196 103 30MB
German Pages 319 [315] Year 2003
Entwicklungspolitik Band 1:
Grundlagen
Von
Dr. h.c. Werner o.
Lachmann, Ph. D.
Professor für Volkswirtschaftslehre unter Mitarbeit
von
Dipl.-Kfm. Harald J. Bolsinger
Zweite, überarbeitete Auflage
R.Oldenbourg Verlag München Wien
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen im Internet über abrufbar.
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
© 2004 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0
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Langensalza
V
Inhaltsverzeichnis 1: „Entwicklungsländer" Was ist das?.1 1.1 Charakteristika und zentrale Probleme der Entwicklungsländer.2 1.2 Was soll unter „Entwicklung" verstanden werden?.8 1.3 Gängige Klassifizierungen der Entwicklungsländer.15
Kapitel
-
Indikatoren der Entwicklung.23 2.1 Partialindikatoren.23 2.1.1 Das Pro-Kopf-Einkommen als Wohlstandsindikator.23 2.1.2 Probleme des internationalen Einkommensvergleichs.26 2.1.3 Verteilungsindikatoren.32 2.1.4 Absolute und relative Armut.36 2.2 Gesamtindikatoren.40 2.2.1 Sozialindikatorsysteme.41 2.2.2 Indikatoren des UNDP.43 2.2.3 Probleme von Indikatoren und deren Interdependenzen.53
Kapitel 2:
Kapitel 3: Dogmengeschichtlicher Überblick einiger Entwicklungstheorien.57
3.1 Ursachen der Unterentwicklung.57 3.2 Theoretische Ansätze der Entwicklung.65 3.2.1 Merkantilismus.65 3.2.2 List'sche Nationalökonomik.67 3.2.3 Klassische Entwicklungstheorie.69 3.2.4 Neoklassische Entwicklungstheorie.72 3.2.5 Keynesianische Entwicklungstheorie.78 3.2.6 Das Flying-geese-model von Kaname Akamatsu.81 3.2.7 Strukturalismus und Institutionalisten.87 3.3 Wirtschaftsstufentheorien.90 3.3.1 Historische Vorläufer.90 3.3.2 Wirtschaftsgeografischer Ansatz von Goodfriend und McDermott.92 3.4 Nicht-ökonomische Erklärungsansätze.96 3.4.1 Klimatheorien.97 3.4.2 Psychologische Theorien.99 3.4.3 Vertrauen und wirtschaftliche Entwicklung.100 3.5 Theorien des strukturellen Wandels.102 3.6 Property Rights als Entwicklungsvoraussetzung.107
Kapitel 4: Grundgedanken der Wachstumstheorie.111
4.1 Das Wachstumsproblem.111 4.2 Neoklassische Wachstumstheorie: Solow-Modell.115 4.3 Kritik und neue Wachstumstheorie.120
17
Kapitel 5: Historische Erfahrungen der Industrieländer Können Entwicklungsländer von ihnen lernen?.123 5.1 Können Entwicklungsländer von Europa lernen?.124 5.2 Japanischer Weg zur Industrienation.131 -
5.3 Lehren aus dem Aufbruch Süd-Ostasiens.135 5.4 Exkurs: Warum fand die Industrialisierung nicht im China des 14. Jahrhunderts statt?.140 5.5 Zusammenfassung.145
Kapitel 6: Koordinationsprobleme der Ökonomie.149
6.1 Markt oder Bürokratie als Koordinator?.150 6.2 Marktversagen versus Staatsversagen.156 6.3 Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklungsplanung.162 6.4 Probleme durch verfehlte Wirtschaftspolitik.164 6.4.1 Niedrigzinspolitik.165 6.4.2 Lohn- und Sozialpolitik.166 6.4.3 Niedrigpreispolitik für Agrarprodukte.167 6.4.4 Energiepreispolitik.169 6.4.5 Geldpolitik.172 6.4.6 Importsubstitutionspolitik.173 6.4.7 Nationale Politik gegenüber ausländischen Direktinvestitionen.174 6.4.8 Problematik der Staatsunternehmen.175 6.4.9 Industriepolitik.175 6.5 Möglichkeiten des Staates im Entwicklungsprozess.176 6.6 Bedeutung öffentlicher Unternehmen.183 6.7 Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung.187 6.8 Transformation von Wirtschaftsordnungen.190
Kapitel 7: Verteilung und Entwicklung.195 7.1 Das Ausmaß der Ungleichheit in der Dritten Welt.195 7.2 Ursachen der ungleichen Einkommensverteilung.199 7.3 Verteilung und Wachstum.200 7.4 Zielkonflikte zwischen Beschäftigung, Verteilung und Wachstum.202 Kapitel 8: Außenhandelstheorie und Entwicklung.211 8.1 Das klassische Erklärungsmuster des Außenhandels.213 8.2 Probleme der Weltmarktintegration der Entwicklungsländer.218 8.3 Das externe Ungleichgewicht der Entwicklungsländer.221 8.3.1 Die Struktur des Außenhandels.221 8.3.2 Devisenknappheit und Verschuldungsproblematik.226
VII
8.4 Abhängigkeit und Unterentwicklung.230 8.4.1 Historische Erfahrungen der Entwicklungsländer: Auswirkungen des
Kolonialismus.231 8.4.2
Grundzüge der Dependenztheorien.234
8.4.3 Analytische Schwäche dependenztheoretischer Ansätze.238 8.4.4 Entwicklung durch Abkopplung.241
Kapitel 9: Entwicklungsstrategien.247
9.1 Wachstumsorientierte Entwicklungsstrategien.247 9.1.1 Strategie des ausgewogenen Wachstums.248 9.1.2 Strategie des unausgewogenen Wachstums.252 9.2 Bedürfnisorientierte Entwicklungsstrategien.254 9.3 Umverteilung mit Wachstum.260 9.4 Binnen- oder Außenorientierung?.261 9.5 Marktkonforme Armutsorientierung.266 9.5.1 Marktkonforme Grundbedürfnisstrategien.267 9.5.2 Der „informelle" Sektor im marktwirtschaftlichen Ansatz.268 9.6 Nachhaltige Entwicklung.271
Literaturverzeichnis.276 Stichwort- und
Personenverzeichnis.296
vm
Inhaltsübersicht der Bände II, III, IV Band II
(Binnenwirtschaftliche Aspekte der Entwicklung) Das Problem des Bevölkerungswachstums Kapitel 2: Der Arbeitsmarkt in Entwicklungsländern Kapitel Das Problem der Kapitalknappheit Kapitel 3: 4: Determinanten der Sparkapitalbildung Kapitel Das Problem unzureichender Finanzmärkte Kapitel 5: 6: Landwirtschaft und Industrie im Entwicklungsprozess Kapitel 7: Das Kapitel Motivationsproblem Wettbewerb und Wettbewerbspolitik Kapitel 8: Steuerstruktur im Entwicklungsprozess Kapitel 9: Geld- und Stabilisierungspolitik Kapitel 10: 11: Kapitel Bildungspolitik Kapitel 12: Gesundheitspolitik Kapitel 13: Sozialpolitik Umwelt und Entwicklung Kapitel 14: Die Rolle des Energiesektors im Rahmen der nachhaltigen Kapitel 15: Entwicklung Band III (Außenwirtschaftliche Aspekte des Entwicklungsprozesses) Wachstumseffekte des Außenhandels Kapitel 1: Kapitel 2: Stabilisierung der Exporterlöse 3: Das Problem der realen Austauschverhältnisse Kapitel Zur Neuordnung der Weltwirtschaft Kapitel 4: Kapitel 5: Integrationsbemühungen in der Dritten Welt Das Verschuldungsproblem der Dritten Welt Kapitel 6: 1:
Band IV (Entwicklungshilfe) Warum Entwicklungshilfe? Begründung und Systematik Kapitel 1: Kapitel 2: Möglichkeiten und Grenzen der Handelshilfe 3: Problemfelder der öffentlichen Entwicklungshilfe Kapitel Öffentliche Entwicklungshilfe Kapitel 4: 5: Kapitel Träger der öffentlichen Entwicklungshilfe Gesamtwirtschaftliche Projektevaluierung und optimaler Kapitel 6: Einsatz des Faktors Kapital Kapitel 7: Entwicklungsbeitrag der privaten Hilfe 8: Kapitel Entwicklungshilfe: Die tödliche Hilfe? -
IX
Abbildungsverzeichnis Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.
1.1 Anfangspunkt und Zielpunkt des Entwicklungsprozesses 2.1 Weltlorenzkurve 2.2 Bevölkerung 1998 mit Tageseinkommen unter 1 US$ 2.3 Veränderungen der absoluten Armut 2.4 Operationalisierung des HDI 3.1 Isoquanten und wirtschaftliche Entwicklung 3.2 Gänseflugmuster der industriellen Entwicklung 3.3 Penetrationsraten von Konsumgütern nach dem Gänseflug-Modell 3.4 Reine Haushaltsproduktion (primitive production) 3.5 Vorindustrielle Marktproduktion 3.6 Struktureller Wandel im Lewis-Modell 4.1 Stabilität des steady state 4.2 Stabilität mit höherer Sparquote 7.1 Messgrößen der Armutsverteilung 7.2 Erläuterung der U-These 7.3 Wachstum und Armutshäufigkeit ausgewählter Regionen 8.1 Handel bei gleicher Transformationskurve und unterschiedlicher
Abb. 8.2 Handel bei Abb. 8.3 Abb. 8.4
Nachfragestruktur und ungleichen Nachfragestruktur gleicher
9 33 37 38 44 72 84 86 93 95 106 117 118 196 206 209 216 217
Transformationskurven
Regionale Verteilung der Verschuldung Regionale Entwicklung der Schuldendienstquote von
1980 bis 2000
228 229
X
Tabellenverzeichnis Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab.
Tab. Tab.
Tab. Tab.
1.1 DAC Liste der Empfängerländer 2001
2.1 PKE ausgewählter Regionen 2.2 Beispielrechnung Preisstrukturvergleich 2.3 Sozialprodukt pro Kopf, Versch. Umrechungen (2000, USA=100) 2.4 Gini-Koeffizienten ausgewählter Länder 2.5 Gini-Quantile ausgewählter Länder 2.6 Geschätzte Zahlen der 1972 in EL in Armut lebenden Personen 2.7 HDI 2001 ausgewählter Regionen 2.8 Vergleich HDI-GDI 2001 ausgewählter Länder 2.9 Einkommensverteilung und Wachstum ausgewählter Länder 2.10 Interdependenzen von Indikatoren (Korrelationskoeffizienten) 2.11 Interdependenzen zwischen PKE und PQLI 4.1 PKE als Anteil am US-PKE 1960 und 1990 6.1 Entwicklung des realen BIP bei einem Wechsel von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft 6.2 Entwicklungen des realen BIP bei einem Politikwechsel von der Marktwirtschaft zur Planwirtschaft 7.1 Indikatoren der Einkommensverteilung 8.1 Anteil der Exporte ausgewählter Regionen am Bruttoinlandsprodukt in % 8.2 Importe der LDC in Mio. US$ aus ausgewählten Regionen 8.3 Importe ausgewählter Länder in Mio. US$ aus
21 25 29 31 34 35 37 47 49 52 53 54 112 155
156 207 211 222 223
ausgewählten Regionen
Tab. 8.4 Exporte der LDC in Mio. US$ in ausgewählte Regionen Tab. 8.5 Industriegüterexportanteil ausgewählter Regionen in % Tab. 8.6 Güterexport weltweit in Mrd. US$ und %
223 224 225
XI
Abkürzungsverzeichnis Abb. ACDE
Abbildung
BIP BMZ
Bruttoinlandsprodukt
BNE BSP
bspw. c.p.
Annual Conference
on
Development Economics
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Bruttonationaleinkommen
Bruttosozialprodukt beispielsweise ceteris paribus (unter sonst gleichen Umständen)
ca.
circa
CIRED
International Center for Research
on
the Environment and
Develop-
ment
DALY DSE DSIE EL EVU FDI GUS h HDevEc HDI HDR HHI IL ILO IMF IWF Jh.
Kfz
Disability Adjusted Life Year Deutsche Stiftung für Entwicklungspolitik Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung Entwicklungland (Entwicklungsländer)
Energieversorgungsunternehmen
Foreign Direct Investment Gemeinschaft unabhängiger Staaten Stunde Handbook of Development Economics Human Development Index Human Development Report (dt.: Bericht über die menschliche
Entwicklung)
Herfindahl-Hirschman-Index Industrieland (Industrieländer) International Labour Office (dt.: Internationale Arbeitsorganisation) International Monetary Fund (dt: IWF) Internationaler Währungsfonds (engl: IMF) Jahrhundert
Kraftfahrzeug
km KMU KKP kWh LDC LLC MCA MRFTA NGO
Kilometer kleine und mittlere Unternehmen
NIC
Newly Industrialized Countries
Kaufkraftparität
Kilo-Wattstunden Least
Developed Countries
Land-Locked Developing Countries Monopoly Control Authority
Monopoly Regulation and Fair Trade Act Non-Governmental Organization (NRO)
XU
NPÖ
Neue Politische
NRO ODA OECD
Nicht-Regierungsgebundene Organisation (NGO) Official Development Aid Organization for Economic Cooperation and Development (dt.: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Organization of Petroleum Exporting Countries (dt.: Organisation
OPEC p.a. PKE ppm rd. RE sog. Tab. u. U. UN UNCTAD UNDP UNHCR UNICEF WB WDR WEB WHO WLR WPPA WR WTO
der Erdöl pro anno
Ökonomik
exportierenden Länder)
Pro-Kopf-Einkommen
part per million rund
Regenerative Energie sogenannt(e) Tabelle
unter Umständen United Nations (dt.: Vereinte Nationen) United Nations Conference on Trade and Development United Nations Development Program United Nations High Commissioner for Refugees United Nations Children's Fund Weltbank (World Bank) World Development Report (dt.: WEB)
Weltentwicklungsbericht (engl.: WDR)
World Health Organization World Labour Report World Population Plan of Action
Wachstumsrate World Trade Organization (dt.:
Welthandels-Organisation)
XIII
Fachzeitschriften und Lexika ABCDE AER
AfrDR BNL BPEA
Cepal
D&C DSE E+Z EDCC EHR EJ EuREH FRStL GER
Annual World Bank Conference on Development Economics American Economic Review African Development Review Banca Nazionale del Lavoro, Quarterly Review Brookings papers on economic activity Cepal Review Development & Change Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung Entwicklung und Zusammenarbeit
Economic Development and Cultural Change Economic History Review Economic Journal European Review of Economic History Federal Reserve Bank of St. Louis, Review German Economic Review HamJbWGe Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik HDE Handbook of Development Economics Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft HdWW HOPE History of Political Economy
ifo-Studien
ILR IZEP JDA JDE JDevSt JED JEH JEI JEL JEPer JITE JITED JMonE JMacro JPE JPolM ListF ORDO
International Labour Review Informationszentrum Entwicklungspolitik Journal of Development Areas Journal of Development Economics Journal of Development Studies Journal of Economic Development Journal of Economic History Journal of Economic Issues Journal of Economic Literature Journal of Economic Perspectives Journal of Institutional and Theoretical Economics Journal of International Trade and Economic Development Journal of Monetary Economics Journal of Macroeconomics Journal of Political Economy Journal of Policy Modeling List-Forum
TWQ
Third World Quarterly World Development
WD WEB
Weltentwicklungsbericht
XIV
WiSt WWA
ZfW
ZWS
Wirtschaftsstudium Weltwirtschaftliches Archiv Zeitschrift für Wirtschaftspolitik Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
XV
Vorwort der zweiten
Auflage
Ein deutscher Staatssekretär des BMZ besuchte ein afrikanisches Land. Der Botschafter rief die Projektleiter zusammen und einer erklärte, dass er mit seinem Projekt herausfinden wolle, ob es einen komparativen Vorteil für landwirtschaftliche Beratung durch Fernsehen gegenüber der Beratung durch Feldbesuche gäbe. Der Staatssekretär schnitt den Projektleiter das Wort ab und erklärte: „Sie sollen hier nichts herausfinden, sie sollen etwas machen!" Diese Anekdote zeigt eine Wende in der Entwicklungspolitik auf. Anstelle von Theorieentwürfen will man kritische Fallstudien. Die Entwicklungspolitik ist in eine Legitimationskrise geraten und hektisch werden neue Ideen umgesetzt ohne das Versagen früherer Ansätze sorgfältig theoretisch zu analysieren. Insbesondere werden, trotz aller Rethorik, institutionenökonomische Überlegungen kaum berücksichtigt und die historischen Erfahrungen zu wenig in die praktische Entwicklungspolitik einbezogen. -
Nach zehn Jahren wurde es nun Zeit, den ersten Band der vierbändigen Reihe Entwicklungspolitik zu aktualisieren. In dem Zusammenhang sind alle Kapitel überarbeitet und aktualisiert worden. Der dogmengeschichtliche Überblick (Kapitel 3) ist erheblich erweitert worden, so wurde bspw. ausführlich das japanische „Wildgänseflugmodell" erörtert. Ein neues Kapitel zur Wachstumstheorie wurde angefügt und das Kapitel zu den historischen Erfahrungen wurde durch ausführliche Kapitel zum japanischen Weg, zu den Lehren aus Ostasien und einem Exkurs, warum die industrielle Revolution nicht schon im 14. Jahrhundert in China begann, ergänzt. Auch das Kapitel zur Koordination des Wachstumsprozesses wurde stark umgestaltet. Das alte Kapitel 8 zur Handelspolitik wurde nicht mehr in den Band aufgenommen; es soll in der zweiten Auflage des dritten Bandes eingearbeitet werden. Bei den Entwicklungsstrategien sind neuere Ansätze eingearbeitet worden. Herrn
Dipl.-Kfm.
stützung
Harald
danken. Er hat die
Bolsinger möchte ich ganz herzlich für seine UnterAktualisierung aller Daten und die Neuanfertigung aller
Schaubilder vorgenommen sowie an der Überarbeitung der Kapitel 2, 3 und 7 bis 9 mitgewirkt. Ohne seinen ermunternden Zuspruch, wäre dieses Buch nicht so rasch fertig geworden. Auch meiner Lehrstuhlsekretärin Frau Susanne Weber und der wissenschaftlichen Hilfskraft Frau Carolin Lautenbach danke ich für ihre tatkräf-
tige Unterstützung. Auch dieses Mal bin ich wiederum meiner Familie, insbesondere den Kindern und meiner Ehefrau Doris zu Dank verpflichtet und muss Abbitte tun, dass ich mehrere Wochen für sie kaum ansprechbar war. Sie hatten die hohen Kosten zu tragen, ohne davon einen Vorteil zu erlangen (Problem externer Effekte).
XVI
Für alle Fehler bleibe ich das Interesse für das Ich mit diesem Band selbstverständlich verantwortlich. hoffe, wecken können. zu Gebiet der Entwicklungspolitik wichtige Dem
Verlag danke ich für die Geduld und das Zuwarten.
Vorwort der ersten
Auflage
Vor ca. 30 Jahren waren entwicklungspolitische Fragen hauptsächlich den Insidern bekannt. In den Vorlesungen an deutschen Universitäten wurden dementsprechende Fragestellungen meist mit Erörterungen des wirtschaftlichen Wachstums verbunden. Die ersten Lehrbücher befassten sich gleichzeitig mit Wachstum und Entwicklung. Das frühe theoretische Instrumentarium basierte somit in einem hohen Maße auf wachstumstheoretischen Vorlagen. Das Gebiet der „Entwicklungspolitik" hat sich allerdings gemausert. Vor ca. 20 Jahren erschienen die ersten Lehrbücher. Das „Handbook of Development Economics" (1988/89), das noch nicht alle Bereiche der Entwicklungspolitik abdeckt, brachte es schon auf 1.800 Seiten Überblicksaufsätze. So stürmisch die Entwicklung war, so schnell verliefen auch die Änderungen in den Ansichten zur Entwicklungspolitik. Das Ziel der Entwicklungspolitik besteht darin, den Ländern der Dritten Welt zu Wohlstand, d.h. einer Reduzierung der Armut, zu verhelfen, dafür die wirtschaftliche Situation zu analysieren und geeignete wirtschaftspolitische Vorschläge zu machen.
Während man zuerst an die Machbarkeit der Entwicklung glaubte und meinte, mit Hilfe eines Kapitaltransfers, später mit Hilfe von Bildungsinvestitionen auch den Entwicklungsprozess planen zu können, wendet man sich heute vermehrt marktwirtschaftlichen Entwicklungsstrategien zu. Keine
Entwicklungsstrategie kann aber besser sein als die dahinter stehende Entwicklungstheorie. Die Vorstellungen der Entwicklungspolitiker haben sich an den jeweils vorherrschenden Modelltheorien ausgerichtet. Im Laufe der entwicklungspolitischen Forschung hat man mehrere Triebkräfte der wirtschaftlichen Entwicklung ausfindig gemacht. Dabei hat jede volkswirtschaftliche Schule ihren eigenen Kandidaten für den Wachstumsprozess nominiert. Im Grunde genommen lässt sich die Entwicklungsökonomik auf die Anfänge der modernen Ökonomik zu-
rückführen.
XVII
Physiokraten sahen in der Landwirtschaft den wesentlichen Faktor der Entwicklung, Merkantilisten betonten die Notwendigkeit eines Exportüberschusses für die nationale Entwicklung. Die Klassiker hoben die Wichtigkeit des Freihandels für eine rasche Weltentwicklung hervor. Karl Marx sah im Kapital die wesentliche Voraussetzung für einen Entwicklungsprozess, Schumpeter und die Neoklassiker betonten die Bedeutung des Unternehmers. Linksliberale Intellektuelle sahen im Staat den Garanten der wirtschaftlichen Entwicklung, Stalinisten definierten Entwicklung als Industrialisierung und die Ökonomen der Chicago-Schule sahen im Bildungswesen den wesentlichen Faktor für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Geographen betonten die großen Vorkommen an Mineralien und fruchtbarem Land. Forscher der politischen Wissenschaften haben die Wichtigkeit der politischen Stabilität herausgearbeitet. Die
entwicklungspolitischen Vorstellungen unterlagen also einem großen Wandel, reichhaltiges empirisches Material wurde in den letzten Jahrzehnten gesammelt, Die
insbesondere auch durch die wissenschaftlichen Publikationen der Mitarbeiter der Weltbank. Als Vertreter meines ehemaligen Chefs in Frankfurt, Herrn Prof. Dr. Hermann Sautter, wurde ich erstmals mit den wissenschaftlichen Problemen der Entwicklungspolitik vertraut. Aus den Vorlesungen in Frankfurt, später in Mainz und nun in Nürnberg hat sich diese Buchreihe entwickelt, die trotz ihres Umfangs für sich nicht in Anspruch nehmen kann, alle Fragen detailliert zu behandeln. Ziel der Darstellung war es, die entwicklungspolitischen Fragen problemorientiert anzugehen, ursachenadäquat zu analysieren und vornehmlich ökonomische Lösungsmöglichkeiten zu ihrer Überwindung herauszuarbeiten. Dabei sind auch Ergebnisse anderer Fachdisziplinen eingearbeitet worden.
Grundlagen gelegt werden. Es ist zu fragen, was unter Entwicklung zu verstehen ist, wie man Entwicklung definieren kann. Die geschichtlichen Erfahrungen der Industriestaaten sind aufzuarbeiten, die theoretischen Grundlagen zu legen, wobei auch ein dogmengeschichtlicher Überblick gegeben werden muss. Gleichzeitig soll auch auf die verschiedenen Strategien zur erfolgreichen Entwicklung eingegangen werden. Im ersten Band sollen die
Im zweiten Band werden dann vornehmlich die binnenwirtschaftlichen Probleme erörtert, im dritten Band wird die außenwirtschaftliche Einbindung der Entwicklungsländer analysiert und abschließend im letzten Bank wird dann die Entwicklungshilfe, ihre Instrumente und Auswirkungen untersucht.
der Output eines Lehrbuches benötigt Ressourcen, Zeitressourcen. So bin ich meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern
Auch
vornehmlich zu
Dank
ver-
XVIII
pflichtet, die in Diskussionen, bei der Datensuche, usw. behilflich waren.
Insbesondere Danke ich den Herrn Dr. Rickes aus Mainz und Dr. Reichel aus Nürnberg. Beide haben in einem hohen Maße an der Fertigstellung des ersten Bandes mitgewirkt. Dank gebührt auch Frau Ingrid Khetia, Mainz, die zuverlässig das Manuskript tippte. Der größte Dank gebührt meiner Familie, die manche Stunden auf ihren Vater verzichten musste. Sie hatte wieder um die hohen Alternativkosten zu tragen, ohne wie in einer cost-benefit-Analyse dafür auch einen Nutzen erhalten zu haben, wie ihn der Verfasser immerhin bei der Durchdringung der entwicklungspolitischen Fragen hatte. Frau Stenner und Frau Eitel haben Korrektur gelesen. Auch ihnen gilt mein Dank. Für alle Fehler bleibe ich selbstverständlich verantwortlich.
Was ist das?
„Entwicklungsländer"
I
-
Kapitel 1: „Entwicklungsländer"
-
Was ist das?
Die Menschen der Industrieländer (IL) genießen einen Überfluss der noch vor einem Jahrhundert nicht vorstellbar gewesen wäre. Gleichzeitig lebt ein großer Anteil der Menschheit in einer Umwelt, die von Armut, Hunger, Krankheit und kaum vorhandenen Entwicklungsperspektiven geprägt wird, also von einem allgemeinen Mangel an Lebensqualität und Wohlstand gekennzeichnet ist. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich zusehends. Die Einkommensdifferenz zwischen dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung und dem ärmsten Fünftel lag 1997 bei 74:1, 1990 bei noch 60:1 und 1930 gar bei 30:1.' Zu Beginn dieses Jahrtausends müssen 1,2 Mrd. Menschen, d.h. 1/5 der Menschheit, mit weniger als 1 US$ pro Tag auskommen. Verdoppeln wir das Einkommen auf 2 US$ pro Tag, dann liegt ca. die Hälfte der Weltbevölkerung unter dieser Messlatte: ca. 3 Mrd. Menschen. 800 Mio. Menschen hungern. Zusätzlich können sie kaum ihr Schicksal beeinflussen, denn sie erleben eine Missachtung ihrer Menschenrechte und genießen kaum politische Freiheiten. Die Lebensbedingungen dieser Menschen zu verbessern, ist das Hauptanliegen jeder Entwicklungspolitik.
Kritiker mögen fragen, ob eine eigenständige Entwicklungspolitik notwendig sei. Gelten die ökonomischen Gesetze nicht universell und damit auch in Entwicklungsländern (EL)? Adam Smith, der Begründer der modernen Ökonomik, lebte im Grunde genommen zu Beginn der Entwicklung Großbritanniens und arbeitete ökonomische Gesetzmäßigkeiten für ein sich entwickelndes Land heraus, die für moderne Industriestaaten in ähnlicher Weise heute noch gelten wie damals, als England sich begann zu entwickeln. Entwicklungspolitik ist aber als eigenständige Disziplin notwendig, weil die ökonomischen Voraussetzungen der Länder der Dritten Welt im Entwicklungsprozess berücksichtigt werden müssen. Die Entwicklungspolitik kann keine generellen Ergebnisse liefern wie die Wirtschaftstheorie; sie verarbeitet die Ergebnisse der Wirtschaftstheorie und muss sie singular auf die jeweilige Situation der entsprechenden Länder anpassen. Daher ist es gerechtfertigt, eine eigene Analyse der ökonomischen Strukturen und Probleme der sich entwickelnden Länder dieser Erde vorzunehmen, sowie Strategien herauszuarbeiten, wie das Los dieser Menschen rasch verbessert werden kann. In diesem Zusammenhang müssen wir erst einmal prüfen, was denn die allgemeinen Merkmale der Unterentwicklung sind. Deshalb werden wir in diesem Kapitel mit einer charakteristischen Darstellung der Probleme in EL beginnen. Dann werden wir uns die Frage stellen, was überhaupt unter „Entwicklung" zu verstehen ist. Der Versuch, den Begriff Entwicklung zu definieren oder auch EL von 1
Die drei reichsten Menschen der Welt verfügen über ein Vermögen, das höher ist als das BIP der 49 am wenigsten entwickelten Länder, vgl. hierzu: BMZ: 11. Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung vom Mai 2001, S XII.
2
Was ist das?
„Entwicklungsländer" -
IL abzugrenzen, ist schwieriger, als man beim ersten Hinsehen denkt. Über die Kriterien zur Diagnose der Unterentwicklung herrscht in der Fachliteratur keine Einigkeit. Betrachtet man das kulturelle Niveau verschiedener EL, so ist es durchaus gerechtfertigt, sie als „entwickelt" zu betrachten. In unserer Darstellung werden wir uns nur auf wichtige ökonomische und einige soziale Kriterien festlegen, nach denen die EL, selbst auch eine heterogene Gruppe, eingeteilt werden. Abschließend werden wir dann einige Klassifizierungen der EL betrachten, die internationale Organisationen in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben.
1.1 Charakteristika und zentrale Probleme der
länder In der entwicklungstheoretischen drei Annahmen aus:
Forschung ging
man
Entwicklungs-
in den letzten 50 Jahren
von •
Homogenität der Dritten Welt und ihrer Einwohner, Fortschritt und Machbarkeit der wirtschaftlichen
•
Glaube
•
Vertrauen in die Rolle des Nationalstaates für den
an
Entwicklung, Entwicklungsprozess.
Der Begriff „Unterentwicklung" führte zu arroganten Interventionen der Industriestaaten des Nordens und zu einer pathetischen Selbstbemitleidung der Länder des Südens. Der Antagonismus selbst wurde ideologisch durch den Ost-WestKonflikt genährt. Fortschritte in der Entwicklung führten nur zu Umweltproblemen, weil Entwicklung mit Industrialisierung gleichgesetzt wurde. Regionale Konflikte und die zunehmende Bedeutung internationaler Organisationen schwächten den Nationalstaat, soweit er überhaupt in einigen Staaten (Afrika!) existierte. In den 90er Jahren wurden diese Annahmen hinterfragt. Die Dritte Welt ist weder im interstaatlichen noch im innerstaatlichen Vergleich homogen. Auch das Vertrauen in den Fortschritt ist einem größeren Pessimismus gewichen.2 Zur Gruppe der EL gehören sehr unterschiedliche Staaten. Es gibt bevölkerungsreiche Länder wie Indien mit 1,016 Mrd. Einwohnern oder China mit 1,261 Mrd. Einwohnern und Zwergstaaten wie Palau mit 19.000 Einwohnern, Aruba mit 101.000 Einwohnern, die Bermudas mit 63.000 Einwohnern oder St. Kitts und Nevis mit nur 41.000 Einwohnern3. Es gibt dünn besiedelte Gebiete wie Botswana mit einer Bevölkerungsdichte von 3 Personen pro Quadratkilometer, d.h. mit einer 2
3
Vgl. Schuurman, F.J.: Paradigms lost, paradigms regained? Development studies in the 21s1 Century, TWQ 21:1 (Febr. 2000), S. 7-20 Bevölkerungszahlen stammen aus dem Jahr 2000. Quelle: Weltbank: WeltentwicklungsInstitutionen für Märkte
bericht 2002 -
schaffen,
Bonn 2002.
Was ist das?
„Entwicklungsländer" -
Bevölkerung von 2 Mio. auf knapp 582.000 Quadratmetern oder Bangladesch, wo sich 130 Mio. Einwohner auf ca. 144.000 Quadratkilometer drängen, was eine Bevölkerungsdichte von 997 Personen pro Quadratkilometer bedeutet. Auch kulturell und in Bezug auf ihre geschichtliche Entwicklung gibt es große Unterschiede zwischen den EL. Die lateinamerikanischen Staaten erfreuen sich schon lange einer politischen Selbständigkeit, die meisten afrikanischen Staaten
sind erst nach dem zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen worden. Bei der Ausstattung mit Bodenschätzen unterscheiden sich die EL ebenso. Als extremes Beispiel wäre der Ölreichtum der Golfstaaten zu nennen, während Malta oder Bangladesch kaum über Bodenschätze verfügen. Trotz dieser Heterogenität zeichnen sich EL im Vergleich zu IL durch bestimmte, allen gemeinsame Charakteristika aus4. Allen EL ist eine hohe Massenarmut eigen, d.h. große Teile der Bevölkerung sind von wesentlichen Faktoren, die menschliches Leben in Zufriedenheit und Wohlfahrt ermöglichen, abgeschnitten. So ist bspw. die Einkommensverteilung in EL ungleicher als in den meisten IL. Die reichsten 10% der Haushalte konnte 1996 in Brasilien 47,6% des Nationaleinkommens erwirtschaften, in Malaysia 37,9% (1995), in Sri Lanka jedoch nur 28% (1995). Bei den OECD-Staaten liegt dieser Anteil zwischen 20,1% in Schweden (1992) und 25,2% in der Schweiz (1992). Die ärmsten 20% der Haushalte erhielten in Kenia 5% (1994) in Zambia 4,2% (1996) in Costa Rica 4% (1996), in Sri Lanka jedoch 8% (1995) und in Bangladesch sogar 8,7% (1995 /1996) des Volkseinkommens. Bei den OECD-Staaten lag dieser Anteil zwischen 5,2% in den Vereinigten Staaten (1997) und 10,6% in Japan (1993).
EL zeichnen sich ebenso durch hohe Bevölkerungswachstumsraten aus. Zur Zeit leben mehr als 6 Mrd. Menschen auf dieser Erde; 80% davon leben in EL. Es existieren Schätzungen der Vereinten Nationen, dass in 25 Jahren die Weltbevölkerung zwischen 7 und 8 Mrd. Menschen betragen wird. Dieser Anstieg wird vor allem in EL stattfinden. Das durchschnittliche jährliche Bevölkerungswachs1990 durchtum betrug in den Ländern mit niedrigem Einkommen von 1980 Bei südlich Afrikas 1990 2000 Ländern den 2%. ca. schnittlich 2,3% und von der Sahara wuchs die Bevölkerung zwischen 1980 1990 um 2,9% p.a. und von 1990 2000 um 2,6% p.a. Bei Ländern mit hohem Einkommen hingegen war von 1980 2000 nur ein Bevölkerungswachstum von lediglich 0,7% p.a. zu beobach-
-
-
-
-
ten.
Die Bevölkerung verteilt sich unterschiedlich auf ländliche und städtische Gebiete. Die Zuwachsrate der städtischen Bevölkerung in EL war in den 4
Die folgenden Daten stammen aus den Weltentwicklungsberichten 2000/2001 bzw. 2002 der Weltbank, sowie aus dem Medienhandbuch Entwicklungspolitik 2002 des BMZ.
Was ist das?
„Entwicklungsländer"
4
-
vergangenen 30 Jahren mit 4% fast doppelt so hoch wie die Wachstumsrate für die Gesamtbevölkerung. Ursache ist in erster Linie das natürliche Wachstum der meist jungen städtischen Bevölkerung und in zweiter Linie die Zuwanderung aus ländlichen Gebieten. Durchschnittlich liegt der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung bei etwa 40%. Der Wohnungsmangel in den Städten nimmt infolge dieser Entwicklung rasch zu. 1981 schätzte man, dass 40% aller Städter in EL in Slums und Spontansiedlungen (Squatter) mit unzureichender Infrastruktur in einem gesundheitsschädlichen Umfeld leben. Dieser Anteil beträgt derzeit (2000) bereits ca. 60%. Etwa 1 Mrd. Menschen in EL leben derzeit in unzureichenden Wohnverhältnissen. Die unzureichende Trinkwasserversorgung und die meist fehlende Entsorgung flüssiger und fester Abfallstoffe führen im häuslichen Umfeld insbesondere in den städtischen Randgebieten der EL zu gravierenden hygienischen und gesundheitlichen Problemen und häufig zu
Massenerkrankungen.
Insbesondere wird in vielen EL die Wasserversorgung knapp. Dies liegt auf der einen Seite an der gestiegenen Nachfrage nach Wasser und auf der anderen Seite an der zunehmenden Verschmutzung des Wassers als Folge des Bevölkerungsanstiegs, der Verstädterung, der Industrialisierung und Bewässerungslandwirtschaft. Etwa 2 Mrd. Menschen in EL haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und weltweit werden nur etwa 5% der Abwässer gereinigt. Nach Schätzungen der WHO sind 80% aller Krankheiten in EL wasserbezogen. Zudem hat die Übernutzung und Verschmutzung von Wasserressourcen schwere Auswirkungen auf die Umwelt. Aufgrund der global ungleichen Verteilung der Wasserressourcen leiden bereits 15 Länder in Westafrika und Westasien unter akuten anhaltenden Versorgungsengpässen und weitere 34 Länder haben ernsthafte Wasserprobleme. Es lassen sich bereits warnende Stimmen vernehmen, dass zukünftige Kriege nicht mehr um Öl, sondern um Wasser geführt werden. Auch bei der Ernährung bestehen noch beträchtliche Defizite in EL. Obwohl global betrachtet ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung stehen, leiden derzeit ca. 840 Mio. Menschen in EL besonders in Afrika südlich der Sahara und in Südostasien an Hunger und chronischer Unterernährung. Mangelerscheinungen bestehen bei etwa 2 Mrd. Menschen. 86 Länder werden zu den einkommensschwachen Nahrungsdefizitländern gezählt, wobei der Grund der schlechten Ernährungssicherheit meist in der nationalen Agrarpolitik dieser Länder zu sehen ist, die der einheimischen landwirtschaftlichen Produktion nicht die erforderliche Priorität zuweist5. -
-
Auch die ärztliche 5
Vgl.
Lachmann
Wien
1997, Kap.
Versorgung ist äußerst mangelhaft. Entwicklungspolitik,
6.
Nicht einmal 50% der Be-
Bd.2: Binnenwirtschaftliche
Aspekte,
München/
Was ist das?
„Entwicklungsländer"
5
-
in EL hat Zugang zu einer wirksamen Gesundheitsversorgung. In den Ländern Afrikas südlich der Sahara kommt ein Arzt auf ca. 24.000 Menschen, in EL insgesamt einer auf 5.000 Menschen. In den westlichen IL hingegen versorgt ein Arzt ca. 380 Personen. An übertragbaren Massenkrankheiten leiden über 100 Mio. Menschen. Diarrhoea und akute Erkrankungen der Atemwege, Wurmkrankheiten wie Bilharziose und Malaria sowie das zunehmende Problem einer hohen Rate an HIV-Infektionen führen zu Millionen von Todesfallen.
völkerung
Die Lebenserwartung bei der Geburt lag 1998 für die Länder mit niederem Einkommen bei 59 Jahren für Männer und 61 Jahren für Frauen. Rechnet man China und Indien heraus, so ergibt sich für die übrigen EL ein Wert von nur 55 bzw. 58 Jahren. Im Gegensatz dazu erfreuten sich die Einwohner in Ländern mit hohem Einkommen im Durchschnitt einer Lebenserwartung von 75 bzw. 81 Jahren. Für die Länder in Afrika südlich der Sahara wurde 1998 eine Lebenserwartung bei der Geburt von lediglich 49 bzw. 52 Jahren ermittelt6. Die Bewohner der IL hatten also eine mehr als 50% höhere Lebenserwartung als jene in Afrika. In EL finden wir ebenfalls eine erschreckend hohe Säuglingssterblichkeit vor. In den Ländern mit niedrigem Einkommen betrug die Säuglingssterblichkeit 1980 98 Kinder pro tausend Lebendgeburten und 1998 69 Kinder pro tausend Lebendgeburten. Die Kindersterblichkeit unter 5 Jahren betrug 1990 im Durchschnitt aller EL 177 Kinder pro tausend Geburten. Sie reduzierte sich bis 1998 auf 107 Kinder pro tausend Geburten. Wiederum sind die Staaten Afrikas südlich der Sahara am stärksten betroffen. Von tausend Geburten starben 1980 188 Kinder und 1998 immer noch 151 Kinder vor Erreichung des 5. Lebensjahres. Diese Zahlen sind das Ergebnis einer schlechten medizinischen Versorgung und eines geringen täglichen Kalorienangebotes. Im Vergleich dazu starben in den Ländern mit hohem Einkommen 1998 lediglich 6 von tausend Kindern vor Erreichung des 5.
Lebensjahres.
Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten bei der Alphabetisierung der Bevölkerung große Fortschritte erzielt wurden, zeigt doch dieser Indikator, dass viele, insbesondere schwarz-afrikanische Länder, noch massive Defizite im Bildungsbereich aufweisen. Alphabetisierungsraten von unter 50% sind dort keine Seltenheit. Insgesamt können etwa 1 Mrd. Menschen in EL weder lesen noch schreiben. Diese Situation wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern, da die Kapazitäten der dortigen Bildungseinrichtungen mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten können. Bis zu 150 Mio. Kinder im Schulalter haben derzeit keine Möglichkeit eine Schule zu besuchen; davon sind zwei Drittel Mädchen. 6
Die
Lebenserwartung in Afrika südlich der Sahara sinkt; im Jahre 1999 wurden dort Lebenserwartung bei der Geburt ermittelt (Weltentwicklungsbericht 2002).
Jahre als
47
Was ist das?
Entwicklungsländer"
6
-
Ein weiteres Kennzeichen der EL ist das hohe Gewicht der Landwirtschaft bei der Erzeugung des Sozialprodukts, obwohl dieser Anteil im Zeitablauf sinkt. In den Ländern mit niedrigem Einkommen betrug 1980 der Anteil der Landwirtschaft 31% des BSP, während 1998 nur 21% des BSP dort erwirtschaftet wurden. Ohne Berücksichtigung China und Indiens hat sich der Anteil der Landwirtschaft im gleichen Zeitraum von 29% auf 25% reduziert. In Afrika südlich der Sahara stammten 1965 40% und 1990 32% des BIP aus der Landwirtschaft.
Hinsichtlich der Energieversorgung sind noch die Mehrzahl der Menschen in EL (ca. 2,8 Mrd. Menschen) auf traditionelle Energiequellen, insbesondere auf Brennholz sowie tierische und pflanzliche Abfälle, angewiesen. Dieser „Brennstoff der Armen" wird zur Deckung des täglichen Energiebedarfs (Heizen, Kochen, Warmwasseraufbereitung) benötigt. Je nach Entwicklungsstand macht das bis zu 95% des Energieverbrauchs in ruralen Gebieten aus. Elektrizität steht ca. 2 Mrd. Menschen in EL, vornehmlich in ländlichen Gebieten, nicht zur Verfügung. Brennholz als Energieträger wird jedoch knapp, weshalb die Preise steigen bzw. der Arbeitsaufwand der Beschaffung sich ständig erhöht. Der jährliche Waldverlust wird auf 10 20 Mio. Hektar beziffert, was etwa der halben Fläche der Bundesrepublik entspricht7. -
Insgesamt zeigt die Schädigung und Zerstörung der Umwelt und der natürli-
chen Ressourcen in EL erhebliche Ausmaße an und hat teilweise schon die Grender Tragfähigkeit überschritten. Während in IL Umweltprobleme als Folge des Entwicklungsprozesses entstehen, sind in vielen EL Armut, Überbevölkerung, falsche wirtschaftliche Rahmenbedingungen, fehlende Informationen und ein Mangel an Alternativen, die entscheidenden Faktoren der Umweltzerstörung. Bauern überschreiten bspw. auf der Suche nach bebaubarem Land agronomische Trockengrenzen und bewirtschaften erosionsgefährdete Gebiete, Waldreserven werden aufgrund des Energie- und Landbedarfs angegriffen etc. zen
Hinsichtlich der Arbeits- und Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern arbeiten in EL wesentlich mehr Frauen im landwirtschaftlichen Bereich als Männer. Sie spielen nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Energie- und Wasserversorgung, im Handwerk, im Handel und in der Industrieproduktion eine zentrale Rolle. Zudem sind sie vorrangig für den Haushalt, die Kindererziehung und die Ernährung der Familie zuständig. Die Armut unter Frauen ist trotz dieser Arbeitsbelastung hoch. 70% der 1,3 Mrd. Armen der Welt sind Frauen; ihr Anteil bei den Analphabeten liegt ebenfalls bei 60%. Zudem beobachtet man in vielen EL auch eine politische Diskriminierung der Frauen. 7
Wiederaufforstungen werden kaum durchgeführt; holzung wieder aufgeforstet wird.
es
wird
geschätzt,
dass
ca.
10% der Ab-
7
Was ist das?
„Entwicklungsländer" -
Weiterhin leiden die Menschen in EL unter hoher Arbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung; dennoch fehlen ihnen Facharbeiter. Unausgebildete Arbeiter sind in Überzahl vorhanden und das enorme Bevölkerungswachstum verschärft diese Situation. Die Lohnunterschiede zwischen Stadt und Land sind so hoch, dass es zu Abwanderungen aus dem ländlichen Raum kommt, wodurch sich die urbane Arbeitslosigkeit erhöht8. Fehlende Ausbildung, der geschwächte Gesundheitszustand, ein geringer Kalorienverbrauch, kurz, der schlechte Allgemein- und Ernährungszustand führen unter Beachtung der niedrigen Ausstattung mit Kapital zu einer äußerst niedrigen Arbeitsproduktivität und damit zu einem geringen Einkommen und Wohlstand.
Viele EL haben politisch instabile Rahmenbedingungen, was zu Migrationen Anlass gibt. Weltweit gibt es nach der Definition des UNHCR etwa 97 Mio. Flüchtlinge, die größtenteils in benachbarten EL aufgenommen werden. Allein 12 Mio. Flüchtlinge leben in Afrika. Hinzu kommt noch ca. die gleiche Anzahl von Menschen, die innerhalb des eigenen Landes vertrieben wurden (Bürgerkriege). Werden diejenigen berücksichtigt, die ihre Heimat aufgrund von Armut, Umweltzerstörung und nicht vorhandene Hoffnungen auf ein besseres Leben verlassen, kommen wir auf ca. 125 Mio. Flüchtlinge. Die bisher beschriebene Situation in EL stellt eine
länderspezifische
Durchschnittsbetrachtung dar;
vernachlässigt. Innerhalb verschiedener Lebensbedingungen der Menschen beträchtlich
Unterschiede werden
Regionen und Länder können die divergieren. Vor allem zwischen ländlichen und städtischen Gebieten bestehen wesentliche ökonomische Unterschiede.
Trotz zunehmender Urbanisierung lebt mit etwa 60% noch die Mehrheit der Bevölkerung in EL in ländlichen Gebieten. Meist bestehen in Urbanen und ruralen Regionen große Unterschiede in der sozialen und wirtschaftlichen Situation und der Lebensweise der Menschen. Auf dem Land ist der Bildungsstand geringer. Hinsichtlich der Alphabetisierungsrate sind in EL 43% der Männer auf dem Land Analphabeten, was ca. der doppelten Rate in den Städten entspricht. 66% der Frauen auf dem Land können weder Lesen noch Schreiben, während in der Stadt diese Analphabeten-Quote bei 38% liegt. Im Allgemeinen haben städtische Gebiete in EL auch einen besseren Zugang zu grundlegenden Versorgungsdiensten, wie der Wasserversorgung, Sanitäreinrichtungen und dem Gesundheitswesen. Auch öffentliche Verkehrsmittel und die Straßeninfrastruktur sind im Urbanen Gebiet stärker ausgebaut als in ländlichen Regionen.
für einen Einkommenserwerb außerhalb der Landwirtschaft und die Einkommen sind meist relativ gering. Auch In ruralen Gebieten
8
Vgl.
Lachmann
gibt
es
geringe Möglichkeiten
(1997), op.cit., Kap. 2.
Entwicklungsländer"
8
Was ist das? -
die Einkommensarmut ist gravierend. So können in Südasien 36% der Stadtbevölkerung als arm eingestuft werden im Vergleich zu 47% in ländlichen Gebieten. In Lateinamerika und in der Karibik ist der Unterschied noch ausgeprägter. Dort gelten 58% der ruralen und 33% der Urbanen Bevölkerung als arm. Auch die häufig nicht vorhandene Verfügbarkeit von Strom in ländlichen Gebieten ist ein Zeichen der Armut9. Insgesamt ist ein erheblich wirtschaftlicher, sozialer und technologischer Dualismus zwischen Urbanen und ruralen Gebieten zu beobach-
ten.
Armut wird als
Mangel an Lebenschancen bezeichnet. Durth / Körner / Michaeunterscheiden bei der Armut zwischen den ökonomischen (2002) Dimensionen, vornehmlich Einkommens- und Konsummöglichkeiten, sowie den menschlichen Dimensionen der Armut, worunter sie vornehmlich Bildung, Gesundheit und Ernährung verstehen, sowie der politischen Dimension der Armut, worunter sie politische Freiheiten und die Einflussmöglichkeiten des Einzelnen auf die Gesellschaft bezeichnen und die so genannte schutzbezogene Dimension der Armut, worunter sie insbesondere soziale Sicherheit verstehen und letztlich die soziokulturellen Dimensionen der Armut, worunter sie Ansehen und Würde des Einzelnen zusammenfassen. Sie betonen dabei die Interdependenzen der einzelnen Dimensionen der Armut. lowa
Insgesamt zeichnet
diese grobe Skizzierung der Lage in den EL ein relativ düsteres Bild hinsichtlich der Lebensbedingungen ihrer Menschen. Verschwiegen werden darf nicht, dass durchaus auch Entwicklungserfolge erzielt wurden, die sich in einer Verbesserung einzelner Sozialindikatoren widerspiegeln, auf die wir in Kapitel 2 eingehen werden. Trotz dieser Fortschritte einiger Länder ist es weiterhin notwendig, die soziale Situation in EL zu verbessern und ihre wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Damit müssen wir uns nun mit der Frage beschäftigen, was überhaupt unter Entwicklung verstanden werden soll.
1.2 Was soll unter
„Entwicklung" verstanden werden?
Über den Inhalt des Begriffs „Entwicklung" besteht kein allgemein akzeptierter Konsens. Solange keine Klarheit über diesen Begriff herrscht, werden wir auch
bei den
entwicklungspolitischen Schlussfolgerungen Schwierigkeiten
haben. Geanderes unter diesem Begriff als die Eliten der EL, die nicht gerade das Wohl der breiten Masse ihres Volkes im Sinne haben. Wir müssen uns deshalb fragen, was das Wesentliche des Begriffes „Entwicklung" ausmacht. Übertreibend könnte gesagt werden,
bernationen, die Entwicklungshilfe leisten, verstehen oft
9
etwas
So schreibt Ramani: The unavailability of electricity to the majority of rural people is among the most visible symbols of rural-urban development gaps (Ramani 1995, S. 158).
„Entwicklungsländer"
Was ist das?
9
-
dass so viele Definitionen des Begriffs „Entwicklung" formuliert wurden, wie es Institutionen gibt, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Entwicklungsökonomik wird aber ohne einen einheitlichen und klar definierten Begriff von Entwicklung ziellos. Der Entwicklungsbegriff kann sowohl statisch als auch dynamisch verstanden werden. Werden Entwicklungsabläufe generell beschrieben, so spricht man von einem Entwicklungsprozess, betrachtet man hingegen ein EL zu einem bestimmten Zeitpunkt, so wird der Begriff „Entwicklung" als Entwicklungsstand gedeutet. Der Entwicklungsstand stellt somit eine jeweilige Momentaufnahme des ablaufenden Entwicklungsprozesses dar, der sich selbst aus einer sukzessiven Reihe solcher Momentaufnahmen zusammensetzt. Dazu kommt noch der Begriff des Entwicklungszieles, eines Entwicklungsstandes, den man zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen möchte. Sowohl die derzeitige Lage der EL als auch die Bewegungsrichtung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung sowie die gewählten wirtschaftlichen Ziele sind von Bedeutung.
Zielpunkt
Anfangspunkt Zeit Abb. 1.1
Anfangspunkt und Zielpunkt des Entwicklungsprozesses
Bewegungsrichtung der Entwicklung durch die Zeitgerade angedeutet, bezeichnet die Überwindung der Strecke AZ den Entwicklungsprozess. A bezeichnet den derzeitigen Entwicklungsstand und Z das Entwicklungsziel, das mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen erreicht werden soll. Wir benötigen zur Ausformulierung entwicklungspolitischer Strategien bspw. Auskünfte über A und Z sowie den von A und Z abhängigen Entwicklungsprozess. Mit anderen Worten: Wir müssen uns über das Ziel der Entwicklung, die Ausgangslage und die Erreichbarkeit sowie über die Mittel und Wege zur Erreichung dieses Zieles Klarheit verschaffen. In diesem Zusammenhang könnten wir sagen, dass es auf die Wird die so
10
Was ist das?
„Entwicklungsländer" -
„Sources of Growth" und die „Causes of Growth" ankommt. Im Entwicklungsprozess müssen also die vorhandenen Ressourcen analysiert werden, was mit zur Ausgangslage gehört; gleichzeitig muss über die Ursachen des Wachstums diskutiert werden, was wir intensiv in Kap. 3 bzw. 4 leisten. Eine wesentliche Aufgabe der Entwicklungspolitik besteht deshalb in der Analyse, wie ein Entwicklungsprozess initiiert und beibehalten werden kann, so dass ein EL, dass sich in der Ausgangsposition A befindet, auch sein gesellschaftlich erwünschtes Ziel Z erreicht. Das jeweilige Entwicklungsziel hängt aber von den gesellschaftlichen Vorstellungen ab, also von der Gestalt der gesellschaftlichen Zielfunktion. Der normative Charakter des Entwicklungsbegriffs wird dadurch deutlich.
Vorüberlegungen muss auf den materiellen Inhalt des Entwicklungsbegriffs eingegangen werden. Wir betrachten im Folgenden die Ziele der Entwicklungszusammenarbeit der letzten Dekaden, da diese den Paradigmenwechsel im Zeitablauf widerspiegeln und Hinweise auf die jeweils verfolgten Entwicklungsziele geben. Sen10 definiert Entwicklung recht allgemein als: „The process of economic development can be seen as a process of expanding the capabilities of people". Nach diesen
lässt sich feststellen, dass durch den Entwicklungsprozess ein höherer Lebensstandard der Bevölkerung erreicht werden soll. Dieser wurde anfänglich als vom Industrialisierungsgrad abhängig betrachtet. Insbesondere die ersten Pioniere der Entwicklungsökonomik setzten Entwicklung mit Wachstum gleich.
Allgemein
Da die als Vorbild dienenden IL einen hohen Industrialisierungsgrad aufwiesen, wurde unter Entwicklung „Industrialisierung" verstanden, die mit Hilfe des PKE gemessen wurden. Den Fortschritt und die Dynamik des Entwicklungsprozesses las man an den Wachstumsraten des PKE ab. Bezogen auf das Schaubild wäre der Indikator für einen Entwicklungszustand das PKE, das bei A gemessen würde, die Bewegung auf der Linie AZ würde durch die Wachstumsrate des PKE bestimmt und damit den Entwicklungsprozess aufzeigen. Mit diesem Wachstum des PKE war gleichzeitig die Erwartung verbunden, das über trickle-down-effects (Durchsickereffekte) mittel- bis langfristig alle Bevölkerungsschichten profitieren und die Einkommensverteilung gleichmäßiger wird. Wenn jedoch trotz steigendem PKE ein zunehmender Anteil der Menschen in den EL in absoluter Armut lebt, lässt sich schlecht von Entwicklung sprechen. Die Enttäuschungen über das Ergebnis forcierten Wachstums führten dazu, dass das Wachstum des Volkseinkommens nicht mehr als alleiniges Ziel angesehen wurde 10
Sen, A.: Development which way now?, in:
EJ 93:372
(1983), S. 755.
Was ist das?
..Entwicklungsländer"
II
-
wie noch in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Vor allem der erwartete trickle-down-effect blieb in der Realität aus. Daraufhin wurden neben dem Ziel einer Erhöhung des PKE auch Verteilungsziele vermehrt berücksichtigt. Unter Entwicklung wurde nun nicht mehr ausschließlich Wirtschaftswachstum verstanden, sondern Wachstum- und Verteilungsgerechtigkeit. In den 70er Jahren wurden zusätzlich spezielle Strategien ergriffen, die direkt bei den Armen ansetzten. Insbesondere die Befriedigung der Grundbedürfnisse rückte in dieser Zeit in den Mittelpunkt." Während in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das PKE bzw. seine Wachstumsrate als wesentlicher Entwicklungsindikator angesehen wurde, haben die Sozialwissenschaften auf die Mehrdimensionalität des Entwicklungsprozesses verwiesen, die man durch eine Reihe von Sozialindikatoren zu erfassen versuchte12. Der Entwicklungsbegriff ist also gesellschaftspolitisch gesehen äußerst komplexer Natur13. Man orientierte sich zunehmend an den Grundbedürfnissen der Bevölkerung und sah Entwicklung weniger als Ziel, sondern verstärkt als Mittel, die Armut in EL zu bekämpfen.
spielte nach der Befreiung von der Kolonialherrschaft die UnEL eine wachsende Rolle. Der ursprünglich eher politische Under abhängigkeit abhängigkeitsbegriff wurde auf die ökonomische Sphäre ausgedehnt. Trotz formaler Unabhängigkeit sahen sich die EL als abhängig von Exportmärkten, ausländischem Kapital und ausländischer Technologie. Der Begriff des „Neokolonialismus" wurde geprägt. Demzufolge wurde ökonomische Unabhängigkeit als ein wichtiges Entwicklungs(neben)ziel definiert. Des Weiteren
steigendem PKE und politischer Unabhängigkeit, die einen größeren Handlungsspielraum für die nationale Wirtschaftspolitik öffnet, ein zunehmender
Wenn trotz
Anteil der Menschen in den EL in absoluter Armut lebt, lässt sich dennoch schlecht von Entwicklung sprechen. Aus diesem Grunde werden Armutsgrenzen definiert und der Entwicklungsstand auch an den Prozentsätzen der Bevölkerung, die diesen Mindeststandard nicht erreichen, gemessen. Das Verteilungsproblem wurde, sowohl innerhalb der EL als auch zwischen IL und EL, ein integraler Bestandteil des Entwicklungsprozesses. In den letzten Jahrzehnten wurde die Wichtigkeit ökologischer Fragen auch für EL erkannt. Eine Verschlechterung der Überlebenschancen der Menschen als 11
12
13
Vgl. hierzu Kap. 9 Vgl. hierzu die Ausfuhrungen zu den Indikatoren in Kap. 2 Einen Überblick gibt A. Sen: The concept of development, in: HDE 1 (1988), Kap. 1. In der englischsprachigen Literatur wird zwischen den Möglichkeiten (means) und der Erreichung des Potentials (achievement) unterschieden.
Was ist das?
„Entwicklungsländer"
12
-
Folge forcierter Industrialisierung kann kaum als Entwicklung bezeichnet werden. Gefordert wird ein nachhaltiges Wachstum, ein Wachstum, dass auf Dauer angelegt ist, und dass auch der nächsten Generation noch ein Leben im Wohlstand ermöglicht (sustainable development)14. Eine Definition der ökonomischen Komponente des Begriffes eine breite Zustimmung findet, wäre wie folgt zu fassen:
„Entwicklung", die
Unter ökonomischer Entwicklung versteht man einen Prozess, in dessen Verlauf das reale PKE eines EL über einen längeren Zeitraum ansteigt (um konjunkturelle Aspekte zu vermeiden), ohne dass die Zahl der Menschen, die weniger als einen bestimmten Mindestkonsum zur Verfügung haben, ansteigt, und ohne dass es zu einer ungleicheren Einkommens- oder Vermögensverteilung sowie zu einer weiteren Verschlechterung der Umwelt kommt. Eine Reihe weiterer Ziele, die durch die wirtschaftliche Entwicklung erreicht werden sollen, ist in den letzten Jahren hinzugekommen. Genannt werden sollen die Partizipation, die Beachtung der Menschenrechte und die zunehmende Bedeutung der institutionellen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung, die Rolle der Wirtschaftsordnung. Seit einigen Jahren wird auch in verstärktem Maße die Stärkung der Rolle der Frauen (Gender-Aspekte) in die entwicklungs-
politischen Überlegungen aufgenommen. Die
Bekämpfung der Armut wird heutzutage als das prioritäre Ziel der Entwicklungsbemühungen genannt. Entwicklung ist damit nicht mehr Ziel, sondern Mittel der Armutsbekämpfung. Als Beispiel mögen die sieben internationalen Entwicklungsziele, die im Weltentwicklungsbericht 2000 / 2001 genannt werden, angefügt werden: Senkung des Anteils der in extremer Armut (weniger als 1 US$ pro Tag) •
lebenden Menschen
14 15
um
die Hälfte des Standes
von
1990 bis 2015.
•
Einschulungsquote von
•
Fortschritte auf dem Weg zur Geschlechtergleichheit und zum Empowerment15 von Frauen durch den Abbau von Geschlechterdisparitäten in Grund- und weiterführenden Schulen bis 2005.
•
Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit um 2/3 von
100% bis
zum
Jahre 2015.
1990 bis 2015.
Vgl. hierzu Kapitel 9.6 Unter Empowerment wird die Ermächtigung von Frauen zu eigenverantwortlichem Handeln durch staatliche und gesellschaftliche Institutionen, die stärker auf ihre Bedürfnisse eingehen, verstanden.
„Entwicklungsländer"
13
Was ist das? -
•
•
•
Senkung der Müttersterblichkeitsrate um 2/3 von 1990 bis 2015. Zugang zu Leistungen der Reproduktionsmedizin für alle, die diese tungen benötigen (bis 2015). Umsetzung nationaler Strategien zur nachhaltigen Entwicklung bis zwecks Verhinderung des Verlustes von Umweltressourcen bis 201516.
Leis2005
kann somit nicht als eindimensionales Phänomen bemehrdimensional analysiert werden. Man kann vielmehr sondern muss trachtet, sich also nicht mehr auf nur einen Indikator der Entwicklung beschränken, sondern muss bei der Entwicklung des Entwicklungsstandes und des Entwicklungszieles weitere Indikatoren zu Hilfe nehmen17. Entwicklungsstand und -prozess werden also nicht als ausschließlich quantitative Phänomene verstanden, auch die Qualität des Entwicklungsprozesses wird in Betracht gezogen. Da der Entwicklungsprozess vielschichtig geworden ist, gelten hohe Wachstumsraten und ein hohes PKE nicht mehr uneingeschränkt als hinreichende Bedingung, um Armut zu reduzieren und eine höhere Wohlfahrt des Einzelnen zu gewährleisten. Während die frühen Pioniere der Entwicklungspolitik gegenüber dem Wachstum kritisch eingestellt waren, da die Armen vernachlässigt wurden, wird Wachstum heute aber wieder als unabdingbare Voraussetzung angesehen, die Entwicklungsspielräume zu eröffnen. Es besteht eine enge Verbindung zwischen wirtschaftlichem Wachstum und der menschlichen Entwicklung, wobei Kausalketten in beide Richtungen bestehen18. Das Wachstum des PKE kann als notwendige aber nicht als hinreichende Bedingung für Entwicklung angesehen werden. Das
Entwicklungsproblem
Nach dieser Darstellung der verschiedenen Entwicklungsziele wollen wir noch einigen Definitionen des Begriffes „Entwicklung" zuwenden.
uns
B. Bhatt19 charakterisiert das Entwicklungsziel wie folgt: „The major declared objectives of state policies in less-developed countries 16
Vgl. Weltbank: Weltentwicklungsbericht 2000/2001 Bekämpfung der Armut, Bonn 2001, S. 5. In diesem Zielkatalog wird sowohl die Armutsminderung als direktes Ziel angeführt, als auch die Bedeutung der Bildung, der Gesundheit, der Gleichstellung der Frauen, des Umweltschutzes hervorgehoben, wodurch die Armut direkt und indirekt gesenkt werden -
soll.
17
Vgl. Kap. 2
18
Vgl. Ranis, G./Stewart, F./Ramirez,
19
Bhatt, V.B.: Decision structure, technological self-reliance and public enterprise performance, in: Jones, L.P (Hg.): Public enterprise in less developed countries, Cambridge (1982), S.129.
A.: Economic growth and human development, in: WD 28: 2 (2000), S. 197-219; Zur Bedeutung des PKE-Wachstums vgl. Naqvi, S.N.H.: The nature of economic development, in: WD 23:4 (April 1995), S. 453-556.
Was ist das?
Entwicklungsländer"
14
-
(LDCs) include sustained progressive improvement in the levels of living, reduction of inequality in the distribution of income, wealth, and economic power, and technological self-reliance (which constitutes both an instrument as well as an objective). It has been difficult, however, in a large number of LDCs to translate these multiple and often conflicting objectives into operative goals with the result that these objectives, in actual fact, have remained largely of ceremonial significance".
Allgemein kann unter Entwicklung auch eine Verbesserung der Wohlfahrt (wellbeing) verstanden werden. Wichtig ist auch der effiziente Einsatz der Ressourcen einer Volkswirtschaft um ein höheres Wirtschaftswachstum zu erreichen. "Economic development is traditionally viewed as a longterm process of reform designed to raise the welfare of people by increasing efficiency in all levels of social interaction through the mobilisation of a country's human and nonhuman re-
sources"20.
Der Nobelpreisträger fur Wirtschaftswissenschaften (1998), Amartya Sen, wendet sich gegen die normative Ökonomik, die die Wohlfahrt zur alleinigen Wertbasis macht, und betont in seinem Entwicklungskonzept die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten der Menschen. Es sind also weder die Ausstattung mit Gütern noch der subjektive Nutzen entscheidend, sondern die Befähigung (capability) etwas zu erreichen. Für Sen bedeutet demzufolge Entwicklung, dass Unfreiheiten, die die Handlungs- und Lebensmöglichkeiten des Einzelnen einschränken, abgebaut werden müssen. Diesen Gedanken greift der erste Human Development Report 1990 auf und versteht den Entwicklungsprozess als "a process of enlarging people's choices".
Dieses Ziel der Erweiterung der Wahl- und Menschen begründet das UNDP wie folgt: "No
Handlungsmöglichkeiten
der
guarantee human happiness, and the choices people make
are their But the process of development should at least create a conducive environment for people, individually and collectively, to development their full potential and to have a reasonable chance in leading productive and creative lives in accord with their needs and interests" (HDR 1990, S.l). one can
own concern.
Es
geht
um
die
Erweiterung
der Wahl- und
Handlungsmöglichkeiten
Wirtschaft, Politik und anderen Bereichen der Gesellschaft. Menschen sollen die Lage versetzt werden ihre Potentiale zu nutzen. 20
in in
Afxentiou, P.C./Serletis, A.: Growth and foreign indebtedness in developing countries: An empirical study using long-term cross-country data, in: JDA 31:1 (Herbst 1996), S. 25-40, hier: S. 25.
„Entwicklungsländer"
15
Was ist das? -
Diese Definitionen von Entwicklung berücksichtigen die individuellen Wünsche und Ansprüche des Einzelnen an seine Existenz. Der Mensch soll die Wahl zwischen verschiedenen Lebensgestaltungsmöglichkeiten besitzen, ohne diese jedoch realisieren zu müssen. Diese wohl zutreffende Definition von Entwicklung ist jedoch schwer umzusetzen, da Lebenschancen nur schwer gewichtet werden können. Zudem spielen materielle Aspekte weiterhin eine bedeutende Rolle, da ökonomisches Wachstum in Verbindung mit einer relativen Gleichverteilung eine wesentliche Voraussetzung für die Erweiterungen der Wahl- und Handlungsmöglichkeiten darstellen. Die volle persönliche Entwicklung benötigt eine materielle Basis!
1.3
Gängige Klassifizierungen
der
Entwicklungsländer
Noch immer existiert keine einheitliche, international verbindliche Liste der EL. Weltbank, Vereinte Nationen und OECD verwenden unterschiedliche Klassifizierungen, auf die im folgenden eingegangen wird. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden EL häufig als Dritte Welt bezeichnet. Dieser Begriff wurde 1949 zum ersten Mal verwendet und ist französischen Ur-
sprungs (Tiers Monde).21 Während er anfänglich mehr wirtschaftspolitisch orientiert war und einen dritten Weg zwischen dem so genannten Kapitalismus und dem so genannten Sozialismus andeutete, wurde er später politisch umdefiniert. Insbesondere Anfang der 60-er Jahre wurden die blockfreien Staaten Asiens und Afrikas als dritter Block zwischen den sozialistischen und den westlichen Ländern bezeichnet. Insbesondere mit der ersten UNCTAD-Konferenz (1964) schlössen sich viele EL in der Gruppe der 77 zusammen, wodurch eine gewisse Sammelbewegung von EL unter dem Begriff Dritte Welt entstand.22 Der Economic and Social Council (ECOSOC), der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinte Nationen (UN) definierte daher 1961 / 1962 die Begriffe Erste, Zweite und Dritte Welt wie folgt:23 ,
•
•
21
Erste Welt: sind.
Länder, deren Volkswirtschaften hauptsächlich marktorientiert
Zweite Welt: Länder, deren Volkswirtschaften und sozialistisch sind. Verwiesen sei auf HDE 1, S. 17ff, Dritte Welt nachgezeichnet werden.
22 Die lateinamerikanischen Länder nicht zur Dritten Welt! 23
Vgl.
BMZ
wo
Entstehung
galten
(Hg): Journalistenhandbuch.
und
hauptsächlich
geplant
des
Begriffes
Bedeutungswandel
als westlich orientiert und
Dritte
zentral
gehörten anfänglich
Welt, Bonn 1988, S. 263.
Was ist das?
Entwicklungsländer"
16
-
•
Dritte Welt: Länder deren Volkswirtschaften
(barter economics) bestimmt sind.
hauptsächlich durch Realtausch
Eine Zusammenfassung der beiden ersten Kategorien zeigt, dass die dortigen Länder im Norden und die EL hauptsächlich auf der südlichen Halbkugel angesiedelt sind. Daher sprach man von der Ersten und Zweiten Welt als den NordLändern und den EL als dem Süden, wodurch sich die Begriffe „Nord-Süd-Gefälle" bzw. „Nord-Süd-Problem" erklären. Allerdings hat die UN 1990 ihre Länderklassifizierung umgestellt und unterscheidet nur noch zwischen IL und EL. Wie schon unter 1.1 erörtert, stellen die EL eine äußerst heterogene Gruppe von Ländern dar. Eine weitere Untergliederung, zum Teil aus politischen Gründen, hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte ergeben. Indien und Tschad oder Sri Lanka und Sierra Leone lassen sich nicht ohne weiteres vergleichen, sie sind mit anderen Problemen konfrontiert und daher wurden weitere Einteilungen vorgenommen, insbesondere versuchte man besonders betroffene EL zusammenzufassen und ihnen Sondermittel im Rahmen der Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen. Die von der UN als EL anerkannten Länder werden als „Least Developed Countries" (LDC)24 tituliert. Dabei handelt es sich um eine Kategorie, die aus der großen Anzahl von EL die ärmsten und strukturschwächsten Länder hervorhebt, um auf den Bedarf an spezieller und spezifischer Hilfe hinzuweisen. Die Idee, eine solche Kategorie der ärmsten EL zu erstellen, wurde erstmalig 1968 auf der zweiten Konferenz der UNCTAD artikuliert. Die erste Liste der LDCs erschien 1971, in der 24 Länder namentlich erwähnt wurden. Um in die LDC-Liste aufgenommen zu werden, ist die Erfüllung bestimmter Kriterien erforderlich. Die Einstufung wird von dem Ausschuss für Entwicklungsplanung der UN dem „Commitee for Development Planing" (CDP), einem Ausschuss des ECOSOS, festgelegt, der die Aufnahme eines Landes in die Liste der LDCs bzw. seinem Ausschuss vorschlägt. Die zugrunde gelegten Kriterien haben sich im Laufe der Zeit verändert. Bis 1990 waren das PKE, der Industrieanteil am BIP und die Alphabetisierungsrate der erwachsenen Bevölkerung ausschlaggebend. Die jeweiligen Schwellenwerte und der Anwendungsmodus werden periodisch fortentwickelt. 1989 wurde bspw. festgelegt, dass ein PKE unter US$ 473, ein Anteil des Industriesektors am BIP unter 10% und einer Alphabetisierungsquote der über 15jährigen von weniger als 20%, im Regelfall eine Einstufung als LDC rechtfertigt. Dieses Klassifizierungssystem wurde regelmäßig geändert und erweitert. Derzeit müssen folgende Kriterien erfüllt sein, um als LDC eingestuft zu
24
werden:25
Anfänglich wurden die „Least Developed Countries" als LLDCs bezeichnet.
„Entwicklungsländer"
17
Was ist das? -
1. Das arithmetische Mittel
aus
drei Jahren des BIPs pro
US$ 900 befinden.
Kopf muss sich
unter
2. Ein „Human Resource Weakness"-Kriterium muss erfüllt sein. Dieses orientiert sich am „Augmented Physical Quality of Life Index" (APQLI), welche auf den Teilindikatoren Ernährung, Gesundheit der Alphabetenrate der Erwachsenen basiert. 3. Als drittes Kriterium muss eine „Economic Vulnerability" vorliegen. Diese wird gemessen mit dem Economic Vulnerability Index" (EVI), der sich zusammensetzt aus der Instabilität der Exporte, der wirtschaftlichen Bedeutung der Industrie und des modernen Dienstleistungssektors, der Instabilität der landwirtschaftlichen Produktion, der Exportkonzentration sowie der Größe des Landes26. Im Jahre 2002
galten die folgenden 49 EL als LDC: Angola, Äquatorialguinea, Äthiopien, Benin,
Burkina Faso, Guinea-Bissau, Jemen, Guinea, Burundi, Dschibuti, Eritrea, Gambia, Kap Verde, Mosambik, Mali, Mauretanien, Malawi, Lesotho, Liberia, Komoren, Madagaskar, Tome Sierund Sao Sambia, Ruanda, Senegal, Prinicipe, Kongo, Republik Niger, ra Leone, Somalia, Sudan, Tansania, Togo, Tschad, Uganda, Zentralafrikanische 35 Länder Afrikas:
Republik.
Afghanistan, Bangladesh, Bhutan, Kambodscha, Kiribati, Laos, Malediven, Myanmar, Nepal, Salomonen, Samoa, Tuvalu, 13 Länder Asiens und Ozeaniens:
Vanuatu. Ein Land Lateinamerikas: Haiti.
ungefähr 13% aller Menschen der EL und gut 10%In der die allerdings nur 0,5% des weltweiten BSP produziert. ihWeltbevölkerung, Von diesen 49 LDCs sind 17 Länder LLCs und Menschen. Mio. nen leben 610,5 SIDSs. 10 In den 49 LDCs leben
Binnenländer und Inselstaaten streben ebenfalls einen besonderen Status an, da sie resultierenden wegen ihrer ungünstigen geografischen Lage und den daraus LLCs den entsprechenden Behandlung erwarten. Transportproblemen eine weitere Deshalb das CDP Klassifizierungen gebildet und bezieht weitere Kriterien mit ein. So werden geografisch bedingte Faktoren, wie z. B. die Anfälligkeit für Naturkatastrophen und die Möglichkeiten eines Zugangs zum Meer explizit berücksichtigt. Diese LDCs werden somit in zwei Unterkategorien getrennt: 25
www.unctad.org/en/docs/poldcm72.en.pdf, Februar 2003.
26
Im Jahre 2000 wurden
nur
Länder
überstieg. (Ausnahme: Bangladesh)
aufgenommen,
deren Einwohnerzahl 75 Mio. nicht
Was ist das?
Entwicklungsländer"
18
-
•
•
Land-Locked Developing Countries reszugang verstanden. Small Island
Developing sammengefasst werden.
States
(LLC):
(SIDS),
Darunter werden EL ohne Mee-
worunter kleine Inselstaaten
zu-
Eine weitere Untergruppe bestand in den „Most Seriously Affected Countries" (MSAC), den von der Wirtschaftskrise der Jahre 1973/74 am schwersten betroffenen Länder. Kriterien waren ein niedriges PKE, eine drastische Verteuerung der Einfuhrpreise lebenswichtiger Güter im Vergleich zu den Exporteinnahmen, hohe Schuldendienstrate und geringe Devisenreserven sowie hohe Transport- und Transitkosten. Zu den MSACs zählten ursprünglich 45 Länder mit 1,3 Mrd. Menschen (36 % der Bevölkerung der Dritten Welt). Seit 1989 ist diese Gruppierung unbedeutend und spielt daher keine Rolle mehr. Die Einteilungen sind politisch, empirisch nicht überprüfbar und Ausdruck der Willkür. Zu einem großen Teil haben sich EL dadurch einen stärkeren Einfluss in der UN erhofft um höhere Transfers zu erhalten. Die wichtigste internationale Institution der Entwicklungshilfe, die Weltbank, verwendet als einziges Kriterium zur Einstufung einzelner EL das PKE. Im Weltentwicklungsbericht 2002 werden die folgenden Grenzen nach dem PKE des Jahres 2000 unterstellt.
Länder mit einem PKE bis 755 US$ zählen als Volkswirtschaften mit niedrigem Einkommen. EL mit einem PKE zwischen 756 US$ und 9.265 US$ gelten als Volkswirtschaften mittleren Einkommens. In dieser Gruppe wird nochmals unterschieden: Ab 2.995 US$ zählen Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen in die obere Kategorie, die anderen in die der unteren Kategorie. Ab 9.266 US$ werden Länder als Volkswirtschaften mit hohem Einkommen bezeichnet. In Ländern mit niedrigem Einkommen lebten im Jahre 2000 2,459 Mrd. Menschen mit einem PKE von 420 US$, das nach Kaufkraftparität 1.990 US$ beinhalten würde. Diese Länder hatten eine Wachstumsrate ihres BIP von 3,1 %. Die Lebenserwartung lag bei 59 Jahren (1999) und die Sterblichkeitsrate der Kinder unter 5 Jahren bei 116/1000 Kindern; die Analphabetenquote Erwachsener (ab 15 Jahren) lag bei 39 %. In Staaten mit mittlerem Einkommen lebten 2,693 Mrd. Menschen mit einem PKE von 1.970 US$; nach Kaufkraftparität 5.650 US$. Diese Länder hatten ein durchschnittliches Wachstum von 4,8 %, eine Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt von 69 Jahren; die Sterblichkeitsrate der Kinder unter 5 Jahren lag bei 38/1000 und die Analphabetenquote Erwachsener bei 15 %. 647 Mrd. dieser
19
Was ist das?
„Entwicklungsländer" -
Menschen gehörten zur oberen (KKP: 9.170 US$) aufwies.
die ein PKE
Kategorie,
von
4.620 US$
903 Mio. Menschen lebten in Staaten hohen Einkommens. Sie erwirtschaften ein PKE von 27.510 US$ (in KKP: 27.450 US$). Ihre Wachstumsrate betrug 3,2 %, die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt 78 Jahre. Die Kindersterblichkeitsrate der Kinder unter 5 Jahren lag bei 6/1000 Kindern. Die Weltbank teilt die EL dann noch nach regionalen Gesichtpunkten ein, z.B. den Ländern Ostasiens und des Pazifik, Europa und Zentralasien, Lateinamerika und Karibik, Naher Osten und Nordafrika, Südasien und Afrika südlich der Sahara. Die Länder niedrigen und mittleren Einkommens bspw. in Afrika südlich der Sahara hatten 659 Mio. Einwohner mit einem PKE von 480 US$ (KKP: 1.1.50 US$). Die Wachstumsrate betrug dort 0,5 %, die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt nur 47 Jahre, die Kindersterblichkeitsrat lag bei 159/1000 und die Analphabetenquote Erwachsener bei 39 %. neue Untergruppe der EL bilden die „Heavily Indebted Poor Countries" (HIPC), Länder deren Verschuldungsindikatoren kritische Schwellenwerte über-
Eine
schreiten27. Insbesondere der IWF und die Weltbank sammeln für diese Untergruppe Daten28, nachdem diese Institutionen 1996 gemeinsam eine Initiative zur
Entschuldung der entsprechenden Länder ergriffen.
Neben den oben beschriebenen Klassifizierungen der Weltbank und der UN, erstellt auch das Development Assistant Committee (DAC), der Entwicklungshilfeausschuss der OECD, eine sogenannte DAC-Liste der EL, um ein umfassendes der System zur Erfassung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit undListe zu EL dieser schaffen. An die an der DAC-Mitglieder sonstigen Leistungen orientiert sich auch die Bundesregierung. Diese Aufnahmekriterien für EL in die DAC-Liste haben sich im Laufe der Zeit deutlich geändert. Einer der ausschlaggebenden Gründe hierfür ist der Zusammenbruch der ehemals sozialistischen Staaten seit 1990. Seit Anfang des Jahres 1997 existiert eine neue DAC-Liste (DACList of Development Assistant Committee) Diese Liste ist in zwei Teile untergliedert: •
•
Teill umfasst
Entwicklungsländer und -gebiete.
Teiln enthält Länder und Gebiete, die sich im
Übergang befinden.
27 In Afrika befinden sich 34 der insgesamt 42 HIPC 28
Darunter fallen
(Stand: 02/2003).
hierzu die zweimal jährlich erscheinenden „World economic outlooks" des IMF und das jährlich erscheinende „Global development finance" der Weltbank.
Vgl.
Was ist das?
Entwicklungsländer"
20
-
die weiter fortgeschrittenen mittel- und osteuropäischen Länder (MOE) und die neuen unabhängigen Staaten der früheren Sowjetunion (NUS) sowie weitere fortgeschrittene EL. Diese Einteilung hat vor allem Auswirkungen auf die Vergabe von Mittel der EZ, da nur Länder und Gebiete der ersten Gruppe als Empfänger öffentlicher Entwicklungshilfe (ODA) in Frage kommen, während die zweite Gruppe nur öffentliche
Hilfe (OA) erhält.29
Teil I der DAC „List of Aid Recipients" enthält 49 LDCs. Neben diesen 49 Ländern, (die identisch sind mit den LDCs der UN) erhalten auch LICs, EL mit einem PKE unter 760 US$ (1998), weitere 23 Länder oder Territorien ODA. Weitere 46 LMICs (Länder mit einem PKE zwischen 761 USS-3.030 US$) haben ebenfalls Anspruch auf ODA; als letzte Gruppe werden 21 UMICs genannt, die ein PKE zwischen 3.031-9.360 US$ in 1998 erwirtschafteten. Bis zum Jahre 2002 hatten auch Malta und Slowenien Möglichkeiten ODA zu erhalten; seit dem 01.01.2003 sind sie in den Teil 2 transferiert worden. Der zweite Teil der Ländergruppe bekommt nur „Official Aid" (OA). Diese Liste besteht aus 12 Zentral- und Osteuropäischen Ländern sowie einige der NUS der ehemaligen Sowjetunion.30 Eine zweite Gruppierung bilden fortgeschrittene EL bzw. Territorien, die aus 24 Ländern bestehen, z.B. Gibraltar, Zypern, Israel, Korea
oder
Singapur.
Eine Aufzählung der Länder in den einzelnen in Tabelle LI.31
Kategorien des
DAC befindet sich
Auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) orientiert sich am Entwicklungsländerverzeichnis des DAC der OECD. Allerdings erhalten nicht alle Länder, die vom BMZ als EL anerkannt werden, öffentliche Entwicklungshilfe. Ausschlaggebend hierfür sind politische Gründe, die es dem BMZ verwehren, bestimmte Staaten zu unterstützen.
29
Verwiesen wird auf Lachmann: Wien 1999.
30
Die Zentralasiatischen NUS-Länder sind in dem ersten Teil
Entwicklungspolitik, Bd. 4: Entwicklungshilfe, München/
spruch auf ODA. 31 OECD, Development co-operation report 2002, Onlineversion,
aufgeführt
http://www.oecd.org/htm/M00024000/M00024666.htm, Februar 2003
und haben An-
21
Was ist das?
„Entwicklungsländer" -
Part I:
Developing Counties and Territories
(Official Development Assistance)_ Other LOW Income Countries
Developed Countries
Afghanistan
(per capita GNP Armenia
Angola
Bangladesh