, der einen Bezug auch zu modernen Zeittheorien wie beispielsweise denen von Henri Bergson oder der Phänomenologie27 eröffnet. Mit Intensität meine ich keinesfalls bloß ein sensitives Datum oder eine subjektive Empfindelei, sondern vielmehr die Größenordnung weltlicher Relationen, insofern sie sich als (Aus-) Spannungen ausweisen. Zeit ‚ereignet‘ sich so verstanden gewissermaßen zwischen den Dingen und Prozessen als Spannungsbezug dieser Prozesse (später, früher, plötzlich, während und so weiter). Im Ereignen der Zeit evoziert sie dabei zugleich einen Geschehnis-Hintergrund oder -Horizont des Vollzugs dieser Dinge: ihre transzendentale Fassung, die das Ereignen selbst erst eröffnet und birgt. Transzendentalität in diesem Verständnis meint kein unzeitliches Apriori, sondern vielmehr ein Apriori im Zeitvollzug: Ein Vor-der-Erfahrung in der Erfahrung und durch Erfahrung. Die konkreten Zeitverhältnisse evozieren den 25  Zu dieser Problematik hat ausführlich Ulrich Sonnemann gearbeitet: Sonnemann, Zeit, Geschichte, Zeitgeschichte.   Wobei ich auch den Gehörsinn nicht für zeitprivilegiert gegenüber den anderen Sinnen halte, sondern alle Sinne als wesentlich zeitlich bestimmt verstehe, auch das konkrete Sehen, Berühren und Riechen. Das Problem liegt m. E. darin, dass im konzeptionellen Vorstellen sich i. d. R. Abstraktionen vom Sehen nahelegen, die als Abstraktionen die Mehrdimensionalität der Sinne und ihre gegenseitige Durchdringung ausblenden. Übrig bleibt bei dieser Abstraktion eine Räumlichkeit von Bildern als Darstellungen, die tatsächlich nicht gehört, gerochen und angefasst werden können. Das sinnliche Begegnen-Können in allen Facetten, die Aktualität von Wirklichkeitserfahrung, wird dagegen wesentlich durch die Zeit verbürgt und geht gerade nicht im Raumbild auf. Es geht mir also im Folgenden nicht darum, für die Zeit und gegen den Raum zu optieren, sondern mit der Zeit dem Geschehenscharakter von Welt Rechenschaft zu leisten – und das betrifft natürlich auch den Raum, der durch die Abstraktion zum räumlichen Vorstellungsbild genauso in seiner sinnlichen Konkretion beschnitten wird wie die zeitliche Dimension. Im konkreten sinnlichen Erfahren lassen sich weder die Sinne noch die Dimensionen von Raum und Zeit isolieren. Raum verzeitigt sich unablässig als Wirklichkeitsgeschehen. 26  Gernot Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt am Main 1974. 27 Schmitz, Phänomenologie der Zeit. Hier unter dem Titel „Dauer“ (auch in Anknüpfung an Bergson) verhandelt.

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transzendentalen Geschehnis-Horizont, der ihnen scheinbar ‚vorausgeht‘, aber just als Zeit-Transzendentalie nicht ‚vorausgehen‘ kann, sondern vielmehr im konkreten Geschehen als die Bedingung der Möglichkeit des Geschehens, als dessen Tiefendimension aufblitzt, oder hörbildlicher ausgedrückt: als Hall Zeit erst erklingen lässt. Diese Fassung der Transzendentalität der Zeit ist von Heideggers Deutung der reinen Anschauung inspiriert.28 Ich verstehe Zeit also als Geschehen (Zeitvollzug) und zugleich als Geschehensdimension (Zeit als Geschehnis-Horizont). Begreift man Geschehen als etwas an einer Sache, also als Attribut oder Affekt einer zugrundeliegenden Substanz (oder eines Gottes wie bei Spinoza), so wie man etwa das Verblühen der Blume oder das Erröten des Gesichts als Passionen von Blume und Gesicht vorstellt, dann wäre auch die Zeit tatsächlich nur etwas am Geschehen. Bedenkt man aber, dass alles, was ist, von der Zeit nicht bloß in Mitleidenschaft genommen wird, sondern der Umstand, dass es ist, an sich ein Zeit-Geschehen darstellt, dann verkehrt sich das Verhältnis: ‚Dass die Blume ist‘, ‚dass es gewittert‘ und so weiter, also das ‚Dass-des-Jetzt‘ (mit dieser Formel werde ich im Fortgang des Buches arbeiten) meint keine Verdinglichung der Zeit, sondern eine Verzeit­ lichung der Dinge. „Das ‚Ding‘ als ein passives und gleichgültiges Substrat der Eigenschaften ist somit jetzt beseitigt. Der Gegenstand ist das, als was er sich uns allein gibt: eine Summe tatsächlicher und möglicher Wirkungsweisen.“29 Ernst Cassirer beschreibt mit diesem Satz den modernen weltanschaulichen Wandel durch die ‚Entdeckung‘ der Energie als Wirklichkeitsfundament, aufgrund der wir „erst das Wirkliche, weil das Wirkende selbst“30 erfassen. Diese auf das naturwissenschaftliche Weltbild bezogene Aussage behält auch in der Philosophie ihr Recht, wenn sie nur aus dem engen Korsett eines Verständnisses der Wirkung als Kausalitätseffekt aus Gründen31 gelöst wird. Dass man Wirklichkeit nicht bloß als Substanz, sondern auch als Subjekt verstehen müsse, wie Hegel sagt32, impliziert eine Dynamisierung nicht nur des Weltganzen, sondern auch aller Weltmanifestation und ihres (Kausal-)Zusammenhangs. Wirkliches prägt sich in einer durchgängigen Wechselwirkung (commercium) und dynamischen Spannung aus, die als Zeit angesprochen werden kann. Es ist dann wesentlich ein Wirkungszusammenhang oder ein Verhältnis wechselseitiger SubjektiKant und das Problem der Metaphysik, 44–51. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910, 250. 30 Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 249. 31  Dem gegenüber stünden ‚zukunftsoffene‘ Kausalitätsformen als Wirkungszusammenhänge. Mit dem Gedanken der Eigenzeitlichkeit von Zeitvollzügen in ihrer subjektiven Fassung wird gewissermaßen eine Teleologie offener Zukunft des Selbstseins vorgegeben, so etwa in der Organischen Philosophie, vgl. Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität: Entwurf einer Kosmologie, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2021. 32  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (Werke 12), 11. Aufl., Frankfurt am Main 2010, 23. 28 Heidegger, 29 

4. Zeittheoretische Verortung

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vierung und Objektivierung. Zeit ist somit nicht mehr nur als eine Dimension anzusprechen, ‚in‘ der sich Wirkliches ‚befindet‘, sondern sie ist vielmehr selbst Vollzug des Wirklichen. Auf den Doppelsinn einer Zeit als Horizont, vor dem sich alles Zeitliche ereignet, und der Zeit als reale Aktualisierung, also als Zeit­ sein, ziele ich mit dem Geschehensbegriff ab. Die Wirklichkeit als Geschehen zu begreifen, bedeutet dessen Manifestationen nicht statisch zu fassen, sondern so ‚wie sie sich uns allein geben‘: als Manifestationen der Zeit, die nur darum in der Zeit als Identische ansprechbar bleiben, da sie selbst besondere Zeiten33 sind – Geschehnisse. Damit gehen zwei weitere aporetische Bestimmungen einher: Zeiten (Polytemporalität)34 evozieren in ihrem Bezug zueinander eine Zeit und vor dem Hintergrund dieser einen Evokations-Zeit zeigt sich zugleich eine Ungleichzeitigkeit (Asynchronizität) der Zeit in sich (Vgl. Kapitel 1.1.). Es gibt nicht nur die Geschichte der materiellen Welt im absoluten Rahmen von Raum und Zeit als ein Nacheinander; es gibt auch das Nebeneinander verschiedener Zeitstufen dieses Prozesses. […] Damit erst ergibt es eine Ausflucht des Menschen aus seiner theoretischen Fixierung auf den Absolutismus der Zeit: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Raum.35

Im Folgenden gehe ich in einem weit strikteren Sinne von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus und kann mich dafür auf Herder beziehen: Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich; dies besteht, wenn auch kein anderes wäre; keine zwei Dinge haben dasselbe Maß der Zeit. Mein Pulsschlag, der Schritt oder Flug meiner Gedanken ist kein Zeitmaß für andere; der Lauf eines Stromes, das Wachstum eines Baumes ist kein Zeitmesser für alle Ströme, Bäume und Pflanzen. Des Elephanten und der Ephemere Lebenszeiten sind einander sehr ungleich, und wie verschieden ist das Zeitmaß in allen Planeten! Es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten.36

Natürlich lässt sich Gleiches, in seiner Entwicklungsstufe jedoch Verschiedenes nebeneinander antreffen, wie etwa eine Eiche und die Eichel. Dieses Nebeneinander unterschiedlicher Alter im Raum meint eine Parallelsetzung, die für die Betrachtung der Zeit allerdings wenig interessant ist, denn das bloße Ne33  Luhmann bezieht sich in einem frühen Text zu seiner Systemtheorie auf diese Fassung von Identität: „Dieses [das funktionale Denken] versteht Identität nicht mehr als Substanz (die nicht nicht ist), sondern als (stets relative) Invarianz.“ (Niklas Luhmann, Die Grenzen der Verwaltung, Berlin 2021, 46.) Der Begriff der Invarianz ist analog zur zeit­t heo­ re­ti­schen Kategorie der Beharrlichkeit. Besondere Zeiten sind Identitätsvollzüge. Identität geschieht im Ausbilden eines Zeit-Kokons der Beharrlichkeit gegenüber anderen Zeiten. Beharren und Identität sind selbst als Geschehen zu begreifen. 34  „Es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten.“ Herder, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, 84. 35  Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, 5. Aufl., Frankfurt am Main 2016, 249. 36 Herder, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, 84.

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Einleitung

beneinander blendet den spezifischen Zeitbezug dieser unterschiedlichen Zeiten zueinander eigentümlich aus. Bei der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im hier gemeinten Sinne geht es keineswegs um Stadien der Genese oder Geschichte eines Gleichen ‚nebeneinander im Raum und am selben Ort‘. Vielmehr bildet jeder weltliche Zeitvollzug in seiner spezifischen Eigenzeitlichkeit eine „Zeitandersheit“ (diesen Titel verwende ich im Folgenden neben „Zeitalterität“) zu jedem anderen Zeitvollzug aus. Die unterschiedlichen Zeiten differieren als Eigenzeiten, sobald sie in das Verhältnis der Gleichzeitigkeit versetzt sind und das meint im hier gemeinten Sinne eben nicht (nur) ein Nebeneinander, sondern ein Zu- und Durcheinander (nicht nur communio spatium sondern wesentlich commercium) im gegenseitigen Wirken. Gleichzeitigkeit ist gewissermaßen ein Miteinander des eigenzeitlich Ungleichzeitigen, Asynchronen als Wirkungsbezug. Diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten vollzieht sich sicherlich im Raum, doch eine Bestimmung als räumliches Nebeneinander ist nicht förderlich, um dem Zeitcharakter der Gleichzeitigkeit auf die Schliche zu kommen. Gleichzeitigkeit – offensichtlich eine zeitliche Kategorie – und Nebeneinander zu identifizieren, führt vielmehr oft zu dem Kurzschluss, Gleichzeitigkeit als ein räumliches Merkmal aufzufassen, und das, obwohl sie nicht notwendigerweise eine räumliche Positionsdifferenz (Nebeneinander) voraussetzt: Etwas kann gleichzeitig zeitlich verschieden sein und doch am selben Ort – etwa bei zwei Gefühlen in derselben Brust, die völlig unterschiedliche Zeitstrukturen ausbilden und sich gerade in dieser Differenz wirksam begegnen; oder ein und derselbe Stein: einmal als Plötzlichkeit, wenn er mich am Kopf trifft, und als Beständiges, das den Jahren trotzt. Gleichzeitigkeit wird in der Konfrontation unterschiedlicher Zeitvollzüge (Ungleichzeitigkeit) wechselseitig provoziert (Subjektivität) und dabei ein gemeinsames Zeitverhältnis evoziert (Weltzeit). Ich komme hinsichtlich des Begriffs der Subjektivität darauf zurück. Das macht die spezifische Spannung des Begriffs des Geschehens aus: Es ist Vieles und Eines, ohne dabei ein Drittes, Umfassendes zu benötigen oder auszubilden – und darin liegt auch ein wesentlicher Unterschied zum Raumbegriff. Trotz eines erheblichen Abstands, was den Systemanspruch angeht, liegt in dieser Art der Zeitinterpretation eine Parallele zu dem Unterfangen der Organischen Philosophie Whiteheads, mit der das Substanz-Qualitäts-Konzept umgangen wird; und die morphologische Beschreibung wird durch die Beschreibung dynamischer Prozesse ersetzt. […] Die Kohärenz, nach der das System strebt, liegt in der Einsicht, daß der Prozeß, oder die Konkretisierung jedes wirklichen Einzelwesens, die anderen wirklichen Einzelwesen als seine Bestandteile enthält. Auf diese Weise erklärt sich die offensichtliche Solidarität der Welt.37

37 Whitehead,

Prozeß und Realität, 46.

4. Zeittheoretische Verortung

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Es bleibt hier zwar undeutlich, wie eine Loslösung vom Substanz-Qualitäts-Konzept gelingen soll, wenn man an Ausdrücken wie „als Bestandteile enthalten“ festhält, dessen ungeachtet ließe sich just die Zeit als solche Solidarität der Welt verstehen, durch die Zeitvollzüge und Ungleichzeitigkeiten ins Verhältnis gesetzt sind in der Tatsache ihres ‚Dass‘. Welt ergibt sich durch das ‚Dass-des-Jetzt‘ des Geschehens als eine Solidarität in der Realität des Augenblicks. Zeit ist somit auch als Dauer stets auf den Augenblick als Vollzugsmoment des Dauerns bezogen. Diesem Augenblick des Geschehens verdankt sich das Miteinander des Asynchronen, er vollzieht sich als die Solidarität der Welt im Geschehen der Zeit. In diesem Sinn ist der Augenblick das Prinzip der Zeit, das Weile und Plötzlichkeit ineinanderfügt und durcheinander eröffnet. Die Deutung der Zeitzahl als Spannungs-Intensität wird plausibel, wenn man Zeit als solches Spannungsgeschehen begreift. So wird die Welt als ein Plural von Zeiten ansprechbar, dessen Relationalität (hinsichtlich des Umstands, dass sie sind) als Zeit-Horizont aufgerufen ist: Alles steht im Sinne des Geschehens in einer temporalen Spannung mit sich selbst und zu allem anderen, eine Spannung, die sich hinsichtlich der Relations-38 (Beharren, Folge, Zugleichsein) und der Modalitätskategorien (irgendwann/möglich, jetzt-dann/(nicht-)sein, immer/ notwendig-kontingent) als Zeit-Geschehen ausweisen lässt (siehe 1.2.). Dieses Verständnis eröffnet die Möglichkeit, das zeittheoretische Gegenkonzept Augustins mit dem Weltzeit- und Zeitzahl-Gedanken zu vermitteln und so aus dem abstrakten Gegensatz zu Aristoteles zu befreien. Augustins zentraler Begriff, der in unterschiedlichen Varianten wiederkehrt, ist das lateinische Verb tendere, mit den vielfachen Grundbedeutungen von spannen, ziehen, neigen, richten, erstrecken und vielen mehr. Diese Fokussierung auf das Wort tendere scheint mir bedeutsam. Bei Husserl wird diese Sinnebene in den Zentralbegriffen „Protention“ und „Retention“ tragend, also in der Konstitution von Zeitspannen in einer Kontinuität sich verkettender ‚Spannungen zum Jetzt‘.39 Auch Hans-Dieter Bahr hat Zeit (und Muße) zentral von der Spannung her begriffen.40 Die zeitlichen Konzepte des Lebensbogens oder des Kairos implizieren stets Bedeutungen, die in diesem lateinischen Grundwort angesprochen sind. Bei Augustin kommt es neben dem verbalen Gebrauch (beispielsweise im tendit non esse) vornehmlich zu der bekannten Wortbildung distentio animi, ein Begriff, der in der Regel als Ausdehnung der Seele übersetzt wird. Diese Übersetzung ist aber wenigstens missverständlich, weil sie nahe legt die distentio als eine extentio zu verstehen, also als eine Ausdehnung im räumlichen Sinne. Bei Au38  Inhärenz und Subsidenz: Etwas geschieht im Zuge eines andauernden anderen; Kausalität: Etwas wirkt und ist bewirkt; Wechselwirkung: Alles zeitigt sich gegenseitig. 39  Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (Sonderdruck aus: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung IX), Halle an der Saale 1928, 382–426. 40  Hans-Dieter Bahr, Zeit der Muße – Zeit der Musen, Tübingen 2008.

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Einleitung

gustinus scheint es mir dagegen deutlich, dass mit der Vorsilbe ‚dis-‘ der Spannungscharakter der Zeit betont wird, also das, was man heute, gewohnt an die Elektrizität, als Aufladung bezeichnen würde. Diese Bedeutungsrichtung wird noch offenkundiger, wenn man bedenkt, wozu die Zeit in Spannung steht, nämlich zur Ewigkeit. Sicherlich besteht bei Augustinus die Tendenz, die Zeit von der Ewigkeit her zu verstehen, also gewissermaßen aus Gott abzuleiten und dann als Dimension des Kreatürlichen privativ aufzufassen. Zugleich ist aber Ewigkeit beim Kirchenvater anderes und mehr als Außer- oder Überzeitliches, sie ist als Ewigkeit nämlich durchaus auf die Zeit gerichtet und keineswegs temporal indifferent, sondern vielmehr die Zeit in sich schließend und sie entfaltend. In der Interpretation von Kierkegaards Augenblick (3.1.) wird sich dieser Zeitbezug des Ewigen noch einmal deutlich herausstellen. Mein Anliegen in der Interpretation Augustins (1.5.) geht nun dahin, das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit als eine Aufladung zu begreifen, die es erlaubt, nicht mehr nur Zeit von der Ewigkeit her, sondern nicht weniger die Ewigkeit von der Zeit her zu verstehen. In Ewigkeit manifestiert sich eine Echotiefe der Zeit, also eine Art antwortender Wiederklang des zeitlichen ‚Angestimmtseins‘, der den unzeitlichen Hintergrund öffnet, damit Zeit als Geschehen begriffen werden kann. Man hat es in dieser, zum Teil durchaus gegen Augustin forcierten Lesart mit einer analogen Struktur zu tun, nach der ich die Zeit als Geschehensvollzug begreife, der zugleich einen transzendentalen Geschehnis-Horizont aufruft und damit eine gemeinsame Welt im Augenblick „allzeiterneuert“41 anbrechen lässt. Mit diesen hier nur kurz angerissenen Konsequenzen aus der Beschäftigung mit Zeit wird die Subjekt-Objekt-Dichotomie der Weltbezüge fragil. Gemeinhin begreift man Aristoteles als prototypischen T heoretiker einer objektiven Weltzeit, dem man Augustinus als den Prototheoretiker subjektiver Zeit mehr oder minder schroff entgegensetzt.42 Damit werden neuzeitliche Kategorien über Denkweisen gestülpt, die sich einer erfrischenden Unbekümmertheit gegenüber den Idiosynkrasien des Subjektdenkens erfreuen. Sowohl bei Aristoteles als auch bei Augustinus spielt bei allen gravierenden Unterschieden just die Differenz zwischen bloß erfahrener Zeit und einer objektiven Zeit der Weltbezüge kaum eine Rolle. In beiden Texten handelt es sich nach der hier präferierten Auffassung jeweils um Wechselbezüge subjektiver und objektiver Aspekte in einem Geschehen vielfältiger, asynchroner Zeiten, die sich reziprok sowohl subjektivieren als auch objektivieren. Ich werde zeitliche Subjektivität dem ursprünglichen Wort41  Dieser Begriff stammt aus Rosenzweigs Schöpfungs- und Wunder-Interpretation, auf die ich mich beziehen werde. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2006, 124–228. 42  Zu dieser Entgegensetzung und ihren Schwierigkeiten siehe: Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung 3. Die erzählte Zeit, übers. v. Andreas Knop (Übergänge 3), 2. Aufl., München/ Paderborn 2007.

4. Zeittheoretische Verortung

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sinn nach als ein ‚Unterworfensein‘ unter die Zeitandersheit ungleichzeitiger Zeitvollzüge auffassen. Dieses Unterworfensein (Subjektivität) ist nichts anderes als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und wird hier keineswegs nur für das reflektierte Selbstbewusstsein gebraucht. Hinsichtlich der radikalen Verhältnishaftigkeit der Zeit ist alles, was in einen zeitlichen Bezug tritt, wechselseitig der Eigenzeit des anderen unterworfen und das eben nicht in einem dritten Gemeinsamen, das beides unterschiedlich betreffen würde, sondern nur im Beziehen selbst. Die Zeiten evozieren als Differierende eine gemeinsame Zeit als Spannung. Die Konfrontation dieser subjektivierten, d. h. in die gleiche Zeit versetzten Zeiten, ist dann als eine objektive und gemeinsame Zeit aufgerufen. Subjektivität meint so verstanden Gleichzeitigkeit in Form einer ‚Pro-Vokation‘ durch das Asynchrone, Zeitandere, Ungleichzeitige. Umgekehrt ist die Objektivität der Weltzeit wesentlich Zeiteffekt dieses temporalen Subjektivitätsgeschehens, eine Art Evokation. Kurz: Begreift man Zeit als Geschehen des ‚Dass-des-Jetzt‘, dann erweisen sich die Unterscheidungen von Subjekt/Objekt und Weltzeit/subjektive Zeit nur mehr als multiple Pole eines einzigen Spannungs-Geschehens, das man die Wirklichkeit der Zeit nennen dürfte. Eine andere Ebene der Problematik von subjektiver und objektiver Zeit ist dagegen angesprochen, wenn man Zeit als ein Problem der Darstellung43 in Sprache und Denken auffasst. Zeit bleibt auch darum für das konkrete Vorstellen wie für die Repräsentation in abstrakten Konzepten ungreifbar, weil sie sich weder der Affinität des Vorstellens für Raumbilder noch der Affinität der Sprache für Allgemeinbegriffe bruchlos fügt. Ich spreche im Folgenden diesen Umstand durch die Unterscheidung von Es-gibt (Zeitvollzug) von Es-gilt-als (Zeitrepräsentation in Sprache und Denken) an (1.7.). Zeit wird gewissermaßen immer beim Namen von Außerzeitlichem gerufen, obwohl doch dieses Außerzeitliche nichts anderes ist als ein Zeit-Effekt. Whitehead hat auch diesem Umstand in seiner seltsam subversiv-theologischen Philosophie des Organischen Rechnung getragen.44 Die Fassung der Zeit in Vorstellungen und Begriffen bleibt immer negativ, abgezogen und außerzeitlich gegenüber der Zeit und in der Zeit und darum mag der Ausdruck von einer „Negativen T heologie der Zeit“45 seine vollkommene Berechtigung haben. Von Gott bleibt schließlich nur die Zeit, zieht man Gott einmal ab – und vielleicht wäre er damit nicht ärmer geworden. Dennoch durchdringt Zeit Sprache und Denken hinsichtlich des Umstandes, dass beide jeweils auf Aktualisierung angewiesen sind. Und so wird mit unzeitlichen Begriffen Zeit repräsentiert (auch in den Denk- und Sprachformen, ihren Tempi und Konditionalen) und im Vollzug der Repräsentation zugleich vollzogen. Das Bedeuten von Sinn 43 

Vgl. Gernot Böhme, „Zeit als Medium von Darstellungen und Zeit als Form leben­ diger Existenz“, in: Rostocker phänomenologische Manuskripte, 5 (2009), 18. 44 Whitehead, Prozeß und Realität, 619–623. 45  T heunissen, Negative T heologie der Zeit.

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Einleitung

prägt selbst eine zeitliche Dimension aus, eine Eigenzeit des Begreifens. So verstanden meint die Figur des ‚Denkens des Denkens‘ die Struktur einer Selbstgegenwart der Zeit in Vollzug und Repräsentation; Wahrheit ließe sich somit auch begreifen als die Selbstgegenwart des Denkens im ‚Tendieren‘, Angezogensein zum Ungleichzeitigen. Die Zeit erfordert auch im Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine eigenartige Position der Un-Zeitlichkeit, denn diese Zeitrichtungen liegen ja nie unmittelbar zeitlich vor (das tut gewissermaßen nur die Gegenwart des Augenblicks, nicht aber die Gegenwart als Repräsentationsraum des Gegenwärtigen – es gibt darum keine Vollgegenwärtigkeit des Reflexionsbewusstseins), sondern müssen jeweils in einem eigenen zeitlichen Bezug zur Zeit gestiftet werden. Das führt zu einer temporalen Überkreuzung des Zeitvollzugs mit den Ausrichtungen in der Zeit durch Erinnern, Vergegenwärtigen (Reflektieren) und Antizipieren als Zeitvollzüge quer zur Zeit. Solche Verquerung von Zeitsein (Geschehen) und Zeitausrichtungen (Geschehensbezug auf Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart; Gegenwart ist gewissermaßen die Richtung aufs Jetzt) verstehe ich in diesem Text vornehmlich als eine Struktur narrativer Refiguration. Dabei orientiere ich mich wesentlich an Bergson und Ricoeur (siehe 2.3.–2.5.). Mit diesen hier nur kurz angerissenen Überlegungen zur Zeittheorie verbinde ich explizit das Anliegen, das alltäglich wenig reflektierte, jedoch vorherrschende Verständnis der Zeit als metrische Größe (in diesem Text verstanden als objektivierte Zeit) zu de-konstruieren, nämlich es als Konstrukt einer zeit­theo­re­ti­schen Kritik zu unterziehen. An der Zeittheorie zeigt sich eindrücklich, wie T heorie-­ Konstrukte, beziehungsweise abstrakte, rein methodische Modellbildungen der Wissenschaft in das Alltagsverständnis und in die alltägliche Organisation der Lebenszeit eindringen und dort ein Eigenleben entwickeln. Ist Zeit einmal in der Auffassung der Menschen zum abstrakten Zeitkonstrukt verengt, verengt sich auch die Erfahrungswirklichkeit der Menschen ganz konkret: Zeit erscheint dann als eine bloß äußerliche und uns existentiell bedrängende Dimension (siehe Pathologien der Zeit) und wird als solche auch organisatorisch zur Disziplinierung genutzt (siehe Zeitorganisation). Wer Zeit bloß als die beengende Dimension eines Zeitflusses versteht, der mit der unbestechlichen Gleichgültigkeit der Uhr über uns hinwegschreitet, wird seiner Zeit kaum mehr glücklich. Wer Zeit als das Stundeninstrument zur Organisation eines optimierten Leistungsvergleichs begreift, dem wird Zeit schließlich zum geschichtlichen Fatum einer undurchsichtigen Zeit-Herrschaft. Die Zeit, die wir uns als das Maß aller denken, ist bloß ein Verhältnismaß unserer Gedanken, wie es bei der Gesammhtheit aller Orte einzelner Wesen des Universums jener endlose Raum war. Wie dieser, so wird auch seine Genossin, die ungeheure Zeit, das Maß und der Umfang aller Zeiten, ein Wahnbild. Wie er, der bloß die Grenze des Ortes war, zum endlosen Kontinuum gedichtet werden konnte, so mußte Zeit, an sich nichts

4. Zeittheoretische Verortung

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als ein Maß der Dauer, so fern diese durch eigne oder fremde Veränderung bestimmbar ist, durch ein immer und immer fortgesetztes Zählen zu einer zahllosen Zahl, zu einem niegefüllten Ozean hinabgleitender Tropfen, Wellen und Ströme werden.46

Gegen diesen Phantom-Strom der Zeit wendet sich dieses Buch, indem es sich dafür einsetzt, Zeit genießen zu lernen.

46 Herder,

Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, 84–85.

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I. Allotria* zur Zeittheorie 1. Zeitsein: ‚Dass des Jetzt‘ – Geschehen der Zeit 1.1. Asynchronizität und Polytemporalität Wenn man bedenkt, dass man immer Zeit hat, solange man lebt, da Zeit weder ein Besitz noch bloßes Attribut des Daseins ist, das ihm genommen werden könnte, ohne es selbst einzubüßen, dann erscheint der Ausdruck ‚Zeit haben‘ fragwürdig. Alles Lebendige hat nicht bloß Zeit, sondern vollzieht sie vielmehr, insofern es sich zeitigt. Folgt man beispielsweise Aristoteles in seiner Aussage, dass „alles was vergänglich ist und entstehen kann, und überhaupt alles, was zu einer Zeit ist, zu einer anderen nicht, […] notwendig in der Zeit sein [muss]“ (Aristoteles, Physik 221b), dann erscheint es als eine folgenschwere Verwechslung von Haben und Sein1, die Zeit als etwas zu behandeln, an dem es überhaupt mangeln könnte. Doch genau diese Bedeutungsverschiebung im Begriff der Zeit bestimmt das Alltagsverständnis: Unter Zeithaben versteht man in der Regel nicht das Geschenk des Daseins – das es tatsächlich ist und mit dem nichts Besseres anzufangen wäre, als es zu genießen, wie es sich gerade ergibt –, sondern ein rares Gut inmitten des Lebens, das sorgsam zu verwalten wäre. Es gilt demnach, die Zeit einzuteilen, sie zu sparen, zu nutzen, sie sich zu nehmen und disponible Zeiträume2 aus dem Dickicht der Geschäftstermine und Termingeschäfte akkurat frei zu schneiden. Und so machen wir uns schließlich mitsamt der Zeit zu Gegenständen temporaler Selbstverwaltung, die paradoxerweise für das Selbstsein kaum mehr Zeit zu finden scheint, da man sie unter den Vorzeichen der Knappheit immer gerade für anderes benötigt. Aufgrund dieser Sinnverschiebung, die ich später weiterverfolgen will, wandelt sich die Zeit gewissermaßen vom Odem des Daseins zu einer ökonomischen Größe *  Ich beziehe mich hier auf den bereits in der Einleitung angeführten Begriff der A ­ llotria im Sinne Adornos Philosophie des Essays. „Er [der Essay] fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria.“ Adorno, „Der Essay als Form“, 10. Vgl. 1.3. 1  Damit ist selbstverständlich auf Erich Fromms Buch gleichen Namens angespielt: Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, übers. v. Brigitte Stein, Stuttgart 1976, zur Frage der Zeit insbesondere 126–128. 2  In der „disposable time“ macht Marx das Maß allen Reichtums aus und zugleich das Scharnier der Befreiung, vgl. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Marx Engels Werke 42), hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1983, 604. Dazu ausführlich Teil II.

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I. Allotria zur Zeittheorie

und wird dadurch unter den Vorbehalt des Mangels gestellt.3 Um diese zeitpolitische Wendung eines existenziellen oder ontologischen Grundbegriffs besser nachvollziehen zu können, möchte ich zuerst das Rätsel, das die Zeit als metaphysischer Begriff aufgibt, ansprechen. Die Zeit stellt ein zentrales und gewissermaßen unlösbares Problem dar, das die Philosophie- und Geistesgeschichte über alle Epochen hinweg durchwirkt. Blickt man auf die schiere Tatsächlichkeit der Existenz, dann stellt sich Zeit als eine axiomatische Wahrheit dar: Alles in der Welt hat alle Zeit der Welt, solange es nur in der Welt und Zeit ist. Doch auch der Ausdruck ‚In der Zeit sein‘ ist irreführend, denn Zeit umfasst Dinge, Lebewesen und Menschen ja nicht wie eine äußere Sphäre, die sich gleichgültig zu der besonderen Zeit verhielte, die man (ver-)braucht, um sein Dasein zu fristen. Sind wir und alles Leben auf diesem Planeten, ja sind die Planeten, Sterne und Galaxien, die ihre Bahnen ziehen, kollidieren und klaffende schwarze Löcher aufreißen, von denen angeblich sogar die physikalische Zeit selbst verschluckt wird, – sind all diese kosmischen Manifestationen nicht selbst die Zeit? Sind sie es denn nicht, die Zeit vollziehen in ihrem Werden und Vergehen? Worin sollten sie denn sein, um zeitlich zu sein? – Etwas ist bestenfalls insofern in der Zeit, als es eingelassen ist in seine eigene Existenz und dadurch in Verhältnis gesetzt zu anderem Zeitlichen. Alles ist Zeit und Zeit ist nichts, was ohne Zeitliches sein könnte. Den Manifestationen der Zeit – also uns selbst, allen Dingen und Lebewesen – haftet Zeit nicht als bloße Eigenschaft an und ebenso wenig sind wir lediglich an eine besondere Stelle eines von uns unabhängigen Zeitverlaufs gesetzt. Das ‚In-der-Zeit-sein‘ spricht keine umfassende Zeit als festen Rahmen an, sondern ergibt sich aus einer Vielheit (Polytemporalität) und Asynchronizität von Zeiten zueinander, die als Existenzvollzüge, als Werden und Vergehen, Zeit ausprägen. Ich komme gleich darauf zurück. ‚In-etwas-sein‘ wird in der Regel mittels eines räumlichen Schemas vorgestellt, als eine Art Verschachtelung. Das täuscht jedoch über die Besonderheit des In-der-Zeit-seins hinweg, da es die Zeitbestimmung durch Bildlichkeit überblendet: Man denkt so an etwas, das seinen besonderen Ort findet in einem ihn umfassenden Außenraum beziehungsweise ‚auf einer Zeitgeraden‘. Solche Vorstellung folgt der Tendenz, Begriffe durch Bilder zu ersetzen – einst tabuisiert, heute skrupellos zur Methode erhoben –, die von Zeittheoretikern wie Bergson mit Recht problematisiert wurde.4 Raumbilder implizieren einen allgemeinen Ausdehnungs-Hintergrund, vor dem sich Raumverhältnisse verorten; mit dem Räumlichen ist die Extensivität des Raumfeldes vorgegeben. Der „reine Anblick“, wie Heidegger den transzendentalen Raum als Horizont der Erfahrung

3  4 

Gimmel et al., An den Grenzen der Muße, 93–113. Vgl. Bergson, Zeit und Freiheit, 71.

1. Zeitsein: ‚Dass des Jetzt‘ – Geschehen der Zeit

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beschrieben hat5, der Raum als „Synopse“, spricht eine solche vorausliegende Extensivität der sinnlichen Raumwahrnehmung (nicht im Sinne eines euklidischen Raums) an, die zwar keineswegs gegenständlich oder gar empirisch ist, aber dennoch ein genuin sinnliches Meta-Datum (ein ‚reiner Anblick‘, der im sinnlichen Wahrnehmen aufgerufen ist und in den sich alle konkreten Anblicke einfügen) meint. Die Transzendentalität von Raum und Zeit ist in dieser Lesart, der ich folgen will, als Bedingung der Möglichkeit von Sinnlichkeit keineswegs unsinnlich, sondern sinnlich an sich. Temporale Verhältnisse implizieren in ihrer konkreten Erfahrung – im Unterschied zum Raum – jedoch keine ‚Hintergrund-Zeit‘, keinen ‚Temporal-Äther‘ oder ähnliches, sondern ergeben sich durch den schieren Vollzug des Einzeldaseins, das zu anderem Dasein, das geschieht, ruht, überrascht, stirbt, entsteht, wiederkehrt und so weiter, zeitlich relativ ist und so eine zeitliche Verhältnishaftigkeit ausprägt. Diese gibt einen Horizont der Erfahrung nicht als Voraus- oder Zugrundeliegendes, sondern als das Dass (der Möglichkeit) des Sichereignens vor. Der Horizont der Zeitverhältnisse ist dem Stattfinden an sich, dem ‚dass es ist‘ eingeschrieben: Raum hat Weite, Zeit ist Geschehen. Während Heidegger auf den Kant’schen Begriff der Synopse zurückgeht, wäre, da sich Zeit stets widerspenstig gegen den Sehsinn erweist, ihr „reiner Anblick“ wohl besser als Synästhesie zu bezeichnen. Auf diesen Umstand zielt auch Ulrich Sonnemann ab, wenn er darauf insistiert, dass Zeit „an sich selbst überhaupt nicht Anschauungsform ist, sondern Anhörungsform“6, oder Henri Bergson, der gegen die Vorstellung der Zeit als „homogenes Medium“ agitiert, die auf der menschlichen „Fähigkeit“ beruhe, „einen qualitätslosen Raum zu perzipieren oder zu denken.“7 Zeit sei dagegen stets qualitativ heterogen bestimmt, und als homogenes Medium vorgestellt nichts anderes als ein „Bastardbegriff […], der seinen Ursprung dem Eindringen der Raumvorstellungen ins Gebiet des reinen Bewußtseins verdankt.“8 Trotz der unbestreitbaren und untrennbaren Verwobenheit von Räumlichkeit und Zeitlichkeit allen Daseins ist der Unterschied, ob etwas in Bezug zum Raum oder zur Zeit thematisch wird, einer ums Ganze. Man ist nicht so in der Zeit, wie man sich irgendwo im Universum befindet. Alles, insofern es räumlich ist, kann in dem umfassenden Ganzen der sich ausbreitenden Materie gedanklich eingezeichnet werden wie in einen Koordinatenraum (obgleich niemand seines Anblicks je teilhaftig geworden wäre, basiert dieses Weltkonstrukt doch auf dem „reinen Anblick“ des Raumes). Nach diesem Schema wird eine Sache in einer anderen verortet, die diese enthält: Der Stuhl im Klassenraum, der Pilzsucher im Wald, der Kaffee in der Kanne und so weiter. Doch in einem zeitlichen Sinne Kant und das Problem der Metaphysik, §27. Zeit, Geschichte, Zeitgeschichte, 167. 7 Bergson, Zeit und Freiheit, 75. 8 Bergson, Zeit und Freiheit, 76. 5 Heidegger,

6 Sonnemann,

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I. Allotria zur Zeittheorie

macht ein solches Schachtelsystem der Wirklichkeit keinen Sinn, denn das Geschehen, das die Zeit an- und ausspricht, lässt sich nicht als ein Ineinander bestimmen. Was ist denn das Zeitliche des Kaffees in der Kanne? Was ist das Zeitliche des Pilzsuchers im Wald? – Jedenfalls nicht das In-etwas-sein. Zeitlich wäre der Kaffee zum Beispiel hinsichtlich seines langsamen Erkaltens. Zeitlich ist der Pilzsucher hinsichtlich dessen, dass er noch immer nichts gefunden hat, dass er plötzlich etwas entdeckt, oder dass er langsam eine Rast einlegen muss. Der Kaffee in der Kanne und der Pilzsucher im Wald teilen beispielsweise dann eine gemeinsame Zeit, wenn der Kaffee schon kalt geworden ist, bevor der Pilzsucher einen Rastplatz auf der Lichtung erreichte. Die jeweiligen Zeitvollzüge („schon kalt!“ und „immer noch nicht da!“) bilden eine gemeinsame Zeitlichkeit als „Schon und Noch-nicht“ aus. Zeit ist nicht vorstellbar als ein umfassendes Drittes und vorgegebenes Äußerliches, sondern meint in meinem Verständnis solche eigentümliche Relationalität unterschiedlicher Eigenzeiten9 in einem Geschehen (das meine ich mit Polytemporalität). Denn zunächst gehört die Zeit des Kaffees (sein Erkalten beispielsweise) nicht derselben Zeit an, die der Pilzsucher ausprägt (durch den Wald streifen); erst in der wechselseitigen Beziehung zueinander (Kaltwerden, ohne bislang eine Lichtung erreicht zu haben) offenbart sich ein Geschehen, das diese beiden Zeiten als eine gemeinsame Zeit bestimmt. Eine gemeinsame Zeit ergibt sich so durch das Inbezugtreten zur Alterität des zeitlich jeweils anderen, des Ungleichzeitigen – in diesem Sinn ist Zeit durch Asynchronizität bestimmt: ‚Gleich ist der Kaffee ganz kalt und immer noch kein Rastplatz in Sicht…‘. Man wird der Zeit nicht gerecht, solange man sie nicht aus der Zwangsanalogie zum Raum befreit. Das lässt sich am Verhältnis von Jetzt und Ort beispielhaft zeigen: Es gibt kein echtes Analogon für den Begriff des Ortes in der Begrifflichkeit der Zeit. Dass das Jetzt strukturell verschieden ist zum Ort, zeigt sich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Jetzt nicht in vergleichbarer Weise ein Gemeinsames für das darauf Bezogene darstellt, wie es ein Ort im Raum für seine Relata tut. Liegt man beispielsweise am Morgen mit einem anderen Menschen in einem Bett (Ort) und wird dabei immer wieder in den Schlaf zurückgezogen, während die zweite menschliche Zeitmanifestation neben einem bereits vom Stachel des Tages zur Regsamkeit getrieben wird, stellt sich wohl ein gemeinsa9  Der Begriff der „Eigenzeit“ wurde in einem sozialwissenschaftlichen Kontext prominent von Helga Nowotny ausgearbeitet: Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2012.   Hier ist eine philosophische Bestimmung nötig, die ich im Weiteren in groben Zügen skizzieren möchte. Wie in der Einleitung gezeigt kann man dabei auf ältere Quellen zurückgehen, ich habe mich vornehmlich auf Herder bezogen: Herder, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Auch in der Einleitung ist der Verweis auf die Organische Philosophie Whiteheads erfolgt; es würde sich im Rahmen einer systematisch angelegten Untersuchung lohnen, seinen Zeitbegriff im Allgemeinen und den einer Eigenzeit im Besonderen in diesem Zusammenhang zu diskutieren: Whitehead, Prozeß und Realität.

1. Zeitsein: ‚Dass des Jetzt‘ – Geschehen der Zeit

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mes Jetzt für beide ein, dies jedoch als eine Zeitandersheit. Die gemeinsame Zeit des Jetzt ist geprägt von „wach-nervend und verschlafen-aufhaltend“, sie ist treibend-retardierend und somit die objektive Zeit (Weltzeit) eines Konflikts. Das Bett als Ort bleibt, selbst wenn es ganz unterschiedlich wahrgenommen wird, doch immer ein Gemeinsam-Allgemeines als Drittes (Welt). Das Jetzt ist dagegen kein allen gemeines, gleiches Drittes, sondern ein Geschehen der Gemeinsamkeit als gegenseitige Andersheit; die gemeinsame Zeit ist die Veränderung (Zeitandersheit) der Relationalität von Zeiten, wenn sie in Relation treten. Dieses Inbezugtreten der Zeiten fasse ich im Folgenden als eine Konfrontation mit der Polytemporalität und Asynchronizität der Zeitalteritäten in einem Geschehen. Ein Subjektum – ich meine hier keineswegs nur ein menschliches Bewusstsein, sonders das Unterworfensein gegenüber einer Zeitalterität10 überhaupt – entsteht in der Auseinandersetzung mit Ungleichzeitigkeit, oder besser gesagt, als die Konfrontation in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, des Asynchronen. Die Gleichzeitigkeit, die man Subjekt nennen kann, wird als Spannung zum Asynchronen provoziert, hervorgerufen. Zeit subjektiviert, indem sie die den Dingen eingeschriebene Eigenzeit als Relations-Ungleichzeitigkeit in eine Gleichzeitigkeit versetzt. Das Subjekt ist damit Austragungsort einer objektiven Vielfalt und Ungleichheit der Zeit in sich. – Im Falle des Pilze­suchens sind mindestens drei Zeiten (das Erkalten des Kaffees, das Nicht-angekommen-sein auf einer Lichtung und der wachsende Hunger des Pilzsuchers) im Spiel (im Falle des Aufwachens wenigstens zwei), die, zuerst voneinander unabhängig, nun mit einem Schlag (‚plötzlich‘, siehe dazu I.3.) ein gemeinsames Zeitverhältnis ausprägen. Die Subjektposition stellt gleichermaßen einen Effekt dieses Zeit-Geschehens dar, wie es diesem ein Fundament verleiht und dabei auch das Zeit­ andere als ein Etwas, ein Objekt aufscheinen lässt. Aus der Konfrontation des geruhsamen Pilzesuchens mit dem langsamen Erkalten des Kaffees ereignet sich eine Zeit, die ‚plötzlich‘ drängt: es ist etwas geschehen. Hinsichtlich der Struktur von Zeit könnten durchaus auch der Kaffee oder der Weg als Subjekte angesprochen sein, wenn sie als Prozesse aufgefasst werden. Ich halte es in diesem Zusammenhang für förderlich, die allzu enge Verknüpfung von Subjektivität und Bewusstsein genauso zu lösen, wie das Verständnis in Frage zu stellen, das Zeit als ein gleichförmiges Dahinfließen differenter Dinge in einer sie umfassenden Synchronizität begreift. Zeit als Geschehen lässt sich vielmehr als eine wechsel10  Subjekt zu sein, bedeutet ja nicht nur etymologisch ein Unterworfensein, sondern auch sachlich. Das weist sich an Zeitverhältnissen deutlich aus: Ist man beim Pilzesuchen bspw. mit dem Kaltwerden des Kaffees konfrontiert, dann wird man der Zeitalterität des Kaffees unterworfen, man wird vom Kaffee zum Subjekt gemacht. Doch auch die Zeit des Erkaltens wird dabei der zuerst völlig disparaten Zeitdynamik der Suche nach dem Rastplatz unterworfen im Fortdauern des Kaltwerdens oder durch dessen plötzlichen Abbruch. Jedenfalls wird es angesichts dieser anderen Eigenzeit einem Zeitverhältnis unterstellt, das die Kaffeezeit subjektiviert.

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I. Allotria zur Zeittheorie

seitige Subjektivierung begreifen, in der ein jeder der im Spiel befindlichen Zeitvollzüge den anderen unterworfen ist, wodurch sich eine gemeinsame, ‚objektive‘ Zeit ereignet. Aus der wechselseitigen Unterwerfung alles Zeitlichen in der Zeit (Subjektivierung als Geschehen) ergibt sich eine zeitliche Objektivität von Welt. In der Zeit ist alles an sich Subjekt und vermittelt Objekt (im Raum alles an sich Objekt und in vermittelter Weise Subjekt). Die umfassende Zeit des Geschehens verdankt sich also nicht einer bloßen Kombination der Eigenschaften des Kaffees (kälter) und des Pilzesuchens (noch nicht auf der Lichtung), sondern vielmehr einer Spannung, die die radikale Eigenzeitlichkeit und Zeitalterität nicht aufhebt, sondern sie quasi gegeneinander ausspannt (in Subjektivitäten). So wird eine Weltzeit durch die spannungsgesättigte Alterität von Zeiten, also als Verhältnishaftigkeit, evoziert: Das Leben der Eintagsfliege steht in Bezug zu einem Sommertag in den Schulferien; das Einnicken auf der Sommerwiese zum Aufziehen eines Gewitters; das Aufwachsen eines Kindes zu den Umläufen des Himmels; das Äonen durchstreifende Universum zu dem Wimpernschlag des Bewusstseins, das von ihm Notiz nimmt und so weiter. Chronos ist nicht vorstellbar als „eine unendliche gegebene Größe“11 im Sinne der Extensivität, sondern nur als Ereignishorizont eines Weltbezugs; Zeit ist keine Gegebenheit, sondern vielmehr ein Sich-Ergebendes. Der allgemeine Charakter der Zeit ist so verstanden Geschehen. Jedes Geschehen ergibt sich jedoch nur als eine Besonderung zeitlicher Verhältnisse und der Zeit selbst. 1.2. Schem(at)en der Zeit: Qualität, Relation und Modalität. Ich begreife Zeit also erstens als einen qualitativen Existenzvollzug (Zeit-sein/ Zeitinhalt/Intensität), zweitens als die sich im Bezug zu anderen Zeitinhalten ergebende Form einer temporalen Relationalität (In-der-Zeit-sein/Geschehen), die drittens hinsichtlich dieses Bezugs eine bestimmte Modalität (Möglichkeit/ Wirklichkeit/Notwendigkeit) ausprägt. Als eine Größe der Anzahl nach (Quantum) kann Zeit dagegen nur begriffen werden, wo man von ihr gerade absieht. Dieses Absehen von der Zeit bestimmt die metrische Zeitauffassung. Sie konstruiert ein Maß künstlicher Taktung (Zeitreihe), die es erlaubt, ohne jeden inneren Bezug zu den Dingen diese gewissermaßen ‚auszuzählen‘. Zur Erläuterung: Wenn Kant danach fragt, wie wir durch Verstandeskategorien sinnliche Erscheinungen begreifen, dann ist der Zeitbezug hier der eigentlich maßgebliche, insofern er das Schema abgibt, mit dem wir überhaupt etwas als Größen, Qualitä11 

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, B 42.

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ten, Relationen und Modalitäten auffassen können.12 Selbst die Quantität habe zwar ihr Bild im Raum (im Zugleichsein einer Vielzahl, die da abgezählt werden könnte), aber sie finde zu diesem Bild doch nur durch zeitliche Synthese (sukzessive Apprehension). Die Idee einer Quantität als Zeitreihe hat seine Entsprechung weniger in der konkreten Zeiterfahrung (die mit Kant vielmehr in der Synthesis der Empfindung des Zeitinhalts, also als Qualität, angesprochen ist) als vielmehr in der metrischen Zeitauffassung, insofern sie eine künstliche Reihe (Takt) als temporales Vergleichsmaß etabliert, um Zeitdauern (Qualitäten) sukzessiv auszuzählen. Das Ticken der Uhr an sich verrät beispielsweise keinerlei Zeitgröße, sondern erst das Abzählen einer bestimmten Dauer an diesem Ticken. Die jeweiligen Zeiterscheinungen können durch dieses quantitative Schema nur äußerlich als Größen erfasst werden, nämlich im Verhältnis zu einer ihnen gegenüber indifferenten Sukzession, deren eigene Zeitlichkeit (also die Zeitlichkeit des Zählens) dabei gar nicht in den Blick kommt. Das legt nahe, dass die Quantität (Anzahl) der Zeit immer nur in einem abgeleiteten, an sich unzeitlichen Sinn (metrische Zeitauffassung) zugänglich wird, während zeitliche Größe in einem eminenten Sinn als Grad oder Intensität der Wahrnehmung angesprochen werden kann. Zeit ist, beziehungsweise geschieht, nicht quantitativ, sondern qualitativ.13 Das wird klarer, wenn man bedenkt, dass auch das Zählen selbst hinsichtlich seiner eigentümlichen Zeitentfaltung (Synthesis von Wahrnehmung) als ein bestimmter Zeitinhalt, also als Zeit-Qualität angesprochen werden müsste und sich nur als Größe offenbaren könnte, wenn das Zählen selbst wiederum eigens ausgezählt würde. Zeitgrößen, die sich dem inneren Sinn 12  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 176–187. „Man sieht […], daß das Schema […] der Größe, die Erzeugung (Synthesis) der Zeit selbst, in der sukzessiven Apprehension eines Gegenstandes, das Schema der Qualität die Synthesis der Empfindung (Wahrnehmung) mit der Vorstellung der Zeit, oder die Erfüllung der Zeit, das der Relation das Verhältnis der Wahrnehmungen unter einander zu aller Zeit (d. i. nach der Regel der Zeitbestimmung), endlich das Schema der Modalität und ihrer Kategorien, die Zeit selbst, als das Correlatum der Bestimmung eines Gegenstandes, ob und wie er zur Zeit gehört, enthalte und vorstellig mache. Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln […] auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände.“ B 184–185. 13  Hierzu die Kategorien der Qualität (Realität, Negation, Limitation) im zeitlichen Schema: „Realität ist im reinen Verstandesbegriff das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert; dasjenige also, dessen Begriff an sich selbst ein Sein (in der Zeit) anzeigt. Negation, dessen Begriff ein Nichtsein (in der Zeit) vorstellt. Die Entgegensetzung beider geschieht [Hervorhebung JG] also in dem Unterschiede derselben Zeit, als einer erfüllten, oder leeren Zeit. […] Daher ist ein Verhältnis und Zusammenhang oder vielmehr ein Übergang von Realität zu Negation, welche jede Realität als ein Quantum vorstellig macht, und das Schema einer Realität, als der Quantität von Etwas, so fern es die Zeit erfüllt, ist eben diese kontinuierliche und gleichförmige Erzeugung derselben in der Zeit, indem man von der Empfindung, die einen gewissen Grad hat, in der Zeit bis zum Verschwinden derselben hinabgeht, oder von der Negation zu der Größe derselben allmählich aufsteigt.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 182–183.

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nicht bloß durch äußerlichen Vergleich erschließen, fasse ich im Weiteren also als Qualitäten im Sinne von Zeit-Intensitäten auf (über die Zeit als Größe wird im Zusammenhang von Aristoteles Zeitzahlbegriff etwas zu sagen sein). Hinsichtlich der dynamischen Kategorien – Relationalität und Modalität – ist Zeit ohnehin der eigentlich vorherrschende Bezug. Ganz unkantianisch gesprochen: Insofern etwas im Erscheinen eine eigene Zeit ausprägt, prägt es auch eine Relationalität zu anderem Dasein, zu anderen Zeiten aus. Diese Relationalität wird als ein Geschehen verstanden hinsichtlich der Inhärenz und Subsistenz (etwas geschieht im Zuge eines anderen Geschehens, das andauert), der Kausalität (etwas geschieht, insofern es wirkt oder bewirkt, hervorgerufen wird) oder Wechselwirkung (etwas löst im anderen etwas aus, zeitigt etwas in ihm). Das führt zu folgenden Zeitbestimmungen: Beharrlichkeit: Sie ist die Zeitmanifestation, vor der sich ein zeitlicher Wechsel erst als solcher abzeichnet. Die ungemein missverständliche Weise, so von der Zeit zu sprechen, als läge sie einem Substrat gleich einfach vor, beruht auf einer Hypostasierung dieses Zeit-Modus des Beharrens. Die Zeit als reine Form meint dagegen keinesfalls etwas Beharrliches oder Unveränderliches, sondern bezeichnet den Sinnhorizont des Geschehens, mit dem auch ein Beharren erst aufscheinen kann. Dennoch ist das Beharrliche in Zeitverhältnissen notwendig aufgerufen: Zeit beispielsweise als ein absolutes Fließen anzusehen, ist logisch nicht haltbar, da der temporale Fluss nur vor einer ihn umfassenden Zeit der Beharrlichkeit als Fluss aufgefasst werden kann. Mit Beharrlichkeit wird Zeit als „Größe des Daseins, d. i. Dauer“14 angesprochen und darum werde ich im Weiteren Identität in der Zeit als ein Geschehen der Beharrlichkeit auffassen, denn auch das Beharren geschieht oder vollzieht sich ja zweifelsohne ständig als eine Zeitmanifestation. Subjektivität im Sinne des temporalen Unterworfenseins ist anderem nur unterworfen, solange es auch in sich beharrt. Diese Beharrlichkeit ist provoziert, aufgerufen, durch die Gleichzeitigkeit des Asynchronen. Solcher Art ist auch ein ‚Ich, das all meine Vorstellungen muss begleiten können‘: Es geschieht beharrlich, wenn ihm etwas geschieht, und als dieses Geschehen ergibt sich eine Gleichzeitigkeit mit anderem Beharrlichen. Dieses eigenartige Verhältnis von Beharren und Ereignen, in dem das Eine als etwas Beharrliches für das Andere zum Ereignis wird und dieses gerade darum wiederum zur Beharrlichkeit (Unterworfensein) provoziert, gibt den Hintergrund des oben geschilderten, unhierarchischen Wechselspiels von Subjektivität und Objektivität vor. Folge: Zeit wird aufgrund ihres Geschehnis-Charakters als Folge angesprochen und damit bestimmend für die Konstitution von ‚Etwas‘, nämlich bestimmend für dessen Genese (in der Auffassung). Kant verweist explizit da14 Kant,

Kritik der reinen Vernunft, B 262.

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rauf, dass die Objektkonstitution dem Geschehen nicht vorausgeht, sondern sich ihm verdankt. Es liegt also nicht einfach etwas vor, dass dann ein Geschehen lostreten würde, sondern im Geschehen geschieht es vielmehr selbst. In diesem Sinne ist die zeitliche Folge als ein Wirkungszusammenhang des Geschehens zu begreifen. Kant entwickelt den Begriff der Folge zuerst an der (Ab-)Folge unseres Auffassens (Apprehension); es ist ein (Ver-)Folgen des Geschehens und damit ein zeitliches Bewirken der Erscheinung selbst.15 Es handelt sich bei Folgen aber offensichtlich um Wechselverhältnisse von Bewirktwerden und Wirken. Aus den bloßen Formen des Verstandes gewinnt man keine Einsicht, die verrät, ob wir eine Folge bloß als Wirkung unseres Wahrnehmens (bei der Abfolge von Eindrücken beharrlicher Gegenstände etwa) oder als eine Wirkung der erscheinenden Zeitvollzüge selbst (wie bei Bewegungen) ansprechen müssen. Ob sich das Haus nun bewegt (zum Beispiel beim Erdbeben) oder nicht, und wie wir demnach unsere Wahrnehmungsfolge zu verstehen haben, ist durchaus abhängig vom Objekt und der Art, wie es uns ‚bewegt‘. Bei der Folge handelt es sich also zeitlich aufgefasst nicht um kausale Ableitungsverhältnisse, die in eine klare Reihung zu bringen wären, sondern um eine Wechselbestimmung von Folge und Beharren, die der Konstitution von Subjektivität und Objektivität (siehe oben) entspricht und für die keineswegs ausgemacht ist, was da nun beharrt und was sich (in Folge) verändert.16 Die Eindeutigkeit der räumlichen Reihe (Hintereinander) ist bei zeitlichen Folgen (Nacheinander) außer Kraft gesetzt, da sie sich paradoxerweise ja nur in der Gleichzeitigkeit eines Geschehens ereignen kann, denn man überblickt in der Zeit die Folge ja nicht als Aneinanderreihung ihrer Glieder (die zeitliche Reihe kann ja nur virtuell vor-gestellt werden), sondern man wird 15  Diese Folgestruktur der Auffassung, egal ob es ein Haus ist oder ein Pferderennen, deuten wir keineswegs immer als zeitliche Struktur des Objekts, sondern nur dann, wenn wir die (Ab-)Folge dem Objekt selbst zuschreiben (siehe Pferderennen: hier begreifen wir unsere eigene Wahrnehmungsabfolge als Wirkung eines äußerlichen Geschehens im Rahmen der zeitlichen Verquickung von Ursache und Wirkung). Ein Identisches (z. B. ein Pferd beim Rennen) durch die zeitliche Veränderung hindurch ansprechbar zu machen, bedeutet gewissermaßen ihm unsere eigene Wahrnehmungsdynamik als Objekteigenschaft zuzuschreiben (anders als beim Haus, das wir trotz unserer realen Wahrnehmungsbewegung als statisch ansehen). Obgleich wir ein Haus vermeintlich in einer Auffassungs-Folge wahrnehmen, also zuerst den Giebel, dann die Tür, die Front usw., schreiben wir dem Haus keineswegs eine Zeitfolge zu, sondern vielmehr eine zeitliche Beharrlichkeit. 16  Hier lässt sich wiederum auf Whitehead bzw. seine Hume-Interpretation verweisen, die er zwar der Kant’schen Lehre just entgegenstellt, in meiner Auffassung aber durchaus mit dieser zusammengeht. Das gilt allemal für die Bestimmung der kausalen Wirkung ausgehend von der Wahrnehmung im Unterschied zur kausalen Ableitung. „Humes Polemik ist in der Tat ein nachhaltiges Argument dafür, daß rein vergegenwärtigende Unmittelbarkeit keine kausalen Einflüsse unterscheidet, durch welche ein wirkliches Einzelwesen entweder für das wahrnehmende wirkliche Einzelwesen konstitutiv ist oder durch welches ein wahrgenommenes wirkliches Einzelwesen einem anderen zugrunde liegt.“ Whitehead, Prozeß und Realität, 236.

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der Folge vielmehr als Wirkrichtung in der Gleichzeitigkeit des Jetzt gewahr. Darum kann man bei zeitlichen Folgen im Sinne des Wirkungszusammenhangs durchaus nicht sicher sein, was nun wem folgt oder was wen bewirkt.17 Es ist bezeichnend, dass Kants Beispiele von Folgen hier stets in dem Bereich liegen, den wir lebensweltlich als die Gegenwart unserer Wahrnehmung bezeichnen würden. Und so verwundert es nicht, dass das Geschehen bei Kant eine so zentrale Stellung in diesem Abschnitt über die ‚Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität‘ einnimmt. Das legt nahe, dass Kausalität ihren zeitlichen Sinn erst entfaltet, wenn man sie vom Wirken und Bewirktwerden her begreift und sich dabei vom Anspruch eines ableitenden Erklärens löst, dessen fest gefügte Reihenfolge sich aus der Logik der Ableitung ergibt, womit jedoch über die Zeitordnung eigentlich noch nichts gesagt ist (logische Ursachen können zeitlich vorausgehen, gleichzeitig sein oder zukünftig/final). Das Geschehen der Wirklichkeit lässt sich als ein zeitliches Kausal-Gewitter von Wechselwirkungen begreifen, also von Folgen im Sinne von Wirkungen in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die eine Vielzahl von Wirkungsrichtungen oder Ausprägungstendenzen im Augenblick versammelt. Zugleichsein: Mit der Relation des Zugleichseins spricht Kant schließlich an, dass das, was – er vergisst nicht zu sagen: im Raume – zugleich wahrgenommen wird, zeitlich in einer „Gemeinschaft der Wechselwirkung unter einander stehen“ muss. Damit wird die Synchronizität nicht als ein den Dingen bloß äußeres Gegebensein (Datum) begriffen, das sie unberührt nebeneinander aneinander vorbei parallel sein ließe, sondern Synchronizität oder Gleichzeitigkeit meint ein Ereignis wechselseitigen Bezugs. „Durch dieses Commercium machen die Erscheinungen, so fern sie außer einander sind [in meinen Worten: asynchron und polytemporal, JG] und doch in Verknüpfung stehen [also im Geschehen zu einander in Verhältnis gesetzt sind, JG], ein Zusammengesetztes aus (compositum reale) [das Geschehen der Zeit, JG].“18 Zeit ist hier „Inbegriff[s] alles Daseins (zugleich)“19. Dies wurde oben als das Geschehnis der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen angesprochen oder als die Evokation der Weltzeit in der Wirklichkeit des Augenblicks. Im Grunde genommen begreift Kant das Beharren und die Folge – und indirekt damit auch das Substanz-Akzidenz-Verhältnis und die Kausalität – vom Zugleichsein her, von der Wechselwirkung20 als Eröffnung der Zeit im Geschehen. 17  Die Eindeutigkeit der Zeitrichtung ergibt sich erst auf der gewissermaßen zweiten Zeit-Ebene zeitlicher Identifizierung, die weiter unten als zeitlich-narrative Refiguration angesprochen wird. 18 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 261–262. 19 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 262. 20  Die Wechselwirkung wird auch bei Hegel als eine Art Läuterung des Kausalitätsbegriffs aufgefasst, den man als Geschehen der Wirklichkeit ansprechen könnte, insofern die Kausalität aus der Linearität (vgl. Folge) gelöst wird und sich das Wirken als ein Identitätsvollzug darstellt. „Jene erste Ursache, welche zurück wirkt und ihre Wirkung als Ge-

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Ich deute Kants Analogien der Erfahrung also nicht als voneinander unabhängig geltende Sätze, sondern als sich gegenseitig erläuternde Beschreibung der konkreten Erfahrungsrealität in der Zeit: Die ‚Substanz‘ erweist sich als ein Wirkungsgeschehen, das sich im Zugleichsein – in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen der Zeit als Geschehen – als Beharrlichkeit und Folge zeitlich manifestiert. Es würde den Rahmen sprengen, den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit den Modalitätskategorien (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) genau aufzuzeigen. Kant setzt sie knapp in Bezug zur Zeitauffassung: Das Schema der Möglichkeit […] ist die Zusammenstimmung der Synthesis verschiedener Vorstellungen mit den Bedingungen der Zeit überhaupt […], also die Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgend einer Zeit. Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit. Das Schema der Notwendigkeit ist das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit.21

Dass mit der Möglichkeit zu „irgend einer Zeit“ lebensweltlich Zukunft, mit dem „Dasein zu einer bestimmten Zeit“ Gegenwart und Vergangenheit und in Abhebung zur Kontingenz solch bestimmter Zeit mit dem „Dasein zu aller Zeit“ Ewigkeit oder Außerzeitlichkeit angesprochen ist, liegt nahe. Die Vorstellung eines Zeitverlaufs (oder Stroms der Zeit), der sozusagen alles Vergängliche im Gleichtakt der Minuten auf dessen Ende hin und in die Zukunft vorrücken lässt, erscheint demgegenüber naiv. Sie fasst Zeit im Sinne einer Messeinrichtung (metrische Zeit), die einen temporalen Marsch-Takt vorgibt, der den konkreten Zeitmanifestationen gegenüber genauso äußerlich ist wie eine Schlachttrommel für den getriezten Soldaten. Die gleichfließende Zeit ist ein Konstrukt, das als allgemeines Äquivalent (zum Beispiel in Form der Schwingung eines Cäsium-Atoms) alles Werdende und Vergehende auf einen äußerlichen Taktschlag hin abstrahiert – solche metrische Zeit gilt als das Maß der Arbeit und mithin des Geldes (dazu später mehr). Begreift man hingegen Zeit vom Werden und Vergehen her, dann ergibt sich ein Zeitmaß nicht durch das blinde Vorrücken der Minuten und Sekunden, sondern durch den asynchronen Zeitbezug von Existenzvollzügen, der mehr einem temporalen Tumult gleicht als einem Gleichfluss. Das Zugleichsein des Ungleichzeitigen ist solch ein Tumult. In diesem Sinne möchte ich im Folgenden Aristoteles interpretieren.

genwirkung in sich zurückerhält, tritt damit wieder als Ursache auf, wodurch das in der endlichen Kausalität in den schlecht-unendlichen Progreß auslaufende Wirken umgebogen und zu einem in sich zurückkehrenden, einem unendlichen Wechselwirken wird.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II (Werke 6), 4. Aufl., Frankfurt am Main 1996, 237. 21 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 184.

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1.3. Qualität der Quantität von Zeit. Aporien der Zeit 1: Zählbarkeit Eine zu Missverständnissen verleitende Antwort, die Aristoteles auf die Frage gibt, was Zeit ist, lautet: die Zahl. Seit der Neuzeit bestimmt die quantitative Erfassung von Raum und Zeit zusehends das, was wir Wirklichkeit nennen. Als real gilt, was in Zahlen erfasst werden kann. Doch meiner Lesart nach ist mit ‚Zahl‘ bei Aristoteles etwas grundsätzlich anderes angesprochen als die quantitative Erfassung räumlicher und zeitlicher Phänomene in Ziffern und Daten. Mit Zahl scheint mir hier das konkrete Wie des In-der-Zeit-seins gemeint zu sein. Man könnte auch sagen, hier wird (wie oben bereits angekündigt) die Zahl als Qualität verstanden, deren ‚Wie-viel‘ (Größe) nicht auf dem ‚viel‘ betont wird (also keine Anzahl meint22), sondern auf dem ‚Wie‘ – so erscheint Zeit als eine Größe im Sinne eines Intensitätsgrads: Wie ist man in der Zeit? – In Verhältnisse von Zuvor und Später versetzt und diese Verhältnisse als Dauern (mit-)zählend. Ich werde eine Lesart vorschlagen, der es weder um historisch-kritische Genauigkeit geht, noch dieser zuwiderläuft, sondern in erster Linie dazu anleiten soll, das moderne Vorurteil über die Zeit als Messgröße in Frage zu stellen. Ich lese Aristoteles wie folgt23: Zeit äußert sich in den Verhältnissen des Früher, Später, Immer-noch, Noch-nicht, Dreimal-so-lange und so weiter. Mittels der Zeit sind also Weltdinge und wir zu diesen in Relationen versetzt, die nicht auf Räumlichkeit zurückgeführt werden können. Eng sind die hier fraglichen Gedanken mit Überlegungen zur Bewegung (kinesis) verknüpft, die aber nicht recht gefasst wären, wenn Bewegung vornehmlich als Lageveränderung, also durch die Rückführung auf statische Raumpositionen, begriffen würde.24 Denn so geriete das Dynamische an der Veränderung gegenüber der Andersheit der Lage aus dem Blick; der Charakter des Sichereignens, Geschehens und Wandels bliebe unterreflektiert und damit auch die Zeit selbst. Der aristotelische Begriff der Zeit geht schon darum nicht mit diesem modernen physikalischen Verständnis von Bewegung zusammen, weil der Begriff der kinesis aus dem Zusammenhang der aristotelischen Physik, also der Lehre von der Natur als Prozess des Wachsens und Vergehens, verstanden wird. Das Entstehen und Vergehen einer 22  In diesem Sinne schreibt auch Gernot Böhme, mit dessen Interpretation viele der folgenden Gedanken übereingehen: „Man darf für die Zeitzahl gar nicht primär an eine Anzahl denken, sondern muß festhalten, daß Zeiten (d. h. solche Zahlen, die Zeit sind) so etwas sind wie ‚das Jahr‘, ‚der Herbst‘. Zwar spielt die Anzahl der Grenzen (zwei) eine gewisse Rolle, Zeit ist aber nicht diese Anzahl.“ Böhme, Zeit und Zahl, 175. 23  Ich beziehe mich dabei im Wesentlichen auf die Physik des Aristoteles: Aristoteles’ Physik. Vorlesung über Natur. Griechisch-Deutsch, übers. v. Hans Günter Zekl, Hamburg 1987. 24  Unter der Maßgabe der physikalischen Messbarkeit von Bewegungen wird eine Sache auf gewisse Fixpunkte bezogen (man denke an die Stoppuhr beim Wettlauf), um das ‚Dazwischen‘ – blind gegenüber der eigentlichen Bewegung der bewegten Sache – im Metrum eines beliebigen Taktes (metrische Zeit) abzuzählen (Geschwindigkeit).

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Sache und somit der Geschehnischarakter von Wirklichkeit, der unter Titeln wie energeia und entelecheia firmiert, ist hier zentral. Wenn es in diesem Zusammenhang um Zeit geht, dann um die Zeit der Dinge, des Kosmos und des Lebendigen. Oft werden Beispiele sich wiederholender Prozesse zur Erläuterung des Zeitzahlgedankens bei Aristoteles herangezogen: der Wellenschlag am Strand, das Umkreisen der Sterne und des Mondes am Firmament, der Herzschlag. Diese Wiederholungsphänomene legen eine Abzählbarkeit (eigentlich eine Mitzählbarkeit!) nahe und somit ein Zahlverhältnis im nummerischen Sinne. Doch damit geht man dem Problem aus dem Weg, dass Aristoteles die Zahl auch für solche Zeitverhältnisse als bestimmend ansieht, die keineswegs eine abzählbare Frequenz aufweisen, nämlich zum Beispiel das Wachstum, das Ausharren, das Ruhen, das Verblühen und so weiter. Die Zeit als Zahl wäre meinem Verständnis nach beispielsweise auch angesprochen, wenn man an einem See sitzend seine Angel auswirft und ausharrt bis … – um schließlich mit einem Ruck an der Rute zu ziehen. Das Ausharren und der Moment des Ziehens, der dieses Ausharren beendet, seine Grenze darstellt, stehen im hier zu entfaltenden Sinne in einem Zahlverhältnis. Selbst wenn man dabei nicht nummerisch die Sekunden abzählt, so ermisst man doch eine gewisse Zeitgröße im Ausharren bis zum Ziehen an der Rute. Man hat es in solchen Fällen mit einer nicht unterteilten Zeitkontinuität zu tun, also mit einer Größe als Qualität, die nicht extensiv, sondern intensiv durchmessen wird.25 Auch diese in sich nicht unterteilte Größe einer Zeitintensität weist relevante und ‚objektive‘, sachliche Größenunterschiede auf: länger, früher, bereits, mittendrin, zweimal so lange als und so weiter. Man hat es also eher mit einer Mengenzahl der Zeitintensität zu tun als mit einer Anzahl. Jede besondere Zeit ist also ein quantum continuum26 eben nicht im Sinne einer x-beliebig teilbaren Kontinuität27, also nicht als leere Ausdehnung von bloß aneinandergereihten Jetztzeitpunkten, sondern als eine unteilbare zeitliche Ganzheit, die die realen Weltdinge als Vollzugsweisen ausbilden. Die Zahl-Quantität meint zeitlich verstanden eine qualitative Größe und graduelle Intensität. Ein Kind, das beim Zähneputzen mitzählt (mehr großzügig überschlagend als exakt), um sicher zu gehen, dass es nicht zu viel Zeit an diese Tätigkeit vergeudet, misst die Zeit gewissermaßen durch die Zahl und subsumiert dabei das Quantum an Sekunden auf der Uhr, oder der exakten Schrubb-Bewegung im Mund, unter die qualitative Zeitgröße des ‚Schon-viel-zu-lange‘ – und damit behält das 25  Die Zeit als Intensität wurde insbesondere dem Begriff der Dauer zugeordnet, prominent z. B. bei Bergson, Zeit und Freiheit, 70–71. Dauer ist meinem Verständnis nach der Modus der Zeit, der mitgezählt werden kann. Darum plädiere ich insgesamt dafür das Größen­ maß der Zeit als einen Intensitätsgrad aufzufassen. 26 Böhme, Zeit und Zahl, 174. 27 Böhme, Zeit und Zahl, 183.

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Kind hinsichtlich der Zeitintensität auch recht. Alles, was „vergänglich ist und entstehen kann“ ist in der Zeit, nicht weil es sich darin befinden würde wie in einem Raum und im Raum abgezählt werden könnte wie Dinge, die nebeneinanderstehen (Abzählen) oder nebeneinandergelegt werden können (quantitativer Größenvergleich), sondern weil man es in Jahren und Tagen gleicherweise durchmisst wie im Erdulden eines Schmerzes, der seiner Linderung harrt, wie die Wogen am Strand im Verhältnis zum Zerrieseln des Sandes aus der Hand und so weiter. – In der Zeit zu sein, heißt, eine Zeitspanne in Anspruch zu nehmen, die in Bezug zu Anderem ein Größenverhältnis ‚aus-spannt‘, eine ‚Spannungs-Größe‘ annimmt, nämlich eine Dauer, Weile, einen Augenblick und ähnliches. Durch die Zahl gewinnt Zeit eine Objektivität, eine Wirklichkeit an den Weltgegenständen, indem sie deren Ausspannung ‚mitzählt‘ und zwar nicht einer Anzahl nach – sie werden nicht abgezählt –, sondern vielmehr hinsichtlich ihrer Daseins-Modalität (immer-noch, noch-nicht, lange, kurz, jetzt, seit dann und dann, so und so viele Male und so weiter). Mit dieser Zähl-Zeit ist offensichtlich nicht die objektivierte, metrische Zeit gemeint, die wir als Messeinrichtung mit Zahlen beziffern, um Zeit zu quantifizieren. Salopp gesagt: Die Zeitzahl ist durch keine Skalierung angezeigt, sondern sie ist höchstens das, woran die Skala ‚gelehnt‘ wird: das Andauern, Wiederholen und Ausbleiben von Weltgegenständen in ihrem Verhältnis zueinander. Ein solcher Zahlbegriff setzt im Grunde nicht einmal die Kenntnis des Zahlensystems voraus, selbst wenn Aristoteles es auf Zahlziffern abgesehen haben sollte. Auch ein Vorschulkind zählt ja die Momente, die es dauert, bis es die Geschenke unterm Weihnachtsbaum öffnen darf oder die lange Zeit, die es auf seinem Platz im Zugabteil ausharren muss. Solches Zählen mag sich ohne Kenntnis der Zahlenreihe vollziehen und darum auch ohne das Ergebnis einer exakten Zahl bleiben, aber es meint dennoch eine Zahl im Sinne einer intensiven Größe, die den Namen Dauer trägt: Das Kind weiß um einen zifferlosen Zahlwert. Befreit man den Begriff der Zahl von der Verengung auf Skalen und Reihen, wird leicht einsehbar, dass man zählen kann ohne Zahlen und Zahlen kennt ohne Ziffern. Es handelt sich nicht um eine Zahl als Aggregat (Kompositum einzelner Zeitteile), sondern um die Größe einer Kontinuität, die real Seiendes und mit sich Identisches ausprägt, es handelt sich also um die „intensive Quantität“ eines Dauerns oder Währens, die als eine Größe dem „inneren Sinn“ zugänglich ist und sich weder sehen noch abbilden lässt.28 Mit dieser Auslegung kommt man jedoch bei Aristoteles, was Zeit (und Raum) als quanta continua angeht, auch in Verlegenheit, denn er legt der Zeit als Zahlverhältnis eine Einheit zu Grunde, die durchaus als Vielheit gezählt werden kann: „Die Zeit ist Zahl der Bewegung, d. h. sie ist eine Anzahl von zählba28  Vgl.

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 218.

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ren Einheiten, die an der Bewegung gezählt werden“29, fasst Eugen Fink zusammen. Doch diese Einheit meint keine ‚exakte‘, das heißt festgelegte und gleich reproduzierbare Größe und ihre Anzahl nichts eigentlich Abzählbares. Aristoteles bezeichnet sie schlicht als Moment, Jetzt oder Nun. Während man in Unter­ suchungen, die auf einem metrischen Zeitverständnis beruhen, immer versucht ist, selbst das Jetzt, die Gegenwart, den Gedankenblitz und so weiter durch die Zergliederung in immer kleinere Einheiten der Zeitskalierung als ‚Zeitraum‘ zu quantifizieren (so zum Beispiel in dem berühmten Libet-Experiment, das glaubt, Freiheit in sub-temporale Momente zerteilen zu können, um sie dann, fragmentiert in neuronale Splitter, ihrer Unfreiheit zu überführen), meint bei Aristoteles das ‚Jetzt‘ sowohl das Element der Zeit (tempus absolutum) als auch deren Relationsmoment (tempus relativum); das Jetzt ist Grenze einer Zeit im Sinne ihres Anfangs und Endes (eschata), es ist aber auch das Größenmaß der Zeit, in dem sich ihre jeweilige Spannweite ausmisst. Die Zeit „ist das Ganze, das von diesen Jetzten aufgespannt wird.“30 Ein Jetzt als eine Zeitgrenze kann mit dem Jetzt als Zeitzahl/Dauer in Verhältnis treten, zum Beispiel in dem Satz: ‚In dem Moment, als mir wieder der Name einfiel, waren drei Schneeflocken auf meiner Nase gelandet‘. Jedes Jetzt kann – aus der Perspektive der metrischen Zeit formuliert – unterschiedlich ‚lang‘ sein, je nach dem, um welches Jetzt es sich handelt, das Jetzt des Blicks auf die Sternenbahnen oder das Jetzt eines Blitzschlags. Es geht hier eben nicht um eine absolute Zeit, sondern um die Zeit als Dimension, insofern sich etwas verändert, geschieht. Die Dauer (‚Menge‘) einer Zahl von Jetztmomenten macht Aristoteles in erster Linie am Verhältnis von Bewegungen beziehungsweise Veränderung unterschiedlicher Dinge zueinander fest; das Maß liegt im Momentum, in dem durch Bewegung Bestimmten. Man muss sich auch hier vergegenwärtigen, dass Aristoteles bei dem Begriff der Bewegung (kinesis) nicht dasselbe, beziehungsweise sehr viel mehr vorschwebt als den meisten Menschen heute. Bewegung meint, wie oben bereits gesagt, nicht bloß eine Veränderung der Lage im Raum, von der ein Begriff der Zeit im physikalischen Sinne abgeleitet wäre, sondern die Zeit ist vielmehr etwas an der Bewegung, nämlich ihre Relationalität zu anderen Bewegungen in Hinsicht ihrer Momente, ihres Jetzt (früher, länger, später und so weiter). Als Bewegungen versteht Aristoteles explizit auch das Werden einer Sache, das mit den Worten der physis beziehungsweise natura angesprochen wird: das Wirklich-werden oder Verwirklichen, die Entfaltung des Vermögens einer Sache in ihrer Ausbildung oder Vervollkommnung. Bewegung ist ebenso die allgegenwärtige Vernichtung, die Aristoteles sogar als zentrales Moment aller Zeitbewegungen versteht (Physik 222b). Auch das Denken, das Altern, der Zerfall und 29  Eugen Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung, Den Haag 1957, 229. 30 Böhme, Zeit und Zahl, 184.

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selbst die Ruhe, die im Verhältnis zur Bewegtheit ihre eigene Zeit einnimmt, sind zeitlich zu verstehen, insofern man sie als Vollzüge auf Bewegung beziehen kann. Nicht die Bewegung ist die Zeit, sondern die Zeit ist etwas an der Bewegung (Physik 219b), in meinen Worten: sie ist das Dass von Existenz und zeit­ licher Relationalität (schon, noch nicht, niemals, während, seit und so weiter) im Hinblick auf das Jetzt. Ich werde für den Fortgang der Untersuchung den Begriff ‚Dass-des-Jetzt‘ festhalten. Die aristotelische Zeiteinheit im Bezug zur Bewegung hat ihr Idealbild an den Kreisbewegungen des Himmels, die sich zwar mitzählen lassen, aber dennoch nicht abzählbar sind wie Münzen in der Hosentasche. Das Zählen der Zeit anhand ihrer Momente (Jahre, Tage, Wellen, Atem, Herzschlag und so weiter) kann immer nur ein Mitzählen meinen, da man sie nie als Anzahl vor sich hat, sondern stets nur im Jetzt mit ihnen ist. Da die Bewegung das Zahlmoment fundiert, weist es zurück auf den Zeitvollzug als Kontinuität, denn man steht ja selbst als eine zeitliche Kontinuität inmitten der Bewegung – im Falle der Himmelskreise –, oder mindestens ihnen gegenüber in einer Zeitkontinuität des Ausharrens – etwa, wenn Regentropfen ans Fenster trommeln, die man zählt, oder man den Abstand zwischen Blitz und Donner ausmisst (siehe oben zum Begriff der Subjektivität). Trotz aller Unterschiede lässt sich stellenweise Bergsons Zeit und Freiheit als eine Interpretation von Aristoteles verstehen, wenn er zur Abgrenzung von der nummerischen Abzählbarkeit, die eine Simultaneität der Dinge im abstrakten Raumverhältnis voraussetzen würde (also eine Unzeitlichkeit), schreibt: Zählen wir ausdrücklich Einheiten, indem wir sie im Raume aufreihen, so vollzieht sich doch gewiß neben dieser Addition, deren identische Termini sich von einem homogenen Grund abheben, in den Tiefen der Seele eine Organisation dieser Vorstellungen untereinander, ein durch und durch dynamischer Prozeß, der der rein qualitativen Vorstellung ziemlich analog ist, die ein empfindender Amboß von der wachsenden Zahl der Hammerschläge haben würde. In diesem Sinne könnte man beinahe sagen, daß die Zahlen, die alltäglich gebraucht werden, jede ihr emotionales Äquivalent haben.31

Der empfindende Amboss zählt die Bewegung der Hammerschläge als Größe einer Zeitkontinuität mit, die sich im Grad einer intensivierenden Spannungsgröße ‚ausspannt‘. Den Schlägen kommt nicht die Gleichheit eines Nebeneinanderstehens zu, sondern in ihrer Folge wird eine Zeitganzheit durchmessen, die zwar durch Zäsuren aufgespannt ist, aber gerade durch diese hindurch eine kontinuierliche Intensität (im intentionalen Bezug) ausprägt: Der drangsalierte Amboss spürt geradezu den nächsten Schlag mit wachsender Spannung voraus. Bergson wie Husserl verdeutlichen solche Zeitquantitäten am Beispiel einer Melodie, die – wie bei Aristoteles – durch ‚Jetzte‘ (nämlich Töne) geprägt ist, aber nicht in diese geteilt werden kann, ohne vollständig verloren zu sein. Auch wenn 31 Bergson,

Zeit und Freiheit, 93.

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Aristoteles weit davon entfernt ist, die bei Bergson vorherrschende neuzeitliche Subjektivität vorwegzunehmen, so scheint es mir doch kein Zufall, dass in seiner kosmischen T heorie der Zeit die mitzählende Seele Aufnahme findet: Nicht als ob die Seele die Zeit produzierte, – aber sie bringt am Ende doch etwas ausdrücklich zum Vorschein: eben die Anzahl der Jetzte […]; das Früher und Später aber bewirkt die Seele nicht, sie kann es nicht bewirken, denn es liegt je in der Bewegung des Bewegten selbst. Aber sie bewirkt die Heraushebung des Wieviel, die Heraushebung der Zahl in Bezug auf das Früher und Später. Durch das Zählen der Seele ‚entsteht‘ Zeit.32

Hier erweist sich das Zahlmoment der Zeit als eine Zeitspanne im Auszählen von Bewegungen im Augenblick der Seele. Solche ‚Momente‘ im buchstäblichen Sinn, solche seelischen Bewegungs-Jetzte verhalten sich genauso asynchron zu den Dingen der Welt, wie die Zeiten, die sie messen und miteinander in Bezug setzen (Himmels-Umläufe und das Pochen des Pulses zum Beispiel, vgl. Tumult der Zeit). Das Jetzt als Zeiteinheit ist gewissermaßen ein Verhältniseffekt der Begegnung von zählender Seele (oder wenn man will auch von zählenden Dingen) und sich bewegenden Dingen. 1.4. Konstitutive Unverfügbarkeit von Zeitgrenzen im Zeitvollzug Der andere Aspekt dieses Jetzt ist damit aber noch nicht umrissen, nämlich die Grenze. Allein die Unterscheidung dieses Aspekts von dem der Einheit weist deutlich aus, dass Aristoteles kein modernes metrisches Verständnis von Zeit im Sinn hat. Die Konzeption metrischer Zeiteinheiten kennt keine Unterscheidung von Grenz-Jetzt und dem Jetzt der Dauer einer Sache und ist damit auch ohne Sinn gegenüber zeitlichen Anfängen oder Enden (eschata) und somit gegenüber der Besonderheit einer bestimmten Weile. Anfang und Ende gehören im metrischen Verständnis gar nicht der Zeit an, sondern werden nur am Zeitmaß abgelesen und datiert. Es wurde in unterschiedlichen Zusammenhängen darauf hingewiesen, dass eine rein dimensionale Deutung von Zeit zwar den Unterschied von Vorher und Nachher kennt33, aber nicht den von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der ein Zeitsubjekt (im oben genannten, weiten Sinn des Unterworfenseins) voraussetzt, das sich in der Zeit befindet, insofern es diese Zeit selbst vollzieht. Anfang und Ende eines solchen ‚Zeitraums‘ oder ‚Zeitdings‘ sind in eindrücklicher Weise unendlich unexakt gegenüber einer quantitativen Bestimmung, denn sie sind zwar für die Dinge in der Zeit konstitutiv, aber nicht verfügbar; man findet sie nie vor, da man stets nur sich selbst und zwar innerhalb der Grenzen von Anfang und Ende antrifft. Das gilt auch dann, wenn man die Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung, 231. Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin/Boston 2011, 129. Siehe dazu auch Dieter Henrich, „Zeit und Gott. Anmerkungen und Anfragen zur Chronotheologie“, in: Emil Angehrn et al. (Hg.), Der Sinn der Zeit, Weilerswist 2002, 15–39. 32 Fink, 33 

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Anfänge und Enden einer anderen Zeit beobachtet, die man gar nicht selbst ist, denn auch dann vollzieht man diese andere Zeit mit als eine eigene Zeitspanne und Weile, deren Grenzen eben nicht vorliegen, sondern einem bestenfalls ‚geschehen‘ können. Man kann Zeit im Grunde nur durch zeitliche Mitleidenschaft erfahren, was eine unbetroffene temporale Beobachterposition schlichtweg ausschließt. Den Lebenspannen und besonderen Zeitvollzügen, etwa dem Sitzen in der Sonne, ist somit eine eigentümliche Grenz-Unverfügbarkeit ihrer Anfänge und Enden wesentlich. Zeitliche Grenzen, mit denen man durchaus konfrontiert ist, die uns also mehr geschehen, als dass wir in ihnen geschehen würden, sind Ereignisse, die Zäsuren darstellen und ein Zuvor und Danach unterscheiden (so kann man dann auch Anfänge und Enden als Ereignisse erleben, zum Beispiel bei der Geburt oder dem Tod eines Familienangehörigen). Doch auch solche Zäsur-Ereignisse manifestieren sich ausschließlich im Verhältnis zu Zeitvollzügen oder Perioden, die sie unterbrechen. In der Vorstellung eines rein homogen ablaufenden Zeitflusses gleichförmiger Zeitpunkte wären im Grunde gar keine Ereignisse denkbar, denn nichts fände sich darin, zu dem sie eine Zäsur darstellen könnten. Gäbe es nur gleichförmig aneinandergereihte Zeitpunkte, wären diese gegenüber der fundamentalen Komplementarität von Unterbrechung und Kontinuität völlig indifferent. Diese Taubheit gegenüber der qualitativen Besonderheit von Zeitvollzügen müsste auch das Erklingen jeglichen Ereignisses unterbinden. Zäsur-Ereignisse manifestieren sich somit nur im Verhältnis zu Zeitvollzügen/Perioden, die sich wiederum auf unverfügbare Zeitgrenzen im Sinne von Anfang und Ende beziehen. Die Ganzheit eines Zeitvollzugs inklusive ihres Anfangs und ihres Endes lässt sich im Grunde nur durch eine narrative Refiguration (dazu später mehr) in den Blick nehmen, da eine besondere Zeit nicht in Form einer abgeschlossenen Ganzheit aufgefasst werden kann, ohne dabei die Gegenwärtigkeit ihres Vollzugs einzubüßen. Bezieht man sich aber auf besondere Zeitvollzüge im Hinblick auf ihre Identität, also auf ihr Fortdauern, das über den Gegenwartsvollzug hinausreicht, dann kommt man nicht umhin, diese Identität in einer Zeiterzählung – gewissermaßen eine zweite Dimension der Zeit – zu figurieren, um mit dieser Figuration einen Grundton anzustimmen, der das Geschehen durchstimmt und erschließt. Diese Ganzheit ist selbst ein Vollzugsmoment der Zeit, allerdings nicht im Sinne einer vorliegenden Gestalt, sondern vielmehr in der Art einer identifizierenden Harmonie (oder eben eines Grundtons), die alle Zeit-Momente durch eine Art durchtönender (Selbst-)Erzählung in Bezug setzt und sich so fortlaufend narrativ identifiziert. Die Zeit als Grenze meint dann ein Ereignis im Rahmen einer solchen Zeiterzählung. Interessanterweise nimmt die Infinitesimalrechnung auf den Umstand der Grenze Bezug in Art einer Bestimmung des Punktes durch die Bewegung (nicht wie zuvor in der Bestimmung der Bewegung durch die Punkte). Hier ragt Zeit als Geheimnis in die Mathematik und löst als dieses Geheimnis Rätsel. Sie be-

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zieht gewissermaßen Zeit als Aporie methodisch ein.34 Mit dieser methodischen Umkehrung der Idee exakter Bestimmung in der unendlichen Unexaktheit einer Annäherung wird der fragwürdige Gegenstand nicht verortet, sondern ein offener Prozess als Aufgabe angegeben. So wird gewissermaßen die zeitliche Dimension als Aporie der Größe auf die Quantität angewandt. Die Idee der unendlichen rechnerischen Annäherung an einen Punkt versetzt als Prozess alles in ein zeit­ liches Verhältnis zu diesem Punkt. Dass die für diese Operation konstitutive Zeit dabei in der Regel nicht in Betracht gezogen wird und als bloße Prozess-Formel selbst statisch daherkommt, ist bedauerlich, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Idee von Grenzpunkten (Anfang und Ende) aufgrund ihrer prinzipiellen Unantreffbarkeit Prozesse oder ‚Projekte‘ der Annäherung oder Entfernung hervorrufen und somit die zeitliche Dimension selbst. Damit ist man auch auf die heikle Frage nach Kalendern35 verwiesen, in die Beginn und Ende einer bestimmten Zeitspanne eingetragen werden und die somit der konstitutiven Unverfügbarkeit Abhilfe zu schaffen versuchen. Kalender, die zum Eintrag solcher Zeitgrenzen taugen, haben mit der metrischen Zeit weniger zu tun als man zuerst annehmen würde. Sie verknüpfen grundsätzlich zwei durchaus widerstrebende Zeitmanifestationen, nämlich einerseits die Zyklizität des Jetzt (Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre in einem immer wiederkehrenden Rhythmus) und andererseits die unwiederholbare Einmaligkeit von Grenzmomenten (die einen Unterschied von Zuvor-Danach als Ereignisse einer [Natur-]Geschichte etablieren36). Bedenkt man, dass im Neolithikum und den frühen ‚Hochkulturen‘ Kalendern eine derart zentrale Bedeutung zukam, dass sie die Form ungeheurer steinerner Monumente annahmen (Stonehenge, ägyptischen Pyramiden, Maya-Kultstätten und so weiter), mit denen das Geschehen der Welt zeitlich angezeigt war, dann ist die Unscheinbarkeit, mit der Kalender uns heute durch öde Einträge beherrschen, frappierend. Dennoch wohnt Kalendern nach wie vor eine gespenstische Macht inne, durch die das Prinzip der Buchhaltung unseren Alltag regiert. Diese magische Ordnung der Listen und Tabellen, durch die wir regelmäßig in Schrecken versetzt und zu einer Ordnung gerufen werden, die wir wohl erstellt aber nicht geschaffen haben, beruht meines Erachtens wesentlich auf dem Vermögen, den Widerspruch von Zyklus und Einmaligkeit in Bezug zu setzen. Einerseits wird im Bezug zu einmaligen Ereignissen die Zyklizität aufgesprengt und öffnet diese damit erst gegen34  Dass die miteinander konkurrierenden Väter der Infinitesimalrechnung, Newton und Leibniz, beide Zeitmodelle entwickelten, die diese Aporie zu fassen im Stande sein sollen, und darüber in heftige Auseinandersetzungen gerieten, verrät auch viel über ihre Auffassung des Begriffs der Grenze. Gottfried Wilhelm Leibniz/Samuel Clarke, Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, übers. v. Volkmar Schüller, Berlin 1991. 35  Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung 3. Die erzählte Zeit, 166–173. 36  Vgl. Niklas Luhmann, „Anfang und Ende. Probleme einer Unterscheidung“, in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hg.), Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt am Main 1990, 11–23.

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über der unbefleckten Unbestimmtheit von Zukunft – immer könnte sich etwas ereignen, dessen Datum eingetragen werden muss, um der Zeit einen Anhaltspunkt zu geben: Zyklische Zeit wird in der Konfrontation mit dem Einmaligen verzeitigt. Andererseits könnten die Ereignisse als Grenzpunkte die Unterscheidung von Zuvor und Danach gar nicht etablieren, wären sie nicht eingebunden in den Reigen kalendarischer Umläufe, vor deren Hintergrund sie sich erst abzeichnen und ansprechbar werden. Man kann sagen: Ohne Grenzpunkte blieben die Kalenderzyklen ohne Zeit, ohne die Zeitzyklen alle Ereignisse unbemerkt. Man ist zwar aus praktischen Gründen stets bemüht, die Disparität von kalendarischer Zeit und metrischer Zeit auszugleichen (also die Zeitfrequenz der Atomuhr in Einklang mit den Tagen, Monaten und Jahren zu bringen), doch dieser Ausgleich geht doch nie ganz auf. Das Nicht-ganz-Aufgehen, das alle uns bekannten Kalender seit jeher bestimmte, scheint mir nicht deren immerwährendes Manko zu sein, sondern ihr eigentliches repräsentatives Kraftzentrum, durch das sie Ereignis und Zyklus aufeinander beziehen und damit das Wunder des Geschehens in einem zeitlichen Repräsentationssystem sakralisieren. Ginge es um die Tilgung der temporalen Kluft in einem lückenlosen System der Verbindung von Zeitfrequenz (metrische Zeit), Zeitzyklus und Ereignis, dann fänden die für Zeit konstitutive Asynchronizität und Polytemporalität keine Spur mehr in der Zeiterfassung. In der nichtaufgehenden Zeitkluft der Kalender nistet sich nun aber die Zeit als Tumult ein und wird als Ereignis ansprechbar. 1.5. Ausspannen der Seele in der Zeit. Aporien der Zeit 2: Ständige Ewigkeit Das Verständnis von Zeit im Rahmen der Raumzeitlichkeit verliert die Zeit zugunsten des Raums aus dem Blick, solange es auf eine Bewegungsveränderung im Raum fokussiert ist. Auch das Motiv der Beschleunigung37 hat nur mittelbar etwas mit Zeit zu schaffen, denn es ist nicht der Zeit anzulasten, dass wir in eine klaustrophobische Zeitbeklemmung gepfercht zu sein scheinen, die wir Gegenwart nennen und die uns durch die Finger rinnt, während wir versuchen, sie durch haltloses Tätigsein zu ‚nutzen‘ und festzuhalten. Zeit geht weder im Bild der ohnmächtigen Fahrt des temporalen Raumkreuzers Erde auf, noch in dem einer peitschenden Gegenwart, die uns zum Tode hin voranhetzt. Folgt man den vorangegangenen Überlegungen, dann gleicht sie vielmehr der Polyphonie des Vogelgesangs an einem frühen Morgen: Ein tumultartiges Zusammenstimmen und Disharmonieren von Zeiten, die sich in den Existenzvollzügen zum Laut verhelfen. Die Zeit bildet gewissermaßen einen lärmenden und wimmelnden Chiasmus, eine Verschränkung aus ‚objektiven‘ Weltverhältnissen und Exis37  Vgl. z. B. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2012.

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tenzvollzügen, die sich gegenseitig auf sich in eine Gleichzeitigkeit der Subjektivität zurückwerfen. Um es zu rekapitulieren: Mit Aristoteles erscheint die Zeit als etwas an der Bewegung, durchaus aber nicht als solche Bewegung selbst.38 Für ihn ist Zeit eine die Welt bestimmende Größe – und als Verhältnis oder Maß trotz ihrer ‚Allgegenwärtigkeit‘ ein sinnliches Abstraktum. „Denn eben das ist Zeit: Die Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ und ‚danach‘.“39 Diese Zahl habe ich als ein qualitatives Quantum verstanden, durch das sich alle Dinge wechselseitig zeitlich unterwerfen (subjektivieren), sich mitzählend in Verhältnis zu anderem Zeitlichen setzen und so eine gemeinsame Zeit des Geschehens ausbilden, in der sie sich zugleich wiederfinden. Nicht der Umlauf der Gestirne ist also beispielsweise die Zeit, vielmehr erweist sich Zeit an ihnen als die Mess- beziehungsweise Zählbarkeit ihrer Bewegung durch das In-ein Verhältnis-gesetzt-Sein zu anderem Zeitlichen.40 So bildet sich im Verhältnis der zeitlichen Vollzüge von Dingen und Lebewesen zueinander ein Zeitgeschehen aus, das diese Vollzüge gewissermaßen erst fasst und fundiert. Die Dimensionalität der Zeit konkretisiert sich als das Geschehen selbst, das in der wechselseitigen zeitlichen Unterwerfung (Subjektivierung) eine Objektivität ausprägt, die man auch als Weltzeit verstehen könnte. Dem aristotelischen Begriff der Zeit wird klassischerweise die Zeitauffassung Augustins entgegengestellt. Paul Ricoeur spitzt die Opposition von Aristoteles und Augustinus gar zu einer Unversöhnlichkeit ihrer Zeitbegriffe zu.41 Mit der Unterscheidung einer psychologischen Zeit, die Ricoeur als „phänomenologische Sicht auf die Zeit“42 behandelt, und der kosmologischen Zeit ist die üblicherweise leitende Zweiteilung von subjektiv-innerer und objektiv-äußerer Zeit angesprochen. Als kosmologisch lässt sich die Auffassung von Aristoteles insofern bezeichnen, als Zeit dort ein Maß von Welt meint, eine Weltdimension der Zählbarkeit von weltlichen Dingen hinsichtlich der Veränderung. In diesem Sinne befinden wir uns in der Zeit, da wir in der Verhältnishaftigkeit der Bewegung des kosmischen Gefüges stehen, uns inmitten des Geschehens von Welt wiederfinden. Dennoch halte ich eine schroffe Gegenüberstellung der Zeit der 38 

Vgl. Aristoteles, Physik, 218b9–219a10.

39 Aristoteles, Physik, 219b. Hier tritt ein besonderes Zeitverhältnis an den Tag, das sich

durchaus von der Dimensionalität Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft unterscheidet. Dieser Unterschied wird durch die Unterscheidung von zeitlichen A- und B-Reihen kenntlich gemacht. Siehe dazu: Emil Angehrn, Sein Leben schreiben: Wege der Erinnerung (Klostermann Rote Reihe 94), Frankfurt am Main 2017, 32–38. 40  Vgl. Aristoteles, Physik, 223b. 41  „Die Aporie besteht genauer darin, daß die Psychologie zwar rechtmäßig zur Kosmologie hinzutritt, sie aber nicht verdrängen kann, denn keine von beiden hat für sich allein eine zufriedenstellende Lösung für ihren untragbaren Dissens anzubieten.“ Ricoeur, Zeit und Erzählung 3. Die erzählte Zeit, 16. 42  Vgl. Ricoeur, Zeit und Erzählung 3. Die erzählte Zeit, 9.

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Seele und der Zeit der Welt für weniger angemessen, als es zuerst den Anschein nimmt, denn auch bei Aristoteles bedarf es der mitzählenden Seele, der Zeitsubjekte, damit sich die kosmische Weltzeit als ein Verhältnisgeschehen ausprägen kann. Mit diesem Hinweis beabsichtige ich keine ‚Bastardisierung‘ des kosmischen Konzepts durch Motive neuzeitlicher Subjektivität, sondern versuche vielmehr den Zeitbegriff von Aristoteles von einem neuzeitlichen Begriff der Objektivität als metrisches Datum freizuhalten. Wenn man der hier vorgeschlagene Lesart folgt, welche die Objektivität der Weltzeit durch eine wechselseitige dingliche Subjektivierung vermittelt sieht, dann löst sich der schroffe Gegensatz zu Augustinus auf, oder schwächt sich wenigsten ab. Ich lese im Folgenden Augustinus nicht als den T heoretiker, der gegenüber Aristoteles einen radikal anderen Zeitbegriff aufwirft, sondern als Ideen­ schmied einer komplementären Zeittheorie43. Zugespitzt könnte man sagen: Wo bei Aristoteles Zeit im Mitzählen weltlicher Verhältnisse thematisch wird, da bei Augustinus im Ausmessen der Seele. Beides weist jedoch im Grunde aufeinander zurück im Geschehnischarakter der Zeit, denn wie sollte man die Dinge der Welt zeitlich mitzählen, ohne sie am Ausspannen der Seele zu messen, und wie sollte sich die Seele zeitlich ausspannen, wenn sie nicht etwas vorfände, zu dem sie „tendieren“ (der Sinn dieses Ausdrucks wird im Folgenden klar) könnte. Das gesamte elfte Buch der Bekenntnisse des Augustinus entwickelt einen Begriff der Zeit anhand von Aporien. Erste Aporie: Das elfte Buch hebt an mit der Frage nach der Ewigkeit (Gottes), aus der ein Anfang der Zeiten einzig zu denken sei, der aber selbst unzeitlich sein müsse. So wird mit der Zeit zugleich eine Sphäre der Außerzeitlichkeit ins Auge gefasst, die in „Erhabenheit stets gegenwärtiger Ewigkeit“ (celsi­tudine semper praesentiis aeternitatis)44 der Vergangenheit vorausgeht und über aller Zukunft ist. Es handelt sich hierbei nicht einfach um eine überzeitliche Geltung von Ideen oder Wahrheiten, nicht um die Unzeitlichkeit des logisch Notwendigen, sondern um ein Zeit-Komplement, das gerade im Bezug zur Zeit beweist, dass es als etwas Außerzeitliches angenommen werden muss. Dieser Gedanke lässt sich engführen mit dem bereits geschilderten Umstand, dass man dem Zeitlichen nur vor der Zeit als dimensionalem Hintergrund gewahr werden kann. Erst aus dem Wechselspiel von Dimension und Ereignis eröffnet sich die temporale Relationalität. Und analog ruft die Zeit Ewigkeit als ihren Grund gewissermaßen als einen Paralogismus der transzendentalen Anschauung auf. Damit wird Ewigkeit keineswegs depotenziert, sondern ist als Geschehnis-­Horizont durch die reflektierte Zeiterfahrung real evoziert. Zeit ist 43 

Von einem philologischen Standpunkt aus müsste man wohl eher Platon zum komplementären Autor ernennen. 44  Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch, übers. v. Joseph Bernhart, Frankfurt am Main 2004, XI, 626–627.

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nicht denkbar ohne Außerzeitlichkeit (wenigstens als Effekt des Zeitbegriffs, siehe dazu „Es-gibt und Es-gilt-als“). Dieser Begriff der Ewigkeit unterscheidet sich gegenüber einer Unendlichkeit der Folge oder einem reinen Nichts und ist als das fundierende Andere der Zeit von dieser zwar zu unterscheiden, gehört ihr aber doch auch wesentlich zu. Gegenüber Augustins Ausgangsthese: keine Zeit ohne Ewigkeit, lässt sich so auch (sicherlich gegen seine Absicht) die Umkehrung geltend machen: keine Ewigkeit ohne Zeit. In diesem Sinne ist die aeternitas nicht atemporal (also nicht verbindungslos und gleichgültig gegenüber der Zeit), sondern eine Art zeitliche Resonanztiefe, die Zeit anstimmt. Die Ewigkeit ist, paradox formuliert, das zentrale Relatum aller zeitlichen Relationen, ohne relativ zu sein. Diese Sphäre der Außerzeitlichkeit, die in ‚gegenwärtiger Ewigkeit‘ jenseits der Zeitdimensionen aufscheint, erweist sich für Augustinus als der Grund, von dem her Zeit überhaupt nur zu begreifen ist. Diese Überlegung ist nicht abwegig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass man beinahe zwangsläufig auf ‚Nichts‘ stößt (mit allen problematischen Facetten dieses Begriffs), wenn man versucht Zeit zu fassen. Zu der Paradoxalität der Zeit gehört, dass sie als Geschehen immer relational auftritt, selbst wenn man sie als den Hintergrund der Relationalität anspricht (als Synästhesie). Der Hintergrund, der diese Zeiten bestimmt und mit der Zeit als deren Hintergrund aufgerufen ist, stellt eine Struktur dar, die zwar selbst nicht zeitlich ist, aber doch die zeitliche Relation eröffnet. Häretisch gewendet: Ewigkeit ist Bezug zur Zeit und ohne diesen Bezug wäre Ewigkeit Nichts. Ewigkeit gewährt einen Ereignis-Hintergrund, durch den Zeitliches adressierbar wird; Zeit ruft somit aber auch Ewigkeit auf, sobald sie angesprochen wird. Ewigkeit ist Absolutheit der Relativität von Zeit (in den Kapiteln zu Augenblick, Kairos und Ereignis wird dann die relative Absolutheit zu einem zentralen Motiv, um die Berührung von Zeit und Ewigkeit zu interpretieren). Das führt zur zweiten Aporie: Vergangenheit ist Zeit nur als Nicht-mehr, Zukunft nur als Noch-Nicht und die Gegenwart, der zugeschrieben werden müsste, dass sie tatsächlich ist, ist zeitlich nur im ständigen Vergehen und lässt sich nicht feststellen; Gegenwart kippt ständig ins Nichts, ja sie ist immer schon gekippt, vernichtet, wo man sie zu fassen sucht. „Rechtens also nennen wir sie Zeit nur deshalb, weil sie dem Nichtsein zuflieht“ (vere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse)45. Wo Zeit nicht als das Maß des Davor und Danach von Dingen im Verhältnis zueinander bestimmt wird, sondern versucht wird, Zeit so zu begreifen, wie sie selbst erscheint, da erweist sie sich als nicht greifbar. Zeit tendiert immerzu zum Nichtsein beim Versuch, den eigenen Zeitbezug, das Zeiterleben dingfest zu machen, auch wenn sie sich als stabile Bestimmung an den Weltgegenständen abzeichnen sollte. Das Tendieren, tendere, ist das zentrale Zeitwort bei Augustinus: 45 Augustinus,

Bekenntnisse, XI, 628–629.

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I. Allotria zur Zeittheorie

Zeit spannt sich auf, bezieht sich, intendiert und ent-spannt. Dass Zeit auch Vergehen ist und dem Tod zueilt, insofern sie Endlichkeiten vollzieht, zeigt sich an der Tendenz zum Nichts, mit dem uns die Unfeststellbarkeit allen Geschehens konfrontiert (ähnlich bei Aristoteles). Man bewegt sich nicht einfach auf ein ausstehendes Ende in der Zeit zu – es geht also nicht um eine mehr oder weniger kurz bemessene Strecke –, sondern die Gegenwart selbst löst sich beharrlich in Nichtsein auf, zerrinnt und überantwortet sich dem Nichts. Nur die Beharrlichkeit des „Verendens“ kann dieser allgegenwärtigen Vernichtung trotzen und eine Identität in der Zeit begründen.46 Solches Beharren steht der Gegenwart jedoch nicht als feste Form gegenüber, sondern muss zeitlich verstanden selbst als ein Geschehen aufgefasst werden, das dem Nichts Stand hält, indem es sich aktualisiert, indem es die kollabierende Gegenwart unaufhörlich wieder gewinnt. Als solch ständiger Gewinn der Gegenwart in der Aktualisierung des Zeitidentischen, als das wundersame Dasein im Jetzt, eignet der Zeit ebenso die Tendenz vom Nichts zum Seienden wie vom Seienden zum Nichts. Zeit tendiert ständig auch zu einem Anfang (siehe unten, creatio continua) und löst sich unaufhörlich ein, gerade weil die Gegenwart ständig vergeht, denn angesichts des Vergehens wird sie auch stets neu sein. Bei Augustinus verweist das Nichts der Zeit, dieser zeitliche Abgrund, beziehungsweise die sich ständig aktualisierende Schwelle, auch aus diesem Grund auf die ‚gegenwärtige Ewigkeit‘ Gottes. Gott ist gewissermaßen eine trotzige Zeit­ein­lö­sung, die durch die Zeit gegenüber der Zeit gelebt wird, insofern sich die Vergegenwärtigung ständig vor dem Nichts einlöst. Erst in der Nicht-Zeit der Ewigkeit, die dem Nichts gegenübertritt, findet zeit­ liches Sein in den Augen Augustins einen Grund und wendet das ständige Verschwinden in eine Kontinuität des Zeitverlaufs.47 So ereignet sich alles Zeitliche jeweils aus und in der „stehenden Ewigkeit“ (semper stantis aeternitatis)48 und das heißt auch, dass die Ewigkeit als ‚Ständigkeit‘ der Zeit begriffen werden kann. Jeder Moment (Ständigkeit/stantis) speist sich als zeitlicher aus dieser Außer­ zeitlichkeit im Geschehnis einer creatio continua. Das Tendieren ins Nichts und das Auftauchen aus dem Nichts sind genuine Vollzugsformen der Zeit als Geschehen. Dieses Tendieren ist abgrundhaft und schwellengebunden und doch 46  Kant erklärt gerade das Beharrlichsein zu dem, was Zeit in der Erfahrung (empirischen Vorstellung der Zeit) ausmacht. „Nur in dem Beharrlichen sind also Zeitverhältnisse möglich (denn Simultaneität und Sukzession sind die einzigen Verhältnisse in der Zeit), d. i. das Beharrliche ist das Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst, an welchem alle Zeitbestimmungen allein möglich ist.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 226. Siehe dazu Kapitel 1. 47  „Gleichwohl ist es nicht illegitim, das menschliche Gegenwartsbewusstsein – das endliche wie das unendliche – in Analogie zum göttlichen zu setzen, da es die koinzidentielle Ewigkeit auffaltet zur sukzessiven ausgedehnten Gegenwart, nämlich der Gegenwart des Zeitflusses.“ Gloy, Philosophiegeschichte der Zeit, 116. 48 Augustinus, Bekenntnisse, XI, 622–623.

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zugleich ausgespannt, das heißt, es hat eine Bezugsweite und das Vermögen zu Beharrlichkeit, Folge und dem Zugleichsein.49 Mit dieser Kontinuität der Zeit als einer „allzeiterneuerten Welt“50 und Schöpfung aus dem Ewigen inmitten des Nichts, ist das quantum continuum des aristotelischen Zahlbegriffs, also das unteilbare Einssein einer zeitlichen Größe als Intensität, konsequent als Dynamik des Geschehens gedeutet und geht so mit diesem zusammen. Der Tumult der Zeit, von dem ich oben sprach, bricht mit dem Nichts und der Ewigkeit durch seinen Geschehnischarakter und etabliert sie dabei zugleich. Zeit ist auch darum tumultartig, weil sie stets einbricht und gegenüber Nichts und Ewigkeit die auszeichnende Kontingenz von Selbst und Welt eröffnet. Augustinus untersucht im Weiteren, wie man die Zeit als Länge wahrnehmen kann und sie zu messen vermag, wo Gegenwart doch stets fortgerissen wird. Auch hier ruft die Beschäftigung mit der Zeit durchgehend Aporien auf. Festzuhalten ist, dass gerade die Frage nach dem Maß der Zeit, das für Aristoteles den ‚objektiv‘-kosmologischen Bestimmungsgrund der Zeit abgegeben hatte, hier explizit als eine Frage aus ‚subjektiver‘ Perspektive formuliert wird, also weniger die zeitlichen Dinge durch die zählende Seele berührt werden, sondern vielmehr die Seele sich selbst auszählt. Wo für die Zeit im Allgemeinen bei Augustinus konstatiert werden muss, dass sie eine kollabierende Bewegung (ein Tendieren zum Nichts) darstellt und der Grund des zeitlich Auftretenden in der Außer-Zeit Gottes zu suchen ist, da wird die Frage nach dem Maß (im Sinne der Dauer) zu einer abgeleiteten, durch das menschliche Erleben vermittelten. Das objektive Zeitmaß ist hier von vorneherein als subjektive Zumessung bestimmt. Das Problem besteht insbesondere darin, dass Vergangenheit und Zukunft eigentlich nur als „Erinnerung“ (memoria) und „Erwartung“ (expectatio) im jeweiligen Augenblick (contuitus) aufkommen und so für Augustinus besser von einer „Gegenwart von Vergangenem, […] Gegenwart von Gegenwärtigem [und] Gegenwart von Künftigem“51 gesprochen werden müsste. Gegenwart selbst wird aber nur im Übergehen zum Nicht-mehr-sein des Vergangenen fassbar – und ist darum durch ein unvermeidliches Zuspätsein des Bewusstseins in der Reflexion 49  Hermann Schmitz versucht die Aporie im Zeitdenken Augustins durch eine klare Unterscheidung von (reiner) Modalzeit, Lagezeit und Dauer aufzulösen. Vgl. Hermann Schmitz, „Leibliche Quellen der Zeiterfahrung und das Augustinische Problem“, in: Schmitz, Subjektivität – Beiträge zur Phänomenologie und Logik, Bonn 1968, 69–82. So sehr ich den Überlegungen im Einzelnen beipflichten kann, so scheint mir diese Trennung doch etwas künstlich gegenüber der aporetischen Erfahrungsrealität der Zeit, die eben keine Unterscheidung von Modal-, Lagezeit und Dauer vornimmt. Die paradoxe Auffassung der Zeit als einer zugleich kollabierenden wie auch „ständigen“, bloß augenblicklichen und sich doch ausbreitenden Dimension des Daseins scheint mir bei Augustinus durchaus schlüssig auf den Begriff gebracht. 50  Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 100. 51 Augustinus, Bekenntnisse, XI, 640–643.

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I. Allotria zur Zeittheorie

geprägt. Bergson hat das analog in dem schönen Satz zum Ausdruck gebracht: „Wir nehmen praktisch nur die Vergangenheit wahr, denn die reine Gegenwart ist das ungreifbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt.“52 Eine Ausdehnung, die eine Dauer, Länge oder Kürze der Zeit zum Messgegenstand werden ließe, wird aufgrund des ständigen Tendierens der Gegenwart zum Nichts konterkariert (dritte Aporie). Wenn hier nach der Ausdehnung der Zeit gefragt wird, die das Messen (metiri) der Zeit erst ermöglichen soll, dann ist eine räumliche Konnotation des Ausdrucks im Originaltext gegeben. Augustinus spricht von spatia temporum53. Davon sollte man sich aber nicht fehlleiten lassen. Dieser Charakter des Sich-Erstreckens oder Klaffens (spatium) unterscheidet sich von der räumlichen Spanne, die einem Körper zugemessen wird. Eine Raumstrecke, die mit der Zeit in Relation gesetzt wird, bringt nicht die Dauer einer Sache zum Vorschein, sondern bestenfalls deren Geschwindigkeit54, also gerade nicht die zeitliche Ausdehnung.55 Die Zeitspanne, von der hier die Rede ist, zeigt sich vielmehr als etwas „in meinem Gedächtnis, was dort als Eindruck haftet“ („in memoria mea metior quod infixum manet“)56. Die Dauer (distentio) der Zeit vollzieht sich als ein die Gegenwart konstituierender Erinnerungsbezug.57 Wenn wir beispielsweise eine Gesprächsdauer messen wollen, „spannen wir da nicht unseren Gedanken auf das Zeitmaß der Stimme [nonne cogitationem tendimus ad mensuram vocis], als ob sie noch klänge, und legen es an die Stille der Pausen an, um ein Urteil über Dauer zu gewinnen?“58 Die Ausdehnung der Zeit meint ein Aus-Spannen (von tendere = spannen, strecken, zielen) des Geistes im Augenblick (vierte Aporie) und ist damit dem Mitzählen bei Aristoteles nicht unähnlich, obgleich hier die Dinge als Erinnerungen in die Seele versetzt wurden. Sowohl das Erinnern als auch das Erwarten, Vergangenheit und Zukunft, werden als solches Sich-Ausspannen der Seele erst zu Wirklichkeiten des Geistes. Im Begriff der distentio animi wird der ‚stehenden Ewigkeit‘ durch ein nicht-räumliches Ausspannen der Seele entsprochen, die inmitten der sich ständig vollziehenden Tendenz zum Nichts eine Zeitkluft der Erinnerung und Antizipation einlässt und damit Zeitweite (spatium) im Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 2015, 190. 53 Augustinus, Bekenntnisse, XI, 644. 54  Geschwindigkeit ist ein komparativer Begriff, stets eine Geschwindigkeit im Vergleich zu anderen Bewegungen bzw. im Verhältnis zum durchquerten Raum. Die Dauer der Sache selbst bleibt davon aber unberührt. 55 Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, XI, 652–653. Hierin macht Ricoeur zurecht einen zentralen Unterschied zu (und vielleicht das zentrale Missverständnis gegenüber) Aristoteles aus, der die Zeit als etwas an der Bewegung bestimmt. Vgl. Ricoeur, Zeit und Erzählung 3. Die erzählte Zeit, 17. 56 Augustinus, Bekenntnisse, XI, 660–661. 57 Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, XI, 654–655. 58 Augustinus, Bekenntnisse, XI, 660–661. 52 

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Augenblick gewinnt.59 Der Augenblick lässt sich somit als Element der Zeit ansprechen, an dem und durch das sich der ständige Abbruch und Einbruch des Geschehens als eine Spannweite vollzieht (siehe Kapitel 3.1.). Diese distentio animi gibt der sich unaufhörlich aus der Ewigkeit speisenden creatio continua der Zeit gewissermaßen Form. Der Umstand, dass in der Zeit die Gegenwart stets zu kollabieren scheint, wird durch das erinnernde und antizipierende Tendieren des Geistes aufgefangen und in ein kontinuierliches Schöpfungsgeschehen umgewandelt. Die Gegenwart wird nicht mehr als etwas begriffen, das auf das Nichtsein hin zueilt und stets verschwindet, sondern als die Beziehung, die sich von der Ewigkeit her im und als Augenblick wundersam und einzigartig entfaltet.60 Die Gefahr, dem Nichts anheimzufallen, wird gerade in der ‚Ständigkeit‘ des Endlichen in eine Kontinuität verwandelt, die im Augenblick mit der Zeit auch eine Weite der Identität gewinnt und sich dieser ‚ständig‘ durch Erinnern und Antizipieren versichert. Außerzeitliches und scheinbar Unvergängliches, wie etwa logische Sätze, Ideen oder Gesetze, sind aus dieser Perspektive dagegen tatsächlich hart von der Tendenz zum Nichts betroffen, denn das, was sich nicht zeitlich vollzieht, ist auch nicht, solange es nicht durch einen Akt denkender oder handelnder Verzeitigung aktualisiert wird: Götter und Weltgesetzt wohnen im Nichts und fallen in es zurück, solange man sie nicht vergegenwärtigt. Wirklichkeit kommt in diesem Sinne nur dem ‚ständigen‘ Zeitvollzug zu. Alles, was Zeit vollzieht, gewinnt sich jedoch in jedem seiner Momente als eine Kontinuität und erlebt diese als Ereignis. Erlebte Zeit ist eine lebendige Zeit, die sich wundersam stets neu schöpft. Die distentio animi meint damit eine Ausspannung des Lebens in der Einzigartigkeit der Seele, die sich darin selbst fasst – eine creatio continua des Selbstverhältnisses. Sie vergeht nicht in der Zeit, sondern lebt in ihr auf. Wird man sich dieser fortwährenden Einzigartigkeit der erlebten Zeit bewusst, dann zeigt sich auch alles Dingliche und Weltliche als genuin Wundersames – gleichgültig ob es gewöhnlich, schrecklich oder glückspendend sein sollte. 1.6. Objektive Zeit als objektivierte: Die Zeit als Konstrukt Die Unterscheidung von subjektiv empfundener Zeit und objektiver ‚Weltzeit‘ wird aus der Perspektive des bisher Gesagten immer fragwürdiger. Dem durch naturwissenschaftliche Konzepte geprägten Alltagsverständnis legt sich die Vermutung nahe, dass sich Zeit ‚objektiv‘ als das Verhältnis beziehungsweise Maß von Veränderungen im Raum zeigt; Zeit stellt sich so wesentlich als eine AbDieses Motiv schlägt den Bogen zu der Interpretation von Bergsons Materie und Gedächtnis in Kapitel 2.4. 60  Diese Motive habe ich ausführlich im dritten Hauptkapitel (1.3.) dieses Teils behandelt. 59 

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folge von Ereignissen dar. Damit sind aber bereits zwei konfligierende Begriffe im Spiel: einerseits die Dynamik der Abfolge selbst (Zeit als Prozess) und andererseits der zeitliche Hintergrund, der erst eine Folge als diese Folge ansprechbar werden lässt (Zeit als Form/Dimension). Eine Folge in diesem metrischen Sinn setzt im Hintergrund eine Art unbewegte Zeitspanne voraus, die das Ereignismaß und die Ereignisdifferenz ihrer Ereignisglieder erst ins Verhältnis bringt. Hierin liegt eine Paradoxalität, die für das Verständnis von objektiver Zeit bestimmend ist. Würde man Zeit nur als eine Dynamik der Folge betrachten (ohne eine ‚beharrende Zeit‘ – eigentlich eine transzendentale – als Hintergrund), dann bliebe jedes äußere Zeitmaß aus, das die (absolute) Referenz abgäbe, um diese Folgen in eine ‚objektive‘ Relationalität zu setzen. Betrachtete man Zeit dagegen nur als einen an sich adynamischen Ereignishintergrund, dann müsste Zeit als indifferent gegenüber den konkreten Ereignissen verstanden werden und würde letztlich selbst den Richtungssinn einbüßen, der das Zeiterleben alltäglich bestimmt. Die Gedankenexperimente von Zeitumkehrungen, Zeitreisen und so weiter entspringen dieser Absonderung des Konzepts der Zeit als Dimension einer Größe von der Zeit als Folge. Gewissermaßen bildet sich diese Ambivalenz des objektiven Zeitbegriffs auch in zwei Tendenzen der Physik ab: Dafür stehen zum einen die berühmten Worte Einsteins: „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion“ 61, die er zum zweifelhaften Trost an die trauernden Angehörigen seines verstorbenen Kollegen Michele Bessos richtete. Dahinter liegt gewissermaßen die ‚tröstliche‘ Vorstellung, dass mit der Aufgabe der dreigliedrigen Zeitkonzeption letztendlich auch die Unterscheidung von Vor und Nach dem Tod ihrer Gravität enthoben wäre. In der T hermodynamik dagegen wird Zeit mit einem eindeutigen Richtungssinn vorausgesetzt 62, da sie in der vorwaltenden Tendenz zur Ordnungs-Verunordnung (Entropie) vom Prozess her verstanden wird und damit nicht eigentlich als Zeit erfasst wird, sondern als das, was sich in der Zeit ereignet. Hier ist die Umkehrung der Prozesse nicht ohne prozessierte Zukunft (also als ein Prozess-Später) vorstellbar. So lässt sich anscheinend in der Physik von einer Prozesszeit, einer dynamischen Raumzeit, deren Dynamik Zeit prägt, und einer absoluten Raumzeit sprechen.63

61  Tobias Müller, „Zeit und Prozess. Zur fundamentalen Zeitstruktur von Natur und Bewusstsein“, in: Gerald Hartung (Hg.), Mensch und Zeit, Wiesbaden 2015, 57–81, 58. 62  Gregor Schiemann, „Lebensweltliche und physikalische Zeit“, in: Gerald Hartung (Hg.), Mensch und Zeit, Wiesbaden 2015, 207–225. 63  „Somit ist der gegenwärtige Zustand der Physik bezüglich des Zeitbegriffs nicht kohärent. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie sagt eine dynamische Raumzeit voraus; die Quantentheorie benutzt eine absolute Raumzeit. Man spricht hier auch von dem ‚Problem der Zeit‘.“ Kiefer, „Die Rolle der Zeit in der Kosmologie“, 28.

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Durch zwei pragmatische Konstrukte wurde in der Neuzeit auf die Ambivalenz von Folgezeit/Prozesszeit und Zeit als Form/homogener Hintergrund reagiert: Newton behauptete eine absolute Zeit mit dem praktischen Hintersinn, damit eine mathematische (Vergleichs-)Folie an das Firmament der Wirklichkeit zu heften, die eine prinzipielle Berechenbarkeit und somit eine objektunabhängige Objektivierung zeitlicher Verhältnisse ermöglichen sollte; es war ihm um die Mathematisierbarkeit der Erfahrungswelt zu tun. Er nahm zu diesem durch und durch funktional orientierten Vorhaben eine Zeit nach der berühmten Definition an: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.“ 64 Das Paradox von Folge und adynamischem Hintergrund wurde quasi kurzgeschlossen, indem nun der Hintergrund als ein gleichmäßiges, statisches Fließen konstruiert wurde, das unabhängig von allem Zeitlichen ein Zeit-Vergleichsmaß abgeben konnte. Ganz pragmatisch, dabei aber Newtons Konzeption entsprechend,65 ermöglicht die Konstruktion eines Zeit-Apparats, nämlich der Mechanismus der Uhr eben solche Objektivierung. Gegenüber der besonderen Zeit der Dinge (Wie viele Tage blühen Magnolien? Schafft es der Schuster, meine Schuhe bis heute Abend zu besohlen?) lässt sich eine völlig beziehungslose Ding-Dynamik als Äquivalent etablieren – ein x-beliebiger, aber kontrollierbarer und gleichmäßiger Rhythmus, eine Taktung (mechanische Uhr, heute die Cäsium-Schwingung), zu der alles Geschehen ins Verhältnis gesetzt werden kann. Ihr genaues Pendant hat die me­trische Vergleichszeit im Geld, dazu später. Die Zeit wird messbar durch das Konstrukt eines allgemeinen Zeitäquivalents in Form eines einigermaßen zuverlässigen Metronoms. Praktisch wird also eine Taktung konstruiert, die es ermöglicht, Zeit zu zählen (und zwar rein quantitativ, nämlich unabhängig von den Dingqualitäten – anders als bei Aristoteles). Das Newton’schen Zeitkonstrukt und die Uhrpraxis gehören insofern zusammen als sie eine beliebig unterteilbare Hintergrundzeit vorgeben, deren praktischer Vorteil gerade ist, dass sie absolut beziehungslos zu allen Dynamiken abläuft, die durch sie gemessen Isaac Newton, Philosophiæ naturalis principia mathematica, London 1726, 6. könnte annehmen, dass die spätmittelalterliche Erfindung der mechanischen Uhr Newton beeinflusste, es gibt aber durchaus auch Positionen, die vom Gegenteil ausgehen, so z. B. Postone, auf den ich im zweiten Teil zurückkommen werde: „Unserer Darstellung liegt jedoch die Annahme zugrunde, daß die Ursprünge eines derartigen Zeitsystems und schließlich die Entstehung eines abstrakt mathematischen Zeitverständnisses nicht der Entstehung und Verbreitung mechanischer Uhren zugeschrieben werden können. Vielmehr muß diese technische Erfindung selbst, ebenso wie das abstrakte Zeitverständnis, im Sinne einer ‚praktischen‘ Konstitution einer solchen Zeit verstanden werden, also in Bezug auf eine allmählich entstehende Form gesellschaftlicher Verhältnisse, die konstante Zeiteinheiten und somit abstrakte Zeit als gesellschaftlich ‚real‘ und als sinnvoll hervorbrachte.“ Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen T heorie von Marx, Freiburg 2003, 323. 64 

65  Man

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werden sollen. Absolute Zeit und Uhrzeit laufen einfach neben der Welt her. Beide sehen grundsätzlich von der real erfahrenen Zeit ab und konstruieren eine künstliche Zeit, um empirisch Zeiten messbar zu machen. So wurde im Bemühen um objektive Zeit eine objektivierte Zeit (nach dem Prinzip der Konstruktivität) geschaffen, indem von den Objekten gerade abgesehen wurde. Bei Zeitkonzepten, die sich auf die Verbindung von Ereignissen in einer Folge versteifen, wird erstaunlicherweise just eines nicht in Erwägung gezogen, nämlich in welcher Weise ein Ereignis eigentlich zeitlich ist. Was ist das Zeitliche am Ereignen selbst? Ereignisse sind im Modus der objektivierten, metrischen Zeit nur ansprechbar als Daten und Fakten und so schon in entzeitlichte Form geronnen, festgestellt. Doch die Zeit müsste vom Geschehen her begriffen werden, objektiv wie auch subjektiv, um als Zeit überhauet eigens in den Blick zu kommen. Sie muss keineswegs als die Veränderung der Dinge verstanden werden, aber doch als deren ‚Wie‘, das stets ein bestimmtes Verhältnis zum ‚Dass-des-Jetzt‘ des Geschehens aufweist. Wie verändert sich etwas, insofern es zeitlich ist? Wie bereits hinlänglich beschrieben: In der Intensität von Vollzügen (Prozesse und Dauern), durch die Relation dieser Vollzüge zu anderen (Beharrlichkeit, Folge, Gleichzeitigkeit) und als Modalitäten des Geschehens (irgendwann/zukünftig [Möglichkeit], jetzt/dann/gegenwärtig [nichtseiend-seiend], immer/einmal [notwendig/kontingent]). Eben dieses Gefüge, das mit dem Geschehen aufgerufen ist, findet jedoch in der Konstruktzeit nicht zum Ausdruck, sondern wird in ihr bestenfalls notiert. Die Reduktion der Zeit auf Konstrukte der Zeitmessung hat auch Norbert Elias dazu verleitet, Zeit einzig als eine symbolische Orientierungsfunktion in der Welt zu verstehen. Er steht damit exemplarisch für eine sozialwissenschaftliche Tendenz, der Zeit (aufgrund eines konstruktivistischen Ansatzes) abzusprechen, mehr oder anderes zu bedeuten als eine soziale Konvention. Er reduziert Zeit auf die geschichtlich gewordenen, begrifflichen Konstrukte metrischer Zeit (im Sinne der Uhr, Kalender oder ähnlichem) und der absoluten Zeit (im Sinne Newtons) und weist zu Recht darauf hin, dass diesen als historisch wandelbaren Formen der sozialen und wissenschaftlichen Zeitorganisation keine Ding-Objektivität zukomme. Der Zeit, dem „Spielball philosophischer Phantasien“66, will er darum nicht länger etwas Geheimnisvolles zuerkennen: Sie sei Begriffssynthese mit Orientierungs-, Regulations- und Kommunikationsfunk66  Norbert Elias, Über die Zeit, hg. v. Michael Schröter, 12. Aufl., Frankfurt am Main 2017, 14. Er spricht hier von der Zeitphilosophie von Descartes bis zur Existenzphilosophie, lässt also antike Autoren bezeichnenderweise aus. Vielleicht weil sie seine Idee einer Stufenentwicklung des Wissens, das, „seiner Natur nach eine Zeit lang brauche, um sich zu entwickeln“ (Elias, Über die Zeit, 5) konterkarieren würden? Er gibt die Schuld für die philosophischen Zeit-Verirrungen einer Subjektphilosophie, die sich in ihrer Selbstbegründung in der Zeit verheddere. Seine Lösung bleibt problematisch: Die angebliche Reduktion auf das Subjekt wird ersetzt durch eine funktionale Konstruktion der Gesellschaft.

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tion. Dass aber das Ereignen an sich – auch das soziale – eine Zeitdimension aufruft, bevor sich überhaupt die Frage stellt, wie sie sozial-funktional organisiert wird, bleibt in diesem anti-philosophischen T heorie-Reflex erstaunlich unterreflektiert, beziehungsweise wird durch das beharrliche Konstatieren sozialer Konstruktivität schlicht entproblematisiert. Dass eine sich als Prozess-Soziologie verstehende Wissenschaft Zeit axiomatisch voraussetzt, wird ausgeklammert. Zeit wird häufig ohne Differenzierung zugleich als Prozessualität und als das Konstrukt verstanden, das Prozesse zeitlich datierbar sein lässt. Doch das Zeitliche an den Prozessen bietet sich gerade nicht als Messobjekt an. Prozessieren, Handeln, Wachsen, Vergehen – überall gilt das, was bei Aristoteles gezeigt wurde: Die Zeit steht den zeitlichen Dingen nicht in dem Sinn gegenüber, dass sie mit der Zeit abgeglichen und in ein Größenverhältnis gesetzt werden könnten, sondern Zeit wird vielmehr im Zeitvollzug als ein Verhältnis von Zeiten hervorgerufen. Darum spreche ich mich hier für einen Begriff der Zeit als Geschehen aus, der der Opposition von Zeit als Form und Zeit als Prozess vorausgeht. Form und Geschehen lassen sich zusammendenken, wenn man die aporetische Radikalität von Zeit ernst nimmt, die in der Interpretation einer ‚sinn­lichen Transzendentalität‘ liegt: Es gibt keinen Horizont der sinnlichen Erfahrung von Zeit ohne das zeitliche Erfahren selbst und doch liegt dieser Zeit-Horizont jeder Erfahrung zu Grunde, obgleich er durch sie hervorgerufen ist. Zeit ist als die Dimension, die offensichtlich allem Zeitlichen bereits innewohnt, zugleich durch die konkreten Zeitvollzüge evoziert, Zeit ist eine im Zeitvollzug evozierte Dimensionalität. 1.7. Es-gibt und Es-gilt-als Damit zusammenhängend kommt eine Schwierigkeit auf, die ich durch die Titel Es-gibt und Es-gilt-als anzeigen möchte. Man kann durchaus von etwas sagen, dass es ist, insofern es gilt (also ‚ist‘, ohne zu geschehen, wie beispielsweise ein Gesetz). Mit der Geltung-als wird etwas angesprochen, das nicht zeitlich verfasst ist, während alles, was es gibt, notwendigerweise ‚in der Zeit ist‘, insofern es ‚passiert‘. Man kann sich die Tragweite dieser zuerst unscheinbaren Unterscheidung daran klar machen, was es heißt, dass etwas nicht in der Zeit ist. Meinem Verständnis nach gibt es nichts, das nicht zeitlich wäre, da ‚Es-gibt‘ immer das Geschehen eines sich aktuell Manifestierenden anspricht. Gleichwohl impliziert das Begreifen dessen, was es gibt, eine Ebene mitzudenken, die nicht im ‚Dass‘ des Geschehens aufgeht, sondern es jenseits seiner zeitlichen Manifestation auffasst. Dabei ist an den Begriff der Zeit selbst, an logische Sätze und überhaupt an Allgemeinbegriffe aller Art (Objektivität, Subjektivität, Liebe, Arbeit, Hass, Friede und so weiter) zu denken. Mit ihnen wird jeweils eine besondere Geltung für das, was geschieht, beansprucht und damit zugleich zur Geltung gebracht. Eines sind diese abstrakten Geltungs-Begriffe jedoch nicht, nämlich zeitlich: Weder Zeit,

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noch Raum, noch der Satz der Identität, Subjektivität oder auch Liebe geschehen, sondern es gibt und geschieht lediglich etwas Besonderes, dem diese Begriffe zur Geltung verhelfen. Doch damit wird Zeitliches erst konkret bestimmt und in seiner zeitlichen Besonderheit aufgefasst. ‚Er hat sich verliebt‘, bezeichnet sicherlich ein Geschehen und eine besondere Zeit, aber die Liebe ist dabei nicht das Geschehen, sondern das, als was das Geschehen gilt. Dem schieren Es-gibt des Geschehens wird also zu einer konkreten Geltung in unserer Wahrnehmung verholfen durch ein Es-gilt-als-etwas.67 Auf den Unterschied von Es-gibt und Esgilt-als ist hier zu achten, weil er für die Frage nach der Zeit relevant ist. Diese im Grunde einfache Unterscheidung birgt viele Aporien und Paradoxa, so etwa den Umstand, dass die Zeit als Begriff selbst nicht zeitlich ist, etwas als Zeit aufzufassen, dagegen durchaus. Das Begreifen der Zeit ist selbst ein Geschehen, das besondere Zeitvollzüge durch eine außerzeitliche Auffassung konkret bestimmt. Nun meint etwas Zeitliches gerade kein Abstraktum und ist doch nur durch eine von der Zeit abgezogene Auffassung, durch eine ‚Abstraktion‘, zu begreifen; es aktualisiert sich im zeitlichen Vollzug der Zeitabstraktion des begrifflichen Denkens. Diese Probleme mit der Zeit lassen sich in Analogie mit der Sprache und von der Sprachlichkeit her etwas aufhellen68: Außerzeitliches verhält sich gewissermaßen zur Zeitlichkeit wie die Grammatik, die Nomen und Verben oder Marker von Sprechakten (propositional, illokutionär und so weiter) gegenüber einem konkreten Ausdruck, zu dem sie versammelt sind. Wenn ich sage: ‚Mach dem Hund schnell die Tür auf, bevor ein Unglück passiert!‘, wissen wir alle, dass hier eine dringliche Zeitlichkeit angesprochen ist und zum Ausdruck kommt. Dieser Satz hat Sinn nur, weil es diesen einzigen konkreten ­Dackel da an der Tür geben mag und es auf just diese entscheidenden Sekunden der Äußerung ankommt. Die Worte und grammatikalische Form bekommen erst aus dem konkreten und einmaligen Kontext und im Bezug auf das Es-gibt und Dass, dass der Satz geäußert wird, Geltung.69 Keinem der in diesem Ausdruck 67  Diese Unterscheidung lässt sich in Analogie zu Whitehead erläutern: Was hier als Es-gilt bezeichnet wird, nennt er „zeitlosen Gegenstand“, was ich Es-gibt nenne, hat bei ihm den Namen „wirkliches Einzelwesen“. So wie ich im Folgenden auf ein Geschehen der Begriffsausprägung im realen Zeitvollzug abziele, so spricht Whitehead von einem „Eintreten“ (65) der zeitlosen Gegenstände (man könnte auch Begriffe sagen) im begrifflichen Erkennen, „die ein reales Empfinden eines wirklichen Einzelwesens begründet.“ Damit wird sozusagen im zeitlichen Vollzug selbst die bloße Potentialität der zeitlosen Gegenstände in ein vollständig kontingentes „Gegebensein“ umgewandelt, das Gegebensein einer begrifflich in der Zeit aufgeschlossenen Zeit-Wirklichkeit. Siehe dazu: Whitehead, Prozeß und Realität, 99–100. 68  Ernst Cassirer führt diesen Zusammenhang auch nach seiner ‚Genese‘ hin aus im ersten Band der symbolischen Formen: Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache, 10. Aufl., Darmstadt 1994, 170–183. 69  Ich denke an die Spannung zwischen Begriff und Nichtidentischem bei Adorno. Ein Denken, das sich im Sinne Adornos dem Nichtidentischen in einer „Kommunikation des Unterschiedenen“ (T heodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft. Eingriffe, Stichworte,

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verwendeten Worte kommt generell die konkrete Bedeutung zu, die sie tatsächlich beim Ausrufen dieses Satzes haben: „Mach“, „Hund“, „dem“, „schnell“, „!“ und so weiter – diese Worte, Zeichen und Schemata ihrer Verknüpfung bleiben gegenüber dem, was sie in dem konkreten, situativ gebundenen Satz real ausdrücken, unkonkret und bedeutungslos. Man könnte sagen (und dieser Umstand treibt die Sprachphilosophie um), Worte sind außerhalb ihres konkreten Gebrauchs grundsätzlich bedeutungsleer (es bleibt die Frage, ob es überhaupt Worte, Grammatik und Satzgehalt außerhalb eines konkreten Gebrauchs gibt). Das gilt auch bei einem so abstrakten T hema wie diesem Sprechen von der Zeit. Doch ebenso sehr kann man nur durch die Allgemeinheit der Worte und Gedanken (Begriffe, Grammatik und Satzgehalten) etwas Konkretes zum Ausdruck bringen. Die in jeglicher Äußerung vorherrschende Allgemeinheit der Sprache (und des begrifflichen Denkens) stellt keine Abstraktion von konkreten Inhalten dar – selbst dann nicht, wenn es sich um explizite Abstrakta handelt –, sondern vielmehr eine konstellative Konkretion durch Allgemeinbegriffe und Schemata, die sich in ihrer Verschränkung auf einen Inhalt hin überschreiten. Solche Allgemeinheit ist, wo sie ihren Zweck erfüllt, kein Abzug vom, sondern ein Überschreiten zum Konkreten. Man kann schlicht nichts Konkretes denken, erfahren oder sagen, was nicht erst in einem wabernden Netz aus Allgemeinheiten in Form von Sätzen, Gedanken oder ‚Erfahrungen‘ (konkrete Inhalte, die wir in Allgemeinbegriffen auffassen) zur Geltung käme. Das Konkrete gibt sich erst in einer konstellativen Konkretion von Allgemeinbegriffen zu erkennen und das Allgemeine bekommt erst durch diese Konkretion Sinn.70 Somit konkretisieren wir unablässig die Wirklichkeit, indem wir sie mittels des Allgemeinen ansprechen und auf diese Weise wie durch magische Formeln ein zweites Mal ins Leben rufen. Es ergibt sich eine eigene Vollzugszeit des Außerzeitlichen im Begreifen des Geschehens (Sprache und Denken). Analog verhält es sich mit dem Außerzeitlichen (zeitlose Gegenstände, siehe Whitehead) im Verhältnis zur Zeitlichkeit: Sie drückt sich aus in einem Netz außer­zeitlicher Begriffe, zu denen ihr eigener (‚die Zeit‘) genauso zählt, wie etwa ‚es geschieht‘ oder ähnliches. Auch die logischen Muster unseres Verstehens, die wir den Zeitbestimmungen zugrunde legen (siehe Relations- und Modalkategorien), obgleich sie nicht zeitlich sind, verhelfen der Zeitlichkeit gerade aufgrund ihrer Differenz zum Ausdruck. Zeit kann so betrachtet stets nur in einer Art ‚negativen T heologie der Zeit‘ (zu diesem Begriff ausführlich im zweiten Kapitel) aufgefasst werden. Dieses Auffassen und Zum-Ausdruck-Bringen ist dabei keineswegs nur als ein Problem der Sprache im engeren Sinne zu verstehen, sondern betrifft prinzipiell die Möglichkeit, Zeitlichkeit auch nur zu denken oder zu erAnhang [Gesammelte Schriften 10.2], Frankfurt am Main 2003, 743) zuwendet, verzeitlicht sich selbst und söhnt damit die Begriffssphäre mit der Zeit aus, von der es sich in der Regel absondert. 70  Vgl. Gimmel et al., An den Grenzen der Muße, 1–40.

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fahren. Zugleich ist es offensichtlich das zeitliche Geschehen, das den Sinn dieser außerzeitlichen Es-gilt-als-Ansprüche ausmacht. Das Zeitliche (Es-gibt, Geschehen, ‚Dass-des-Jetzt‘) evoziert nicht nur einen Zeit-Horizont, sondern auch eine Sphäre der Außerzeitlichkeit von Begriffen, die im zeitvollziehenden Begreifen der Zeit wiederum erst eingelöst werden; das Es-gibt ruft das Es-gilt-als hervor, um als Zeit zu erklingen. Ein ähnlicher Gedanke ist zuvor schon in der Interpretation von Augustinus aufgekommen. Ich gehe davon aus, dass die Rede von einer Objektivität der Zeit im Sinne einer unabhängigen Entität auf der Verwechslung des Es-gilt-als mit dem Esgibt (beziehungsweise ‚Dass-des-Jetzt‘) beruht: Der abstrakte Allgemeinbegriff ‚Zeit‘ verleitet dazu, Zeit zu einem Etwas zu erklären, das ohne ein konkretes Geschehen angesprochen werden könnte; das Es-gilt-als wird dann wie ein Esgibt behandelt. Auch die Reduktion der Zeit zu einer bloß subjektiven Wahrnehmung im Sinne des Zeitempfindens (die sogenannte ‚psychologische Zeit‘) beruht auf der entsprechenden Verwechslung: Aus dem Umstand, dass Zeit­ liches erst aufscheint, wenn ihm Geltung zugesprochen wird, wird kurzerhand geschlossen, Zeit sei eine Struktur des Es-gilt-als, das dem psychischen Apparat des Subjekts oder vielmehr neuronalen Effekten entspringe. Zeit als das Verhältnis zum ‚Dass-des-Jetzt‘ des Geschehens manifestiert sich jedoch gerade in einer Überkreuzung und wechselseitigen Aufrufung von Subjektivität und Objektivität, von Es-gilt-als und Es-gibt. Es ist genauso widersinnig, Zeit als eine unabhängige Sphäre zu hypostasieren, die gewissermaßen neben dem konkreten Geschehen der subjektiven Zeitvollzüge autark vor sich hin verliefe, wie die Zeit zum Effekt eines neuronalen Subjekt-Geschehens zu reduzieren. Denn auch hier müsste dem Umstand Rechenschaft geleistet werden, dass just dieses neuronale Geschehen, also das Subjekt selbst, als ein Effekt der Zeit gelten müsste und damit die Zeit nie nur als ein Untersuchungsgegenstand aufgefasst werden kann, sondern zugleich als Axiom reflektiert werden müsste. 1.8. Objektivität der Subjektivität – Beharrlichkeit des Geschehens Husserl schreibt in den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins im ersten Abschnitt zur „Ausschaltung der objektiven Zeit“: Was wir aber hinnehmen, ist nicht die Existenz einer Weltzeit, die Existenz einer dinglichen Dauer u. dgl., sondern erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche. Das aber sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre. Sodann nehmen wir allerdings auch eine seiende Zeit an, das ist aber nicht die Zeit der Erfahrungswelt, sondern die immanente Zeit des Bewußtseinsverlaufes. Daß das Bewußtsein eines Tonvorgangs, einer Melodie, die ich eben höre, ein Nacheinander aufweist, dafür haben wir eine Evidenz, die jeden Zweifel und jede Leugnung sinnlos erscheinen läßt.71 71 Husserl,

Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, 369.

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Hier zeigen sich zwei Zeitformen: Die objektive Zeit, die Husserl dem Erfahrungsraum zuschreibt, und die immanente Zeit des Bewusstseinsverlaufs. Er verdeutlicht das an einem Beispiel: Wenn man auf einen Gegenstand blickt, die Augen schließt und dann wieder öffnet, dann haben wir zeitlich getrennte Inhalte, wir erschauen auch ein phänomenologisches zeitliches Auseinander, eine Trennung, aber am Gegenstand ist keine Trennung, er ist derselbe. […] So können wir auch subjektiv ein zeitliches Nacheinander empfinden, wo objektiv eine Koexistenz festzustellen ist. Der Inhalt wird ‚objektiviert‘, und nun ist das Objekt aus dem Material der erlebten Inhalte in der Weise der Auffassung konstituiert. […] Die Objektivität gehört zur ‚Erfahrung‘ und zwar zur Einheit der Erfahrung, zum erfahrungsgesetzlichen Zusammenhang der Natur. Phänomenologisch gesprochen: die Objektivität konstituiert sich eben nicht in den ‚primären‘ Inhalten, sondern in den Auffassungscharakteren und in den zu dem Wesen dieser Charaktere gehörigen Gesetzmäßigkeiten.72

Es sind nicht die Zeitempfindungen und das ‚erlebte Jetzt‘, durch das Zeit sich uns ‚objektiv‘ darstellt, sondern vielmehr erscheint die Zeit gegenüber diesem Erleben als eine Konstitutionsleistung der Wahrnehmung, eine „Auffassung“. Das findet seine Entsprechung in der Unterscheidung von Es-gilt-als („Auffassung“) und Es-gibt („erlebter Inhalt“). Die Objektivität meint keine unabhängige Weltzeit und auch keine metrische Zeit, sondern eine subjektive Auffassungsform, durch die sich uns ein Erfahrungsraum ergibt. So ist es ganz berechtigt im Sinne Augustins davon zu sprechen, dass sich die Zeit im Geist des Menschen ausspannt und erst in dieser seelischen Spannung, die als distentio durchaus eine intentio umfasst73, die Form einer Objektivität annimmt. Das betrifft bei Husserl wie bei Augustinus auch die Zeit, insofern sie ‚objektiv‘ gemessen und als ‚äußere‘ Dimension begriffen wird. Denn zu den Auffassungscharakteren […] gehören gewisse Forderungen und Berechtigungen, die aufgrund der empfundenen Daten erscheinenden Zeiten und Zeitverhältnisse aneinander zu messen, so und so in objektive Ordnung zu bringen, so und so scheinbar in wirkliche Ordnung zu sondern. Was sich da als objektiv gültiges Sein konstituiert, ist schließlich die eine unendliche objektive Zeit, in welcher alle Dinge und Ereignisse, Körper mit ihren physischen Beschaffenheiten, Seelen mit ihren seelischen Zuständen ihre bestimmten Zeitstellen haben, die durch Chronometer bestimmbar sind.74

Wir haben es schließlich also mit drei Zeiten zu tun: Die immanent fortlaufende Zeit des Bewusstseinsverlaufs, die daraus aufgefasste objektive Zeit der Erfahrung und schließlich das aus der Zeitauffassung postulierte und durch Vergleichsmessungen konstruierte, unendliche, „objektiv gültige Sein“ (Weltzeit). Gegenüber der Eigenzeitlichkeit der Subjektivität wird durch das Subjekt eine stabile Objektzeit etabliert und daraus als Postulat eine Weltzeit konstruiert. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, 372–373. Gloy, Philosophiegeschichte der Zeit, 114. 74 Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, 372. 72 Husserl, 73  Vgl.

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Somit ist eine Rede von der Objektivität der Zeit – bei allen tiefgreifenden Unterschieden – wie bei Kant nur als die Objektivität von Subjektivität zu verstehen. Zeit als reine Form der Anschauung ist eine Ermöglichungsbedingung von ‚Objektivität‘ in dem Sinne, dass sich den wahrnehmenden Subjekten etwas als Objekt nur gibt, insofern es im Horizont eines Geschehens aufscheint (Geschehnis-Horizont des Es-gibt). Mit der Zeit als ‚innerem Sinn‘ wird etwas als Zeitliches erkannt und sinnlich aufgefasst (Es-gilt-als). Doch diese zentrale Bedeutung der Subjektivität der Zeit für Objektivität meint, wenigstens im hier vorgeschlagenen Verständnis, keineswegs eine Verabsolutierung des Subjekts oder gar eine Art Zeit-Solipsismus. Wie am Anfang bemerkt ist ja die Subjektivität im zeitlichen Sinne vor allem ein Unterworfensein gegenüber der Zeitalterität anderer Zeiten, sie ist also wesentlich eine gegenüber anderen Zeitvollzügen gerade aufgeschlossene Eigenzeitlichkeit, die dadurch ein übergeordnetes Zeitverhältnis aufruft. Erst in der Konfrontation mit Zeitanderem ist Subjektivität im Grunde hervorgerufen, provoziert. Die Rückführung der Objektivität der Zeit auf die Subjektivität bezeichnet so verstanden keine Reduktion des Nichtidentischen auf das Subjekt, sondern vielmehr die Ausprägung der Subjektivität als einer Verhältnisform, die sich dem Bezug zum Differenten, Zeitanderen, verdankt. Die transzendentale Dimension sollte hier nicht als logische Voraussetzung verstanden sein, sondern als Horizont einer realen sinnlichen Ausprägung von Zeit, ein Zeithorizont, der erst in konkreten Bezügen differierender Zeiten aufgerufen ist. Die Auffassung der Zeit durch den inneren Sinn wiederum meint wie oben beschrieben eine konstellative Überschreitung der begrifflichen Fassung hin zur konkreten Zeitmanifestation. Was Kant gegen das Unding Zeit vorbringt, ließe sich auch gegen ein Verständnis der Subjektivität als Unding einwenden: Zeit ist nichts, „was für sich selbst bestände, oder den Dingen als objektive Bestimmung anhinge, mithin übrig bliebe, wenn man von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung derselben abstrahiert“75. Wirklichkeit kommt der Zeit dann zu, wenn sie nicht als empirisches Etwas aufgefasst und nicht zu einem „Unding[e]“ hypostasiert wird, das da ist „(ohne daß doch etwas Wirkliches ist), nur um alles Wirkliche in sich zu befassen“76. Man kann aber Wirklichkeit nur begreifen (Es-gilt-als, Analogien der Erfahrung), insofern sie Zeit ist (Es-gibt, Synästhesie des Geschehens). Das Geschehen, das Augustinus als ein Tendieren zum Nichts charakterisierte, gibt trotz dieser Volatilität einen beharrlichen Geschehenshintergrund ab durch die Konstitution der Zeitverhältnisse in der Subjektivität; die Seele hält die Dinge und Lebewesen – ‚mitzählend‘ – an das ‚Dass des Jetzt‘ seiner eigenen Ausspannung an. 75 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 49. Diese Auffassung richtet sich explizit gegen Newton. 76 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 56.

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Durch das Beharrliche allein bekömmt das Dasein der Zeitreihe nach einander eine Größe, die man Dauer nennt. Denn in der bloßen Folge allein ist das Dasein immer verschwindend und anhebend, und hat niemals die mindeste Größe. Ohne dieses Beharrliche ist also kein Zeitverhältnis. Nun kann die Zeit an sich selbst nicht wahrgenommen werden; mithin ist dieses Beharrliche an den Erscheinungen das Substratum aller Zeitbestimmung, folglich auch die Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der Wahrnehmungen, d. i. der Erfahrung, und an diesem Beharrlichen kann alles Dasein und aller Wechsel in der Zeit nur als ein modus der Existenz dessen, was bleibt und beharrt, angesehen werden.77

Gegen Newtons Zeit-Objektivität einer Etwas-Zeit, die „in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem [fließt]“78 wendet Kant in diesem Sinne ein: „Wollte man der Zeit selbst eine Folge nach einander beilegen, so müßte man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre.“79 Die Messbarkeit der Zeit begründet sich also in diesem Kant’schen Sinn nicht durch eine absolute Zeit, sondern durch das Verhältnis des Zeitlichen zueinander, ein Verhältnis das die Idealität der Zeit sinnlich aufruft.80 Sie ist weder als Maßband vorzustellen noch als Stoppuhr. Zeit ist vielmehr unvorstellbar. An dem viel beargwöhnten Begriff der Transzendentalität der Zeit möchte ich festhalten, insofern im sinnlichen Zeitvollzug das Geschehen eine Möglichkeitsbedingung der Sinnlichkeit und der konkreten Zeitmanifestationen darstellt. Zeit als Form und Zeit als Geschehen fallen zusammen, Zeit ist Dimension des Dass-des-Jetzt als Geschehenshorizont, wird aber zugleich durch das Geschehen als Dimension erst evoziert. Zeit ist Geschehnis-Hintergrund und das Geschehen davon. 1.9. Raummetaphern 1: Fluss und Fließen Es ist bemerkenswert, wie sehr die Vorstellung einer objektiven Zeit von Raum-Metaphern geprägt wird, die eigentlich jeden sachlichen Gehalt vermissen lassen und damit beharrlich die Zeit durch den Raum bildlich verstellen. Dazu gehört insbesondere die Vorstellung von der Zeit als einem (absoluten) Kritik der reinen Vernunft, B 225–228. Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, übers. v. Ed Dellian, Hamburg 1988, 44 (Definitionskapitel, Scholium). 79 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 226. 80  Newton unterscheidet zwischen der oben benannten absoluten Zeit und der relativen Zeit, die ein „äußerliches Maß der Dauer, aus der Bewegung gewonnen“ (Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 44) abgibt. Inwieweit die Kritik Kants im Einzelnen trifft, kann ich hier nicht diskutieren (Vgl. dazu Gloy, Philosophiegeschichte der Zeit, 123–137), festzuhalten bleibt aber, dass Newton die absolute Zeit nicht im Sinne der transzendentalen Idealität absolut setzt. Es ist Leibniz, der im Briefwechsel mit Clarke gegen Newton Zeit als eine Relationalität bestimmt. Leibniz/Clarke, Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, 38. Dazu auch: Böhme, Zeit und Zahl, 195–250. 77 Kant, 78 

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Fließen, an dem Abschnitte der Dauer unterteilt werden könnten. Dieses Flussbild ist zugleich metaphysisch-spekulativ wie naiv. Einerseits wird dieses absolute Fließen als ein Fluss gedacht, an dessen Ufern wir Beobachter stehen und abmessen, wie lange ein Stück existenzielles Treibgut auf der Oberfläche tändelt, bevor es in die Tiefen des Stroms gerissen wird. Das Maß der Zeit ergibt sich in diesem Bild entweder im Verhältnis zum durchflossenen Raum – sozusagen im Verhältnis zum Ufer –, oder im Verhältnis zu anderen treibenden Gegenständen in den Fluten – aber nie durch die Flut absolut genommen, einfach weil Fließen ohne Relation zu Anderem als dem Fluss kein Maß abgibt. Wer Zeit also – andererseits – als (Ver-)Fließen versteht, müsste sich selbst in diesen Fluss versetzt sehen und dürfte dann zu diesem Fließen nicht wieder eine stabile Position vom Ufer aus einnehmen. Hier scheinen oft zwei Bildebenen durcheinander zu gehen: Einmal ist das Heraklit’sche Bild vom Fluss angesprochen, in den man nicht zweimal steigen kann (mit Ufern als dem Außen der Zeit), und zweitens das Fließen (fluere) an sich, in das wir selbst versetzt sind (also unsere lebendige Liquidität). Selbst ein so differenzierter Zeittheoretiker wie Herrmann Schmitz greift auf dieses Bild zurück. Er schreibt: „Der Fluss der Zeit besteht darin, dass die Masse des Vergangenen wächst, die Masse des Zukünftigen schrumpft und die Masse des Gegenwärtigen wechselt, und zwar beständig, ohne erhebliche Pausen.“81 Ich führe diese Stelle an, um zu verdeutlichen, welche Probleme durch den Bildcharakter solcher Analogiebegriffe entstehen. Betrachten wir das Fluss-Bild noch einmal: Um was für einen Fluss mag es sich denn handeln, der eine ‚Masse‘ sozusagen hinter der letzten Flussbiegung anwachsen lässt, um sie vor der kommenden schrumpfen zu lassen, während er im Hier seine ‚Masse‘ wechselt? Was soll Masse hier überhaupt bedeuten (ganz abgesehen von dem Ausdruck „ohne erhebliche Pausen“)? Die Rede vom Massen-Anwachsen der Vergangenheit und Masse-Schrumpfen der Zukunft trifft metaphorisch weder einen Fluss, noch die reine Liquidität des Fließens, dieses Bild passt vielmehr zum Prozess des Alterns, das man unter Umständen und mit sehr viel Wohlwollen als ein Verfließen verstehen könnte. Doch die für das Altern gerade auszeichnende Bezugnahme zu Vergangenheit und Zukunft geht in dem Begriff des Fließens verloren, denn ein liquider Prozess an sich prägt noch keinen Bezug zu seinem Anfang und Ende aus, der eine bestimmte Richtung annehmen müsste. Darauf macht Schmitz durch seine Unterscheidung von Modalzeit und Lagezeit auch selbst aufmerksam. Das Altern als Zeitsein bezieht sich aber notwendigerweise auf seinen Anfang und sein Ende und weist damit immer über die bloße Prozessualität hinaus auf das Ganze einer Lebensspanne, ob sie nun absehbar ist oder nicht. Man ist dann wiederum genötigt das Fließen im umfassenderen Bild des Flusses zu fassen, der von einer Quelle bis zu seiner Mündung durch einen scheinbar zeitlosen 81 Schmitz,

Der Leib, 129.

1. Zeitsein: ‚Dass des Jetzt‘ – Geschehen der Zeit

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Raum fließt. Der Bildgehalt oszilliert ständig zwischen diesen beiden Ebenen, weil beides, das Fließen wie der Fluss, Zeit eben nicht angemessen zum Ausdruck bringen, da sie die Polytemporalität und Asynchronizität der Zeit nicht abbilden können. Die Gefahren von Zeitbildern sind erheblich und die des Flusses vielleicht am größten. Darum lassen sich mit gewissem Recht auch die Husserl’schen Überlegungen zur Zeit als eine Abkehr vom Bild des ‚Erlebnisstroms‘ deuten, der durch das der Verkettung von Retentionen und Protentionen – also von seelischen Ausspannungen – korrigiert wird. Und tatsächlich scheint mir, dass man besser damit ‚fährt‘, Zeit als eine nichträumliche (Aus-)Spannung zu begreifen, wie ich es im vorherigen Teil vorgeschlagen habe. Die Objektivität der Zeit im Sinne ihrer Messbarkeit beruht wesentlich auf einem Hilfskonstrukt, nämlich der pragmatischen Konstruktion eines allgemeinen Zeitäquivalents als Zeitmaß. So wird die Zeit auf eine regelmäßige Veränderung im Raum (ob atomare Schwingung oder Gestirnumlauf) zurückgeführt, die als Vergleichsmaß herhält und dem Bild vom Fluss so eine Scheinevidenz verleiht. Doch um anhand dieser Raumveränderungen Zeit messen zu können, muss von der realen Eigenzeit der Veränderung gerade abgesehen werden, denn erst so gelangt man zu einer Repräsentationszeit, die die Wiederholung von bloßen Raumbewegungen als Zeitreihe darzustellen scheint – wenn auch bloß ‚vorgestellt‘. Es handelt sich um Zeitrepräsentation durch Wiederholung räumlicher Veränderungen (Das Tik-Tok des Uhrpendels zum Beispiel). Auch die Überlegungen zu einer Raumzeit sind wesentlich auf Raumbewegung bezogen beziehungsweise sie stellen fest, „daß physische Raum- und Zeitmessungen immer nur gemeinsam vorgenommen werden können“82. Diese „Union“ von Raum und Zeit ist aber gerade den Anforderungen einer physikalisch-empirischen Messbarkeit geschuldet und reflektiert dabei nicht, „daß beide, zwar nicht als Gegenstände, wohl aber als Arten der Gegenstandsbestimmung grundsätzlich verschiedenes bedeuten.“83 Henri Bergson hat darauf hingewiesen, dass die zählbare und so im Takt verstreichende Zeit, die sich als homogenes Medium gleich einem kosmischen Metronom darstellt, „nur das Phantom des Raumes ist, das das reflektierte Bewußtsein im Banne hält.“84 Die verstreichende und messbare Zeit scheint also darum auf den Raum rückführbar zu sein, da sie ein den Dingen ‚äußerliches‘ Verhältnis beschreibt, ein Verhältnis das letztlich darauf beruht, etwas durch die Funktion der Wiederholung zeitlich ‚lokalisierbar‘ zu machen. So wird eine Zeitreihe durch schematische Wiederholung nach dem Muster räumlichen Hintereinanders konstruiert, die zwar dem Vorstellungsbild räumlicher 82 Cassirer,

Zur Einstein’schen Relativitätstheorie, 92.

83 Cassirer, Zur Einstein’schen Relativitätstheorie, 93. Ernst Cassirer weist in diesem von

Einstein selbst gegengelesenen Text das Zusammenstimmen der Relativitätstheorie und der Kant’schen Erkenntnistheorie aus. 84 Bergson, Zeit und Freiheit, 77.

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Linearität (Fließen und Fluss) entspricht, dabei aber gerade Zeit verstellt. Die Bilder des Flusses und des Fließens stehen kaum für eine tumultartige, wetterförmige Zeit des Geschehens, sondern suggerieren eine Bewegung im Gleichmaß, eine kanalisierte Zeit gleichmäßigen Dahinfließens. Der Zeitfluß ist also eher ein Bild für Raum-Dynamiken und man würde hinter die Einsicht von Aristoteles zurückfallen, wenn man die Zeit auf diese Dynamik reduzieren wollte. Zeit lässt sich also nicht einfach unterteilen in ein bloß subjektives Zeitempfinden und eine davon unabhängige Realzeit der Welt. Vielmehr ist Zeit sowohl bei Aristoteles als auch bei Augustinus, bei Kant und Husserl, Heidegger und Bergson und vielen mehr trotz aller Unterschiede immer eins, nämlich eine Überkreuzung von Objektivität und Subjektivität im Geschehen einer Zeitwirklichkeit, die ich mit den Begriffen ‚Dass-des-Jetzt‘ (Geschehen als Chiasmus von Es-gibt und Es-gilt-als) und ‚Tumult der Zeit‘ (Asynchronizität und Polytemporalität) beschrieben habe. Die Trennung bloß subjektiven Empfindens und objektiv ‚verlaufender‘ Zeit liegt im Begriff der objektivierten Zeit, also der Zeit als bloßes Messkonstrukt. Wenn dem so ist, dann kann es durchaus gewisse Situationen, gewisse Haltungen und Weltverhältnisse geben, die Zeit als solche bewusster und das Verhältnis zu unserer eigenen Zeitlichkeit zur Frage werden lassen. Das geschieht meines Erachtens in ausgezeichneter Weise in Muße. Kommen wir damit auch wieder zu der Frage zurück, was ‚Zeit haben‘ eigentlich heißen soll.

2. Zeithaben: Weile, Zeitspannen und -richtungen

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2. Zeithaben: Weile, Zeitspannen und -richtungen Die folgenden Überlegungen lassen sich an einer schlichten Frage orientieren: Muss man Zeit haben, um zur Muße zu finden, oder bedarf es vielmehr der Muße, um Zeit eigens zu vergegenwärtigen? 2.1. Zeithaben und Selbstsein Gegenüber dem Faktum, dass jeder Mensch stets irgendwie Zeit verbringt, bedeutet Zeit zu haben, dass man sie auch auskostet. Nur freie Zeit, in der man tun, vor allem aber auch lassen kann, was man will, hat man auch wirklich. Die hier gemeinte freie Zeit ist dennoch nicht identisch mit arbeitsfreier Zeit oder Freizeit, zumindest dann nicht, wenn diese zum Austragungsort einer postin­ du­striellen Ideologie von Produktivität wird, die unter dem Namen ‚Selbstverwirklichung‘ firmiert und unter diesem Titel die Sphäre des Konsums arbeitsförmig einrichtet.85 „Nichts von der in der Arbeit gestohlenen Tätigkeit kann sich in der Unterwerfung unter ihr Ergebnis wiederfinden“86 – und so bleibt die der Produktkonsumtion gewidmete Zeit, solange sie der Herrschaft der Produktivität unterworfen ist, eine warenförmig enteignete Lebenszeit. Diese Aussage Guy Debords betrifft die Zeit selbst, wenn sie in Form von Freizeit nur mehr als Resultat der Lohnarbeit erscheint und nicht zuletzt darum auch scheinbar legitimerweise unter das Gesetz der Vermarktung gestellt wird. Nutzt man ganz in diesem Geist seine Freizeit allzu sinnvoll und füllt sie immerzu mit ehrgeizigen Plänen an (eine neue Sprache erlernen; endlich alle Bände von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit lesen; einen Sensenkurs absolvieren; Kurse in Achtsamkeit belegen, die neue Kraft und Sensibilität für den Arbeitsalltag schenken sollen), handelt man sich umgehend ein rigides Freizeit-Zeitregime ein, das kaum noch Zeit lässt. Auch beim schlichtesten Zeitvertreib lässt sich nicht eigentlich von Zeithaben sprechen. Was mit dem Ausdruck ‚Flow‘ umschrieben wird und gleichermaßen die Zeitvergessenheit beim Computerspiel wie die Arbeitsvergessenheit beim Klöppeln einer Decke meinen kann, mag eine angenehme oder gar erfüllte Zeit bezeichnen, aber doch keine Zeit, die man ‚für sich hat‘. Im Flow 85  Dass in der neuen Ökonomie der ‚User das Produkt‘ darstellt, also die Konsumtion als Datengoldgrube und Werbeoberfläche vermarktbar wird, dem scheint auf der Seite des Users eine Haltung zu entsprechen, die sich als enthusiastische Selbst-Produktion imaginiert und darin das Leistungsprinzip, das Marcuse aufdeckte (Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, übers. v. ­Marianne ­Eckardt-Jaffe, Frankfurt am Main 1969, passim), gänzlich implementiert. Siehe dazu: J­ ochen Gimmel, „Die Aufhebung der Arbeit im libidinösen Spiel. Wo bleibt die Muße in der Selbstverwirklichung?“, in: Markus Tauschek et al. (Hg.), Produktive Unproduktivität (Otium 14), Tübingen 2020, 199–225. 86  Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, übers. v. Jean Jacques Raspaud, 2. Aufl., Berlin 1978, Abschnitt 27.

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scheint nicht der Mensch über seine Zeit zu verfügen, sondern vielmehr durch Tätigkeiten in Besitz genommen zu sein. Flow ist ja gewissermaßen eine Art der Besessenheit: Nicht der Spieler hat die Zeit zum Spiel, sondern das Spielen hat den Spieler in dieser Zeit. Wirklich Zeit zu haben, bedeutet also auch, dass man in dieser Zeit nicht durch Pläne, Aufgaben oder Tätigkeiten von sich selbst abgelenkt wird, also nicht durch das ‚Zeit-Verbringen‘ seine eigene Zeit verliert, sondern sich Zeit (trotz dieser Pläne, Aufgaben und Tätigkeiten) lässt und im Lassen Selbstbestimmung oder wenigstens Selbstbewusstsein gewinnt. Solche Zeit droht sich aber augenblicklich wieder zu verflüchtigen, wenn man ihr mit Plänen und Projekten auf den Leib rückt. Möchte man mehr Zeit haben, sollte man darum vor allem sich selbst in Frieden lassen; dann lässt sich vielleicht das Zeithaben als die Fähigkeit ansprechen, ‚selbst zu sein‘, eine besondere Zeit zu sein, so dass sich womöglich Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Glück einstellen mag. Es ist eine schlichte Einsicht, dass man keine andere Zeit hat als diese eine Zeit, die man selbst ist, dass man diese aber auch wirklich hat und man sich gegenüber dem Gefühl eines Zeitmangels nur herausnehmen müsste, selbst zu sein. Eigentlich muss man also nicht für die Muße Zeit haben, sondern in Muße kann man sich vielmehr die Zeit lassen, die man ist. In Zeiten der Muße, dann, wenn man nicht durch Terminsachen und Zeitdruck zum Taktschlag einer „gestundeten Zeit“87 aus dem Augenblick gedrängt wird, sondern verweilen kann, hat man Zeit für sich. Zeithaben bedeutet zu allererst, sie für sich, anderes und (im Sinne Levinas’ 88) für den Anderen zu haben, es ist ein Haben-für. Das Für, das sich hier auftut, ist das Selbst als Zeit­sein, also die Relationalität von Subjektivität. Wer von den Fesseln der Zwecke, Pläne, Anforderungen und Zwänge frei ist, bekommt es mit sich selbst zu tun und bemerkt unmittelbar, dass er da ist. Dieses Selbstsein ist nicht von der Art eines in sich abgeschlossenen Subjekts, sondern vielmehr von der einer rückhaltlosen Aufgeschlossenheit gegenüber den Beziehungsgeflechten, die meist unter dem transparenten Firnis von Geschäftigkeit unantastbar fremd bleiben. Gegenwart und Selbstbewusstsein sind gegenwärtig, aber meist seltsam unberührt. Muße dagegen nistet sich in Rissen und Bruchstellen der Gebrauchsoberfläche des Alltags ein, ja sie lässt unser Erfahrungskorsett brüchig werden. In solchen Prismen der Muße erscheint die objektive Welt weniger als Gehäuse stummer Gegenstände und Tätigkeiten, sondern offenbart sich als ein gleichermaßen fundamentales wie wundersames Geschehen (solche Brechungen der Zeiterfahrung wurden unter anderem als theoria, Meditation oder Gelassenheit angesprochen). Es ist solches Innehalten, das dazu disponiert, nachträglich das Geschehen von Wirklich87 

Siehe Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit. Gedichte, München 2011, 22. Lévinas, Die Zeit und der Andere, übers. v. Ludwig Wenzler, Hamburg

88  Emmanuel

2003.

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keit – Zeit – als das Fundament des Selbstseins zu begreifen89. In der Offenheit von Muße wird eine Augenblicklichkeit wachgerufen, die ein Einlassen dieses Selbst in eine vorangehende Bindung bedeutet. Damit geht eine besondere Erfahrung von Zeitlichkeit als Existenzgrund einher. Die Eigenzeitlichkeit des Zeithabens birgt die Möglichkeit, Dingen und Menschen in einer besonderen Offenheit zu begegnen. Dass diese Offenheit auch als eine Form der Räumlichkeit90 verstanden werden kann, steht nicht im Widerspruch zu den vorangegangenen Ausführungen, die die objektiv-metrische Zeit als eine Entzeitlichung der Zeit im Raumbild interpretiert haben. Auch wenn man Zeit und Raum als Formen der Gegenstandsbestimmung grundsätzlich unterscheiden muss, ist das jeweilige Erfahren von (zumindest äußeren) Gegenständen doch immer räumlich und zeitlich zugleich und keine klare Sonderung überhaupt möglich. Das gilt sowohl für einen wissenschaftlich-messenden als auch für einen phänomenologischen Erfahrungsbegriff. In Muße kann sich die metrische Zeit ebenso in eine augenblickserfüllte Dauer verwandeln, wie der Raum sich in einer „mußevollen Betrachtung […] in ein[em] Spiel von Ferne und Nähe, im Zusammengehören dessen, was einander äußerlich ist, im Freiraum des ‚großen Horizonts‘“ 91 darstellt. Für Raum und Zeit gilt: In Muße kann aus einem metrischen und zweckorientierten Weltverständnis herausgetreten werden und sich damit Raum zur Weite und Zeit zu einer Weile wandeln.92 2.2. Gegen das Verständnis der Zeit als Enge und der Weile als Entzeitlichung Verdächtig ist mir dagegen die Annahme, dass in Muße und im Verweilen „ein in seinem Zeitcharakter zurückgenommenes Dasein“ 93 vorläge. Zeit wird dann offenbar einzig als fortreißende Sukzession (Zwang und Enge) verstanden, während Raum mit anwesender Offenheit (Freiheit und Gelassenheit) assoziiert wird. Anders lässt es sich kaum nachvollziehen, wieso ausgerechnet in Muße die Erfahrung von Zeit in den Hintergrund treten sollte. Nur wo der Begriff der Zeit derart verengt wurde, dass sie schließlich selbst als eine Beengung erscheint, kann der Eindruck entstehen, „dass die Muße als solche in ihrem Wesen räumlich ist.“ 94 89  In anderem Zusammenhang habe ich das – ausgehend von Descartes, Hegel, Adorno und Levinas – als „nachträgliche Vorrangigkeit“ beschrieben. Gimmel, Konstellationen negativ-utopischen Denkens, 122–131. 90 Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“. 91 Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“, 30. 92  Siehe dazu ausführlich Ute Guzzoni, Weile und Weite. Zur nicht-metrischen Erfahrung von Zeit und Raum, Freiburg 2017. 93 Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“, 31. 94 Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“, 27.

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Konkrete Mußeerfahrungen sind so divergent und ungleichförmig wie ihr schillernder Begriff, mal mehr räumlich, mal mehr zeitlich, mal keines von beiden, immer abhängig von ihrem konkreten Kontext und ‚Gegenstand‘. Konzeptionell ist Muße jedoch, wenigstens mittelbar, insbesondere durch die Ordnung der Zeit geprägt, insofern die mit ihr enggeführte eudaimonia, also das Glück selbstzweckhaften Seins, einen Kontrast (als Ausnahme) zum Alltag der Geschäfte (Unmuße, negotium oder ascholia) impliziert und somit eine charakteristische Differenzierung von Zeiten. Die Idee von der Räumlichkeit der Muße scheint mir demgegenüber vornehmlich durch eine Ästhetik geprägt zu sein, die aufgrund ihrer Visualität Zeitlichkeit kaum positiv in den Blick bekommt. Der Blick weitet sich; er ist nicht mehr in die Enge des Zeitkanals eingeschlossen, in dem das Verhalten sich in Vorher und Nachher einteilt, so dass es immer hinter sich zurück und immer sich voraus ist. Mit einem Mal darf alles einfach nur da sein, und alles gilt gleich viel.95

Warum sollte dieser weite Blick, der sich mit „einem Male“, also offensichtlich vom Augenblick tingiert, einzustellen scheint, nicht ebenso zeitlich verstanden werden, wie er hier als etwas genuin Räumliches visioniert wird? Die Prägung durch ein zeitliches Vorher und Nachher muss an sich weder einen Verlust des „einfach da sein“ bedeuten, noch eine Beengung – genauso wenig, wie ein räumliches Vorne und Hinten eine räumliche Einschränkung darstellt. Warum hier Zeit als ein ‚Kanal‘ verstanden wird, in dem man immer „hinter sich zurück und sich voraus“ sei, wird mir nicht evident, allemal nicht, da es bedeuten müsste, dass die Zeit den Augenblick und damit sich selbst verstellt. Diese paradoxe Konstellation beruht auf einer reduzierenden Identifikation der Zeit mit der Ordnung des Herstellens. Der angebliche „Sukzessionszwang“96 ist Zwang doch nur im Rahmen der Abfolge instrumenteller Verfahrensschritte in der Unterwerfung unter die „Zielorientierung“ des willentlichen Handelns. Zeitvollzüge an sich müssen keinesfalls durch Zwang geprägt sein: Man stelle sich eine einfach zeitliche Abfolge vor, wie etwa das Aufprasseln warmen Dusch­ wassers auf den Körper – ich kann dem keinen Sukzessionszwang zuordnen. Nicht die Zeit, sondern das Um-Zu-Denken der Zweckordnung versetzt in die sogenannte „Enge des Zeitkanals“97. Sie rührt vom selbst- oder fremdauferlegtem Handlungsdruck her. Es wäre richtiger von einer ‚Verengung der Praxis durch Leistungserwartungen‘ zu sprechen, als die atemlose Sukzession-Klemme unserer Zwecke und Ziele der Zeit anzulasten. Ich verstehe darum Muße weniger als eine Zeitvergessenheit denn als eine Amnesie gegenüber der schlechten Unendlichkeit von Pflichten und Anforderungen; sie meint ein ‚zurückgenomme95 Figal,

„Die Räumlichkeit der Muße“, 28. „Die Räumlichkeit der Muße“, 30. 97  Vgl. Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“, 29–30. 96 Figal,

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nes Dasein‘ hinsichtlich der Alltagpraxis und dem Handlungsdruck, nicht aber gegenüber der Erfahrung der Zeit als Dimension unserer Lebenswirklichkeit. Eine andere Art der Zeitenge beschreibt Hermann Schmitz, wenn er sie als eine leiblich bedrängende Plötzlichkeit (und so von ihrem Geschehnischarakter her) begreift: „Ursprung des Leibes ist die primitive Gegenwart durch ihren absoluten Ort, ihre Seite der Enge als Bedrängnis vom Neuen. Deren exemplarische Gestalt ist der Schreck.“98 Schmitz gesteht aber doch zu, dass gerade auch die Gegenbewegung eine zeitliche Dimension aufbewahrt und Zeit im leiblichen Antrieb und der Kommunikation ausagiert. „Der Rückschlag aus der Engung in Weite, die Weitung, verbindet sich mit der Engung zum vitalen Antrieb, aus dem sich die leibliche Dynamik und die leibliche Kommunikation ergeben.“99 Diese Enge der Plötzlichkeit („Bedrängnis vom Neuen“) ist aber ganz anderen Sinns als die Kanal-Enge, von der zuvor die Rede war. Warum auch hier zuerst eine Negativerfahrung (Schrecken) angesprochen wird und nicht das der Plötzlichkeit zukommende Erfahrungsmoment der Überraschung, die ja genauso bedrängend freudig wie erschreckend ausfallen kann, bleibt offen. Jedenfalls stellt das „mit einem Mal“, das oben die Verwandlung der Wirklichkeitswahrnehmung im ‚weiten Blick‘ kennzeichnete, hier eine Plötzlichkeits-Enge dar, die gegenüber der Kanal-Enge offenbar wiederum als eine Weite erfahren werden kann. Auch mit der Rede von ‚Weite und Enge der Zeit‘ droht also der Bildcharakter der Raummetaphern irrezuführen. ‚Überraschung‘ und ‚Wunder‘, die hier wenigstens implizit angesprochen sind, scheinen mir jedoch im Gegensatz zu den klaustrophobischen Metaphern durchaus etwas Wesentliches an der Zeit zum Ausdruck zu bringen. Schließlich sind in diesem Zusammenhang die Untersuchungen Michael T heunissens in der Negativen T heologie der Zeit100 prägend geworden. Er sinnt der Zeit ungemein sorgfältig nach – und doch scheint er sie letztlich am liebsten loswerden zu wollen: eine ungeheure Ambivalenz. Später werde ich im Exkurs zu den Pathologien der Zeit und unter der Überschrift ‚Kairos‘ noch einmal positiv auf T heunissen Bezug nehmen, an dieser Stelle widerspreche ich aber der Grundannahme seiner Zeitphilosophie, insofern sie auf eine „Freiheit von der Zeit“ abzielt. Woher rührt der Wunsch nach einer Freiheit von der Zeit? Mir scheint, der Zeit widerfährt hierbei etwas Ähnliches wie einer Mutter, die trotz bester Sorgeabsicht die grenzenlose Erwartung des Nachwuchses auf unmittelbare Wunsch­ erfüllung enttäuschen muss. Die notwendigen Momente der Versagung rufen Unmut gegen den Quell der Bedürfnisbefriedigung hervor, der sich versagend offenbart und sich damit neben aller Wunscherfüllung zugleich als eine droDer Leib, 132. Der Leib, 132. 100  T heunissen, Negative T heologie der Zeit.  98 Schmitz,

 99 Schmitz,

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hende Schicksalsmacht der Negation darstellt. So erfährt dasjenige den Zorn und die Aversion des ins Bewusstsein taumelnden Kindes, auf das sich seine primären Bedürfnisse richten und das doch nicht botmäßig in totaler Bedürfnis­ identität verharrt, sondern das Kind durch Begrenzung auf dessen Ich zurückwirft. Diese Grenzerfahrung ist der Erfahrung der begrenzten Zeit näher als es zuerst den Anschein nimmt, da beide verschworen zu sein scheinen durch den drohenden Tod als das Andere des Ich und ebenso dadurch, dass sich die Ambivalenz von Glück und Leid tatsächlich als ein Wechsel in der Zeit manifestiert. Wenn von einem Ideal der ‚Freiheit von Zeit‘ die Rede ist und sie als eine erdrückende Zwangsherrschaft angesprochen wird, muss man sich wohl fragen, ob hier nicht eigentlich der Wunsch nach einer Befreiung von der Zeitknappheit und den Momenten des Leids ‚Vater‘ des Gedankens ist. Spricht sich in dem Wunsch nach einer Freiheit von der Zeit nicht eigentlich die Sehnsucht aus, mehr Zeit zu haben und diese als Augenblicke des Glücks erfahren zu dürfen? Zeit ist begrenzt in zweierlei Hinsicht: einerseits durch den Tatbestand, dass man in der Zeit (zu) viel erledigen muss (Handlungsdruck) und andererseits durch das „Missverhältnis von Wunschgröße und Lebensfrist“101, wie Blumenberg ironisch bemerkt, also durch die Begrenztheit im Sinne eines letzten Endes, durch den Tod. Fakt des Lebens ist aber der Tod, oder angesichts des Todes hat man die Zeit des Lebens. Diese Zeitbegrenzung ist – ohne darum etwas von ihrem Schrecken zu verlieren – zugleich unmittelbare Zeiterschließung. Zeitgrenze und Zeiteröffnung fallen zusammen in ihrer unhintergehbaren, absoluten Tatsächlichkeit: Man ist da und es wäre kein Dasein, wenn es nicht zeitlich bestimmt, begrenzt und endlich wäre. Diese Endlichkeit betrifft Gegenwart als solche, denn deren Präsenz ist nichts Statisches, sondern ein Geschehen, das im Augenblick eine Schwelle berührt, für die das Zuvor und das Danach ein Nicht­ sein darstellen – und doch wird im Augenblick als äußerste Endlichkeit die Zeit in Gänze geschenkt.102 Der Handlungsdruck dagegen ist der Logik von Zwecksetzung und Leistungserwartung geschuldet und als Moment menschlicher Praxis unserem eigenen Handeln überantwortet. An dieser Handlungsverantwortung gegenüber der Zeit scheiden sich Zeitknappheit und Zeitgenuss: Wer seine Zeit ständig auf ein Futur der Zwecke hin abstellt, vergeudet gewissermaßen sein reales Leben an eine genussfremde Mittel-Zweck-Ordnung; man betrachtet die eigene Lebenszeit als Mittel für die Zwecke eines immer weiter fortrückenden Später von Erfolgen, die keine Erfüllung versprechen, da sie eben nur als Zwecke begriffen werden. Wir könnten mit der Zeit Besseres anfangen als sie durch den eifernden Ehrgeiz haltloser Praxis zu vertun, wenn wir innewürden, dass wir selbst Zeit sind. VerLebenszeit und Weltzeit, 72. Heidegger untersucht unter dem Begriff der Langeweile eben eine solche Ganzheit der Zeit im Augenblick. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, 222–228. 101 Blumenberg, 102 

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abschiedet man sich von der krypto-ökonomischen Idee eines existentiell vorwaltenden Zeitmangels, dann wird deutlich, dass man sich eben nicht von der Zeit befreien muss, sondern diese vielmehr in vollen Zügen genossen werden sollte – gerade auch angesichts des Todes. In der Charakteristik des Verweilens oder der Lebenszeit formuliert T heunissen Analoges, jedoch stets in Abgrenzung von einer Zeit, deren Endlichkeit vor allem bedrohlich erscheint. T heunissen stellt hinsichtlich des Verweilens den Bezug zur Muße her, wenn er vom Glück der theoretischen und ästhetischen Anschauungen spricht. „Es ist das Glück des Verweilens. Im Verweilen gehen wir mit der Zeit nicht mit […], weil wir in etwas aufgehen. Das Aufgehen in etwas, der theoretischen und ästhetischen Anschauung gleich wesentlich, setzt voraus, daß wir uns gewissermaßen von der Zeit losreißen.“103 Es scheint mir ein seltsamer Gedanke zu sein, der just das Verweilen als ein ‚Losreißen von der Zeit‘ versteht, so also müsste man ihm Beine machen. Was sollte denn zeitlicher sein und wann sonst könnte man mit größerem ästhetischen und theoretischen, vor allem aber auch sinnlichen Gewinn die Zeit genießen als just im Verweilen? Verweilen ist doch wesentlich ein Genuss der Zeit! Taucht nicht das Verweilen ganz in die Zeit ein und lässt sich dabei jede Minute auf der Zunge zergehen? Aber offenbar begreift T heunissen die Zeit, von der es sich zu befreien gilt, in erster Linie als eine indifferente und homogen fortfließende Sukzession, als den abstrakten Zeitfluss einer Endlichkeitsströmung, die keinen Aufenthalt gewährt (also als das, was ich bestenfalls als die Unzeit der Zeitmessung bezeichnen würde). Doch auch hier birgt der Bildgehalt Fallstricke: Wie darf man es sich vorstellen, was es heißen mag, sich vom Strom der Zeit loszureißen? Ist das Losreißen etwa ein Stranden?104 Das scheint allerdings nicht die Intention T heunissens zu treffen, der sich vom Verweilen vielmehr größere ästhetische und theoretische Leistungspotentiale verspricht. Und eigentlich müsste es doch der herrschende Zeitstrom sein, der uns in unerbittlicher Sukzession aus dem Augenblick losreißt – und zwar durchaus auch und gerade dann, wenn wir uns dem Strom des „Aufgehens in etwas“ überlassen. T heunissen verbindet das Bild vom Fluss der Zeit mit dem Handlungs- und Leistungsdruck des geschäftigen Lebens zu einer Art tyrannischen Zeit-Herrschaft, eine, die dem Kronos gleich, pathologisch permanent ihre eigenen Kinder auffrisst. Von dieser verzehrenden Zeit reißt man sich los, wie der Mythos weiß, indem man versteckt in einer Felsengrotte eine ‚Weile‘ ausharrt, um schließlich eine andere Zeit zu begründen. Das Losreißen ist hier zuerst ein Absondern von der Fatalität irrer Selbstvernichtung des wimmelnden Lebens (und es steht für den aristokratischen Ethos des bios theoretikos). T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 57. Die Bedeutung des Strandens kommt meiner Interpretation durchaus zupass. Siehe dazu den III. Teil „Langeweile und 4.0“. 103 

104 

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Gegenüber dem Handlungsdruck stellt das ‚in etwas aufgehen‘ tatsächlich eine Befreiung dar, da es sich nicht darum kümmert, was erledigt sein soll, sondern nur darum, was einen gerade erfüllt. Selbst wenn man die Zeit als Fluss begreift, tritt sie damit aber keineswegs in eine Opposition zum selbstzweckhaften Dasein und selbstvergessenen Tun, denn das Flussbild macht es nicht verständlich, warum die Zeit ihrem Wesen nach als Zeitdruck erscheinen sollte. Es „besagt nicht, daß die Zeit nicht auch in der Weile ‚verfließen‘ würde. Aber die Weile ruht gleichsam im Fluß. Sie schmiegt sich ihm ein, er reißt sie nicht fort.“105 So formuliert Ute Guzzoni, die in sehr erquickender Weise der Versuchung widersteht, den Zeitdruck der Zeit in die Schuhe zu schieben, und stattdessen räum­ liches und zeitliches Erfahren zusammendenkt. Ungeachtet davon, dass das Flussbild zu anhaltenden metaphorologischen Verwirrungen beiträgt, kommt ihm an sich weder im Verständnis des Fließens noch dem des Flusses notwendigerweise ein solcher Schrecken zu, wie er der Zeit bei T heunissen zugeschrieben wird. Letztlich scheint es das ‚Meer des Todes‘ zu sein, in das diese Flussimago seiner Bildlogik nach münden müsste, das gefürchtet wird. Oder vielleicht auch das, was Norbert Elias in seiner Untersuchung Über die Zeit als „die Verwandlung des Fremdzwangs der sozialen Zeitinstitution in ein das ganze Leben umgreifendes Selbstzwangsmuster“106 beschrieb. Genauer betrachtet scheint mir die merkwürdige Verbindung von Verweilen und Entzeitlichung ihren Grund in T heunissens recht einseitiger Parteinahme für die Ewigkeit zu haben. Er führt weiter aus: „In der Freiheit von der Zeit eröffnet sich Gegenwart, indem ich mich für die der Welt öffne; und ich kann mich der Welt nur öffnen, wenn die Leistung, die ich zu vollbringen habe, mich nicht beschlagnahmt.“ – Der Mußeforscher in mir nickt zum Applaus – doch weiter: „Es gibt, wenn ich recht sehe, nur eine Erklärung für den bisher unerklärten Rest: Die Gegenwart scheint in der Tiefe anderes als Zeit zu sein. Das Andere der Zeit nannte die Tradition ‚Ewigkeit‘.“107 – Ein im wahrsten Sinne des Wortes ‚ungläubiges‘ Kopfschütteln entfährt mir nun: Wie kann just die Gegenwart, also die Zeitdimension, die nach Augustinus alle anderen Dimensionen überhaupt zeitlich sein lässt (siehe: Gegenwart der Vergangenheit, Gegenwart der Gegenwart und Gegenwart der Zukunft), im Handumdrehen der Zeit abgesprochen werden? Der augustinische Einbruch der Ewigkeit in die Zeit wäre meiner Ansicht nach ad absurdum geführt, wenn er verstanden würde als eine Entzeitlichung der Gegenwart. Vielmehr gewinnt doch die Ewigkeit in der Gegenwart erst ihre Zeit; Zeit ist, allemal wenn man sie aus einem christlich-heilsgeschichtlichen Blickwinkel ansieht, doch eine Einlösung der Ewigkeit, nicht deren Beraubung, denn ganz patristisch argumentiert ist Vollkommenheit doch der Beraubtheit Weile und Weite, 37. Über die Zeit, XVIII–XIX. 107  T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 60. 105 Guzzoni, 106 Elias,

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gar nicht fähig, sondern bestenfalls vermögend, sich auch zeitlich zu vollenden. Zeit ist Inbegriff von Wirklichkeit und sich von dieser zu befreien, scheint mir kaum erstrebenswert – auch nicht für Gott oder die Ewigkeit. 2.3. Allzeiterneuerte Gegenwart und Richtung Ich habe mich bemüht, mit Augustinus zu zeigen, dass die Zeit ein besonderes ‚Äquivokationsverhältnis‘ zur Ewigkeit (als wechselseitiges Hervorrufen von Zeit und Ewigkeit) ausprägt, doch das heißt meines Erachtens nach keinesfalls, dass Zeit dabei als ein Ewigkeitsmangel oder Ewigkeitsabklatsch ‚schlechter Unendlichkeit‘ verstanden werden müsste oder sollte: Die Ewigkeit bringt den Zeitcharakter vielmehr eigens zur Geltung. Um im theologischen Vokabular zu bleiben: Das Wunder des Geschehens der Zeit ist „Ewigkeitseinlösung“, sie scheint einzig in der Zeit auf, da nur die Zeit Einzigartigkeit birgt. Wundersam ist die Zeit selbst, das Dass-des-Jetzt als eine Offenbarung der Welt im Augenblick. „Sie [die Offenbarung] erneuert die uralte Schöpfung zur immer neugeschaffenen Gegenwart, weil schon jene uralte Schöpfung selber nichts ist als die versiegelte Weissagung, daß Gott Tag um Tag das Werk des Anfangs erneuert.“108 Eine solche stets erneuerte Gegenwart hatte ich mit meiner Interpretation der creatio continua im Sinn. Begreift man Zeit als bloße Privation der Ewigkeit, so nimmt man dieser selbst das Leben, da sie beraubt um die Lebendigkeit der Zeit dazu verurteilt wäre, in leerer Abstraktion zu erstarren. Vielmehr zeigt sich (oder erklingt) Ewigkeit, beim zeitgewordenen Wort genommen, als Resonanztiefe des Zeitgeschehens, als das Wunder eines völlig offenbaren Daseins, das im Augenblick Zeit als Ganzheit aufruft, obgleich und weil es diesen Augenblick als Schwelle nicht festhalten kann (siehe hierzu das Kapitel 3). Der Eindruck von einer Ohnmacht angesichts der Endlich- und Vergänglichkeit und das nagende Gefühl von der eigenen Unzulänglichkeit angesichts der immerzu zu knappen Zeit entspringen vielleicht auch einer latenten Vorstellung von Werkheiligkeit, so als ob wir uns selbst in der begrenzten Zeit nicht bloß zu erledigen, sondern am besten zu vervollkommnen hätten, um einem Anspruch begegnen zu können, den sicherlich nicht die Zeit an uns stellt. Diese unterschwellig sündentheologisch aufgeladene Übertragung poietischer Handlungslogik auf das „Gelingen“ des Lebens und die Geschichte (Notwendigkeit des Fortschritts) – das was Weber als Geist des Kapitalismus ansprach – müsste keineswegs charakteristisch für das Zeiterleben sein. Gegenüber dem Leistungsdruck der Handlungswelt würde gerade durch Muße und das Verweilen möglich, Zeit in einer Art des ‚Wirklichkeits-Genusses‘ zu erfahren. So könnte das Zeithaben des Zeitseins gegen die Entfremdung von der Zeit ausgespielt werden. T heorie und Ästhetik lassen sich als solche Genuss108 Rosenzweig,

Der Stern der Erlösung, 123.

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formen von Zeit verstehen, selbst dann, wenn sie gerade dabei sind, den Echoraum der Ewigkeit mit ihren Zeitfühlern abzutasten. Zeit prägt einen spezifischen Richtungssinn aus: aus der Vergangenheit in die Zukunft bei der Folge eines Späteren auf das Frühere. Dieses besondere Merkmal gegenüber dem Raum109 wird der Zeit allerdings übel angerechnet, wenn es als ein Richtungszwang gedeutet wird, der kanal-, linien- oder reihenförmig vorgestellt als beengende Eindimensionalität der Folge erscheint, während einem – von Zeitzwängen befreiten – Raum offene Orientierungsmöglichkeit zugeschrieben wird. Wenn darüber hinaus die Sinnrichtung der Zeit mit der Zweckausrichtung des Handelns identifiziert und der Zeitsinn mit einer poietischen Struktur der Hervorbringung gleichgesetzt wir, dann werden kurzerhand auch die konkreten Handlungszwänge des Lebens der Zeit angelastet – man spricht dann von Zeitdruck. Doch die uns geschenkte Zeit, die hier knapp zu werden scheint, wird im Alltag nur darum eng, weil wir sie mit einer Unmenge an Terminen zupflastern, ja regelrecht vermüllen. Auch die wenig hinterfragte Gegebenheit der Zeitrichtung ist vielleicht weniger eindimensional als man sie sich vorzustellen gewohnt ist. Ausnahmsweise lässt sich das in Analogie zum Raum verstehen: Die Raumrichtungen (oben, unten, vorne, hinten, links, rechts, Westen, Osten) sind als Richtungen einzig für etwas im Raum gültig, das relativ zu anderem Räumlichen eine bestimmte Position einnimmt; der Raum absolut aufgefasst hat keine Richtungen – ein Umstand, der zur Vorstellung der Offenheit des Raumes wesentlich beiträgt. Doch alles, was konkret eine räumliche Position einnimmt, ist dabei genauso zwangsausgerichtet, wie es angeblich die Zeit ist: das Oben ist eben immer oben, das Unten unten, Vorne vorne und so weiter. Die Position von etwas Räumlichem lässt sich zwar in Relation zu anderem verändern, es kann also wechseln, was oben und vorne ist, aber nicht, dass oben und vorne ist. Die Offenheit des Raumes verdankt sich im Grunde einer von der Zeit geborgten Potentialität der Positionsveränderung. Man kann sich selbstredend umwenden, auf die Seite blicken, auf den Kopf stellen und erfährt dann den Raum als etwas, wozu meine jeweilige Position relativ ist, als räumlicher Horizont der Relationalität (Synopse) ist er aber absolut. Nun ist es aber doch gerade in der Zeit keineswegs so, dass wir stets nur in die Zukunft blicken würden, denn wir sehen in ihr ebenso auf Vergangenes und Gleichzeitiges, indem wir es im Sinne Augustins vergegenwärtigen. Ich werde weiter unten noch darauf zurückkommen, dass diese Multidirektionalität für Zeitvollzüge sogar wesentlich ist. Wie sich im Raum etwas räumlich einrichtet, indem es eine Position einnimmt, von der aus sich das Relationsgefüge des Rau109 

Weder die Zeit im Sinne der physikalischen Konstruktzeit noch die reine Form der Anschauung rufen solche Richtung an sich auf. Es ist das konkrete In-der-Zeit-sein, das sich ausrichtet; dazu später mehr. Doch auch im Raum ist man konkret immer einer Richtung, einem Ort oder Gegenstand zugewandt. Raumrichtung wird als Perspektive angesprochen.

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mes gewissermaßen ausspannt, so lässt sich das durchaus parallel von der Zeit sagen: Während in der Zeit eine Vielzahl an zeitlichen Bezügen (früher, später, noch immer, während etc.) zugleich aufblitzt, ergeben sich in diesem Geschehen besondere Zeitmanifestationen erst durch eine Identifikationsleistung, die die Zeitrichtung als einen Vollzug ansprechbar macht. Ich habe das im ersten Teil als narrative Refiguration angesprochen (als den erklingenden Grundton, der eine Vielzahl von Zeitintervallen zu einem Akkord oder in einer Harmonie fasst) und komme gleich darauf zurück. Zeitvollzüge identifizieren sich selbst und anderes also nach dem Schemas Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft (V-G-Z). Das bedeutet aber keineswegs, dass nicht zugleich eine zeitliche Rela­tionsoffenheit oder temporale Multidirektionalität bestehen könnte. Nimmt man die Kritik am Newton’schen Begriff einer absoluten Zeit ernst, wird man das Schema V-G-Z nicht länger der Zeit an sich zuschreiben können. Den besonderen Zeitsinn gewinnt ein Zeitvollzug durch die Reflexion auf seinen Anfang und sein Ende, durch die sich der Tumult zeitlicher Bezüge in eine temporale Sinnrichtung bringen lässt. Man sollte also auch hier besser von einer Vielzahl an Zeitausrichtungen sprechen, die sich erst auf einer zweiten Ebene in eine zeitliche Universalausrichtung eingliedern. Man ist temporal keineswegs nur nach vorne in eine Zukunft ausgerichtet, sondern sehr oft auf die Vergangenheit oder auf eine Gleichzeitigkeit anderer Zeitvollzüge, auf Zeitalteritäten (Polytemporalität) – und zwar in einem einzigen Moment: Vergegenwärtigen, Erinnern und Antizipieren sind nicht voneinander gesondert zu verstehen (hierzu im folgenden Abschnitt). Im zeitlichen Ausrichten treten disparate Zeitvollzüge zueinander in Bezug und so prägt sich eine Gegenwart als asynchrone Multidirektionalität aus. Als Geschehnis-Hintergrund hat die Zeit keine Richtung, sondern gibt eine Vielzahl an temporalen Richtungen frei. Zeit ist ein Tumult von Zeiten und diese Zeiten erfassen, refigurieren sich selbst, wenn sie sich aus der Vergangenheit in die Zukunft einer Offenheit vielfältiger Zeitbezüge forttragen. Das Schema V-G-Z erschließt als Richtung einen Sinn in der Mannigfaltigkeit zeitlicher Sinnlichkeiten. Die vermeintliche Unidirektionalität der Zeit, ihr Verlauf aus der Vergangenheit in die Zukunft, hat ihren Erfahrungsgehalt im Nichtmehr und Nochnicht konkreter Ereignisse. Solange sich diese temporalen Negationen auf Ereignisse beziehen, die nicht durch die Einordnung in eine sie umfassende Periode, einen Zeitvollzug, ausgerichtet sind, geben sie aber keinen unumkehrbaren Richtungspfeil vor. Die Dramatik der Unumkehrbarkeit kommt erst auf, wenn das Nochnicht und Nichtmehr in Zeitvollzüge eingezeichnet sind, die (virtuell) von einem Anfang bis zu einem Ende überschaut werden. Die Vorstellung eines „immer nur nach vorne“ der Zeitrichtung (von Anfang bis Ende) stellt sich nur im virtuellen Überblick über den gesamt Zeitvollzug oder im Nachhinein verbindlich ein (dazu im Abschnitt „Zeitgrenzen“ und „Augenblick, Kairos, Ereignis“). Dieser virtuelle Überblick über die Vollzugsidentität in der Zeit, ist nun alles andere als unwirklich, sondern vielmehr ein genuiner Wirklichkeitsvollzug, durch

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den wir uns ganz real ausrichten, während wir uns in unterschiedliche Zeitrichtungen ausstrecken (distentio). Die Frage bleibt, wie man (oder etwas) sich konkret zeitlich ausrichtet. Ich werde im Folgenden zwei miteinander vermittelte Formen der Ausrichtung unterscheiden: Einerseits das Erinnern und Antizipieren und andererseits das Narrativ der Lebensgeschichte, der biographische Blick. 2.4. Erinnern, Wahrnehmen, Antizipieren und das Fokussieren auf Ereignisse Im Grunde genommen täuscht die Rede von der Ausrichtung im Erinnern und Antizipieren über den Umstand hinweg, dass man sich dabei jeweils zugleich in alle möglichen Richtungen wendet. Ich werde in aller sträflichen Kürze Anleihen bei dem faszinierenden und schwierigen Buch Materie und Gedächtnis machen, um diesen Umstand zu erläutern. Bergson entfaltet dort eine T heorie zum Körper-Geist-Verhältnis: Wirklichkeit stelle sich, unvoreingenommen an sie herangetreten, als eine Art Verkettung von Eindrücken dar, man befinde sich in einer Präsenz von „Bildern – im vagsten Sinn, in dem man dieses Wort nehmen kann“110 („en présence d’images, au sens le plus vague où l‘on puisse prendre ce mot“). Diese ‚Bilder‘ oder Eindrücke stehen zueinander im Verhältnis gesetz­ mäßiger Beziehungen; die Verkettung von Eindrücken entfaltet sich durch die Dynamik von Reiz und Reaktion: Ein Bildeindruck stößt unmittelbar einen Reaktionsimpuls an, eine Bewegung. Das gesamte Weltgeschehen wird durch die alle Materie bestimmende Verknüpfung von Eindrucks- und Bewegungsimpulsen ausgebildet. Lebendige Organismen entfalten nach Bergson eine Organisation der Eindruck-Perzeption (es gibt Ähnlichkeiten zu Leibniz’ Monadenlehre), die es ihnen möglich macht, zwischen Reiz und Reaktion eine Unterbrechung einzufügen, innezuhalten. Diese zeitliche Unterbrechung ist es, die es gestattet, den Automatismus von Bildimpuls und Bewegungsimpuls zu durchbrechen, und, salopp gesagt, ‚in der Reaktions-Pause‘ die Wahrnehmungen mit Gedächtniseindrücken in Bezug zu setzen. Das Gedächtnis „wartet […] bloß darauf, daß sich ein Riß zwischen dem aktuellen Eindruck und der ihn begleitenden Bewegung auftut, um seine Bilder dort hindurch zu schieben.“111 Der Bewegungsimpuls wird quasi durch eine Unterlassung ausgesetzt, wodurch sich die Wahrnehmung den Erinnerungen öffnet und mit ihnen diffundiert. Das Bewusstsein – von dem erst gesprochen werden kann, wo eine Kontinuität zwischen Erinnerung und Wahrnehmung gestiftet ist – ergibt oder ‚ereignet‘ sich aus dieser zeitlichen ­Lücke heraus. Zudem gewinnt der Körper Indeterminiertheit, man könnte

110 Bergson,

111 Bergson,

Materie und Gedächtnis, 15. Materie und Gedächtnis, 115.

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sagen ‚Freiheit‘, da sich, vom Automatismus der Impulsreaktion gelöst, im Innehalten und durch die Infiltration der Wahrnehmung durch das Gedächtnis alternative Möglichkeiten der Bewegungsreaktion anbieten. Das Wahrnehmungsbild ruft also nicht notwendigerweise unmittelbar einen entsprechenden Bewegungsimpuls hervor, sondern dadurch, dass die Wahrnehmung im Aktionsaufschub mit Erinnerungen aufgeladen wird, eröffnet sich ein ganzes Spektrum an alternativen Reaktionsweisen, die frei zum Reaktionsanschluss bereitstehen. Dass eine somatische Muße-Disponibilität des Innehaltens hier zum Fundament des Geistes wird, sei nur nebenbei erwähnt. Wichtig ist, sich klar zu machen, dass Wahrnehmungen (wenigstens im Fall des Menschen) grundsätzlich mit Erinnerungen verwoben sind und so erst eine Form der Handlungsperspektive (also Zukunft) eröffnen. Unsere Wahrnehmungen sind zweifellos von Erinnerungen durchtränkt, und umgekehrt wird eine Erinnerung, wie wir es später zeigen werden, nur wieder gegenwärtig, indem sie den Körper irgendeiner Wahrnehmung borgt, in die sie sich einfügt. Diese beiden Akte, Wahrnehmung und Erinnerung, durchdringen einander also stets und tauschen durch ein Endosmosephänomen immer etwas von ihrer Substanz aus.112 Man könnte sagen, daß wir keinen Zugriff auf die Zukunft haben, ohne eine gleichrangige und entsprechende Perspektive auf die Vergangenheit, daß der Vorwärtsdrang unserer Tätigkeit hinter sich eine Leere entstehen läßt, in die die Erinnerungen einschießen, und daß so das Gedächtnis der Widerhall der Indeterminiertheit unseres Willens in der Sphäre der Erkenntnis ist.113

Unabhängig von den Einzelheiten der Bergson’schen Konzeption und all ihren Schwierigkeiten wird man doch tatsächlich nie davon sprechen können, dass man ausschließlich in der gegenwärtigen Wahrnehmung wäre, ausschließlich bei einer Erinnerung oder in der Antizipation einer Zukunft. Ausschließlich von Gegenwart, Erinnerung oder Antizipation befangen zu sein, müsste geradezu bedeuten, das Bewusstsein dabei zu verlieren, da keine Möglichkeit offen stünde, sich zu diesen Bezügen in Verhältnis zu setzen. Das Bewusstsein von einem Eindruck muss zugleich immer auch bei Erinnerungen und Erwartungen sein, damit dieser Eindruck mental haften bleibt und eingebunden ist. Umgekehrt benötigen auch Erinnerungen einen Halt an den konkreten Wahrnehmungen, um sich aktualisieren zu können. Für Antizipationen gilt diese Durchtränktheit mit Wahrnehmung und Gedächtnis allemal. Kurz: Alle zeitlichen Ausrichtungen im Sinne des Erinnerns, Wahrnehmens oder Antizipierens werden den jeweiligen Zeit-Fokus nur gewinnen, indem zugleich eine Verknüpfung mit den anderen Zeitrichtungen vollzogen und so eine Art vieldimensionales Zeitgewebe (siehe Polytemporalität) ausgebildet wird. Wir haben es mehr mit einem Gespinst von

112 Bergson, 113 Bergson,

Materie und Gedächtnis, 74. Materie und Gedächtnis, 72–73.

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Zeitbezügen zu tun als mit Zeit-Pfeilen. Noch näher liegt das Bild eines Gewitters im Sinne eines Gespinsts von Bezügen als Geschehnis.114 Worauf sich unser Fokus beim Erinnern, Antizipieren und Wahrnehmen durchaus eindeutig richtet, sind Geschehnisse im Sinne dessen, was als Grenzen in der Zeit angesprochen wurde: Ereignisse, Anfänge und Enden. Diese Zeitgrenzen liegen jedoch nicht einfach vor, sondern gewinnen ihre Gestalt erst in einem repräsentierenden Blick, der das flimmernde Ineinanderübergehen von Erinnern, Wahrnehmen und Reaktionsimpulsen zu Ereignissen bündelt und diese dadurch konstituiert. Ereignisse müssen sozusagen erst ‚ersehen‘ werden (in einem synästhetischen Sinn), bevor sie dem Erleben zugänglich sind. Das Fokussieren selbst lässt eine Art virtuelles Objekt – dessen Wirklichkeit durch die Virtualität nicht im Geringsten geschmälert wird – als Grenze der Zeit (Ereignisse, Anfänge, Enden) entstehen. In die Abfolgen von Wahrnehmungen, Erinnerungen und Impulsen werden solche Zeitgrenzen (eschata) als Ereignisse eingelassen, so dass unsere flimmernde Aufmerksamkeit an diesen Halt findet. Das Erinnern und Wahrnehmen an sich ist keineswegs ‚virtuell‘, bleibt ungerichtet aber eo ipso spezifisch uneindeutig und multidirektional – ungerichtet offen, könnte man sagen. Die Ausrichtung auf Ereignisse dagegen besteht gerade darin, diese Offenheit an einer Repräsentation als Grenze zu orientieren: Richtet man seine Aufmerksamkeit zum Beispiel auf ein Geschehnis der Vergangenheit, dann wird es durch diesen Fokus im Spiel der Erinnerungen, Wahrnehmungen und Erwartungen erst Form annehmen – darum sind wir beim Erinnern vom Erinnern auch immer wieder überrascht. Das meine ich mit Virtualität. Sie ‚gilt‘ genauso für fokussierte Wahrnehmung und Antizipation. Der Fokus auf das Ereignis verdankt sich wesentlich dem Status, dass etwas als Ereignis gilt, und umgekehrt erweist sich das Ereignis als ein virtueller Effekt des Fokussiertseins. In diesem Sinn ist das Sichfokussieren in der Zeit ein Projizieren und Projekt (insoweit diese Begriffe durch virtuelle Grenzen in der Zeit – gleichgültig ob in der Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart – bestimmt sind). 114  Bergson benutzt durchaus auch problematische Zeit-Bilder, doch er verfremdet sie zugleich und rekomponiert sie in einer sach- d. h. zeiterschließenden Weise, z. B.: „Doch schon von jetzt an können wir vom Körper als einer sich bewegenden Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit sprechen, einer beweglichen Spitze, die unsere Vergangenheit unaufhörlich in unsere Zukunft schöbe. Während mein Körper, wenn man ihn in einem einzigen Augenblick betrachtet, nur ein zwischen die Gegenstände, die ihn beeinflussen, und jene, auf die er einwirkt, gestellter Leiter ist, befindet er sich im Gegenzug, wenn man ihn wieder in die verfließende Zeit zurückversetzt, immer genau an dem Punkt, in dem meine Vergangenheit in eine Handlung ausläuft.“ Bergson, Materie und Gedächtnis, 88. Die Zeit wird hier sowohl als Sphäre/Hintergrund beschrieben, in der sich das Zeitliche vollzieht, „vorschiebt“, als auch als ein Fließen, das nun aber gerade nicht die Aktualität auszeichnet, sondern die Vergangenheit der Erinnerungsfolgen. „Wir nehmen praktisch nur die Vergangenheit wahr, denn die reine Gegenwart ist das ungreifbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt.“ Bergson, Materie und Gedächtnis, 190.

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Damit komme ich zu dem zweiten Aspekt der zeitlichen Ausrichtung, nämlichen dem narrativen, der sich mit Paul Ricoeur (und in anderen Worten auch mit Niklas Luhmann) als eine Refiguration der Zeit verstehen lässt: Die Eindeutigkeit des Früher-Später-Vektors bezieht sich auf punktuelle Ereignisse, der Vektor von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft dagegen auf Zeitspannen, die durch die Ereignisse eines Anfangs und eines Endes begrenzt werden. „Die Unterscheidung von Vorher und Nachher dient der Definition von Ereignissen. Die Unterscheidung von Anfang und Ende dient der Definition einer Periode,“115 stellt Niklas Luhmann lakonisch-terminologisch fest. Für ihn und im Folgenden auch für mich wird aber die heikle Frage zum T hema, wie man diese Zeit-Grenzen „beobachten“ kann. Für Luhmann scheint das Ereignis, das ein Vorher und Nachher ansprechbar werden lässt, „einfacher zu handhaben, [denn die Unterscheidung] kommt am Ereignis zur Evidenz.“116 In der Auseinandersetzung mit Bergson hat sich gezeigt, dass gerade ‚Evidenz‘ in diesem Zusammenhang alles andere als ‚einfach‘ ist, da sie sich erst durch aktives Fokussieren (oder in der Terminologie Luhmanns „Beobachten“) aus einer komplexen Diffusion von Erinnern, Wahrnehmen und Antizipieren ausbildet. Ereignisse werden sozusagen virtuell gesetzt durch unser Aufmerken auf sie und entfalten darin Evidenz. Spricht man nur von Erinnerungen, Wahrnehmungen und antizipierten Ereignissen, gilt für sie der eingeschränkte Richtungssinn eines Vorher und Nachher, die einfache Unterscheidung durch Ereignisse als zeitliche Scheidepunkte (vor oder nach dem Beinbruch oder ähnliches). Im Falle von Anfang und Ende verstärkt sich das Evidenzproblem, denn sie erweisen sich als nicht ‚sichtbar‘ oder selbstevident. Natürlich kann ein System sein eigenes Anfangen und Enden nicht im Moment des Anfangens und Endens beobachten, sondern nur zwischendrin. Der Anfang kann nur im Nachhinein erzählt werden, und die Erzählung wird auf die Folgen des Angefangenhabens reagieren. Am Anfang war das Wort. […] Erst nach dem Anfang bildet sich eine Mythologie, die erzählt wie es angefangen hat […]. Das System beobachtet mithin sein Schonangefangenhaben und sein Aufhörenkönnen.117

Dass der nüchterne Systemtheoretiker hier auf das Konzept der Erzählung, ja gar auf das der Mythologie zurückgreift, ist bezeichnend. Tatsächlich ist hier eine realitätsstiftende Funktion der Erzählung angesprochen, die immer dann ins Spiel kommt, wo Zeit als Geschichte begriffen wird. Mit dem Richtungssinn Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft (V-G-Z) wird Zeit als Geschichtlichkeit angesprochen. Dieser Sinn impliziert Zeitspannen, die sich zwischen Anfängen und Enden ausbreiten. Hier ist nicht die Rede 115 Luhmann,

„Anfang und Ende. Probleme einer Unterscheidung“, 18. „Anfang und Ende. Probleme einer Unterscheidung“, 18. 117 Luhmann, „Anfang und Ende. Probleme einer Unterscheidung“, 20. 116 Luhmann,

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von Anfängen und Enden, die man quasi als äußerer (göttlicher) Beobachter auf einem Zeitstrahl eintragen könnte. Eine solche Vorstellung, die eine Außenposition gegenüber der Zeit imaginiert, hypostasiert die Zeit als Funktion verstanden (im Sinne der Begriffen Fluente und Fluxion) zu einer potentiell unendlichen Verkettung von Jetztpunkten, in die eine Strecke mittels zweier Grenzmarkierungen eingezeichnet werden kann. Eine solche Strecke hat an sich keine Richtung. Der Zeitsinn Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft wird gerade nicht ersichtlich, wenn man eine bestimmte Zeit sozusagen ‚von außen‘ einzeichnet, sondern kommt erst zur Geltung, wenn man sich selbst ‚innerhalb‘ einer Zeitspanne befindet. Der Sinn V-G-Z ergibt sich nur für eine Zeit­ immanenz, nur im „zwischendrin“, wie Luhmann es nennt. Ein (Ver-)Fließen ohne Anfang und Ende (Quelle und Mündung) mag ‚irgendwie‘ (wie paradox das auch sein mag) ausgerichtet sein, aber doch ohne eindeutigen direktionalen Sinn, solange es eines Anfangs und Endes entbehrt. Zeitimmanenz vollzieht sich dagegen wesentlich in ihrem Bezug zu Anfang und Ende und nimmt damit die Form der Geschichtlichkeit in einem weiten, sowohl individuellen, wie auch gesellschaftlichen und natürlichen Sinn an, sie erzählt das Geschehen eines Endlichen in seiner Zeit. Eben diese Geschichtlichkeit des Zeitvollzugs geht der (physikalischen) Konstruktzeit einer homogenen Abfolge von Jetztpunkten ab, da sie nicht als Vollzug einer Zeitspanne konstruiert ist, sondern als eine bloße Abfolgestruktur, die als äußerliches Maß an zeitliche Phänomene nur skalierend angehalten werden kann (das verleiht dieser Zeitvorstellung den Anschein der Umkehrbarkeit). Geschichte vollzieht sich dagegen in Epochen als Zeitspannen und diese beziehen sich immer auf zeitliche Haltepunkte oder Kehren (epechein, siehe I.4.), zwischen denen sie sich ausspannen. Über diese Zeitmarken, über die Anfänge und Enden, verfügt aber ausgerechnet die Epoche am wenigsten, die durch sie ausgespannt wird (weder im Sinne ihrer genauen Bestimmbarkeit noch im Sinne der Macht, sie zu setzen. Siehe 1.4.). Damit steht alles Geschichtliche grundsätzlich in Analogie mit der Lebensspanne und der Biographie und aus dieser Analogie heraus bietet es sich an, Geschichtsspannen (zum Beispiel einer Nation, der Aufklärung, des Mittelalters und so weiter) wie lebendige Subjekte anzusprechen.118 Hier ist ein Anknüpfungspunkt mit der sogenannten „Lebenszeit“ zu suchen, die sich ausgehend von der antiken, insbesondere platonischen und plotinischen Tradition des Äon herleitet und die Zeit durch die Verknüpfung des Lebens mit der Ewigkeit bestimmt, sowohl als Vollzug als auch als Vollen118  Siehe dazu Jochen Gimmel, „Zum Begriff des Nicht/Handelns und der Hoffnung, Geschichte zum Stillstand bringen zu können“, in: T heo Jung (Hg.), Zwischen Handeln und Nichthandeln. Unterlassungspraktiken in der europäischen Moderne, Frankfurt/New York 2019, 293–319. Zur Bildung des Selbst durch Erzählung siehe Dieter T homä, Erzähle dich selbst: Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Frankfurt am Main 2007.

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detheit.119 Dieser Äon-Lebens-Zeit des Ewigen geht das eigentlich biographische Moment jedoch ab, wodurch sie auch nicht als Zeitspannen einer Geschichte erscheint.120 Geschichtlichkeit kommt erst als grundlegendes Leitmotiv mit der Moderne zur vollen Geltung und damit wird das Wechselverhältnis von geschichtlicher Zeit und Erzählung höchst brisant. Hier zu lesen bei Hegel: Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl als subjektive Seite und bedeutet ebensogut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst; sie ist das Geschehen nicht minder wie die Geschichtserzählung. Diese Vereinigung der beiden Bedeutungen müssen wir für höherer Art als für eine bloß äußerliche Zufälligkeit ansehen: es ist dafür zu halten, daß Geschichtserzählung mit eigentlich geschichtlichen Taten und Begebenheiten gleichzeitig erscheine; es ist eine innerliche gemeinsame Grundlage, welche sie zusammen hervortreibt. […] Die Zeiträume […], welche den Völkern vor der Geschichtsschreibung verflossen sind […], sind darum ohne objektive Geschichte, weil sie keine subjektive, keine Geschichtserzählung aufweisen.121

2.5. Erzählte Zeit Man sollte die Aussage Hegels, dass es sich um keine zufällige Koinzidenz von Erzählung und Ereignis in der Geschichte handelt, sondern um eine ‚Gleichzeitigkeit, die eine gemeinsame Grundlage hervortreibt‘, überaus ernst nehmen. Er meint mit dieser Gleichzeitigkeit die fortwährende Konstitution des Staates als geschichtliches Subjekt, denn „der Staat erst führt einen Inhalt herbei, der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, sondern sie selbst mit erzeugt.“122 Der Staat erzeugt durch seine geschichtliche Tatkraft Erzählungen und konstituiert sich damit selbst, denn die Erzählung vom Staat bildet gewissermaßen dessen Leib als historischen Akteur – ohne die ‚Erzählung vom Staat‘ gäbe es 119  „So sann er [der kosmologische Schöpfer-Gott] darauf, ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit zu gestalten, und machte, dabei zugleich den Himmel ordnend, dasjenige, dem wir den Namen Zeit beigelegt haben, zu einem in Zahlen fortschreitenden unvergänglichen Bilde der in dem Einen verharrenden Unendlichkeit.“ Platon, Timaios 37d (zitiert nach Platon, Platon. Politikos, Philebos, Timaios, Kritias, übers. v. Friedrich Schleiermacher u. Hieronymus Müller [Platon Sämtliche Werke V], Hamburg 1959). Ich möchte auch hier darauf hinweisen, dass man die Zeit durchaus nicht als bloße Privation der Ewigkeit verstehen muss, wenn sie als das bewegliche Bild der Unvergänglichkeit angesprochen wird, als in Zahlen fortschreitendes unvergängliches Bild der verharrenden Unendlichkeit. Die paradoxen Formeln legen meines Erachtens vielmehr eine Interpretation nahe, die die Ewigkeit gleichermaßen als Manifestation der Zeit, wie die Zeit als Manifestation der Ewigkeit versteht in einer unauflösbaren Verschränkung, einem Ineinander von Zeit und Ewigkeit. 120  Siehe dazu ausführlich im folgenden Kapitel I.4. Außerdem: Jochen Gimmel, „Auf zum Tanz! Von der Revolution als Fest und der ‚Ungeheuerlichkeit ihrer Zwecke‘“, in: Elisabeth Cheauré/Jochen Gimmel/Konstantin Rapp (Hg.), Verordnete Arbeit – Gelenkte Freizeit. Muße in der Sowjetunion? (Otium 23), Tübingen 2021, 109–144. 121  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke 12), 11. Aufl., Frankfurt am Main 2015, 83–84. 122 Hegel, Philosophie der Geschichte, 83.

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ihn nicht. Alle Staaten sind, genauso wie alle anderen idealen Entitäten auch, wesentlich Erzählung und zu einer Idee ausgebildete Narration. Sie sind darauf angewiesen, immer wieder nach einem bestimmten Schema – analog zum Schematismus Kants123 – mit der konkreten Lebenserfahrung verbunden und in dieser Verbindung hervorgerufen zu werden. Der Schematismus der Idee ließe sich als Narration ansprechen: Das Erzählen birgt die synthetische Kraft, Allgemeinbegriffe fassbar und in einer eigenartigen Wirklichkeit, nämlich Wirksamkeit, entstehen zu lassen. Erlischt ein Begriff vom Staat und wird er nicht mehr durch Erzählung im weitesten Sinne (zum Beispiel vom Urtrauma am Beginn einer Gesellschaft, von der Überwindung einer Tyrannei, vom gemeinsamen Projekt einer Sterne besiedelnden Zukunft oder dem Souveränitätsakt des Volkes in der Feuertaufe einer Revolution) aktualisiert, dann müsste er das Schicksal teilen, das viele einem Gott an den Hals wünschten, dessen lästiger Überkommenheit sie sich durch die Nirwanisierung im Vergessen entledigen wollten. Erzählungen solcher Art üben aber einen derartigen narrativen Sog aus (nicht zuletzt durch den Zwang das Es-gilt-als zu prädizieren), dass sie als geschichtliche Subjekte reale Tatkraft entfalten. Die leiblichen und dinglichen Vollzugselemente (Menschen, Tiere, Dinge, Prozesse und Maschinen) der historischen Ideen- und Narrations-Agenten (Staaten, Religionen, Unternehmen, Projekte etc.) erscheinen sich selbst bloß mehr als Marionetten, die von den machtvollen Geistergebilden ihrer historischen Wirklichkeit an Fäden gezogen werden. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie real die Virtualität (Zweite Natur oder ähnliches), die durch Erzählung (und den Fokus auf Ereignisse) ausgebildet wird, Geschichte bestimmt. Und es wird deutlich, wie sich eine geschichtliche Ausrichtung in der Zeit ausbildet, nämlich durch die Narrative des Anfangs und Endes (des Zwecks, der Absicht, des Sinns), die erst die geschichtliche Zeitspanne erzählend und begrifflich spekulierend konstituieren. Meist sind solche Fälle geschichtlich-narrativer Performanz (wie etwa der Staat) reif für das T herapeutikum der Ideologiekritik. Im besten Fall werden solche Erzählungen (wieder) der Macht unterstellt, das zu erzählen, was man auch erzählen will. Diese Macht der Erzählung über die Wirklichkeit als eine Form der Verwirklichung zu begreifen, stellt gewissermaßen die Erzählung der Aufklärung dar.124 Aber auch auf basalerer und individueller Ebene zeigt sich eine ähnliche Funktion von Erzählung. Paul Ricoeur hat ihr sein dreibändiges 123  „Die Idee bedarf zur Ausführung ein Schema, d. i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 861, siehe auch: Gimmel et al., An den Grenzen der Muße, 8). Dass sich dieses Schema der Idee mit Kant narrativ verstehen lässt, wird klar, wenn es um die realgeschichtliche Verwirklichung von Ideen geht, siehe folgende Fußnote. 124  Siehe dazu Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, Neunter Satz, in: Immanuel Kant, Abhandlungen nach 1781 (Kants Werke. Akademie Textausgabe 8), Berlin 1968, 15–32. Immanente Kritik kann in diesem Sinne als eine Kritik des narrativen Vermögens verstanden werden; siehe dazu auch den letzten Essay IV.

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Werk Zeit und Erzählung gewidmet. Die Grundthese lautet, „daß die Zeit in dem Maß zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“125 Damit sind wir wieder bei der Grundfrage angelangt, wie man sich in der Zeit zeitlich ausrichtet. Man könnte wohl sagen: indem man sich (und seine Wirklichkeit) erzählt. Angenommen es gäbe eine unmittelbare Zeiterfahrung – etwas, das es tatsächlich nicht gibt –, bliebe das Selbstsein, das Zeit ist, nicht in der Zeit aufgefasst; es wäre in bloßer Unmittelbarkeit temporal verwaist und verloren. Beim zeitlichen Sichereignen muss sich das Selbst immer auch erfassen als ein ‚Ich bin das‘, um sich und anderes in der Zeit überhaupt als Identisches ansprechbar werden zu lassen. Der vorlogischen Forderung nach einer „Einheit der Apperzeption“, nach einem „Ich, das alle meine Gedanken muss begleiten können“, tut es keinen Abbruch, dass diese Einheit, die ja beharrlich geschieht (siehe Teil 1), immer wieder prozessiert werden muss – nicht zuletzt durch narrative Identifikationen mit sich selbst. Und so wird die Zeit als Geltung in der Erzählung narrativ „refiguriert“. „Der zarte Sprößling, der aus der Vereinigung von Geschichte und Fiktion hervorgeht, ist die Zuweisung einer spezifischen Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft, die man ihre narrative Identität nennen kann.“126 Solche narrative Identität weist man anderen und sich selbst zu. Die Zeitausrichtung in der biographischen Identität kann als ein ständiger narrativer Vermittlungsprozess angesehen werden, der sich seiner eigenen Vergangenheit zuwendet, um sich nach vorne in eine (nicht weniger narrativ eröffnete) Zukunft zu stürzen. In der Psychoanalyse wird solche narrativ-biographische Zirkulation mit dem Begriff „Durcharbeiten“ gekennzeichnet. „Geschichte geht immer aus Geschichte hervor. […] Ein Subjekt erkennt sich wieder in der Geschichte, die es sich selbst über sich selbst erzählt.“127 Dieser zirkulierende Prozess des sich selbst nach vorne Erzählens, kann wiederum auf ein Ende, auf einen Anfang oder schließlich auf die Zeitpanne im Ganzen gerichtet sein: 1. Man erzählt sich auf ein Ende hin. Es bietet sich an, hier auf Heidegger128 zu verweisen und zwei Formen des zeitlichen Endes zu unterscheiden: Zum einen sind das die Absichten des alltäglichen Handelns, auf die man sich in Form des „Besorgens“ bezieht. Dabei macht man gewisse Zeitgrenzen als Ziele oder Zwecke aus und „sorgt“ sich um deren Verwirklichung. Eine zweckorientierte Handlung dieser Art entwirft einen Handlungsstrang, der vom übrigen Kontext 125  Paul Ricœur, Zeit und Erzählung 1. Zeit und historische Erzählung, 2. Aufl., München 2007, 87. 126 Ricoeur, Zeit und Erzählung 3. Die erzählte Zeit, 395. 127 Ricoeur, Zeit und Erzählung 3. Die erzählte Zeit, 397. 128  Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit (Gesamtausgabe 64), Frankfurt am Main 2004, 45–46.

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abstrahiert. In diesem Sinne konstituiert sich Handeln immanent durch eine narrative Engführung.129 Zielt man dagegen auf sich als Ganzes der Existenz ab, bekommt man es mit seinem eigenen Tod als Ende zu tun. Weicht man dieser Möglichkeit des Todes nicht aus, erweist sich das, was Ricoeur narrative Identität nannte, als eine Weise, „in der das Vorlaufen als auslegendes diese Möglichkeit [Tod] aufdeckt und in der Entdecktheit halten kann.“130 2. Man erzählt sich vom Anfang an: Damit ist natürlich Hannah Arendts Konzept des Handelns als Anfangen-Können angesprochen. Sie begreift es in expliziter Abgrenzung zur Zweckrationalität eines Herstellens als ein Handeln ins Offene und Unabsehbare des Bezugsgewebes von Menschen, in dem sich das Wer-sein auf der „Bühne der Welt“131 offenbart. Sowohl die Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der Neuanfang, den das Handeln setzt, [sind] wie Fäden, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden […]. Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen, so ergeben sich wieder klar erkennbare Muster beziehungsweise sind als Lebensgeschichten erzählbar.132

3. Das führt schließlich zur dritten erzählenden Identitätsstiftung, der Erzählung vom Anfang bis zum Ende: die Biographie. Diese Position setzt gewissermaßen den abgeschlossenen Durchlauf der Zeitspanne voraus und impliziert darum bei einer Lebensgeschichte den bereits erfolgten Tod, bei weniger existenziellen Zeitspannen aber wenigstens, dass sie ein für alle Mal vorüber sind. Die klaren Muster, die sich laut Arendt ergeben, wenn der Faden zu Ende gesponnen ist, sind für den Faden eben nicht ersichtlich. Die ganze Geschichte des eigenen Lebens kann nur ein:e andere, ein:e Überlebende:r erzählen. Autobiographien erscheinen aus diesem Grund oft sinister und zwielichtig, nämlich durch eine Überlebende ihrer selbst verfasst worden zu sein. Das gilt allemal, wenn man Levinas’ Argwohn gegenüber der Lebensgeschichte teilt, der hier exemplarisch für das stehen soll, was ich im Weiteren ‚postmortale Erzählperspektive‘ nennen werde: Die Geschichtsschreibung erzählt, auf welche Weise die Überlebenden sich die Werke der toten Willenssubjekte aneignen; sie beruht auf der Usurpation durch die Sieger, d. h. die Überlebenden; sie berichtet von der Versklavung und vergißt dabei das Leben, das gegen die Knechtschaft kämpft.133

129  Vgl. Gimmel, „Zum Begriff des Nicht/Handelns und der Hoffnung, Geschichte zum Stillstand bringen zu können“, 298. 130 Heidegger, Begriff der Zeit, 52. 131  Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, übers. v. Mary McCarthy, 12. Aufl., München 2013, 219. 132 Arendt, Vita activa, 226. 133  Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, 5. Aufl., Freiburg 2014, 332–333.

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Es war mir darum zu tun, sich zu vergewissern, was man unter temporaler Ausrichtung verstehen könnte, da der Zeit nicht zuletzt aufgrund ihrer angeblichen Richtungsgebundenheit auch eine Beengtheit zugeordnet wurde. Doch weder der Komplex Erinnern-Wahrnehmen-Antizipieren noch der geschichtliche Vektor V-G-Z weisen an sich solche Beengung auf, im Gegenteil: Durch die Bergson’sche Zeitspalte des Innehaltens – Bergson versteht dieses Innehalten ganz explizit zeitlich, nicht wie T heunissen als Freiheit von der Zeit – dringt das Bewusstsein hervor und erschließt eine Handlungs- und Wahrnehmungsoffenheit im besten Sinne. Die narrative Identität eines sich refigurierenden, aus der Geschichte nach vorne Erzählens stellt eine Erschließung des eigenen Selbst dar, aber wohl kaum eine zeitliche Zwangsjacke. Diese poetologische, sich stets re-form(ul)ierende Selbstfindung setzt eine Mußeposition134 voraus, die sich von der Eingespanntheit in äußere Zwecke lossagt, um sich selbst als T hema (erzählend) einholen zu können. Das Selbstsein bricht quasi als Mußemoment in die Zeitordnung des Zu-tun-habens ein, um sich seines Identitätsfundaments zu versichern. Das wird bei Heidegger deutlich, der das Vorlaufen in den Tod dem alltäglichen Besorgen und Beschäftigtsein abgetrotzt sehen will, um sich als Zeit zu gewinnen (inklusive existenzieller Angst und Unheimlichkeit). Das Dasein ist sein Vorbei, ist seine Möglichkeit im Vorlaufen zu diesem Vorbei. In diesem Vorlaufen bin ich die Zeit eigentlich, habe ich Zeit. Sofern die Zeit je meinige ist, gibt es viele Zeiten. Die Zeit ist sinnlos; Zeit ist zeitlich.135

Auch bei Arendt ist von einer Eröffnung durch das zeitliche Sichoffenbaren die Rede, von einer Freiheit des Anfangenkönnens, die offensichtlich eine Freiheit durch und in der Zeit darstellt. Es ist bezeichnend, dass ihr Handlungsbegriff, der in Opposition zu einer Teleologie der Herstellung ausgebildet wird, dem Herstellen gegenüber Zeit-Aporien (Unabsehbarkeit und Unverantwortbarkeit in der Zeit) geltend macht, durch die eine Maßgabe menschlicher Verbindlichkeit (Verzeihen, Versprechen) und konkreter Freiheitsentfaltung (Natalität und Anfangenkönnen) gewonnen wird. Für Arendt ist die Zeit nicht nur die ausschlaggebende Dimension der Freiheit, sondern der Ethik überhaupt.136 Von den hier behandelten Zeitrichtungen sind es lediglich die zweckrationale beziehungsweise herstellend-teleologische und die des überlebenden Geschichtsschreibers, denen gewisse Formen der Beengung zugeschrieben werden könnten. 134  T homas Klinkert, Muße und Erzählen. Ein poetologischer Zusammenhang. Vom „Roman de la Rose“ bis Jorge Semprún (Otium 3), Tübingen 2016. 135 Heidegger, Begriff der Zeit, 124. 136  Vgl. dazu den Begriff des Innehaltens: Jochen Gimmel, „Zu den ethischen Implikationen der T heorie ausgehend von Emmanuel Levinas und Hannah Arendt“, in: T homas Jürgasch/Tobias Keiling (Hg.), Anthropologie der T heorie (Otium 6), Tübingen 2017, 295–321.

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2.6. Tod, Grenzüberschreitung und Wunderstruktur der Wirklichkeit Die Bedrängung durch den Geschichtsschreiber findet statt als eine Festschreibung, als ein Ansprechen der Person im Perfekt aus einer postmortalen Erzählperspektive. Der Tod, der oft der „Herrschaft der Zeit“ angelastet wird, tritt einem auch als ein interpersonales Problem entgegen, wenn er sich im Blick dessen manifestiert, der uns als Perfekt, Resultat, Gegebenheit und Datum ansieht. Verdinglichende Perspektiven auf Menschen werden weniger aufgrund der Analogie zu den Dingen als Verletzung der Person empfunden, sondern da sie die Beurteilten durch einen kalkulierenden Blick in die Todesstarre eines Werkes oder einer Ware versetzen – eine Sicht, die kein Postscriptum duldet, das von der Spontaneität des Lebens und vom Eigenleben der Dinge zeugen könnte. Sich beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt als ein geglücktes Ergebnis seines Lebenslaufs darstellen zu müssen und so auch wahrgenommen zu werden, ist buchstäblich makaber, ein Totentanz. Das Personalmanagement kultiviert aus Professionalität solch einen „bösen Blick“, wenn es die potentiellen Arbeitnehmer nach Maßgabe eines Wertes-für einschätzt. Auch wenn heute selbstredend Formulierungen wie ‚Entwicklungspotential‘, ‚Entfaltung‘ und ‚Lust an neuen Aufgaben‘ oben auf dem Spickzettel der Verwertung stehen, haftet doch allen Bewerbungsgesprächen etwas Morbides an: Selbst die Potentiale, die in einer nicht endenden Kaskade von Qualifikationsmaßnahmen im Dienst des lebenslangen Lernens ausgeschöpft werden sollen, gelten ja merkbar nicht uns selbst, sondern irgendeiner ‚Sache‘, die durch uns, die wir einem fruchtbaren Boden für den Wert gleichen, gedeihen soll. Marx Rede vom vampirischen Markt ist gewissermaßen im postindustriellen Kapitalismus personalpolitisch durch Methoden nachhaltiger Kompostierung geläutert. Wir Human-­Kapitalien des 21. Jahrhunderts werden nach getaner Arbeit in die Wertstoffanteile ‚Interesse‘, ‚Konsum­appetit‘, ‚Bedürfnis‘ und ‚Sehnsucht‘ aufgespalten und informa­ tionstechnologisch recycelt, nachhaltig wiederverwertet als Konsumenten, Datenlieferanten und Selbtsverwirk­licher:innen. Wir alle kompostieren uns in unserer Freizeit selbst. Der lebendige Tod lauert im (Waren-)Wert unseres Daseins auf dem medialen Öffentlichkeitsmarkt. Ich will mit diesem Hinweis auf die realpolitische Morbidität den tatsächlichen Schrecken des Todes nicht im Geringsten relativieren. Er ist ein Schrecken aber nicht nur in der Zeit, sondern ebenso im Raum, denn wir werden mit ihm Zeit und Raum gleichermaßen verlieren. So wenig Augenblicke wir noch leben werden, wenn wir nicht mehr sind, so wenig werden wir noch an Orten sein. Der Tod ist als Ende ein totaler Skandal. Er ist nicht räumlich, er ist aber eben auch nicht zeitlich, sondern das, was nach dem Ende der Zeit und hinter dem letzten Ort nur in tausend Farben Finsternis ausgemalt werden könnte. Dass dennoch der Zeit eine grundsätzliche Negativität zugeordnet, der Raum als vorliegende Gegebenheit dagegen geradezu als Quell der Positivität angesehen wird, beruht

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wohl auf dem Unterschied der transzendentalen Anschauungen von Raum und Zeit: Die Zeit als Geschehnis-Horizont (Synästhesie) ruft das Bild des Tendierens zum Nichts auf. Die Extensivität, die als reines Datum, als Vorgegebenheit der Ausdehnung kein Ende und äußere Grenze impliziert (Synopse) täuscht dagegen vor, vom Tod nicht berührt zu werden, da er dort nicht ‚angetroffen‘ wird. So scheint der Tod als das Nichts dem Geschehen der Zeit quasi ex transcendentale zuzukommen. Hierbei wird allerdings verkannt, dass nicht der Tod geschieht, sondern das Sterben. Die hier vorgebrachte Zeit-Interpretation plädiert dafür, den Geschehnis-Charakter der Zeit gerade nicht als ein Attribut des Todes, sondern vielmehr des Lebens in seiner Endlichkeit und Begrenztheit zu verstehen. Georg Simmel hat das im ersten seiner vier metaphysischen Kapitel in Lebensanschauung auf den Punkt gebracht: Nur für das Leben ist die Zeit real […]. Zeit ist die – vielleicht abstrakte – Bewußtseinsform dessen, was das Leben selbst in nicht aussagbarer, nur zu erlebender unmittelbarer Konkretheit ist; sie ist das Leben unter Absehen von seinen Inhalten, weil nur das Leben den zeitfreien Gegenwartspunkt jeder anderen Wirklichkeit nach beiden Richtungen hin transzendiert und erst damit und ganz allein die Zeitausdehnung, das heißt die Zeit, realisiert. Halten wir an Begriff und Tatsache von Gegenwart überhaupt fest, wozu wir berechtigt und genötigt sind, so bedeutet diese Wesensgestaltung des Lebens ein fortwährendes Hinausgreifen über sich selbst als gegenwärtiges. Dieses Hinausgreifen des aktuellen Lebens in dasjenige, was nicht seine Aktualität ist, so aber, daß dieses Hinausgreifen dennoch seine Aktualität ausmacht – ist also nichts, was zum Leben erst hinzukäme, sondern dieses, wie es in Wachstum und Zeugung und in den geistigen Prozessen sich vollzieht, ist das Wesen des Lebens selbst.137

Diese Gedanken Simmels zu Zeit und Leben gehen vom Moment der Grenze und des radikalen Begrenztseins aus. Er denkt dabei an die relativen Grenzen des Lebensvollzugs und an die äußersten in Geburt und Tod. Das Leben performiert seine Endlichkeit unablässig als Grenzüberschreitung, als ein Hinausgreifen, wie Simmel sagt, – es spannt ständig Gegenwart aus als Transgression. Das zeitliche Geschehen vollzieht sich als die Aporie, im Jetzt zugleich ins Gewesene wie auch Zukünftige über sich hinaus in sich zurück umzuschlagen. Auch andere Menschen, Lebewesen und Dinge stellen aber Zeitgrenzen138 dar, die als Zeitalteri137  Georg Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, 2. Aufl., München/ Leipzig 1922, 11–12. 138  Das mag zuerst ungereimt klingen, doch liegt es in der Konsequenz, die Zeit von den Zeitvollzügen her zu begreifen. Die Aussage, dass andere Menschen und Dingen Raumgrenzen darstellen, würde niemanden erstaunen, warum also, dass sie auch Zeitgrenzen bedeuten? Zeitgrenzen werden in der Regel nur vom subjektiven Zeitvollzug her begriffen, nicht aber als Verhältnis unterschiedlicher Zeitmanifestationen zueinander. Meinem Dafürhalten nach liegt die Objektivität der Zeit aber gerade in dieser Verhältnishaftigkeit der subjektiven Zeitvollzüge zueinander. Siehe dazu I.1.

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täten in ihrer Asynchronität einen Verhältniszusammenhang ergeben, den man als Weltzeit konstituierenden Zeit-Umschlag ansprechen kann. Gewissermaßen hebt auch Blumenberg auf Zeitalterität ab, wenn er die Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit, um die sein gleichnamiges Buch kreist, vor dem Hintergrund einer nagenden Verzweiflung ansiedelt: Die Einsicht, dass die Welt keiner Geburt und keinem Tod wirklich Referenz erweist, sondern jede:n letztlich durch eine verletzende Gleichgültigkeit in Welteinsamkeit oder gar Weltlosigkeit stürzt, ließe sich hier als die Verzweiflung vor der Zeitfremde der Welt ansprechen.139 Diese Indifferenz der Weltzeit, des ‚Gangs der Dinge‘, gegenüber dem Leben zeigt sich dem Leben als eine abstrakte Zeitalterität, als eine Abgezogenheit von allen zeitlichen Besonderheiten der eigenen Zeit und der Zeit der uns begegnenden Anderen. Sie ist so betrachtet die gleichgültige Zeit des abstrakt Anderen, eine bloß geschlussfolgerte Zeit leerer Generationenfolgen. Doch dieses Abstraktum der Zeitalterität wird wiederum nur durch eine postmortale Perspektive erzeugt, die das Ganze des Lebens erst dem leerem Immer-Weiter gegenüberzustellen in der Lage ist, durch ein Heraustreten aus der Zeit. Blumenbergs Konflikt mit der Gleichgültigkeit der Welt entspringt gewissermaßen weder der Welt noch den verwaisten Menschen, sondern der idée fixe ihrer abstrakten Entgegensetzung. In der Zeit ist Zeitandersheit dagegen alles andere als abstrakt, sondern vielmehr ein Radikalbezug des Lebendigseins. Zeit ist der lebendige Anspruch des Anderen (Levinas) und von Anderem. Durchaus nicht abstrakter Art ist dagegen die ‚Indifferenz‘ und das heißt in diesem Fall eigentlich die Unfassbarkeit des sensenden Todes. Er ist vielmehr das eigenste Andere des Lebens und so auch Moment der absoluten Einzigartigkeit einer jeden Existenz. Dass der Tod alles früher oder später vernichtet, letztlich keine Erinnerung vor diesem bestimmten Nichts bestehen wird und er als das ultimativ Drohende durch keinerlei Handlungen eingefangen werden kann, stellt beinahe das Gegenteil einer Gleichgültigkeit dar, nämlich ein einzigartiges Schicksal. Die zeitliche Besonderheit jedes Lebens drückt sich vor diesem Nichts gerade aus; angesichts dieser Vernichtung manifestiert sich Einzigartigkeit in jedem Augenblick. Nichts wird je wiederkehren, nichts bleibt: In den Momenten, in denen man davor erschrickt, zeigt sich jeder Augenblick, jeder Mensch und jede Faser eines Mooses als so gänzlich einzigartig, dass diese Einzigartigkeit gerade als die endlichste Zeit Ewigkeit anstimmt. Wenn man die Ewigkeit als Echoraum der Zeit begreift, dann darf man die Einzigartigkeit als den Ruf verstehen, der ihn zum Klingen bringt. Das Anfangen ist dem Enden als Komplement entgegengesetzt – gemeinsam bilden sie eine temporale Einzigartigkeit aus, die aufgrund des totalen Überschusses ihres Soseins gegenüber ihrer Erklärbarkeit, also aufgrund ihrer radikalen Kontingenz, als eine Wunderstruktur von Zeit und Wirklichkeit aufgefasst werden kann. Die Gewissheit, dass es nicht zwei Dinge auf diesem Erdball gibt, 139 Blumenberg,

Lebenszeit und Weltzeit, 79.

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die dieselben sind, dass also jedes Weltding emphatisch einzigartig ist, ja dass jeder Augenblick einzigartig ist und es auch auf immer sein wird, diese ‚Wahrheit‘ verknüpft auf paradoxe Weise Notwendigkeit und Kontingenz im Zeitbegriff. Die zeitliche Einzigartigkeit ist eine notwendige Gewissheit von Wirklichkeit, eine logische Wahrheit, und doch zugleich ein schroffer Gegensatz zur Notwendigkeit, nämlich gänzlich kontingent konkret. Dass alles, was ist, in dieser Art einzigartig ist, offenbart die Wirklichkeit als ‚ständiges‘ Wunder. Das meint keine normative Aussage, sondern beschreibt eine zentrale Aporie, die sich in der Wirklichkeit der Zeit offenbart. Wir sind durch die Zeit in eine, wenn man es so sagen will, Wahrheit der Wundersamkeit von Wirklichkeit versetzt und zwar just aufgrund der Endlichkeit und Vergänglichkeit, die wir als Zeitmanifestationen vollziehen. Mit solcher Wunderstruktur ist alles andere als eine Glitzerwelt der Leidvergessenheit gemeint, sondern neben dem Verwundern darüber, ‚dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts‘, auch ein Erschrecken und Trotz vor dem Nichts des Todes, ein Trotzdem als Qualität von Zeit. 2.7. Raummetaphern 2: Enge – Hörbilder gegen die „Oculartyrannis“ Woher kommt nun aber die Idee, dass just die Zeit uns existentiell beengen würde? Die Rede vom ‚engen Zeitkanal‘ widerspricht den vorangegangenen Überlegungen zur Zeit als Geschehen, zum ‚Tumult der Zeit‘ und ‚Dass-desJetzt‘. Dass Vergangenheit und Zukunft überhaupt in das Bild einer Linie oder eines Kanals gepfercht werden, ist alles andere als selbstverständlich und beruht zum Teil auch hier auf einem missverständlichen Metapherngebrauch. Es ist die Crux beim Nachdenken über die Zeit, dass die Zeit ständig über das Knie von visuellen Raumbildern gebrochen wird. Als Zeit-Linie wird die temporale Sukzession in den Raum verlegt und so als eine zeitübergreifende Ganzheit vorgestellt, die Zeitpunkte in einer Ordnung des Hintereinanders verknüpft. Aber genau das erlaubt uns die Zeit im Gegensatz zum Raum nicht, denn Gleichzeitigkeit offenbart kein Zugleichsein von vergangenen und zukünftigen Momenten in einem Anblick des Hintereinanders, sondern lediglich einen vielfältigen Bezug zu anderen Zeiten und das stetige Sich-Identifizieren in der Zeit. Aufgrund dieser fehlleitenden Analogie kommt es zu der Scheinevidenz, die es nahelegt, der Zeit eine besondere Enge zuzuschreiben. ‚Eng‘ ist durchaus ein passendes Attribut für eine räumlich vorgestellte Sukzession, da sie impliziert, dass einem linearen Hintereinander (räumliche) Mehrdimensionalität abgeht. Räumliche Linien und Reihen sind in der Breite und Höhe per Definition eigentümlich beschränkt und lediglich der Länge nach offen. Räumlich begriffen trifft es also zu, dass es einer Aneinanderreihung an Weite mangelt und sie als beengend gelten kann – alle, die sich schon einmal ‚einreihen‘ mussten, können das bezeugen. Doch aus dem Umstand, dass eine Reihe im Raum die Weite beschränkt, zu schließen, dass auch die Zeitfolge uns beengen müsste, verstellt durch die Analogie den Begriff

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der zeitlichen Sukzession mehr, als ihn zu klären. Weder der logische noch der zeitliche Sinn von Folgen kann treffend durch räumliche Bestimmungen und ihre Eigenarten erfasst werden. Zeitlich verstanden könnte man Folgen besser als auf einander Bezug nehmende Aufladungen verstehen, Wirkungen in der Art von Polen, die eine Vielzahl von Sinnrichtungen freigeben. Der besondere Sinn eines zeitlichen Nacheinanders lässt sich besser über die Dynamik der Identifikation bestimmen als über eine Positionsdifferenz. Sie ist Identitätsgeschehnis, das einen Zeitvollzug, eine Periode ausbildet. Schon an den simpelsten Beispielen wie etwa der Generationenfolge zeigt sich, dass in der temporalen Folge nirgends Enge, aber überall Aufladung und Sinnrichtung im Kraftfeld von Vergangenheit und Zukunft manifest wird: Identität als Geschehen. Das ‚Querschließen‘ vom Raum auf die Zeit entspringt dem Hang, lieber Scheinevidenzen in Kauf zu nehmen, als die Evidenzlosigkeit der Zeit hinzunehmen – also das Vorstellungslose in Bilder des Sehsinns bannen zu wollen, um so Unvorstellbares140 unschädlich zu machen. Visuelle Vorstellungsbilder erlauben es scheinbar, Aporetisches, Paradoxes oder Widersprüchliches ungeschlichtet und doch neutralisiert ‚nebeneinander zu sehen‘. Die Augustin’sche Aporie beispielsweise, dass wir es bei der Zeit mit einer Folge zu tun haben, die nur eine Stelle kennt, nämlich die Gegenwart, wird einfach ‚überblickt‘ durch ein Vorstellungsbild, das Zeitpunkte – uns gegenüberliegend wie Objekte – wie Perlen aufgefädelt am Schnürchen unserer Raumbilder vorstellen lässt. Die Evidenz des Sehsinns täuscht über die Aporie hinweg und schiebt damit Zeit in einen Verlegenheitsraum der Vorstellung ab. Dem visuellen Bild, ob vorgestellt oder sinnlich erfahren, haftet der Schein von Objektivität an, so dass imaginierte oder künstlich geschaffene Bilder (Diagramme, Schaubilder und andere Darstellungsmittel) häufig an Stelle valider Argumente treten und zwar mit Vorliebe dann, wenn sachlich aporetische Konstellationen aufgerufen sind. Selbst bei dem auf den Sehsinn fixierten Denken der klassischen griechischen Philosophie wurde diese Schwierigkeit reflektiert in der Verhältnisbestimmung von T heorie und sinnlichem Schein. Bei einem T hema wie der Zeit, deren Aporien gewissermaßen vor-logisch angelegt sind und das nicht in einem zeitlosen Bild als Zeit erfasst werden kann, führt der Hang, Aporien durch Raumbilder aus140  Das Unvorstellbare im hier gemeinten Sinn ist wie das Unsagbare oder Nichtdenkbare keineswegs etwas, was nicht vorgestellt, gesagt oder gedacht wird; es ist auch keine Absurdität oder Sinnlosigkeit, sondern vielmehr etwas im Denken, Vorstellen und Sprechen, was sich notwendig aufgibt und doch als diese Aufgabe unmöglich ‚gefasst‘ werden kann. Aller Sinn im begrifflichen Denken entspringt gewissermaßen einer Dynamik des Sinnentzugs, die mit dem Staunen angesprochen wird. Das Unvorstellbare wird zu einer Aufgabe nicht als Auswuchs einer rotierenden, ‚durchdrehenden‘ Spekulation, sondern durch konkrete Anstöße der Erfahrungswirklichkeit und Gefühlswelt. Allein die Aufmerksamkeit auf unsere Erfahrungen und Gefühle, gleichgültig wie banal oder außergewöhnlich sie sein mögen, ruft stets Unvorstellbarkeit und Wundersamkeit auf. Damit siedeln Aporien an der Schnittstelle von Erfahrung und Begriff oder sie stellen vielmehr diese Schnittstelle dar.

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zuräumen, zu raumtheoretischen Verkrüppelungen des Zeitbegriffs. Mit diesem Plädoyer für Zeit verbindet sich sachlich also auch ein Plädoyer für die Achtung des Unvorstellbaren und Aporetischen. Bilder haben darin ihren festen Platz, jedoch nicht als Evidenzbeweise, sondern als Marker von Vorstellungsgrenzen; sie werfen gleichsam ihre Bildhülle über das Unsichtbare wie eine Decke über ein Gespenst, dessen Anwesenheit erst verdeckt deutlich wird. Bilder zeigen als Ausdrucksformen des philosophischen Denkens gerade das, was nicht gesehen werden kann. Die scheinbare Selbstevidenz dieser Raumzuschreibungen ist einer T heorie-­ Konvention geschuldet, die uns insbesondere im modernen abendländischen Denken bestimmt. Ulrich Sonnemann hat diese Tendenz in aller Klarheit he­ raus­gearbeitet und ihr den illustren Titel „Oculartyrannis“141 verliehen. Zeit kann aber auch anders begriffen – oder folgt man Sonnemann: ‚gehört‘ – werden und wurde es auch. Man stelle sich alternativ nur einmal ein Hörbild vor, um Zeit zu veranschaulichen: Sie, liebe Leserin, lieber Leser, stehen mit geschlossenen Augen da; hinter sich breitet sich ein mächtig-weites Rauschen der Brandung aus, vor Ihnen die Ahnung eines leisen Sausens vom Wind in den Bäumen; an der Stelle, wo Sie stehen, herrscht eine unheimliche Stille, die das Rauschen hinter Ihnen und das Sausen vor Ihnen ertönen lässt. – Warum sollte dieses Hörbild weniger dazu taugen, zu zeigen, was Zeit ist, als eine Linie oder ein Kanal, in den die Zeitfolge gepfercht wird? Sie befinden sich hier ausgerichtet in Raum und Zeit und zwar in beiden Hinsichten: Zum einen können Sie das räumliche Dahinter und das räumliche Davor klar unterscheiden: dort rauscht es, da saust es. Zum anderen herrscht im Rauschen und Sausen ein zeitliches Davor und Danach, Vergangenheit und Zukunft, aber nicht als Linie, sondern als eine Jetzt-Ganzheit im Nachklingen und Vorausweisen des Tönens. Nachklang und Antizipation sind im Augenblick nicht ‚auf den Punkt gebracht‘ oder zu einer Hörlinie eingeschnürt, sondern breiten sich auf alle Töne und Tonmuster zugleich aus, die sich hier zu einer Klanglandschaft versammeln. Die Landschaft einer Hörerfahrung hat Weite gerade in einer Gegenwart, die augenblicklich Vergangenheit und Zukunft öffnet. Wir hören zeitlich gewissermaßen alles Mögliche quer durcheinander zurück und nach vorne im zeitlichen Nachklang und der Antizipation. In diesem zeitlichen Erfahren von Rauschen und Sausen kann man wohl von einem Tumult der Zeiten sprechen, wie ich es getan habe – von einer Enge kann ich nichts ausmachen. Der Ereignisaugenblick ist hier keineswegs zusammengesurrt zum Punkt, sondern vielmehr in alle Richtungen der begegnenden Dinge zugleich in Vergangenheit und Zukunft ausgreifend. Wo sind in diesem zeitlichen Gewitter Linie und Enge auszumachen? In vormoderner Zeit war man sich augenscheinlich bewusst, dass Gewitter und Wetter (lateinisch tempestas) mehr mit Zeit zu schaffen haben als Linien, Flüsse oder Kanäle. 141 

Vgl. z. B. Sonnemann, Zeit, Geschichte, Zeitgeschichte, 373–380.

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Husserl und Bergson haben auf die Melodie abgehoben, um den visuellen Raumbildern eine der Zeit angemessenere Hörmetapher entgegenzusetzen. Doch zeitliche Richtung müsste noch nicht einmal als das ordentliche Nacheinander von Tönen einer Melodie verstanden werden, sondern hat durchaus das Vermögen, eine Richtungsvielfalt als Anklang auszuprägen. Hört man denn bei einem einzigen (dissonanten) Akkord nicht schon eine zeitliche Vielfalt und Multidirektionalität – nach vorne und zurück bei allen Tönen zusammen und zwar jeweils zurückhörend in unterschiedliche Vergangenheiten und voraushörend in die verschiedenen Zukünfte, in die ein Ton im Geschehen des Akkords drängt? Und wäre ein weiterer Akkord, der erklingt, nicht gerade das Gegenteil von einem Teilstück, nämlich vielmehr eine Ganzheit, die in sich vor und zurück ausgreifend schon jeden anderen Moment als Totalität des Geschehens in sich birgt? Ich denke, man sollte zeitliche Folgen als plurale Ganzheiten, die stets in sich über sich hinaus sind, man sollte sie als Spannungsgeschehen begreifen. In dem Hörbild des polyphonen Vogel-Tohuwabohus am Morgen, das ich zu Anfang anführte, wird diese ständige Geschehens-Ganzheit, die chaotisch multidirektional von statten geht, deutlich. – Was im Raum nicht möglich ist, nämlich zugleich nach vorne und hinten zu sehen (also eine totale Perspektive einzunehmen), das macht die zeitliche Gegenwart gewissermaßen eo ipso: Das ‚Dass-des-Jetzt‘ zeitlichen Geschehens ist in seinem Vollzug zugleich auf die Zukunft und auf die Vergangenheit ausgerichtet, insofern es sich auf alles zeitlich Begegnenden bezieht und damit eine Dynamik als Spannung entfaltet. Erinnern oder antizipieren wir etwas, dann schaffen wir uns eine Gegenwart des Vergangenen und Zukünftigen, eine Gegenwart, die, egal ob sie erinnert oder antizipiert wird, als Gegenwart in die Vergangenheit zurückreicht und in die Zukunft vorausgreift. Zeit eröffnet auch Zeitfolgen, aber nur vor dem Hintergrund eines temporalen Gewitters ihrer Ausrichtungen als Geschehen. Aus diesem Grund ist just der Augenblick konstitutiv für Zeitspannen, wie sich im dritten Teil noch zeigen wird. 2.8. Pathologien der Zeit: Entzeitlichung, Zeitdruck, Melancholie und Fragmentierung Der Eindruck einer temporalen Beengung entspringt einer Handlungslogik, die in einem ausgezeichneten Sinn gerade zeitlos ist in der Absicht, Zeit zu überblicken, um sie zu (ver-)planen. Die grassierende Zeit-Klaustrophobie rührt also nicht nur daher, dass wir zu viel zu tun haben – das ohnehin –, sondern auch dass wir Zeit dadurch methodisch ausblenden, indem wir sie mit der Struktur herstellenden Tuns überblenden. Poietische Logiken organisieren das Tun ausgehend vom zukünftigen Ziel und ausstehenden Zweck und leiten somit das Handeln in einem virtuellen Rückblick vom Standpunkt einer Handlungs- oder Produktzukunft an. Das Zeitgefüge wird somit in einer eigentümlichen Art ver-rückt: Eine zukünftige Werkvollendendung, das Futur-Perfekt eines Ergebnisses, gibt

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den zeitliche Ausgangspunkt vor: Das Ende nimmt virtuell die Stelle des Anfangs ein, was zu einer Virtualisierung des Zeitverhältnisses im Ganzen führt. Durch solche Projektion als Prinzip und Ursprung wird das konkrete Jetzt und der besondere Zeitverlauf zeitlich entqualifiziert. So erscheint es, als sei die Gegenwart, auf die man wie eine bloße Etappe immer schon zurückblickt, selbst bloß abgestellt auf eine sie fundierende Zukunft ausstehender Erfolge oder Verwirklichungen. Der konkrete Augenblick genießt Aufmerksamkeit dann bestenfalls als Bedingung der Durchführung, ansonsten gilt es, sich gerade nicht durch ihn ablenken oder aufhalten zu lassen, da das Werk noch getan werden muss, das die Zeit erst zu ihrer scheinbaren Erfüllung brächte. Diese Zeitverrücktheit etabliert einen Standpunkt, der über die Zeit hinwegschaut, um sie durch praktische Re-Produktion der virtuellen Produktzukunft verfügbar zu machen. Natürlich bleibt dieser Standpunkt ein bloß hypothetischer, aber doch einer, der die gegenwärtige Zeiterfahrung konkret ausblendet, um sich über sie in einem atemporalen Futur II (dazu ausführlich im III. Teil) hinwegsetzen zu können. Das verleiht dem zweckrationalen Tun den Charakter einer eigentümlich selbstvergessenen Reflexivität und die Autorität einer zeitunabhängigen Zeitorganisation als Weg zum Erfolg – eine Autorität mit dem Charme einer Blaupause: man reproduziert im Grunde nur, was als Zweckprojektion bereits erfolgt ist und sieht dabei möglichst von allen Aktualitäten, allen abweichenden Besonderheiten ab. Solche Zweckrationalität des Tuns hat mitsamt der ihr innewohnenden Entzeitlichung ihre volle Berechtigung im Bereich der Herstellung. Problematisch ist sie einzig, wenn sie über diesen eingeschränkten Bereich hinaus als das zentrale Prinzip der Erfahrungswirklichkeit gedeutet wird: Wird Zeit nach Art eines Produktionsmodells aufgefasst, dann scheint sie absurderweise zu zerstäuben, sobald die Handlungsdichte abnimmt. Zeit wird so nach Art von potentia und actus gemodelt und scheint verspielt, wenn sie nicht tatkräftig umgesetzt wird. Die Hypostasierung der Poiesis im Modell einer Produktionsrealität142 äußert sich wie eine Zwangsstörung im Verhältnis zur Wirklichkeit, nämlich als die Unfähigkeit davon abzulassen, Zeit durch Verwirklichung unter Kontrolle bringen zu wollen. Doch das Wesentliche an der Zeit zeigt sich gerade in der sich ereignende Unverfügbarkeit des Wirklichen im Geschehen. Man könnte so weit gehen, als Unterscheidungsmerkmal von Lebensprozessen und Herstellungsformen gerade das ihnen jeweils immanente Zeitverhältnis heranzuziehen: Prozesse ‚zeitigen‘ und sind dabei dem Geschehen überlassen; Produktionen dagegen ‚entzeitigen‘, um eine Unabhängigkeit von der konkreten Zeitwirklichkeit zu gewinnen – Kontrolle und Macht. Selbstredend bleibt die Zeit stets unverfügbar, aber die Haltung zur Zeit wird im zwanghaften Bemühen, sie durch poieti142  Jochen Gimmel, „Muße und Praxis in geschichtsphilosophischer Perspektive bei Marx“, in: Elisabeth Cheauré/Jochen Gimmel/Konstantin Rapp (Hg.), Verordnete Arbeit – Gelenkte Freizeit. Muße in der Sowjetunion? (Otium 23), Tübingen 2021, 47–73, 56–68.

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sche Macht zu kontrollieren, zeit-taub und zeit-entfremdet. So beraubt man sich durch die Obsession, Zeit immerzu überblicken zu müssen, der Gegenwärtigkeit des Augenblicks, der offenen Unbestimmtheit der Zukunft und der lebendigen Fortwirkung der Vergangenheit. Die konkrete Sinnrichtung der Zeit (V-G-Z) wird durch die überzeitliche Zweckbestimmung gewissermaßen neutralisiert, während durch die Selbstzweckstruktur in Muße (eine Art Entelechie143) Zeit in ausgezeichneter Weise erfahrbar werden könnte, wie sich noch zeigen wird. Die Ansicht, dass Zeit besonders intensiv erfahren würde, wenn wir unter Zeitdruck stehen und ohne Druck das Zeiterfahren nur mehr diffundiere, erscheint demgegenüber als absurd. Nur weil man einen Mangel an Zeit schmerzlich erfährt, heißt das nicht, dass wir der Zeit dabei besondere, oder überhaupt irgendeine Aufmerksamkeit schenken würden. Vielmehr blenden wir Zeit meist gerade aus, wenn wir gezwungen sind, uns zu beeilen, und achten stattdessen lediglich auf die Geschwindigkeit unseres Handelns; Zeitdruck meint den Zwang zur Handlungsbeschleunigung. Wenn man nicht nur ein begrenztes Vorhaben umsetzen möchte, sondern sich selbst oder die Weltwirklichkeit als Ganze als das stets unvollendete Ergebnis des Bemühens begreift, ‚etwas aus sich zu machen‘, dann wird der Zeitkontrollzwang zu einer existentiellen Störung. Lebensanschauungen, die Verwirklichung zum zentralen Maßstab erklären, implizieren ein lebenszeitliches Dilemma, man könnte auch sagen, sie reproduzieren unaufhörlich Unglück: I­ hnen ist die Lebenszeit immer knapp angesichts der Dinge, die noch zu tun sind, und wären sie doch irgendwann einmal getan, verlöre alles weitere Dasein seinen Sinn, da es nun keinen ‚Nutzen‘ mehr zu erkennen gäbe. Aufgrund der Imperative zu Selbstverwirklichung nimmt man sich in der Zeit ständig in Form eines geronnenen Resultats wahr, das aber nie genügen darf, da man andernfalls scheinbar der Zwecklosigkeit anheimfiele. Will man also ‚etwas‘ werden, dann darf man sich nie sein lassen, sondern muss sich durch endlose Geschäftigkeit beweisen, dass man noch lebt. Zeitdruck ist also eigentlich ein Leistungsdruck, der eine Entzeitlichung mit sich bringt. Anders verhält es sich jedoch, wenn ein Zweckvollendungs-Zeitpunkt dem Tätigsein selbst entspringt und damit eine Eigenzeitlichkeit des Handelns ausprägt, wie sich beispielsweise der rechte Erntezeitpunkt aus dem Getreideanbau selbst ergibt oder der richtige Moment für das Absetzen des Stahls durch das Drechseln. Hier ist die Werkvollendung von der Art eines Kairos und würde wohl kaum Zeitdruck im gewöhnlichen Sinn erzeugen (siehe dazu den folgenden Teil). Von Zeitdruck vermittelnden Terminen spricht man erst, wenn die Eigenzeit bestimmter Tätigkeiten mit einem dazu äußerlichen Vollendungszeitpunkt konfrontiert wird und sich einer fremden Dynamik unterwerfen muss. Ob wir eine Präsentation für eine Morgen anstehende Konferenz fertig stellen müssen, oder ein Bauer die Heuernte eingebracht haben muss, bevor der Regen kommt, 143 Gimmel,

Konstellationen negativ-utopischen Denkens, 285–286.

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– der jeweils zweifellos bestehende Zeitdruck rührt daher, dass die Vollendung einer Werkhandlung mit einem zu diesem Werk äußerlichen Ereignis koinzidieren soll. Der Zeitdruck ist also weder der Zeit noch der Werkhandlung an sich zuzuschreiben (wenn er auch nur aufgrund einer Zweckordnung entsteht), sondern beruht darauf, dass dem Werk ein äußerliches Ereignis als Maß seiner Vollendung aufoktroyiert wird. Die Konferenz ist nicht das eigentliche Ziel der Präsentation, die vielmehr in der Darstellung eines Inhalts ihren Zweck hat; der Regen ist kein innerer Maßstab des Erntens, insofern es auf die Reife abzielt. Wo der dem Werk innewohnende Zweck mit einem dazu äußerlichen Ereignis identifiziert wird oder werden muss (Not), da wird eine Werkhandlung aus ihrem eigenen Vollzugsmodus herausgerissen und auf ein dazu äußerliches Ziel abgestellt: Die Schaffens-Zeit wird sich selbst gegenüber fremd und scheint darum stets viel zu lange zu dauern. Ein Kunstmaler wird vermeintlich nur dann bei seiner ‚Arbeit‘ unter Zeitdruck geraten, wenn die Fertigstellung des Werkes mit einem Ausstellungstermin oder dergleichen zusammenstimmen muss. Insofern ist Zeitdruck als eine Entfremdung von der Entelechie, also der eigenzeitlichen Entfaltung teleologischer Handlungen anzusehen, er stellt gewissermaßen eine Teleologie-Perversion dar. Die Marx’sche T hese von der Entfremdung der Produktionstätigkeit durch Lohnarbeit und Arbeitsteilung weist auf diesen Umstand hin: Die entfremdete Arbeit zeichnet sich durch systematisch erzeugten Zeitdruck aus, gerade weil die Zeit in der Arbeit nicht mehr als die eigene und der Arbeitstätigkeit innewohnende verstanden werden kann, sondern als eine von anderen befristete und festgesetzte, die sich in Schicht-Rhythmen vollzieht, denen der Zusammenhang mit der Werkvollendung geraubt ist. Man kann wohl auch in entfremdeten Tätigkeiten ‚aufgehen‘, sobald die Manie eines ‚Flows‘ das Regiment übernimmt und sich damit Zweckvergessenheit gnädig über die strukturelle Zweckversessenheit ausbreitet. Unter Termindruck eine solche fröhliche Manie der Selbstvergessenheit dauerhaft aufzubringen, ist aber sicherlich nur im Rahmen einer abgebrühten Resilienz-Meisterschaft möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Terminlogik des Zeitdrucks im Rahmen des post­industriellen Kapitalismus, der die Freizeit als Sphäre der Wertschöpfung für sich urbar gemacht hat, auf das ganze Leben ausdehnt und uns in der Projektarbeit der Selbstverwirklichung von einem Verwirklichungstermin zum nächsten hetzt, ohne dabei viel von uns übrig zu lassen. Das aufklärerische Fortschrittsversprechen von einer unabschließbaren Perfektibilität unserer geschichtlichen Welt wird kapitalistisch pervertiert in einer Struktur unaufhörlicher Selbstverwertung. Die Zwangsstörung des homo faber, der die Zeitwirklichkeit immerfort durch Wirklichkeitsproduktion unter seine Kontrolle zwingen muss, schlägt schließlich um in eine Art Zeit-Paranoia des animal laborans144, 144  In diesem Sinne lassen sich meines Erachtens Arendts Analyse zu den Pathologien der Moderne auf die Zeitproblematik anwenden. Vgl. Arendt, Vita activa, 407–415.

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das wie ein Mäuschen von einem Moment des Konsums und der Karriere zum nächsten davor davonrennt, von der drohenden Zeit verschlungen zu werden. Der Kon­troll­zwang schlägt um in Überlebensangst. Man hat aber nicht nur bei zweckgerichteten Handlungen mit einer Entfremdung in der Zeit zu kämpfen, sondern gerade auch da, wo wir schlicht mit uns selbst zu tun haben. Michael T heunissen hat das „Leiden unter der Herrschaft der Zeit“ gekennzeichnet, indem er zwei im Extremfall klinische Formen psychischer Erkrankungen exemplarisch für das menschliche Leiden an Zeit interpretiert hat: Depression und Schizophrenie. Er ordnet dabei das depressive Leiden einer Form der „Syntonie“ zu. „Auf die Zeit angewandt, bedeutet dies: Sie fühlen sich der Zeit ausgeliefert. Schizophrene hingegen scheinen sich, im Gefolge ihrer autistischen Disposition, von der Zeit wie von der Welt überhaupt abzuscheiden.“145 Ob T heunissen hier den psychologischen oder psychiatrischen Erkenntnissen zu den angesprochenen Krankheitsbildern gerecht wird, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend. Es kommt mir hier nur darauf an, negative Erfahrungen von Zeit auch jenseits des Zeitdrucks zu charakterisieren. Das Ausgeliefertsein an den unaufhaltbaren Gang der Zeit (nach T heunissen die Melancholie146) macht dabei den einen Pol des Leidens aus, während das Gefühl eines Stillstandes der Zeit beziehungsweise in der Zeit den anderen Pol beschreibt (Schizophrenie). Im Weiteren werde ich diese klinischen Begriffe, die ich fachlich nicht zu rechtfertigen weiß, ausschließlich in einem übertragenen, nämlich philosophisch gewendeten Sinn gebrauchen. Es geht hier darum, zwei durchaus alltägliche Leiden an der Zeit auszuweisen, die im Gegensatz zur Entzeitlichung als genuine Leiden an der Zeit begriffen werden können. Ich beziehe mich im Weiteren auf die Kennzeichnungen des Ausgeliefertseins an die Zeit (Melancholie) und des Abgetrenntseins von der Zeit (Fragmentierung). Beide Leidformen, die bei T heunissen wie ein Gegensatzpaar (zugespitzt formuliert: Identifikation mit einer abstrakten Zeit und Abgetrenntheit vom eigenen Zeit­ sein) behandelt werden, haben etwas gemein: Ihnen wird Zeit fremd, auch, oder gerade dann, wenn sie sich ihr aussetzen. Die existenziell positive und für das eigene Dasein sinnerschließende Dimension der Zeit entzieht sich in der Identifikation mit einer bloß abstrakten Prozessualität, beziehungsweise dann, wenn man sich in der Zeit bloß mehr vorfindet, ohne sich dabei als Zeitvollzug auch erfahren zu können. Einer Negativfolie gleich stellen das Ausgeliefertsein an die Zeit und das Abgetrenntsein in ihr verhinderte Zeitrelationen dar; in ihnen werden das Dass-des-Jetzt und das eigene Zeitsein nicht nur überlagert, sondern selbst zur Fremde.

T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 47. Siehe dazu Jörg Zirfas, „Muße und Melancholie“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 16,1 (2007), 146–157. 145 

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Den depressiven Menschen, deren Zeiterfahrung protokolliert worden ist, zerfällt Zeit in ihre an Uhren und Kalendern ablesbaren Einheiten: in Sekunden, Minuten, Stunden, Tage. Weil alle diese Einheiten aufgrund der Erlahmung jeder produktiven Tätigkeit und des Ausfalls affektiver Erlebnisse inhaltleer bleiben, gibt es nichts, wodurch sie sich unterscheiden.147

Die Zeit wird also fremd, da ihre metrische Skalierung nicht an die Zeit als Intensität (siehe I.1.) rückgebunden wird. Sie ‚zerfällt‘, da temporale Größen jenseits von Intensität und Intention keinen inneren Zusammenhang, keine Kontinuität des Zeitvollzugs ausprägen, sondern der Standpunkt der Zeitmessung lediglich erlaubt, metrische Einheiten abzuzählen. Der Zusammenhang solch indifferent aneinandergereihter Zeiteinheiten wird nur durch eine Außenper­spektive gewährt, also durch das ‚Protokollieren‘ (die Zeiterfahrung, die protokolliert wurde, hat augenscheinlich selbst Protokollcharakter) der Zeit. Sich selbst inmitten der Zeit doch nur wie eine Äußerlichkeit verstehen zu können, sich mit den Sekunden zu identifizieren, die man da protokolliert, lässt alles fremd (es liegt nur im Sinne der Abzählbarkeit vor) und unverbunden (es gibt keinen verbindenden Sinn) erscheinen. Dafür sind jedoch nicht die „Erlahmung jeder produktiven Tätigkeit und der Ausfall affektiver Erlebnisse“ verantwortlich, denn das hieße, das Symptom zur Ursache zu erklären. Man müsste umgekehrt fragen, ob nicht die Tätigkeiten darum erlahmen und die Affekte ausbleiben, weil sie nur mehr als gleichgültige Äußerlichkeiten erscheinen für ein Selbst, das sich als bloßer Zeit-Protokollant keine Zeitintensität, also keine Qualität und keinen Zeitinhalt mehr zugestehen mag. Wo Zeitgrößen nicht (auch) als Intensitäten begriffen werden können, scheinen sie darum zu „zerfallen“. Depression stellt so verstanden ein buchstäbliches Weltanschauungsproblem dar, das sich am Zeitverständnis ausweist. Auch hier ist das Verhältnis von Es-gibt und Es-gilt-als entscheidend: Dass man die Zeit als eine metrisch bestimmte Größenordnung anspricht, sie also nur als abzählbare Folgestruktur gelten lässt, führt dazu, dass es auch in der Erfahrung keine andere Zeit zu geben scheint. Durch die Geltung des abstrakten, konstruierten und insofern radikal erfahrungsarmen Begriffs metrischer Zeit verarmt Erfahrung real. Insofern kann man von einer Weltdepression aufgrund des neuzeitlich-metrischen Konstruktivismus’ sprechen. Die sich unendlich aneinanderreihenden Maßeinheiten der Zeit wecken den Anschein eines schicksalshaften äußeren Verlaufs, von dem das Subjekt trotz dessen Äußerlichkeit mitgerissen wird, dem es gerade aufgrund seiner Äußerlichkeit ausgeliefert ist. Auch hier wird Zeit als drängend und treibend erfahren, selbst wenn gar kein Zeitdruck besteht. Durch das Fremdwerden der Zeit im Abstraktum eines me­trischen Zeitverlaufs scheint sich das Subjekt bloß als ein Zeit-Objekt neben anderen zu identifizieren. Es abstrahiert von seiner eigenen Subjektivität (dem konkreten Zeitvollzug im Zeitbezug zu anderem), versetzt sich dabei in 147 

T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 50.

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eine scheinbar objektive Zeitreihe und versteht sich so als ein bloß treibendes Subjekt-Objekt im Strom des Weltprozesses. Die Zeit erscheint dann als eine eherne, eindimensionale und unerbittliche Macht, die immerzu die Gegenstände der Welt und mit ihnen die Menschen aus der Gegenwart in eine Zukunft fortreißt – eine Zukunft, die der Zeit gehört, aber nicht den Menschen. Diese Herrschaft der Zeit ist die Zeit ohnmächtiger Verzweiflung, Zeit als überwältigende Richtung ohne Sinn. Es ist die Zeit der Depression. Unbewusst wird also in diesem Verständnis Zeit zu eben dem absoluten ‚Unding‘ erhoben, gegen dessen Existenz Kant dringlich argumentierte. Dieses medusisch-lähmende Strom-Ungeheuer kann jedoch nur als Abstraktum, nie konkret erfahren werden und darum ist diese Art der Verzweiflung vielleicht auch so erfahrungs- und affektarm. Im Gefühl des Ausgeliefertseins an die Zeit wird also nicht die Zeit, sondern vielmehr die Leere an Zeit-Erfahrung, die man zu einem ungeheuren Unding verabsolutiert hat, empfunden. „Demgemäß entfaltet die Herrschaft der Zeit sich gerade in deren Vergehen: als Auslieferung des Subjekts an die endlose Wiederkehr des Gleichen.“148 T heunissen interpretiert Depression als ein gänzlich passives Sichdurchdringenlassen in „Weltverbundenheit“, er spricht auch von „Verweltlichung“ 149. Aber es ist eben die Verbundenheit mit der übermächtig erscheinenden Weltzeit als Abstraktion. Die „ewige Wiederkehr“ wird in diesem leidverursachenden Sinn als Leere des bloßen Einerlei der Zeiten begriffen (was mir Nietzsches Begriff durchaus nicht zu treffen scheint150) und bestimmt in ähnlicher Weise auch das gegenteilige Leiden, nämlich die Schizophrenie beziehungsweise das Abgetrenntsein in Zeit, das sich hier als ein Erstarren zeigt. In ihr stünde mit T heunissen die Zeit still, da man selbst still steht. Dieses Gefühl in einer „gefrorenen Ewigkeit“151 gefangen zu sein, ergibt sich laut T heunissen dadurch, dass die Zeitfolgen ineinander verschwimmen. Die Vermischung enthüllt sich aber, schaut man näher hin, als Subsumtion der Gegenwart und Zukunft unter die Vergangenheit. Sie besteht zunächst darin, daß Vergangenheit auf Zukunft übergreift. Mit dem Übergriff verschließt sich der Zukunftshorizont. ‚Was ist mit der Zukunft? Man kann sie nicht erreichen.‘ ‚Gibt es denn eine Zukunft? Früher hat es für mich eine Zukunft gegeben, jetzt schrumpft sie immer mehr zusammen.‘ In der Schrumpfung der Zukunft liegt zugleich: ‚Es gibt keine Gegenwart mehr‘, keine Gegenwart, in der etwas wirklich begegnen könnte.152 T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 50. Vgl. T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 47. Ich denke, man müsste besser sagen: Ein ohnmächtiges Ausgeliefertsein durch Weltunverbundenheit. 150  Siehe hierzu Gimmel, Konstellationen negativ-utopischen Denkens, 211. 151  T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 51. 152  T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 52–53. T heunissen zitiert hier Patientenaussagen aus: Franz Fischer, „Zeitstruktur und Schizophrenie“, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychatrie, 121 (1929), 544–574. 148  149 

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Wo aber die Vergangenheit Zukunft und Gegenwart absorbiert hat, führt auch das zu einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, in der „nichts Neues geschieht oder ‚alles beim alten bleibt‘“153. Während das Ausgeliefertsein an die Zeit als eine Identifikation mit der metrisch-abstrakte Zeit verstanden wird, da scheint im Erstarrtsein ein Ausschluss von der Zeit stattzufinden. Die Perspektive, die es erlaubt, Zukunft und Gegenwart als von der Vergangenheit aufgesogen zu erleben, steht tatsächlich außerhalb der Zeit und blickt über sie hinweg wie ein Geschichtsschreiber über eine Vergangenheit, die er selbst einmal war: Man ist in jedem Moment zu spät im Augenblick bei sich selbst und weiß, dass Zukunft nie etwas anderes sein wird als dieses Zuspätsein bei sich. Ein Ich, das im Selbstbezug stets zu spät ist, ist gegenüber sich selbst immer schon in die Vergangenheit abgerutscht. Das Gefühl des Erstarrtseins erfährt nicht die Zeit als Unding, dafür aber das Selbst: So sehr man danach sucht, bei sich selbst anzukommen, findet man sich nur als Vergangenheit vor, als geronnenes Ich. Das hat seine verkehrte Entsprechung in der spezifischen Unzeitlichkeit der Teleologie. Wenn man die Zukunft als Zweck oder Ziel schon vorab bestimmt hat, dann gerät die Gegenwart zu einer Vergangenheit der Zukunft. Hier dreht sich das Verhältnis allerdings um: Der in Zeit Erstarrte erklärt die Vergangenheit zur Zukunft. Das Selbst oder Ich ist hier das Ziel, das im eigenen Leben erfasst werden soll und das sich doch immer nur in Tempus des Perfekts vorfinden lässt, schon gewesen und nicht mehr lebendig. Das vorgefundene Ich ist stets schon hinter das Selbst zurückgefallen, das sich auf die Suchen nach ihm machte. So fragmentiert das Selbst beim Versuch sich zu fassen und zerspringt dabei. In diesem Sinne setzt sich anstelle der vorausgreifenden Unzeitlichkeit der Teleologie (Futur II) die postzeitliche Unzeitlichkeit der Reflexion (Plusquamperfekt). Teleologie und Schizophrenie treten in zwei Richtungen aus der Zeit heraus: Einmal nach vorne greifend sich verdinglichend und das andere Mal sich einholend verpassend. Denn das Erstarrtsein als vorwaltende Vergangenheit besteht ja darin, nicht bei sich selbst sein zu können aufgrund des Umstands, sich als Gegenwart in der Gegenwart immerzu zu verfehlen (man ist immer ‚gerade schon weg‘). Das Selbstverhältnis erscheint gespalten, weil die eigene Zeit, das Sich-Ausspannen im Augenblick, nie jetzt ist. Wenn sich das Selbst in der Zeit nur als Fragment auffassen kann, erstarrt es ihr gegenüber. Man bekommt sich nur als Scherbe zu fassen, bloß als ein Bruchstück der Zeit, die man selbst ist, und verstümmelt sich so notgedrungen in der Selbstreflexion. Der Zeitdruck war eine Entfremdung der Teleologie, das schizophrene Leiden dagegen ist ein Verlust des Grundes in sich aufgrund des Selbst: man ist sich fremd, da man sich selbst gesetzt hatte, bevor man überhaupt bei sich ankam; darum ist man nie in einer Selbstgegenwart, die einen zureichenden Grund für sich abgeben könnte. Schi­ zo­phrenie ist letztlich eine pathologische Tendenz der Reflexion. 153 

T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 51.

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Depression und Schizophrenie stehen hier für Leidformen, die dem Bewusstsein selbst eingeschrieben sind, sie agieren gewissermaßen Bewusstseinsdispositionen in einer Weise aus, die in eine Befremdung gegenüber dem ‚inneren Sinn‘ versetzen, also gegenüber dem Zeitsein des Bewusstseins. Wer über die Welt nachdenkt (ohne sie auch als das Geschehen zu begreifen, das man selbst ist) wird depressiv angesichts dieses Undings; wer über sich selbst nachdenkt (ohne sich auch als eine Weite und Spannung des Augenblicks zu begreifen), der wird schizophren angesichts der Scherben, die bleiben. 2.9. Ausnahmezustand und Feier der Zeit: Muße Ist das ganze Leben unter Zeitdruck gesetzt, wird es tendenziell unmöglich, ein Selbst zu sein. Zeit zu haben, meint dagegen, sich im Augenblick auszuspannen und sich dabei in der Welt anzutreffen. Ich verstehe Muße in diesem Sinne als ein Ent- und Ausspannen von Zeit,154 womit eine besondere zeitliche Struktur aufgerufen ist, die sich dem Umstand verdankt, dass sie begrenzt ist. Der Ausnahmecharakter der Muße155 gegenüber der vorherrschenden Alltäglichkeit prägt auch ihre Temporalität: Muße ist „Ausnahmezustand der Zeit.“156 Damit meine ich (im Gegensatz zur ursprünglichen Intention des Ausdrucks) keineswegs, dass Muße Zeit in irgendeiner Weise negieren würde, im Gegenteil: Zeit kann als existenzielle Dimension – als das, was wir sind und in dem wir sind, insofern wir sind – gerade in den Ausnahmezeiten der Muße problematisch werden, dann also, wenn wir nicht durch Erledigungen von uns und der Zeit, die wir vollziehen, abgelenkt sind. Die Rede von der ‚Zeitvergessenheit‘ in Muße ist darum irreführend, denn was wir in Muße tatsächlich zu vergessen geneigt sind, ist gerade nicht die Zeit, sondern es sind vielmehr Handlungsobliegenheiten, die uns meist von der Zeit unseres Lebensvollzugs ablenken. In Muße vergessen wir gewissermaßen die Zeitvergessenheit des Praxisdrucks und erst diese Geschäftsamnesie lässt das eigene Denken, Empfinden und Wahrnehmen als Zeit­ intensitäten in der Zeit durchschimmern. Damit werden auch alle Weltbezüge mit einem Schlag – plötzlich – geheimnisvoll und wundersam. Der ‚innere Sinn‘ und das eigene „Gemüt“157 lassen sich in der Ausnahmezeit der Muße als Überraschungen des Selbstseins erfahren, da das Alltagsregime ständiger Selbst-Versicherung und handlungstauglicher Profanisierung zeitweise außer Kraft gesetzt 154  Zu dem Spannungsbegriff der Zeit: Hans-Dieter Bahr, „Fragment über Muße“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 16,1 (2007), 26–39. 155  Vgl. Jochen Gimmel/Tobias Keiling, Konzepte der Muße, Tübingen 2016, 75. 156 Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“, 32. 157  „Damit ist mit einem Schlage offenbar, daß die Zeit als reine Selbstaffektion nicht ‚neben‘ der reinen Apperzeption ‚im Gemüt‘ vorkommt, sondern daß sie als der Grund der Möglichkeit der Selbstheit in der reinen Apperzeption schon liegt und so das Gemüt erst zum Gemüt macht.“ Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, § 34, 191.

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ist und sich somit die radikale Wunderstruktur von Wirklichkeit offenbaren kann. So wird in Muße das Zeitsein als solches fragwürdig und diese Fragwürdigkeit lässt sich als eine ‚Feier der Zeit‘ genießen. Was eine Feier der Zeit heißen kann, zeigt sich an der Analogie von Muße und Sonntag. In ausgezeichneter Weise wird man gewahr werden können, was die Temporalität von Tagen im Allgemeinen – also die besondere Rhythmik und Struktur, die wir als ‚Tag‘ bezeichnen, – auszeichnet, indem man einen Sonntag betrachtet. Vom Sonntag her – gesetzt er ist ein im Sinne des Sabbats158 freier Tag, der den normalen Ablauf des Alltags unterbricht – erweist sich, was und wie ein Tag in charakteristischer Weise ist, gerade da er nicht durch alltägliche Anforderungen überlagert wird. Die zeitliche Dynamik des Tages wird am Sonntag weniger durch eine Struktur von Aufgaben und Abläufen verzerrt, die zwar im Regelfall nicht unabhängig vom natürlichen Tagesverlauf sind, aber doch auf eine solche Unabhängigkeit abzielen. Das zeigt sich deutlich an der Arbeitsorganisation, den pädagogischen und pflegerischen Betreuungseinrichtungen und auch bei der Freizeitgestaltung, die allesamt gegenüber der lebensweltlichen Rhythmik des realen Tagesablaufs durch technische (zum Beispiel Beleuchtungs-, Verkehrs- und Kommunikationsmittel) und institutionelle Mittel (Schichtdienst, Achtstundentage und so weiter) einen temporalen Alternativtag etablieren. Tage im Winter und im Sommer sind an sich grundverschieden, der Arbeitstag, die Schulzeit und das Fernsehprogramm bleiben aber stets dieselben und überblenden den Realtag durch einen Institutionstag. Aus diesem Grund wird der Tag im Rhythmus von Morgen, Mittag, Abend und Nacht159 oft erst deutlich erfahrbar durch eine Unterbrechung der Geschäftigkeit. Selbst eine naturverhaftete Tagesstruktur bäuerlichen Lebens bleibt gegenüber dem Tag als Zeitqualität seltsam blind, solange sie aufgrund des noch zu Erledigenden den Tag unter Strukturzwang stellt. Am Sonntag (oder auch an einem echten, genussvollen ‚Feier-Abend‘) dagegen, dann, wenn man sich frei macht vom Zu-tun-Haben, fällt das zeitlich-qualitative Moment erst ins Auge: die Dauern gewisser Abläufe (Wie lange steht die Sonne am Horizont bis sie ganz untergegangen ist? Wie lange dauert eigentlich diese Waschmaschinen-Ladung?), die Schnelligkeiten (Wie flink diese Amsel den Wurm schnappte! Wie schnell meine Stimmung umschlug!), aufkommende Langeweile (dazu später ausführlich), das Überraschende und so weiter. Der Alltag selbst wird erst von einem Sonntags-Standpunkt her betrachtet überblickbar; es bedarf des Heraustretens 158  Vgl. Jochen Gimmel, „Vom Fluch der Arbeit und vom Segen des Sabbats. Überlegungen zu einer alternativen Traditionslinie der Muße“, in: Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft (Otium 5), Tübingen 2017, 335–377. 159  Vgl. zur zeitlichen Struktur des Sabbats: Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 344– 349. Und Irit Wyrobnik, „Der Schabbat – ein Tag der Muße“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 16.1 (2007), 177–187.

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aus dem Trott und Joch der Alltagsanforderung, um diese als solche in den Blick zu bekommen. So kann der Sonntag als ausgezeichneter Mußetag sowohl die natürlich-rhythmische als auch die alltäglich-organisatorische Tagesstruktur zu Bewusstsein bringen. Mit dem Sonntag als besondere Form einer Zeitordnung im Sinne der Muße wird der Ausnahmecharakter für eine Bestimmung von Zeit fruchtbar. Abraham J. Heschel hat dieses besondere Verhältnis der Ausnahmezeit für die Zeit überhaupt, des Sabbats für die Tage, mit dem Bild des „Palastes in der Zeit“ beschrieben und gibt damit ein Leitbild vor. Die Zeit ist wie eine Wüste, sie ist großartig, aber nicht schön. Ihre seltsame und schreckliche Macht wird immer gefürchtet, aber selten gepriesen. Dann kommt der siebte Tag, und der Sabbat besitzt eine Glückseligkeit, die die Seele bezaubert, sich in unser Denken einschleicht und es heilt. Es ist ein Tag, an dem die Stunden einander nicht verdrängen. Es ist ein Tag, der alle Traurigkeit mildern kann. […] Der siebte Tag ist wie ein Palast in der Zeit mit einem Königreich für alle. Er ist kein Kalenderdatum, sondern eine Atmosphäre. Er ist kein anderer Bewußtseinsstand, sondern ein anderes Klima; es ist, als ob sich das Aussehen aller Dinge irgendwie veränderte.160

Nun wurde Muße nicht nur als ein begrenzter Zeitraum verstanden, der im Rhythmus des Tages, der Woche, des Jahres und Lebens besondere Zeiten vom Alltag abgrenzt, sondern durchaus auch als das Kennzeichen einer eigenen Lebensform. Das gilt insbesondere, wenn wir an Konzepte wie den bios theoretikos oder die vita contemplativa denken. Die Muße ist hier Leitbild einer Lebensführung, die durch diese spezifisch geprägt und ermöglicht sein soll. In diesem Sinne ist Muße eine Idee, der im Ideal161 der genannten Lebensformen entsprochen wird. Die Hochschätzung der scholé bei Aristoteles, die er mit Glück und menschlicher Würde assoziiert und für die eigentliche Auszeichnung eines freien Lebens in der polis hält, zeugt davon. Neben und anstelle des Ideals einer Lebensform der Muße trat historisch real meist wirksamer das einer vita activa, das die Muße als acedia zu fürchten lehrte.162 Es geht nun aber darum, zu fragen, was es bedeuten kann, wenn Muße als die zentrale Bestimmung einer Lebensform begriffen wird und somit den Alltag als Ideal bestimmen soll. Muße meint als solches Ideal nicht einen beliebigen Teil des Alltags neben anderen. Wo sie ihren besonderen Bedeutungsgehalt entfalten kann, stellt sie als Ausnahme vom Alltag einen Gegensatz zu diesem dar, der jedoch für den Alltag fundierend ist. Die Muße als Ausnahme vom Alltag ist dann als der Sinn des Alltags angesprochen und etabliert dadurch eine eigentümliche Lebensordnung 160  Abraham Joshua Heschel, Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, übers. v. Ruth Kastning-Olmesdahl, Neukirchen-Vluyn 1990, 19. 161  Gimmel et al., An den Grenzen der Muße, 1–40. 162  Vgl. Wolfgang Reinhard, „Die frühneuzeitliche Wende von der vita contemplativa zur vita activa“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 16,1 (2007), 15–25.

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und Tätigkeits-Ökonomie, die sich nach der Muße als zentralem Gut ausrichten.163 Muße wird so im Sinn einer Feier-Zeit verstanden und strukturiert wie alle Feiern und Feste aufgrund ihres Ausnahmecharakters die Normalzeit164: Sie bildet dann als selbstzweckhafte Zeitpraxis das Rückgrat der Zeitorganisation. Wo sie jedoch als die feierliche Ausnahme vom Alltag das ganze Leben ideal bestimmt, bleibt sie zugleich stets nicht-alltäglich. Strukturen, die sich nach einer solchen Ordnung der Ausnahme bilden, implizieren das Paradox, dass ihre Norm durch die Aufhebung der Norm bestimmt ist. Darum stellt es für Aristoteles keinen Widerspruch dar, dass wir in einem Leben, das sich ausdrücklich der Muße widmet, in der Regel unmüßig sind: „Wir opfern unsere Muße, um Muße zu haben“165. Ein ‚Leben in Muße‘ meint keineswegs eine gewöhnlich gewordene Muße, sondern vielmehr reproduziert sie als Lebensform den Unterschied zum Alltag ständig, um diesem einen Sinn zu verleihen. Diese Sinnstiftung durch die Ausnahmestruktur gründet wesentlich auf dem Selbstzweckcharakter der Muße, die der Zweckordnung des Alltags eine Sinngrenze gibt: Die Unabschließbarkeit der Zweckverweise in einer Ordnung des Um-zu (Alltag) findet erst in den Augenblicken Halt, wenn man sich selbst als Zweck hat und aktuell mit sich in Erfüllung ist. Diese Struktur selbstzweckhafter Erfüllung wurde mit dem Begriff des Glücks (eudaimonia) enggeführt und darum ließe sich zugespitzt formulieren: Die Unglück reproduzierende Zweckordnung des Alltags (siehe Pathologien der Zeit), die absolut gesetzt Erfüllung nicht zulassen kann, hat in der Ausnahme des Mußeglücks eine Sinngrenze, die davor bewahrt, dass sich das Unglück zum Schicksal ausweitet. Das Glück der Muße gibt dem Geschäftsalltag einen Sinn durch radikale Begrenzung: Nicht die Zeit ist für das Geschäft da, sondern das Geschäft für die Zeit. Freiheit, Kontemplation und Ästhetik teilen und verdanken ihren Selbstzweck- und Ausnahmecharakter der Muße, die diese freigibt. Das heißt aber auch, dass sie den Unterschied zum Alltag reproduzieren. Solche immanente Differenz von Ausnahme und Alltag verleiht allen Selbstzweck-Konzepten den Anschein des Utopischen, sie sind es aber nicht mehr oder weniger, wie ein Sonntag utopisch ist im Verhältnis zur Woche. Ich interpretiere Muße als Ideal einer Feierzeit des Lebens, die auch die zentralen ‚Güter des Lebens‘ (Freiheit, Glück, Erkenntnis, Liebe etc.) auszeichnet und damit gegenüber der Alltagszeit abgrenzt, um letzterer im besten Fall einen zufriedenstellenden Sinn zukommen zu lassen. 163  Vgl. Gimmel, „Die Aufhebung der Arbeit im libidinösen Spiel. Wo bleibt die Muße in der Selbstverwirklichung?“. 164  In diesem Sinn kann ich mich der Aussage von Josef Pieper anschließen: „Man kann sagen, der Kern der Muße sei: Feiern.“ Josef Pieper, Muße und Kult. Mit einer Einführung von Kardinal Karl Lehmann, 5. Aufl., München 2007, 113. 165 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. v. Günther Bien, 4. Aufl., Hamburg 1985, 1177b5.

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Ein Leben in Muße meint eine Existenzform, die im abgegrenzten Bereich der Muße Selbstzweck sein darf. Dieses zum Selbstzweck erhobene Leben ist nicht zu verwechseln mit der Priorität des bloßen Überlebens in einem Überlebenskampf. Leben als Selbstzweck könnte mit dem verwechselt werden, was Walter Benjamin als „bloßes Leben“166 und in der Folge Agamben als „nacktes Leben“167 angesprochen haben. Es meint im Zusammenhang mit der Muße aber das genaue Gegenteil: Hier ist ein Leben zum Zweck erhoben, das seinen bloßen Erhalt bereits gesichert weiß und darum im eigenen Lebensvollzug Freude und Glück erfahren, sich also selbst genießen kann. Wo dagegen das Leben Zweck des Überlebenskampfes ist, wird es für sich selbst zu einer Äußerlichkeit, d. h. es wird sich selbst fremd als bloßes Leben. Der Begriff des Selbstzweckes kann also in einem doppelten Sinn verstanden werden: 1. Man setzt sich selbst als Zweck und verhält sich zu sich selbst als ein Projekt. Hier wird eine Logik herstellender Verwirk­ lichung oder Vergegenständlichung aufgerufen – das, was Hegel beispielsweise als die Negation in der Arbeit beschreibt. Wer sich zum Ziel der Selbstfindung oder Selbstverwirklichung erklärt oder sich in den ‚Dienst einer höheren Sache‘ stellt168, setzt das Selbst als einen ausstehenden Zweck, der gegenüber dem aktuellen Selbstvollzug äußerlich bleibt. Diese Form der Selbstzweckhaftigkeit hat Kierkegaard in einem anderen Kontext als Verzweiflung (Trotz: verzweifelt man selbst sein wollen) beschrieben.169 Man kann sie als ein projektförmiges Selbstverhältnis begreifen, das nicht nur bei dem Versuch, sich in die Zukunft zu entwerfen, relevant wird, sondern auch, wenn man dazu gezwungen ist, um sein Überleben zu kämpfen; Selbstverwirklichung wird dann zum Projekt des Selbsterhalts. 2. Man kann sich seiner selbst aber auch als Zweck inne sein und ist aktuell sein eigener Zweck. Diese Bedeutung des Selbstzwecks ist diejenige der Muße und konzeptionell mit dem Begriff des Glücks im Sinne der eudaimonia verwoben. Während der erste Begriff des Selbstzwecks projektförmig auftritt, meint dieser zweite eine Form des Genusses. Das umfasst durchaus auch die Möglichkeit zu existenziellen Krisen, Fragen und Infragestellungen – allerdings nicht im Modus der Not (oder eines Projekts), sondern als Ausdruck der Eingelassenheit mit und auf sich selbst, die ich hier als Genuss verstehe. Ein solches Genießen als Selbstzweck hat den Charakter der Feier.

166  Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kairos. Schriften zur Philosophie, Frankfurt (Main) 2007, 87–109. 167  Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert T hüring, Frankfurt am Main 2011. 168  Siehe Jochen Gimmel, „Abschweifen. Auf Umwegen zu Wissenschaft und Muße“, in: Muße. Ein Magazin, 5.2 (2020), 37–48. 169  Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, übers. v. Walter Rest/Günther Jungbluth/Rosemarie Lögstrup, 4. Aufl., München 2012, 31–108.

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An diesen beiden Verständnissen von Selbstzweck lässt sich verdeutlichen, dass die durchaus verwunderliche Zeitnot, die sich spätestens seit der Moderne immer weiter zuzuspitzen scheint, nicht allein auf Beschleunigung und technische Durchdringung unserer Lebenswelt zurückgeht, sondern vor allem auf den Umgang mit und das Sinnverständnis von diesen technischen Möglichkeiten. Würde nicht länger die Projektförmigkeit als Sinnmoment und Selbstzweck verstanden, wie es in der unablässigen Steigerungslogik des Kapitalismus und der modernen Wissenschaft Gang und Gäbe ist, sondern der Genuss der Zeit, dann fänden wir vielleicht wieder zu einer Sinngrenze als Glück, die uns von der Fatalität moderner Projektlogik befreien könnte. Auch heute ist ein ‚Leben in Muße‘, ein menschliches Leben als Selbstzweck, eine ernstzunehmende und dringliche Forderung. So verstanden, gilt das Diktum Walter Benjamins, dass der „Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist“ und demgegenüber ein „wirklicher Ausnahmezustand“ herbeigeführt werden soll170, auch für die Muße als Ausnahmezustand der Zeit: Gerade in ihr ist eine Möglichkeit auszumachen, aus der regelhaften Entfremdung auszubrechen, die als eine „Enge des Zeitkanals“ oder als anhaltender „Sukzessionszwang“171 erscheint. Die Hoffnung geht dahin, von der Ausnahmezeit der Muße her die regelhafte „Herrschaft der Zeit“172 zu (unter-) brechen und in menschliche Lebenszeit zu überführen. 2.10. Zusammenschau Zeit lässt sich nicht ohne Aporien auf den Begriff bringen, man kann sie nicht unmittelbar wahrnehmen oder vorstellen. Es nimmt den Anschein, dass die Objektivität der Zeit in einer Subjektivität begründet liegt, die durch eine Spannung vielfältiger zeitlicher Verhältnisse erst hervorgerufen wird. Bewusstsein wie auch sinnliches Erleben oder leibliches Dasein sind nicht bloß in der Zeit, sondern sie vollziehen sie vielmehr konkret und treten dabei in einen zeitlichen Bezug zu anderen Zeitvollzügen, denen sie gegenseitig jeweils unterworfen sind. Zeit an sich läuft nicht als ein Etwas, als ‚Unding‘ ab, sie verfließt nicht gleichförmig und beziehungslos als äußeres Maß der Gegenstände. Vielmehr geschieht Zeit selbst im Sichereignen der Verhältnishaftigkeit von multiplen Zeitvollzügen (polytemporal und asynchron). Mit diesem etwas zugespitzten Vorschlag für einen Begriff der Zeit, der sie gleicherweise als transzendentale und prozessuale Struktur auffasst, sollte ihrer Verengung durch ein metrisches Verständnis und der damit in Zusammenhang stehenden pejorativen Aufladung entgegnet werden.

170  Vgl.

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte (1940)“, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kairos. Schriften zur Philosophie, Frankfurt am Main 2007, 313–324, VIII. 171  Vgl. Figal, „Die Räumlichkeit der Muße“, 29–30. 172  Vgl. T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 38.

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I. Allotria zur Zeittheorie

Es schien mir sinnvoll, der T hese von Augustinus mit allem Ernst nachzugehen: Zeit sah er als eine Ausspannung (distentio) der Seele an, die einer stehenden Ewigkeit (Ständigkeit) im Zeitverlauf zur Geltung verhilft. Dieses Ausspannen der Seele erstreckt sich als eine Intention in Form von Erinnerung und Erwartung und ist als Zeitverhältnis insbesondere intensiv (im Sinne ihrer quantitativen Qualität). So lässt sich für diesen Begriff der Zeit durchaus auf Bergson verweisen: Die wahre Dauer, wie sie das Bewußtsein unmittelbar perzipiert, müßte somit unter die intensiven Größen gerechnet werden, könnte man überhaupt die Intensitäten Größen nennen; in Wahrheit ist sie überhaupt keine Quantität, und sobald man sie zu messen versucht, substituiert man ihr unbewußt Raum.173

Die Unterscheidung der Zeitverständnisse wird anhand eines Strukturunterschiedes deutlich: Objektivierte Zeitordnungen sind zweigliedrig durch früher und später gekennzeichnet, kennen aber für sich selbst keine Gegenwart, keinen Augenblick und keine zeitliche Ausrichtung, weil ihr Standpunkt nicht in der Zeit angesiedelt ist, sondern er gleichsam von außen den Blick auf diese im Ganzen richtet. Zeitordnungen des Zeitvollzugs sind dagegen dreigliedrig, sie kennen vergangen, jetzt/gegenwärtig, künftig aufgrund der Anerkennung des Umstandes, selbst zeitlich zu sein und keine Außenperspektive dazu einnehmen zu können.174 Eine scheinbar objektive (faktisch aber objektivierte) Zeitordnung blickt quasi von Außen auf den Zeitverlauf, um die Zeitzustände simultan in einem Zeitbild aneinanderreihen und abzählen zu können. Kurz: Die objektivierte Zeit­ordnung betrachtet Zeit wie ein Objekt bei dem Versuch, sie vermeintlich von außen her zu ‚überblicken‘. Gerade das entzeitlicht aber Zeit und konfiguriert sie zu einem Raumbild, das selbst nicht mehr zeitlich ist, sondern bestenfalls Zeit symbolisiert.175 Zeit kann zwar nie als Zeit wahrgenommen werden, aber man kann sich selbst in der Zeit zeitlich erfahren und sich auf sie als den Horizont dieser Erfahrung beziehen. Dieses Sicherfahren in der Zeit ist ein Erschließen von Zeitlichkeit durch ‚Subjektivität‘, durch das Sich-Ausspannen im Augenblick, oder, was im Prinzip dasselbe ist, durch die Identifikation des Geschehens im Rahmen eines Zeitvollzugs. Das hat zwei Seiten: Zum einen das beharrliche Geschehen eines Ich, das ‚ständig‘ aufgerufen ist, wenn es anderen Zeiten ausgesetzt ist. Zum anderen eine Art sich zu sich als Selbst in Verhältnis zu setzen, indem nun das zeitliche Ich sich quasi von außen in der Zeit überblickt, nun aber Zeit und Freiheit, 82. Henrich, „Zeit und Gott. Anmerkungen und Anfragen zur Chronotheologie“,

173 Bergson,

174  Vgl.

32–35. 175  „Hermann Schmitz unterscheidet in seinem System der Philosophie zwischen existenzieller Modalzeit und mathematischer Lagezeit und lagezeitlichen Bestimmungen, wodurch bereits angedeutet wird, daß letzteren eine zeitlose bzw. zeitlich durchgängige Ordnung ausmachen, die indepedent von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist.“ Gloy, Philosophiegeschichte der Zeit, 12.

2. Zeithaben: Weile, Zeitspannen und -richtungen

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nicht im Sinne einer Objektivierung (Raumbild), sondern im Sinne einer narrativen Refiguration. Ich und Selbst verstehe ich hier nicht bloß als Bewusstseinsmomente, sondern vielmehr als Vollzugsmomente von zeitlicher Wirklichkeit, die weder bloß Menschen noch bloß das Bewusstsein betreffen, sondern alles, was in zeitlichen Verhältnissen geschieht. Räumlichen Analogien und „die verräumlichte, quantifizierbare mathematische Zeitvorstellung“176 legen eine Gegenüberstellung von objektiver und bloß subjektiv empfundener Zeit nahe, die sich weder in der Erfahrungswelt noch hinsichtlich ihrer konzeptionellen Implikationen durchhalten ließe. Ernst ­Cassirer führt solche Schwierigkeit, einen theoretischen Begriff von Zeit zu gewinnen, auf die T heorieentwicklung selbst zurück, die an ihren Anfängen Zeit nur dunkel begreift, nämlich im Raum: Wo indes das Bewußtsein noch vorzugsweise im Kreise der räumlichen Anschauung verharrt und die zeitlichen Bestimmungen nur insoweit ergreift, als es sie durch räumliche Analogie erfassen und bezeichnen kann, – da muß notwendig auch diese Eigenheit der zeitlichen Richtung zunächst im Dunkel bleiben.177

Die zu Beginn angeführte T hese, dass in der begrenzten Zeit der Muße Zeit eigentlich als Zeit erfahren wird, erhält hier ihre genauere Bestimmung. Die T hese lautet: In der begrenzten Zeit der Muße kann die Zeit eigentlich als Zeit erfahren werden, weil dort die Objektivierung der Zeitordnung als Raumbild und die ihr eingeschriebene Metrik außer Kraft tritt und sich dem zeitlichen Ausspannen im erfahrenen Existieren öffnet – so ist hier Muße als ‚Ausnahmezeit‘ verstanden. Solche begrenzte und nicht-objektivierte Zeit ist notwendigerweise eine ‚Eigenzeit‘, wenn das auch nicht heißen kann, dass der Zeitcharakter hier bloß zufällig oder willkürlich zustande käme. Durchaus mit Michael T heunissen übereinstimmend, der den Begriff der „Lebenszeit“ gegenüber einer „das Leben entfremdende[n] und letztlich unterdrückende[n] Zeit“178 (die ich vielmehr als Entzeitlichung fassen würde) stark macht, lässt sich die besondere Zeitlichkeit der Muße durch das Verweilen und durch den Kairos näher kennzeichnen. Der Begriff der Grenze ist hier relevant in den Bedeutungen des Abgegrenztseins einer Zeitspanne (siehe dazu die vorausgehenden Überlegungen) und im Sinne der Grenze als Ereignis, als temporaler Bruch oder Unterbrechung. Mit dem Augenblick, dem Kairos und dem geschichtlichen Ereignis werden Brüche in der Zeit zum T hema: Sie unterbrechen Zeitläufe, zerbrechen die scheinbar festgefügte Ordnung der Chronologie und brechen zu Neuem auf. Und doch wird sich zeigen, dass diese Unterbrechung selbst eine gewisse Spannweite auftut, die es durchaus erlaubt, von einer Weile im Augenblick zu sprechen. Philosophiegeschichte der Zeit, 12. Philosophie der symbolischen Formen. Die Sprache, 172. 178  Vgl. T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 300. 176 Gloy,

177 Cassirer,

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I. Allotria zur Zeittheorie

3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis In welchem Verhältnis stehen Zeitspannen, Dauern und Weilen, also das, was bislang als ‚temporale Ausspannungen‘ oder Zeitvollzüge angesprochen war, zu Augenblicken, kairotischen Momenten und geschichtlichen Ereignissen (‚Dassdes-Jetzt‘, Einbruch in die Zeit)? Zwei Auffassungen bieten sich an, die ich mit meiner Interpretation ablehne: Man könnte den Augenblick der Zeit gegenüberstellen, wenn man ihn als ein ‚stehendes Jetzt‘, nunc stans, der Ewigkeit zurechnet. Aus dem Vorangehenden sollte klar geworden sein, dass ich eine solche Deutung nicht teile und das Motiv einer ‚Ständigkeit‘ (als ein ‚Moment der Ewigkeit‘) gerade der Zeit zubillige. Ebenso wenig teile ich eine Sichtweise, die Augenblicke bloß als Elemente einer umfassenden Zeit-Größe begreift. Da sich die quantitative Dimension der Zeit nicht adäquat als Anzahl (als Aggregat von Einheiten wie etwa Sekunden) verstehen lässt, sondern Größe nur im Sinne einer dynamischen Spannung und Intensität ausprägt, darum stehen meines Erachtens Augenblick, Kairos und Ereignis zu Weile, Zeitspanne und Epoche auch in einer dynamischen und intensiven Relation: Man kann von einer gegenseitigen Durchdringung (im Augenblick spannt sich Zeit auf und die Weile realisiert sich im Augenblick), Überkreuzung (im Kairos berührt die seelische Zeit die Weltzeit) und Bruch (in Ereignissen als Zeitgrenzen und Kontinuitäts­ brüchen konstituiert sich erst eine Zeitepoche mit Geschichts-Sinn) sprechen. So sind Augenblick, Kairos und Ereignis als Zeitmanifestationen zu verstehen, die gegenüber der alltäglichen Zeitvergessenheit in der metrischen Geschäftsauffassung des Daseins ein ausgezeichnetes Erfahrungsbewusstsein von der Zeitlichkeit als Geschehen ermöglichen. Was das heißen kann, möchte ich in diesem dritten Teil erörtern.179 3.1. Augenblick Der Begriff des Augenblicks ist hier T hema in einem sehr spezifischen Sinne180, der ihn von der Bedeutung eines bloßes Zeitpartikels abgrenzt. Er ist zeitlich nicht als Zeitpunkt in einem quasi temporal-geometrischen Sinne zu verstehen, auch nicht als ein Jetzt, wie es als vûv zentral für Aristoteles’ Zeittheorie ki­ netischer Verhältnisse ist, sondern als eine Zeitlichkeit, „in der die Zeit beständig

179  Die folgenden vier Kapitel (I.3.1., I.3.2., I.3.3. und I.4.) entsprechen weitegehend einer ausführlicheren Fassung, die in der T heologischen Quartalschrift veröffentlicht wurde: Jochen Gimmel, „Augenblick, Kairos, Ereignis und Revolution. Zur Zeitlichkeit der Muße“, in: T heologische Quartalschrift, 202 (2022), 25–50. 180  Zu den unterschiedlichen Aspekten des Begriffs, siehe: Hans-Jürgen Gawoll, „Über den Augenblick. Auch eine Philosophiegeschichte von Platon bis Heidegger“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 37 (1994), 152–179.

3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis

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die Ewigkeit abreißt und die Ewigkeit beständig die Zeit durchdringt.“181 Abriss und Durchdringung kennzeichnen diese offensichtlich spannungsgeladene Berührung von Zeit und Ewigkeit: Ein Augenblick spannt sich quasi auf, ohne eine temporale Ausdehnung zu beanspruchen, in der Art, dass sich in ihm abrisshafte Plötzlichkeit (τὸ ἐξαίφνης) und die Weite einer Durchdringung gemeinsam einstellen. Der Augenblick ließe sich als eine Synergie von Zäsur und Weite182 ansprechen, die ich als eine Auf- und Ausspannung der Seele in der Zeit und der Zeit in der Seele begreife (siehe distentio animi). Dieses Aufspannen183 des Augenblicks ist nun nicht quantitativ zu verstehen, sondern als eine qualitative Aufladung, der mit Kierkegaard zwei Aspekte zugesprochen sind: Erstens das Sich­ ereignen eines Selbst-Verhältnisses, das in seinen Worten „Geist“ heißt und bei Heidegger als das „Sichentschließen des Daseins […] zu sich selbst“184 begriffen wird. Zweitens sei der Augenblick eschatologisch aufgeladen.185 Ich gehe davon aus, dass das Selbstsein und das ‚Auf-das-Äußerste-Bezogen-sein‘ (Eschaton) Pole der einen Spannung sind, als welche der Augenblick auftritt. Das bedeutet nicht, dass er apokalyptisch gestimmt sein müsse oder sich in ihm eine grübelnde Sorge186 ob des Endes manifestierte. Auch ohne Tod und Weltenende ins Auge zu fassen, ist jeder Augenblick schon für sich genommen ja stets das Äußerste und der Letzte – jedenfalls, wenn man sich nicht erlaubt, von außen auf die Zeit zu sehen, sie zu ‚über-sehen‘, sondern im Augenblick bleibt. Erst wo Zeit überblickt wird, kann sie als ein Kontinuum unterschiedlicher Augenblicke erscheinen und so der eigentliche Augenblick, in dem man ja immer jetzt gerade und zuletzt ist, aus dem Blick geraten. Zeit zeigt sich als Zeitverlauf nur von einem Standpunkt jenseits derselben. Der Annahme eines ‚gleichförmigen Gangs der Zeit‘ haftet darum paradoxerweise etwas Unzeitlich-Hypothetisches an, das durch die Prozeduren erinnernden Erklärens und sorgenden Antizipierens quasi narrativ erzeugt oder als metrische Zeit quantitativ konstruiert wird187. Meist meint man mit Zeit eine solche hypothe181  Søren Kierkegaard, „Der Begriff der Angst“, in: Hermann Diem/Walter Rest (Hg.), Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, 4. Aufl., München 2012, 441–640, 547. 182  Siehe zu dieser nichtmetrischen Zeitauffassung auch: Guzzoni, Weile und Weite, 71–78. 183  In seinen Arbeiten zur Muße macht insbesondere Hans-Dieter Bahr den Begriff der geltend. ; Bahr, „Fragment über Muße“. 184 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, 224. 185 Kierkegaard, „Begriff der Angst“, 547, Fußnote 2. 186  Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 13. Aufl., Tübingen 1976, 261. Heidegger untersucht die Zeitfrage hinsichtlich der Sorgen und Besorgungen oder eben der Möglichkeit, nicht vollständig von diesen eingenommen zu sein. In diesem Sinne lässt sich hier die Frage nach der Zeit idealtypisch mit derjenigen nach der Muße verbinden. Siehe dazu: Ivo De Gennaro, „Was ist Muße?“, in: eudia. Jahrbuch für Philosophie, Dichtung und Kunst, 8 (2014). 187  Siehe zu der Konstruktion metrischer Zeit und ihrem Verhältnis zu Lebenszeit: Gimmel et al., An den Grenzen der Muße, 93–113.

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I. Allotria zur Zeittheorie

tische Zeitverkettung, die als „Herrschaft der Zeit“188 gefürchtet wird und der Hoffnung Nahrung gibt, man könne sich ihr in Momenten der Zeitvergessenheit oder Zeitranszendierung entziehen. Doch wie könnte sich ausgerechnet ein Moment der Zeit entledigen, der als Momentum diese vollzieht – wenn auch als ein Bruch mit dem abstrakten Zeitlauf? Der Augenblick im emphatischen Sinn ist stets der Äußerste und absolut, nämlich ‚herausgelöst‘ aus dem gleichförmigen Gang der Zeit. Er ist vollkommen zeitlich und zeitlich in sich vollkommen, das heißt nicht bloßer Teil eines Kontinuums, sondern eine zeitliche Ganzheit in sich, aus der herauszutreten bedeutet, die Gegenwärtigkeit eben dieses, äußersten Moments einzubüßen. Im Augenblick findet man sich selbst vor in einer aufklaffenden Endlichkeit, die doch durchdringlich ganz ist. Bruch und Kontinuität in eins gefügt – so löst der Augenblick Zeit ein durch Abriss und Durchdringung. Das jähe Bewusstsein des Selbstseins blitzt im Augenblick auf und unterbricht somit die sich unbewusst fortspinnende Hypothese vom Zeitlauf: Man begreift sich mit einem Schlag als sich selbst, da und jetzt – also radikal in der Zeit. So ist man ausgezeichnet bei sich, wenn man im Abbruch der Projektionen sorgender Geschäftigkeit und der Narrative des Lebensverlaufs sich plötzlich selbst als das Letzte antrifft – im Augenblick in sich zurück und mit sich zusammenfällt. Es handelt sich genauer besehen um eine Zeitmanifestation im Ausnahmeraum der Muße, die sich wie das Ereignis einer Unterbrechung der ‚Geschäfts-Ordnung‘ des Daseins ausnimmt. Der Augenblick ist nicht einfaches Resultat des Vorangegangen, sondern vielmehr als ein Letztes auch Anfang, denn in diesem äußersten Augenblick findet man unmittelbar sich selbst vor – ein Ich, mit dem es nun (etwas) anzufangen gilt. Ewigkeit „durchdringt“ die Zeit als Geschehnis des Selbst- und Augenblickseins, sie ab-solutiert die Endlichkeit des Augenblicks, setzt sie frei, nicht durch Verewigung (Entzeitlichung), sondern durch eine Verzeitlichung, die das Selbst radikal (plötzlich) in die Zeit versetzt, wenn es dort das Allerendlichste antrifft, nämlich sich selbst. Der Augenblick ist als eine absolute Zeitlichkeit des Selbstseins zu verstehen. Kierkegaard drückt das lapidar aus in dem Satz: „Sobald der Geist gesetzt ist, ist der Augenblick da“189, der hier für die „Synthese von Zeitlichem und Ewigen“190 einsteht. Aufgrund dieses Selbstseins, das sich bei genauerem Hinsehen als identisch mit dem ‚Das-Äußerste-sein‘ des Augenblicks erweist, ist der Augenblick paradoxerweise gerade auch auf eine Zukunft bezogen. Dass Kierkegaard der Fußnote, die auf Paulus verweist, im Haupttext unmittelbar die Bemerkung: „So verstanden, ist der Augenblick nicht eigentlich das Atom der Zeit, sondern das Vgl. T heunissen, „Können wir in der Zeit glücklich sein?“, in: T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 37–87. 189 Kierkegaard, „Begriff der Angst“, 546. 190 Kierkegaard, „Begriff der Angst“, 546. 188 

3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis

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Atom der Ewigkeit“191, anschließt, lässt sie als Interpretation folgender Stelle verstehen: Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick [ἐν ἀτόμῳ, ἐν ῥιπῇ ὀφθαλμοῦ] [Hervorhebung und Absetzung JG]192, […] Denn dies Verwesliche muss anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit. [Lutherbibel 1984, 1. Kor. 15, 51–53]

Kierkegaard versteht das Geschehnis der Verwandlung vom Augenblick her, vom „Atom der Ewigkeit“, welches das Zukünftige als „Inkognito“193 des Ewigen aufrufe. Die endzeitliche Verwandlung im Augenblick ist also, Kierkegaard radikal gelesen, nicht ein ausstehendes Ereignis im landläufigen Sinn, sondern löst sich als Endzeit (jeder Augenblick ist der Letzte) ein, sobald der Augenblick die kontinuierliche Zeitreihung aufbricht. Ein ‚Zeitatom‘ ließe sich wohl als (ausstehender) Punkt einer euklidischen Zeitgerade verstehen und so auf ‚später‘ vertagen. Ein ‚Atom der Ewigkeit‘, welches die Ewigkeit und damit auch die Zeit in Gänze in sich unteilbar enthalten müsste, hebt hingegen temporale Linearität notwendig auf. Es stünde der Zeitreihung als Ganzheit gegenüber, die in sich alle Zeitdimensionen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) nicht nivelliert, sondern immanent aufspannt. Wo der Augenblick als Atom der Ewigkeit verstanden wird, kann er also nicht einen ‚späteren‘ Punkt auf einer Zeitgerade meinen, sondern bezeichnet eine andere, in sich selbst ‚ganze‘ Zeit. Die Ewigkeit durchdringt nicht nur den Augenblick, sondern sie wird von ihm zugleich durch seine flüchtige Einzigkeit aufgerufen, durch sein Nie-zuvor, Nie-wieder und Nur-Jetzt. Der Augenblick schließt Ewigkeit gewissermaßen in der Zeit auf, indem er sie zitiert. Er hat darum eine heilsgeschichtliche Aufladung, die, wie Michael T heunissen festgehalten hat, zu einer geschichtsphilosophischen Handlungsermöglichung umschlägt.194 Zugespitzt lässt sich sagen: Kierkegaard macht das Eschaton im Augenblick überhaupt aus. Jeder Augenblick, der im hier gemeinten Sinne immer einzig ist, stellt das Jüngste Gericht, das Versöhnungs- und Erlösungs-Geschehen dar, insofern er als das Allersterblichste und Verwesliche (was wäre endlicher als der Augenblick?) die Ewigkeit (des untergegangenen Augenblicks) aufruft und dadurch die Verwandlung nicht nur des Menschen, sondern im Selbst des Menschen auch die Verwandlung der Welt erwirkt. In der Gegenwärtigkeit 191 Kierkegaard, 192  Das

„Der Begriff der Angst“, 546. ist die von Kierkegaard zitierte Stelle: Kierkegaard, „Begriff der Angst“, 546,

Fußnote 2. 193 Kierkegaard, „Der Begriff der Angst“, 441–640, 446 und 550. 194  Vgl. Michael T heunissen, „Augenblick“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 2017, 649.

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des Augenblicks steht ‚ständig‘ alles auf dem Spiel. Kierkegaard macht für das Zukünftige die Absolutheit des Augenblicks geltend, denn das Zukünftige ist in gewissem Sinn das Ganze, von dem das Vergangene ein Teil ist, und das Zukünftige kann in gewissem Sinne das Ganze bedeuten. Dies kommt daher, daß das Ewige zuerst das Zukünftige bedeutet oder daß das Zukünftige das Inkognito ist, indem das Ewige, als für die Zeit inkommensurabel doch weiter seinen Umgang mit der Zeit pflegen will.195

In der Intention auf den ständig bevorstehenden Untergang der Gegenwart, also im eigentlichen Bewusstsein der Augenblicklichkeit (des Äußersten), kommt Zeitlichkeit in ihrer Mehrdimensionalität ganz zum Ausdruck als eine immanente, paradoxale Spannung: Das temporal Inkommensurable, die Ewigkeit, sucht den Umgang mit der Zeit, so „daß der Augenblick kommensurabel für die Ewigkeit ist, da nämlich der Untergangsaugenblick im gleichen Augenblick die Ewigkeit ausdrückt.“196 Der Augenblick ‚maßt sich‘ gewissermaßen die Ewigkeit ‚an‘ und nimmt so Maß an ihr, indem er als Äußerstes, als das vollgegenwärtige Bewusstsein des Untergangs, die Zeitreihe sprengt und so eine „Fülle der Zeit“ ausprägt. Diese Fülle der Zeit ist es nach Kierkegaard, „um d[ie] alles im Christentum sich dreht, das, was alles neu machte.“197 Der Augenblick ist so verstanden eine Ein- und Erlösung des Selbst in der Zeit und der Zeit im Selbst. Man könnte geradehin das Selbst unterscheiden in ein sich unmittelbar im Augenblick als Spannung vorfindendes Ich-selbst und das Selbst der Verzweiflung (vgl. Krankheit zum Tode, siehe auch Pathologien der Zeit), das sich im Zeitlauf stets verfehlt. Diese Überlegungen zum Augenblick weisen einen Bezug zur Muße auf, der mit einer Radikalinterpretation von Zeitlichkeit verbunden ist. Von alters her erhoffte man just von der Muße Aufschluss über das eigene Selbstverhältnis und die metaphysischen Dimensionen des Daseins. Der Augenblick im hier verhandelten Sinn stellt ein zeittheoretisches Analogon zur Selbstzweckstruktur der Muße dar. Die Vorstellung eines linearen Zeitverlaufs bezieht Evidenz vorwiegend daher, dass sie in Analogie zur Prozessualität von Hervorbringungen oder Erledigungen verstanden und der Zeit so oft kurzerhand die zweckrationale Struktur eines Produktionsvorganges untergeschoben wird.198 Zeit wird also mit dem verwechselt, was wir mit ihr anstellen. Der radikale Augenblick durchbricht diese zweckrationale Verstellung von Zeit und performiert somit temporal den besonderen Freiraum der Muße. Wo sich im Augenblick eine Fülle der Zeit er195 Kierkegaard,

„Begriff der Angst“, 547–548. „Begriff der Angst“, 547, Fußnote 2. 197 Kierkegaard, „Begriff der Angst“, 549. 198  Dem als zu ‚formal‘ gescholtene Zeitbegriff Kants kommt gerade das außerordentliche Verdienst zu, solche verstellende Kurschlüsse von Zeit und Handlung bzw. Hervorbringung und Prozess abzuwehren. Ich versteh den hier entfalteten Begriff des Augenblicks als durchaus vereinbar mit dieser formalen Bestimmung. 196 Kierkegaard,

3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis

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eignet, ist sich die Zeit augenblicklich genug und sieht auf keine außer ihr liegenden (Zeit-)Zwecke. So herrscht im radikalen Augenblick Muße vor und nicht die projektive Ordnung verzweckter Zeit. Muße ließe sich als der besondere Schutzraum begreifen, in dem sich ein Augenblick samt seinen Spannungsmomenten erst einstellen könnte – er ist so aber nicht als eine Ausdehnung, nicht zeit-räumlich zu begreifen, sondern ‚glücklich‘ im emphatischen Sinne des Wortes: von der Zeit beseeltes, eudaimonisches Sichvorfinden im Augenblick.199 Dieses Motiv werde ich nun versuchen weiter zu erläutern, in dem ich das bereits Gesagte mit dem Begriff des Kairos in Bezug setze. 3.2. Kairos In einer monumentalen Pindar-Interpretation diskutiert Michael T heunissen den Begriff des Kairos in den verschiedenen Hinsichten seiner Bedeutung. Er präzisiert dort das gängige Verständnis des rechten Augenblicks als ein Gelingen im Zusammenhang der olympischen T hemenkreise des Sieges, Reichtums und einer Eschatologie des ‚Aufs-Höchste-Zielens‘. Den intentionalen Charakter, der im Begriff des Gelingens mitschwingt, sieht T heunissen aber im Begriff des Kairos aufgehoben, insofern es als ein „Treffen“ zu verstehen sei. „Hölderlin setzt an die Stelle des vom Reichtum ermöglichten Kairos sehr tiefsinnig ‚Glück‘. Gelingen ist aber nur eine bestimmte Art von Glück, das, welches uns die Erfüllung einer Intention gewährt. Daneben kennen wir das andere, das uns inten­ tionslos zufällt. Treffen meint mehr als Gelingen, sofern es zufallendes Glück mitumfaßt.“200

In welchem Sinn es sich um ein Treffen handelt, wird deutlich durch die lebenspraktischen Bezüge des Wortfeldes von Kairos. Eine Wortverwandtschaft besteht im Griechischen zur Webkunst, nämlich zum entscheidenden Moment beziehungsweise Punkt, wenn der Faden mittels des Schiffchens durch das sich kurzzeitig eröffnende Fach ‚geschossen‘ wird.201 Diese etymologische Verwandtschaft des Kairos mit der gelingenden Einfädelung ins Schussfach des Webstuhls findet eine erstaunliche Entsprechung bei der homerischen Verwendung des Begriffs in einem anderen, dazu fremden Tätigkeitszusammenhang, nämlich dem des treffenden Tötens.202 Dort bezeichnet es den verwundbaren Punkt eines 199  Mit dem hier beschriebenen Augenblick ist keineswegs der „Pflock“ gemeint, an den das Tier gebunden sei in einem Glück, das darin bestünde, sich fortwährend zu vergessen. Vgl. Friedrich Nietzsche, „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: ­Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Nachgelassene Schriften (Kritische Studienausgabe 1), 9. Aufl., München 2012, 243–334, 248. 200  Michael T heunissen, Pindar: Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000, 791. 201  Vgl. T heunissen, Pindar, 802. 202  T heunissen, Pindar, 831–833.

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I. Allotria zur Zeittheorie

Jagdwildes oder auch in der Rüstung eines Kriegsgegners, der zu treffen ist, will man obsiegen. Wie in das sich eröffnende Webfach der Faden geschossen werden muss, so muss zum rechten Augenblick der Pfeil in die wunde Öffnung des gepanzerten Leibes entlassen werden. Beiden Tätigkeitsbereichen ist eine besondere Augenblicklichkeit eigen, die, wenn sie auch nicht mit der zuvor beschriebenen gleichgesetzt werden kann, doch charakteristische Übereinstimmungen verrät. Auch hier haben wir es trotz der Dringlichkeit, den richtigen Moment zu ergreifen, nicht mit einer bloßen Punktualität zu tun. Vielmehr ist gerade in der Dringlichkeit der Sachintention die Ursache dafür zu suchen, weshalb sich dieser Kairos als ein Zeitfenster auftut, das sich nicht als Zeitquantum begreifen lässt, sondern als Bezugsintensität eine Spannweite ausbreitet: Der Blick sucht und erwartet das Eröffnen der rechten Stelle und so baut sich eine unzählbare Zeit als Spannung zum Objekt auf – eine Augen-Blicklichkeit. Man will treffen, doch dieses Wollen ist ein Überlassen an die Gelegenheit, die sich eröffnet. Die Intentionalität des Treffens ist nicht auf die Zwecksetzung des Handlungssubjekts abgestellt, sondern dessen Wille zum Objekt ist vielmehr unmittelbar bei sich im Zielen und Treffen, wenn es sich dem Ereignis der Zieleröffnung ausliefert – es ist eine Zielüberlassenheit des Subjekts.203 Die kairotische Willentlichkeit ist also nicht zwecksetzend, sondern gewissermaßen schicksalsträchtig – wer schon einmal mit einem Bogen oder einer Zwille geschossen hat, wird diese ausgespannte Zeit leibhaftiger nachvollziehen können. Im Kairos ist man inständig bei sich, gerade wenn man auf eine Zukunft, die dem Augenblick selbst zugehört – also nicht einfach aussteht, sondern im Begriff ist einzubrechen –, eingelassen ist und sich ihr fügt, damit ‚es‘ gelingt. Während aus der Perspektive der Zweckrationalität Subjekt und Objekt, Gegenwart und Zukunft geschieden sind, verwirklicht sich im Kairos das Wollen als ein Überlassen ans Objekt; im Augenblick manifestiert sich eine Gegenwart, welche von ihrer Zukunft im Treffen völlig betroffen ist. So zeigt sich der Kairos als Augenblick, der, wie oben, die Zeitdimensionen immanent als Spannung ausspreizt. Auch der Kairos ist in die Absolutheit der Abrisshaftigkeit gegenüber dem gleichförmigen Zeitverlauf versetzt: „Das Treffen hat nämlich eine Art Absolutheit an sich. Es ist in dem Sinne ein Absolutum, daß es in seinem Kontext nichts gibt, was darüber hinausginge. Relationiert ist es nur durch das sich in ihm erfüllende Zielen.“204 Die Paradoxalität ist das auszeichnende 203  Aus diesem Grund teile ich die Analyse von Alexander Neupert-Doppler an dieser Stelle nicht, der den Kairos nach folgendem Schema analysiert: „Eine Gelegenheit (G) entspricht der Korrelation von bekannten Zielen (Z) und Mitteln (M) mit geeigneten Umständen.“ Alexander Neupert-Doppler, Die Gelegenheit ergreifen. Eine politische Philosophie des Kairos, Wien/Berlin 2020, 17. Er führt damit den Kairos zweckrational eng, wo m. E. sein Potential gerade in der Überschreitung dieser Zweckrationalität liegt (auch für die politische Praxis). 204  T heunissen, Pindar, 799.

3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis

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Moment, denn die Absolutheit des Kairos-Augenblicks ergibt sich eben durch seine radikale Bindung an das konkrete Ziel.205 Man überlässt sich absolut dem Augenblick im Überlassen an die Dinge, auf die es ankommt. Der Kairos ist der griechischste aller griechischen Zeitbegriffe, sofern in ihm Zeit sich am wenigstens von ihren Inhalten abscheiden läßt. So können in ihn auch Inhalte eingehen, die unendlich bedeutsam sind und ihm selbst eine unendliche Bedeutsamkeit verleihen. Seine ‚Absolutheit‘ besteht in solch unendlicher Bedeutsamkeit.206

Der Kairos meint eine Konkretion des radikalen Augenblicks, nämlich eine Berührung von Zeit und Ewigkeit im treffenden Überlassen ans dinglich Begegnende. Der Kierkegaard’sche Augenblick ist sicherlich weiter und nimmt stärker auf den Begriff des ‚Plötzlichen‘ Bezug. Beide, das Plötzliche und der Kairos, ereignen sich im Augenblick. Zwar ist der Augenblick ein strukturell je anderer, hier der richtige, der als solcher angezielt werden muß, dort der unverfügbar hereinbrechende, der sich jeder Intention entzieht. Aber gemeinsam ist diesen Augenblicken, daß sie aus dem Zeitfluß durch ihre Bedeutsamkeit heraus­ ragen.207

Da gerade die Intentionalität im Begriff des Kairos in einer eigentümlichen Weise aufgehoben ist, beziehungsweise sich als Intentionalität nur dem Überlassen an das Hereinbrechen verdankt, scheint mir diese Differenz letztlich doch zu verschwimmen. Im Zusammenhang dieses Textes müssen solche Fragen auch nicht abschließend geklärt werden. Wichtiger ist nun, sich zu vergegenwärtigen, wie dieser augenblicksbehaftete Kairosbegriff die Bedeutung des rechten Maßes annehmen kann. T heunissen findet zur folgenden Formel: Der Kairos sei das, „was in der Zeit an der Zeit ist.“208 Dass der Kairos als das rechte Maß angesehen werden kann, ist durch diese verschachtelte Zeitlichkeit bedingt, denn „die umgreifende Zeit, die, in der etwas an der Zeit ist“209, interpretiert er als einen Chronos im Sinne eines absoluten Wirklichkeitsprinzips, einer „Macht, unmittelbar die der Dinge und der die Dinge unaufhörlich umgruppierenden Welt“210. Dieser letztlich göttlichen, übersubjektiven Zeit-Wirklichkeit des Chronos entspricht der Mensch subjektiv im Kairos, das heißt in der Weise, wie sich ihm das Gegebene als eine Gelegenheit darbietet.211 Der Kairos ist quasi eine Einlassung auf den Chronos und so gibt sich in ihm das Maß der Dinge aus ihrer absoluten Wirklichkeit, die 205  T heunissen spricht (in nicht kenntlich gemachter Anspielung auf Adorno) von einem „Vorrang des Objekts“. T heunissen, Pindar, 804. 206  T heunissen, Pindar, 804. 207  T heunissen, Pindar, 804. 208  T heunissen, Pindar, 819. 209  T heunissen, Pindar, 823. 210  T heunissen, Pindar, 824. 211  Die frühen Beispiele der Wortverwendung in diesem Sinne, die T heunissen anführt,

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I. Allotria zur Zeittheorie

man auf kairotische Weise antrifft. T heunissen weist darauf hin, dass dieses Maß nichts mit Konvention zu tun hat, sondern vielmehr „das Selbstsein der Dinge als ein gottgesetztes zur Geltung bringt.“212 Die spezifische Struktur des Kairos als die einer relativen Absolutheit rührt also daher, dass im Kairos ein subjektives Einlassen auf die absolute Sphäre göttlicher Dingwirklichkeit statthat. Im Kairos berührt der Mensch sozusagen die Absolutheit der Wirklichkeit (die ihm sonst nur verstellt/vermittelt zugänglich zu sein scheint) in einer aktiven Bezugnahme, welche sich an die Selbstständigkeit des Wirklichen haftet, sich aktiv findet, wo sie sich den Dingen überlässt. So nimmt der Kairos Maß an der absoluten Dingwirklichkeit – auch er ‚maßt sich an‘ in einer Art ‚Kurzschluss‘ von Göttlichem und Sterblichen, der den Kairos als eine „geschichtstheologische Kategorie“213 begreifen lässt. Nun kommt die Eile des auf den Kairos reagierenden Handelns dem Plötzlichen nahe, und insofern reicht der Kairos selbst an das Göttliche heran. Menschlich an ihm ist seine Kürze, die Enge der Öffnung, göttlich die Unverzüglichkeit der Antwort, die er provoziert. Hinzu kommt, daß er ja desgleichen in das Göttliche hineinreicht. […] In der Mitte menschlich grenzt er ans Göttliche, sit venia verbo, bereits an seinem Anfang, nicht erst an seinem Ende.214

Der kierkegaardsche Augenblick unterscheidet sich vom Kairos schon darin, dass im Augenblick die Ewigkeit, im Kairos jedoch die absolute Zeit-Wirklichkeit (Chronos) berührt wird. Analog ist aber doch beiden, dass sich in der Berührung der jeweils absolut gesetzten Sphären mit der radikal endlich-subjektiven eine Art Eigenzeitlichkeit215 aufspannt, die die Subjekte in ausgezeichneter Weise in die Zeit versetzt. Chronos wie Zeitlauf werden in ihrer augenblicklichen Aneignung gewissermaßen aufgebrochen und dadurch erst zeitigend zur Geltung gebracht. Was für das Verhältnis von Augenblick und Muße genannt war, gilt in einem bestimmten Sinn auch für den Kairos. Zwar lässt sich weder das Weben noch die Jagd oder der Krieg als Muße ansprechen, aber in der besonderen Art und Weise, wie sich beim Weben, beim Jagen und im Kampf ein Kairos einstellen kann – nämlich als ein Einlassen, das nicht durch weitere Bedingungen oder Zwecke gesetzt ist, sondern ‚relativ absolut‘ und darin glückspendend gerät – lässt sich der Kairos doch als ein Mußemoment dieser mußefremden Tätigkeiten ansehen. Die Unmuße überschreitet sich im Kairos zur Muße hin; ihr instrumenteller, funktionaler und gewaltsamer Charakter transzendiert sich – nicht zu einem Jenseitigen, sondern im Überlassen an die Dinge im Augenblick finden sich bei Hesiod. Hier gilt es, das rechte Maß zu treffen, um bspw. ein Schiff zu beladen. T heunissen, Pindar, 808. 212  T heunissen, Pindar, 825. 213  T heunissen, Pindar, 828. 214  T heunissen, Pindar, 828. 215  Vgl. in sozialwissenschaftlicher Hinsicht zum Begriff der Eigenzeit und der Sehnsucht nach dem Augenblick: Nowotny, Eigenzeit, 135–160.

3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis

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hin zu einer Muße.216 Der Kairos birgt das zeitanalytische Instrument, um den Umschlag der Alltagsgeschäfte in die Ausnahmesituation der Muße zu fassen. Erst diese Ausnahme im Alltag vom Alltag gibt ein (Erkenntnis-)Maß zu erkennen, das nicht konventionell oder normativ ist, sondern ‚sachgerecht‘. Das gilt allemal bei Tätigkeiten, die der Muße ohnehin zugeordnet werden, wie der Kunst oder Philosophie. Auch hier weist der Kairos den Umschlagspunkt aus, an dem die jeweils eigentümliche Anstrengung sich schließlich in ein treffendes Gelingen verwandelt und so die formale äußere Muße im konkreten Schaffen oder Begreifen einlöst. Wenn Muße als (Selbst-)Zweck angesprochen wird, wird damit letztlich die Mittel-Zweck-Ordnung im Augenblick ihres Gelingens über den Haufen geworfen. Muße bedeutet dann die Ausnahme, die es erlaubt, im Augenblick zu sein und die Denkgehege des Um-zu zu überschreiten, sie ist selbst eine relative Absolutheit. 3.3. Geschichtliche Ereignisse Es liegt nahe, diese Gedanken, die um den Augenblick im existenziellen Lebensvollzug beziehungsweise um den Kairos einer Tätigkeit kreisen, danach zu befragen, ob sie auch als Augenblicke der Geschichte begriffen werden können. Prominent hat das Paul Tillich getan, als er in den Zwanzigerjahren eine regelrechte Kairos-T heologie entwarf. Wie eindeutig Tillich das Motiv des Kairos als ein geschichtliches begreift, versteht sich keineswegs von selbst. Die eschatologische Aufladung, die bei Kierkegaard und T heunissen deutlich wurde, impliziert zwar jeweils einen Verweis ins Geschichtliche, auf ein ausstehendes Ereignis, das bedeutet aber noch lange nicht, dass damit auch ein historischer Augenblick angesprochen wäre.217 Die Frage nach der Bedeutung von Augenblick und Kairos für die Geschichte macht deren Verhältnis zu Zeitlauf und Chronos wiederum zum T hema, nun aber in einer veränderten Fragerichtung, nämlich was es für Geschichte bedeuten kann, dass es Momente zu geben scheint, in denen „das Ewige in die Zeit einbricht, diese erschüttert und umwendet und eine Krise schafft im tiefsten Grund der menschlichen Existenz.“218 Gegenüber einer quasi horizontalen Verkettung von Zeitumständen begreift Tillich den geschichtlichen Augenblick als einen vertikal dazu verlaufenden Einbruch in die Zeit, der als eine 216  Zur Transgressivität der Muße vgl. Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl, „Einleitung“, in: Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft (Otium 5), Tübingen 2017, 1–17. 217  Die Wendung ins Geschichtliche gehört zu den zentralen Differenzmerkmalen der kairologischen T heologie Tillichs gegenüber der dialektischen T heologie. Vgl. Alf Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, 41–48. 218  Paul Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit: Schriften zur Geschichtsphilosophie (Gesammelte Werke 6), 2. Aufl., Stuttgart 1963, 22.

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Erschütterung des Geschichtsverlaufs Geschichte für das Handeln der Menschen erst eröffne.219 Salopp und vorausgreifend gesagt geht es darum, die Bedeutung von revolutionären Ereignissen zu untersuchen, insofern man den radikalen Augenblick als Zeitform und geschichtsphilosophische Kategorie ernst nimmt. Der christlichen T heologie (und keineswegs nur ihr) steht eine Glaubensevidenz zur Verfügung, die die Verbindung von Kairos und Geschichte prototypisch ausweist: Die Offenbarung im Ereignis der Fleischwerdung beziehungsweise Selbstaufopferung Gottes. Im historisch zuerst verschwindend unauffälligen Augenblick dieses Ereignisses wende sich angeblich die Geschichte und erhält so eine Bedeutung, die sie ausrichtet und mit Erwartung erfüllt. Die von mir existenziell und zeittheoretisch verstandenen Aussagen über den Augenblick finden durch solche (und ähnliche) Narrationen eine religiös-mythische Fundierung, die – und das ist für mich das Interessante – einen unmittelbaren Bezug zwischen radikalem Augenblick und Geschichte herstellen: Geschichte unterscheidet sich so in ein ‚Vor-‘ und ‚Nach-dem-Ereignis‘, sieht sich ausgerichtet auf eine bevorstehende oder wiederkehrende ‚Erfüllung der Zeit‘. Solche Narrative einer sich durch Wendepunkte konstituierenden Geschichte durchweben die Zeit mit einer Dramaturgie von Zeitspannen (Epochen), die sich im Sinne von Erwartungen, Versprechungen, Befürchtungen, Prophezeiungen und so weiter auf Ereignisse erfüllter Zeit beziehen.220 Geschichte wird gewissermaßen erst durch kairo­tische Augenblicke eigentlich geschichtlich gegenüber dem gleichförmigen Zeitlauf von Naturzyklen oder der Zeitenthobenheit theoretisch-mystischer Wahrheitsschau221. In säkularisierter, moderner Form weist sich diese dramaturgische Geschichte in Form von utopischen, fortschrittsoptimistischen, restaurativen und auch säkular-apokalyptischen Narrativen aus. Geschichte konstituiert sich so jeweils in Bezug zu ihren Wendepunkten, durch die sie Richtung und Sinn erhält. Die Augenblicke, auf die es ankommt, sind kairotischer Art und evozieren selbst wiederum ein kairotisches Verhältnis zur Geschichte. So jedenfalls, wenn man Tillich folgen will: Kairos ist in biblischer Sicht „erfüllte Zeit“ – die Zeit, in der das Erscheinen des Christus möglich wurde […] Man könnte dies so ausdrücken, daß man sagt, der „große Kairos“ in der geschichtlichen Entwicklung setzt viele „kleine Kairoi“ voraus […]. Der „große Kairos“ bedarf auch vieler „kleiner Kairoi“, damit er von der ihm folgenden Entwicklung rezipiert werden kann.222

Der Widerstreit von Raum und Zeit, 153–154. In marxistischer Perspektive hat Badiou eine Interpretation der Ereignisstruktur bei Paulus vorgelegt. Vgl. Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, übers. v. Heinz Jatho, München 2002. 221 Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit, 10. 222 Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit, 138. 219 Tillich, 220 

3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis

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Man muss sich hüten, diese Kairoi-Verstrickung der Geschichte als historische Kausalität misszuverstehen; besser gefasst wäre sie als ein Bedeutungszusammenhang, in dem sich aufeinander Bezug nehmende Sinn-Wenden einschreiben und dadurch jeweils wiederum einen Sinnzusammenhang entstehen lassen. Die kleinen Kairoi determinieren keineswegs den großen Kairos oder umgekehrt. Es geht vielmehr darum, was es bedeutet, durch den Ereignischarakter geschichtlicher Augenblicke betroffen und angesprochen zu sein, also was es heißt, dass Geschichte uns etwas bedeutet und darin einen Sinnzusammenhang anspricht. Ein Ereignis ist durch die Betroffenheit der geschichtlichen Subjekte von dem plötzlichen und geradezu wundersam erscheinenden Neuen, ‚relativ Absoluten‘ eines historischen Augenblicks bestimmt. Relativ ist ein solches Ereignis sowohl in Bezug auf vorangegangene Ereignisse, die es, Versprechen gleich, einzulösen scheint, als auch gegenüber dem geschichtlichen Alltag, den es unterbricht und somit vergangen sein lässt; relativ ist es auch in Bezug zu der in ihm hereinbrechenden Zukunft, deren Anfang es darstellt. Als Ende und Anfang ist ein Ereignis herausgehoben aus dem gleichförmigen Gang der Geschichte und selbst eine Art absoluter Geschichtlichkeit, die den Charakter einer Offenbarung annehmen kann. Diese Absolutheit liegt wiederum in einer ‚unendlichen Bedeutsamkeit‘, hier nicht hinsichtlich der Dingwirklichkeit, sondern als Sinn-Moment des Geschehens, das sich allen Betroffenen ausspricht und sie in seinen Bann schlägt. Es geschieht plötzlich und durchaus überraschend etwas, das der Vergangenheit einen zuvor nicht sichtbaren Sinn verleiht und die Gegenwart mit einem Schlag für eine nicht geahnte Zukunft öffnet; etwas, das durch den gewöhnlichen Gang der Dinge nicht zu erwarten gewesen wäre. Ein historisches Faktum mag zwar kausal vom Standpunkt einer – letztlich immer bloß hypothetischen und stets nachträglichen – Meta-Perspektive durch seine Zeitumstände erklärbar sein, das ändert aber nichts daran, dass es als geschichtliches Ereignis nur anzusprechen sein wird, insofern es aufgrund seiner unendlichen Bedeutsamkeit mit diesen Umständen zugleich bricht. Erst der Bruch mit dem gleichförmigen Geschichtsgang in einem Ereignis lässt Geschichte wirklich anbrechen. Analog zu den vorangegangenen Überlegungen zur Zeitlichkeit des Augenblicks lässt sich auch hier sagen: Geschichte löst sich erst dort als Geschichte ein, wo sie als Ereignis aus dem bloßen Geschichtslauf herausragt, ja ihn gewissermaßen unterbricht. Tillich begreift den Kairos als Erschütterung, die – wir kennen das schon – durch eine paradoxale Spannung von Zeitlichkeit und Ewigkeit bestimmt sei. Die Idee des Kairos „enthält das Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit, […] aber sie enthält zugleich das Bewußtsein, daß es keinen Zustand der Ewigkeit in der Zeit geben kann.“223 Dieses paradoxale Zeitbewusstsein versteht er, wenigstens noch 1926, als das besondere Geschichtsverhältnis der Prophetie. „Eine Zeit als Kairos betrachten heißt, sie im Sinne einer unentrinnbaren Entscheidung, einer 223 Tillich,

Der Widerstreit von Raum und Zeit, 35.

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unausweichlichen Verantwortung betrachten, heißt, sie im Geiste der Prophetie betrachten.“224 Wodurch aber zeichnet sich diese prophetische Geschichtlichkeit für Tillich aus? Vornehmlich dadurch, dass sie überhaupt als geschichtlich gelten kann gegenüber einer vorherrschenden Geschichtslosigkeit, die in der mystisch-theoretischer Idee überzeitlicher Wahrheit und auf der Kehrseite in einem positivistischen Naturalismus begründet sei. Geschichte meint im Sinne Tillichs gegenüber diesen Formen ahistorischer Objektivität gerade, dass sie sich als Entscheidung für Menschen aufgibt. Die determinierende Kausalität – ein Prinzip der Erklärung, keines des Urteils und der Entscheidung – ist im geschichtlichen Kairos aufgehoben, wenn es augenblicklich auf die Betroffenen ankommt, die sich einer Kontingenz ausgesetzt sehen, die der Entscheidung harrt. Dem Ereignis kommt dann eine relative Absolutheit gegenüber dem Geschichtsverlauf zu. In den historischen Kausalzusammenhang brechen solche Entscheidungsmomente wie Schicksalsschläge menschlicher Freiheit ein und so ragt ein Moment des Unbedingten in den Zeitlauf. Prophetie weiß sich aktuell betroffen durch ihre Zeit, steht vor einer Entscheidung, die es augenblicklich zu fällen gilt, damit die Zukunft gelingt, und führt somit in eine Krise, die als die objektive Freiheit der Entscheidung ein Schicksal darstellt. Man könnte sagen: Neues tritt in die Zeit, indem sie durch die Bedeutsamkeit eines kairotischen Augenblicks unterbrochen wird, einhält und Geschichte als die Gelegenheit eröffnet, in der augenblicklich die Zukunft gelingen kann. Die für Tillichs religiösen Sozialismus maßgeblichen prophetischen Stichworte seiner Zeit fand er bei Marx und Nietzsche. Mit ihnen ist der Widerstand gegen einen Komplex an Zeit – Vergessenheit – man könnte auch sagen an Augenblickslosigkeit – angezeigt, der sich als „technisch-mathematische Welterklärung der Naturwissenschaft, die rationale Auffassung der Wirklichkeit als Maschine mit ewig gleichen Bewegungsgesetzen und mit unendlich sich wiederholendem, berechenbarem Naturprozeß“ darstellt. Diese „Geisteshaltung […] hat sich ihrer eigenen Schöpfung so überantwortet, daß sie sich selbst als einen Mechanismus betrachtet und hat vergessen, daß diese Maschine durch sie selbst geschaffen wurde“225. Zu einer regelrechten „Dämonie des bürgerlichen Geistes“ in der „kapitalistischen Wirtschaft“ wächst sich nun solche Vergessenheit aus als ein System, „das dazu zwingt, im unendlichen Dienst am Endlichen und im Kampf aller gegen alle Leib und Seele zu opfern“226. Das Dämonische an dieser Struktur liegt laut Tillich gerade darin, dass sie „tragend und doch zerstörend ist“227. Sie entfaltet einen totalen Geltungsanspruch hinsichtlich des sie kennzeichnenden Verständnisses von Realität und gestaltet die geschichtliche Wirklichkeit vollständig nach diesem. Das betrifft das Zeitverständnis, insofern es nur Der Widerstreit von Raum und Zeit, 33. Der Widerstreit von Raum und Zeit, 11. 226 Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit, 39. 227 Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit, 39. 224 Tillich, 225 Tillich,

3. In-der-Zeit-sein: Augenblick, Kairos und Ereignis

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mehr einen kausal gefügten, in metrischer Zeitordnung berechenbar gemachten Zeitverlauf meint. Der kairotische Augenblick ist gerade darum ein Bruch mit dem bloßen Zeitlauf, da er sich dem Totalanspruch einer Wirklichkeit als Mechanismus entzieht und dabei Zeit als geschichtlich dynamisch und bedeutsam erlebt. Der geschichtliche Kairos ist für Tillich (subjektive) Erschütterung, (objektive) Entscheidung und Krise (als Schicksal der Freiheit). Es sollte deutlich geworden sein, wie sich in Augenblick, Kairos und Ereignis in je spezifischer Weise die Motive des Zeithabens als Zeitsein, des Dass-des-Jetzt, eines Tumults der Zeit, und der Dynamisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in einer Temporalität als Spannung einlösen. Sie können gewissermaßen als die eigentlichen Verwirklichungsformen von Zeit gelten, ohne die alle metrischen Zeiteinheiten (Sekunden, Minuten, Stunden etc.) sinn- und zeitlos blieben. In dem folgenden, als „Schwelle“ bezeichneten Übergangskapitel möchte ich diese zeit­theo­re­ti­schen Gedanken anhand einiger Überlegungen zur geistesgeschichtlichen Bedeutung der Idee der Revolution bündeln und in den Bereich unseres aktuellen Standpunkts der Zeitpraxis überführen.

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I. Allotria zur Zeittheorie

4. Schwelle: Der Einbruch von Chronos in den Augenblick – Revolution Die Vorstellung eines linearen Zeit- und Geschichtsverlaufs ist heute im Alltag leitend und ihr gegenüber stellen die beschriebenen Zeit-Ausnahmen (Augenblick, Kairos, Ereignis) Einbrüche oder Unterbrechungen dar. Doch nicht immer wurde die Zeitlinie als eine Gerade begriffen (oder als ‚Fluss‘), die Zeitpunkt A (Ursprung) mit Zeitpunkt B (Zeitziel) verbindet und sich fortschreitend mit sich selbst ungleich macht. Vielmehr wurde Zeit die längste Zeit von den kosmischen Formationen des Himmels her verstanden, die sich wiederholend rund bestätigen, also just keine geraden Wege gehen, sondern kreisen. Das macht im Weiteren den neuzeitlichen Begriff der Revolution zum T hema, da er zuerst diese umwälzenden Himmelsbewegungen meinte und erst später die Bedeutung eines Ereignisses der Geschichte annahm, in dem sich die Weltverhältnisse selbst umdrehen sollten. Gewissermaßen sind die runden Zeitumwälzungen des Himmels mit der Revolution in den irdischen Augenblick eingebrochen und darin gebannt worden. Solche Umwälzungs-Ereignisse stellen im modernen Geschichtsverständnis Zeitpunkte dar, zwischen denen sich Zeitlinien der Bedeutung spannen, die als Epochen angesprochen wurden – das Wort Epoche leitete sich ja gerade vom Anhalten der Zeit her (epechein)228. Insofern der Begriff Revolution zuerst die Umwälzungen am Sternenhimmel bezeichnet, weist er der Sache nach (nicht im historischen Wortgebrauch) auf einen Angelpunkt im aristotelischen Verständnis der Beziehung von Raum, Zeit und Bewegung. Er ist kein theoretischer Begriff neben anderen, da er das besondere Momentum anspricht, welches das Verhältnis von Raum und Zeit als Ereignis eines „Bewegungsspielraums“229, wie Eugen Fink formuliert, begreifen lässt, und so ein inneres Maß der Dinge enthüllt: Im Gewölb des Himmels ist der Weltort des Anwesens, er sammelt und versammelt alles Bewegte; sofern der unvergängliche Himmel ist, ist auch alles ihm Wirbelnde, Aufscheinende und Wegsinkende, Wachsende und Schwindende, Sich-Wandelnde und Ortsveränderliche, im Sein gehalten und festgemacht; sowohl des Aristoteles Lehre vom Raum, als die von der Zeit, als auch die von der Bewegung vollendet sich in einer T heorie des Himmels.230

T heorie wird hier von der sinnlichen Erfahrung her verstanden, der Betrachtung des Himmels, die eine grundsätzliche Einsicht in die Verfasstheit der Wirklichkeit birgt. Wenn Erkenntnis und T heorie nicht nur statische Wahrheitssätze und Lehrgebäude meinen, sondern zuerst wie Ereignisse treffender Friedrich Kluge/Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl., Berlin 2002, 250. 229 Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung, 234. 230 Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung, 234. 228 

4. Schwelle: Der Einbruch von Chronos in den Augenblick – Revolution

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Einsicht auftreten, die an konkrete Erfahrungsmomente und die besonderen Augenblicke ihres Gelingens geknüpft sind, dann hat T heorie etwas Kairotisches an sich, auch wenn sie davon im Weiteren absieht. In einer ‚T heorie des Himmels‘ findet in charakteristischer Weise eine Berührung von Zeit und Ewigkeit oder Überzeitlichkeit statt. Man schaut im Augenblick der Himmelsbetrachtung ja quasi ins Unveränderliche eines Nichts, vor dem als Hintergrund die Sterne ihre ewigen Bahnen ziehen. Die ‚Revolutionen‘, die Bewegungen am unbewegten Himmelsgewölbe, zu betrachten, birgt gewissermaßen idealtypisch diesen Kairos der T heorie, der unter dem Namen Muße, scholé, überliefert wurde. Zielt man nicht bloß auf die konkrete Dingwirklichkeit von Webstühlen, Jagdwild, Schiffsladungen und dergleichen, sondern auf Himmelsdinge, dann trifft man womöglich, den Worten Eugen Finks gemäß, im entsprechenden Kairos – nämlich in der Muße zur T heorie – das Maß der Welt (T heunissen sagte gar: das Göttliche). Der durchaus exaltierte Anspruch der Philosophie, an das Ewige im Augenblick der Erkenntnis rühren zu können, wurde im deutschen Idealismus, insbesondere bei Hegel konsequent geschichtlich begriffen. Das impliziert, dass nun der Kairos der T heorie als ein Erkenntnismoment der Geschichte verstanden werden muss. Nicht eine geschichtlich indifferente Erkenntnis ereignet sich an beliebiger Zeitstelle, sondern in der Geschichte ‚reift‘ (siehe unten) vielmehr ein Begreifen heran, bis es schließlich wie die sprichwörtliche Erkenntnisfrucht einer Gegenwart zufällt und die historische Gelegenheit eröffnet, Vernunft praktisch zu verwirklichen. Die Idee der Aufklärung impliziert einen geschichtlichen Wendepunkt, der T heorie im rechten Augenblick praktisch einlöst. Es handelt sich dabei buchstäblich um einen Augen-Blick, um illuminierende Einsicht, durch die nicht nur „die Natur im Menschen ihr Auge aufschlägt und bemerkt, dass sie da ist“231, sondern in der der Mensch seiner geschichtsmächtigen Wirklichkeit eingedenk würde. Der Augenblick der T heorie wandert vom „bestirnten Himmel“232 in die Herzen der Menschen und kräftigt als Einsicht noch ihre Hände, so dass sie eine Welt der Vernunft erbauen lernen – so das zukunftsoptimistische Pathos der Aufklärung. Dieses Einbrechen der Mußerevolutionen des Himmels und Geistes in den geschichtlichen Augenblick werde ich exemplarisch an der Begriffsgeschichte der Revolution, wie sie Eugen Rostenstock-Huessy dargelegt hat, zu konkretisieren versuchen: In der Neuzeit sei nicht bloß der Begriff der revolutio als ein astronomischer in Mode gekommen, sondern rief dabei auch eine andere ‚Wissenschaft‘, damals en vogue, auf den Plan: die Astrologie. Diese heute in Verruf geratene Herme231 

Dieser Ausspruch wird gemeinhin Schelling zugeschrieben, lässt sich aber wörtlich nicht nachweisen. 232 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft (Kants Werke. Akademie-Textausgabe 5), Berlin 1968, 161.

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I. Allotria zur Zeittheorie

neutik der Sterne hatte an Konjunktur gewonnen mit der zunehmenden Säkularisierung, durch die die Menschen in eine nie dagewesenen planetar-wissenschaftlichen Verlorenheit gestürzt wurden (letztlich dieselbe, die sich erneut in der Einsicht in die ökologische Katastrophe des „Raumschiffs Erde“233 kundtut): Und das himmlische Zelt erschien so als tröstliche Hülle der menschlichen Siedlung auf der Erde. Erst jenseits dieses starren Sternenmantels lag die göttliche Welt. Diese Vorstellung bricht nun zusammen. Die Sternenwelt wird unendlich; sie wird die letzte Instanz. Die Erde wird passiv unter das furchtbare Gesetz dieses unendlichen Himmels gestellt. […] Die Erde wird Teil des Weltraumes. Der Mensch wird vom Ebenbild Gottes zum Erdensohn, zum Bewohner eines Planeten. Die Verarbeitung dieser Erkenntnis hat das ganze 17. Jahrhundert in Anspruch genommen, immer in der Form eines Krieges zwischen Astronomen und Astrologen. […] Aber beiden gemeinsam ist die Erkenntnis, daß die Erde selbst in die Umwälzungen und Umdrehungen der Himmelskörper miteingerechnet werden muß, und daß die Erde im ganzen aus dem Weltraum ihr Geschick empfange.234

Als die Erde und mit ihr die Menschen in der Weite des Universums verwaist waren, spendete es doch Trost, wenigstens berechnen zu können, mit welcher Weltumwirbelung welche Geschick-Konstellationen eintreten sollten. Diese frühe wissenschaftlich Bemächtigung des Schicksals durch die Astrologie zielt auf die Prophezeiung günstiger Zeitpunkte für politische Manöver, Heiraten, Kriege und dergleichen ab. Die rechten Augenblicke, gewissermaßen Kairoi des Universums, wurden als Revolutionen im planetaren Gang angesprochen. Von da an verstrickt sich die Wortgeschichte ungemein. Grob vereinfacht lässt sich sagen: Einerseits wird die politische Entwicklung nicht nur punktuell, sondern in größeren Bahnen mit dem Umlauf der Sterne analogisiert und Revolution als „Kreislauf zurück zum Anfang“235 verstanden. „Also bedeutet hier R. genau wie bei Hobbes wunderbare nach stürmischen Zwischenfällen sich durchsetzende Rückkehr der alten Ordnung und damit das volle Gegenteil des heutigen Sprachgebrauchs.“236 Nun waren nicht alle Umwälzungen restaurativ, sondern konnten ganz im Gegenteil auch destruktive Aufwallungen des Sternen-Schicksals meinen, wie es im italienischen Sprachgebrauch der Renaissance leitend wurde, wo rivoluzione „umstürzende Verfassungsänderungen in den italienischen Stadtrepubliken“237 meinte. Der heutige Sprachgebrauch, der sich erst um die Ereignisse von 1789 herausbildete, bezog von dort seinen umstürzlerischen Charakter. Schon mit Rousseau und Voltaire nimmt die Revolution den CharakPeter Sloterdijk, Was geschah im 20. Jahrhundert? Berlin 2016, 23. Eugen Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, Sonder-Abdruck, Breslau 1931, 5–6. Ausführlich dazu: Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Stuttgart 1951. 235 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 9. 236 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 11–12. 237 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 14. 233  234 

4. Schwelle: Der Einbruch von Chronos in den Augenblick – Revolution

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ter einer „objektiven Totalumwälzung“238 an, die ins Licht des aufklärerischen Programms gestellt war, also gerade auch den Geist der Menschen umwälzen sollte, beziehungsweise ihn zum objektiven, wirklichkeitsmächtigen Handlungssubjekt der Umwälzung ausrief. Das [sic] was die Zeitgenossen Keplers erschüttert hatte, den Menschen frierend und gesetzesunterworfen auf dem Planeten Erde weiträumig und weitläufig leben zu sehen, das wird von der Aufklärung nicht mehr mit Zittern, sondern mit Freuden bejaht: Denn der Geist eilt den Ereignissen voraus! Dies ist das Neue.239

In der sozialistischen Aneignung des Sprachgebrauchs wird die Revolution schließlich zu einem weltgeschichtlichen, wissenschaftlich betriebenen Programm permanenter Weltumwälzung. Das Bewußtsein der Revolutionäre ist ein wesentliches Element des Weltzustandes im ganzen geworden. Die permanente Zerstörung des Bestehenden ist bewußt gewordene Aufgabe: Die Gesellschaft wälzt selbst den Zustand des Erdballs in einem objektiven, naturnotwendigen, gesetzmäßigen Umfang um.240

Die Revolution erklärt nun den sich drehenden und unter ihrem Zugriff windenden Erdball zum Objekt ihrer unaufhörlichen geschichtlichen Umwälzung. Sie nimmt dadurch – die Rede von der Permanenz spricht es deutlich aus – den prozessualen Charakter der Natur an, derer sie sich im organisatorischen Durchgriff bemächtigt. Geschichte wird selbst naturgesetzlich in dem revolutionierten Sinn, dass sie der Natur ihr historisches Gesetz gibt – nicht es von ihr empfängt. Geschichte meint in der Moderne zusehends eine Naturgesetzlichkeit der Naturbemächtigung. Und doch bleibt auch diese Vorstellung an den Augenblick geheftet, insofern eine historisch-materialistische Lehre von der ‚Reife‘ (oder technischer: dem ‚Entwicklungsstand‘) der Umstände für die Revolution auf den Plan tritt. Hierin gerade sieht Rosenstock-Huessy eine erstaunliche Wiederkehr des astronomischen Bedeutungsgehalts. Der Anschluß an das neuzeitliche Weltbild wird eben dadurch gewahrt. Denn nun handelt zwar der Mensch klassenbewußt, ja zielbewußt; aber nur wenn und weil der gesamte objektive planetarische Weltzustand „reif“ ist, ist die Revolution der Welt vollziehbar. Der Begriff der „Reife“ der Sozialwelt verbindet also den modernen aktivistischen Revolutionär mit dem objektiven Wesen, das Revolution seit der Astronomie des 16. Jahrhunderts ausdrückt. Was damals im astronomischen Kalender fällig, ist nun innerlich im ökonomischen Prozeß „reif “!241

Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 18. Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 20. 240 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 35. 241 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 38. 238 Rosenstock, 239 Rosenstock,

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I. Allotria zur Zeittheorie

Gewissermaßen läuft nun das geschichtliche (Ziel-)Bewußtsein seiner eigenen Tatkraft als Faktum hinterher und berechnet Sternenkarten der Zukunft und Bauernkalender des rechten historischen Moments aus dem Material seiner Agilität. Diese invertierte Geschichtslogik, die das planetare Handeln der Menschheit als Faktum bloß mehr reflektiert und ihm sozusagen reflexhaft ‚hinterherhandelt‘, weist sich als besagter Reifeprozess weltgeschichtlicher Ökonomie aus, dessen rechte Erntezeitpunkte der historische Materialist bestenfalls noch zu konstatieren und in der Revolution zu organisieren hat. Oder sie erscheint – wie bei Tillich gegen den Kapitalismus gewendet – als ein Fortschritts- und Erkenntnis-Mechanismus, der, obgleich menschengemacht, Wachstum und Konkurrenz als zwingende Naturautomatismen der Evolution perpetuiert. Jeweils ist der Mensch in eine eigenartige Fatalität gegenüber seinem eigenen Handeln versetzt, das er nicht einzuholen im Stande zu sein scheint. Die Welt wird weder als statischer beziehungsweise wiederkehrend in sich schwingender Wirklichkeitszusammenhang begriffen, noch als dynamischer Gestaltungsraum, sondern vielmehr als verselbständigte Dynamik menschlicher Geschichte, sie „wird künftig stärker nach der Seite ihrer Veränderlichkeit als nach der Seite ihrer Beständigkeit angesehen. Daß sie sich wandelt, erscheint als das Erste, daß sie im Wandel Bestand hat, wird zum zweiten Faktum. […] Aus der Ausnahme ist die Regel, aus dem Augenblick die Dauer geworden.“242 Diese Veränderlichkeit als Prinzip wird nicht als Liquidität vorgestellt (Rosenstock nennt dies das ‚neptunische‘ Verständnis243), sondern vielmehr Wirklichkeit nun als Ereignishorizont einer Explosivität („vulkanisch“). Dass im revolutionären Geschichtsbewusstsein (dem bürgerlichen wie dem sozialistischen) die technische Wirklichkeitsbewältigung und der Fortschrittsautomatismus die Form naturaler Prozesse annehmen,244 zeitigt Rückwirkungen auf das Verständnis von Natur im engeren Sinn, deren „Veränderungen [sich nun] als Sprünge, Einbrüche, Zusammenbrüche“245 darstellen. Die Logik permanenter Revolution sickert, folgt man Rosenstock, von der politischen Sphäre zurück in die Lehre von der Natursubstanz, die nun selbst als eine revolutionäre beziehungsweise ‚katastrophale‘ Dynamik begriffen wird. „Der Begriff der ‚Katastrophe‘ [etymologisch ‚Umwendung‘] ist der moderne Naturforschungsbegriff, der sich neben ‚Revolution‘ stellt. Beide, Katastrophe und Revolution, werden im modernen Weltbild sozusagen legitim.“246 Die Katastrophe stellt so betrachtet eine Nachfolgefigur der energeia beziehungsweise der entelecheia dar – sie ‚bringt allerdings nichts ins Werk‘, sondern sprengt die Form, um Energie freizusetzen; sie ist ‚produktive‘ Vernichtung. Diese katastrophische OrdRevolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 40. Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 34. 244 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 41. 245 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 41. 246 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 41. 242 Rosenstock, 243 Rosenstock,

4. Schwelle: Der Einbruch von Chronos in den Augenblick – Revolution

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nung weise sich im mikrologischen Planetensystem der Atome aus, in dem sich „unausgesetzte Entladungen, Katastrophen, Revolutionen“247 ereignen. Dieser im Jahre 1931 hellsichtige Hinweis auf ein ideologieübergreifendes Verständnis der Wirklichkeit als einer Katastrophenordnung permanenter Natur-Revolution, die in Fortschritts-Revolutionen auch die Gesellschaft „zurechtrücken“248 sollte (und im „Weltkrieg die objektive Weltrevolution“249 ausmachte), fand nur allzu bald seine furchtbare Bestätigung im historischen Ereignis. Auch wenn sich dieses Revolutions-Verständnis von Welt heute tendenziell nicht mehr des Bildes der Atom-Dynamik bedient, sondern ein kybernetisches Modell informationsprozessierender Schaltungen an dessen Stelle getreten ist, bleibt die Idee der punktuellen Revolution als explosive Energiefreisetzung auch heute leitend. Eine Mikro-Struktur der Verkettung von Entscheidungsereignissen, von sprunghaften Umschaltungen scheint zum Modell für Wirklichkeit zu avancieren, so als offenbare die Welt in Form einer Platine endlich ihre Geheimnisse. Auch hier gilt die Logik vom „vulkanischen Satz: Natura facit Saltus. Die Natur macht Sprünge“ – denn was ist Information im kybernetischen Verständnis anderes als eine Formation mikroelektronischer Vulkanausbrüche, ständige Entscheidung, Erschütterung, Krise? Der Augenblick scheint ubiquitär, total geworden zu sein – und doch zugleich einer radikalen Augenblicklichkeit beraubt, wo dessen kairotisches Moment auf Dauer gestellt ist. Wenn alles in einer Verkettung kairotischer Entscheidungen auflösbar wird (in der Logik des 1/0), verliert sich die unendliche Bedeutung des Augenblicks in der Gleichgültigkeit der Entscheidungspunkte: Alles ist Entscheidung und darum alles entschieden egal. Das ungeheure Potential digitaler Technik gegenüber analogen Medien liegt ja gerade darin, dass diese vulkanische Vermittlung von jeder inhaltlichen Qualität absehen kann, also formal gegenüber jedem Inhalt gleichgültig ist. Paul Virilio notiert in einem späten Text über die „Allgegenwart des Augenblicks“: Anscheinend lockt uns eine Art dromologische, zeitlose Amnesie, die immer nur eine andere Version des Gleichgewichts des Schreckens sein kann – der informatischen Abschreckung einer kybernetischen Augenblicklichkeit, die die Nachfolge der nuklearen Abschreckung des letzten Jahrhunderts antreten ­könnte.250

Die Erde hatte sich ab dem Augenblick, der drohte, die gesamte Menschheit mit einen (Nuklear-)Schlag auszulöschen, endgültig zu einem fragilen und verwaisten kleinen Gestirn globalisiert. Der Augenblick ist hier maßgeblich bestimmt als Drohung und Synchronizität (eine Modifikation von Durchdringung und Abriss) – alle werden auf einen Schlag umkommen! Diese erschreckend reale VorRevolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 41. Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 41. 249 Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, 38. 250  Paul Virilio, Der Futurismus des Augenblicks, übers. v. Paul Maercker, Wien 2010, 57. 247 Rosenstock,

248 Rosenstock,

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stellung von der globalen Synchronizität der Vernichtung verkehrt sich in der digitalen Revolution jedoch zu einer Verheißung. Im Medium digitaler Technik werden unterschiedliche Zeiten virtuell gleichgeschaltet und somit tendenziell die unterschiedlichen Eigenzeiten von Menschen, Dingen, Handlungen, Entfernungen, Altern und so weiter in eine Beziehung der Unmittelbarkeit gesetzt. Alle sehen sich bei allem Möglichen in Echtzeit zu und sind so permanent in Augen-blicken befangen, alles wird zur Information, die in jedem Augenblick gegoogelt werden kann und so weiter. Selbst die Last der Planung unseres Konsums soll von unseren Schultern genommen werden durch künstliche Konsum­ intelligenz, deren Vorrichtungen allesamt auf eine Instantialisierung zielen, auf eine infinitesimale Annäherung der Dauer an die totale Augenblicklichkeit des Verbrauchs. So kommt schließlich die Zeit, von der befreit zu sein, sich so viele wünschten, tatsächlich abhanden: Man hat keine Zeit mehr, weil man für nichts mehr Zeit braucht. Das scheint ein zentrales Paradox der modernen Lebenswelt zu sein, die bemüht ist, den Zeitverbrauch auf ein Minimum zu begrenzen und damit alle Zeitlücken, in denen man noch hätte zu sich finden können, schließt, während uns schon das folgende Projekt auf die Spur bringt und mit sich reißt. Sollte es den transhumanistischen Bemühungen des Google-Managers mit dem sprechenden (und amüsanten) Namen Raymond Kurzweil gelingen, den Tod tangential ins Unendliche zu verschieben, dann wird auch die Lebensspanne selbst obsolet, da Existenz unabhängig von biographischen Sperenzchen und der Bedeutung des Alters unmittelbar zur Verfügung stünde und in jedem Moment rast- und atemloses Weiterleben verspricht. Bis dahin und dafür werden viele sterben: Menschen, Tiere, Pflanzen, Arten, Hoffnungen. Während also die globale Welt auf technischer Ebene zusehends zu einer Synchro­nizität totaler Augenblicklichkeit zusammensurrt, kehrt eine Drohung in ungeahnter Dringlichkeit wieder in Form der Klima-Eschatologie des für uns zu klein gewordenen Gestirns. Manische Digitaltechniker tüfteln an ihrer Unsterblichkeit, während die ganze Welt zu verrecken droht – eine verstörende Gleichzeitigkeit. Gut, nicht die ganze Welt und auch nicht alle Menschen und Arten, aber doch so viele, dass mit Fug und Recht von einer bevorstehenden ‚Katastrophe‘ gesprochen werden muss. Die Sicherheit, mit der diese Katastrophe prognostiziert werden kann, ist erschütternd und nimmt in dem Maße zu, wie uns die Möglichkeiten, sie abzuwenden, durch die Finger gleiten. Wir sehen gewissermaßen unserer eigenen, verselbständigten Revolutionsdynamik Amok laufenden Fortschritts mit zunehmenden Sorgenfalten zu, wie sie den Punkt of no return bereits überschritten hat, da die Zukunft der Katastrophe in die Gegenwart schon hereingebrochen ist. Es ist nicht mehr die Zeit geschichtlicher Prophetie, da der Augenblick ihrer Erfüllung bereits gekommen ist; vielmehr sind nun weltgerichtliche Motive am Werk, da wir uns inmitten einer Apokalypse befinden, verstanden als ‚Entschleierung‘ der radikalen Endlichkeit und Fragilität unserer Lebensweise, die Sloterdijk einmal als „kinetischen Expressionis-

4. Schwelle: Der Einbruch von Chronos in den Augenblick – Revolution

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mus“251 bezeichnet hat. Er dachte dabei an die moderne Ressourcenvernichtung zur Energiefreisetzung, deren vulkanisches Temperament nicht anders denn als explosiv gekennzeichnet werden kann. Und tatsächlich fliegt uns unsere Freiheit an diesem geschichtlichen Wendepunkt um die Ohren. Die Allgegenwart des Augenblicks meint also nicht nur eine Gleichzeitigkeit, durch die tendenziell alle Weltrelationen in Echtzeitpunkte aufgelöst werden, sondern auch die Synchronizität der Katastrophe mit uns. Diese alarmistischen Töne rechtfertigen sich – abgesehen von ihrem sachlichen Gehalt –, da sie sichtbar machen, in welchem Sinne durch die Katastrophenordnung und Revolutionslogik der Moderne die Motive des Augenblicks und des Kairos in der ‚pervertierten‘ Form der Allgegenwart des Augenblicks wiederkehren. Pervertiert sind sie, insofern sich die Aufspannung der Zeit im Augenblick in eine allgegenwärtige Zeit-Gleichschaltung der Synchronizität verkehrt; dadurch, dass sich der eschatologische Charakter des Im-Äußersten-seins in eine Drohung der sich aktualisierenden Katastrophe wendet; weil der Ereignischarakter von geschichtlichen Augenblicken sich in ein Fatum der Freiheit verwandelt; und schließlich, weil in der äußeren Synchronizität die innere des Selbst gerade vergessen wird, auf die man im Augenblick hätte stoßen können. Diese Dynamik lässt sich wohl mit Adorno als „fessellose[s] Tun, […] ununterbrochene[s] Zeugen, […] pausbäckige Unersättlichkeit, Freiheit als Hochbetrieb“252 bezeichnen und damit wiederum als eine Pervertierung der Selbstweckstruktur von Muße begreifen. Es meint ein Tun, das seinen Zweck gerade nicht in sich findet, und darum auch das Glück innezuhalten nicht kennt. Es meint eine Energeia, die in Vernichtung umschlägt, weil sie keine Zwecke duldet, in der sie ihre Grenze finden könnte. Gerade darum scheint mir Muße ein durchaus dringliches T hema unserer Zeit zu sein. Man müsste allererst in der Ausnahmesituation der Muße von diesem ausnahmslos zu Regel gemachten Revolutions- und Betriebscharakter der Wirklichkeit zu stehen kommen, um einem Kairos der T heorie Raum zu geben, der Einsicht – und das heißt hier Kritik unserer Weltlage – ermöglicht. Gewissermaßen ist es zu einer Aufgabe der Weltgeschichte geworden, die Geschichte selbst stillzulegen, wie Walter Benjamin einmal formuliert hat253, um sie in „Jetztzeit“254 wiederzugewinnen.255 Dass Benjamin sich nicht scheute, zu diesem Zweck „die T heologie in ihren Dienst nehmen“256, weist darauf hin, dass Jetztzeit sich nicht zuletzt aus der kontemWas geschah im 20. Jahrhundert? 27. T heodor Wiesengrund Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Gesammelte Schriften 4), 9. Aufl., Frankfurt am Main 2014, 178. 253 Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte (1940)“, 322. 254 Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte (1940)“, 321. 255  Vgl. dazu Gimmel, „Zum Begriff des Nicht/Handelns und der Hoffnung, Geschichte zum Stillstand bringen zu können“, 293–319. 256 Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte (1940)“, 313. 251 Sloterdijk, 252 

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I. Allotria zur Zeittheorie

plativ-subversiven Kraft speisen könnte, die in der Muße liegt. In diesem Sinne ermöglicht Muße vielleicht erst den geschichtlichen Kairos, auf den es nun ankäme, und vielleicht ist die Muße selbst der Kairos dieses Augenblicks. Ja, es bedarf einer Weltrevolution – in Muße. Wie im Zeitalter des ausgehenden Mittelalters und in dem Augenblick, als die Menschheit ihre Herrschaft über die Natur begann, der Kampf gegen einige Formen feudaler und kirchlicher Muße und meditativen Lebens eine Forderung der Liebe war, so ist es jetzt eine Forderung der Liebe und unseres Kairos, daß Muße und Meditation auf der Basis einer neuen kollektivistischen Struktur der Gesellschaft gegenüber einer selbstzerstörenden Anbetung von Arbeit und Aktivismus wiederkehre.257

257  Paul Tillich, „Das religiöse Fundament des moralischen Handelns“, in: Renate Albrecht (Hg.), Paul Tillich. Gesammelte Werke 3, Stuttgart 1965, 13–83, 79.

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie 1. Potentialisierung der Zeit, Wert-Liquidität und Verschuldung des Lebens Dass Zeit Geld ist, kann im Grunde nur ernstlich glauben, wer Geld für sich arbeiten lässt und diesem bei seinem wundersamen Wachstum zusehen darf. So erstaunt es nicht, dass diese alchimistische Weisheit von Benjamin Franklin stammt, der seine puritanisch-monetäre Metaphysik in „Ratschläge für junge Kaufleute“ zum Besten gab.1 Hätte er nun wenigstens eines von beiden, Zeit oder Geld, genießen können, wäre der Eindruck des umfassenden Unglücks, das aus diesem Lehrstück für Krämerseelen spricht, nicht ganz so erdrückend. Doch ganz im Gegenteil: Die Hohemesse des Waren- und Geldfetischs wiederholt ewig die gleiche Liturgie, welche die Akkumulation fremder Lebenszeit, nämlich die erbeutete Mehrarbeit des Lohnknechts, als eine asketische Arbeitsleistung des Warenjongleurs feiert. Es gehört zur infernalischen Struktur des Kapitalismus, dass auch die Ausbeuter ihre Beute weniger genießen, als sie sich vielmehr in Form rationaler Askese2 zu vergällen. So bewahrheitet sich die Umkehrung des Sinnspruchs: Nicht Zeit gebiert Geld, sondern die Generierung von Geld mumifiziert die Lebenszeit der Menschen. Der zwanghafte Reflex gegen ‚eitlen Zeitvertreib‘ – eine Verunglimpfung der genügsamen Selbstzweckstruktur des Genießens – wird wesentlich durch einen Wertbegriff hervorgerufen, der in abstrakter Zeit sein Maß findet, indem er die reale Zeiterfahrung einer triezenden ‚Möglichkeitsform‘ unterwirft. Jede Minute wird dem eifernden Utilitarismus zum Indiz spekulativer und spektakulärer Gewinne. Darum die deutliche Mahnung: „He that kills a breeding sow, destroys all her offspring to the thousanth generation. He that murders a crown, destroys all that it might have produced, even scores of pounds.“3 Zeit wird abstrakt und erfahrungsarm nicht zuerst im Purgatorium begrifflichen Denkens, sondern bereits dann, wenn sie im Potentialis möglicher Wertbildung (Wie könnte die Zeit genutzt werden?) oder dem Irrealis vergeudeter Chancen (Was man nicht alles mit der Zeit hätte anfangen 1  Franklin lässt dem „time is money“ auch sogleich ein „credit is money“ und „money is of a prolific generating nature“ folgen. Vgl. Benjamin Franklin, „Advice to a Young Tradesman“, in: Franklin, A Monitor for an Apprentice; or, a Sure Guide to Gain Both Esteem and Estate; with Rules for his Conduct to his Master, and to Others., Boston 1808, 115–118, 115. 2  Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, 5. Aufl., Gütersloh 1979, 165–190. 3 Franklin, „Advice to a Young Tradesman“, 115.

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

können…) aufscheint. Dann herrscht real der Imperativ, jeden Moment als Ressource begreifen, arbeitsam nutzen und somit immerfort zum Mittel degradieren zu müssen. Mit dieser wertspekulativen Potentialisierung der Zeit geht begriffliche Abstraktion einher und wird als solche praktisch relevant: Geld ist Form gewordene (und spekulative) Zeitabstraktion, im Tauschwert erstarrtes, abgespartes Leben, tote Zeit – Marx spricht von Kristallisation4. Dem entspricht eine planetare Ökonomie, die das Leben dem Bann unbegrenzter Möglichkeiten unterwirft, einem Bann, der das dringend Mögliche gerade nie wirklich werden lässt. So wird immerfort der Genuss des Lebens für ein nur schemenhaftes Können geopfert. Entfremdete Arbeit – und jede kapitalistisch organisierte Arbeit ist letztlich aufgrund ihrer Warenförmigkeit entfremdend – ist Vollzugsform solcher Kristallisation der Lebenszeit in Warenwert-Zeit, die meist für die eigentlich ‚produktive‘ gehalten wird. Das spiegelt sich am Verhältnis zur Freizeit: Während allenthalben von einer Notwendigkeit der Arbeit für das Individuum gesprochen wird, ertragen die meisten diese bloß, indem sie sich zu Funktionären ihres Urlaubs degradieren. Andere tolerieren freie Zeiten nur, wenn sie unmittelbar umschlagen in genutzte Zeit. Das Leben findet nebenbei als Ausnahme statt, als Tabu des Werts. Wie kommt es, dass just diese Kristallisationssphäre den Eindruck ungeheurer ‚Liquidität‘ und pulsierenden Austausches hervorruft? Das sich scheinbar selbst generierende Geld ist Resultat der Notwendigkeit des Warentauschs, Werte beziehungsweise Preise unabhängig von der konkreten Gebrauchs-Dinglichkeit zu bestimmen. Von den konkreten Eigenheiten der Produkte und Arbeitstätigkeiten wird bei der Wertermittlung gerade abgesehen, um – nach der objektiven Werttheorie – ein Allgemein-Äquivalent an dem durchschnittlichen Zeitquantum (abstrakte metrische Zeit) einer ebenso durchschnittlichen Arbeitsproduktivität (abstrakte Arbeit) zu gewinnen. Damit einhergehend wird auch unsere konkrete Zeiterfahrung einer Realabstraktion unterworfen (wenigstens bei wertbildendenden Tätigkeiten wie der Lohnarbeit, Finanzspekulation, Buchhaltung etc.): Man sieht ab von dem, was man eigentlich ist, was man eigentlich gerne tut, was man eigentlich will, ob man etwas eigentlich braucht und so weiter. Geld und Arbeit, also die Beschaffungsinstrumente des Lebensvollzugs, erscheinen durch diesen Prozess, der Zeit in Werte umchiffriert, schließlich als leitende Prinzipien, auf die hin alles ausgerichtet wird, während der konkrete Lebensvollzug meist als bloßes Nährmedium der Wertbildung gebraucht wird.5 Hier findet eine Verkehrung von Mitteln (Arbeit 4  Vgl. Karl Marx, Das Kapital 1. Kritik der politischen Ökonomie. Der Produktionsprozeß des Kapitals (Marx Engels Werke 23), hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1962, 103. 5  Das zeigt sich deutlich, wenn man sich klarmacht, wie wenig Zeit an einem Tag bleibt, die nicht wesentlich durch ökonomische Wertbildungsprozesse bestimmt ist, also frei wäre von Arbeit, Konsum oder der Präsenz in der medialen Öffentlichkeit.

1. Potentialisierung der Zeit, Wert-Liquidität und Verschuldung des Lebens

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und Geld) und Zwecken (Lebensvollzug/Dasein) statt: Der Komplex Arbeit-Geld erscheint zunehmend als Selbstzweck, während der konkrete leibliche Lebensvollzug in dessen Dienst gestellt wird. Vom Stoffwechsel des Daseins wird in der Tauschwertsphäre der Wiederholungszwang ererbt. Die Zyklizität von Arbeiten und Genießen könnte auch als glückspendende Lebensschwingung erfahren werden, als die „Seligkeit des schier Lebendigen teilhaftig zu werden“6, wie sich Hannah Arendt ausdrückt, das aber nur, solange das Leben nicht zur bloßen Stoffwechselfunktion der Warensphäre degradiert ist. Der Kapitalisierungsprozess7 dagegen, der das Leben zum Mittel unaufhörlich sich steigernder Produkterfolge reduziert, ist suchtförmig sowohl in der Missachtung der eigenen Lebensgrundlage wie auch in der Aussichtslosigkeit, je Erfüllung oder Zufriedenheit erreichen zu können. Diese Dynamik darf aufgrund ihrer Haltlosigkeit durchaus als Liquidität angesprochen werden und konkretisiert sich in der Generierung des Geldes, im Ausflocken von Werten aus einem Leben, das zwar in der Mitte der Wertzentrifuge steht, aber doch nur Mittel ist für das, was ihm entweicht. Heute ist nicht nur die entlohnte Arbeit, sondern tendenziell jede Tätigkeit in der ‚Öffentlichkeit des Marktes‘ solchen Warenwertbildungsprozessen unterworfen. Alleine schon aufgrund digitaler Präsenz und allemal beim aktiven Gebrauch von Medienorganen, die zum Zweck der Wertschöpfung ausgebildet wurden (Google, Facebook, Amazon und so weiter), werden unaufhörlich Profite durch die bloße Nutzung der Infrastruktur gezeitigt („der User ist das Produkt“). Sie geben Strukturen und Dynamiken vor, die jede:n von uns mehr oder weniger unbemerkt als Werbeoberfläche oder Informationsquelle verwertbar machen. Diese Verwertungsebene zweiter Ordnung greift ebenso real und gezielt auf Lebenszeit zu, wie es die Lohnarbeit tut, das aber subtiler und darum mutmaßlich auch effizienter. Sie basiert zwar nicht auf dem Produktionsmissverhältnis von Warenwert und Arbeit (also der Mehr- beziehungsweise Surplusarbeit), dafür aber auf dem Konsummissverhältnis von Informationsverarbeitung und Informations- beziehungsweise Kommunikationsbedürfnis: Die medialen Bedürfnisse selbst werden als Ressourcen so gründlich verwertet, dass man stets mehr Zeit in die digitale Präsenz ‚investiert‘, als man eigentlich gewollt hätte. Diese sekundäre Wertbildungsebene bleibt dennoch an die Primärproduktion gekoppelt, da Informationen und mediale Präsenzen letztlich einen Warenwert nur haben, wo sie der Absatzsteigerung realer Produkte dienlich sind. Umso so mehr Zeit in den medialen Öffentlichkeiten zugerbracht wird, desto optimaler kann die primäre Wertbildungsebene, also die herkömmliche ‚Arbeitswelt‘ von Produktion und Dienstleistungsgewerben, angefeuert und ausgeschöpft werden – so Vita activa, 126. Vgl. Jochen Gimmel, „Mußevolle Arbeit oder ruheloser Müßiggang“, in: Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft (Otium 5), Tübingen 2017, 47–59. 6 Arendt, 7 

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

wenigstens das Versprechen.8 Grundsätzlich basiert die Zeit-Wert-Logik des Kapitalismus auf einer Abschöpfung von Zeitressourcen: auf der primären Verwertungsebene (Produktions- und Dienstleistungsebene) durch Mehrarbeit, auf der sekundären Verwertungsebene (mediale Verwertungsöffentlichkeiten) durch mediale ‚Mehrpräsenz‘ oder ‚Mehrnutzung‘. – Zeit wird strukturell knapp, weil eine Art Zwang internalisiert wird, ständig produktiv (Selbstoptimierung) und präsent (Selbstmedialisierung) zu sein. Zurück zur klassischen Struktur der Wertbildung: Der Profit, den die Zeit laut Franklin bescheren soll, resultiert letztlich aus der Vergeudung freier Lebenszeit (der Arbeitenden) durch sogenannte ‚Surplusarbeit‘.9 Vergeudet ist ‚surplus‘ buchstäblich, solange die zu viel erbrachte Leistung weder den Arbeitenden zu Gute kommt, noch gesellschaftlich notwendig wäre, also weder dem Stoffwechsel des unmittelbaren Lebensgenusses angehört, noch der Produktion von „Welt“ dient, wie Hannah Arendt die von Menschen geschaffene Ding- und Kultursphäre nennt, die als die „eigentliche menschliche Heimat des Menschen“10 gelten könnte. Surplusarbeitszeit lässt sich dann als eine Zeitenteignung durch entfremdete Arbeit (beziehungsweise verwertbaren Konsum/Warenöffentlichkeit) verstehen. Die Gesamtarbeitszeit wird in Produkten aufgespeichert und erst wieder auf dem Warenmarkt verflüssigt, nun aber in Geldform, also quasi als kristalline Liquidität von Ziffern. Ein Teil der zu Waren kristallisierten Lebenszeit fließt als Lohn den Menschen wieder zu und kann durch den Verbrauch von Gebrauchsgütern sozusagen ins Leben zurückgerufen werden (das gilt allerdings kaum mehr, sobald der Konsum selbst verwertet wird). Der Surplusanteil dagegen wird von der Anleger- und Managementseite – nicht zuletzt aufgrund ihrer asketischen Prägung zur Kleinlichkeit – nur zu einem geringen Teil durch Genuss reanimiert, der größere wird zwanghaft reinvestiert oder mit ihm spekuliert. Das feuert einen gegenüber der Lebenszeit und Natur parasitär fungierenden Produktionszirkel an11, der als ein Wert-Teufelskreis Natur verbrennt, „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“12 und die Lebenszeit mög 8  Darum ist die Idee einer Ausweitung des digitalen Marktes bei gleichzeitiger Einschränkung des güterproduzierenden illusorisch. Mehr digitale Wertbildung basiert auf einer Ausweitung der Produktion – entweder in anderen Erdteilen durch Menschenarbeit oder durch Automation in den saturierten Gesellschaften.  9  Im Falle der Verwertung zweiter Ordnung ist im Grunde alles Surplusarbeitszeit bzw. jede ins Medium investierte Zeit ist unmittelbar verwertbar, ohne entlohnt werden zu müssen. 10 Arendt, Vita activa, 161. 11  Der Begriff des Parasitären ist heikel und trotz seiner Asymmetrie in der Regel umkehrbar, dialektisch gebrochen. Man denke dabei nur an das Hegel’sche Herr-Knecht-Verhältnis. Michel Serres hat das Motiv des Parasitären ausgearbeitet und weist auf zwei hier relevante Momente hin: Den Tausch des Ungleichen (der gewissermaßen das allgemeine Äquivalent verschleiert) und den Informationsdiebstahl durch Informationsvorbehalt. Vgl. Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt am Main 2016, 57–65. 12 Weber, Die protestantische Ethik, 188.

1. Potentialisierung der Zeit, Wert-Liquidität und Verschuldung des Lebens

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lichst vollständig der Verwertung zugeführt wurde. Damit geht der beengende Eindruck stets mangelnder Zeit einher, einer Zeit, die immerfort knapp ist und alles Leben unter Zeitdruck stellt, da die Verwertung der Zeit diese selbst in die Dynamik eines sich zwanghaft steigernden Investitions-Zirkels versetzt: Man hat immer noch mehr und stets ungeheuer viel zu tun, wenn man Zeit lediglich als eine Ressource der Produktivität begreift. Diese fortwährende Zeitknappheit nimmt in der sekundären Verwertungsspirale die Form eines Zwangs zur ständigen medialen Selbstrepräsentation an, um immerzu ansprechbar zu sein, in Kommunikation zu stehen und informiert zu bleiben. Der kapitalistische Wertbildungsprozess treibt also nicht nur die Vernichtung der Naturressourcen voran, sondern auch die Vernichtung von Zeit bis auch noch die letzten Augenblicke dem Marktprozess übereignet sind, alle Zeit also in der Wertzentrifuge geronnen ist. Dieser Kapital-Produktion-Kreislauf, der sich quasi parallel zum realen Leben auf dieser Erde etabliert hat, ist genauer betrachtet ein epochaler Katalysator der Katastrophe: Er verselbstständigt eine Dynamik sich steigernder, alles verschlingender Produktion, die tendenziell den Lebensgenuss und die Natur als bloße Ressourcen aufzehrt, – mit der Realkonsequenz einer planetaren Vernichtung der menschlichen Lebenswelt und des Umschlags der Ideologie der Allmachbarkeit in die Ohnmacht gegenüber dem eigenen Werk im „prometheischen Gefälle“13. So vermittelt der Tauschmarkt einen gesellschaftlichen Stoffwechsel, an dem die Menschen hängen wie an einem Tropf und der ihnen folglich wie der Quell des Lebens erscheint, obgleich er ihnen immerfort Lebenszeit raubt. Dies ist ein Leben, das stets unter den Vorzeichen einer Schuld steht, die sich als die dunkle Seite der Allmöglichkeit, beziehungsweise der Potentialisierung der Zeit erweist. Ob Arbeiter oder Kapitalist, alles gesellschaftliche Dasein scheint bloß auf Vorschuss gewährt und muss unablässig durch Leistungen und Investitionen abgegolten werden, ohne je abgegolten zu sein, denn die Zukunft bleibt durch Zins gebunden.14 Die Idee, ‚etwas aus sich machen zu müssen‘, ist letztlich nichts anderes als ein Schuldgefühl, verkleidet in die Rhetorik verinnerlichter Motivationstrainer. Diese kaum rationale Schuldstruktur hat in materiellen Zwängen ihren Ursprung. Schon die „Ursprüngliche Akkumulation“ beruhe laut Marx15 nämlich auf Mittelfreisetzung (diese freigesetzten Mittel erhalten den Namen Proletariat) durch Verschuldung: Das erste Proletariat bildet sich durch eine von ihrem Land durch die Schafzucht vertriebene Bauernschaft, der keine andere Bindung bleibt als ihre Verschuldung, die sie zu beliebiger Tätigkeit zwingt. Die Lebenszeit wird von den Proletariern also nicht als Ware (Lohnarbeit) veräußert, um zukünftigen Lebensgenuss zu gewährleisten (also nicht in Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1994, 16. 14  Vgl. Marx, Das Kapital 1, 149–150 u. 156. 15  Vgl. Marx, Das Kapital 1, 741–791. 13 

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

der Art, wie Kindern das Leistungsprinzip eingeimpft wird, nämlich als ein Genusslohn, der angeblich der Arbeitsleistung folgen würde), sondern vielmehr um das bereits erborgte Überleben abzuzahlen. Die Dynamik des Zirkels kapitalistischer Produktion beginnt auf Arbeitnehmerseite mit dem Zwang, sein bereits geführtes Leben als eine Schuld begleichen zu müssen. So erscheint die Sorge um das Überleben wie der Dienst an den Toten: Dem schon Gelebt-haben muss das konkrete Leben als Sühneopfer dargebracht werden.16 Eben dieser Struktur entspricht die Logik des Kapitals als eines Investments, das der Kapitaleigener in seine eigene oder eine fremde Geschäftstätigkeit steckt, ums es verzinst zurückzuerhalten und wiederum zu reinvestieren. Gewissermaßen beruht das System der doppelten Buchführung auf dieser Schuld-Begleichungs-Dynamik im Verhältnis von Aktiva zu Passiva: Man leiht sich selbst verzinsend die Mittel (Passiva), die im Verhältnis zu einer gewinnbringenden Anlage (Aktiva) im Gleichgewicht stehen müssen. Dabei ist der Gewinn von Beginn an als (Zins-)Schuld verbucht, die es auszugleichen gilt. So erscheint im System der doppelten Buchführung der Profit stets wie eine schicksalshafte Schuldenbegleichung: Man schuldet sich selbst oder wahlweise seiner Familie, der Gesellschaft oder der Menschheit, Gewinn zu machen. Der nicht mehr aufzuhaltenden Ausbildung von Reichtum liegt ein Schuldverhältnis zu Grunde, denn „[d]ie Entwicklung des Geldes als Zahlungsmittel ernötigt Geldakkumulation für die Verfallstermine [Hervorhebung JG] der geschuldeten Summen.“17 Darum kann sich der kapitalistische Schatzbildner nicht auf seinen Schätzen ausruhen, wie es einem vorkapitalistischen Krösus gegönnt war18, sondern opfert immerfort „dem Geldfetisch seine Fleischeslust“19. „Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Geiz bilden daher seine Kardinaltugenden“.20 Aus dieser Schulddynamik ergibt sich sowohl für Arbeiter wie auch für Profiteure gleichermaßen, dass sie die eigene Lebenszeit stets warenförmig nutzen müssen: das schulden sie sich selbst. Die Warenzirkulation „wird die große gesellschaftliche Retorte, worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen.“21 16 Ausführlich zu den kulturgeschichtlichen Implikationen der Schulden: David ­Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, übers. v. Ursel Schäfer, 8. Aufl., Stuttgart 2012. 17 Marx, Das Kapital 1, 156. 18  Hier wird das Verprassen eine Frage der Ehre und des Standes, selbst wenn kein echter Reichtum vorliegt, der das verbürgt. Letzte Anzeichen davon finden sich noch in der leisure class Veblens (T horstein Veblen, T heorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, München 1981). Die enorme Verschuldung der Aristokratie trägt selbst sicherlich wesentlich zur Ausbildung des Kapitalismus bei. Dieser etabliert selbstredend noch gigantomanischere Formen der Verschwendung, wie sich an den modernen Kriegen, Skylines und der ungeheuerlichen Produktvernichtungen zeigt. Diese Verschwendungsformen sind jedoch stets unter den Vorbehalt gestellt, mit der Verschwendung eigentlich die Expansion der Produktion voranzutreiben. Siehe dazu unten die Ausführungen zu Bataille. 19 Marx, Das Kapital 1, 147. 20 Marx, Das Kapital 1, 147. 21 Marx, Das Kapital 1, 145.

2. Ökonomie der Zeit und Zeitgewinn: Quantitative Zeit und Lebenszeit

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Wo der kapitalistische Geist den Kollateral-Erfolg eines protestantisch-asketischen Ideals, nämlich das grenzenlose wirtschaftliche Wachstum, zum Selbstzweck erklärt hat, verwandelt sich die Idee von Reichtum zu einer Zwangsstörung, die Lebenszeit (fremde und eigene) unablässig durch Arbeit und Sparsamkeit vernichten muss. Demgegenüber wird die Frage nach einem wahren Reichtum relevant, der als ein Reichtum an Zeit verstanden werden kann.

2. Ökonomie der Zeit und Zeitgewinn: Quantitative Zeit und Lebenszeit Tatsächlich gespart wird nach Marx in jeder entwickelten Ökonomie nur an dem einem, nämlich an Zeit. Die Frage nach dem Umgang mit der Zeit ist für Marx die Crux aller Ökonomie, sowohl der auf Ausbeutung der Mehrarbeit basierenden als auch einer gemeinschaftlichen, freien Produktionsweise. In ersparter Zeit liegt sowohl die Möglichkeit zur maximierten Ausbeutung als auch der Entfaltungsspielraum fundamentaler Freiheit. Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab.22

Was meint Marx mit der gewonnenen Zeit für eine andere Produktion, was könnte es denn für eine andere Produktion geben als diejenige von ‚Weizen, Vieh, etc.‘? Die Antwort darauf steht im folgenden Satz: Er meint mit dieser anderen Produktion die individuelle und gesamtgesellschaftliche Ausbildung einer ‚Allseitigkeit der Entwicklung des Genusses und der Tätigkeiten‘. Die Zeitersparnis bei der Produktion der Gebrauchsgüter ermöglicht, dass Menschen, nachdem das Notwendige besorgt ist, darüber hinaus Zeit haben, sich weiterzuentwickeln, zu genießen und selbstbestimmten Beschäftigungen nachzugehen. In einer Gesellschaft, welche die freie Entwicklung aller Individuen als ihren Zweck ansieht, wird die Ökonomie der Zeit, also die Ersparnis notwendiger Arbeitszeit und deren planmäßige Verteilung, zu ihrem Gesetz. Marx spricht von einer „Ökonomie der Zeit“23, in der Zeit bleibt, daß „der Mensch den Menschen produziert, sich selbst und den anderen Menschen“24. Sie regelt, dass die zur Stillung der Existenzbedürfnisse notwendige Arbeitszeit minimiert wird, damit sich nach Grundrisse, 105. Grundrisse, 105. 24  Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Marx Engels Werke 40), Berlin 1968, 537. Gerade am Begriff des Genusses, auf den ich später noch eingehen werde, kann eine Verbindung zwischen der expliziten T hematisierung der Zeit in den Grundrissen und 22 Marx, 23 Marx,

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

der Arbeit ein ‚Reich der Freiheit‘ eröffnen kann. In diesem Sinne löst das Reich der Freiheit das der Notwendigkeit nicht ein für alle Mal ab25, sondern Freiheit eröffnet sich vielmehr jeden Tag aufs Neue nach getaner Arbeit. „Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.“26 Von einem Reich der Freiheit zu sprechen, ist aber dennoch erst dort sinnvoll, wo ein qualitativer Sprung stattgefunden hat, durch den „Freizeit in Freiheit umspringt“27, wie Adorno sagt, also wo Freizeit nicht bloß eine Regenerationsfunktion hat, sondern vielmehr Zweck der Arbeit ist. Es scheint mir eine realitäts-taugliche Utopie, beziehungsweise ein aktuell dringliches Postulat zu sein, die notwendige Arbeitszeit im Leben der Menschen auf ein Minimum zu reduzieren, um eine Freiheit zu gewinnen, die schließlich auch ein souveränes Verhältnis zur Arbeit als „Würze“28 eines erfüllten menschlichen Lebens (und nicht als dessen Zweck) ausprägen könnte. Dass es soweit noch lange nicht ist, erweist sich auch daran, dass das Verhältnis von Arbeits- und Lebenszeit gerade in den Selbstverwirklichungsbranchen, in denen allenthalben Fortbildungen zu Work-Life-Balance gebucht werden, zunehmend entgrenzt ist. 29 Auch in entfremdeten Produktionsweisen ist Zeitersparnis Gesetz, bezweckt allerdings, „den Teil des Arbeitstages, den der Arbeiter für sich selbst arbeiten muß, zu verkürzen, um gerade dadurch den andren Teil des Arbeitstages, den er für den Kapitalisten umsonst arbeiten kann, zu verlängern.“30 Gespart wird also an der freien Zeit des Arbeiters (d. h. der Zeit, die er nicht zu Erarbeitung seiner Bedürfnisbefriedigung aufwenden müsste), indem sie in Form von Mehrarbeit in den Produktionsprozess eingespeist wird. Bei diesen „Diebstählen des Kapitals an der Mahlzeit und Erholungszeit der Arbeiter“31 kommt ein knausriger, kleinmütiger Geist zum Tragen, den Marx mit den schönen Worten „Mau­sereien von Minuten“32 beschreibt. Während die Protagonisten des kapitalistischen Geistes mit der erbeuteten Mehrarbeit einen irrsinnigen Produktionszirkel der Erzeugung dem emphatischen Selbstverwirklichungsbegriff in den ÖPM ausgemacht werden, um die es hier geht. 25  Vgl. Andreas Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin 2015, 101. 26  Karl Marx, Das Kapital 3. Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, hg.v. Rosa-Luxemburg-Stiftung, 34. Aufl., Berlin 2012, 828. 27 Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft 2, 655. 28  Vgl. Lafargue, Paul, „Das Recht auf Faulheit (1883). Wiederlegung des ‚Rechts auf Arbeit‘ von 1848“, in: Amlinger, Carolin/Baron, Christian (Hg.), Stephan Lessenich zu Paul Larfargue, Das Recht auf Faulheit, Hamburg 2014, 29–69, 44. 29  Zu den Schwierigkeiten des Konzepts der Selbstverwirklichung vgl. Gimmel, „Die Aufhebung der Arbeit im libidinösen Spiel. Wo bleibt die Muße in der Selbstverwirk­ lichung?“. 30 Marx, Das Kapital 1, 340. 31 Marx, Das Kapital 1, 257. 32 Marx, Das Kapital 1, 257.

2. Ökonomie der Zeit und Zeitgewinn: Quantitative Zeit und Lebenszeit

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und Verschlingung von Gütern befeuern, zielen die Tugenden der Sparsamkeit und des Fleißes auf die freie Lebenszeit, die effizient reduziert wird. Die Warenform verschleiert, dass sie als Tauschwert ihr Maß in der Zeit hat.33 Arbeit wird sich in ihren Warenprodukten nicht bloß darum fremd, weil sie sich unter dem Nimbus unabhängiger Sachen nur als abstrakte Arbeit wahrnehmen kann, sondern auch, da die reale Arbeitszeit hinsichtlich der Wertform nur als ein abstraktes Zeitquantum begriffen wird. „Die Zeit verliert damit ihren qualitativen, veränderlichen, flußartigen Charakter: sie erstarrt zu einem genau umgrenzten, quantitativ meßbaren, […] Kontinuum“34 – und wie die Zeit, so die Arbeit. Wie ich im ersten Teil versucht habe zu zeigen, wurde die Zeit als explizit qualitativ aufgeladene Dimension betrachtet. Natürlich lässt sich Zeit als ein quantitatives Verhältnis von Prozessen erfassen: Zwischen einer Wintersonnwende und der nächsten können beispielsweise drei Heuernten eingebracht werden. Die Zeit ist in diesem Sinn das Ding- beziehungsweise Prozess-Verhältnis 3:1 von Ernten und Sonnenlauf; Aristoteles’ Begriff der Zeit als Zahl und Maß ist damit angesprochen. Doch diese Art quantitativer Erfassung von Zeit meint eine qualitative Quantität, also eine Größe die gerade nicht von der Eigenheit der Prozesse und Dinge, die sie misst, absieht, sondern sie vielmehr in Verhältnis setzt, um ihre Eigenheit achten zu können. Ein von den zu messenden Dingen und Tätigkeiten unabhängiges, gleichförmiges Maß, das es erlaubt, quantitative Verhältnisse zwischen an sich relationslosen Prozessen zu bilden, stellt dagegen die relationslose äußere Taktung (allgemeines Äquivalent der Eigenzeiten) metrischer Zeit dar. Solche durch Taktung messbare Zeit ergibt erst die Quantifizierbarkeit von Prozessen, wie sie für die Ermittlung des Tauschwerts unabdingbar ist. Zeit als objektives Maß der „einfachen Durchschnittsarbeit“35, einer „Arbeit ohne weitere Qualität“36, ist also auf eine sehr konkrete Art und Weise abstrakt, nämlich als Taktzahl der Uhr. Dass Arbeitszeit das Maß des Wertes bildet, setzt voraus, dass die Maß-Zeit gegenüber allen Prozessen und Produktionsformen gleich und beziehungslos ist, um so als allgemeines Warenäquivalent fungieren zu können. Das allgemeine Äquivalent ‚Geld‘ ist im Grunde Ausdruck abgemessener Arbeitszeit und setzt ein metrisch-abstraktes Zeitkonzept voraus, das wiederum erst durch die konkrete Konstruktion einer relationslosen Taktung (wie etwa bei der Uhr) zur Mes33  „Die Bestimmung der Wertgröße durch die Arbeitszeit ist daher ein unter den erscheinenden Bewegungen der relativen Warenwerte verstecktes Geheimnis.“ Marx, Das Kapital 1, 89. Gerade die vollständige gesellschaftliche Vermittlung, die sich in einer Warenwelt verdinglicht, hat ihre Entsprechung in der vollständigen Fremdbestimmung der Zeit durch den gesellschaftlich vermittelten, auf den Tauschwert ausgerichteten Produktionsprozess. 34  Georg Lukács, Die T heorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (Werkauswahl in Einzelbänden 2), Bielefeld 2009, 102. 35 Marx, Das Kapital 1, 59. 36 Marx, Das Kapital 1, 60.

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

sung befähigt. Die Abstraktion von der Arbeit beruht auf einer Zeitabstraktion, die wiederum auf der Abstraktion von realen Prozessen beruht, insofern an ihrer Stelle eine Taktung als allgemeines und gleiches Relatum ohne Sachbezug eta­bliert wird: die Messzeit einer sachunabhängigen (abstrakten), hergestellten Prozessualität – die Uhr. Das Prinzip der Konstruktivität, das die neuzeitlich-­ mathematische Eroberung des Wirklichkeitsbegriffs erlauben sollte, feiert in der Inthronisation metrischer, absoluter Zeit einen frühen und revolutionären Sieg. Messbare Zeit gibt eine abstrakte Prozessualität ohne weitere Qualität als Maß vor und demgemäß wird von den Eigenheiten konkreter Arbeitsprozesse (genauso wie von Naturprozessen) real abgesehen. Darum lassen sich solch absurde Sätze sagen wie etwa: In einem Paar Schuhe steckt so viel Arbeit wie in 100 Tafeln Schokolade, nämlich der Wert von 149,98 €, also etwa 5 Stunden Arbeit. Von der metrischen Einrichtung der Uhr ausstrahlend findet eine Verkettung von realen Abstraktionsmomenten statt, die sich als Entfremdung ansprechen lassen. Das Metrum der Uhr sucht als Takt „tote[r] Arbeit“ den lebendigen Arbeiter sozusagen als Gespenst heim, „vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit“37. Vereinfachend gesagt: Jede Arbeitshandlung – das Hammerschlagen, das Kellnern, das Bauzeichnen, was auch immer – wird auf das Ticken des Uhrzeigers beziehungsweise auf die Schwingungsfrequenz eines Atoms bezogen, um als Arbeitszeit eine Wertgröße anzunehmen. Reale Lebenszeit sieht von sich selbst ab, so daß das Pendel der Uhr der genaue Messer für das Verhältnis der Leistungen zweier Arbeiter geworden, wie er es für die Schnelligkeit zweier Lokomotiven ist. So muß es nicht mehr heißen, daß eine Stunde eines Menschen gleichkommt der Stunde eines andern Menschen, sondern daß vielmehr ein Mensch während einer Stunde soviel wert ist wie ein anderer Mensch während einer Stunde.38

Auf dieses allgemeine Äquivalent der Herstellungsprozesse hatten es die Arbeiter laut Walter Benjamin abgesehen, als sie in der Juli-Revolution die Turmuhren beschossen, die ihren Arbeitstag bestimmten.39

37 Marx, Das Kapital 1, 247. Zu dem gespenstigen Charakter der Analysen Marx’, die gerade auch eine Zeit betreffen, welche „außer Rand und Band“ geraten ist: Vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2005, 34. 38  Karl Marx, „Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ‚Philosophie des Elends‘“ (Marx Engels Werke 4), Berlin 1977, 61–182, 85. 39 Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte (1940)“, 321 XV.

3. Konkrete Zeit und historische Zeit: Allseitige Entwicklung

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3. Konkrete Zeit und historische Zeit: Allseitige Entwicklung Moishe Postone ist der Bedeutung der Zeit für die Marx’sche T heorie umfassend nachgegangen.40 Dabei unterscheidet er zwei Zeitpaare, die jeweils einen Gegensatz ausbilden, zueinander aber im Verhältnis eines Chiasmus stehen: konkrete versus abstrakte Zeit und abstrakte versus historische Zeit. Das erste Zeitpaar habe ich bereits angesprochen. Als ‚konkret‘ bezeichnen werde ich die verschiedenen Arten von Zeit, die von Ereignissen abhängen: sie beziehen sich auf naturgegebene Zyklen und Periodizitäten des menschlichen Lebens sowie auf besondere Aufgaben oder Prozesse (etwa die Zeit, die man zum Reiskochen benötigt, oder um ein Vaterunser aufzusagen) und werden durch diese verstanden.41

Solche konkrete Zeit war im ersten Teil dieses Buches als Eigenzeit mit der ZahlZeit bei Aristoteles genauso angesprochen wie bei der Seelen-Zeit Augustins, dem inneren Sinn Kants oder in phänomenologischen Zeitverständnissen. Dass sich dagegen gerade die Newton’sche Zeitauffassung so hartnäckig im Alltagverständnis festgesetzt hat, weist darauf hin, dass seine absolute Zeit das marktpragmatische T heorem zur Messung von Arbeits- und Warenverhältnisse in Form abstrakter Zeit abgab. Die abstrakte Zeit der entfremdeten Arbeit steht im Schlagschatten von Newtons absoluter Zeit und der Uhr. Abstrakte Zeit ist eine unabhängige Variable. Sie konstituiert einen unabhängigen Rahmen, in dem Bewegung, Ereignisse und Handlungen auftreten. Diese Zeit ist in gleiche, konstante, nicht- qualitative Einheiten aufteilbar. […] Die Ursprünge abstrakter Zeit sollten in der Vorgeschichte des Kapitalismus, im Spätmittelalter gesucht werden.42

Postone interpretiert die Dialektik von konkreter Entfremdung und abstrakter Zeit gemäß der Spannungslogik des historischen Materialismus als eine geschichtliche Kategorie, die in der Entfremdung zugleich das Potential der Emanzipation ausmacht. Das Auftauchen der abstrakten Zeit ist in ihrer messpraktischen Dimension selbst ein historisches Moment möglichen Umschlags: Historische Zeit im Kapitalismus kann also als eine Form konkreter Zeit angesehen werden, die gesellschaftlich konstituiert wird und eine fortwährende qualitative Transformation von Arbeit und Produktion, des gesellschaftlichen Lebens im allgemeineren sowie von Bewußtseins-, Wert- und Bedürfnisformen zum Ausdruck bringt. Anders als der ‚Fluß‘ der abstrakten Zeit ist diese Bewegung nicht gleichförmig, sondern verändert sich und kann sich sogar beschleunigen. Ein Charakteristikum des Kapitalismus ist also

Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, 308. 42 Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, 310. 40 Postone, 41 Postone,

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

die gesellschaftliche Konstitution zweier Zeitformen – abstrakter Zeit und historischer Zeit, die in sich verschränkt sind.43

Das historische Ereignis einer Institutionalisierung von abstrakter Arbeit, abstrakter Zeit und entfremdeter Lohnarbeit eröffnet gewissermaßen erst eine geschichtliche Dimension, die der konkreten Zeit entspricht und einen tatsächlichen Entwicklungsprozess auf historischer Ebene offenhält. Die konkrete Zeit schlägt inmitten der Entfremdung abstrakter Zeit wieder durch als historische Zeit, als Entwicklungschance, die auf geschichtlicher Ebene die Qualitäten erfüllter Jetztzeit innehat: Durch die historische Re-Konkretisierung der Zeit eröffnet sich eine Möglichkeitsfenster zur Überwindung der Entfremdungsverhältnisse in einer Wiederaneignung der konkreten Zeit. Die Lebenszeit wird zum geschichtlichen Versprechen, zum Telos der ‚allseitigen Entwicklung‘. Hier ist mit anderen Worten eben das angesprochen, was Tillich einen geschichtlichen Kairos nannte. Das Gesetz der tickenden Zeit, die drängt und während der das Leben verrinnt, könnte jenseits des Tauschwerts also zu pulsierender Lebenszeit werden, die man hat. Der Strang der Geistesgeschichte, der Zeit vornehmlich als Lebenszeit begriffen hatte, wandelt sich hier von der Deskription zum Postulat. Dass etwas ‚ein Etwas‘ nur ist, weil es sich in der Zeit durchhält und verändert, wächst und stirbt – diese Selbstverständlichkeit gilt es fortan gegenüber der Wertabstraktion zu verteidigen. Dass etwas ein Etwas wird, wenn es aus seiner Vergangenheit hervortritt und diese in eine unbestimmte und doch eigene Zukunft fortträgt, dem gilt die Hoffnung. Und so bindet sich auch das Versprechen auf menschliche Emanzipation an die Zeit, die wir selbst sind. Durch die Vermittlung von Zeit als Geschichte und subjektiver Lebenszeit hält sich angesichts der historisch ausgebildeten Entfremdung die Möglichkeit zu einem gelingenden menschlichen Selbst- und Gemeinschaftsbezug offen. Die durch Zeitersparnis gewonnene Dauer der Freizeit erlaubt nur dann die ‚andere Produktion‘, von der Marx spricht, wenn Zeit selbst sich gewandelt hat und als Lebenszeit44 erfahren werden kann. Ernst Bloch hat in utopisch-marxistischer Intention solch gewandelte Zeit angesprochen: Die wirklich gemeinsam einheitliche Zeit des Geschichts-, ja Weltprozesses keimt überall erst; als Zeitform beginnender Identität, das heißt des Unentfremdeten in der Beziehung von Menschen zu Menschen und zur Natur.45 43 Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, 443–444.

44  Mit Michael T heunissen lässt sich ein solcher positiver Begriff der Lebenszeit, Ichzeit und lebendiger Geschichtlichkeit ausweisen: T heunissen, Negative T heologie der Zeit, 299–317. 45  Ernst Bloch, „Die Frage einer elastischen Zeitstruktur in der Geschichte“, in: Hans Heinz Holz (Hg.), Ernst Bloch. Auswahl aus seinen Schriften, Frankfurt am Main 1967, 93– 101, 100–101.

3. Konkrete Zeit und historische Zeit: Allseitige Entwicklung

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Die ‚Ökonomie der Zeit‘ wird dann in einem „viel höherem Grade Gesetz.“46 Durch die Entfaltung der Produktivkräfte müsste die konkrete Lebenszeit der Menschen als individueller und gesellschaftlicher Entfaltungsraum erfahrbar werden. Ich möchte nun versuchen, kurz zu charakterisieren, was ein solcher Reichtum bedeuten kann, der sich mit Marx als eine „Allseitigkeit der Entwicklung, des Genusses und der Tätigkeiten“47 beschreiben ließe. Mit dem Begriff der Allseitigkeit ist der Umschlag von der sich vollständig verwirklichten kapitalistischen Produktionsform zu freiem menschlichem Dasein angezeigt. „Allseitige Abhängigkeit“48 müsse ‚sich aufheben‘ in „allseitige Entwicklung der Individuen“49. Marx erkennt also in der Totalisierung des Verwertungsprozesses die Vorrausetzung zur weltgeschichtlichen Emanzipation. Das ist es, was Postone als Durchbruch der konkreten Zeit auf einer historischen Ebene angesprochen hat. Erst auf dem Niveau vollständiger gesellschaftlicher Vermittlung, die sich im Kapitalismus als Abhängigkeit, Ohnmacht und Entfremdung darstellt, ist ein gemeinsames Zusammenwirken ermöglicht, das ‚den Menschen‘ zum Selbstzweck erheben könnte. Diese geschichtliche Dimension wird als eine Dialektik von Freiheit begriffen. Bezogen auf entfremdete Arbeit heißt das, dass mit deren Warenförmigkeit eine vollständige gesellschaftliche Vermittlung einher- und damit eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufgeht. Wo Arbeit aus den traditionellen, am Gebrauchswert orientierten Produktionsverhältnissen herausgesprengt wurde, ist zugleich das Individuum freigesetzt. Diese Freisetzung ist allerdings zuerst nichts anderes als eine Selbstenteignung aufgrund des Zwangs, seine Lebenszeit warenförmig veräußern zu müssen.50 Die allseitige Abhängigkeit fällt also mit der Freisetzung des Individuums zusammen, das aus seinen hergebrachten Bindungen gelöst wurde, dies jedoch nur unter den Bedingungen perennierender Existenznot. Mit dieser Freisetzung des Individuums durch den Zwang, seine Lebenszeit fortwährend veräußern zu müssen, weitet sich der Kapitalismus schrankenlos aus als ein „prozessierender Widerspruch“, der „die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen [vermindert], um sie zu vermehren in der Form Karl, Grundrisse, 105. Karl, Grundrisse, 105. 48  „Die allseitige Abhängigkeit, diese naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zusammenwirkens der Individuen, wird durch diese kommunistische Revolution verwandelt in die Kontrolle und bewußte Beherrschung dieser Mächte, die, aus dem Aufeinander-Wirken der Menschen erzeugt, ihnen bisher als durchaus fremde Mächte imponiert und sie beherrscht haben.“ Karl Marx, Deutsche Ideologie (Marx Engels Werke 3), Berlin 1978, 37. 49 Marx, Deutsche Ideologie, 424. 50  Die kapitalistische Produktion setzt die Freiheit des einzelnen Arbeiters voraus und reproduziert ihn als freien Arbeiter, „frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andererseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“ Marx, Das Kapital 1, 183. 46 Marx, 47 Marx,

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

der überflüssigen“51. Diese fatale Dynamik kann nur dadurch zu Freiheit führen, dass die „Kontrolle und bewußte Beherrschung dieser Mächte“52 in einer Gemeinschaft des Zusammenwirkens gewonnen würde. Diese bewusste und vernünftige Aneignung der Geschichte kennzeichnet Marx als die Aneignung der Surplusarbeitszeit durch die Arbeitermasse. Hat sie das getan – und hört damit die disposable time auf, gegensätzliche Existenz zu haben –, so wird einerseits die notwendige Arbeitszeit ihr Maß an den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Individuums haben, andrerseits die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft so rasch wachsen, daß, obgleich nun auf den Reichtum aller die Produktion berechnet ist, die disposable time aller wächst. Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums.53

Aus dieser Perspektive stellt sich der erneute Umschlag der Allseitigkeit in disposable time als eine Zeitenwende dar, als geschichtlicher Umschlag in der bewussten Aneignung von Geschichte.54 Der Gewinn ‚eigentlicher Geschichte‘ lässt sich wiederum begreifen als der einer eigentlichen Lebenszeit. Paul Tillich macht das beispielsweise in seinem Konzept eines geschichtlichen Kairos55 deutlich oder Walter Benjamin mit der Jetztzeit56. In diesem Sinne bedeutet der geschichtliche Umschlag auch einen Umschlag im individuellen Zeitverhältnis. Mit der Aneignung der „Surplusarbeitszeit durch die Arbeitermasse“ wird eine freie Zeit erst eröffnet, in der „der vorgefundene Verkehr und die vorgefundenen Produktivkräfte allseitig sind und nur von allseitig sich entwickelnden Individuen angeeignet, d. h. zur freie Betätigung ihres Lebens gemacht werden können.“57 Die Allseitigkeit der Entwicklung bedeutet, in der Weise Zeit zu haben, dass sie nicht mehr als Maß und Begrenzung im Sinne eines Quantums von Stunden empfunden, sondern als qualitative Dimension erfüllender Betätigung erfahren werden kann.

Grundrisse, 601–602. Deutsche Ideologie, 37. 53 Marx, Grundrisse, 604. 54  Siehe dazu den vorausgehenden Teil. Diese historische Entscheidung zur „eigentlichen Geschichte“ hat Herbert Marcuse folgendermaßen beschrieben: „Die Entstehungsgeschichte der Menschheit, die Marx die Vorgeschichte nennt, ist die Geschichte der Klassengesellschaft. Die eigentliche Geschichte des Menschen wird beginnen, wenn diese Gesellschaft abgeschafft worden ist.“ Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, 7. Aufl., Darmstadt 1985, 277. 55  Vgl. z. B. Paul Tillich, „Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf (1923)“, in: Erdmann Sturm (Hg.), Paul Tillichs Hauptwerke 3. Sozialphilosophische und ethische Schriften, Berlin/New York 1998, 103–130, 108. 56  Vgl. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte (1940)“. 57 Marx, Deutsche Ideologie, 424. 51 Marx,

52 Marx,

4. Allseitiger Genuss und Kritik der Arbeit

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4. Allseitiger Genuss und Kritik der Arbeit Durch die Aneignung von Zeit wandelt sich also der zeitliche Charakter, sie wird zur Eigenzeit. Freizeit müsste als Genuss-Zeit des Lebens aus der Verwertung nicht bloß herausgenommen, sondern ihr zugrunde gelegt werden, um so die destruktive Produktivitätsspirale des Kapitalismus – und damit ihn selbst – außer Kraft zu setzen. Diese Struktur lässt sich in der Marx’schen Gedankenentwicklung nachzeichnen. Expliziert wird dieser Wandel von Marx aber nicht vornehmlich an der Zeit, sondern an dem Begriff der Produktion. So erläutert er den gewonnenen Reichtum an Zeit als „entwickelte Produktivkraft der Individuen“58. Wo die Produktion weder der bloßen Bedürfnisbefriedigung gelten muss, noch dem Tauschwert unterworfen ist, meint Produktivkraft der Individuen, sich selbst zum Zweck seiner Handlungen setzen zu können – und zwar nicht im Sinne bloßen Überlebens, sondern im Sinne einer Schöpfung durch sich selbst. Produktion und Arbeit werden so jenseits der Entfremdung als glücksspende Schöpfungsprozesse vorgestellt, in der die Natur im Menschen zu sich in ein Verwirklichungsverhältnis tritt, sowohl geschichtlich als auch individuell. Versöhnte Produktion meint gewissermaßen eine natura naturans als „Humanismus = Naturalismus.“59 Ob eine solches emphatisches Selbstverwirklichungskonzept heute noch als ein Produktionsverhältnis angesprochen werden sollte, scheint mir zweifelhaft. Allzu deutlich ist die Okkupation des Motivs der Selbstverwirklichung durch die New Economy, auf deren Grundlage eine Ausweitung der wirtschaftlichen Wachstumsgrenzen gründet. Dass ein erheblicher Teil unserer Arbeitstätigkeiten mit Fug und Recht als „Bullshitjobs“60 bezeichnet werden kann und die bürokratische Infrastruktur unter den Vorgaben des New Public Management immer mehr zur Blasenbildung neigt61, diese fatalen Entwicklungstendenzen verdanGrundrisse, 604. Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 538. Karl Korsch benutzt eben diese Begrifflichkeit: „Die physische Natur greift nicht unmittelbar in die Weltgeschichte ein, sondern mittelbar als ein von seinem Ursprung an nicht nur zwischen Menschen und Natur, sondern zugleich zwischen Mensch und Menschen vorgehender Prozeß der materiellen Produktion. Oder, um auch den Philosophen verständlich zu sein: An die Stelle der reinen, aller menschlichen Tätigkeiten vorausgesetzten Natur (ökonomische natura naturans) tritt als gesellschaftliche ‚Materie‘ in der streng gesellschaftlichen Wissenschaft von Marx allenthalben die durch menschlich gesellschaftliche Tätigkeit vermittelte und umgeformte – damit zugleich gegenwärtig und künftig veränderliche und umformbare – Natur als materielle Produktion (ökonomische natura naturata).“ Karl Korsch, Karl Marx, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1967, 128–129. 60  David Graeber, Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit, übers. v. Sebastian Vogel, 2. Aufl., Stuttgart 2018. 61  Jochen Gimmel, „Wissenschaft in der Manege. Vom Nutzen der Nutzenfreiheit eine kritische Analyse auf dem Weg zum Reflexionsraum der Gesellschaft“, in: Wissenschaftsmanagement: Entscheiden, Führen, Gestalten, (2021), 143–150. 58 Marx, 59 Marx,

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

ken sich nicht zuletzt der Internalisierung einer Ideologie der Selbstverwirk­ lichung und Produktivität. Auch darum plädiere ich dafür, stattdessen die von Marx als geschichtliche Aussicht formulierte Selbstzweckstruktur menschlichen Daseins als einen Gewinn qualitativer Lebenszeit zu verstehen, der nicht in Abhängigkeit von der Produktivität dieser Zeit verstanden werden sollte. Dem ungeachtet ändert sich durch die Aneignung von Zeit auch der Charakter der Bedürfnisbefriedigung und wird von einer bloß quantitativen Größe, dem Wieviel des Benötigten, zu einer qualitativen Befriedigung, dem ‚allseitigen Genuss‘. Das perhorreszierte Darben, das in der noterzeugenden Überproduktion westlicher Marktwirtschaft dem Kommunismus unterstellt wird und in der realexistierenden Freudlosigkeit der historischen Planwirtschaft seine Mangelwirklichkeit erfuhr62 (bis zum millionenfachen Hungertod), findet bei Marx eine Widerlegung in seiner Würdigung des Genusses. Für Marx ist gerade der Genuss eng mit der Entwicklung der Produktivkraft verflochten und das keineswegs nur im Sinne einer Erweiterung des Absatzmarktes durch Konsum. So meint die Ökonomie als „Ersparung von Arbeitszeit […] [also] keineswegs Entsagung vom Genuß, sondern Entwicklung von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten wie der Mittel des Genusses.“ 63 Hier scheint in der Analyse der realen ökonomischen Verhältnisse eine andere Ökonomie durch, die den Sinn des Gesetzes der Sparsamkeit im Gewinn von genussreicher Lebenszeit ausmacht und es somit gegenüber der irrationalen Sparsamkeit des Kapitalismus absetzt. Dieser Gedanke ist schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 zu finden. Dort kennzeichnet Marx die Widersinnigkeit der Nationalökonomie wie folgt: [Der Nationalökonom] macht den Arbeiter zu einem unsinnlichen und bedürfnislosen Wesen, wie er seine T hätigkeit zu einer reinen Abstraktion von aller T hätigkeit macht; jeder Luxus des Arbeiters erscheint ihm daher als verwerflich und alles, was über das allerabstrakteste Bedürfnis hinausgeht – sei es als passiver Genuß oder T hätigkeitsäusserung – erscheint ihm als Luxus. Die Nationalökonomie, diese Wissenschaft des Reichtums ist daher zugleich die Wissenschaft des Entsagens, des Darbens, der Ersparung und sie kommt wirklich dazu dem Menschen, sogar das Bedürfnis einer reinen Luft oder der physischen Bewegung zu ersparen.64

Diese Sparsamkeit gipfelt schließlich in einem irrsinnigen Reichtum, der den Menschen tendenziell das Leben raubt: 62  Vgl. Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, übers. v. Alfred Schmidt (Herbert Marcuse Schriften 6), Frankfurt am Main 1989. Dazu auch: Elisabeth Cheauré/Jochen Gimmel, „‚Sowjetische Muße‘ zwischen Ideologie und Praxis“, in: Elisabeth Cheauré/Jochen Gimmel/Konstantin Rapp (Hg.), Verordnete Arbeit – Gelenkte Freizeit. Muße in der Sowjetkultur? (Otium 23), Tübingen 2021, 3–44. 63 Marx, Grundrisse, 607. 64 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 548.

4. Allseitiger Genuss und Kritik der Arbeit

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Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äusserst, um so mehr hast du, um so ­grösser ist dein entäußertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen. Alles was dir der Nationalökonom an Leben nimmt und an der Menschheit, das alles ersetzt er dir in Geld und Reichtum. Und alles das, was du nicht kannst, das kann dein Geld: es kann essen, trinken, auf den Ball, ins T heater gehen […].65

Zeit als der wahre Reichtum durchbricht diesen expansiven Warenreichtum, der grundsätzlich das beschränkende Prinzip der Aufsparung des eigenen Lebensgenusses perpetuiert. Mit der Zeit, die frei wird, könnte das menschliche Leben aber dahingehend befreit werden, dass es Gebrauchswerte als Genusswerte aneignen lernt, also im Lebensnotwendigen selbst einen Reichtum ausmachen kann. Wie vom Gebrauchswert durch den Tauschwert abstrahiert und durch den Fetischcharakter der Ware die Menschen in eine einmalige Entfremdung versetzt wurden66, so könnte die Aufhebung dieser Entfremdung auch bedeuten, dass Gebrauchswerte sich wiederum in Genusswerte verwandeln könnten, in konkrete sinnliche Werte, die weder durch Existenzangst noch durch Konsumzwang zugerichtet wären. Reichtum an Zeit bedeutet in diesem Sinne die Zeit zum allseitigen Genuss des eigenen Lebens. Es bedeutet also eine ganz konkrete Einlösung der Achtung des eigenen Menschseins und das der anderen als Selbstzwecke. Zugespitzt könnte man sagen: Die Würde des Menschen muss gerade auch im Genuss des Lebens geachtet werden. Das ist nicht abstrakt gemeint, es meint das konkrete gute und genussreiche Essen und Trinken, „das auf den Ball, ins T heater gehen“ 67, die „frische Luft und die physische Bewegung“ 68, die „Muße­zeit als [auch] die Zeit für höhere Tätigkeit“ 69 und sicherlich: „Liebe […] gegen Liebe aus[zu]tauschen“ 70. Dass solcher Genuss weit entfernt davon ist, der Art Verschwendung zuzugehören, die eine Überproduktion und status- oder suchtförmige Konsumtion mit sich bringt, liegt in der Sache. Die genussreiche Entfaltung menschlichen Lebens meint die Aufhebung einer destruktiven Verkehrung, die durch Reichtum Not und im Genuss Auszehrung hervorbringt. Für Marx fallen in der tatsächlich befreiten Zeit Genuss und Produktion zusammen, denn die freie Zeit kann „vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus betrachtet werden als Produktion von capital fixe, dies capital fixe being man himself.“71

Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 549. Konzept der menschlichen Selbstentfremdung wird nach Karl Korsch in der Analyse des Fetischcharakters der Ware fortgeführt und zum Angelpunkt einer universalisierten Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Vgl. Korsch, Marx, 97–101. 67 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 549. 68 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 548. 69 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 607. 70 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 567. 71 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 607. 65 Marx, 66  Das

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

Das allseitige Tätigsein meint im Grunde nichts anderes als die Entfaltung des Menschen durch die Fähigkeit, sein Dasein zu genießen. In der ganzen Vielseitigkeit seiner Lebensäußerungen, im Werkeln, Studieren, Erschaffen, Lieben und Sprechen erschafft sich der Mensch selbst (und die anderen), weil er sich einfach Mensch sein lässt und dabei in seiner Würde achtet. Das ist ein sich erfüllendes Tun, insofern es seine Tätigkeiten nicht mehr als bloßes Mittel für ein gutes Leben ansehen muss, sondern im Tätigsein das Leben genießen kann. So lässt sich die freie Zeit jenseits der notwendigen Arbeit mit dem Begriff der Muße beschreiben, der eben jene Selbstzweckstruktur und das Versprechen auf Glück zugeschrieben war, auf das man mit Marx in einer kommenden Gesellschaft wieder hoffen dürfte.72 Marx behält sich für dieses Ineinanderfallen von Entwicklung, Genuss und Tätigkeit den Begriff der „freien Arbeit“ vor. Aus der grundlegenden Bestimmung, die Arbeit zu einem Stoffwechsel mit der Natur73 erklärt, folgt gewissermaßen, dass jegliche menschliche Lebensregung als Arbeit verstanden werden muss. Ich halte diesen Begriff für überspannt. Man kann die Notwendigkeit von Arbeit und den emanzipatorischen Charakter, der ihr zukommt, indem sie die Produktivität auf ein freiheitsfähiges Maß hebt, ohne weiteres zugestehen, ohne darum jegliche Tätigkeiten bis hin zur geschlechtlichen Liebe als Arbeit beziehungsweise Produktion begreifen zu müssen, wie das tendenziell bei Marx geschieht. Der Unterscheidung von notwendiger Arbeit und freier Arbeit liegt die lebensweltliche Differenz zwischen Arbeit und freier Betätigung, Selbstentfaltung und Genuss zu Grunde, die ich hier mit dem Begriff eines Reichtums an Zeit quergelesen habe. Ich halte aus dieser Perspektive die Kritik am „Kult um die Arbeit“74 für ausgesprochen wichtig. Zugleich muss aber vermieden werden, dass solche Kritik zynisch den Menschen gegenüber gerät, die Opfer einer Entwicklung sind, die unter dem Namen „Ende der Arbeit“ firmiert. „Diese Opfer leiden entweder darunter, daß es ihnen an einer Arbeit fehlt, die sie bräuchten, oder darunter, daß sie zuviel arbeiten für den Lohn, den sie auf einem Weltmarkt, auf dem eine zutiefst gewalttätige Ungleichheit herrscht, im Austausch für Arbeit erhalten.“75 Die Forderung nach einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit und das Mo72  Vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 8. Aufl., Frankfurt am Main 1980, 1065–1086. „Wirkliche Muße lebt einzig vom jederzeit gegenwärtigen, zu guter Zeit vergegenwärtigten Selberseins- oder Freiheits-Inhalt in einer gleichfalls unentfremdeten Welt; erst darin kommt Land.“ Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1086. Dazu ausführlich Jochen Gimmel, „Muße und Praxis in geschichtsphilosophischer Perspektive bei Marx“. 73  Vgl. z. B. Marx, Das Kapital 1, 57. 74 Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein, 100. Arndt gesteht gerade aus Perspektive einer Marx’schen Ökonomie der Zeit der Verkürzung des Arbeitstages eine „systemüberwindende Funktion“ zu Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein, 101. 75  Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt am Main 2012, 60.

4. Allseitiger Genuss und Kritik der Arbeit

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dell eines Reichtums an Zeit entfalten ihren emanzipatorischen Charakter eben nicht als Modifikationen einer auf dem „Tauschwerth ruhenden Production“, sondern durch Aufhebung derselben76. Dennoch scheint mir mit dem Konzept eines Reichtums an Zeit nicht bloß eine Utopie angesprochen zu sein, sondern zugleich ein realpolitisches Postulat, das in unserer Zeit besondere Dringlichkeit besitzt. Ich beziehe mich in diesem Sinne positiv auf Positionen, die von der Einsicht leben, dass das System, zu dem sich der Kapitalismus gewandelt hat, nicht mehr durch eine revolutionäre Produktivitätsentfaltung überwunden werden kann, sondern vielmehr der Zwang zur Produktivität selbst stillgelegt77 werden müsste, um ein menschenwürdigeres Leben zu ermöglichen. Revolutionär ist eine Tat heute vielleicht mehr als je zuvor als Un-Tat, als weltgeschichtlicher Generalstreik im Produktivitätszirkel, der eine Eröffnung von Handlungsspielräumen durch die Verweigerung zu arbeiten und zu produzieren – ohne deswegen zu darben und zu knausern – erlauben könnte. Zu dieser Haltung fand bereits Paul Lafargue 1880 in seinem Pamphlet Das Recht auf Faulheit, wenn er schreibt: Diese persönlichen und gesellschaftlichen Leiden, so groß sie auch sein mögen, werden verschwinden wie die Hyänen und die Schakale beim Herannahen des Löwen, sobald das Proletariat sagen wird: „Ich will es!“

Was aber will das sich zum Löwe gemauserte Proletariat? Es ist der Wille zu einem guten Leben, der hier als revolutionärer Kraftakt erscheint: Es muß sich zwingen, nicht mehr als drei Stunden täglich zu arbeiten, um den Rest des Tages und der Nacht müßig zu gehen und flott zu leben. […] [Es gilt das Proletariat davon zu überzeugen,] daß die zügellose Arbeit, der es sich seit Beginn des Jahrhunderts ergeben hat, die schrecklichste Geißel ist, welche je die Menschheit getroffen, daß die Arbeit erst dann eine Würze der Vergnügungen der Faulheit, eine dem menschlichen Körper nützliche Leidenschaft sein wird, wenn sie weise geregelt und auf ein Maximum von drei Stunden täglich beschränkt wird.78

Geschichte und Freiheitsbewusstsein, 101. Die Stilllegung der Dialektik ist darum von Horkheimer, Benjamin und Adorno zu einer Art gemeinsamen Losung des Marxismus im Sinne der kritischen T heorie erklärt worden. Mit am deutlichsten hat aber Herbert Marcuse Marx die Absicht einer „Begrenzung der Dialektik“ (277) zugeschrieben, die sich ihm folgendermaßen darstellt: „Der Endzweck der neuen gesellschaftlichen Praxis wurde bereits ausgesprochen: die Aufhebung der Arbeit, die Verwendung der vergesellschafteten Produktionsmittel für die freie Entwicklung aller Individuen. Alles weitere bleibt die Aufgabe der eigenen befreiten Tätigkeit des Menschen.“ Marcuse, Vernunft und Revolution, 282. 78 Lafargue, Paul, „Das Recht auf Faulheit (1883). Wiederlegung des ‚Rechts auf Arbeit‘ von 1848“, 44. 76 Arndt, 77 

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

5. Zeit-Überfluss. Mit Bataille zu einer Ökonomie der Zeitverschwendung* Eine Kritik der Arbeit, die sich nicht gegen Marx stellt, sondern von seiner Analyse der Wertform ausgeht, bezieht sich letztlich auf den Umstand, dass die Wertschöpfungslogik eine fortwährende Erzeugung künstlicher Knappheit bei ständig anwachsendem Warenreichtum impliziert. Es gehört zu der erstaunlichen Dialektik des Kapitalismus, dass er – wie oft zu seiner Verteidigung betont wird – zu einer unglaublichen Expansion des menschlichen Lebens, der technischen Naturbeherrschung und des schieren Warenreichtums geführt hat. Aber selbst in seiner expansivsten Ausdehnung muss er ständig Knappheit reproduzieren, um dieser durch noch gesteigertes Wachstum begegnen zu können. Knappheit ist Funktion des Wachstums unter kapitalistischen Bedingungen. Das berechtigt zur Aussage, dass die expansiven Anstalten des Tauschmarktes eigentlich nur „die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten.“79 Wer heute noch die kapitalistische Eigenlogik aufgrund ihrer enormen Produktivitätsentfaltung befürwortet oder gar als alternativlos ansieht, entscheidet sich damit gegen eine mögliche Begrenzung der Produktion. Die Produktionsausweitung garantiert ihre Grenzenlosigkeit, indem sie Knappheit (Nachfrage, Bedürfnis, Not etc.) als immanente Funktion reproduziert. Wer diese Produktionsspirale in Schranken weisen will, wie es angesichts der Klimakatastrophe und des drohenden Kollaps vieler ökologischer Systeme unabdingbar ist, der muss diese Logik durchbrechen. Dass die Möglichkeit zur Überwindung des Kapitalismus auf dessen eigenen ‚Errungenschaften‘ beruht, wie Marx in aller Deutlichkeit formulierte, ändert nichts an der Eindeutigkeit dieser geschichtlichen Aufgabe: Mit dem Zwang zur Produktion gilt es auch den Zwang zur Reproduktion von Knappheit aufzuheben – eine Politik des Lebenszeitgewinns und der radikalen materiellen Umverteilung ist heute der Kairos der Menschheitsgeschichte. Bedenkt man, dass diese Knappheitsproduktion des Wachstums auf der Zeitökonomie des Warentauschs beruht, lässt sich einsehen, dass es insbesondere die nichtwertförmige Zeit ist, die knapp gehalten wird, um den Betrieb der Waren­ expansion im irrsinnigen Regelkreislauf von Produktion und Konsumtion anzufeuern. Damit legt sich auch nahe, dass in der unproduktiven Aneignung der Zeit ein zentrales emanzipatorisches, ökonomisch-ökologisches Widerstandsmoment ausgemacht werden kann. Sich zu vergegenwärtigen, dass nicht nur für alle ein Leben in Wohlstand möglich sein, sondern auch allgemeine Zeit-Fülle herrschen könnte, scheint mir heute eine der wichtigsten Einsichten für die anstehende ‚Transformation‘. Wir müssten lernen, unsere Produktionszeit durch   *  Dieses Unterkapitel entspricht weitgehend dem Schluss einer ausführlicheren Untersuchung der Überfluss-Ökonomie in: Gimmel et al., An den Grenzen der Muße, 93–113. 79 Adorno, Minima Moralia, 179.

5. Zeit-Überfluss. Mit Bataille zu einer Ökonomie der Zeitverschwendung

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den Genuss ‚wertfreier‘ Zeit zu begrenzen. Das erfordert ein radikales Umdenken weg von der internalisierten Knappheitsökonomie hin zu einem Ethos des Zeitgenusses. Man darf sich hierbei an Georges Bataille halten: Bataille war darum bemüht, Ökonomie vom Standpunkt des Universums aus neu zu bestimmen. Betrachtet man die ganze Erde, dann stünde – so seine durchaus evidente Überlegung – durch die Sonne ein unbeschränktes Übermaß an Energie bereit. Die Sonne verschenkt sich und ihre Energie völlig frei und ergießt sich über die Erde, ohne dafür auch nur den geringsten Preis oder Gegenleistung zu erfordern. In Batailles Augen ist nun alles Leben nichts anderes als eine Absorbierung dieser Sonnenenergie. Das Leben schöpft aus dem unendlichen Reichtum und der Überfülle der Sonne, indem es versucht, diese in ihren Lebensformen festzuhalten. Pflanzen machen das unmittelbar. Pflanzenfressende Tiere schöpfen wiederum aus dem Überfluss der Pflanzen und sie selbst werden von Fleischfressern verzehrt. Und zwar überall mit enormen Energieverlusten! Bataille erkennt in der Ausbildung der ungemeinen Vielfalt partikularer Lebensformen, die voneinander zehren und sich gegenseitig aufbrauchen, eine Form mit der zentralen Herausforderung umzugehen, welche die Natur stellt, nämlich dem Überfluss. Bataille gründet seine ökonomischen Überlegungen also auf der Einsicht, dass vom Standpunkt der Erde oder des Universums aus, gerade der Überfluss zum Problem wird und keineswegs der Mangel. Es gibt Mangel nur aus der Perspektive des Partikularen, das diesen Mangel wiederum nur erfahren kann, weil es selbst Vollzugsform eines verschwenderischen Reichtums ist. Wir können die Sonnenenergie aufhalten, aber nur eine Zeitlang. Die Sonnenenergie, die wir sind, ist eine Energie, die sich verliert. Verzögern können wir das wohl, aber die Bewegung, die will, daß sie sich verliert, können wir nicht aufheben. Das System, zu dem wir gehören, kann Strahlung aufhalten, indem es sie im Wachsen akkumuliert, aber es kann nicht endlos wachsen. Zu einem gegebenen Zeitpunkt, wenn das Wachstum des Systems seine Grenzen erreichen wird, wird die aufgefangene Energie nicht anders können, als ihren Lauf wiederaufnehmen und sich verlieren. Der Sonnenstrahl, der wir sind, findet am Ende die Natur und den Sinn der Sonne wieder: er muß sich verschenken, sich ohne Berechnung verlieren. Ein lebendes System wächst, oder es verschwendet sich grundlos.80

Als eines der Grundgesetze der Ökonomie des Lebens hat Bataille die Verschwendung ausgemacht. Sowohl Sexualität als auch den Tod begreift er als Strategien, um den Anforderungen der Verschwendung nachzukommen, die höhere d. h. besonders verschwenderische Lebensformen ausgeprägt hätten. Der Mensch ist für Bataille tatsächlich die Krönung dieser Entwicklung, insofern er radikal verschwenderisch in der Welt steht. „Der Mensch ist ein Ergebnis des Energieüber80  Georges Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie: Der Begriff der Verausgabung; Der verfemte Teil; Kommunismus und Stalinismus; Die Ökonomie im Rahmen des Universums, München 2001, 290–291.

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II. Zeitpolitik, Zeitreichtum und Zeitökonomie

schusses: vor allem der extreme Reichtum seiner höheren Aktivitäten darf als glanzvolle Freigabe des Überflusses definiert werden. Die freie Energie blüht auf in ihm und demonstriert fortwährend ihre nutzlose Herrlichkeit.“81 In den konkreten historischen Gesellschaften sieht Bataille dieses ökonomische Entropiegesetz wiederkehren, insofern alle Kulturen, die sich einem Ethos der Sparsamkeit, Askese und Effizienz widmen, auch expandieren – ja expandieren müssen, weil sie nur darin den ihnen zukommenden und nicht verschwendeten Reichtum verausgaben können. Der Kapitalismus ist nur eine, aber wohl die radikalste Form einer solchen Expansion, die auf unablässiger Effizienzsteigerung und Ersparung gründet. Gesellschaften allerdings, die an ihre Grenzen gestoßen sind und nicht weiterwachsen können – so wie wir heute –, sind darum nicht weniger dazu gezwungen, den ihnen zukommenden Reichtum, das Faktum des Universums, zu verausgaben; sie sind nach Bataille dazu gezwungen, Formen der Verschwendung kulturell zu verankern. Das führt zu der verwirrenden Einsicht Batailles, dass sobald eine Gesellschaft nicht weiterwachsen kann, da sie ihre Grenzen erreicht hat, sie darum gerade dazu genötigt wird, sich der Verschwendung hinzugeben. Wer angesichts seiner Beschränktheit sparen wollte, würde letztlich in eine Logik des Wachstums zurückfallen, die angesichts der Beschränkung in eine Selbstdestruktion, in eine Verschwendung durch Tod münden müsste. Diesbezüglich unterscheidet Bataille zwei Formen der Verschwendung, die gloriose und die katastrophische.82 Mit der gloriosen Verschwendung meint Bataille Formen der kulturell verankerten nutzlosen, d. h. nicht auf ein Produkt oder Effekt zielenden Verausgabung von Mitteln und Zeit. Er nennt hier vornehmlich die Schenkung, die Feier, die ‚nutzlose Herrlichkeit‘ höherer Aktivitäten oder eine Erotik, die nicht der Fortpflanzung dient. Muße müsste hier eingereiht werden. Die katastrophische Verschwendung – keineswegs klar unterschieden von der gloriosen – bestünde in Formen des Todes, des Krieges, des Opfers, der Destruktion und so weiter. Hierunter fallen die von Bataille ausführlich behandelten Opferriten der Azteken, aber nicht weniger die Weltkriege, die Bataille vor Augen stehen, als er diese Gedanken ausformulierte. Er war der Ansicht, dass die Expansionslogik des Kapitalismus entweder in einen weiteren, noch destruktiveren Weltkrieg münden oder durch eine Logik glorioser Verschwendung gestoppt werden müsste. Er kennzeichnet letztere Möglichkeit als Anforderung der Schenkung im globalen Maßstab. Es müsste zum ureigenen Bedürfnis für die übersättigten Industriestaaten werden, ihre Reichtümer an die sogenannte Dritte Welt zu verschenken ohne Gegenleistung, ohne Kontrollgewinn, nur aus dem Genuss der Verausgabung heraus.83 Umverteilung

Die Aufhebung der Ökonomie, 296. Vgl. Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie, 45–51. 83 Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie, 67 und 213–215. 81 Bataille, 82 

5. Zeit-Überfluss. Mit Bataille zu einer Ökonomie der Zeitverschwendung

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durch Schenkung wird hier als eine Form der feierlichen Verausgabung und als Genuss begriffen, der die Welt vor einem Kollaps bewahren könnte. Diese Umkehrung der Perspektive in aller Konsequenz ernst zu nehmen, erscheint mir angesichts der heutigen Krise bedeutsam. Askese-Postulate und Enge-Gürtel-Reden greifen hier zu kurz, da sie selbst noch einer Logik des Produktionswachstums angehören. Vielleicht geht es weniger um das Schonen von Ressourcen als um das Verschwenden von Reichtum (zum Beispiel durch die Freude des Verschenkens), nicht darum, Kräfte zu sammeln, sondern es zu genießen, seine Zeit zu vergeuden – und vielleicht stellt solche Verschwendung gerade das ‚nachhaltigste‘ Schonen dar und Zeitvergeudung die eigentliche Besinnung auf unsere Kraft. In einer kapitalistischen Gesellschaft, die an ihre Schranken kommt, müsste die Zeit vergeudet und dadurch aus dem Schlaf in der Warenform erweckt werden, um den katastrophalen Konsequenzen unserer wirtschaftlichen Expansion vorzubeugen. Man ist noch heute der Meinung, daß die Welt arm und die Arbeit notwendig sei. Die Welt krankt jedoch an ihrem Reichtum. […] „Wenn ihr arbeitet, dann deshalb, weil Ihr sonst nicht wißt, was Ihr mit den Energiesummen anfangen sollt, über die Ihr verfügt. Ihr könnt in Erwägung ziehen, weniger zu arbeiten, aber Ihr könnt nicht aufhören mit der Arbeit und Euch ausruhen. Ihr seid, das solltet Ihr wissen, nichts als explodierende Energie. […] In erster Linie hat der Mensch die Aufgabe, ruhmvoll zu verausgaben, was die Erde anhäuft, was die Sonne verschwendet. In erster Linie ist er ein Lachender, ein Tanzender, ein Festgeber.“ […] niemals führte eine gestellte Aufgabe sicherer zu einem Resultat, im – erstrebten – Ruhm oder im – erlittenen – Schrecken.84

Ob man im Einzelnen mit Bataille übereinstimmt oder nicht, ist nicht entscheidend. Der Perspektivwechsel, den er vorschlägt, erscheint mir allerdings wichtig, um es denkbar werden zu lassen, aus der Zwangslogik der Produktion auszuscheren. Es ist um eine Aneignung unserer Lebenszeit zu tun, die nicht den Gesetzen der Produktivität gehorcht und gerade darum einen Wert hinter der Wertlogik des Kapitalismus darstellt. Nicht nur Jugendliche sind also dazu zu ermutigen, die Schule zu schwänzen und zu demonstrieren, sondern vielmehr wären die Leistungsträger dazu aufzufordern, ihre Energie von der letal nützlichen Arbeit abzuziehen und anzufangen, ihre Lebenszeit zu genießen. In diesem Sinne ist die altbewährte Forderung von Walter Benjamin nach einem Generalstreik zu erneuern, als einen Streik des Innehaltens im Glück, als Gewinn von Jetztzeit.

84 Bataille,

Die Aufhebung der Ökonomie, 298.

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile Mit der Formel ‚4.0‘ wird zu verstehen gegeben, dass nicht bloß eine bestimmte Technik, sondern wir selbst auf der Höhe der Zeit sind. So wird die Versionsziffer, deren Bedeutung trotz ihres bestimmten Auftretens äußerst vage bleibt,1 unterschiedslos allem möglichen aufgestempelt, das zukunftsträchtig erscheinen soll. Es finden sich neben der ursprünglichen ‚Industrie 4.0‘ Ausdrücke wie: ‚Gesellschaft 4.0‘, ‚Bildung 4.0‘, ‚Arbeit 4.0‘, ‚Umwelt 4.0‘, ‚Mensch 4.0‘, ‚Forschung 4.0‘, ‚Zukunft 4.0‘ und so weiter. Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Brandaktuell soll erscheinen, was sich selbst voraus ist und aus der Zukunft schöpft. Doch ein seltsames Zeitverständnis liegt dem zu Grunde, eines nämlich, das die Sorge verrät, die eigene Gegenwart könnte zu spät dran sein, so als ob die Zeit aus lauter Eile und Geschäftigkeit das trödelnde Jetzt, das nicht Schritt hält, aus den Augen verlieren könnte wie Eltern ihre Kinder im Trubel des Schlussverkaufs. Es scheint beinahe so, als müsste man sich an den davoneilenden Rocksaum der Zukunft klammern, um nicht verloren zu gehen. Sicherheitshalber heften wir darum allem Möglichen die Zukunftsmarke ‚4.0‘ in Neonlettern an und hoffen, dass es auf diese Weise vom Strom des Fortschritts nicht vergessen wird. Tatsächlich nie dagewesen ist ein Zeitbewusstsein, das sich einer permanenten Revolution der Technologie ausgesetzt sieht und aus diesem Grund Zukunft wie ein bereits erfolgtes Faktum ansieht, vor der sich die Gegenwart, die schon veraltet erscheinen muss, zu rechtfertigen hat. Vielleicht dürfen wir uns gerade aufgrund unserer menschlichen Antiquiertheit gegenüber der rasenden techno1  Es soll die vierte industrielle Revolution bezeichnen, die der digitalen Revolution (3.0) folgen wird. Sie zeichnet sich jedoch durch nichts konkret aus, was nicht schon durch Digitalisierung (3.0), maschinelle Fabrikation (2.0) und mechanisierte Kraftmaschinen (1.0) gegeben wäre. In der Regel werden Automatisierung (nun wirklich nicht revolutionär), Vernetzung (digital), künstliche Intelligenz (Kybernetik, Digitalisierung) und Robotik (also Computer in Verbindung mit herkömmlichen Maschinen) angesprochen, also nichts was gegenüber Version 3.0 tatsächlich revolutionär erscheinen könnte. Die Inhalte des 4.0 bleiben so gänzlich unbestimmt und drücken nichts anderes aus als das technische Futur selbst, eine inhaltsfreie Achtung der Revolution im technologischen Futur.   Dirk Baecker versteht das 4.0 weniger von der Industrieentwicklung her, sondern vielmehr als letzter Schritt einer menschheitsgeschichtlichen Medienentwicklung: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchdruck und schließlich Digitalisierung (Dirk Baecker, 4.0 oder: Die Lücke die der Rechner lässt, Leipzig 2018). Diese Lesart hat den Vorteil, dass sie der zügellosen Zukunftsunbestimmt entgeht, die den Begriff der Industrie 4.0 auszeichnet, die aber in der Regel das vorherrschende Verständnis ausmacht.

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

logischen Entwicklung berechtigterweise wie verlorene Kinder fühlen – aber es ist sicher nicht die Zeit, die ihre Aufsichtspflicht vergaß, sondern es hat vielmehr den Anschein, als sei sie vergessen worden. Langeweile weist uns dagegen auf Zeit hin – oder: Die Zeit weist in der Langeweile auf uns hin, so dass wir uns in ihr vielleicht erst als verloren wahrnehmen können. Welches Verhältnis zu Zeit sich hinter der Allgegenwart des ‚4.0‘ verbirgt und inwiefern uns gerade Langeweile einen (An-)Halt in der Zeit bieten kann, wird zu klären sein. Es werden also im Folgenden zwei Zeitmodi, oder wenn man so will, zwei Manifestationen der Unzeit, miteinander ins Verhältnis gesetzt, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander gemein haben, aber jeweils etwas darüber verraten, was es heißt, dass Zeit drängt, mangelt, sich dehnt oder zudringlich wird. Erst in der Konklusion wird die gemeinsame Grundproblematik von 4.0 und Langeweile hinsichtlich ihrer Zeitstrukturen deutlich werden; es wird um die Möglichkeit einer Aneignung von Zeit als Krise und Glück unter den eigenartigen Bedingungen der allgegenwärtigen und doch zugleich zeitlosen Augenblicklichkeit medialisierter Gegenwart gehen.

1. Teil: 4.0 1.1. Prophetie und Produktionslogik des Futur II Mit ‚4.0‘ wird eine Zukunft bezeichnet, die der sogenannten ‚digitalen Revolution‘ (3.0) – also unserer Gegenwart – folgen wird.2 Diese bestimmte Zeit oder Epoche wird also nicht im Nachhinein durch eine sie auszeichnende Technologie gekennzeichnet, wie das zum Beispiel bei der Industrialisierung 1.0 und 2.0 der Fall war, sondern umgekehrt: Zur Leittechnologie – wie auch immer sie beschaffen sein wird – wird erklärt, was erst sein soll. Sie wird zum Maßstab, nicht weil augenblicklich alles von ihr abhinge, sondern weil angeblich alles von ihr abhängen wird. Diese phantasmagorische Technologie verkörpert, was kommen soll, und steht damit für die Zukunft selbst, die unsere Gegenwart, wie weit sie auch immer fortgeschritten sein mag, schon als überholt begreifen lässt. Angesichts dieses magischen Futurismus erscheint selbst das Neueste schon veraltet, denn wir wissen darum, dass es von der unaufhaltsamen technologischen Revolution schon morgen überspült sein wird. Eine säkulare Prophetie flüstert uns ins Gewissen: ‚Bereite Dich vor auf das, was da kommen wird! Lass es Deine Gegenwart 2 Das ‚4.0‘ kommt eigentlich etwas provinziell daher, es ist ein bundesdeutscher Titel, der auf die Initiative eines Ministeriums zurückgeht und seinen etwas piefigen und anbiedernden Charakter hinter der hippen Fassade nicht verleugnen kann. Vgl. BMBF-Internetredaktion, „Industrie 4.0 – BMBF“, in: Bundesministerium für Bildung und Forschung – BMBF, https://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html (abgerufen am 07.07.2018).

1. Teil: 4.0

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sein!‘ Paradoxerweise tritt aber gerade die Zeit bei aller Prophetie in den Hintergrund: Sowohl im Falle biblischer Voraussagen von den Taten und Eingriffen eines überzeitlichen Gottes als auch im Fall der Prophezeiung des ‚4.0‘ wird die Zeit eigentümlich übersprungen. ‚4.0‘ meint also keine Zukunft im zeitlichen Erfahren, sondern bezeichnet das Ergebnis eines Technologieprozesses, das uns als zukünftiges Resultat vorweggenommen scheint; es meint Produkte, die über uns gekommen sein werden. Diese Zukunftsvorstellung basiert auf einer Logik von Herstellung, die das eigentliche Zeiterfahren durch die Vorstellung eines dem Universum eingeschriebenen Fortschritts überblendet. Ob etwas als Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft gilt, entscheidet sich an dem „Technology Readiness Level“3 einer immer rascheren Technologieentwicklung, die dabei ist, die grundlegendsten Grenzen der Sinnlichkeit und des Erdraumes aufzuheben – und damit auch ein Erfahren von Raum und Zeit, das sich der Begrenztheit von Leib und Erde verdankt. Dieses Produktfutur bleibt aber dennoch eigentümlich unterbestimmt, denn niemand weiß, worin genau das 4.0 bestehen wird. Darum bezieht sich diese herstellungslogische Prophetie auf Produktion an sich. Wir werden eine Zukunft hergestellt haben, die uns schon heute mit ihren unbekannten Möglichkeiten grell überstrahlt. Es herrscht ein unbestimmtes Futur II, das sich der Zukunft als Resultat, als ein zukünftiges Perfekt futuristischer Produktwelten, inne ist und ihr heute schon alles unterwirft. So beurteilen wir unsere technologischen Anstalten aus einer Science-Fiction-Perspektive, die wir für realer, nämlich wirkmächtiger halten als die verstaubte Realität der Gegenwart. Doch was uns als Science-Fiction schmeicheln mag, wird zum Fatum, wo mit der Fiktion Ernst gemacht wird. ‚Ist all meine Gegenwart nichts anderes als ein Glied in der Kette der Vergangenheit?‘ Diese Frage nach der Determiniertheit des Jetzt aus dem Zuvor wird zusehends durch die Determiniertheit im Futur II abgelöst, das uns durch die Vorstellung einer abgeschlossenen Zukunft bestimmt: Es wird ein 4.0 gekommen sein, wer dem heute nicht gerecht wird, ist schon jetzt Vergangenheit. Gerade weil die Zukunft als ein Produkt4 unseres Tätigseins aufgefasst wird, gerät sie für die gegenwärtigen Menschen absolut bindend und verpflichtet zur Weiterentwicklung. Jeder Augenblick ist der Zukunft schon überantwortet und muss sich vor ihr rechtfertigen, indem er selbst produktiv ist.

3 John C Mankins, „TECHNOLOGY READINESS LEVELS“, in: NASA, Office of Space Access and Technology, Advanced Concepts Office (06.04.1995), http://www. artemisinnovation.com/images/TRL_White_Paper_2004–Edited.pdf (abgerufen am 01.01. 2023). 4  Es wäre hier zu wenig, statt von einer Zukunft als Produkt von einer zukünftigen Produktionsform zu sprechen, denn es ist nicht mehr in erster Linie die Art und Weise, wie produziert wird, sondern die Art und Weise, wie Produkte (z. B. digitale Medien) unsere Wirklichkeit produzieren, was diese Zukunft als Schicksal erscheinen lässt.

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

In diesem Sinne ließe sich von einer Automation der Zeit- und Geschichts­ dynamik sprechen. Das aber nicht im Sinne eines verselbständigten Technik­ apparats, der die Zügel der Geschichte in die Hände genommen hätte, sondern als verselbständigte Produktions- und Effektlogik, deren Start-up-Deutung der Welt dazu drängt, immerzu vor der eigenen Macht zu kapitulieren. Angesichts dieser eigentümlichen Auslöschung der Zukunftsoffenheit müsste man geradezu von einer Selbstentmündigung durch den Freiheitszwang zum technologischen Fortschritt sprechen, von einem Umschlag des durch die Aufklärung erworbenen Zukunftsgewinns in eine totale Abhängigkeit von der technologisch-sozialorganisatorischen Weltbemächtigung. Trotz zunehmender Gestaltungsmacht in den fortschrittlichen Gesellschaften scheint es schwieriger zu sein als je zuvor, sich gegenüber der eigenen Produktion frei ins Verhältnis zu setzen. Günther Anders hat das unter dem Stichwort „prometheisches Gefälle“ protokolliert.5 Das Gefälle wächst sich zu einer medialen Okkupation der Wirklichkeit aus, das Medium wird gegenüber den Anwender:innen vom prometheischen Werkzeug zur Moira. Das hat offensichtlich damit zu tun, dass man sich der Zeit als einer Dimension beraubt sieht, in der man mehr und anderes sein könnte als Produktivkraft und Informationsressource. Die Überlagerung der Zukunftsdimension durch die Herstellungslogik lässt Herstellung bis hin zur Informationserzeugung und -verarbeitung als ein Schicksal erscheinen. Zukunft wird also weniger in der Perspektive eines Projekts eröffnet, sondern Gegenwart wird vielmehr aus der Perspektive eines ‚Retro-jekts‘ bloß noch abgewickelt. Die unbestimmte Produktzukunft des 4.0 ist unsere, da wir schon jetzt von dieser ungekannten Produktion in ihren Dienst gestellt sind. Wir werden uns als „Menschen 4.0“6 verstanden haben und weil wir uns schon heute diesem Anspruch beugen, sind wir es schon jetzt. Die Kennnummer wird zum Titel: Mit ‚Mensch 4.0‘ wird eine Umgangsweise mit Wirklichkeit be- und ausgezeichnet, die dem futuristischen Produktionsverfahren entspricht; es wird zu verstehen gegeben, dass die menschliche Existenz produktionstechnisch auf den Stand der Zukunft gebracht wurde. Das hört sich unter Umständen in zynischer Weise niedlich an, so zum Beispiel, wenn der VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) titelt „Arbeit 4.0 – im Zentrum steht der Mensch“7 und ausführt: Manche Revolutionen kündigen sich lange an – und geschehen dann doch über Nacht. Wo die mächtigen, manchmal tonnenschweren Stahlarme rotieren, um zu schweißen, zu lackieren oder Lasten zu stemmen, durfte kein Mensch in der Nähe sein. Und plötzlich wurde alles anders. 2016 war das Jahr, in dem der Roboter aus seinem Käfig hervorgeholt Die Antiquiertheit des Menschen 1, 16. Dieser Ausdruck entstammt dem Buch: Alexandra Borchardt, Mensch 4.0.Frei bleiben in einer digitalen Welt, Gütersloh 2018. 7 VDMA, „Arbeit 4.0 – im Zentrum steht der Mensch – VDMA“, https://menschmaschine-fortschritt.de/reportage/arbeit-4-0-im-zentrum-steht-der-mensch/ (abgerufen am 16.08.2018). Die folgenden Zitate sind ebenfalls dieser Webseite entnommen. 5 Anders, 6 

1. Teil: 4.0

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und bei der täglichen Arbeit zum direkten Partner des Menschen wurde. Das monotone Zusammenstecken von Kleinteilen übernahm die Maschine, um das Bauteil dann dem ‚Co-Worker‘ Mensch zur weiteren Bearbeitung direkt in die Hand zu reichen. Eine Revolution am Arbeitsplatz nahm ihren Anfang: die Mensch-Maschine-Kollaboration. Im Jahr 2025 ist sie geübte und funktionierende Praxis.

Anknüpfend an nostalgische Vorstellungen proletarischer Verbrüderung stellt der VDMA den jüngst aus dem Käfig befreiten „Kollegen Roboter“ vor. – Man beachte das (verwegene) Tempus: Die revolutionäre Zukunft im Jahre 2025 ist in Betroffenheit vermittelndem, resümierendem Präsens gehalten, während die Entwicklung dorthin, mithin die Gegenwart, bereits der Vergangenheitsform überantwortet wurde. Dass Menschen in nicht allzu weiter Vergangenheit (und vielerorts bis heute) durchaus gezwungen waren, in der Nähe von ‚tonnenschweren, rotierenden Stahlarme‘ zu schuften und von Vorarbeitern gar dazu angehalten wurden, sie zu stemmen, haben die Werbetexter hier geflissentlich übergangen. Es scheint doch sehr fragwürdig, ob wir uns wünschen sollten, ins Zentrum einer Mensch-Maschinen-Kollaboration zu geraten, die augenscheinlich tief inmitten einer Maschinerie verankert ist, der die Menschen bloß zuarbeiten. Was könnte positiv daran sein, dass der Mensch als Co-Worker von Maschinen ins Visier eines Produktionsprozesses gerät, von dem befreit zu werden einmal versprochen war? Wo einst die Hoffnung genährt wurde, Menschen könnten ihrer Angleichung an Maschinen, ihrer verdinglichten Entfremdung entkommen, sobald Automation sie von der Produktion entbinden würde, wird nun für Robotisierung geworben, da sie in der Lage sei, den Menschen als Co-Worker in den Produktionsprozess einzuspeisen. Im Namen progressiver Fortschrittlichkeit wird von Biohackern, die sich mit dem selbstverliehenen Titel ‚Cyborg‘ brüsten, der Willen propagiert, sich zu robotisieren. Die Hoffnung richtet sich nicht auf den Automaten, der die Freiheit von der noterzwungenen Arbeit schenkt, sondern quasi auf den Roboter als Arbeitgeber und role model. Hinter der frohen Botschaft, ins Zentrum gerückt zu sein, verbirgt sich die Mahnung an die Menschen: ‚Seid dankbar, dass euch die Roboterkollegen mitarbeiten lassen und gebt euch Mühe, den Anschluss an sie nicht zu verpassen: Schaut, dass ihr anschlussfähig bleibt!‘ Diese Mahnung an die Menschen, nicht den Anschluss an die Technologie zu verlieren, sondern sich besser selbst Anschlüsse legen zu lassen, gilt aber nicht bloß in der Arbeitswelt, sondern nicht minder im Bereich der Kommunikation, der Unterhaltung, der öffentlichen Teilhabe und des Konsums. Im Zentrum steht der Mensch – um sich an Maschinen zu vermitteln. Der futuristische Imperativ ergeht an die Menschen, maschinentauglich zu sein: Handle stets so, dass Du für alle Technologien, die Mittel sind, vermittelbar bist!

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

1.2. Technologische Eigenzeit: Mächtigkeit und allgegenwärtiger Augenblick Das Leitbild für diese neuen Leistungsanforderungen an den Menschen gibt die Technik. Sie zeichnen sich durch zwei zentrale Merkmale aus, die für das Zeitverhältnis des 4.0 charakteristisch sind: Mächtigkeit und Augenblicklichkeit. Nicht länger weist sich Innovativkraft durch Motive der Beschleunigung oder der Geschwindigkeit aus, sondern daran, wie gut die Implementierung der eigenen ‚Betriebsversion‘ in ihrer Systemumgebung gelingt, also durch die Macht und Fähigkeit zur Vernetzung. Nicht die Maschine, die den Produktionsprozess ins Unermessliche beschleunigt oder rasend die Welt von einem Ort zum anderen durchquert (die Dynamiken des 1.0 und 2.0, die in den Idealen der ‚Helden der Arbeit‘, der ‚rasenden Reporter‘ oder dem sich verbrennenden Spitzenmanagement zum Ausdruck finden), steht Modell für die Zukunft, sondern Rechennetzwerke, die jegliche Information verarbeiten und sich mit allem verbinden können – überall auf der Welt zur selben Zeit und ohne sich von der Stelle rühren zu müssen. Auch wenn dieses Zukunfts-Soll eine Konkurrenz um Zukunft entfacht, rennen wir doch nicht nebeneinander in derselben Zeit um die Wette, sondern konkurrieren vielmehr um die größtmögliche Offenheit für mögliche Vernetzungen. Nicht der äußerliche Geschwindigkeitsvergleich ist also maßgeblich, sondern vielmehr der Vergleich der eigenen Kompatibilität, die gleichwohl nach wie vor auf interner Funktionsgeschwindigkeit basiert. Geschwindigkeit wird vom äußeren Maß der Konkurrenz zur internen Funktion, die ermöglicht, die Quantität interner Verbindungen so zu steigern, dass sie sich als aktuelle Offenheit für den Anschluss nach außen darstellt. Diese Anschlussoffenheit wird zu einem entscheidenden Kriterium, das auch Menschen in Zukunft – also ab jetzt! – erfüllen müssen. Mit einem Begriff, der aus der Mengenlehre stammt, wird in diesem Sinne von der ‚Mächtigkeit‘ eines Systems gesprochen. Netzwerktheorien zeigen, dass ‚Mächtigkeit‘ sich in der Menge von (möglichen) Verbindungen darstellt. Dass heute schon in den Grundschulen Networking-Kompetenzen vermittelt werden, damit die Schüler:innen nicht von der Zukunft verschluckt werden, zeigt, dass die Mächtigkeit des Netzwerks die ideologische Infrastruktur der Gesamtgesellschaft bestimmt. ‚Impact-Faktoren‘ – die Qualität, die der Quantität von Verbindungen entspringt – sind deren Indikatoren. Konkurrenz um die Zukunft entscheidet sich in diesem Bild nicht anhand der Sequenz (früher oder später anzukommen), sondern anhand der Präsenz (in ‚Echtzeit‘ zugleich ‚da zu sein‘). Paul Virilio spricht in diesem Zusammenhang von einem „Futurismus des Augenblicks“, eine Entwicklung, in der die Steigerung der Bewegungsreichweite und Geschwindigkeitszunahme der beiden vorangegangenen Jahrhunderte umschlägt in eine „Augenblicklichkeit der interaktiven, kybernetischen Telekommunikation.“ 8 8 Virilio,

Futurismus des Augenblicks, 55. Siehe Dazu auch den Abschnitt I.4.

1. Teil: 4.0

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In diesem Sinne erscheint Zeit nicht als das uns gemeinsame Medium, sie kommt uns nicht als ein und dieselbe Zeit zu, an der wir ein gemeinsames Maß finden und uns gegenseitig messen, sondern wir scheinen vielmehr verschiedene Binnenzeiten beziehungsweise Geschwindigkeiten (‚Augenblicklichkeiten‘) zu etablieren, die auf (quantifizierbare) Präsenz zielen. Metrische Zeit bzw. ‚getaktete Zeit‘ bleibt als interne Leistungsfunktion (Gbit/sec) maßgeblich, stellt sich aber nicht sequenziell dar, sondern als aktuelle und qualitative (im Sinne von Anschlussfähigkeit) Präsenz. Eine seltsame Dialektik bricht sich hier Bahn: Wir fragmentieren die gemeinsame Zeit in monadische Netzwerk-Eigenzeiten (Verbindungsgeschwindigkeit, ‚Anwesenheit‘ als Abrufbarkeit von Daten und Ansprechbarkeit von Nutzeroberflächen, Rate der Informationsübermittlung, Aktualisierung vergangener beziehungsweise Simulation zukünftiger Ereignisse), um umfassend präsent und präsentabel sein zu können. Präsenz bedeutet hier nicht die eine Gegenwart für uns alle, sondern vielmehr steigerungsfähige Präsenzen als präsentierte Mächtigkeiten, als Fähigkeit zu allseitiger Verbindungsoffenheit: sichtbares, ständiges Da-sein-für. Aus der Gegenwart wird Angebot, digitales Anstupsen, Freundschaftsanfragen und Statusmeldung. Ob man nun ‚seiner Zeit voraus‘ ist oder ihr ‚hinterherhinkt‘, entscheidet sich in diesem Modell anhand der Mächtigkeit der Systemversion, an der Frage, wie ‚präsent‘ man ist und ob man Zukunft oder Vergangenheit gerade ‚realisiert‘. Diese Idee der Präsenz als Mächtigkeit ist der realtechnologische Modus, der die an sich absurde Herrschaft des 4.0 als Zeitform erst plausibel macht im Postulat, Anschluss zu suchen an die Zukunft durch Netzwerkoffenheit. Früher herrschte vielleicht der widersinnige Fortschrittsglaube an unterschiedliche Standorte in derselben Zeit vor, wenn man sich die eine gemeinsame Zeit als einen Produktionsprozess vorstellte, der es anzugeben erlaubte, an welcher ‚Stelle‘ seiner Verwirklichung sich jemand aufhielt (Fortschritt). Die Veränderung der Produktionsverfahren hat sich aber augenscheinlich auf das Zeitverständnis ausgewirkt, nun scheint es keine gemeinsame Zeit und kein gemeinsamer Prozess zu sein, auf die man sich bezieht, sondern unterschiedliche Performanzen von Zeit, die sich als Effekte spezifischer Vernetzungen ergeben. Zeit ist dann nicht allgemein im Sinne einer Sphäre, eines Mediums oder einer reinen Form der Anschauung, sondern als allseitige Möglichkeit beziehungsweise Mächtigkeit, in Verbindung zu sein. Diese Mächtigkeit muss konkret möglich sein als allgegenwärtiger Augenblick – ein monströses Zerrbild des Kairos. Wo „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft […] sich zum allgegenwärtigen Augenblick zusammenziehen“9, verändert sich implizit die Vorstellung des Zeitgefüges. Auch hier herrscht eine Produktionslogik vor, die Zeit und mithin Zukunft im Sinne eines Herstellungsprozesses begreift, allerdings weniger als eine Projektverwirklichung (nicht als Herstellung eines Werkes), sondern vielmehr 9 Virilio,

Futurismus des Augenblicks, 56.

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

als Informationsverarbeitung (als Verarbeitungsstruktur, die Beliebiges in Information umwandelt und als solches zum anschlussfähigen Produkt macht). Zukunft wandelt sich von einem Werk-Projekt in eine Informationsunbestimmtheit, der durch die strukturelle Offenheit des Verarbeitungssystems entsprochen wird: Sie ist die Herausforderung, alles – egal, was es ist – so zu in-formieren und verarbeiten zu können, dass Anschluss gefunden wird. Alles ist durch diese Verarbeitungsform vollständig als Information determiniert, weil sie offen genug ist, alles formatiert auffassen zu können. Die Crux liegt in einem Informationsbegriff, der als ein (ver)arbeit(ung)slogisches Konzept zunehmend die Funktion der Arbeit als Stoffwechsel mit der Natur ablöst. Die Produktzukunft des 4.0. verbindet also die teleologische Zwangsverpflichtung auf das Zukunftsprodukt mit der vollständigen Inhaltlosigkeit und Unbestimmtheit, die sich als Verarbeitungs-Mächtigkeit darstellt, als eine Art informierender Metabolismus.10 Die Produktionslogik wird als totale Verarbeitung also gleicherweise aufgehoben, wie sie auf alles ausgeweitet wird; kein Stückchen Praxis oder Handeln scheint verschont zu werden vom Imperativ, Information verarbeiten zu müssen. Der „Sieg des animal laborans“11, den Arendt auf einer biopolitischen Ebene konstatierte, bestätigt sich auf der informationstechnologischen. Jenseits des Weltbilds von „Werken und Tagen“12 wird zusehends eine daddelnde Produktivität zum Maßstab allen Daseins erhoben, das uns als Verarbeitung erscheint, so als müsste das Trauma vom „Absolutismus der Wirklichkeit“13 nicht länger freudianisch ‚durchgearbeitet‘, sondern könnte informations-verarbeitend im Schutzraum der Virtualität unschädlich gemacht werden. Der allgegenwärtigen Augenblick entzeitigt Zeit und Zukunft, beziehungsweise beraubt sie der ihnen wesentlichen Des-In-Formation, also ihrer konstitutiven Unfassbarkeit und Unverfügbarkeit, durch den Algorithmus. Menschen, die zum ‚Mensch 4.0‘ erklärt wurden, treten sich dementsprechend als Produktanforderung entgegen, als das, was der digitalen Revolution folgen muss: zum Begriff erhobene Systemkompatibilität, flexible Erweiterbarkeit und Informationsgenerierung. 4.0 bringt zum Ausdruck, dass Menschen dem Vorbild der Rechennetzwerke gleich und in Verbindung mit ihnen, Zukunft in allgegenwärtiger Augenblicklichkeit zu verwirklichen haben. Nicht die Zukunft ist offen und unbestimmt, sondern sie soll vielmehr mittels der radikalen Anschluss-Offenheit (‚Mächtigkeit‘) von Menschen allgegenwärtig realisiert werden. Das ‚unbestimmte Tier‘ wird zum Funktionsmoment der Mächtigkeit eines verselbstständigten Verwirklichungsautomatis10  Vgl. Vilém Flusser, „Die Informationsgesellschaft als Regenwurm“, in: Gert Kaiser/ Dirk Matejovski/Jutta Fedrowitz (Hg.), Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, Frankfurt/ New York 1993, 69–78. 11 Arendt, Vita activa, 407–415. 12  Das gleichnamigen Buch Hesiods gibt einen Werkethos der Zeit vor, der vielleicht erst heute an Geltung verliert. Hesiod, Werke und Tage. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2007. 13  Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2009, 9–39.

2. Teil: Langeweile

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mus, der Zukunft in allgegenwärtiger Augenblicklichkeit stets realisiert und damit ständig tilgt.

2. Teil: Langeweile 2.1. Vom Geschenk der Langeweile und Nietzsches Heroismus Zum Glück befinden wir uns noch immer in der Zeit oder die Zeit in uns, jedenfalls ist Zeit noch mehr als die Realisierung einer Systemversion und Menschen sind durchaus in der Lage, ihre 4.0-Bürde auch abzulegen und unzeitgemäß in der Zeit zu sein. Dennoch scheint man unter dem Bann der Prophezeiung des 4.0 so geduldlos auf technologische Neuerungen hinzufiebern und zugleich dem futuristischen state of the art so verzweifelt hinterherzuhinken, dass Zeit als Zeit oft kaum zur Geltung gelangt. Im Rhythmus des 4.0 kann sich jedenfalls kaum eine lange Weile recht breit machen, nicht recken und strecken wie ein Gähnen, das den ganzen Tag in einem Augenblick überflutet, ihn anhält und gemeinsam mit ihm Runzeln wirft. Wo der Anspruch allgegenwärtiger Augenblicklichkeit herrscht, verunmöglicht er beinahe im Augenblick zu sein. Das heißt auch, dass Langeweile kaum vorstellbar ist, wo wir Zeit verschlingen, ohne sie zu bemerken, weil sie von einer Version gewordenen Zukunft verschluckt wird, auf die wir jeden Augenblick abzielen. Es ist aber zu befürchten, dass wir über uns selbst hinweghasten, wenn wir nicht auf Zeit eigens aufmerksam werden, denn das Selbstverhältnis bleibt stets Zeitvollzug. Vielleicht mag ein ‚Leben 4.0‘ glücklich genannt werden können, aber es bezeichnet dann das Glück einer Selbstvergessenheit, die Zeit nicht verdaut und erfährt. Man nippt nur von der Zeit oder verschluckt sie, ohne von ihr recht zu kosten, wo sich unser Blick aufs Nächste richtet, dem wir uns zu ‚öffnen‘ haben. Wo die ‚Mächtigkeit‘, sich ständig einzulassen, sich in Verbindung zu setzen, vorherrscht, scheint kein Zeithorizont auf, sondern lediglich Verbindungsmöglichkeiten. In einer Welt penetranter Neuerungen verfährt die Aufmerksamkeit nach Art oraler Eroberungszüge Neugeborener, alles Unbekannte wird angespeichelt, ausgespuckt und in Momente zerlegt. So fragmentiert Zeit in Erlebnisimpulse und schnürt den mentalen Horizont zusammen zu einem Datenpaket, das man verarbeiten können muss. Aus diesem Grund möchte ich nun gerade der Frage nach der Langeweile nachgehen als einer Frage nach dem Selbst und einer Zeit, die auf lästige Weise da ist, ohne dass wir etwas mit ihr ‚anfangen‘ könnten. Die Bedeutung von Langeweile, die Zeit in einer öden Dehnung und zähen Kontinuität erfahrbar macht, sollte nicht unterschätzt werden, denn sie behält eine Zeiterfahrung in sich auf, die immer seltener wird.

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

Gäbe es so etwas wie eine Funktion der Langeweile – es gibt sie nicht! –, dann wäre sie wie ein Verdauungssystem der Zeit anzusehen. Allerdings wären es nicht wir, die die Zeit verdauen, sondern die Zeit, die uns verdaut. In der Langeweile verschluckt uns die Zeit und löst unser Bewusstsein auf qualvoll zögerliche und miefende Weise in seine Bestandteile auf. In den langen Windungen der Minuten zersetzt sich jeder Gedanke und jede Bedeutung bis in seine elementar unsinnigen Bestandteile. Darum ist auch das, was man in der Langeweile tut, vor allem Unsinn und Gärung. Es bleibt nur eine kleine Ewigkeit, die nach Nichts schmeckt und sich in uns zu einer endlosen Sehnsucht nach einem Anfang ausstreckt – einem Anfang, der uns doch nur endlich aus uns selbst entließe. So gewährt uns die – zweifelsohne qualvolle – Langeweile gerade dadurch, dass sie alles zu zersetzen scheint, einen Blick in die Ewigkeit, auf das Nichts, einen Anfang und auf uns selbst. Dieser Blick ist das Geschenk der Zeit in der Langeweile. Wo es angenommen und die Langeweile zugelassen wird, klaffen metaphysische Abgründe in uns auf, während zugleich unser Erleben versandet und spelzig wird. Beides scheint mir wichtig zu sein für die Entfaltung der Seelenlandschaft eines Menschen. So empfiehlt es sich womöglich, Zeit nicht nur zu verschlingen, sondern sich von ihr beizeiten auch verschlingen zu lassen. Kinder haben oft Langeweile – denn sie scheinen sie nötig zu haben. Man hat einen guten Ratgeber in Nietzsche, wenn man es mit Zeit, Verdauung und der Herausforderung der Langeweile zu tun bekommt. Er schreibt: Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme „Windstille“ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten: – das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist.14

In den Augen Nietzsches ist Langeweile etwas für Heroen und geistige Abenteurer. Sie ist eine Herausforderung, man muss Kraft und den zähen Willen aufbringen können, sie auszuhalten; man muss ihre Wirkung abwarten, das Warten ausstehen. Sie ist eine unangenehme Zeit, nämlich eine Stille der Seele, die danach lechzt von lustigen Winden bewegt zu werden und auf glückliche Fahrt zu gehen. Nietzsche weiß darum, dass das Glücksideal der Tranquilität, der Seelenruhe, Täuschung ist, denn die „stillste Stunde“ – Nietzsche nennt sie seine „furchtbare Herrin“ – gleicht dem „Schrecken des Einschlafenden“. Die Zeit selbst wird schrecklich, „der Zeiger rückte, die Uhr meines Lebens holte Athem –, nie hörte ich solche Stille um mich: also dass mein Herz erschrak.“15 Die Stille um die Seele wirft einen auf sich selbst zurück, lässt mit sich selbst einsam werden. Das Nietzsche, Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe 3), München 1999, 409. 15  Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I – IV (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe 4), 14. Aufl., München 2014, 187. 14  Friedrich

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muss man aushalten können. Es kann eine schreckliche Zeit sein, die sich dehnt und Atem holt, wenn sie einen mit sich selbst alleine lässt. Stille birgt den Schrecken des Selbst. Nicht jede Stille ist darum eine Langeweile, aber Langeweile hat immer etwas von diesem Schrecken des Selbst an sich, der auch aus der Stille spricht. Tapfer ist für Nietzsche, wer sie erträgt. Doch Langeweile hat auch eine Wirkung, ‚die man bei sich abwarten muss‘, und das ist die Tat, die sich in ihr als Spannung aufbaut und endlich als Lust entlädt. In Nietzsches Augen schreitet man nicht zu ihr, wie man ein Vorhaben umsetzt, ein Hindernis aus dem Weg räumt oder eine Mühe bewältigt. Für Nietzsche ist die Tat, die durch das Bestehen der Langeweile – das heißt das Aushalten seiner selbst – erwirkt wird, keine Handlung, sondern ein Ereignis gleich einer Windböe, die in die Segel des Lebens greift und Fahrt aufnehmen lässt. Wo sie der Langeweile ein Ende setzt – also nicht die Tätigkeiten bezeichnet, denen man nachgeht, um die Langeweile lediglich zu verscheuchen –, verwandelt sich der Schrecken des Selbst in eine Lust des Lebens, das sich bei aufgenommener Abenteuerfahrt selbst genießt. Sie kann kein Mittel zu einem Zweck sein, nicht die Handlung eines Subjekts, sondern sie ist vielmehr Ereignis und Genuss. Darum ist es Nietzsche um eine Spannungsintensivierung zu tun, die paradoxerweise gerade die Langeweile aushalten muss, um nicht abzuflauen, um das Leben nicht mau werden zu lassen. So geht aber auch auf die öde Qual der Langeweile selbst etwas Lustvolles über, ähnlich der besonderen Art von Schmerzen und Spannungen, die eine Lust in sich tragen können, wenn sie sich auf ihre Aufhebung hin zuspitzen. Diese Spannungsdramaturgie ist der ‚gemeinen‘ Haltung entgegengesetzt, die stets bemüht ist, die Langeweile zu vertreiben und sich durch die Erniedrigung einer lustlosen Arbeit abzulenken, nur um sich selbst nicht aushalten zu müssen. Als ‚gemein‘ gilt Nietzsche, sich in einem Tätigsein zu vergessen, das sich seines Zwecks nicht mehr entsinnt. Das Dasein scheint durch diese ablenkenden Beschäftigungen, die als Gegenmittel zur Langweile allzu freizügig angewandt werden, selbst zu einer an Existenzschläfrigkeit grenzenden Langeweile verurteilt zu sein. Das Beschäftigtsein ist eine große und nur ärmlich kaschierte Lange­weile und Müdigkeit, der nur entkommt, wer es aushält, die flaue Stille in sich auszutragen und die Windböen der Seele abzuwarten. Nietzsches Heroismus der Langeweile fordert darum „entschlossene Trägheit“ und lässt einzig eine Arbeit gelten, die nobel genug wäre, als „der Gewinn aller Gewinne“ gelten zu dürfen. Zu heroischen Langweilern zählt er „die Künstler und Contemplativen aller Art, aber auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen.“16

16  Dieses und die unmittelbar vorausgehenden Zitate: Nietzsche, Morgenröte, Idyllen aus Messina, Fröhliche Wissenschaft, 409.

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Man könnte mit Nietzsche zu der Formel kommen: Ein spannendes Leben lebt aus der Spannung von Langeweile und dem Ereignis der Tat. Das Beschäftigtsein, die Geschäftigkeit, das Treiben der Geschäfte, kurz: das negotium oder die ascholia, werden dem wertezertrümmernden Altphilologen wohl vor Augen gestanden haben, als er dem lebenskünstlerisch-kontemplativen Dasein die ‚Gemeinheit‘ gegenüberstellte. Die Geschäftigkeit ist für ihn keine rechte Tat, sondern vielmehr buchstäbliches Treiben, nämlich auf dem Strom der Lethe voran ins Vergessen seiner selbst. Vom Standpunkt des Abenteurers, der Taten erwartet, die ihm zur Lust werden können, erweist sich dieser Fluss des geschäftigen Lebens als das Sinnbild einer endlosen Langeweile, die sich zu ihrem ‚Glück‘ ständig selbst vergisst. Ist dem so, dann wäre es gerade die erlebte Langeweile, die quälende Dehnung der Zeit mit nichts als sich selbst, die dem langweiligen Treiben Einhalt geböte. In der Langweile strandet man sozusagen an einem Ufer der Betriebsamkeit und wird, dort gelandet, aus dem Strom des Vergessens in ein Bewusstsein der Ödnis versetzt. Von diesem Stranden in der Zeit, oder besser: von diesem in der Zeit Anund Zum-Bewusstsein-kommen, kann eine echte Abenteuerfahrt des Lebens für Nietzsche erst ihren Anfang nehmen, denn im Langeweile-Taumel des bewussten Zeitempfindens meldet sich eine Zukunft als Ereignis. Darum müsste mit Nietzsche gerade der Langweile eine spezifische historische Funktion zugestanden sein. Das sich vergessende Treiben ist ahistorisch – mit Nietzsche müsste man sagen tierisch – weil es „kurz angebunden [ist] mit [seiner] Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig“17. Die Weite des „historischen Sinns“, erweist sich an der Reichweite der Lust, die unter Anderem im Abwarten der Tat zum Ausdruck kommen kann. Wer Lust und Unlust nur erlebt, wie sie im Augenblick vorüberziehen, bleibt an diesen Augenblick gebunden wie „das Tier, welches sofort vergisst und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer erlöschen sieht. So ist das Tier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrig bliebe“18. Die Langeweile lässt sich als solch ein wunderlicher Bruch verstehen, der uns – einer irrationalen Zahl gleich – in ein unendliches Verhältnis zum Augenblick in der Gegenwart versetzt. Langeweile findet ein Sinnbild in der nicht endenden Dezimalstelle einer sich verfangenden Rechenoperation, die sich immerzu ausstehend einem Ergebnis annähert, das für den infiniten Rechenprozess nichts anderes bedeuten kann als für den Gelangweilten ein Ereignis. Solch ein irrationales Bruchverhältnis zur Gegenwart lässt uns Zeit in Augenblicken als Unendlichkeit fühlen und wissen, dass dieser Bruch nur durch eine Tat aufgehen wird, die aufrundet und aufruft, endlich fröhlich loszulassen und weiterzuziehen. Lange17 Nietzsche, 18 Nietzsche,

„Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, 248. „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, 249.

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weile eröffnet eine geschichtliche Dimension, nicht, weil sie selbst geschichtlich wäre, sondern vielmehr, weil sie mit dem Lauf der Geschäftigkeit, dem bloßen Treiben in der Zeit, bricht und den Augenblick von jedem to-do entleert. Dieser entleerende Bruch in der Zeit, der nicht aufgeht, ermöglicht, dass sich eine Zukunft als Ereignis oder Tat anmelden und die sich allgegenwärtig fortsetzende Vergangenheit zu einer abgeschlossenen Geschichte verwandeln kann, aus der heraus sich eine Fahrt in weite Horizonte eröffnet. Langeweile ermöglicht quasi durch die augenblickliche Verödung von Zeit, dass Zeitdimensionen gegenüber dem bloßen Verbringen-von-Zeit Qualität annehmen können: Das Gewesene ist Geschichte geworden, das Jetzt fürchterliche Dauer und, was kommen wird, ein Ausstehendes. Langeweile lässt sich als ein Bruch in der Zeit verstehen, der Vergangenheit und Zukunft eröffnet, indem er sie von den Inhalten der Geschäftigkeit befreit. 2.2. Langweile als Schwelle: Muße, Freiheit, Glück Folgt man Nietzsches Wertschätzung einer Langeweile als der eigentlichen Herausforderung ‚entschlossener Trägheit‘, die den Bruch mit dem geschäftigen Dahintreiben aussteht und im Innehalten Zeitdimensionen aufspannt, die wie Segel des Selbst darauf warten, in Gefilde erfüllter Praxis zu tragen, dann versammeln sich Motive, die eine Verwandtschaft der Langeweile mit Muße nahelegen. Doch welcher Art ist diese Verwandtschaft? Ist die Langeweile nicht einfach ein missratener Spross der Muße, eine Muße, die durch Nachlässigkeit oder gar Vernachlässigung zu einer nervtötenden Zeit wurde? – Dem ersten Anschein nach ja. Wenn Muße einen Möglichkeits- oder Freiraum in der Zeit meint, der uns in die Lage versetzen kann, in eine selbstzweckhafte Praxis und dadurch zu einem erfüllten Selbstverhältnis zu finden, dann bezeichnet Langeweile dagegen eine spezifische Entleerung und Zwecklosigkeit. Die Zeit ist in der Langeweile gerade nicht erfüllt, sondern leer und fade. Dass alles, was wir in der Langeweile tun, keinen Zweck zu haben scheint, spottet geradezu der Erfüllung, die man einem selbstzweckhaften Tun zuschreibt. Das Fehlen äußerer Gründe, Zwecke oder Pflichten des Tuns führt in der Langeweile nicht zu einer ‚intrinsischen‘ Sinnkonstitution, sondern vielmehr zu der beinahe leiblichen Erfahrung von der Gleichgültigkeit, wie wir unsere Zeit verbringen, zu der Erfahrung von einer Sinnlosigkeit, die alles zu infizieren droht, was in diese Spanne gleichgültiger Ödnis fällt. Nicht bloß unser Tun bleibt gleichgültig, sondern wir selbst werden uns in der Langeweile zu einer Last, da wir an uns selbst keinen Zweck und keine Freude finden können. So erschrickt man leise vor dem eigenen Selbst, das unter dem Gewicht der Gleichgültigkeit zur Bürde wurde. Der Langeweile kommt also gerade das zu, was dem unhistorischen Tier angeblich abgeht: Schwermut und Überdruss. Allerdings in einer eigenartigen Weise: Es wird einem schwer und mutlos mit dem eigenen Selbst, das wir doch so leicht schultern müssten, wie sich

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

ein Kork im Wasserbad trägt. Während wir bei allen Pflichtgängen und Mühseligkeiten uns selbst so spielerisch mitnehmen, dass wir uns gar nicht bemerken, werden wir in der Langeweile dagegen schwer, gerade weil wir nichts anderes zu tragen haben als uns selbst. Der vielen und zu langen Zeit werden wir überdrüssig, obgleich in ihr doch gerade nichts geschieht. Man hat zu viel der Leere. So hat die Langeweile die Besonderheit, schwermütig in der Unbeschwertheit und überdrüssig an ‚nichts‘ werden zu lassen. Doch folgt man dem bisher Gesagten, scheint Langeweile auch auf besondere Weise etwas zu ermöglichen. Sie meint dann nicht nur eine vergeudete Mußezeit, sondern ist vielleicht auch in der Lage, Muße eigens zu stiften. Darauf deutet es hin, wenn man Langeweile als Unterbrechung vom Treiben in der Zeit oder dem Zeitvertreib ansieht, also als etwas, das uns erlaubt, zu der Zeit in ein sinnbehaftetes Verhältnis zu treten und so der ‚Kontemplation, den Liebeshändeln, der Jagd und den Abenteuern‘ einen zeitlichen Erfahrungsrahmen zu geben, der ihnen Geltung verschafft. Langeweile kann so verstanden wie ein Katalysator für einen Umschlag der Beschäftigungszeit in eine qualitative Zeitfülle wirken. Das lässt Muße und Langeweile zueinander in ein komplexes Wechselverhältnis treten: Ohne Muße lässt sich Langeweile nicht vorstellen, wenigstens wenn wir sie als die Abwesenheit von praktischen Zwängen und drängenden Beschäftigungen verstehen. Die Befreiung von Zeit- und Praxiszwängen – das Moment negativer Freiheit – ermöglicht es, dass Langeweile aufkommen oder wenigstens wahrgenommen werden kann. In diesem Sinne ist Langeweile auf Muße als ihre Bedingung angewiesen: Ohne Muße keine Langeweile. Doch sobald sich solch ein Freiraum im Tagesgeschäft aufgetan hat und von Langeweile überflutet wird, wird die Freiheit von der Ablenkung der Geschäfte zur quälenden Erfahrung von Leere, die sich unser wie ein Bann bemächtigt.19 Muße als Freiraum von der Geschäftigkeit droht beständig, dem Bann der Langeweile zu verfallen. Es gehört gewissermaßen zum Freisein, stets in Langeweile, in einen Bann umschlagen zu können. Und das betrifft keineswegs nur eine negative Freiheit, wie man sich vielleicht beruhigen möchte. Vielmehr ist die Gefahr des Umschlags von posi­ tiver Freiheit in ein Gebanntsein noch viel gravierender: Die Möglichkeit zu ‚allem Möglichen‘ – positive Freiheit in formalem Sinn – entlarvt sich in der Lange­ weile als bloße Formalität, die konkret als Gleichgültigkeit erfahren wird. In der Langeweile ist es gerade die strukturelle Offenheit (man kann alles Mögliche 19  Ich verwende hier den Ausdruck Heideggers für die Langeweile zwar in einem veränderten, aber doch analogen Sinn. „Diese Stimmung, in der das Dasein überall ist und doch nirgends sein mag, hat das Eigentümliche des Gebanntseins. Das Bannende ist nichts als der Zeithorizont. […] Gebannt von der Zeit kann das Dasein nicht zum Seienden finden, das sich gerade in diesem Horizont der bannenden Zeit als das sich versagende im Ganzen bekundet.“ Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, 221.

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tun), die inhaltliche Unbestimmtheit (alles, was man tut, ist nicht das Rechte) und die daraus entspringende bloße Formalität (die bloße Möglichkeit zu allem Möglichen erweist sich als langweilig) der positiven Freiheit, die wie ein Bann auf einem lastet. Man hat Zeit und kann damit anfangen, was auch immer man möchte, – doch was fängt man mit ihr an? Alles, was man in der Langeweile tut, ist bloßer Aufschub eines echten Anfangs und darum gleichgültiges, vertanes Tun – Tun im Warten auf ein Ereignis, das der gleichgültigen Freiheit einen Sinn gäbe. So nagt an der glänzenden Fassade von Freiheit, Souveränität und Muße immerzu der Wurm der Langeweile. Solange Freiheit sich noch nicht zu einer konkreten Selbstbestimmung, nicht zu einer Tat entschlossen hat und so in ihrer formalen Offenheit befangen bleibt, erweist sich die Langeweile als die dieser Offenheit zukommenden Erfahrung oder ‚Stimmung‘. In der Langeweile können wir alles Mögliche tun und doch erlebt man gerade diese Freiheit als fürchterlich leer und langweilig, da die Gleichgültigkeit des Inhalts und die Unbestimmtheit des Entschlusses bei allem hervorschaut, solange Freiheit auf ihre Souveränität besteht.20 Man kennt diesen machtpolitischen Aspekt der bloßen Formalität durch den Begriff der drohenden Gewalt21 und den alltäglichen Unwillen, im Umgang mit anderen Entscheidungen zu treffen und sich damit angreifbar zu machen. Freiheit muss bis zu einem gewissen Grad formal, unbestimmt und darum auch leer bleiben, um Perspektiven und Möglichkeiten offen zu halten; sie bleibt nur dort Freiheit im strengen Sinn, wo sie die Schwebe hält zwischen Möglichkeit und Tat22 – konkret wird man solche Schwebelage als quälende Unentschlossenheit oder eben als ungemein langweilig erfahren. Im Bild Nietzsches wäre Freiheit darum als jene Windstille einzuzeichnen, die man aushalten muss, um zum Glück der Tat zu gelangen. In diesem Sinn kann man Langeweile als das konkrete Erfahren von Freiheit verstehen. An der Langweiligkeit der Freiheit ist nichts auszusetzen. Vielmehr bringt sie zum Ausdruck, dass formale Freiheit dahin drängen muss, sich zu konkretisieren, im Entschluss von sich Gebrauch zu machen und den bloßen Möglichkeitsfreiraum zugunsten einer konkreten Realisierung aufzugeben. So wenig sich Freiheit in der Schwebelage zwischen Möglichkeit und Tat erschöpfen kann, sondern auf die Erfüllung ihrer leeren Offenheit drängt, so wenig erhält sie sich in der geronnenen Form erbrachter Werke und Taten. Dem, was wir in Freiheit ge20  Giorgio Agamben hat die Problematik der Struktur der Offenheit von Freiheit souveränitätstheoretisch untersucht und exemplarisch problematisiert. Vgl. Agamben, Die souveräne Macht und das nackte Leben, 60–77. Auf die Analyse der Langeweile bei Heidegger geht er so in seinem Buch Das Offene ein, vgl. Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt am Main 2014. 21  Vgl. Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“, 95. 22  Auf diesen Gedanken nimmt T homas Jürgasch Bezug in: Gimmel et.al., An den Grenzen der Muße, 79.

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tan haben, werden wir rückblickend schon bald gerade die Freiheit kaum mehr anmerken.23 So erfährt man Freiheit als ein erfüllendes Freisein weder in der formalen Entscheidungsoffenheit, noch in dem, was wir in unseren Werken zu tun bezwecken, sondern konkret wohl nur, wo man sich auf überraschenden Wegen wiederfindet, wo – um mit Nietzsche zu reden – Freiheit einer „glücklichen Fahrt“ gleicht, getragen von Winden, die los- und zuzulassen lehren. Freiheit, die sich einlöst, nimmt den Charakter eines Lassens an und verwandelt darin die Souveränität des Handlungssubjekts in eine Erfahrung seiner selbst, die präzise als Genuss und Überraschung zu kennzeichnen wäre. Auf solch glücklicher Fahrt ändert Freiheit ihren Modus und wird von der Möglichkeit zu allem Möglichen zu einem Genuss der eigenen Offenheit. Freiheit löst sich ein und erlöst sich vom eigenen Bann, wo sich Entscheidungen als Erfahrungen auftun, die sich genießen lassen, d. h. in denen man sowohl sich selbst als auch das Erfahrene in Offenheit wahrnehmen kann. Das vielbeschworene autonome Handlungssubjekt überschreitet Autonomie und Souveränität, indem es zu sich selbst in ein Verhältnis des Genusses tritt. Erfahrungsoffenheit gegenüber anderen ist durch solche eingelöste Freiheit, durch solchen Genuss seiner selbst verbürgt, dadurch, dass man von sich selbst überrascht werden kann. Von sich überrascht werden zu können und dies als Freiheit zu genießen, lässt ein Selbstverhältnis aufkommen (wie Windböen), das anderem gegenüber offen ist, ohne es sich gleichzumachen; der Genuss seiner selbst ermöglicht Erfahrungsoffenheit. Das ist mit Nietzsches Motiv einer Tat angesprochen, die man als Ereignis und Lust erfährt. Solche fröhliche und beseelte Fahrt hat in der Tradition seine Entsprechung im Gedanken des Glücks einer erfüllten Zeit, einer eudaimonia. Man kann sagen: Nur im Glück löst sich Freiheit ein. Glück keimt dort auf, wo sich Freiheit den Böen und Winden überlässt, statt sich hinter dem Vorbehalt ‚autonomer‘ Entscheidungen zu verschanzen. Dieser eingelösten oder vielmehr erlösten Freiheit in den Windböen des Glücks geht im Bilde Nietzsches die formale Freiheit, die bloße Offenheit zu allem Möglichen, die Windstille voraus. Und so gilt für diese Dynamik der Einlösung von Freiheit im Glück, was über die Spannungsdramaturgie der Langeweile gesagt wurde: Gerade weil Langeweile Freiheit als Gleichgültigkeit erfahren lässt, drängt sie darauf, Freiheit im Glück 23  Auch hier kann ein Verweis auf die Organische Philosophie Whiteheads zur Klärung beitragen: Freiheit ist aus einem prozesslogischen Verständnis der Wirklichkeit, oder vom Standpunkt einer Zeitphilosophie des Geschehens, wie ich es diesen Überlegungen zu Grunde lege, weder als Zustand noch als bloße Verfügungsmöglichkeit zureichend zu denken, sondern muss selbst als ein Spannungsgeschehen aufgefasst werden. Das lässt sich als ein Umschlag der Zweck- in die Wirkursächlichkeit auffassen: „Die Wirklichkeit erlangt im Vergehen Objektivität, verliert jedoch ihre subjektive Unmittelbarkeit. Sie verliert die Zweckverursachung, ihr inneres Prinzip der Unruhe, und gewinnt dafür die Wirkverursachung, die eine Grundlage der Verbindlichkeit abgibt, aus der die Kreativität ihre Eigenschaften bezieht.“ Whitehead, Prozeß und Realität, 76.

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erfüllenden Tuns loszulassen und als Genuss einzulösen. Langeweile durchbricht als Negativerfahrung von Freiheit den Automatismus unserer alltäglichen Verrichtungen, die sich als Freiheit ausgeben; sie entlarvt die Arbeiten und gängelnden Zerstreuungen, von denen man sagt, sie seien Wege, zu denen unsere Entscheidungen geführt hätten, Lebenswege, als Ablenkungen. Die Zerstreuung durch Arbeit und die Arbeit der Zerstreuung folgen konsequent einem Weg, der sich – weit entfernt davon einer glücklichen Fahrt zu gleichen – aus nichts als der Konsequenz selbst ergibt, aus dem, was ich die ‚Determinierung des Jetzt aus dem Zuvor‘ genannt hatte. So insistiert gerade der zerstreuende Alltag, das ständige Erfüllen von Möglichkeiten, auf eine Freiheit als leere Möglichkeit, als virtuelle Freiheit und ‚Mächtigkeit‘. Als ‚Mächtigkeit‘ wird auch tatsächlich alles Mögliche gemeistert: Vom Kindergarten, über das Abitur, den Hausbau bis zur Vermögenssicherung des Alters verläuft der Gang der Geschäftigkeit, der uns von Aufgabe zu Aufgabe hinter sich her- und an der Nase herumführt. Durch die Institutionalisierung und Potentialisierung moderner Biographien macht sich auch eine Virtualisierung der Lebenswelt lange vor der Digitalisierung breit. Als Leere wird diese Mächtigkeit in der Langeweile erfahrbar und nährt so das Bedürfnis, endlich seine Tat als fröhliche Fahrt genießen zu dürfen. Langeweile spitzt somit die leere Freiheitsmöglichkeit der alltäglichen Geschäftigkeit so zu, dass sie zugleich deren gleichförmigen Gang unterbricht und dadurch die Dimension sich genießenden Glücks eröffnet. Wo Muße als Selbstzweck aufgerufen und ihr Glück, eudaimonia, Selbst-Begeisterung, zugetraut wird, bezieht sie ihren besonderen Gehalt aus dieser Form einer sich aktualisierenden Freiheit im erfüllenden Genuss, dem sich die Zeit als Kairos gibt. Langeweile scheint diese Mußedynamik, die Freiheit in ein konkretes Verhältnis zum Glück erfüllter Zeit versetzt, wachrufen zu können und erweist sich so als immanente Schwelle der Muße, als ihre innere Grenze. 2.3. Pathos und Katharsis der Zeit In Heideggers Analyse der Langeweile ist zwar weniger vom Glück der Erfahrung selbstzweckhaften Tuns die Rede, dafür aber umso mehr von der eigenartigen Freiheitsdynamik, die in der Langeweile statthat. Langeweile wird als „Stimmung“ zum Katalysator der Daseinserschließung. Die Zeit ist das, was in dieser Langeweile das Dasein in ihren Bann schlägt. […] Was aber das Bannende als solches, […] als Mögliches und nur als das [!], als Freigebbares zu wissen gibt und eigentlich ermöglicht, was es aussagend frei gibt, ist nichts Geringeres als die Freiheit des Daseins als solche.24

24 Heidegger,

Die Grundbegriffe der Metaphysik, 223.

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

Auch diese Langeweile stellt sich als ein Bruch in der Zeit der Beschäftigung dar, der gerade im Nichtbeschäftigtsein etwas ‚freigibt‘, was uns zugleich bannt, nämlich die Zeit selbst. Diese Zeit, die wie ein Bann auf uns lastet, die Langeweile, macht ihre Freiheit als „Mögliches und nur als das“ erfahrbar. Das ist es, was ich die Erfahrung der konkreten Gleichgültigkeit der Möglichkeit zu allem Möglichen nenne. Auch Heidegger scheint der Ansicht zu sein, dass die Langeweile in der Lage sei, die „Umtriebe des heutigen Dahintreibens“25 auf- und anzuhalten und in eine „Hingezwungenheit in die Spitze dessen, was das Dasein als solches ermöglicht, in den Augenblick“26 zu versetzen. Langeweile kann so als sich auszeichnender Augenblick „verstanden und d. h. ergriffen werden als die innerste Notwendigkeit der Freiheit des Daseins“27. Ich sehe eine nicht bloß zufällige Verwandtschaft zu den Gedanken der Langeweile, die ich mit Nietzsche zum Ausdruck zu bringen versucht habe. Sie ist insbesondere in der Dynamik zu suchen, die ich durch die Momente des a) Bruchs mit der Geschäftigkeit, b) des Umschlagens von Freiheit in Gebanntsein und c) der Eröffnung eines geglückten Selbstverhältnisses beschrieben habe. Letzteres kommt zum Ausdruck, wenn man berücksichtigt, dass diese in der Langeweile geweckte Stimmungsdynamik bei Heidegger auf das Erschließen des Daseins ausgeht. „Denn diese Freiheit des Daseins ist nur im Sichbefreien des Daseins. Das Sichbefreien des Daseins geschieht aber je nur, wenn es sich zu sich selbst entschließt, d. h. für sich als das Da-sein sich erschließt.“28 – Nietzsches glückliche Seefahrt meint ein solch sich erschließendes Dasein. Der Text Heideggers, den ich hier ohne den Anspruch, ihm gerecht zu werden, nur nennen kann, ist von einem Pathos getragen, das heute an vielen Stellen anrüchig erscheinen mag. Wo ich bei Nietzsche von einem Heroismus der Lange­weile gesprochen habe, müsste man hier beinahe von einer martialischen Lange­weile reden. Der Text ist durchwoben von Motiven des Durchhaltens, der Erduldung, der Entscheidung – eben des „Hingezwungensein[s] in die Spitze“. Wo ich die Langeweile von der Muße und dem Glück des selbstzweckhaften Tuns her deute, legen sich andere Bilder nahe, weil ein anderer Aspekt in den Vordergrund tritt. Das bedeutet aber nicht, dass diese unterschiedlichen Aspekte einander ausschlössen. Das Glück des selbstzweckhaften Tuns, das sich aus der Langeweile ergeben kann, meint eben keine Seelenruhe und tranquilisierte Leidenschaft, sondern die Abenteuer der Kontemplation, der Liebe und der Jagd, es meint die erschütternden Krisen des Selbst in der Auseinandersetzung mit T heorie, Leidenschaft und Freiheit. Muße als Selbstzweck ist immer auch in eine ‚Spitze des Daseins‘ gestellt, die – gleichgültig ob als Erfahrungsoffenheit geDie Grundbegriffe der Metaphysik, 245. Die Grundbegriffe der Metaphysik, 246. 27 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, 247. 28 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, 223. 25 Heidegger,

26 Heidegger,

2. Teil: Langeweile

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genüber der Welt oder als bewusstes Selbstverhältnis – Krise und Glück zugleich meint, nämlich Selbst-Erfahrung und Lust am Entschluss zu sich in der Spitze des Augenblicks. Langeweile ist Pathos des Augenblicks, Katharsis der Zeit – aus dieser reinigenden Entleerung kann sich Muße als ein Drama vom Glück erfüllter Zeit entspannen. Doch dieses Pathos des Augenblicks wird gefährdet durch eine andere, meist unbemerkt bleibende Langeweile, die in der Dumpfheit alltäglichen Verrichtens lauert. So bleiben die Langeweile-Daseins-Spitzen verborgen unter den üppigen Faltenwürfen barocker Geschäftigkeit, die ihre tätige Ödnis durch raschelnde Umtriebigkeit übertönt. Walter Benjamin hat demgemäß Langeweile wie folgt beschrieben: Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. Das Rascheln im Blätterwerk vertreibt ihn. Seine Nester – die Tätigkeiten, die sich innig der Langeweile verbinden – sind in den Städten schon ausgestorben, verfallen auch auf dem Lande. Damit verliert sich die Gabe des Lauschens, und es verschwindet die Gemeinschaft der Lauschenden.29

Auch hier zeigt sich die Affinität der Zeitdramaturgie für Hörmetaphern. Das Lauschen in der Stille der Langeweile müsste als eine Herausforderung betrachtet werden, der man nur allzu gerne entgehen möchte. Es hört gebannt hin und ist zum Nachdenken genötigt – wer kann das schon wollen, angesichts dessen, was es zu vernehmen gibt? Auf diesen Sinn der Langeweile kommt auch Hegel in seiner sinistren Geschichtsphilosophie zu sprechen, wenn er sie als Ausweglosigkeit des Bewusstseins angesichts der Zwecklosigkeit allen geschichtlichen Treibens begreift. Vor dem Schauspiel der Weltgeschichte sei ein „guter Geist, wenn ein solcher in uns ist“ dazu veranlasst, die Empfindung zur tiefsten, ratlosesten Trauer [zu steigern], welcher kein versöhnendes Resultat das Gegengewicht hält und gegen die wir uns etwa nur dadurch befestigen oder dadurch aus ihr heraustreten, indem wir denken: es ist nun einmal so gewesen; es ist ein Schicksal; es ist nichts daran zu ändern; – und dann, daß wir aus der Langeweile, welche uns jene Reflexion der Trauer machen könnte, zurück in unser Lebensgefühl, in die Gegenwart unserer Zwecke und Interessen, kurz in die Selbstsucht zurücktreten, welche am ruhigen Ufer steht und von da aus sicher des fernen Anblicks der verworrenen Trümmermassen genießt.30

Hegel, der sonst die Natur der Langweiligkeit bezichtigt, da in ihr „nichts Neues unter der Sonne“ geschähe,31 begreift hier Langeweile als das Resultat einer „Reflexion der Trauer“, also als ein unbeschwichtigtes Gewahrwerden der „verworrene Trümmermasse“, die wir Geschichte nennen. Die stechende Klarheit eines Walter Benjamin, Der Autor als Produzent. Aufsätze zur Literatur, Stuttgart 2012, 37. Philosophie der Geschichte, 35. 31 Hegel, Philosophie der Geschichte, 74. 29 

30 Hegel,

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

Bewusstseins von der Aussichtslosigkeit der Historie, eine Langeweile der Resignation möchte man sagen, treibt dazu, sich in die Selbstsucht individueller Interessen und Zwecke zurückzuziehen. Die heroische Langeweile des historischen Bewusstseins schlägt um in eine Verdrängung des Bewusstseins durch Geschäftigkeit, in eine Gleichgültigkeit und Alltagsdumpfheit. Die Langeweile des pathetischen Augenblicks erscheint gegenüber diesem zeitvertreibenden Sich-Vergleichgültigen als der Traumvogel, der die heroische Trauerarbeit historischen Bewusstseins auf sich nimmt, indem er lauscht und horcht nach Windböen, die in die Segel der Geschichte fahren könnten.

3. Schluss Langeweile hat auf den ersten Blick nicht viel mit der Logik des 4.0 zu tun. Ich habe versucht zu zeigen, dass das ‚Konzept 4.0‘ (wenn von ‚Konzept‘ überhaupt die Rede sein kann) Zeit in der Form eines unbestimmten Futur II nivelliert und demgegenüber die Struktur einer Mächtigkeit und Offenheit allgegenwärtiger Augenblicklichkeit etabliert. Im Kontrast dazu sollte mit der Langeweile eine Erfahrung vor Augen geführt werden, in der sich Zeit unabweislich aufdrängt, gerade weil sie nicht durch die ‚Mächtigkeit‘ unserer geschäftigen Umtriebe verdeckt wird, beziehungsweise weil sich diese geschäftige Mächtigkeit in der Langeweile als fürchterlich langweilig erweist. Rückblickend ergibt sich ein Bezug: Sowohl in der Langeweile als auch beim 4.0 kommt es zu einer Herrschaft leerer Augenblicklichkeit, die sich jeweils des Zeitgefüges im Ganzem bemächtigt im Gebanntsein von der Leere der Zeit. Die technologisch allgegenwärtige Augenblicklichkeit ist zeitlich leer gerade angesichts der Möglichkeit zu allem Möglichen (Mächtigkeit), also aufgrund der formalen Offenheit der (Information-) Verarbeitung, die zum Modell beziehungsweise Schema wird, durch das wir unsere Lebenswirklichkeit deuten. Die formale Freiheit wird so zur Universalstruktur von Wirklichkeit als demjenigen, was verarbeitet werden kann in einer umfassenden Virtualisierung, die zusehends als die eigentliche Realität begriffen wird. Da alles vermeintlich jederzeit in einer virtuellen Repräsentation aufgerufen und beendet werden kann, begegnet man den Dingen und Menschen in der Zeit weniger, als dass man über deren Zeitigung verfügt. Gegenwart selbst wird damit in den Potentialis der Mächtigkeit getaucht und dabei entleert. Langeweile bezeichnet hingegen gerade die Möglichkeit, formale Freiheit und Offenheit zeitsinnlich zu erfahren, und kann somit die Virtualität der Wirklichkeit zeitlich als Langeweile manifest werden lassen. Die Leere der Langeweile ist gewissermaßen die Verzeitigung der formal entzeitlichten Realität des 4.0; in ihr wird die Allgegenwärtigkeit des Augenblicks (Virtualität) als Augenblicksbann erfahrbar.

3. Schluss

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Doch dazu müsste erstmal Langeweile aufkommen. Wo man nicht in der Zeit strandet, sondern immerfort von der leeren Formalität mitgerissen wird, also wo es einem nicht langweilig wird, da eröffnet sich in all der Mächtigkeit auch kein Horizont, der Freiheit im Glück einzulösen (d. h. aufzuheben) verspricht. Die allgegenwärtige Medialisierung des Lebens schottet vor Glück gewissermaßen ab, da sie keine Langeweile zulässt. Ohne Buchten und Strände in der Zeit, ohne das Stranden an den Ufern des Flusses unserer Geschäfte,32 wird Zukunft ständig von einer virtuellen Freiheit verschluckt, die wie eine Nussschale auf dem Strom medialer Vermittlung treibt. Die radikale Formoffenheit, die alles repräsentieren und in-formieren kann, schlägt in einen Bann um, über den wir nicht hinausdenken können, solange wir ihn nicht als eine ungeheure Langeweile erfahren. Doch meist bleibt in der anhaltslosen Augenblicklichkeit des 4.0 die Langeweile verdeckt und so wird die leere Möglichkeit internalisiert und schreibt sich in der Konsequenz des Futur II unaufhaltsamen fort – kein Strand in Sicht. Aber gibt es denn überhaupt noch Möglichkeiten, Langeweile zu erfahren? Findet das Einlösen von Freiheit im genießenden Glück überhaupt irgendwo Raum? Sicherlich gibt es all das noch immer und vielleicht sogar nicht weniger als je zuvor. Das gilt insbesondere darum, weil sich der Verdacht nahelegt, es habe seit jeher zu wenig Langeweile, Muße, Freiheit und Glück gegeben. Dennoch ist kaum abzustreiten, dass sich viele unserer Beschäftigungen im Vergleich zu vergangenen Jahrhunderten so grundlegend verändert haben, dass auch unser Verhältnis zu Zeit, Freiheit und Glück davon nicht unberührt bleibt. Die technologische Entzeitlichung scheint eine lebensweltliche Zeit-Entgrenzung zu bedingen, die keine Heterochronie, keine stillen Momente mehr lässt, in denen sich Langeweile, Muße und die Überraschung eines Glücks noch verbergen könnten. Sie scheinen heute nur den Ausgeschlossenen und Abgehängten überlassen zu sein, denen die Zukunft schon davongeeilt ist. Es bedarf beinahe der Gelegenheit, nicht mehr mitzuhalten, auf der Strecke zu bleiben und im Leben zu stranden – wenigstens in einzelnen Momenten heller Furcht vor der Aussichtslosigkeit der eigenen Offenheit –, um die Mächtigkeit als die Langeweile der realen Virtualität zu erfahren. Man muss schon die Gnade finden, scheitern zu können, oder vielmehr im Scheitern sich die Gnade erweisen, innezuhalten, um inmitten des Anspruchs internalisierter Zukunftsverarbeitung ein Organ für Glück empfindsam zu halten. Die Hoffnung auf Muße und Glück ist heute nicht mehr den gehetzten Eliten anheimgestellt, die in jedem Augenblick vor ihrer eigenen Antiquiertheit in die Zukunft flüchten, sondern denjenigen überlassen, die im Leben zu stranden wissen.

32  Das oben als Zeitmetapher kritisierte Bild des Flusses bezieht vielmehr von der Praxisverkettung unseres Handelns ihre Evidenz.

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III. Medialität der Zeit. Die Zeitlogik des 4.0 und die Langeweile

Vom Stranden in der Zeit zehren auch diejenigen, die sich die Technik subversiv anzueignen wissen, um das Versprechen, das ihr innewohnt, offenzuhalten. Vielleicht liegt Hoffnung auf eine andere Zeit auch gerade bei Hackern und Tüftlern, die es verstehen, den Bann der Mächtigkeit in eine radikale Kontingenz der Gegenwart umschlagen zu lassen. Von dieser Hoffnung scheint mir – einem ohnmächtigen Opfer der determinierenden Möglichkeiten von Software – das Plädoyer Friedrich Kittlers für die „ungeheure Strategie, das Rauschen zu maximieren“33 zu zeugen. Ich kann nur im Sinne Benjamins versuchen, dem Rauschen zu lauschen am Strand der Zeit.

33  Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart, Berlin 2013, 299.

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, die Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat – letztlich hat sie weder einen Ort noch ist sie einer. Heimat ist Nichtort, ου τοπος. Heimat ist Utopie.1 Bernhard Schlink, Heimat als Utopie

1. Archetopos und Utopie Es scheint beinahe so, als entspringe die Wehmut und das Heimweh, das Zurücksehnen, derselben Quelle wie das Fernweh und die in die Zukunft gerichtete Sehnsucht nach dem Anderen und Neuen. Es scheint beinahe so, als verschwömmen Sehnsuchtsorte ineinander aufgrund ihrer konstitutiven Abwesenheit im Moment unseres Wunsches, so als ob Heimat und Fremde sich ineinander verwandelten, wir das Eine im Anderen und das Andere im Einen ausmachen wollten. In diesem Sinne darf man sagen, dass Utopien – ersehnte Nicht-Orte  – Fremde und Heimat miteinander verschmelzen und wir als Menschen in der Sehnsucht zu Hause sind. Darin aber auch ein Zuhause zu finden, es sich wohnlich zu machen auf dem Weg zu unseren Wunschorten, scheint eine existentielle Kunst zu sein. Im Wünschen zu wohnen, wäre der angemessene Daseinsmodus für ein Lebewesen, das existenziell obdachlos2 und weltoffen3 ist und seinen Biographien die Form von Reise- und Logbüchern gibt. Vielleicht bleiben Menschen stets auch Nomaden, die ihr Zuhause an einem Horizont suchen, der Sinn verheißt, und diese ferne Heimat jeden Tag am Herd und in der Geborgenheit des Interieurs ihrer Behausungen einzufangen trachten wie in Wunschnetzen. Ein solch existenzielles Vagabundieren vollzieht Zeit in jedem Augenblick als SpanBernhard Schlink, Heimat als Utopie, Frankfurt am Main 2000, 32. so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Utopien als Zufluchtsorte Konjunktur im bürgerlichen Zeitalter feiern, das nach den Worten Georg Lukacs eines der existenziellen Obdachlosigkeit sei. Lukács, Die T heorie des Romans, 30. 3  Heidegger erhebt diese Weltoffenheit zur wesentlichen Daseinsbestimmung, die sich – man denke an den Blick in den Himmel, auf den ich noch zu sprechen komme – in späteren Texten als das dichterische Durchmessen des Spielraums zwischen Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen darstellen wird. Das ist wesentlich ein Wohnen. Vgl. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 8. Aufl., Stuttgart 1997. 1 

2  Und

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess

nung zwischen Herkunft und dem Versprechen der Zukunft. Muße gehört dann zu den wichtigsten Behaglichkeitsmaßnahmen eines fernen Sinns, einer utopischen Heimkehr und Ökonomie der Sehnsucht, die das Wohnen zum Wünschen und den Wunsch zu einem Wohnort werden lässt – ein Wohnen in der Zeit, das den Blick vom Horizont der Erwartung endlich in den offenen Sternenhimmel gleiten lässt, um dort zu versinken (sich also einer ‚theoretischen‘ Lebensweise hinzugeben4) und so anzukommen im Nirgendwo dieser Welt. Es fällt schwer, sich Menschen vorzustellen, die sich nicht an Nicht-Orten des Wunsches orientieren würden, sondern stets nur im Absehbaren verhaftet blieben. Es wäre ein deprimierender Anblick. Zitieren denn die Zelte, Häuser und Gärten, aber auch Parks und Plätze der Menschen mitsamt ihrem Mobiliar, ihren Nischen und offenen Räumen, gerade wo sie behaglich erscheinen, nicht Wohnungen aus unseren Kinderträumen und eine Geborgenheit, die man allen Grund hat ein ‚Urbild‘ zu nennen? Beschwören wir solche Urbilder nicht mit den Dingen, an denen wir fern jeden Nutzens festhalten, um von ihnen mit einer Geborgenheit umspielt zu werden, die uns zu Hause sein lässt, während wir umherziehen? Dass wir solche häuslichen ‚Urdinge‘ auch auf Reise schicken, davon könnten unsere Hosen-, Hand- und Gepäcktaschen berichten. Geschenke, die den Namen wert sind, sind oft solche Gaben des Daheimseins für die unabsehbaren Wege einer Reise. Man scheint in der Zeit immer unterwegs zuhause und zu Hause unterwegs zu sein. So lässt sich das Wohnen und Suchen der Menschen grundsätzlich und doch auch ganz konkret – angesichts der Wohnungseinrichtungen, Accessoires des Lebens und Wanderbewegungen der Menschen – verstehen als das Eingespanntsein zwischen zwei Nicht-Orten, nämlich dem Urbild der Geborgenheit, nach dem wir uns sehnen und dem Wunschbild der Zukunft, in der wir das Ersehnte zu erreichen hoffen. Wunsch und Sehnsucht verleihen der Zeit Sinn und Weite. Die Utopie schließt so den Kreis zu einem Archetopos und Archetypen unseres Wünschens, zwischen zwei Orten, die es ‚nicht gibt‘ und nie gab und die doch all unsere Realität prägen. Man könnte mit Marcuse von einer regelrechten Wunschinfrastruktur der Wirklichkeit ausgehen: Das Urbild einer anderen Wirklichkeitsform hatte sich als die Wahrheit eines der grundlegenden psychischen Vorgänge erwiesen; in diesem Urbild ist die verlorene Einheit zwischen Allgemeinem und dem Persönlichen und die völlige Befriedigung der Lebenstriebe enthalten und ausgedrückt.5 4  Hans Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass der Triumpf des Begriffs sich der actio per distans und der Beweglichkeit eines nomadischen Daseins verdankt. Die theoretische Lebensweise, die ihren Blick vom Horizont in den Himmel richtet, sieht er dagegen auf die „Muße der Sesshaftigkeit“ angewiesen (vgl. Hans Blumenberg, T heorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt am Main 2007, 10). Doch wieso? Ist nicht das nomadische Leben dasjenige, das am Himmel Maß nimmt, hat es nicht mehr Zeit zur Muße im Rhythmus der Bewegung als in der Taktung des beherrschten Heims? 5 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 146.

1. Archetopos und Utopie

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Der Wahrheitswert der Phantasie bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern ebenso auf die Zukunft: die Formen der Freiheit und des Glücks, die sie aufruft, erheben den Anspruch, historische Wirklichkeit zu werden. Die kritische Funktion der Phantasie liegt in ihrer Weigerung, die vom Realitätsprinzip verhängten Beschränkungen des Glücks und der Freiheit als endgültig hinzunehmen, und ihrer Weigerung, zu vergessen, was sein könnte.6

Ernst Blochs Prinzip Hoffnung, das Opus Magnum des Grandseigneurs der Utopie, endet mit folgenden Worten, die für die Verbindung von Utopie und nostalgischer Sehnsucht, der Sehnsucht nach Heimkehr und Kindheit einstehen: Hat er [der Mensch] sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.7

Im Kapitel zur Muße schreibt er: Und in der Tat fällt von hier aus auf die eigentümliche Geborgenheit ein Licht, welche der der Stadt Entronnene in der Natur finden mag. Die vorhandenen Objekte spürt er als keine störenden; so entsteht in der dadurch fundierten Stille ein besonderer Schutzraum, eben ein Mutterraum der Muße.8 […] menschliche Freiheit und Natur als ihre konkrete Umgebung (Heimat) bedingen sich wechselseitig.9

Diese Sätze zeugen davon, wie sehr sich Wunsch und Sehnsucht mit einer Heimat verbinden, in der noch niemand war und zu der wir doch ständig zurückkehren.10 Wo Menschen eingespannt sind zwischen Archetopos und Utopie verliert sich der Gegensatz zwischen Sesshaftigkeit und nomadischem Wandern, zwischen Angekommen- und Unterwegssein. Oder genauer: er verwandelt sich zu einer inneren, ständig aktualisierten Spannung von Menschen, die in ihrem Wohnen unablässig einen Wunschort der Heimat suchen und sich bei ihrem Umherwandern auf Schritt und Tritt heimisch machen. Wünschen und Wunscherfüllung möchte ich hier also nicht nach dem Modell von bloßer Möglichkeit und Wirklichkeit unterschieden wissen, sondern sie vielmehr als ein ‚utopisches Wohnen‘ durch einander zu verstehen versuchen, als eine Spannungsrealität unserer Lebensvollzüge in der Zeit. Wirklichkeit tritt vielleicht erst ‚wirklich‘ an den Tag, Triebstruktur und Gesellschaft, 148. Das Prinzip Hoffnung, 1628.  8 Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1075.  9 Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1080. 10  Eine Heimat als Nicht-Ort kann sich genauso gut in einer sich uns öffnenden Natur offenbaren (selbst in Erhabenheit), wie bei dem heimeligen Fremdsein auf den Straßen bekannter wie auch unbekannter Städte, wenn sie nur zum Verweilen einladen, und natürlich auch beim kindlichen Hausen, das nur im Sehnen selbst ganz manifest wird. Das Fremdund Vertrautsein gibt sich hinsichtlich von Orten ständig als ein Prozess auf.  6 Marcuse,  7 Bloch,

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess

wird plastisch und haptisch in der Spannung zu dem, was sich gerade nicht greifen lässt, da es sich dem Wunsch verdankt. Die nicht feststellbare Wirklichkeit der Gegenwart, die sich erst im Wünschen eröffnet und aufspannt, erweist sich als die geheimnisvolle Realität der Zeit selbst. Auf Utopie und Archetopos bezogen sind alle Menschen Kosmopoliten, da alle auf der Suche bleiben, jeder sich ständig einrichtet und in den Himmel blickend verliert, um sich unablässig wiederzufinden. Menschen – so der Befund von Bloch und Marcuse – sind eingespannt in die Sehnsucht nach einem Zurück, das sie zugleich nach vorne treibt und auf die Erfüllung ihrer Kindheitswünsche und das Finden der nie betretenen Heimat hoffen lässt. Kindheit selbst ist eine Utopie von Erwachsenen. Diese janusköpfige Sehnsucht zugunsten einer Standortbestimmung in der Wahrscheinlichkeit des Gegebenen zu entkräften, würde selbst noch diejenigen Momente preisgegeben, die schon im Hier und Jetzt Glück, Freiheit und die „Befriedigung der Lebenstriebe“ im „besonderen Schutzraum“ der Muße eröffnen. Auch das erfüllte und sich erfüllende Glück lebt vom Vermögen zu wünschen, denn es lässt sich nur durch die Vermittlung des Sich-Sehnens auffangen und halten. Kein Wohnen im Wünschen, keine Muße als erfüllte Zeit im Zwischenraum vom Noch-nie zum Noch-nicht ist zu erwarten, wenn wir den Utopien, den Nichtorten keinen Aufenthalt gewähren. Glück ließe sich als erfüllende Aufenthaltszeit im Wunsch begreifen. Selbstredend ist die Verbindung von Utopie und Nostalgie problematisch. Das Unbehagen daran, sich in Wünschen heimisch zu machen – ein ‚Unbehagen in der Kultur‘– rührt bei den einen daher, dass sie die lebendige Gegenwart gegenüber einer bloßen Idee von Zukunft verunglimpft, bei anderen, dass sie im Zurücksehnen einen Regress am Werk sehen. Mein Unbehagen rührt weder vom dem einen noch von dem anderen. Nichts, was auf so bestimmte (und bezaubernde) Weise in der Zeit nicht ist (Ideen und Sehnsüchte), lässt mich erschrecken, sondern vielmehr der Glaube an das ‚Wissen‘ darum, was Menschen sind. Mein Unbehagen gilt einer Anthropologie, die Utopie und Archetopos mit technokratischem Realitätssinn zu Projekten ummodelt und dabei die Offenheit des Wunschhorizontes gerade verbaut. Die Vorstellung von einer Bestimmung des Menschen, die in utopischen Zuständen zur Geltung finden soll und auf einen Anthro-Archetypen referiert, verunglimpft die Utopie durch eine tendenziell unmenschliche Politik der Anthro-Realisation.11 Gleichgültig, ob man sich dabei in den Gedankenkreisen der Herstellung des ‚Neuen Menschen‘, der zum ersten Mal das eigentliche Menschsein erreicht habe, bewegt, oder in denen der 11  Das ist wiederum etwas anderes als der Versuch einer anthropologischen Bestimmung des Menschen durch seine „utopische“ Positionalität, wie sie beispielsweise Plessner vorgebracht hat, der gerade auf die Offenheit und damit auch Unfestellbarkeit der menschlichen Existenz abzielt. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, hg. v. Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2016, 419–423.

1. Archetopos und Utopie

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Restauration einer unverdorbenen Menschennatur – stets wird der Wunschhorizont durch den anthropologischen Normhorizont überlagert. Wo Utopie und Archetopos als zu realisierende Wesenskonzepte gedeutet werden, besteht die Gefahr, dass die Wunscherfüllung durch die Gewalt einer Herstellungsphantasie, die Inzuchtnahme des Menschen ersetzt wird. Die Sehnsucht, Mensch in der Geborgenheit einer humanen Welt sein zu dürfen, droht so als ein technologisch-historisches Humanprojekt miss- und umgedeutet zu werden. Im Namen dieses Projekts wird man sich nicht scheuen, den sich sehnenden, den unfertigen Menschen als defizitäre Humanform zu opfern. Die Angst vor den Schrecken der utopischen Ideologien des 20. Jahrhunderts müsste eigentlich nicht deren utopisch-nostalgischen Gehalt fürchten, sondern die Vorstellung eines sozialtechnologischen Zugriffs auf den Menschen als geschichtliches Projekt, das sich seines anthropologischen Fundaments durch die Erkenntnismethode der Herstellung versichert.12 Nicht die Sehnsucht gilt es zu fürchten, sondern die Programme der Tat; nicht die Wünsche, sondern die Hände, die zupacken, wenn sie die Himmelsschauer und Tagträumer an ihren Gurgeln ergreifen und ihnen die Muße zum Wünschen durch Zwangsarbeit an der Verwirklichung des Menschen auszutreiben trachten. Wohnen im Wunsch bedeutet gerade nicht Wille zur Verwirklichung, sondern den Mut, eine Muße für das eigenen Leben aufzubringen, um sich in der Zeit zurück und vorwärts zu sehnen und sich in diesem Sehnen sein zu lassen. Es bedarf eines Mutes dazu, da man in Muße sich selbst antreffen könnte und zwar ohne Umzäunung des Möglichen durch das Realistische, die uns vor der ungeheuren Tragweite unserer eigenen Wünsche abschirmt, schlicht: ohne die Sicherheit des Realitätsprinzips, das ständig unsere Wunschtiefen mit der Stellage unserer Alltagspflichten verstellt. Muße kann unsere Wünsche gefährlich machen, ihnen die Zeit schenken, unsere Tagesordnung zu untergraben. Vor dieser Gefahr fürchten sich nicht bloß leistungsfixierte Institutionen, die darum stets zur Arbeit rufen, sondern zuerst wir selbst, die wir uns selbst fürchten und darum unterdrückt sein wollen, um nicht die Konsequenz aus uns ziehen zu müssen. Die Resignation gegenüber schlechter Realität, also die Verstockung in einer Gegenwart des unmittelbar Umsetzbaren, ist auch eine Selbstflucht und schottet vor den Abgründen einer Radikalität ab, die jeder selbst ist, weil er ein Selbst ist.13 Die Verschanzung in der Gegenwart verhüllt das Selbstsein, da es nicht als ein Geschehen begriffen werden kann, solange es nicht auch sein eigenes Nicht­ 12  An den Worten Berdajews wird das vielleicht deutlich: „Lenin glaubte nicht an den Menschen, aber ihn leitete ein grenzenloser Glaube an die gesellschaftliche Dressur des Menschen.“ Dimitrij Antonovič Volkogonov, Lenin. Utopie und Terror, übers. v. Markus Schweisthal, Düsseldorf 1996, 545. 13  Vgl. Jochen Gimmel, „Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung“, in: Mathias Kossler/Dieter Birnbacher (Hg.), 92. Schopenhauer-Jahrbuch (Schopnehauer-Jahrbuch 92), Würzburg 2012, 135–159.

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess

sein offenbart durch die Wünsche, die man nicht einfach hat, sondern die man vielmehr vollzieht, wenn man sich in der Zeit ausstreckt: eine Offenbarung des Selbst im Sinne der ‚Apokalypse‘ des Augenblicks (siehe 1.3.). Der Verlust dieses unfassbaren Selbst – wohl der letzte Verlust, den man erleiden kann, ohne das blanke Leben einzubüßen – wird allerdings in der Regel mit Behaglichkeit quittiert. Muße kann gerade darum auch eine Krise bedeuten, die man lieber scheut, weil sie den Rahmen gibt, uns unsre Wünsche vor Augen zu führen, und deshalb droht, den Boden unter den Füßen zum Wanken zu bringen. Muße schenkt die Zeit, um zu begreifen, dass wir uns jeweils als ein Selbst gerade nicht im Griff haben, nicht in Händen halten, sondern seit jeher an uns selbst verloren gehen. Gerade darum hebt mit ihr auch die Möglichkeit an, dass wir uns selbst als einen Nichtort entdecken können, als eine Heimat, die noch niemand betrat. Muße eröffnet den Zeit- und Schutzraum, der es erlaubt, sich mit sich selbst als Abgrund vertraut zu machen. Befreit von der gewaltsamen, herstellungslogischen Fixierung auf die sozialtechnische Erzeugung des ‚echten‘ Menschen bleibt der Gedanke einer ‚Reise des Menschen zu sich‘ bestechend. Darum scheint es bei den Nichtorten der Sehnsucht zu gehen: Ein Selbst als Odyssee, eine Fahrt durch Gegenden und voller Begegnungen, in Berührung mit dem Zauber und auch den Schrecken des Anderen, dem Fremden und Überraschenden; eine Reise zurück an einen Anfang, der immer von Neuem ein anderer sein wird und ein Ende. Man umkreist sich quasi selbst beim utopischen Wünschen und erfährt dabei strandend und treibend die Welt als Zeit und als das Andere von uns. Man muss sich selbst in einer fundamentalen Weise fremd sein, um zu sich selbst als einer Utopie auf dem Weg zu sein. Man muss aber auch mit sich in unmittelbarer Berührung sein, um überhaupt wünschen zu können. Zeit, die offen bleibt, um sich in ihr umhertreiben und in Augenblicken anstranden zu können, ist das Elixier eines Wohnens im Wunsch. Es braucht Muße, um beweglich bei sich zu bleiben und so allererst von Anderem überrascht werden zu können.

2. Der Historische Materialismus als Wunscharbeit am Selbst Die Konstellation von historischer Entfremdung und einem aufscheinenden Beginn wahrer Menschheitsgeschichte bei Marx lässt sich mit dem Wunschhorizont des Selbst in Bezug bringen. Zweifelsohne hat die Marx-Engels’sche Intervention gegen den Utopiebegriff einiges dazu beigetragen, den ‚Neuen Menschen‘ zum Projektvorhaben einer sich nach vorne peitschenden Produktionspolitik des wissenschaftlichen Sozialismus zu erklären. Marxistisch genährte Hoffnungen auf eine menschliche Einrichtung der Welt verloren durch diese Entwicklung zusehends ihre theoretische Heimstätte und wurden, nun obdach-

2. Der Historische Materialismus als Wunscharbeit am Selbst

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los, von den Schauern der Realgeschichte davongespült. Von dieser Vertreibung aus dem Wunsch berichten unzählige Biographien überzeugter Marxisten, die unter dem freien Himmel der Arbeitslager ihr Ende nahmen oder ihre Suche nach utopischer Heimat durch reale Zwangsexilierung vergolten bekamen. Dennoch lässt sich das Marx’sche Denken auch als eine Intervention für ein Wohnen im Wunsch begreifen. Marx berühmte Rede von der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“14 gibt einen eigentümlichen Hinweis auf das besondere Verhältnis von Archetopos und Utopie in seinem Denken. Es ist bekanntlich die entfaltete bürgerliche Gesellschaft und mithin die kapitalistische Wirtschaftsform, mit der diese Vorgeschichte – die Realgeschichte der Menschheit – ein für alle Mal abschließen soll. Welche Hauptgeschichte danach eingeläutet wird, erläutert Marx an besagter Stelle nicht. Nimmt man diesen Ausdruck allerdings ernst, dann wird es eine menschliche Gesellschaft sein, deren Zeit anzubrechen sich anschickt. Was bedeutet es, dass die Realgeschichte insgesamt hier nur als Vorgeschichte bezeichnet wird? – Zuallererst weist es darauf hin, dass diese Vorgeschichte den Geschichtsursprüngen in der Natur bereits entwachsen ist, aber dennoch keine eigentliche Geschichte begonnen hat. Dieses eigentümliche zeitliche ‚Dazwischen‘ ruft die Motive von Archetopos als Naturheimat (für die beispielsweise das Narrativ des Urkommunismus stehen kann) und der Utopie als dem ausstehenden Beginn wahrer Geschichte (und damit die Rückkehr zur Natur in der Versöhnung mit ihr) auf. Durch diese Verortung im geschichtlichen Niemandsland wird die utopische Reise des Menschen zu sich selbst auf menschheitsgeschichtlicher Ebene zum Programm des Historischen Materialismus, der den praxisorientierten und analytischen Wirklichkeitsbezug also genau besehen erst durch die utopische Analyse der Realhistorie als geschichtliche Kluft eröffnet. Der emanzipatorische Praxisbegriff im Marxismus verdankt sich wesentlich dem Wunschhorizont, der dort zwar allzu oft als nüchterne Analyse maskiert wurde, aber genauer besehen als diese historisch-ökonomische Analyse gerade den Status quo als zeitlichen Nichtraum erkennbar machen soll, um ein Anderssein der Wirklichkeit erst in den Möglichkeitshorizont des menschlichen Wünschens zu rücken. Die bestehende geschichtliche Realität wirkt durch ihre wissenschaftlichsozialistische Verortung in der historischen Kluft zwischen Ursprung und Anfang seltsam irreal. Echtes menschliches Geschehen hat in ihr noch gar nicht angehoben, sie bleibt eine bloße Schein-Geschichte. Dieser Schein besteht wesentlich darin, dass das Menschsein darin nur eine ‚Maskerade‘ darstellt, die die tierische Existenz des Menschen durch die Antagonismen der Zweiten Natur bis zur Groteske verzerrt. Wie hospitalisierte Zootiere wiederholen in der 14  Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Marx Engels Werke 13), Berlin 1961, 9.

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess

Marx’schen Perspektive Menschen durch die arbeitsteilige Produktion und den profitorientierten Tausch nur das Immergleiche ihrer Selbsterniedrigung, das sie als Tatkraft und Gerechtigkeit feiern, um sich schließlich selbst bloß noch als (Waren-)Werte entgegenzutreten. Sie „existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware“15, als „Charaktermasken der Personen“, die nichts anderes sind als „nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse […], als deren Träger sie sich gegenübertreten.“16 Das Noch-nicht echter Menschheitsgeschichte erweist sich als ein Erstarrtsein der Menschen in Verhältnissen, die sie dazu verurteilen, sich fremd, nämlich buchstäblich als Waren und Tauschwerte zu begegnen. Die liquide Unfeststellbarkeit eines wünschenden, sich sehnenden und hoffenden Wesens gerinnt zu Absatzfunktionen (Nachfrage, Bedürfnisbefriedigung, Interesse) in den manischen Handlungsteufelskreisen, zu denen sich Menschen im ‚Kampf ums Einzeldasein‘ verdammt sehen. Erst durch die Beseitigung der Warenproduktion, also der Herrschaft des Produkts über den Produzenten […], scheidet der Mensch, im gewissen Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus den tierischen Daseinsbedingungen in wirkliche menschliche. […] Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.17

Man hat Anlass, den Sprung in das Reich der Freiheit als einen Sprung in eine Zeit- und Existenzordnung der Muße zu verstehen. So eröffnet sich die Möglichkeit, sich menschlich heimisch zu machen, wo keine feindliche Realität einem abverlangt, von seinen Wünschen abzusehen, sondern wo selbst die kindlichsten und phantastischsten unter ihnen als Anforderungen an eine menschliche Realität begriffen werden dürfen. Die Kompromisslosigkeit des Wünschens trägt dazu bei, den Menschen aus der vorgeschichtlichen Verstockung zu befreien, indem es ihn in ein liquides Zeitverhältnis zu sich selbst versetzt. Dort hätte menschliche Existenz ins Dasein gefunden, wo es Menschen offen stünde, sich auf die Reise zum Utopos einer ‚allseitigen Entwicklung‘ (vergleiche Teil II), wie es Marx nennt, zu machen, also zu sich selbst als einer Utopie aufzubrechen und bei dieser Reise alle Zeit der Welt für sich in Anspruch zu nehmen. Die Bestimmung des Kommunismus als eine allgemein verwirklichte ‚Selbstentfaltung der Individuen‘ ließe sich auch als die gesellschaftlich eröffnete Wunschbewegung zum Selbst ausdrücken. Erst durch die Wunschdynamik einer für die Menschen wohnlich gemachten Realität käme Geschichte ihrem Begriff nach, erst mit ihr Hier wie im vorigen Zitat: Marx, Das Kapital 1, 99–100. Das Kapital 1, 100. 17  Friedrich Engels, Anti-Dühring. Dialektik der Natur (Marx Engels Werke 20), Berlin 1975, 264. 15 

16 Marx,

2. Der Historische Materialismus als Wunscharbeit am Selbst

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ergäbe sich eine bewusste und freie Gestaltung der Lebenswelt durch den Menschen als Realgeschichte der Humanität. Diese Wunsch-Geschichte könnte als Heimat im Prozess verstanden werden. Dazu müssten sich die Menschen der tiefsten Schicht ihrer Wunschökonomie jedoch realgeschichtlich bemächtigen und ihre utopischen Hoffnungen auf Glück ungebrochen zur Geltung bringen. In eben diesem Sinne schlossen die zu Beginn zitierten Autoren, Marcuse und Bloch, an Marx an. Der Schlaf der Vernunft, der bekanntlich Ungeheuer gebiert, bestimmt offensichtlich den Wachzustand unseres ohnmächtigen geschichtlichen Treibens: Realität ist, wo sie vom Realitätsprinzip bestimmt ist, wesentlich Albtraum. Demgegenüber wäre das Erwachen der Vernunft wie ein sich bewahrheitendes Träumen erst zu erhoffen. Die Entgegensetzung von Realität und Phantasma geht nicht mehr auf, wenn die Realgeschichte aufgrund ihrer albtraumhaften Irrationalität und Unmenschlichkeit selbst zu einem Spuk wird, dem nur durch die Freiheit einer Phantasie Abhilfe geschafft werden kann, die bereit ist, das Wünschen als Korrektiv der Wirklichkeit heranzuziehen. In der heutigen Lage einer apokalyptischen globalen Selbstvernichtung der menschlichen Zivilisation hat man allemal Anlass, auf die scheinbar abwegige Vernunft einer Phantasie zu bauen, die nicht zuerst nach Umsetzbarkeit fragt, sondern nach Wünschbarkeit und nach deren Bild unsere Lebenswelt um-setzt, verändert. Wenn die Idee der Aufklärung zu retten sein soll, dann wohl, indem sie verstehen lernt, ihre Träume davor zu bewahren, angesichts des Albs der Realität immerfort in die Ungeheuerlichkeit realistischer Weltdestruktion (Technologie-, Fortschritts-, Lebensproduktions- und Marktfatalismus) umzuschlagen. Gerade gegenüber dem Fortschritt der Naturbeherrschung gilt es die Wunschwirklichkeit zu retten. Geschichtliche Wirklichkeit ist – das Versprechen der Aufklärung ernst genommen – darunter nicht zu haben; alles Übrige bleibt somnambule Heimsuchung, schlafwandelndes Wirklichsein. Die Traumrealität unserer Wünsche stellt ein zentrales Movens nicht nur der Reise der Individuen zu sich, sondern auch der Kollektivgeschichte zur Humanität dar. Wir kennen sie (oft bloß negativ verstanden) als die ungemeine Gestaltungskraft, die Mythen, Weltanschauungen, religiöse Ideen und ähnliches auf Menschen und Gesellschaften ausüben. Dieser Kraft nicht ohnmächtig zu verfallen, sondern sie selbst auszuüben, könnte als geschichtliche Aufgabe einer zu sich gefundenen Aufklärung verstanden werden: Immanente Wunschkritik durch narrative Reflexion. Ihr Maß wäre das Glück in einer Geschichte als Heimat. Inmitten der Vorgeschichte ist der Wunsch nach der wahren Geschichte utopisch und als Utopie auch notwendig, um die Kontinuität der Vorgeschichte aufzusprengen. Erst abseits der Vorgeschichte, in einer Zeit allgemeiner Muße, findet sich das Selbst als Utopie vor und darum gilt es, sich auf das Menschsein kompromisslos utopisch zu beziehen. Menschen dürften dort eine terra incognita sein, ohne sich vor sich fürchten zu müssen. In der Konsequenz heißt das auch,

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess

dass das Konzept der Entfremdung in eine eigenartige Brechung gerät. So ist die real(-vor-)geschichtliche Entfremdung gerade eine, die nichts weiß von ihrem menschlichen Fremdsein gegenüber sich selbst, eine Daseinsform also, die, weil sie zur Warenförmigkeit verkrüppelt an ihrem Daseinskampfplatz angewurzelt steht, sich ganz ihrer Bedürfnisse und Notwendigkeiten inne zu sein glaubt. Es fehlt gerade in der Entfremdung am Bewusstsein vom eigenen Fremdsein, weil es dort an der Kapazität zu Wünschen mangelt, an der utopisch-nostalgischen Haltlosigkeit des Menschseinwollens. So bedarf es des Luxus, sich selbst gegenüber fremd werden zu können, zu treiben, zu stranden und sich utopisch zu sehnen, um überhaupt ein Bewusstsein der Entfremdung zu entwickeln. In diesem Sinne müsste man sagen, dass nur im antizipierenden Traum einer wahren Geschichte Entfremdung überhaupt begriffen werden kann und dass erst im Anbruch wahrer Geschichte als dem Wohnen im Wünschen das Sich-Fremdsein auch als ein geglücktes Selbstverhältnis erfahren werden könnte. So bricht in die Vorgeschichte der Menschheit die Möglichkeit einer wahren als Traum vom Wünschendürfen herein. Diesen Traum auszulegen und das Wünschen zu Wort kommen zu lassen, hat sich der historische Materialismus zur Aufgabe gemacht, wo er nicht hinter seinen humanen Ansprüchen zurückgeblieben ist. Ein Materialismus, der den Produktionsfetischismus überwunden hat, ist insofern weltgeschichtliche Traumdeutung und Wunscharbeit am Selbst18.

3. Narrative Welterschließung, Utopie der Erkenntnis und die Methode der Entzauberung durch Verzauberung Um eine Geschichte zu erschließen, die den Menschen nicht bloß als unfreiwilliges Schauspiel aufgebürdet wäre, bedarf es narrativer Verfahren, die den Subtext unserer Wunschbilder und Sehnsüchte unter der kalten Oberfläche historischer Fakten freilegen, ihn allererst zur Sprache bringen, indem sie ihn narrativ ausagieren. Aufgrund des seltsamen Umstands, dass gerade die wirkmächtigsten geschichtlichen Aktanten eigentlich Ideen sind (Staat, Geld, Familie, Markt…), die sich augenblicklich auflösen müssten, wenn wir sie nicht immerfort wiedererzählen würden, stellt die Reflexion des Wunsch-Wirklichkeitsfundaments eine ideologiekritische Notwendigkeit dar. Das fremde Schicksal der Geschichte 18  Diese Deutung ist alles andere als neu. Sowohl freudo-marxistische Deutungsversuche von Wilhelm Reich, Erich Fromm bis Herbert Marcuse als auch die Versuche von ­Deleuze/Guattarie und Lyotard weisen auf eine Interpretation des historischen Materialismus als eine bewusstseinsstiftende Wunscharbeit. In ein real-seelisches Wunschprogramm der Kunst hat in eben diese Absicht der Poetismus geführt. vgl. Karel Teige, Liquidierung der „Kunst“. Analysen, Manifeste, übers. v. Paul Kruntorad, Frankfurt am Main 1968.

3. Narrative Welterschließung

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kann nicht anders als durch eine Erzählarbeit und Wunsch-Reflexion – entsprechend der unaufhörlichen narrativen Refiguration des Selbst – angeeignet, umgeschrieben und als eine menschliche Geschichte eröffnet werden. Auch wenn die historische Welt weiterhin fremd und aussichtslos erscheint, so trotzt man doch wenigstens ihrer Realität ganz real durch das Aufmerken auf den Wunsch. Es hat politische und theoretische Sprengkraft, die Geschlossenheit des realgeschichtlichen Fatalismus narrativ aufzubrechen und die Wunscherfüllung zu konkreten Postulaten zu erheben. Dabei kann man sich auf unzählige, tradierte Erzählungen berufen, die einen Bogen zwischen Utopie und Archetopos spannen. Mythen, Märchen, Sagen, Dorf-, Familien- oder Lebenserzählungen machen allesamt die Welt erst bewohnbar durch den narrativen Spannungsbezug, durch den sie die Wirklichkeit mit dem Wunsch verknüpfen. Aus diesem Blickwinkel verwischt zusehends die Abgrenzung von Erzählung und T heorie. Das gilt gerade dann, wenn T heorie den Anspruch ernst nimmt, zur Emanzipation des Menschen aus den Zwangsmustern manischer Realitätsbewältigung beizutragen. Kant wusste von dem narrativen Gehalt aller Aufklärung, die ihre Ideale radikal, das heißt in einer an die Wurzeln des menschlichen Wünschens reichende Weise, erzählerisch zu organisieren hatte, um ihnen realgeschichtliche Geltung verschaffen zu können.19 Dürre Faktenlagen (und alle reinen Fakten sind armselig) allein führen nicht zu Einsicht, sondern bedürfen eines narrativ-interpretativen Ferments, um zu inhaltlichen Argumenten zu werden. Nichts kann auf eine interpretative Verortung verzichten, wenn es begriffen werden soll. Im Interpretieren weist das Erkennen eine Verwandtschaft zum Wünschen aus, das die Bräsigkeit der Wissensbestandsmehrung durch die Sehnsucht eines Eros’ des Begreifens konterkariert. Selbst der vom Überlebenskampf verunstaltete Begriff des Begriffs bei Hans Blumenberg nimmt diese Ebene des Wunsches in sich auf, wenn er das begriffliche Denken vom Fallenstellen her versteht.20 Wer ‚Dingen auf den Grund gehen möchte‘, wird offenbar durch einen neugierigen Optativ dazu motiviert, unter die Oberfläche des Nützlichen zu tauchen, um sich überraschen zu lassen und dem Glück der Einsicht Gelegenheit zu verschaffen. Man könnte also durchaus sagen: Aufgrund des Erkenntniswunsches werden die Weltumstände zu Utopien: Was ist, hat noch keinen Ort, solange sein Sinn aussteht und es ungedacht der interpretativen Behausung entbehrt. Das radikale Fragen ist immer auch ein radikales Wünschen, was die Tradition unmissverständlich im Konzept des epistemischen Eros ausgesprochen hat. Wo das Selbstverständliche und Vertraute fragwürdig wird, verwandelt es sich zu einem Nicht-Ort, zu einer Utopie des Wissens. Adorno hat dieses 19 

Davon zeugen Konzepte wie der ewige Friede oder das Weltbürgertum, die im Erzählversuch einer „allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ anvisiert werden. Kant, Abhandlungen nach 1781, 15. 20 Blumenberg, T heorie der Unbegrifflichkeit, 14.

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess

utopische Moment des Seienden als das „Nichtidentische“ ins Zentrum seiner Erkenntnistheorie gestellt. Mit ihm ließe sich nicht nur sagen, „die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“21, sondern auch, dass „Erkenntnis kein Licht hat, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint.“22 In dem utopischen Moment von Erkenntnis liegt zugleich die Sehnsucht nach einer Erlösung aus der realen Entfremdung, also der nostalgische Bezug zu einer nie betretenen Heimat. Adorno hat an diesem nostalgisch-utopischem Moment im ansonsten geschlossenen Kreis des Unheils festgehalten. Es trägt den Titel metaphysische Erfahrung.23 Die Suche nach Erkenntnis entfaltet sich erst, wo das Gegebene als fragwürdig und die Welt wundersam erscheint. Das Faktische wird durch die radikal aufgeschlossene Neugierde der Erkenntnissuche wie verzaubert wahrgenommen, um es so durch Erklärungen und T heorien wiederum entzaubern zu können. Dieses Spiel von Verzauberung und Entzauberung 24 ist einer Welterschließung von Kindern nicht unähnlich, die sich die nüchterne Erfahrungsrealität oftmals durch gewagte Nacherzählungen prickelnd gestalten, um sie dann in narzisstischer Freude am gelingenden Wissen wiederum aller Welt erklären zu können. Diese Verwandtschaft mit dem Kindlichen tut der Würde des theoretischen Weltzugangs keinen Abbruch, es bringt ihn lediglich in Berührung mit seinem menschlichen Quell, dem Wohnen im Wunsch. Indem sich Erkenntnis über die Welt legt, umwebt sie die Gegenstände mit Fragwürdigkeit im Versuch sie nacherzählend zu begreifen. Erkenntnissuche utopisiert Welt durch narrative Verfahren der Ver- und Entzauberung und bleibt darum noch in ihren luzidesten Momenten mit Mythos und Märchen verwandt und darum stets kindgemäß für die Infanten des Wissens. Wissenschaft sollte darum stets spielerisch verfahren und ihre Organe empfindlich halten für das epistemisch-utopische Kindheitsversprechen: Wahrheit als Rückkehr in eine unbekannte Heimat. Dass Erkennen utopisch motiviert ist und es die Welt aufgrund eines narrativen Wissenszugangs zu einer gänzlich fragwürdigen verwandelt, erteilt keineswegs einer Beliebigkeit von Aussagen das Wort. Die Rede beispielsweise von ‚alternativen Fakten‘ müsste gerade hinsichtlich ihres narrativen Gehalts, also im Hinblick auf die sie tragenden Absichten und Weltverständnisse kritisiert werden; sie erweist sich als Täuschung aufgrund ihrer Botschaft, keineswegs 21 T  heodor W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (Gesammelte Schriften 6), Frankfurt am Main 2003, 21. 22 Adorno, Minima Moralia, 283. 23  Vgl. Adorno, Negative Dialektik, 366. Dazu auch: Gimmel, „Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung“. 24  Vgl. dazu Jochen Gimmel: „Abschweifen. Auf Umwegen zu Wissenschaft und Muße“, in: Muße. Ein Magazin, 5,2 (2020), S. 37–48, DOI: 10.6094/musse-magazin/5,8.2020.37, URL: http://mussemagazin.de/2020/04/abschweifen-umwege/, Datum des Zugriffs: 07.05. 2020.

3. Narrative Welterschließung

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nur aufgrund ihres (nicht vorhandenen oder zurechtgelogenen) Datenmaterials. Wo sich das pragmatische Narrativ zulangenden Nutzens vor die Utopie der Erkenntnis schiebt, da verdorrt der Anspruch auf Wahrheit. Er lässt sich nicht wie eine Phalanx aus Fakten ins Feld führen, sondern lebt erst in einer Behutsamkeit auf, die Wahrheit zwar ins Zentrum des Erkenntnisinteresses stellt, sie aber weder zu besitzen noch über sie zu verfügen meint. Die dreiste Frechheit der sogenannten Alternativfakten nutzt schamlos die Selbstvergessenheit eines Wissenschaftsbildes aus, das Erkenntnis zu einem Verfahren und Resultat der Datenerhebung zu reduzieren neigt, und dabei das Eigentümliche am verzaubernd-entzauberndem Weltzugang der Wissenschaft ausblendet: das Glück der Einsicht in eine nicht feststellbare Welt des Geschehens. Erst das Überblenden der Verzauberung in der Entzauberung ermöglicht es, dass eine Beliebigkeit des Behauptens gegenüber dem Interesse der Erkenntnis laut wird, das schließlich nie nur abbilden will, sondern mit dem Wunsch zu begreifen auch den Wunsch nach einer Realität verbindet, die man als Glück erfahren könnte. Das Band von Erkennen und Glück zu durchtrennen, schadet nicht zuletzt der nüchternen Einsicht davon, wie sich ‚die Dinge eigentlich verhalten‘, ‚was der Falls ist‘. Nicht zuletzt darum ist am utopischen Gehalt der Erkenntnis festzuhalten und die narrative Welterschließung als ideologiekritisches Instrument zu schärfen. Der narrative Zusammenhang, der ausdrückt, was gemeint, bezweckt und gewollt wird, indem er ausweist, welche Erzählung von Wirklichkeit am Werk ist, gibt ein Kriterium der Grundsatzkritik ab. Solche Kritik bleibt aber stumpf, wenn sie nicht auch ihre eigene Narration offenlegt und sie zum Argument macht, denn die Erzählung der Kritik gründet auf dem Wunsch, wie die Wirklichkeit sein soll. Es gibt keinen Grund, dieses zwanglose normative Fundament der Wissenssuche auszublenden, viele Gründe dagegen, es gerade argumentativ auszutragen. Das Wünschen der Menschen beziehungsweise der Wunsch nach einem menschlichen Dasein müsste als ein schlagkräftiges und in sich transparentes Argument gewürdigt werden, nicht zuletzt da gerade es gegen die Willkür einer Auslegung von Daten nach Interessenslage ins Feld geführt werden kann. Erst gegenüber einer Wahrheit, die mit dem Wünschen der Menschen in Bezug tritt, haben ‚alternative Fakten‘ keinen Bestand, denn dann offenbaren sie, das der Wille zur Unterdrückung, Manipulation oder der Irrsinn unseliger Angst aus ihnen spricht. Die Befähigung zur Ideologiekritik, zur Denunziation einer falschen Realität durch das bessere Argument des menschlicheren Wunsches, trägt dem Eros der T heorie Rechnung und rettet dadurch einen emphatischen Wahrheitsbegriff, der gegenüber dem bloßen Wissensbestand wohl einen Abgrund darstellt, für die emanzipatorische Aneignung des Wissens dagegen ein Lebenselement.

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess

4. Anthropologische Bestimmungen und das utopische Handeln als Anfangen Gerade in diesem Zusammenhang schleicht sich die Verwechslung von Wünschen und Programmen, von Archetopoi und anthropologischen Normativen mit Vorliebe ein. Ich möchte dezidiert das Wünschen gegenüber den Arbeitsprogrammen der Realisierung in Schutz nehmen. Die narrativ-epistemische Gemengelage der T heorie wird besonders deutlich in Antworten auf die Frage: Was ist der Mensch? Man liest dann von den Gegebenheiten des Menschen durch den aufrechten Gang des Steppenbewohners, von dem zündelnden Erfindungsreichtum des prometheisch beschenkten Mängelwesens, der arbeitenden Weltaneignung des vielgeschäftigen homo oeconomicus, den begriffsklugen und angstbesessenen Fallenstellern, vom Dasein als hungergrimmigen Wolf oder milchsattem Lamm und so weiter. Als Narrative besitzen solche Motive ungemeinen Wert und sind in der Lage, Begriffe des eigenen Menschseins zu stiften, oder vielmehr anzuregen. Als Real-Bestimmungen täuschen sie dagegen gerade über das eigene Fremdsein im offenen Selbstverhältnis und eine mögliche Geschichte als Dynamik der Veränderung hinweg. Auf das Wünschenkönnen als menschliche Möglichkeit zu bestehen, hat hier auch die Funktion eines narrativen Korrektivs gegenüber determinierenden anthropologischen Bestimmungen. Ein Wesen, das grundsätzlich durch das Wünschenkönnen bestimmt ist, ist im Selbstvollzug offen. Es verfügt über eine narrative Wirklichkeitsmacht, die es gegenüber seinen geschichtlichen Bestimmungen und sich selbst beweglich sein lässt.25 Es ist in diesem Sinne ein rationaler Anspruch aufklärerischen Denkens auf den Wunschcharakter der Geschichte zu bestehen und sie als einen utopischen Raum der Narration zu begreifen. Wo Utopien zu Programmen der Verwirklichung verkommen, da verkehrt sich Geschichte vom Raum der Offenheit in die Linearität einer telelogischen, handwerklich operierenden Macht, einer Form der Herrschaft, die Hannah Arendt als den Sieg des homo faber über den Bereich menschlichen Handelns bezeichnet hat. Diesen Bereich offen zu halten, die Unabsehbarkeit des Handelns zu gewähren, impliziert, dass sich Menschen auf ihre eigenen Wünsche einlassen dürften und sich auf sie jenseits der Möglichkeit der Verwirklichung beziehen können. Das ließe sich als ein Moment dessen beschreiben, was Hannah Arendt als das Anfangen-können, als Natalität des Menschen bezeichnet hat. Wünschen hat mit dem Anfangen-können gemein, dass es sich einen Freiraum gegenüber den herstellungslogischen Kausalitäten nimmt und sich so quasi einen humanen Souveränitätsraum schafft, der sich eben nicht hinsichtlich absehbarer Wirkungen bestimmt, sondern die eigenen Entfaltungswünsche sprechend und handelnd zur Darstellung bringt und damit 25 

Vgl. Gimmel, Konstellationen negativ-utopischen Denkens, 169–264.

4. Anthropologische Bestimmungen und das utopische Handeln als Anfangen

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buchstäblich Neues und Überraschendes ermöglicht, ohne sich dabei dem Diktat des ‚Wirklichkeitssinns‘ zu beugen. Wer wünscht, der ist auch in Erwartung, aber nicht in der Erwartung von Wirkungen, sondern von einer auf dem Spiel stehenden Zukunft, einer offenen Zukunft, in die man mit seinen Wünschen als Person eintritt, um sich überraschen und enttäuschen zu lassen. So ist es auch mit der Natalität. Beide stehen in einer Gerichtetheit, weil sie einen Anfang machen und sich Versprechen geben. Sie gehen ins Offene. Einem solchen Anfangen-können, dem ich das utopische Wünschen zurechne, ist auch ein besonderes Zu-sich-kommen, ein zu sich zurück Nach-vorne-gehen, eigen. Das nostalgische Moment im Utopischen erweist sich hier gerade als das organische Hervortreten des Neuen am Selbst. Das Nostalgische – wenn man es als die Sehnsucht nach der Geborgenheit einer menschlichen Heimat versteht – ist im Sinne der Natalität des Menschen die notwendige Kehrseite des Neuen und der Befähigung zur Utopie: das Weitertragen des eigenen Geborenseins durch die Zeit. Der Handlungsraum im Sinne Arendts ist ein real-utopischer Raum des Heimischseins in der unabsehbaren Offenheit menschlicher Begegnungen. Ich verstehe diesen Handlungsraum als Lebenszeit in Muße. Marx hat im Achtzehnten Brumaire darauf hingewiesen, wie schwierig es sich darstellt, das Neue auch auszuhalten. Selbst die radikalsten Vordenker und Anführer der Französischen Revolution schienen, laut seiner beißenden Kritik, ihre eigenen Neuerungen nicht anders erdulden und vor sich rechtfertigen zu können als durch das Zitieren der Vergangenheit. Dieses ‚nostalgische Moment‘ der revolutionären Selbststilisierung, durch die inmitten der Französischen Revolution das antike Rom auf den Plan gerufen wurde, erweist sich dann als Regress, wenn es Verrat an der Möglichkeit des Anfangen-könnens des Menschen übt, wenn es das Jetzt durch das Zuvor verdeckt, um es unter Kontrolle bringen zu können. Nostalgie ist dann regressiv, wenn sie dem zwangsneurotischen Bedürfnis entspringt, Verhältnisse durch das Bekannte absehbar zu machen und somit unter Kontrolle zu halten, dann, wenn etablierte Muster eingeklagt werden, um eine besondere Situation, Haltung oder gar Stimmung ‚herzustellen‘. Schlechte Didaktik als bloßes Methodenarsenal zur Rückführung des Neuen auf das Immergleiche hat darum etwas von falscher Vertrautheit und unwürdiger Infantilisierung an sich. Eine andere Ebene der Rückwendung und Zitation des Vergangenen ließe sich dagegen im Sinne Walter Benjamins gerade als Befreiung der Jetztzeit verstehen. Marx wie Benjamin zielen darauf, einen radikalen Bruch im Kontinuum untoter Realität zu erwirken, radikal Neues einbrechen zu lassen, anzufangen. Und im Sinne der Hegel’schen Logik lässt sich ein Anfang nur machen, indem man ihn macht und von dort an nach vorne greifend sich von hinten einholt.26 Das Anfangen selbst ist so gesehen die Etablierung eines Nicht-Orts, 26  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I. Erster Teil. Die objektive Logik. (Werke 5), 8. Aufl., Frankfurt am Main 2010, 65–81.

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IV. Narrative Erschließung der Zeit. Wohnen im Wunsch – Heimat als Prozess

da es einen Bruch in der Kontinuität des Weltlaufs erzeugen muss, von dem aus etwas erst einen Anfang nehmen kann. Neu anzufangen, heißt auch, Nichtorte zu schaffen, utopisch zu handeln.

5. Geschichten von Utopie und Archetopos Utopie – bezeichnenderweise ein Neologismus der Neuzeit – wird bei T homas Morus, Campanella und Bacon seiner wörtlichen Bedeutung als Nicht-Ort gerecht. Sie ist räumlich abgeschieden und kann eine alternative Ordnung des Menschlichen entfalten durch ihren Status als Insel. Die Utopie entfesselt ihre Strahlkraft gegenüber der als düster erfahrenen Gegenwart der genannten Autoren dadurch, dass sie abseits liegt, ein Eiland ist, von dem seit Jahrhunderten keiner Kenntnis genommen hat. Dass auf der Insel ‚Utopia‘ Dinge möglich erscheinen, die in der ‚alten Welt‘ durch den Trott der Gewohnheit, den Zwang der Institutionen und die Knebel der Tradition verstellt sind, scheint gerade dadurch verbürgt zu sein, dass niemand zuvor diese Inseln gesehen hat, dass kein Wissen an diese verwunschenen Orte je heranreichte. Das Mögliche versteckt sich hinter dem Nichtwissen und muss als Nichtwissen weislich gepflegt werden. Die Utopie lässt Möglichkeiten aufscheinen, weil sie gerade durch ihre Unbekanntheit, als ein Ort, von dem niemand weiß (ein ungeheuerliches Paradox), blinde Flecken im Universum des Wissens markiert. Sie ist eine Topik des Nichtwissens, sie kartographiert die bekannte Welt, indem sie deren Ränder ausfranst, weiß tüncht und daran mahnt, dass terrae incognitae hinter jeder Straßenecke lauern. Alles könnte ganz anders sein… Alle Ordnungen werden elastisch, wenn sie durch diesen Spielraum des Nichtwissens – Nicht-Orte – Atem schöpfen können. Die Weisheit selbst kann wieder neugierig werden. Die Erfindung der Utopie lebt wesentlich von diesem Entdeckergeist und hält ihn am Leben. Selbstredend hat diese epistemische Ordnung, die gerade den Wissenslücken entwächst und Sollbruchstellen im System des Gewussten einkerbt, um eine ganz andere, vielleicht bessere Welt zu bezeichnen, ihren historischen Hintergrund in den Ereignissen der großen Entdeckungen des 15. bis 19. Jahrhunderts. Es ist heute kaum mehr vorzustellen, wie die Möglichkeit des Neuen und Anderen auf die Menschen der Neuzeit in Europa eingeprasselt sein muss. Dass die reale Wunderbarkeit, die Irrealität der real neu gefundenen Orte und Völker selbst die Phantasie der Utopiker gründlich überfordert hat, zeigt sich an der Hausbackenheit ihrer Entwürfe im Vergleich zu den realen Mirakeln anderer Lebenswelten auf fremden Kontinenten und Inseln. Damals sind tatsächlich neue Welten entdeckt worden. Das konquistatorische Wissen und techno-politische Handeln Europas hat sie angeeignet und mitsamt ihrer Fremdheit ausgelöscht. Die aufklaffenden Lücken im Wissen, die Überraschungen und Entdeckungen, stachelten das abendländische Denken

5. Geschichten von Utopie und Archetopos

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aber nicht nur zu einer pandemischen Dynamik an, die bis heute wesentlich darin besteht, solche Lücken zu schließen und in einem totalen Verfügungsbereich den Globus zum vollständig erschlossenen und verarbeitbaren Wissensort zusammenzustauchen, sondern sie haben gerade auch Platz geschaffen in der epistemischen Selbstverortung des Abendlandes. Das ‚Es könnte auch anders sein‘, das hinter den Meeren aufschien, fand seinen Widerglanz im Strahlen dessen, was man Aufklärung nennt. Die Dialektik von Nichtwissen und Wissenswollen, von Unter-Kontrolle-sein und Sich-frei-machen bestimmt sich in der Dialektik der Aufklärung. Das Neue, das auf Inseln lebt und dort seit je überdauerte, die Lücke im Wissen, wurde zu einem zeitlichen Leuchten, das Geschichte erst aufschloss. Geschichtliches Bewusstsein, das in der Moderne alles tingiert, zeitigt sich zuerst als das Versprechen, dass irgendwann einmal noch Platz für Neues, eine andere und vielleicht bessere Welt sei. Geschichte ist wesentlich Utopie, wenn sie nicht länger eine bloß zyklische Wiederholung des Immergleichen meint. Die europäische Neuzeit hat viele solcher Utopien des Andersseinkönnens entdeckt – und ohne Zögern zerstört. Doch selbst die Resignation gegenüber der Einrichtung der europäischen Welt, also unsere heutige Verzweiflung angesichts der Fatalität europäischer Globalisierung, ist im strengen Sinne nur durch die Möglichkeit gegeben, uns Geschichte utopisch auch anders vorstellen zu können. Dieses ‚Anders‘ ist der Hintergrund, der den Funktionsträgern und Funktionierenden unter uns erst erlaubt zu sagen: ‚Das ist doch bloß utopisch‘. Denn selbst die daraus sprechende Selbstaufgabe setzt ein heimliches Feingefühl für utopische Kontingenz voraus, also dafür, dass auch eine Realität vorstellbar sein müsste, die real völlig anders wäre und in der man Bedeutung hätte. In diesem heimlichen Kontingenzgefühl nistet ein Rest europäischer Aufklärung, der nicht durch das Primat technologischer Machbarkeit verschluckt wurde. Der Neologismus Utopie, das Denken eines Neuen, versichert sich der Wissenslücken, die es gerade offen zu halten gilt, durch die Analogie mit dem seit jeher Überlieferten. Es müssen Verbindungen geknüpft werden zwischen der neuen Welt und dem Kosmos der alten. Doch diese Verknüpfungen setzen nicht am Zeitgenössischen an, dem die utopische Welt vielmehr schroff entgegensteht, sondern an einem beinahe schon verblassten Ursprung, der an der Schwelle zum Mythos steht (und bei Marx als Natur angesprochen war). So sind auf den utopischen Inseln griechische Buchstaben in Stein gemeißelt wie eine Mahnung an das Vergessene und geben uns Utopia als Schwesterinsel Atlantis zu verstehen, andern Orts zeigt sich, dass ein Stamm Salomons Unterschlupf auf der Insel gefunden hatte und so weiter. Ein rührendes Beispiel für eine solche buchstäbliche Textarbeit am Neuen in der hermeneutischen Verknüpfung mit quasi mythischen Ursprüngen, stellt ein Essay dar – eine Textform, die der Autor geschaffen hat, um das Denken ins Unbekannte segeln zu lassen – das sich zwar nicht uto-

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pisch nennt, es aber dem Geiste nach ist: Montaignes Über die Menschenfresser.27 Dieser Text ist vielleicht ein besseres Zeugnis des utopischen Geistes der Neuzeit als die namentlichen Utopien selbst. Dort sind alle Motive utopischer Literatur vereint und das obgleich es sich um eine reale (politische) Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Begebenheiten handelt, nämlich um das Verhältnis zu den neu entdeckten Kontinenten und Völkern dieser Zeit. Montaigne, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit den Berichten aus der Neuen Welt konfrontiert wird, misstraut der offiziellen oder öffentlich kolportierten Darstellung. Er wollte dem Sachgehalt der Gerüchte über die neue Welt nachgehen und suchte in dieser Absicht einen bekannten Seemann auf, der selbst bei einer der Entdeckungsfahrten mit an Bord war, um ihn zu befragen. Montaigne wählte diesen Zeugen mit Bedacht aus und schenkte ihm nicht nur darum Vertrauen, weil dessen eigene Augen die andere Welt gesehen hatten, sondern auch, weil er ein derart schlichtes Gemüt besaß, dass er nicht Gefahr lief, durch die Vorurteile seiner Bildung den lebendigen Eindruck des Anderen zu zerstören.28 „Gebraucht aber wird ein Mann, der entweder äußerst wahrheitsliebend oder so schlichten Gemütes ist, daß er sich Fiktionen gar nicht auszudenken und als glaubwürdig hinzustellen vermag.“29 Hier werden erste methodische Prinzipien der empirischen Sozialforschung entwickelt. Es bedarf eines besonderen Nichtwissens, um Zeugenschaft vom Neuen ablegen zu können, da nur den Augen zu vertrauen ist, die fremd und einfältig genug in der Welt stehen, so dass sie tatsächlich nichts anderes zu tun vermögen, als zu sehen. Montaigne bringt dagegen bei der Befragung des methodisch-geglückt ausgewählten Beobachters seinen ganzen Scharfsinn auf und beruft sich unablässig auf das reichhaltige Vergleichsmaterial seines großen Bildungsschatzes. Es bedarf also auf seiner Seite sogar eines außerordentlichen Maßes an Bildung, um die durch das Nichtwissen roh gebliebene Erfahrung des Zeugen erforschen und etwas tatsächlich Neuartiges darin überhaupt begreifen zu können. Die Bildungsrelevanz zeigt sich darin, dass Montaigne ohne zu zögern die antike Literatur, insbesondere Platons Erzählung von Atlantis und Hesiods Berichte vom goldenen Zeit­a lter, als hermeneutische Hintergrundfolie heranzieht und erst dadurch kenntlich machen kann, dass nun etwas vorliegt, was keiner kennt. Das Utopische zitiert zwar ein Nichtwissen und ein Nichtbekanntes herbei, es darf aber dabei nicht bleiben, da das Neue sonst droht im faktischen Bericht ungesehen unterzugehen. Darum 27  Ich beziehe mich im Folgenden auf diese Ausgabe: Michel Eyquem de Montaigne, Essais, übers. v. Hans Stilett, 9. Aufl., Berlin 2016. 28  In den verschmitzten Worten Montaignes: „Jener Mann, den ich bei mir hatte, war ein einfacher, ungeschliffener Mensch – was ja eine günstige Voraussetzung für wahrheitsgetreue Aussagen ist; denn Leute mit Feinschliff beobachten zwar aufmerksamer und sehen folglich mehr, aber sie liefern gleich ihren Kommentar dazu; und um ihrer Interpretation Geltung zu verschaffen und sie anderen aufzureden, können sie der Versuchung nicht widerstehen, das tatsächliche Geschehen etwas umzumodeln.“ Montaigne, Essais, 110. 29 Montaigne, Essais, 110.

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muss das Neue im Nichtwissen erst eigens verortet werden, was wiederum erfordert, den faktischen Erfahrungsbericht in der Konfrontation mit einer narrativen Ur- oder Unvergangenheit aus der achselzuckenden Gleichgültigkeit des ‚Es ist nun einmal so‘ zu lösen und als Neuartiges auszuweisen (hier liegt die Umkehrung des Wissenschaftsprinzips vor: Entzaubern als Verzaubern). Zur drängenden utopischen Frage wird nun diejenige nach der Wildheit oder Barbarei der Bewohner der neuen Welt. Gerade die schauerliche Kunde vom Kannibalismus der Wilden prüft Montaigne mit größter Neugier. Nach genauer Erforschung der Eindrücke des Seemannes kommt er zu einem utopischen Schluss: Alles weise darauf hin, dass die Wilden eine Kultur pflegten, die sich gerade durch ihr Fernbleiben von der Künstlichkeit der europäischen Zivilisation als dieser überlegen zeige. Jene Menschen sind Wilde im gleichen Sinne, wie wir die Früchte wild nennen, welche die Natur aus sich heraus und nach ihrem gewohnten Gang hervorbrachte, während wir in Wahrheit doch die wild nenn sollten, die wir durch unsere künstlichen Eingriffe entwertet und der allgemeinen Ordnung entzogen haben.30

Es ist bezeichnend, dass dieser Umkehrschluss, der von der Natürlichkeit auf den höherer Zivilisationsgrad schließt und damit den Versöhnungsgedanken kolportiert, durch die Kronzeugenschaft der griechischen Antike verbürgt wird. Die Zivilisation des uralten Atlantis und des vorgeschichtlichen goldenen Zeitalters geben das Muster eines glückerfüllten natürlich-menschlichen Daseins vor, wie es in Europa nur Ideal, in der neuen Welt der Kunde nach aber Muße-Wirklichkeit sei. Hier haben wir ein Volk, würde Platon sagen, in dem es keinerlei Handel gibt, keine Kenntnis von Buchstaben, keine Rechenlehre, keine Bezeichnung für Behörde und Obrigkeit, keine Dienstbarkeiten, keinen Reichtum, keinen Armut; keine Verträge, keine Erbfolge und keine Güterteilung, keine beschwerlichen Tätigkeiten und keine Berücksichtigung einer anderen als der zwischen allen Menschen bestehenden Verwandtschaft; keine Bekleidung, keinen Ackerbau und kein Metall.[…] Weit entfernt von solcher Vollkommenheit würde Platon sogar seinen idealen Staat finden, sähe er diese Menschen, frisch aus der Götter Hand. Dies sind Geschlechter, die fürwahr Natur in Urbeginn g­ ebar.31

Im Vergleich dazu Hesiod: Als golden schufen zuerst die Unsterblichen, die im olympischen Haus wohnen, das Geschlecht der redenden Menschen. Diese lebten unter Kronos, der im Himmel als König herrschte, führten ein Leben wie Götter, hatten leidlos Sinn und blieben frei von Not und Jammer; nicht drückte sie schlimmes Alter, sie blieben sich immer gleich an Füßen und Händen, lebten heiter in Freuden und frei von jeglichem Übel und starben wie vom 30 Montaigne, 31 Montaigne,

Essais, 111. Essais, 111.

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Schlaf übermannt. Herrlich war ihnen alles, von selbst trug ihnen die kornspendende Erde Frucht in Hülle und Fülle. Sie aber taten ihre Feldarbeit nach Gefallen und gemächlich und waren mit Gütern gesegnet.32

Erstaunlich und neu ist bei Montaigne also nicht diese Beschreibung, wohl aber, dass dieser Rückgriff zur Erschließung des Neuen gebraucht wird, sozusagen als Analyseinstrument eines Futurs des in der Zeit aufgehobenen Anderen. Die enge Verbindung einer idealisierten, fiktiven (Un-)Vergangenheit mit der realen Überlieferung, die eine Rückkehr zu dieser Vergangenheit in einer wiederum idealisierten (Un-)Zukunft fordert, ist auch bei Platon gegeben. Im Timaios wird die Geschichte von Atlantis, die in ein vielschichtiges Narrationsarrangement eingebettet ist,33 in Bezug auf die Frage nach der Einrichtung des idealen Staates erzählt. Die ideale platonische Staatsverfassung ist schon hier mit Atlantis als einer Ur- und Unvergangenheit narrativ unterfüttert. Für Montaigne sitzt jedoch ein Splitter der Zukunft in der Gegenwart und das trägt in ungemeiner Weise dazu bei, dass die Wahrnehmung der Zeit geschichtlich und dadurch die Gegenwart flüssig und disponibel wird; sie wird zur ‚disposable time‘ der Menschheit. Denn wenn die ‚Wilden‘ jetzt, in diesem Augenblick, den platonischen Staat leben, dann verhallt angesichts der Wirklichkeit dieser Utopie die Legitimität, weiter phlegmatisch und getrost bei sich in zivilisierter Barbarei verharren zu dürfen. Es zeigt sich ein Umschlag von der räumlichen zur geschichtlichen Dimension des Utopiebegriffs: Gerade weil die Insel Utopia nicht länger in der unvordenklichen Zeit der Vorstellung ihren Ort findet – also nicht mehr topisch fiktional bleibt –, sondern einen ganz konkreten Ort bezeichnet, zu dem man jederzeit fahren könnte, rückt die Idee von Utopia plötzlich ungemein nah, sie wird im Hier eine Möglichkeit für Morgen. Die toplogische Entfiktionalisierung konkretisiert auch den Anspruch auf radikal Neues und Unbekanntes in zeit­ licher Hinsicht, sie postuliert die radikale Unbestimmtheit und Gestaltungsoffenheit für den nächsten Augenblick. Die scheinbar räumliche Logik der Utopie erweist sich so vielmehr als eine Eröffnung geschichtlicher Jetztzeit, denn durch die topologische Konkretion der Utopie wird die geschichtliche Zukunft der offene Gestaltungsraum für uns. Morgen schon könnte hier die Neue Welt sein! – So hätte man (und hat man) formulieren können. Nachdem nun aber die Menschenfresser von bigotten Christen ausgerottet wurden und durch Fast-Food-­ Filialen dafür gesorgt wird, dass tatsächlich kein Weltwinkel von der ‚Neuen Welt‘ verschont bleibt, macht sich das mulmige Gefühl breit, das ‚Neue‘ wäre durch eine Art Kommunion des Mordens von den Opfern auf die europäischen Werke und Tage, 109–120. Es wird nämlich beim Gastmahl von Kritias berichtet, dass ihm als Jungen von einem Älteren die Geschichte erzählt wurde, wie Solon, dem Vater der Überlieferung, bei einem Besuch in Ägypten von den dortigen Priestern die Geschichte von seinen Vorfahren anvertraut wurde, nämlich die Geschichte von dem idealen Leben auf Atlantis. 32 Hesiod, 33 

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Kolonisatoren übergegangen und nun als Fortschrittsprogramm allem utopischen Zauber beraubt. Tatsächlich ist die Achtung gegenüber dem Anderen und der Fremdheit des Neuen, die Montaigne aufbringt, im Hinblick auf die Realpolitik der Kolonisation eine erstaunliche Ausnahme. Die Eröffnung des Morgen führt zu einer Radikalisierung der Kritik am Bestehenden. Montaigne zögert nicht die idealen Wilden zu kritisieren, doch seine Kritik fällt angesichts ihrer utopischen Wildheit unmittelbar zurück auf die eigene zivilisierte Lebenssphäre, die sich durch den Blick auf das andere wie unter einem Brennglas als Hölle offenbart: Was mich ärgert, ist keineswegs, daß wir mit Fingern auf die barbarischen Grausamkeiten solcher Handlungen (Kannibalismus) zeigen, sehr wohl aber, daß wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eigenen gegenüber blind sind. Ich meine es ist barbarischer, sich an den Todesqualen eines lebendigen Menschen zu weiden, als ihn tot zu fressen: barbarischer, einen noch alles fühlenden Körper auf der Folterbank auseinanderzureißen, ihn stückweise zu rösten, ihn von Hunden und Schweinen zerbeißen und zerfleischen zu lassen (wie wir es nicht nur gelesen haben, sondern in frischer Erinnerung noch vor uns sehen: keineswegs zwischen alten Feinden, sondern zwischen Nachbarn und Mitbürgern und, was noch schlimmer ist, unter dem Vorwand von Frömmigkeit und Glaubenstreue), als ihn zu braten und sich einzuverleiben, nachdem er sein Leben ausgehaucht hat.34

Man darf sich vielleicht an T homas Morus Aussage erinnern, dass in der alten Welt selbst die Schafe „so gefräßig und bösartig werden, daß sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern.“35 Marx greift auf diese Passage aus Utopia zurück, um von der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zu erzählen (es handelt sich hierbei um eine Erzählung im besten Sinne).36 Das utopische Motiv eröffnet mit dem Anspruch auf eine gänzlich neue Welt, die sie mit einer nie wirklich gewordenen Vergangenheit verknüpft und mythologisch auflädt, die Möglichkeit zu einer Radikalkritik der Gegenwart. Utopisches Denken ist also niemals ‚bloß utopisch‘. Es ist vielmehr eine Verwandlung der Gegenwart durch den Wunsch. Dort, in der Utopie, beginnt das Jetzt sich zu rühren, zu reden, zu versprechen und die bloßen Gegebenheiten, die wie verstaubte Zwänge im Pelz des Augenblicks nisten, abzuschütteln. Der utopische Augenblick gibt zu verstehen, dass unsere Wirklichkeit aufgrund der Verfahren, die zur Wunschunterdrückung an den Tag gelegt werden, nach altem Leim schmeckt, obgleich sie nur von der Zeit als Versprechen getragen werden kann. Utopisches Denken verstehe ich als einen Einspruch (das heißt auch als einen Bruch und eine Unterbrechung), der sich des Wünschens besinnt, um Wirklichkeit als die eigene begreifen zu lernen; sie soll endlich so beweglich und heiEssais, 113. Ernesto Grassi (Hg.), Der utopische Staat. Morus – Utopia. Campanella – Sonnenstaat. Bacon – Neu-Atlantis, übers. v. Klaus J. Heinisch, Hamburg 1960, 26. 36 Marx, Das Kapital 1, 746. 34 Montaigne, 35 

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melig werden, wie sie es schon immer hätte sein müssen. Es bedarf utopisch-narrativer Strategien für eine solche Emanzipation, die sich als Heimat im Prozess verstehen lässt. Es bedarf aber auch der ständigen Acht darauf, dass die utopische Energie nicht in Programme gegossen wird, die denjenigen zum Verhängnis werden, die nirgends angekommen sind in der globalen Allgegenwärtigkeit des Wissens. Erzählungen, die früh schon eine Reiseroute der Menschheit vom Muße-Garten Eden zurück in eine messianische Zukunft entworfen hatten oder Ähnliches, können von Wachträumern und Wunschtheoretikern gefahrlos weitergesponnen werden, solange sie dem Realitätsprinzip nicht willfährig werden. Die chiliastische Überwindung des Gesetzes, die Aufhebung des Fluches im Genuss des Daseins und der ewige Sabbat lassen eine Wunschgeschichte aufscheinen, eine Reise vom Archetopos zur Utopie, wie sie heute angesichts der realen globalen Katastrophe Macht gegenüber unserer Ohnmacht des Wirklichkeitssinns beanspruchen sollte. Es geht dabei nicht um neue, ungeahnte Möglichkeiten unseres Handelns, sondern um Unmöglichkeiten, die unser Denken zu befreien und unsere Haltung zur Wirklichkeit zu verändern im Stande wären. Utopien verflechten Noch-nie und Noch-nicht durch Wege menschlichen Daseins in einer grenzenlosen Heimat auf Reise. Zeithaben und Zeitsein machen sich heimisch im Leben als Nicht-Ort.

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Register Adorno, T heodor W. 4, 6–7, 23, 54, 65, 127, 136, 147–148, 185–186 Agamben, Giorgio 102, 167 Aggregat 13, 36, 106 Aktualität 13, 76, 85, 91 – Aktualisieren 15, 19, 46, 49, 75, 80, 127, 159, 177 Allgegenwart 1, 125, 127, 154 Allseitigkeit 135, 141–147 Alltag 3, 20, 23, 41, 49, 63–64, 66–67, 72, 98–101, 115, 117, 120, 139, 169, 172, 179 Anders, Günther 9, 133, 156 Anfang 2, 11, 37, 39 –41, 44, 46, 60, 71, 73, 77–83, 86, 90–91, 108, 114, 117, 122, 157, 162, 164, 167, 180, 188–190 – Anfangen-können siehe Natalität Angehrn, E. 39, 43 Antizipation 48, 75–76, 89 – Antizipieren 20, 49, 73–77, 83, 90, 107, 184 Äon 8, 28, 78, 79 Apokalypse 107, 116, 126, 180, 183 Aporie 3, 4, 7–8, 10–13, 15, 34, 41, 42–48, 53–54, 83, 85, 87–89, 103 Archetopos 5, 175–179, 181, 185, 188, 190–196 Arendt, Hannah 82–83, 93, 131–132, 160, 188–189 Aristoteles 10, 13, 17–18, 23, 30, 33–39, 43–44, 46–48, 51, 53, 62, 100–101, 106, 120, 137, 139 Arndt, Andreas 136, 146, 147 Assmann, Aleida 2 Asynchron 15­, 19, 24–27, 30–33, 39, 42, 61,62, 73, 86, 103 Atom 33, 42, 61, 108, 109, 125, 138 Augenblick 3–4, 17–18, 20, 32, 36, 39, 45, 47–49, 64–66, 68–69, 71, 73, 76, 84, 87–92, 97–98, 104–128, 154–155, 158– 161, 164–165, 170–173, 175, 180, 184, 194–195

Augustinus, Aurelius 17–18, 43–48, 56– 58, 62, 70–72, 88, 104, 139, Ausnahme 66, 72, 98, 100–101, 103, 105, 108, 115, 120, 124, 127, 130, 195 Außerzeitlich 10, 19, 33, 44–45, 49, 54–56 Badiou, Alain 116 Baecker, Dirk 153 Bahr, Hans-Dieter 17, 98, 107 Bann 61, 88, 117, 120, 130, 161, 166–174 Bataille, Georges 5, 134, 148–151 Beharrlichkeit 15, 30–31, 33, 46–47, 52– 53, 56, 58–59, 81, 104 Benjamin, Walter 5, 102–103, 127, 129, 138, 142, 147, 151, 167, 171, 174, 189 Bergson, Henri 12–13, 20, 24–25, 35, 38– 39, 48–49, 61–62, 74–77, 83, 90, 104 Beschleunigung 42, 92, 103, 139, 158 bios theoretikos 69, 100 Bloch, Ernst 140, 146, 177–178, 183 Blumenberg, Hans 15, 68, 86, 160, 176, 185 Böhme, Gernot 13, 19, 34 Brechen 40, 64, 74, 99, 103, 105, 108, 112– 113, 117–118, 120–121, 166, 181–182, 184–185, 189, 195 Bruch 4, 27, 49, 64, 70, 97, 105–106, 108, 115, 117, 119–121, 123, 125, 127, 141, 164–165, 170, 184, 186, 189–190, 195 Cassirer, Ernst 9, 14, 54, 61, 105 Chiasmus 42, 62, 139 Chronos 4, 8, 10, 28, 113–115, 120–123, 125, 127 commercium 14, 16, 32 creatio continua 46, 49, 108 Dass-des-Jetzt 14, 17, 19, 38, 52, 56, 59, 62, 71, 87, 90, 94, 119 Debord, Guy 63 Depression 94–98

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Register

Derrida 138, 146 Descartes 52, 65 Determinierung 117, 118, 155, 160, 174, 188 Dimension 1–3, 5, 8, 10–15, 18, 20, 37, 39–41, 43–45, 47, 50, 53, 57–59, 67, 70, 72, 75, 83, 87, 94, 96, 106, 109–110, 112, 137, 139–142, 156, 165 Durchdringung 13, 19, 75, 96, 103, 106– 109, 125 Dynamik 8, 14, 16, 27, 30–31, 34, 38, 47, 50–51, 62, 67, 74, 88, 90, 92, 99, 106, 119, 124–127, 131, 133–134, 142, 156, 168–170, 182, 188, 191

Fink, Eugen 37, 39, 120–121 Fluss 8, 20, 30, 33, 40, 46, 51, 59–62, 69– 70, 76, 120, 148–151, 160, 164, 173 Fließen 27, 30, 33, 51, 59, 59–62, 70, 76, 78 Flusser, Vilém 160 Fragment 4, 6, 90, 94, 97–98, 107, 159, 161 Franklin, Benjamin 129, 132 Freiheit 1-2, 12, 24–25, 35, 37–38, 61, 65, 67–68, 70, 75, 83, 101, 104, 118–119, 127, 135–136, 141–143, 146–147, 156– 157, 165–173, 177–178, 182–183, Fromm, Erich 23, 184 Futur II 5, 91, 97, 153–158, 172–173 Futurismus 5, 125, 154, 158–159

Effekt 9, 11, 14, 19, 27, 39, 45, 56, 76, 150, 156, 159 Effizienz 3, 131, 137, 150 Element 2, 37, 49, 80, 106, 123, 162, 187 Elias, Norbert 52, 70 energeia 35, 124, 127 Engels, Friedrich 180, 182 Entelechie 35, 92, 93, 124 Entfremdung 71, 92–93, 97, 103, 105, 130, 136, 138–146, 157, 177, 180, 184, 186 Entscheidung 54, 94, 95, 111, 117–119, 125, 142–143, 148, 155, 158–159, 168– 170 Entschluss 107, 153, 165, 167, 170–171 Epoche (epechein) 78, 120 Ereignis 4, 28, 30, 32, 40–42, 44–45, 49–50, 52, 57, 73–74, 76–80, 89, 93, 105–125, 139–140, 159, 163–165, 167–168, 190 Erinnern 20, 48, 49, 73–77, 83, 90, 107, 195 Es-gibt 19, 45, 53–54, 56–58, 62, 95 Es-gilt-als 19, 45, 53–54, 56–58, 62, 80, 95 Eschaton 107, 109 eudaimonia 66, 101–102, 111, 168–169 Evozieren 11, 13, 15, 19, 28, 32, 44, 53, 56, 59, 116 Ewigkeit 9, 18, 33, 42, 44, 45–49, 70–72, 78–79, 86, 96, 104, 106–110, 113–114, 117, 121, 162

Gadamer, Hans-Georg 7 Gegenwart 1, 5, 20, 37, 40, 42–50, 67–78, 85, 88, 90–91, 96–97, 104, 109–110, 112, 117, 121, 125, 127, 153–159, 164, 171– 174, 178–180. 194–195 Genuss 3, 68–71, 99, 102–103, 130, 132– 135, 141, 143–151, 163, 168–169, 196 Gleichgültigkeit 14, 20, 24, 45, 49, 72, 76, 86, 88, 95, 112, 125–126, 134, 165–172, 178, 193 Graeber, David 134, 143 Grenze 12, 20, 34–35, 37, 39–42, 68, 76– 77, 81, 85, 89, 101, 103, 105–107, 126– 127, 143, 148–150, 155, 163, 169, 179, 196 Guzzoni, Ute 65, 70, 107

Figal, Günter 2, 65–66, 98, 103 Fiktion 81, 155, 192, 194

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 10, 14, 32–33, 65, 79, 102, 121, 132, 136, 142, 171, 189 Heidegger, Martin 5, 9–10, 14, 24–25, 62, 68, 81–83, 98, 106–107, 166–170, 175 Herder, Johann Gottfried 11, 15, 21, 26 Heschel, Abraham 100 Hesiod 114, 160, 192–194 Husserl, Edmund 17, 38, 56–57, 61–62, 90 Imagination 13, 63, 70, 74, 78, 88, 155 Information 84, 125–126, 131–132, 158– 160 Innehalten 64, 75, 83, 140, 151, 165 Intensität 13, 17, 28–30, 34–38, 47, 52, 92, 95, 98, 104, 106, 112, 163

Register

Jetztzeit 35, 127, 142, 151, 189, 194 Kairos 4, 17, 45, 67, 73, 92, 102–103, 105– 106, 111–121, 127–128, 140, 142, 148, 159, 169 Kalender 41–42, 52, 95, 100, 123–124 Kant, Immanuel 2, 9–14, 25, 28–33, 36, 46, 58–62, 80, 96, 110, 121, 139, 185 Katastrophe 122, 124–127, 133, 148, 196 Kausalität 14, 30, 32–33, 117–118, 188 Kierkegaard, Sören 18, 102, 107–115 Klaustrophobie 3, 42, 67, 90 Klima 100, 126, 148 Knappheit 23, 68, 133, 148–149 Korsch, Karl 143, 145 Lafargue, Paul 136, 147 Langeweile 4–5, 68–69, 99, 153–174 Leibniz, Gottfried Wilhelm 41, 59, 74 Levinas, Emmanuel 64–65, 82–83, 86 Luhmann, Niklas 15, 41, 77, 78 Marcuse, Herbert 63, 142, 144, 147, 176– 178, 183–184 Marx, Karl 5, 23, 51, 84, 91, 93, 116, 118, 130, 133–148, 180–184, 189, 191, 195 Modalität 5, 8, 17, 28–31, 33, 36, 47, 52, 55, 60, 104 Moment 3, 5, 8, 10–12, 17, 35–41, 46, 67– 68, 73, 77, 79, 83, 85–87, 90, 92, 94, 97, 99103, 108, 111–121, 124–126, 130, 132, 138–139, 148, 161, 166, 170, 173, 175, 178, 186, 188–189 Montaigne, Michel de 192–195 Multidirektionalität 72–73, 76, 90 Muße 1–3, 5–7, 17, 24, 55, 62–71, 75, 79– 80, 83, 91–91, 94, 98–103, 105–108, 110– 111, 114–115, 121, 127–128, 131, 136, 144–146, 148, 150, 165–167, 169–171, 173, 176–180, 182–183, 186, 193, 196 Natalität 82–83, 188–189 negotium 65, 164 Newton, Isaac 9, 41, 51–52, 58–59, 73, 139 Nietzsche, Friedrich 5, 96, 111, 118, 161– 165, 167–168, 170 Nowotny, Helga 26, 114 nunc stans siehe Ständigkeit

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Offenheit 1–2, 65, 72–73, 76, 83, 117, 156–160, 166–173, 175, 178, 188–189 Platon 13, 44, 78–79, 106, 192–194 Plessner, Helmuth 178 Poiesis 71–72, 90–91 Polytemporalität 23–24, 26–27, 32, 42, 61–62, 73, 75 postmortale Erzählperspektive 82, 84, 86 Postone, Moishe 51, 139–141 Potentialisierung 129–133, 169 Produktivität 63, 95, 124, 130, 132–133, 141–151, 155–156 Provokation 16, 27, 30, 58, 114 Qualität 3–4, 13, 16, 17, 25, 28–30, 34–35, 38, 40, 43, 51, 87, 95, 99, 107, 125, 136– 142, 144, 158–159, 165–166 Quantität 13, 29, 34–41, 51, 104, 106–107, 135, 137, 144, 158 Reflexion 2, 20, 47, 73, 97, 127, 143, 171, 183–185 Relation 11–13, 17, 26–34, 37–38, 44–45, 48, 50, 52, 55, 59–60, 64, 72–73, 94, 106, 112, 127, 137 Ricoeur, Paul 5, 18, 20, 41, 43, 48, 77, 80– 82 Rosenstock-Huessy, Eugen 122–125 Rosenzweig, Franz 18, 47, 71, 99 Sabbat/Sonntag 99–101, 169 Schizophrenie 94, 96–98 Schmitz, Hermann 12–13, 39, 47, 60, 67, 104, 192 Selbstzweck 66, 70, 101–103, 110, 129, 131, 141, 144-146, 165, 169–170 Serres, Michel 132 Simmel, Georg 85 Simultanität 38, 46, 104 Sloterdijk, Peter 122, 126–127 Sonnemann, Ulrich 12–13, 25, 89 Spannung 3, 13–19, 28, 36, 38, 49, 54, 57–58, 61, 90, 98, 103–104, 106–107, 110–112, 117, 119, 127, 139, 163–164, 168, 177–178185 Ständigkeit 46, 49, 104, 106, Strand 35–36, 69, 164, 173–174, 180, 184

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Register

Subjektivierung 9, 18–19, 27-28, 43–44 Synästhesie 25, 45, 58, 85 Teleologie 14, 83, 93, 97, 160 T heunissen, Michael 1, 19, 67, 69–70, 83, 94–97, 103, 105, 108–109, 111–115, 121, 140 T homä, Dieter 78 Tillich, Paul 115–119, 124, 128, 140, 142 Tod 1, 40, 42, 46, 50, 68–70, 82–87, 102, 107, 110, 126, 144, 149–150, 195 Überraschung 2, 67, 76, 99, 117, 168, 173, 180, 185, 189–190 Unbestimmtheit 42, 92, 140, 153, 155– 156 160, 167, 172, 194 Unterbrechung 40, 74, 99, 105, 108, 120, 166, 195 Unzeitlichkeit 13, 18–19, 38, 44, 97 Utopie 5, 136, 147, 175–196 Veblen, T horstein 134 Vektor V-G-Z 73,77–78, 83, 92 Vergangenheit 1, 20, 33, 39, 43–48, 60, 70, 72–78, 81, 87, 89–90, 92, 96–97, 104, 109, 117, 155, 157, 159, 165, 177, 189, 193–195 Verweilen 64–65, 69–71, 105, 177 Virilio, Paul 125, 158–159 Virtualität 76, 80, 91, 160, 169, 172–173 Vita active 82, 93, 100, 131–132, 160 Vita contemplative 100

Ware 5, 37, 63, 84, 122, 129–134, 137, 139, 141, 145, 148, 151, 157, 174, 182, 184, 194 Weber, Max 71, 129, 132 Wechselwirkung 14, 17, 30, 32–33 Weile 4–5, 8, 17, 36, 39–40, 63–65, 67, 70 Weltzeit 8, 15–19, 27–28, 32, 43–44, 49, 56–57, 68, 86, 96, 106 Whitehead, Alfred North 14, 16, 19, 26, 31, 54–55, 155, 168 Wiederholung 35, 61, 107, 131, 191 Wiederkehr, ewige 96-97 Wittgenstein, Ludwig 9 (Zeit-)Zahl 13, 17, 21, 28–33, 34–39, 43, 47, 79, 106, 137, 139, 164 Zeit – Zeitandersheit/Zeitalterität 16, 19, 27– 28 58, 73, 85–86 – Zeitvergessenheit 3, 5, 63, 66, 98, 106, 108 – Zeitvertreib 5, 63, 129, 166, 172 Zukunft 1, 5, 14, 20, 33, 39, 42–44, 47–48, 50, 60, 70, 72–92, 96–97, 102, 104, 108– 108, 112, 117–118, 121, 124, 126, 133, 140, 153–161, 164–165, 173, 176–178, 189, 194, 196 Zweck 3, 55, 64–66, 68, 70, 72, 79–83, 90–94, 97, 101–103, 110–115, 127, 129, 131, 135–136, 141, 143–147, 163, 165, 168–172, 187

Otium Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße Herausgegeben von Elisabeth Cheauré, Gregor Dobler, Monika Fludernik, Hans W. Hubert und Peter Philipp Riedl Beirat Barbara Beßlich, Christine Engel, Udo Friedrich, Ina Habermann, Richard Hunter, Irmela von der Lühe, Ulrich Pfisterer, Gérard Raulet, Gerd Spittler, Sabine Volk-Birke In der Schriftenreihe Otium des Freiburger Sonderforschungsbereichs 1015 „Muße“ erscheinen Monografien und Sammelbände, die sich mit der Bedeutung, der kulturellen Form und der gesellschaftlichen Rolle von Muße befassen. Muße wird dabei als ein freies und aus der Produktionslogik herausgenommenes Verweilen verstanden, das aber vielfach Voraussetzung von Arbeit und Produktivität bleibt. Die Schriften der Reihe untersuchen Muße konzeptuell und anhand unterschiedlicher historischer wie gesellschaftlicher Kontexte. Die Beiträge verstehen Muße nicht als idyllischen Rückzugsraum, sondern als ein Feld, in dem wesentliche Fragen dieser Disziplinen der Untersuchung zugänglich werden – von der phänomenologischen Bestimmung unseres Verhältnisses zur Welt über die Analyse von Autorschaft und Kreativität bis zur stets neu verhandelten Spannung zwischen individueller Freiheit einerseits, gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen und Erwartungen andererseits. Ziel der Reihe ist es damit auch, durch die Untersuchung des Phänomens „Muße“ einen Beitrag zur Analyse der heutigen Arbeitsgesellschaft und ihrer Aporien zu leisten. Alle Bände dieser Reihe werden durch einen Beirat begutachtet. Die Reihe steht auch Autorinnen und Autoren außerhalb des Sonderforschungsbereichs offen. ISSN: 2367-2072 Zitiervorschlag: Otium Alle lieferbaren Bände finden Sie unter www.mohrsiebeck.com/otium

Mohr Siebeck

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