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German Pages 168 Year 2004
GÜNTER KOHLMANN u. a. (Hrsg.)
Entwicklungen und Probleme des Strafrechts an der Schwelle zum 21. Jahrhundert
Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Herausgegeben von Günter Kohlmann, Cornelius Nestler Jürgen Seier, Michael Walter Susanne Walther, Thomas Weigend Professoren an der Universität zu Köln
Band 44
Entwicklungen und Probleme des Strafrechts an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Ringvorlesung der Strafrechtslehrerinnen und -lehrer an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln
Herausgegeben von Günter Kohlmann, Comelius Nestler Jürgen Seier, Michael Walter Susanne Walther, Thomas Weigend
Duncker & Humblot . Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrutbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Druck: WB-Druck GmbH & Co., Rieden im Allgäu Printed in Germany ISSN 0936-2711 ISBN 3-428-11324-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorwort Der vorliegende Band möchte einen Einblick in die gegenwärtige kriminalwissenschaftliche Forschung und Lehre an der Universität zu Köln vermitteln. Er versammelt die Beiträge zu einer Ringvorlesung, die im Wintersemester 2001/2002 gehalten worden ist. Die gewählten Themen spiegeln die unterschiedlichen Arbeitsbereiche der verschiedenen Autoren wider, die derzeit als Wissenschaftler oder als Praktiker aktiv in die Lehre eingebunden sind. Das Zusammenwirken von Theorie und Praxis sowie eine umsichtige Erfassung der Teildisziplinen gehören zu den Markenzeichen der Kölner Fakultät. Mit dieser Schrift wird zugleich ein Profil der dort tätigen Strafrechtslehrerinnen und -lehrer gezeichnet. Die einzelnen Darstellungen können so gesehen als eine Art Visitenkarte begriffen werden, aus der sowohl die besonderen Interessengebiete als auch spezifische Herangehensweisen an den jeweiligen Stoff erkennbar werden. Wir möchten mit unserer Veröffentlichung die Vorlesung auch denen zugänglich machen, die sie nicht hören konnten. Ermöglicht wurde das durch einen großzügigen Zuschuss des Vereins zur Förderung der Rechtswissenschaft e.V., dessen Vorstand wir auch an dieser Stelle fiir die Unterstützung herzlich danken. Für die Vorbereitung der Drucklegung und die Durchsicht und Formatierung der Manuskripte danken wir Frau cand. jur. Farina Soleimani, Frau Assessorin Yvonne Wilms sowie Frau Karin Kötting. Köln, im Friihjahr 2003
Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
I. Strafverfolgung Thomas Weigend Völkerstrafrecht. Grundsatzfragen und aktuelle Probleme ...........................
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Klaus Bernsmann Das Bild des Strafprozesses in den Medien. Versuch einer nicht nur polemischen Analyse .. ..... ....... ........ ... ... ... ...... ..... ... ... ... ......... ... ........ .....
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Bruno Terhorst Kriterien ffir konsensuales Vorgehen im Strafverfahren - freie Wahl ffir Urteilsabsprachen? ........................................................................
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Norbert Gatzweiler Die Stellung des Strafverteidigers. Mitgarant einer effektiven Strafrechtspflege oder einseitiger Vertreter der Interessen des Verteidigten? ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11. KriminalrechtIiche Konzepte
Susanne Walther Straftheorie aus der Perspektive des Opfers? Anmerkungen zum Fall Reemtsma ....
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Cornelius Nestler Strafrecht und Drogenpolitik - eine zerstörerische Allianz ................... . . . . . . .
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Jürgen Seier Die Untreue (§ 266 StGB) als "Allzweckwaffe" Günter Tondoif Gruppendynamische Prozesse in der Hauptverhandlung
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117
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Inhaltsverzeichnis III. KriminaipoUtik
Michael Walter Von den ,,Fakten" zur Kriminalpolitik: Datenaufbereitungen - Wahrnehmungen Folgerungen .......................................................................
129
Horst Viehmann Das Jugendkriminalrecht im Zugriff populistischer Politik oder kann der Jugendarrest Deutschland vor den Neo-Nazis retten? ......................................
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Sabine Nowara Probleme der Kriminalprognose - insbesondere bei vorzeitiger Entlassung aus der
Haft................................................................................
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I. Strafverfolgung
Völkerstrafrecht Grundsatzfragen und aktueUe Probleme· Thomas Weigend
I. Einleitung: Bewältigung grenzüberschreitender Kriminalität Das Attentat vom 11. September 2001 hält die Weltöffentlichkeit nach wie vor in Atem. Die militärische "Erledigung" des Problems der Duldung der Anschlagsvorbereitungen durch das Taliban-Regime in Afghanistan läßt die Fragen ungelöst, die mit der individuellen Verantwortlichkeit einzelner für die Planung und Durchführung des Attentats zusammenhängen. Nach und nach sind im Laufe der letzten Monate Tatverdächtige in verschiedenen Ländern der Welt festgenommen worden. Was soll mit ihnen geschehen? Wer ist für die Aburteilung ihrer Taten zuständig, und nach welchem Recht sollen sie beurteilt werden? Problematisch ist diese Frage deshalb, weil die Taten, anders als in Fällen der Alltagskriminalität, eine mehrfache internationale Dimension besitzen: Die meisten Tater wurden außerhalb ihrer Heimatländer tätig, der Erfolg ist in den USA eingetreten, und er hat neben Amerikanern auch Bürger vieler anderer Staaten betroffen. Zur juristischen Lösung der oben aufgeworfenen Fragen ist ein Rechtsgebiet berufen, das in der juristischen Ausbildung, aber auch in der Praxis lange Zeit ein Schattendasein geführt hat, nunmehr aber - nicht nur aufgrund der tragischen Ereignisse vom 11. September 2001 - stärker in den Blickpunkt gerückt ist: das internationale Strafrechtl. Im folgenden kann ich nicht einmal ansatzweise die zahlreichen Facetten dieses Rechtsgebiets ansprechen; vielleicht gelingt es mir aber immerhin, anband aktueller Fragen ein wenig Interesse für diese faszinierende Materie zu wecken.
* Auf dem Stand von 2002 aktualisierte und mit einigen wenigen Literaturhinweisen versehene Fassung des Vortrags vom 25. 10.2001. Für ihre wertvolle Hilfe bei der Vorbereitung der Veröffentlichung danke ich Herrn Dr. Claus Kreß und Frau Felicitas Feise!. 1 In deutscher Sprache existiert bisher hierzu mit dem Werk von Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983, nur ein einziges Hand- und Lehrbuch, das sich allerdings nicht mehr auf dem aktuellen Stand befindet. Für die Praxis maßgeblich ist das Loseblatt-Werk von Grützner / Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., das nicht nur das deutsche Gesetz über internationale Rechtshilfe mit einer Kommentierung (von Vogel, Vogler und Wilkitzki), sondern auch die für Deutschland bedeutsamen internationalen Abkommen auf diesem Gebiet sowie die Statuten der internationalen Strafgerichtshöfe enthält.
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11. Nationale und internationale Gerichtsbarkeit Zur Lösung der Frage, wie mit Straftaten und Straftätern internationaler Dimension verfahren werden soll, gibt es grundsätzlich zwei Ansätze: einen nationalen und einen internationalen. Es kann demnach (1.) einer - oder mehrere - der mit der Tat verknüpften Staaten befugt sein, die mutmaßlichen Täter vor seinen Gerichten nach seinem nationalen Strafrechf abzuurteilen, oder es kann dafür (2.) ein internationaler Strafgerichtshof zuständig sein. 1. Nationale Gerichtsbarkeit
Bis vor einigen Jahren war allein die erste dieser beiden Lösungen praktisch durchführbar. Auch bei internationalem Bezug einer Straftat gab es nur die Möglichkeit, den Täter vor das Gericht eines der (möglicherweise) betroffenen Staaten zu stellen. Für die Frage, welcher dieser Staaten als Gerichtsstand in Betracht kommt, haben sich verschiedene Anknüpfungsprinzipien herausgebildet, die sich auch in §§ 3 - 7 StGB wiederfinden. Welche dieser Prinzipien "gelten", kann nicht von jedem einzelnen Staat nach Gutdünken entschieden werden, sondern es handelt sich dabei um eine Frage des Völkerrechts: Die Aburteilung von Ausländern wegen Vorgängen, die sich auf fremdem Territorium abgespielt haben, kann von dem Heimatstaat der Betroffenen und / oder dem Staat, in dem die Tat begangen wurde3 , als unwillkommene Einmischung in seine inneren Angelegenheiten angesehen werden; sie ist deshalb nicht unbegrenzt zulässig, sondern nur dann, wenn ein anerkennenswerter Anknüpfungspunkt von Tat und / oder Täter zu dem Staat besteht, der Gerichtsbarkeit in Anspruch nimmt4 • Als solche Anknüpfungspunkte werden ohne Einschränkung der Begehungsort der Tat, und zwar sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort (vgl. §§ 3, 9 I StGB), sowie die Nationalität des Beschuldigten (vgl. § 7 n Nr. 1 StGB) angesehen5 , ferner nach überwiegender, aber nicht ganz unbestrittener Ansicht6 auch die 2 Die internationale Gerichtszuständigkeit und die Anwendung der jeweiligen lex lori im materiellen Strafrecht werden traditionell als miteinander verbunden angesehen; im strafrechtlichen Bereich gibt es also nicht die Möglichkeit, daß etwa ein deutsches Gericht in bezug auf eine im Ausland begangene Tat das materielle Strafrecht des ausländischen Begehungsortes anwendet. Selbstverständlich ist das allerdings nicht; vgl. Eser, in: Schönke / Schriider, StGB, 26. Aufl. 2001, vor § 3 Rdn. 1-3. 3 Beispiel: Ein Belgier bestiehlt in Frankreich einen Engländer. Eine Aburteilung der Tat durch deutsche Gerichte nach deutschem Strafrecht könnte zumindest in Belgien und Frankreich zu dem Vorwurf führen, Deutschland mische sich unbefugt in fremde Angelegenheiten ein. 4 So (allerdings nur) im Grundsatz zutreffend auch BGHSt 45, 65, 66. 5 Siehe Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 167 -169. Nach dem sog. Territorialitätsgrundsatz können die USA Gerichtsbarkeit über die Beteiligten an dem Anschlag vom 11. September 2001 ausüben. Soweit sie die Täter nicht selbst in ihrer Gewalt haben, können sie nach Maßgabe des anwendbaren Auslieferungsrechts vom jeweiligen Aufenthaltsstaat die Auslieferung verlangen. Zu gewaltsamen Entführungen
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Nationalität des Opfers (vgl. § 7 I StGBf. Schließlich gibt es nach verbreiteter Auffassung Delikte, die sich ihrer Art nach gegen die gesamte Völkergemeinschaft richten und die deshalb ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit der Beteiligten und auf den Tatort überall abgeurteilt werden dürfen (sog. Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip; vgl. § 6 StGB)8. Es kann also je nach den Gegebenheiten des Falles eine Mehrzahl von Staaten zur Aburteilung einer grenzüberschreitenden Straftat zuständig sein. Die Frage, ob und wie die Konkurrenz solcher "Strafansprüche", etwa zwischen Tatortstaat, Täterstaat und Opferstaat, rechtlich (und nicht, wie es meist geschieht, bloß faktisch9) zu regeln ist, harrt noch der Klärung. Bei Straftaten mit einer völkerrechtlichen Dimension, in die häufig die Machthaber eines bestimmten Territoriums involviert sind, droht allerdings in der Realität weniger ein Überangebot an Gerichtsständen, sondern es besteht vielmehr typischerweise die Gefahr, daß die Bestrafung an einem faktischen Vakuum der Strafansprüche scheitert. Man denke beispielsweise an die Greueltaten, die in den Auseinandersetzungen auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien in den neunziger Jahren verübt wurden: Die Staaten, deren Staatsangehörigkeit die Täter besaßen, zeigten kein Interesse an deren Verfolgung; die Staaten, in denen die Straftaten begangen wurden (und deren Nationalität zumeist auch die Opfer hatten), konnten der Täter nicht habhaft werden oder waren politisch zu schwach, um ein faires und erfolgversprechendes Strafverfahren gegen sie garantieren zu können. Einen Ausweg aus diesem Dilemma verspricht nur der Rekurs auf das Weltrechtsprinzip, nach dem jeder Staat, der eines Tatverdächtigen habhaft wird, die-
sem den Prozeß machen kann. Bezogen auf nationale Gerichtsbarkeit ist dieses Prinzip allerdings mancherlei Zweifeln und praktischen Problemen ausgesetzt. Um mit letzteren zu beginnen: Ein fern vom Tatort gelegener Drittstaat wird schweroder dergleichen auf fremdem Territorium berechtigt der internationale "Strafanspruch" allerdings keinesfalls; vgl. zu den damit verbundenen Rechtsfragen Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen, 2000. 6 Als völkerrechtliche Leitentscheidung hierzu wird häufig der ,,Lotus"-Fall des Ständigen Internationalen Gerichtshofs (Reeueil des Arrets Sero A, no. 10 [1927]) zitiert, der freilich die Frage, ob das sog. passive Personalitätsprinzip einen hinreichenden Ankniipfungspunkt für die Zuständigkeit bietet, gerade offenläßt; vgl. hierzu auch Weigend, in: Hohloch (Hrsg.), Recht und Internet, 2001, S. 85, 87 f. 7 Bei dem Opfer kann es sich auch um einen Staat handeln; man spricht für diese Fälle, die etwa in dem Katalog des § 5 StGB ihren Niederschlag im deutschen Recht finden, auch vom "Schutzprinzip"; S. hierzu eingehend Oehler (0. Fn. 1), S. 367 ff. 8 Zur Reichweite des Weltrechtsprinzips siehe die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs im Fall Demokratische Republik Kongo gegen Belgien V. 14. 2. 2002 (abrufbar unter www.icj-cij.org) und die eingehende Diskussion bei Kreß, Völkerstrafreeht und Weltrechtspflegeprinzip im Blickfeld des Internationalen Gerichtshofs, ZStW 114 (2002), S. 818; S. ferner die kritische Analyse von Merkei, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampfgegen das Böse?, Bd. III, 1998, S. 237. 9 Der Staat, der einen Verdächtigen in Gewahrsam hat, wird in der Regel von einer etwa vorhandenen internationalen Zuständigkeit zur Aburteilung auch Gebrauch machen.
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lich in der Lage sein, die Beweismittel für eine aussichtsreiche Strafverfolgung zusammenzubringen, selbst wenn ein Tatverdächtiger - etwa bei einem Urlaub oder einem zufälligen Zwischenstop - in Gewahrsam genommen worden ist. Andererseits führt die Anerkennung des Weltrechtsgrundsatzes in Verbindung mit dem Legalitätsprinzip (§§ 152, 160, 170 I StPO) dazu, daß die nationalen Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich dazu verpflichtet sind, jedem Verdacht und jeder Anzeige einer von dem Weltrechtsgrundsatz erfaßten Straftat aktiv nachzugehen, auch wenn der Tatort in noch so weiter Feme liegt. In Belgien, wo eine Zeitlang das Weltrechtsprinzip für Völkerrechtsverbrechen galt, wurden die Staatsanwaltschaften - nicht unvorhersehbar - mit einer Vielzahl von Strafanzeigen wegen (echter oder angeblicher) krimineller Menschenrechtsverletzungen in aller Welt überschwemmt lO • Dieses praktische Problem läßt sich nur mit Hilfe der Einräumung eines großzügigen Ermessens hinsichtlich der Aufuahme von Ermittlungen lösen - was aber seinerseits wieder den ,,Biß" des Weltrechtsprinzips schwächt. In theoretischer Hinsicht ist das Weltrechtsprinzip nach wie vor mit dem Hautgout der Einmischung in fremde Angelegenheiten behaftet. Ein Staat, der sich zum Sheriff der ganzen Welt machen wollte, indem er sich Jurisdiktion für alle Straftaten zuspricht, die irgendwo auf dem Erdball begangen werden, verstieße mit Sicherheit gegen das völkerrechtliche Prinzip der Nicht-Einmischung in die nationalen Belange anderer StaatenlI. Ein solch umfassendes Verständnis des Weltrechtsprinzips würde im übrigen auch daran vorbeigehen, daß die unmittelbar - qua Tatort oder Nationalität von Opfer oder Täter - betroffenen Staaten ein vorrangiges Interesse an der Aburteilung des jeweiligen Verbrechens besitzen. Das Weltrechtsprinzip kann folglich nur dort legitimerweise zur Geltung gebracht werden, wo sich die Tat nicht bloß gegen individuelle oder nur einen einzelnen Staat betreffende nationale Interessen richtet, sondern die Völkergemeinschaft als Ganze betrifft. (Nur) in diesem Fall hat jeder Staat das Recht, gewissermaßen als Prozeßstandschafter für die Gemeinschaft der Völker den Täter zur Rechenschaft zu ziehen 12. Er darf dies bei solchen Delikten freilich auch dann tun, wenn er keine auf Tat oder Täter bezogene spezifische Verbindung zu dem Fall vorweisen kann - da und soweit die Tat die gesamte Menschheit berührt (indem sie Grundwerte des
10 Siehe zu diesem Problem Reydams, in: Fischer/Kreß/Lüder (Hrsg.), International and National Prosecution ofCrimes under International Law, 2001, S. 799. 11 Zum Prinzip der Souveränität und der Nicht-Einmischung siehe etwa Cassese, International Law, 2001, S. 88 ff., 98 ff.; Graf Vitzthum, in: Bothe u. a., Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, S. 39 ff. 12 Man kann dann immer noch erwägen, ob die Zuständigkeit "beliebiger" Staaten fiir die Aburteilung nur subsidiär fiir den Fall gegeben sein sollte, daß die aufgrund ihrer engeren Verbindung mit der Tat primär berufenen Staaten das Verfahren nicht übernehmen können oder wollen. Aus pragmatischen Gründen dürfte sich eine strikte Beschränkung dieser Art freilich nicht empfehlen, da es sonst zu (u. U. schwer heilbaren) Venögerungen der Strafverfolgung während des Prozesses der Koordination der Zuständigkeiten kommen könnte.
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friedlichen Zusammenlebens der Volker in Gefahr bringt), ist jeder Staat gleichermaßen berufen, für die Allgemeinheit sanktionierend einzuschreiten 13 • 2. Internationale Gerichtsbarkeit
Angesichts der aufgezeigten Probleme einer in nationale Verantwortung gestellten Verfolgung grenzüberschreitender Straftaten ist der Gedanke naheliegend, neben oder über die Jurisdiktionsgewalt nationaler Gerichte zur Aburteilung solcher Taten diejenige einer supranationalen Gerichtsinstanz treten zu lassen. Da sich eine solche Instanz nicht auf nationale, sondern nur auf völkerrechtliche Autorität berufen kann, setzt deren Tätigwerden allerdings dreierlei voraus: (a) Individuen müssen nach Volkerrecht strafrechtlich verantwortlich sein;
(b) es muß völkerrechtliche Straftatbestände geben; (c) es muß ein Gerichtshof für völkerstrafrechtliche Taten existieren. Noch bis zum 2. Weltkrieg sah man keine dieser drei Bedingungen als gegeben an. Dies hat sich seither grundlegend geändert - heute sind sämtliche Voraussetzungen einer völkerstrafrechtlichen Ahndung bestimmter schwerer Verbrechen erfüllt. Zu dieser Entwicklung in aller Kürze: (a) Ursprünglich galten nur Staaten als berechtigte und verpflichtete Subjekte des Volkerrechts l4 . Schon in Art. 227 und 228 des Versailler Friedensvertrages wurde allerdings vorgesehen, daß ein internationales Tribunal für "acts in violation of the laws and customs of war" seitens der deutschen Militärs (einschließlich Kaiser Wilhelm 11.) eingerichtet werden sollte. Dazu kam es jedoch letztlich nicht. Man beschränkte sich darauf, einige deutsche Offiziere vor dem Reichsgericht anzuklagen, das jedoch nur sechs Angeklagte zu relativ milden Strafen verurteilte, die zum Teil gar nicht vollstreckt wurden lS . Nach dem 2. Weltkrieg wurde jedoch die Idee der individuellen Verantwortlichkeit wegen völkerrechtlicher Verbrechen wiederbelebt. Sie führte u. a. zur Einrichtung des Internationalen Militärtribunals durch das Londoner Statut der Siegennächte16 und dem darauf basierenden Nüm13 In diesem Sinne auch Ambos, NStZ 1999, 404; Eser, in: Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis (Festschrift für Meyer-Goßner), 2001, S. 3; Lagodny/Ni/I-Theobald, IR 2000, 205; Werle, JZ 1999, 1181, alle gegen die einen ,,nationalen" Anknüpfungspunkt verlangende Rechtsprechung des BGH, insbesondere BGHSt. 45, 64, 65 f. Im Sinne des Textes jetzt auch vorsichtig BGH NStZ 2001,658,662 (zustimmend Ambos, NStZ 2001, 630; Hilgendorf, IR 2001,83), und eindeutig § I VStGB. 14 Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 28 f. 15 Einzelheiten bei von Seile, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 19 (1997), S. 193 (der hervorhebt, daß die Leipziger Prozesse ungeachtet aller - auch politisch bedingter Mängel insoweit von grundsätzlicher Bedeutung waren, als das Reichsgericht bei den Angeklagten eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit unmittelbar nach Völkerrecht als gegeben ansah); s. auch Bassiouni, in: Ascensio/Decaux/Pellet (Hrsg.), Droit International Penal, Paris 2000, S. 635 ff.
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berger Prozeß gegen die deutschen Hauptverantwortlichen für Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit l7 .
(b) Mit der Schaffung des Londoner Statuts wurde auch das zweite Problem zumindest ansatzweise gelöst: Das Statut enthält in seinem Artikel 6 drei einigermaßen deutlich definierte Verbrechenstatbestände, die der Gerichtsbarkeit des Militärtribunals unterliegen: Verbrechen gegen den Frieden (Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs), Kriegsverbrechen l8 und Verbrechen gegen die Menschlichkeit l9 . Die völkerrechtliche Geltung dieser drei Tatbestände wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1946 bestätigf°. Die vier Genfer Abkommen von 1949 zum humanitären Völkerrechr 1 faßten dann das Recht des bewaffneten Konflikts jenseits des Bereichs der Kampffiihrung (insbesondere den Schutz von Zivilpersonen, Kriegsgefangenen, Verwundeten sowie neutralen Hilfseinrichtungen) zusammen und entwickelten es im Lichte der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs fort. Die Genfer Abkommen begründeten insbesondere für bestimmte Kriegsverbrechen (die sog. schweren Verletzungen) ausdrücklich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur strafrechtlichen Ahndung oder zur Auslieferung an einen anderen, zur Ahndung bereiten Staar2 . Ferner statuierte die Genozid-Konvention von 1948 das (internationale) Verbrechen des Völkermordes (auch in Friedenszeiten) und stellte dafür eine Strafverpflichtung auf, die sich dem Wortlaut nach allerdings auf den Staat begrenzt, in dem die Tat begangen wurde23 . In deutscher Fassung abgedruckt bei Ahlbrecht (0. Fn. 14), Anhang m. Eingehend zu den damit verbundenen Rechtsfragen Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Vo1kerstrafrecht, 1952. 18 Es handelt sich dabei um "Verletzungen der Kriegsgesetze oder -gebräuche", im wesentlichen um Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907. Diese Verstöße waren in der Landkriegsordnung selbst nicht ausdrücklich als - internationale - Verbrechen normiert; die Staaten, die dem ,,Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs" beitraten, wurden nach dessen Art. 1 lediglich zum innerstaatlichen Erlaß entsprechender "Verhaltungsmaßregeln" an ihre Armeen verpflichtet. 19 Ob diese Regelung mit dem Rückwirkungsverbot in Einklang stand, war höchst streitig und ist bis heute umstritten; s. dazu Ahlbrecht (0. Fn. 14), S. 74 ff.; Ambos, StV 1997, 39, 40 f. 20 Res. 95 (I) v. 11. 12. 1946 (abgedruckt in: MacDonaldISwaak-Goldmann, Substantive and Procedural Aspects of International Criminal Law, Bd. 11 / 1, 2000, S. 79). 21 Die Genfer Abkommen mit ihren beiden Zusatzprotokollen und anderen für das Recht der Kriegsverbrechen bedeutsamen Texten sind abgedruckt in: Roberts I Gue/ff. Docurnents ofthe Laws ofWar, 3. Aufl. 2000; deutsche Übersetzung des III. und IV. Genfer Abkommens und der Zusatzprotokolle auch in Sartorius 11 unter Nr. 53 bis 54b. 22 Siehe z. B. Art. 129, 130 des III. Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen; Art. 146, 147 des IV. Genfer Abkommens zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten; siehe auch Art. 85, 86 des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte. 23 Siehe Art. VI der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Volkermordes v. 9. 12. 1948 (abgedruckt in Sartorius 11 unter Nr. 48). Aus der Beschränkung der Strafpflicht in der Konvention wurde aber mit Recht nicht der Schluß gezogen, daß eine Anwendung des 16
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All diese Konventionen sind fast universell anerkannt, ihr wesentlicher Inhalt ist Volker(gewohnheits)recht geworden. (c) Ungelöst blieb jedoch zunächst das Problem der Gerichtsbarkeit. Es fehlte nicht an Versuchen, einen Weltstrafgerichtshof für die "Nürnberger Verbrechen" und/ oder die Kriegsverbrechen zu schaffen24 ; gerade die Erfahrungen mit den als einseitig empfundenen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio machten jedoch eine Realisierung dieses Vorhabens schwierig, und der Kalte Krieg ließ eine universelle Einigung auf einen Strafgerichtshof mit Gerichtsbarkeit über alle Nationen als gänzlich illusionär erscheinen. Eine überraschende Wendung nahm die scheinbar festgefahrene Debatte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Erschütterung der Weltöffentlichkeit über die Verbrechen, die in den jugoslawischen Auseinandersetzungen, gewissermaßen vor laufender Fernsehkamera, begangen wurden, ließen den Ruf nach der Schaffung eines supranationalen Tribunals unüberhörbar werden, und schon im Jahre 1993 wurde - als friedenserhaltende Maßnahme nach Kap. 7 der UN-Charta - durch Beschluß des Sicherheitsrats der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien geschaffen25 . Ein Jahr später folgte die Einrichtung eines ähnlichen Tribunals zur Aburteilung der Verbrechen in Ruanda26 . Die Statuten der beiden Gerichtshöfe27 bestätigten den international konsentierten Bestand der materiellen völkerrechtlichen Verbrechen mit Ausnahme des (insoweit auch nicht notwendigen) Angriffskriegs: Volkennord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, d. h. Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen28 • Weltrechtsprinzips (also die Annahme eines Rechts zur Ahndung durch andere Staaten) auf das Verbrechen des Völkermordes etwa unzulässig sei; s. BGHSt. 45, 64, 66-68. 24 Bereits 1952 wurde im Anschluß an frühere Vorarbeiten von der International Law Commission der Vereinten Nationen ein ,,Draft Statute for an International Criminal Court" vorgelegt. Die Arbeiten daran gerieten aufgrund der weltpolitischen Lage, insbesondere wegen der Uneinigkeit hinsichtlich einer Definition des Angriffskriegs, jedoch bald ins Stocken. Näher zur Entwicklung der Bemühungen bis zum Beginn der neunziger Jahre Ahlbrecht (0. Fn. 14), S. 138 ff.; Bassiouni. in: AscensiolDecauxlPellet (0. Fn. 15), S. 651 ff. 2S Aus der reichen Literatur zum Jugoslawien-Gerichtshof siehe Bassiouni I Manikas. The Law of the International Criminal Tribunal of the Former Yugoslavia, 1996; Jones. The Practice of the International Criminal Tribunals for the former Yugoslavia and Rwanda, 2. Aufl. 2000; Kreß. in: GrütznerlPötz (0. Fn. 1), Bd. 4, m.27; Oosthuizen. in: May u.a (Hrsg.), Essays on ICTY Procedure and Evidence, den Haag 2001; Uertz-Retzlaff, in: Fischer I Lüder (Hrsg.), Völkerrechtliche Verbrechen vor dem Jugoslawien-Tribunal, nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof, 1999. 26 Siehe dazu MorrislScharj. The International Criminal Tribunal for Rwanda, 1998. Die Rechtsprechung des Ruanda-Tribunals bis 1999 ist gesammelt in: Klip I Sluiter (Hrsg.), Annotated Leading Cases ofInternational Criminal Tribunals, Bd. 11, 200l. 27 Die Statuten der beiden ad hoc-Gerichtshöfe sind abgedruckt bei Grützner I Pötz (0. Fn. 1), m.27, m.27a. 28 Siehe Art. 2 - 5 Statut des Jugoslawien-Gerichtshofs, Art. 2 - 4 Statut des Ruanda-Gerichtshofs. 2 Ringvorlesung
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Zu Beginn seiner Tätigkeit hatte der Jugoslawien-Gerichtshof mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Vereinten Nationen hatten nur bescheidene Finanzmittel bewilligt, die Arbeit der international besetzten Spruchkörper und der Anklagebehörde mußte erst organisiert werden, und vor allem: es fehlten die Angeklagten. In dem jugoslawischen Reststaat schützte Präsident Milosevic die als Kriegsverbrecher Gesuchten, und auch Kroatien verweigerte unter Präsident Tudjman faktisch die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof!9. Erst nach und nach gelang es, Verantwortliche der mittleren Ebene vor das Haager Tribunal zu bringen - wobei das Recht des Gerichtshofs, von jedem Staat ohne weitere Voraussetzungen die Überstellung von Beschuldigten zu verlangen, durchaus hilfreich w~o. Ab 1996 wurden dann die ersten Hauptverhandlungen durchgeführt, und der Gerichtshof ebenso wie die Anklagebehörde gewannen, auch aufgrund der ausgewogenen und sorgfältig begründeten Entscheidungen31 , rasch an politischem Gewicht und juristischer Autorität. Einen der Höhepunkte bei dem mühevollen und auch für die Prozeßbeteiligten oft überaus belastenden Versuch, die Greuel der verschiedenen ethnischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien juristisch aufzuarbeiten, stellte die Einleitung des derzeit noch andauernden Verfahrens gegen Slobodan Milosevic dar. In gewisser Hinsicht ist der Jugoslawien-Gerichtshof ein Opfer seines eigenen Erfolges: Aufgrund der verbesserten Zusammenarbeit mit den derzeitigen Regierungen in den jugoslawischen Nachfolgestaaten leidet der Gerichtshof unter starker Überlastung, mit der Folge einer oft sehr langen Verfahrensdauer. Man versucht der Probleme u. a. durch Strafmaßvereinbarungen mit den Angeklagten, aber auch durch die Ernennung von ad hoc-Richtern Herr zu werden32 • Der Erfolg des Jugoslawien-Gerichtshofs ermutigte die Völkergemeinschaft, einen neuen Anlauf zur Schaffung eines allgemeinen Internationalen Strafgerichtshofs zu nehmen33 . Dieser Anlauf war dadurch erschwert, daß ein solcher allgemeiZu den schwierigen Arbeitsbedingungen siehe Wdspi, NJW 2000, 2449. Art. 9 II Statut des Jugoslawien-Gerichtshofs bestimmt, daß bei gleichzeitiger Zuständigkeit der Gerichtshof Vorrang vor den nationalen Gerichten genießt. Einer der ersten Angeklagten vor dem Jugoslawien-Gerichtshof, der Serbe Dusko Tadic, war zunächst in Deutschland festgenommen worden und wurde auf Ersuchen des Haager Gerichtshofs dorthin überstellt. Siehe zur Frage der Zuständigkeit die Entscheidung der Appeals Chamber vom 2. 10. 1995 in der Sache Prosecutor v. Tadic, Nr. 49 ff. (abgedruckt in: Klip/Sluiter [Hrsg.], Annotated Leading Cases ofIntemational Tribunals, Bd. 1,1999, S. 33). 31 Die Anklagebehörde war von Anfang an darum bemüht, Personen aus allen beteiligten ethnischen Gruppen vor Gericht zu stellen, um den Vorwurf der Einseitigkeit zu Lasten der Serben zu vermeiden. Die Entscheidungen des Jugoslawien-Gerichtshofs sind über das Internet zugänglich (www.un.orglicty) und werden zum größeren Teil in der von Klip/Sluiter herausgegebenen Sammlung ,,Annotated Leading Cases of International Criminal Tribunals" (bisher 4 Bände seit 1999) mit Anmerkungen veröffentlicht. 32 Vgl. Wäspi, NJW 2000, 2449, 2455. 33 Zu den Vorarbeiten s. die Beiträge von Crawford, Bos, Kirsch und Robinson, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), Tbe Rome Statute of the International Criminal Court: A Commen29
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ner, ständiger Gerichtshof nicht, wie die ad hoc-Tribunale, als Maßnahme zur Erhaltung des Weltfriedens durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingesetzt werden, sondern nur in Fonn eines völkerrechtlichen Vertrages durch Konsens möglichst vieler Staaten zustande kommen konnte. Nach relativ kurzer Vorlaufzeit sollte der Versuch einer Einigung auf einer diplomatischen Konferenz in Rom im Sommer 1998 gewagt werden, und er war letztlich - obwohl das Ergebnis bis zuletzt "auf der Kippe" stand - auch erfolgreich. Die Annahme eines Statuts für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) durch die große Mehrzahl der vertretenen 148 Staaten war "the beginning of a new phase in the history of international criminal justice,,34. Diese gemeinsame Kraftanstrengung der Staatengemeinschaft zur Bekämpfung völkerrechtlicher Verbrechen hat erstmals eine supranationale Instanz geschaffen, die Völkennord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen3s (auch) dann aburteilen kann, wenn kein einzelner Staat dazu willens oder in der Lage ist. Im Sommer 2002 konnte das Statut in Kraft treten, nachdem mehr als 60 Staaten das Dokument ratifiziert hatten, und im April 2003 ist der Gerichtshof in Den Haag erstmals zusammengetreten. Der materiellrechtliche wie auch der prozeßrechtliche Teil des Statuts stellen, wie man es nicht anders erwarten kann, einen Kompromiß zwischen den zahlreichen an der Ausarbeitung beteiligten Staaten dar und vennögen deshalb aus deutscher Sicht nicht in allen Punkten zu überzeugen. Bei der Beschreibung der Deliktstatbestände fällt beispielsweise die Vagheit mancher Definitionen auf'6. Einige Fragen, über die man sich nicht einigen konnte, sind einfach offengelassen tary, Bd. I, Oxford 2002, S. 23 ff.; Lee (Hrsg.), The International Criminal Court. The Making of the Rome Statute, 1999; ferner die Dokumentation in Bassiouni, The Statute of the International Criminal Court: A Documentary History, 1998. Erste Kommentierungen zu dem Statut sind die Werke von CasseselGaetalJones (a. a. 0.) und Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute ofthe International Criminal Court, 1999. 34 So der Vorsitzende des Redaktionskomites des Statuts, Bassiouni, in: Triffterer (0. Fn. 33), S.XXI. Der Text des Statuts ist mit deutscher Übersetzung abgedruckt in BT-Drucks. 14/2682 und in GrütznerlPötz (0. Fn. 1), III.26. Aus der deutschen Literatur zum Römischen Statut siehe vor allem Kreß, Vorbemerkungen zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, in: GrütznerlPötz (0. Fn. 1), Bd. IV, Vor III.26; ferner Ambos, ZStW 111 (1999), S. 175; Bruer-Schäfer, Der Internationale Strafgerichtshof, 2001; Fastenrath, JuS 1999, 632; Jescheck, Festschrift für Mangakis, 1999, S. 483; Lagodny, ZStW 113 (2001), S. 800; Seidel/Stahn, Jura 1999, 14; Triffterer, ZStW 114 (2002), S. 321, 355 ff. 3S Auf diese Delikte ist die Zuständigkeit des IStGH nach Art. 5 - 8 seines Statuts zunächst beschränkt. Das Verbrechen der Aggression (Angriffskrieg) ist zwar in Art. 5 I lit. d des Statuts ebenfalls genannt, der IStGH kann sich aber erst dann mit solchen Fällen beschäftigen, wenn die Mitgliedstaaten sich auf eine Begriffsbestimmung geeinigt haben (Art. 5 II IStGH-Statut). 36 So wird etwa die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeordnete "Persecution" in Art. 7 (1) (h), (2) (g) des Statuts definiert als "intentional and severe deprivation of fundamental rights contrary to international law by reason of the identity of the group or collectivity" - eine Formulierung, die mit den Erfordernissen von Art. 10311 GG hinsichtlich der Bestimmtheit von Strafnormen kaum in Übereinstimmung zu bringen ist. 2·
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oder durch bewußt unscharfe "diplomatische" Formulierungen konsensf8hig gemacht worden37 • Das Verfahren ist im Statut nur in seinen wesentlichen Zügen normiert; die Details hat man der Regelung in einer (inzwischen von der Versammlung der beteiligten Staaten verabschiedeten) Verfahrensordnung (Rules of Procedure and Evidence?8 überlassen. Trotz dieser Mängel ist das Statut aber eine erstaunlich gut konstruierte, jedenfalls brauchbare Grundlage für die Tätigkeit eines Internationalen Strafgerichtshofs. Ein ernsthaftes Hindernis für die Erfolgsaussichten des IStGH bildet allerdings die ablehnende Haltung der USA, die sich im Laufe des Jahres 2002 noch verschärft hat. Die USA waren zwar an den Verhandlungen über das Statut des Gerichtshofs aktiv beteiligt, stimmten ihm dann jedoch (ebenso wie China, Israel, Irak und ein paar weitere arabische Staaten) nicht zu. Präsident Bill Clinton unterschrieb Ende 2000, kurz vor Schluß seiner Amtszeit, schließlich doch noch das Statut, aber sein Nachfolger George W. Bush zog die amerikanische Unterschrift im Jahre 2002 wieder zurück. Schließlich führten die USA eine Resolution des UN-Sicherheitsrates herbei, durch die TeiInehmer an Militäreinsätzen, die mit einem Mandat der Vereinten Nationen ausgeführt werden, der Gerichtsbarkeit des IStGH von vornherein entzogen sind, wenn sie aus einem Staat kommen, der dem Statut des IStGH nicht beigetreten is~9. Der wesentliche Streitpunkt zwischen den USA und den Nationen, die hinter dem IStGH stehen, ist die Reichweite der Zuständigkeit des Gerichtshofs40 • Nach Art. 12 11 lit. a des Statuts ist der IStGH unter anderem dann für die Aburteilung völkerrechtlicher Verbrechen zuständig, wenn diese auf dem Gebiet eines Staates begangen werden, der dem Statut beigetreten ist - unabhängig von der Nationalität des Tatverdächtigen. Dies bedeutet, daß beispielsweise US-amerikanische Soldaten, die bei einem Auslandseinsatz in einem Unterzeichnerstaat des Statuts tätig werden, vor dem IStGH wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden können, ohne daß die USA dagegen grundsätzliche Einwände geltend machen könnten. Besonders groß ist die Gefahr ungerechtfertigter Strafverfolgung freilich nicht: Bevor ein Angeklagter vor Gericht gestellt werden kann, muß zunächst die unabhängige An37 Einige Beispiele aus dem Bereich des Allgemeinen Teils werden bei Clark, ZStW 114 (2002), S. 372, dargestellt und diskutiert. 38 Abgedruckt in CasseselGaetalJones (0. Fn. 33), Bd. III; Grütznerl Pötz (0. Fn. 1), Bd. IV, I1I.26. 39 S/RESI 1422 v. 12.7.2002. Bezugspunkt dieser Resolution ist Art. 16 des IStGH-Statuts, wonach der UN-Sicherheitsrat den Gerichtshof durch eine Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta für einen Zeitraum von 12 Monaten an der Aufnahme oder Fortführung von Verfahren hindern kann. Diese Regelung war allerdings nur für die Lösung akuter politischer Krisen gedacht, nicht für den generellen Ausschluß der Angehörigen bestimmter Staaten von der Gerichtsbarkeit des IStGH; siehe Bergsmo I Pejic, in: Triffterer (0. Fn. 30), Art. 16 notes 10,23. 40 Siehe im einzelnen Kaul, in: Fischer I Kreß I Lüder (0. Fn. 10), S. 21; zur aktuellen Haltung der USA Kreß, Blätter für deutsche und internationale Politik 2002, 1087 (mit Nachweisen auch zur amerikanischen Literatur).
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klagebehörde beim IStGH in Übereinstimmung mit einer ebenfalls unabhängigen Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs das Vorliegen einer ,,reasonable basis" für Ermittlungen bejahen und solche Ermittlungen durchführen (Art. 15 III und IV, 53 IStGH-Statut); dann muß die Vorverfahrenskammer die gesammelten Beweise prüfen und entscheiden, ob sie die Eröfihung eines Hauptverfahrens rechtfertigen (Art. 61 IStGH-Statut). Außerdem besteht der Grundsatz der Subsidiarität des IStGH: Ein Verfahren vor dem Gerichtshof ist unzulässig, wenn bereits ein nationales Gericht oder eine Strafverfolgungsbehörde mit dem Fall befaßt ist oder war, es sei denn, der betreffende Staat ist zur Durchführung eines ernsthaften Verfahrens nicht willens oder nicht in der Lage (Art. 17 IStGH-Statut). Betrachtet man all diese Voraussetzungen, so erscheint die Befürchtung der USA, ihre Soldaten könnten aus Rachsucht oder Willkür von Drittstaaten an den IStGH ausgeliefert und dort grundlos verurteilt werden, sehr weit hergeholt. Unabhängig von dem Streit mit den USA kann man freilich erwägen, ob das Subsidiaritätsmodell, für das sich die Signatarstaaten des IStGH entschieden haben, sachgerecht ist. Als Alternativen kämen zum einen eine alleinige oder vorrangige Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs - wie sie für das Jugoslawien- und das Ruanda-Tribunal besteht - und zum anderen das Prinzip der Freiwilligkeit der Unterwerfung unter seine Jurisdiktion (generell oder für den Einzelfall) in Betracht. Ersteres hätte den Vorteil, daß der Gerichtshof die Zentralfiguren eines bewafiheten Konflikts insgesamt und koordiniert aburteilen kann. Voraussetzung des Funktionierens einer solchen Regelung ist jedoch nicht nur die a priori-Unterwerfung aller potentiell betroffenen Staaten unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs, sondern darüber hinaus deren Pflicht zur "vertikalen" Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof, d. h. zur Leistung von Rechtshilfe, einschließlich der ÜbersteIlung ihrer Bürger zur Aburteilung41 • Es leuchtet ein, daß eine solche Lösung nur dann zustande kommen kann, wenn - wie im Fall Jugoslawien - die Verteilung der Rollen vor dem Gerichtshof zwischen den beteiligten Staaten einigermaßen klar ist; kaum ein Staat wird sich auf eine derart weitreichende Preisgabe seiner souveränen Rechte einlassen, wenn er ernsthaft damit rechnen muß, daß sich seine eigenen Bürger alsbald auf der Anklagebank wiederfinden. Den USA schwebt demgegenüber eine Regelung vor, nach der der Gerichtshof nur dann zuständig ist, wenn sich die betroffenen Staaten in jedem Einzelfall seiner Jurisdiktion unterwerfen. Damit wäre ein Höchstmaß an Freiwilligkeit gewahrt - und gleichzeitig der Gerichtshof zur Untätigkeit verdammt. Jedenfalls könnte er seiner Aufgabe, die Wahrung der minimalen Menschenrechte auch in bewafiheten Konflikten zu sichern und deren Verletzung wirksam zu ahnden, nicht nachkommen, denn es ist abzusehen, daß gerade die möglichen "Täternationen" ihre Zustimmung zur Aburteilung ihrer Staatsangehörigen verweigern würden. Es zeigt sich also, daß die in Art 17 IStGH-Statut angenommene Subsidiaritätslösung diejenige ist, die die Souveränität der Staaten so weit wie möglich schont, 41
So ist dies auch nach Art. 29 des Statuts des Jugoslawien-Gerichtshofs vorgesehen.
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ohne doch dem Internationalen Strafgerichtshof jede Chance zu einer effektiven Rechtsdurchsetzung zu nehmen. Sie hat gleichzeitig den Vorteil, den Staaten einen Anreiz zur Verfolgung der ihnen zugänglichen Täter zu geben (ohne daß die Staaten andererseits ausdrücklich verpflichtet sind, die im Statut definierten Verbrechen nach ihrem nationalen Recht unter Strafe zu stellen).
111. Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch 1. Die :Bundesrepublik Deutschland hat das IStGH-Statut im Jahre 2000 ratifiziert42 • Sie hat sich damit zur kooperativen Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet, insbesondere zur ÜbersteIlung von Beschuldigten und zur Leistung von Rechtshilfe. Um diese Verpflichtungen auch durch innerstaatliches Recht abzusichern, wurde zum einen durch eine Verfassungsänderung in Art. 16 11 GG die Möglichkeit der ÜbersteIlung deutscher Staatsangehöriger unter anderem an internationale Strafgerichtshöfe ausdrücklich vorgesehen43 , zum anderen durch ein eigenes Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof"4 die Voraussetzungen für die Leistung von Rechtshilfe geregelt. Ungeklärt blieb dabei allerdings die eher theoretisch als praktisch relevante Frage, ob ein ÜbersteIlungsersuchen seitens des IStGH etwa auch Vorrang vor der verfassungsrechtlich garantierten Immunität und Indemnität von Abgeordneten hat (Art. 46 I, 11 GG), ob also - um ein immerhin denkbares Beispiel zu bilden - ein Abgeordneter des Bundestages an den IStGH zu überstellen wäre, wenn ihm vorgeworfen wird, im Rahmen einer Bundestagsdebatte zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit angestiftet zu haben. Volkerrechtlich ist an einer ÜbersteIlungspflicht nicht zu zweifeln, da Art. 27 11 IStGH-Statut Immunitäten nach nationalem Recht ausdrücklich als wirkungslos ansieht. Zu einer Änderung der Verfassung im Hinblick auf diesen Sonderfall mochte man sich dennoch nicht entschließen; es ist jedoch davon auszugehen, daß nach Art. 24 GG das Statut Anwendungsvorrang gegenüber den nationalen Privilegien für Abgeordnete besitzt4s . 2. Von größerer Bedeutung als die Schaffung der "technischen" Voraussetzungen einer Zusammenarbeit mit dem IStGH war die Frage, ob und gegebenenfalls wie die materiellrechtlichen Inhalte des IStGH-Statuts in das nationale deutsche Recht zu übertragen sind. Dabei geht es in erster Linie um den ,,Besonderen Teil" BGBI. 2000 II, S. 1393. BGBI. 2000 I, S. 1633. Ob dieser Schritt notwendig war oder ob die Überstellung schon nach der früheren Fassung des Grundgesetzes (insbesondere aufgrund von Art. 24 GG) möglich gewesen wäre, ist streitig; s. hierzu Bausback, NJW 1999, 3319; Jarasch/Kreß, in: Kreß/Lattanzi (Hrsg.), The Rome Statute and Domestic Legal Orders, Bd. I, 2000, S. 91, 99; Schmalenbach, Archiv des Völkerrechts 1998,285; Uhle, NJW 2001,1889; Zimmermann, JZ 2001,233. 44 Art. 2 des Ausfiihrungsgesetzes zum Römischen Statut (BGBI. 2002 I, S. 2144). 45 So die Ansicht der Bundesregierung (BT-Drucks. 14/8527 S. 96), s. dazu auch (kritisch) Kreß (0. Fn. 34); Walter, EuGRZ 2000,303. 42 43
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des Statuts, also um die dort spezifizierten völkerrechtlichen Verbrechen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß - neben dem ohnehin in § 220a StGB a. F. ausdrücklich unter Strafe gestellten Völkermord46 - auch Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, also z. B. die Tötung, sexuelle Nötigung, Versklavung oder Vertreibung von Zivilpersonen im Zuge eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs47 , bereits vom geltenden deutschen Strafrecht (etwa nach §§ 211, 177,239,240 StGB) erfaßt sind, so daß sich eine besondere Inkriminierung erübrigen könnte48 • Außerdem ließe sich auf den Umstand verweisen, daß die genannten Handlungen ohnehin bereits nach Völkerstrafrecht unter Strafe stehen. Dennoch war es richtig, daß sich die Bundesregierung entschlossen hat, die Materie im Zusammenhang neu zu regeln49 • Die oben genannten Gegenargumente wiegen nicht schwer: Eine Inkriminierung nach Völker(gewohnheits)recht genügt schon nicht den formellen Anforderungen an eine deutsche Strafnorm nach Art. 103 11 00, und das IStGH-Statut selbst ist nicht als nationales Recht anwendbar. Außerdem ist es zwar richtig, daß die meisten (nicht alleso) in Art. 6-8 IStGH-Statut aufgeführten Verhaltensweisen auch in Deutschland strafbar sind, so daß die Befürchtung nicht wirklich begründet wäre, Deutschland könnte ohne Neu-Kodifizierung nicht "in der Lage" sein, diese Taten zu bestrafen, und damit nach Art. 17 IStGH-Statut die subsidiäre Zuständigkeit des IStGH auslösen. Die Behandlung solcher Taten als "schlichter" Totschlag, sexuelle Nötigung, Freiheitsberaubung usw. würde jedoch daran vorbeigehen, daß diese Verhaltensweisen, wenn sie im Kontext von Angriffen gegen ganze Bevölkerungsgruppen oder unter Verletzung des Kriegsvölkerrechts begangen werden, eine neue, besondere Dimension erhalten: Sie richten sich dann nicht mehr nur gegen Individuen, sondern gegen grundlegende Interessen der VölkergemeinschaftsI. Diese besondere Qualität der völkerrechtlichen Verbrechen hat konkrete Konsequenzen. Sie liegen zum einen, wie schon oben bemerkt, darin, daß für sie das Weltrechtsprinzip gilt: Da diese Taten gegen die Völkergemeinschaft als Ganze gerichtet sind, kommt es nicht auf den Begehungsort oder auf die Staatsangehörigkeit des Taters an, sondern jeder Staat kann die Ahndung zugunsten der Gesamt46 Hinsichtlich des im IStGH-Statut immerhin als "Merkposten" enthaltenen Verbrechens der Aggression enthalten §§ 80, 80a StGB eine partielle Stratbarkeit, nämlich nur für die Vorbereitung und Anstachelung, nicht für die Kriegsführung selbst. 47 Vgl. Art. 7 IStGH-Statut. 4S In diese Richtung geht etwa die Argumentation von Dietmeier, Gedächtnisschrift für Meurer, 2002, S. 333, 335 f., der ein V6lkerstrafgesetzbuch deshalb für bloß "symbolische Gesetzgebung" hält. 49 Eingehend hierzu Kreß, Vom Nutzen eines deutschen V6lkerstrafgesetzbuchs, 2000; Werle, JZ 2000, 755. so Zu Stratbarkeitslücken siehe Kreß (0. Fn. 49), S. 10-13. SI Ebenso Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuchs, 2001, S. 21.
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heit der Staaten übernehmen. Ferner sollte der besondere - in der Regel höhereUnrechtsgehalt von Tötungen, Verletzungen, Freiheitsberaubungen usw. im völkerstrafrechtlichen Kontext auch bei der Sanktionsandrohung und -bemessung berücksichtigt werden. Es ließen sich gewiß gesetzgebungstechnische Wege finden, diese Besonderheiten innerhalb des Strafgesetzbuchs durch Sondervorschriften zum Ausdruck zu bringen; mehr spricht allerdings dafür, die gesamte Materie im Zusammenhang in einem Sondergesetz zu regelnS2 . Diesen Weg ist der deutsche Gesetzgeber letztlich auch gegangen. 3. Am 30. 6. 2002 ist das VölkerstrafgesetzbuchS3 (VStGB) in Kraft getreten, dessen Ziel und Gegenstand die Umsetzung des materiellrechtlichen Teils des IStGH-Statuts in deutsches Recht ist. Dieses Gesetz ist die Frucht einer erfolgreichen interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Völkerrechtlern und Strafrechtlern, Wissenschaftlern und Ministerialbeamten. Eine Arbeitsgruppe aus etwa 15 Personen, die das Bundesjustizministerium im Jahre 1999 einsetzte, hat im Laufe von 18 Monaten einen EntwurfstextS4 erarbeitet, der schließlich mit geringen Abweichungen Gesetz geworden ist. Die Arbeitsgruppe folgte dem Konzept, den aus drei Tatbestandskomplexen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) bestehenden ,,Besonderen Teil" (§§ 6-14 VStGB) in enger Anlehnung an die entsprechenden Vorgaben des IStGH-Statuts, zum Teil aber auch unter Einbeziehung anderer völkerrechtlicher Instrumente selbständig zu formulieren und diese Tatbestände dann möglichst bruchlos in das allgemeine deutsche Strafrecht einzupassen. Dieses Ziel kommt in § 2 VStGB zum Ausdruck, wonach auch auf völkerstrafrechtliche Taten "das allgemeine Strafrecht" Anwendung findet, soweit nicht eine von nur vier Sonderregelungen relevant wird: die Anwendung des Weltrechtsgrundsatzes (§ 1 VStGB), die UnveIjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen (§ 5 VStGBi s, die Verantwortlichkeit militärischer und ziviler Befehlshaber für Taten ihrer Untergebenen, die sie bewußt (§ 4 VStGB) oder fahrlässig (§ 13 VStGB) nicht verhindert haben, sowie die Straflosigkeit bei Ausführung eines verbindlichen und nicht offensichtlich rechtswidrigen Befehls (§ 3 VStGB). Auf einen darüber hinausgehenden Allgemeinen Teil konnte man, auch nach genauer Prüfung der im IStGHStatut enthaltenen Regelungen, letztlich verzichten. Trotz mancher abweichender Näher zu den Gründen für diese Lösung Kreß (0. Fn. 49), S. 18 - 33. BGBI. 2002 I, S. 2254. s. dazu Satzger, NStZ 2002, 125; Wer/e, JZ 2001,885; Wer/ei Jeßberger, JZ 2002, 725; Zimmermann, ZRP 2002, 97. S-4 Siehe BMJ 2001 (0. Fn. 51), S. 21. 55 Die UnveIjährbarkeit war durch Art. 29 IStGH-Statut als völkerrechtliche Regel nahegelegt. Die Übernahme dieser Vorgabe führt zu gewissen Friktionen mit den Regelungen des nationalen Rechts, die außer bei Mord und Völkermord selbst bei schweren Straftaten nach einigen Jahren VerfolgungsveIjährung eintreten lassen. Allerdings liegen die Fristen bei den mit hohen Freiheitsstrafen bedrohten Verbrechen im Bereich von 20 bzw. 30 Jahren (§ 78 III Nr. I und 2 StGB), so daß der praktische Unterschied zur UnveIjährbarkeit gering ist. Bei den beiden Vergehenstatbeständen des VStGB (§§ 13, 14 VStGB) gelten die allgemeinen VeIjährungsfristen. Vgl. hierzu auch BT-Drucks. 14/8524 S. 19. 52 53
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Fonnulierungen lassen sich nämlich die dort enthaltenen Vorgaben zum Umfang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, mit nur sehr marginalen Abweichungen, auch mit Hilfe des deutschen Strafrechts erfüllen, so daß kaum Fälle vorstellbar sind, in denen jemand nach den Regeln des IStGH-Statuts zu bestrafen, nach deutschem allgemeinem Strafrecht dagegen freizusprechen wäre 56. So konnte man weitgehend den Allgemeinen Teil des StGB auch für die völkerrechtlichen Straftaten gelten lassen und damit mögliche Probleme bei der praktischen Anwendung des VStGB venneiden. Solche Probleme wurden allerdings bei den Beratungen von seiten der Justizpraxis wegen der Statuierung des Weltrechtsgrundsatzes befürchtet: Man meinte voraussehen zu können, daß die Staatsanwaltschaften mit einer Flut von Anzeigen wegen venneintlicher Volkerrechtsverbrechen in aller Welt überschwemmt würden. Um dies zu venneiden, wurde gleichzeitig mit der Verabschiedung des VStGB in § 153fStPO eine abgestufte Lockerung der Verfolgungspflicht für Auslandstaten eingeführt: Grundsätzlich gilt für Taten nach dem VStGB auch dann, wenn sie im Ausland begangen werden, in Abweichung von § 153c StPO das Legalitätsprinzip. Ihre Verfolgung in Deutschland kann jedoch" insbesondere" unterbleiben, wenn kein Bezug von Tat, Täter oder Opfer zu Deutschland besteht und wenn ein internationaler Gerichtshof oder ein näher mit der Tat verbundener Staat die Verfolgung übernommen hat oder wenn dies zu erwarten ist (§ 153fll stPoi7 ; auch in anderen Fällen ohne Inlandsbezug kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen (§ 153f I StPO). Durch diese - etwas komplizierte - Regelung wird einerseits der Grundsatz gewahrt, daß jeder Staat das Seine zur Verfolgung von völkerrechtlichen Verbrechen tun soll, um deren Straflosigkeit zu venneiden; andererseits wird aber auch zum Ausdruck gebracht, daß sich Deutschland nicht in die Verfolgung von Straftaten eindrängt, die bereits durch den IStGH oder durch einen unmittelbar betroffenen anderen Staat übernommen worden ist oder werden soll58. 56 Ein Grenzfall ist die Notwehr. Art. 31 I lit. c IStGH-Statut beschränkt die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch Notwehr bei Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf die Verteidigung von Leib und Leben und stellt außerdem ein allgemeines Proportionalitätserfordernis auf. Der Arbeitsentwurf eines VStGB enthielt deshalb eine eigene, gegenüber § 32 StGB etwas eingeschränkte Notwehr-Regelung (Bundesministerium der Justiz [0. Fn. 51], § 3 mit Begründung S. 35). In die endgültige Fassung des VStGB wurde diese Vorschrift letztlich aus eher optischen Gründen nicht übernommen - man wollte nicht den Eindruck erwecken, daß gerade bei den schweren völkerrechtlichen Verbrechen eine Berufung auf Notwehr naheliegen könne. - Als unschädlich sah man den Fall an, daß die Strafbarkeit nach deutschem Recht weiter reicht als nach dem IStGH-Statut. Dies dürfte etwa für die Fälle der Tatbegehung mit bedingtem Vorsatz anzunehmen sein, der von der unklaren Definition des subjektiven Tatelements in Art. 30 IStGH-Statut wohl nicht erfaßt ist; s. dazu BTDrucks. 14/8524 S. 15. 57 Im Regierungsentwurf war der dieser Regelung zugrunde liegende Subsidiaritätsgedanke noch schärfer durch eine "Soll"-Formulierung zum Ausdruck gebracht worden (BTDrucks. 14/8524 S. 10); der Rechtsausschuß hatte sie durch ,,kann insbesondere" ersetzt (BT-Drucks. 14/8892 S. 5 f.).
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Im Bereich des Besonderen Teils des VStGB bestand die Hauptschwierigkeit darin, die teilweise recht vagen Formulierungen der - bei den Kriegsverbrechen zusätzlich noch sehr ungeordneten und zum Teil redundanten - Einzeltatbestände des IStGH-Statuts in eine den deutschen verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsstandards entsprechende Form zu bringen, ohne ihren Inhalt zu verändern. Dabei mußten häufig Kompromisse geschlossen werden, die nicht immer zu befriedigen vermögen59 • Man kann nicht wirklich hoffen, daß die deutschen Gerichte alsbald die Gelegenheit erhalten, diese Vorschriften durch case law zu präzisieren - sondern vielmehr, daß sie totes Recht bleiben mögen. IV. SchluObemerkung Wir haben einen weiten Kreis geschlagen von der allgemeinen Frage der Zuständigkeit zur Aburteilung transnationaler Straftaten zu den Details des neuen deutschen Völkerstrafgesetzbuchs. Man mag nun zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückkehren und die eher theoretische Frage erwägen, ob die Verantwortlichen für den Anschlag vom 11. September 2001 nach Völkerstrafrecht abgeurteilt werden könnten60 • Gleichgültig wie man sie beantwortet - es läßt sich nicht bezweifeln, daß das Völkerstrafrecht seine Relevanz und Aktualität, auch wenn wir Grund haben dies zu bedauern, in nächster Zeit nicht verlieren wird.
Zustimmend zu dieser Regelung auch Werle / Jeßberger, JZ 2002, 725, 732 f. Siehe etwa die komplizierten und dennoch fragwürdigen Defmitionen des "Verschwindenlassens" und des Entziehens von Menschenrechten in § 7 I Nr. 7 und Nr. lO VStGB. Insoweit mit Recht kritisch Satzger, NStZ 2002, 125, 130 f. Nicht überzeugend ist demgegenüber der Hinweis von Werle/Jeßberger, JZ 2002, 725, 730, auf Einschränkungen des Bestimmtheitsgebotes bei Regelungen, die sich ausschließlich an Personen mit rechtlich geprägten Fachkenntnissen richten - das ist bei den hier in Frage stehenden Verboten gerade nicht der Fall. 60 Das deutsche VStGB wäre schon mangels Rückwirkung nicht auf diese Taten anwendbar. Ob sie überhaupt als völkerrechtliche Verbrechen einzustufen sind, ist zweifelhaft. Am nächsten liegt der Tatbestand der Tötung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (s. § 7 I Nr. I VStGB bzw. Art. 7 IStGH-Statut); in der konzertierten Angriffsaktion mit tausenden Toten kann man trotz der einmaligen Attacke durchaus einen "ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung" sehen. Siehe dazu Cassese, EJIL 12 (2001), S. 993, sowie allgemein (für den Einsatz des Strafrechts anstelle kriegerischer Interventionen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus) Walter / Neubacher, Kriminologisches Journal 34 (2002), S. 98, 106 f., und (zum Stand der Terrorismus-Bekämpfung in Deutschland) Nehm, NJW 2002, 2665; von Bubnoff, NJW 2002, 2672. 58 59
Das Bild des Strafprozesses in den Medien Versuch einer nicht nur polemischen Analyse Klaus Bernsmann Die Wahl meines Themas für diese Ringvorlesung, die sich auch an Nicht-Juristen wendet, beruht auf einem Dauer-Affekt: dem immer wiederkehrenden Zorn und der immer neuen Verwunderung darüber, wie sehr vor allem im Fernsehen, aber zum Teil auch in der Presse das verzerrt wiedergegeben wird, was sich in einem Strafverfahren von Gesetzes wegen abspielen muss und sich in der Praxis fast durchweg auch tatsächlich abspielt, und dem daraus folgenden Verdacht, dass sich die verzerrte, von den Medien konstruierte Wirklichkeit irgendwie im Bewusstsein der Konsumenten festsetzen und damit zu einem falschen Weltbild bzw. zu einer allgemeinen Rechtskultur beitragen könnte, die die Bezeichnung "Kultur" nicht verdient. Einige Beispiele für das, was zum einen Heiterkeit, zum anderen aber auch die angesprochene Besorgnis ausgelöst hat: In einer mündlichen Prüfung - 1. Staatsexamen - kam die Rede auf das gern. § 74 Abs. 2 GVG so bezeichnete "Schwurgericht", und ich fragte einen Kandidaten, wie viele Geschworene denn wohl in diesem Schwurgericht sitzen. Die Antwort kam prompt und bestimmt: "I2"! Die gleiche Frage in einer Anfangervorlesung ergab ein unterschiedliches Meinungsbild: Ich hatte die Wahl zwischen 4,6 und 12 Geschworenen. In beiden Fällen hatten die Antwortenden ihr scheinbares Wissen - wie sie zugaben - aus dem Fernsehen - d. h. aus amerikanischen Kriminalfilmen - bezogen. Nun muss man natürlich nicht unbedingt wissen, dass es im deutschen Strafprozess Geschworene gar nicht (mehr) gibt, sondern nur allenfalls zwei Schöffen - es sei denn, man will in einer Strafrechtsprüfung im Examen oder bei einem Fernsehquiz einigennaßen gut abschneiden - aber ich habe mich doch gewundert, wie unkritisch dem Medium Fernsehen von Studierenden und sogar Rechtskandidaten Glauben geschenkt wird. Das weckt Befürchtungen, es könnte auch sonst aus der Fernsehunterhaltung gelernt werden. Ein Beispiel: Samstagabend 20.15 Uhr: "Tatort" in der ARD. Am 21. 10. 2001 aus Bremen: Eine - auch aus kriminalistischer Perspektive - recht inkompetente Kommissarin und ihr kaum weniger ratloser Kollege ermitteln in einem wirren Fall. Im Zuge der Ennittlungen klingeln die beiden an der Tür des Vaters eines Mordverdächtigen. Der Mann öffnet; die Kommissarin hält ihm einen Zettel vor
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das Gesicht und erklärt: "Wir müssen Thre Wohnung durchsuchen." Der Mann grummelt. Gleichwohl durchsuchen die bei den die Räume. Der Kollege der Kommissarin bemerkt, man habe doch überhaupt keinen Durchsuchungsbeschluss, dessen Beantragung sei doch vom Staatsanwalt soeben ausdrücklich abgelehnt worden. Die Kommissarin etwidert: "Ich habe ihm ja auch bloß meine Heizkostenabrechnung gezeigt, und außerdem habe ich ja auch gar nicht behauptet, das Schreiben enthalte einen Durchsuchungsbeschluss." Der Kollege ist voll der Bewunderung für so viel Raffinesse. Im Anschluss an die Durchsuchung befragen sie den Wohnungsinhaber zu seinem verdächtigen Sohn. Was würde der Fernsehkonsument an diesem Fall lernen, wenn er entsprechend dem Geschworenen-Beispiel wirklich aus dem Fernsehen lernen sollte: Ermittlungsbeamte scheren sich nicht um strafprozessuale Vorschriften; Durchsuchungen erfolgen - und man ist sogar stolz darauf - contra legern, Zeugenvemehmungen werden bei Bedarf und en passant durchgeführt; Belehrungspflichten - hier die nach § 52 StPO - scheint es nicht zu geben. Den wirklichen Täter, den man - wie meist - im Fernsehen auch hier schon längst kennt, verhaftet die Kommissarin am Ende übrigens mit den Worten: ,Jch nehme Dich fest, Du Arsch und werde Dir das Leben so schwer machen, wie ich kann." Dass man (nicht nur) als Amtsträger so nicht mit anderen Personen umgehen darf, versteht sich von selbst, und nicht nur deswegen, weil der Festgenommene gern. Art. 6 Abs. 2 MRK grundsätzlich wie ein Unschuldiger zu behandeln war. Ein weiteres Beispiel: Es steht für eine andere Art eines verharmlosenden, unkritischen Umgangs mit Tatsachen, die für die vom Strafprozess betroffenen Personen womöglich bitter sind - diesmal aus den sog. Print-Medien: Allmorgendlich verärgert mich die Lektüre des Ortsteils der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), der im Ruhrgebiet weitest verbreiteten Tageszeitung: Dort treibt ein lokaler Gerichtsreporter sein Unwesen, genauer: seine Hofberichterstattung vom Amts- und Landgericht Bochum. Am 30. 08. 2001 z. B. fand er die Überschrift: ,,Brüder stahlen 16 Kilo Gouda. Das schmeckte Richtern gar nicht."
Das mag lustig klingen, war es aber für die besagten Brüder gewiss nicht: Sie waren angeklagt, bei ihrem Arbeitgeber 16 Kilo Käse gestohlen zu haben. Am Ende eines verkrampft witzigen Berichts heißt es: "Wahrend die Verteidigung Freispruch forderte, ,in dubio pro reo', hatte das Gericht die Version der Angeklagten satt. Der Vorsitzende: ,Wir sind hier nicht in der Klapsmühle, dort können sie solchen Schwachsinn verkaufen - für mich ist die Sache glasklar...,
So der offensichtlich befangene Vorsitzende - nun wieder der Berichterstatter: "Urteil: Eineinhalb Jährchen Haft - Bewährung gab's nicht - wegen Vorstrafen."
Wenn sich das Verfahren wirklich so abgespielt hat, ist es reif für das Fernsehen - dort ist Platz für Komödien, in denen ein Gericht "Jährchen" für 16 kg Gouda verhängt, und das mag das Publikum dann komisch finden. Mit anderen Worten:
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So kann sich die Hauptverhandlung nicht abgespielt haben - ein Verteidiger, der immerhin von "in dubio pro reo" gehört zu haben scheint, lässt sich solche Äußerungen eines Richters vor der Urteilsverkündung kaum bieten, und wer von "Jährchen" Haft spricht, verniedlicht damit die immer noch harte Realität in den Justizvollzugsanstalten und ein unerhört drakonisches Urteil. Ein vorläufig letztes Beispiel; hier geht es noch einmal um die mutmaßliche Wirkung der Medien: Ein ausländischer Mitbürger mit deutschem Schulabschluss arbeitet seit kurzem als Ladendetektiv bei einer Kaufhauskette. Er hat einen Kunden wegen Diebstahls angezeigt und wird vom Gericht zur Hauptverhandlung als Zeuge geladen. Er fragt mich, ob er mit einer Verurteilung rechnen müsse, weil der Angeklagte seines Wissens nach behaupte, er - der Detektiv - belaste ihn zu Unrecht. Ich erkläre ihm, damit sei im Laufe der anstehenden Hauptverhandlung nicht zu rechnen. Als ich ihn einige Tage später frage, wie es war, antwortet er, es sei überhaupt nicht schlimm gewesen. Man habe ihn kurz gefragt, dann sei alles vorbei gewesen. Ganz anders als er es aus dem Fernsehen kenne, sei er bei dem "Verhör" nicht von allen Seiten in die Zange genommen worden. Auf meine Frage, ob der Angeklagte einen Verteidiger gehabt habe, antwortete er, das wisse er nicht: "Vorne" hätten zwei Richter gesessen - er meinte offenbar den Vorsitzenden und den Protokollführer -, ansonsten könne er sich nicht erinnern. Ich fragte dann noch, ob der Angeklagte denn verurteilt worden sei. Er antwortete, auch das wisse er nicht, man habe ihn nach seiner Befragung nach Hause geschickt; die Frage der Verurteilung hätte ihn zwar interessiert, er habe aber geglaubt, er dürfe nicht im Saal bleiben. Hier scheint die Hauptverhandlung über einen Zeugen hereinzubrechen wie eine Naturkatastrophe. Er weiß nicht, worum es geht, ist deswegen aktuell desorientiert, bekommt kaum etwas mit und kennt seine Rechte nicht. Das wird bei einem Ladendetektiv kaum so bleiben, ändert aber nichts daran, dass auch hier das Fernsehen das Bewusstsein mit wenig aufklärender Wirkung präfonniert zu haben scheint. Vorerst genug der Beispiele - sie sollten zur Verdeutlichung dessen beitragen, was ich zur Diskussion stellen will. Es geht mir um die Frage, wie die Medien vor allem das Fernsehen - das Strafverfahren darstellen und was diese Darstellung in den Adressaten bewirken könnte. Ich befinde mich dabei auf weitgehend unbeackertem Feld und das Folgende kann daher auch nicht mehr beanspruchen, als eine ganz vorläufige Skizze zu sein. Über ,,Kriminalität in den Medien" und in diesem Zusammenhang vor allem den journalistischen Umgang mit "echter" Kriminalität wird seit langem und intensiv diskutiert. 1 Aber journalistische Berichte über Kriminalität enthalten wenig Konkretes über das prozessuale Gerüst bzw. den Rahmen und die Fonn, in denen Kriminalität verfahrenstechnisch be- bzw. verarbeitet wird. Regularien etwa der Vernehmung, der Telefonüberwachung, des V-Mann-Einsatzes, von Durchsuchung, 1 Vgl. hier nur: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität in den Medien. S. Kölner Symposium, Mönchengladbach 2000.
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Beschlagnahme usw. mögen als Quelle bestimmter Ermittlungsergebnisse erwähnt werden, sind aber kaum je ein wesentliches Thema der Berichterstattung über Kriminalfälle. Rasterfahndung und Kronzeugenregelung z. B. waren bis vor kurzem (d. h. Mitte September 2001) für Journalisten, auch für Gerichtsreporter, Fremdwörter. Ganz zu schweigen von der Hauptverhandlung: Das Fernsehen muss auch nach dem neuesten Spruch des Bundesverfassungsgerichts draußen bleiben.2 Mehr als irgendwelche Personen, die vor Beginn der Hauptverhandlung im Saal herumlaufen oder Platz nehmen, bekommt der Fernsehzuschauer nicht zu sehen - so wie derzeit etwa Herrn Daum, den Fußballtrainer, der am ersten Tag der Hauptverhandlung gegen ihn - offenbar in Verkennung der Situation - den Justizwachtmeistern, als seien sie zu behandeln wie Platzordner im Stadion, einzeln die Hand schüttelte. Worin die Hauptfrustration der Fernsehreporter in Bezug auf die Hauptverhandlung, umgekehrt: ihr Hauptinteresse, liegt, belegt ein Zitat, das ich einer ZDF-Mitteilung entnehme: "Haben Sie sich damals nicht auch gewundert, vielleicht sogar geärgert? Da haben 1988 die Gladbecker Geiselgangster die Nation drei Tage lang in Atem gehalten, zwei Geiseln erschossen. Doch als ein Jahr später der Prozess gegen sie beginnt, gibt es keine Bilder aus dem Gericht. Waren die Reporter faul?"
Hier wird deutlich, was die Reporter interessiert: Nicht feingesponnene Beweisanträge der Verteidigung oder Begründungen für behauptete Beweisverwertungsverbote, sondern schlicht "Bilder" - und das war nur - allerdings ehrlich - das gute alte ZDF. Die ,,Black Box" der Hauptverhandlung wird - was die prozessualen Aspekte angeht - auch nur äußerst selten von den Gerichtsjournalisten der Presse aufgehellt. In anspruchsvolleren Gerichtsreportagen werden zwar immer wieder einmal Zensuren für das Gericht, die Vertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidigung vergeben, die prozessuale Dynamik aber, die für die Akteure von höchster Relevanz sein kann, bleibt häufig im Dunkeln - Ausnahmen, in denen Journalisten z. B. für sich in Anspruch nehmen können, unter nachhaltigem öffentlichen Pochen auf prozessrechtliche Grundsätze ein Verfahren vielleicht sogar entscheidend beeinflusst zu haben, sind selten. Der Grund für die journalistische Abstinenz in prozessrechtlichen Sphären liegt auf der Hand: Zum einen ist neben den Bildern3 natürlich der Fall das eigentlich Interessante, und zum anderen versteckt sich das Verfahrensrecht zu einem großen Teil in den Akten, die den Journalisten - jedenfalls in der Regel - nicht zugänglich sind. Und in der Hauptverhandlung? Dort bleibt das Prozessrecht den Journalisten mit ihren allenfalls rudimentären prozessrechtlichen Kenntnissen in seinen ggf. verfahrensentscheidenden Aspekten ebenfalls nicht selten verborgen. Prozessrecht kommt - so also meine These - in den Sog. "n-tv-Entscheidung", BVerfG NJW 2001,1633 ff. Journalisten reden in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise von einem sog. ,,Bilderteppich"; vgl. hierzu Ernst, Informations- oder Illustrationsinteresse?, NJW 2001, 1624 (1625). 2
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Medien, wenn es um Berichterstattung geht, allenfalls am Rande bzw. mittelbar vor. Unmittelbar berichtsrelevant wird es im Allgemeinen nicht. Prozessrecht spielt aber eine durchaus gut sichtbare - wenn auch meist kaum reflektierte - Rolle, wenn es um die Darstellung fiktiver Kriminalität geht. In der weitaus größten Zahl der sogenannten Krimis geht es um die Aufklärung eines Falles entweder von vornherein aus der Perspektive der Ermittlungsorgane - das Tatort-, Derrick-, Soko-, Polizeiruf 110-, Der Fahnder-, Siska- (und wie sie sonst noch alle heißen mögen) -Modell- oder jedenfalls unter Beobachtung der Ermittlungsbemühungen staatlicher Organe - das Die Zwei-, Liebling Kreuzberg-, Anwalt Abel- usw. Konzept, um nur die gängigsten (öffentlich-rechtlichen) Serien deutscher Provenienz zu nennen. Bei Durchsicht der Programme der zehn beliebtesten deutschen Kanäle bin ich für die letzten zwei Monate auf wöchentlich 25 bis 40 Filme gekommen, in denen ein Kriminalfall im Zentrum steht und die polizeilichen Ermittlungen einen wesentlichen, zur Spannung beitragenden Aspekt ausmachen. Im Vordergrund all dieser Krimis, Thriller, Dramen steht aus prozessualer Sicht meist das Ermittlungsverfahren, vor allem in amerikanischen Serien und Filmen nicht selten allerdings auch die - in der Gerichtsrealität im Verhältnis zum kontinentalen Prozess dramaturgisch weitaus weniger langweilige - Hauptverhandlung. Aber das Fernsehen in Deutschland setzt auch hier nach: Nach Reality-TV und den inzwischen wohl deflationären Talk-Shows und "soaps" hat sich ein neuer Boom angekündigt: die Gerichtsshows. Täglich 15 Uhr Richterin Barbara Salesch auf Sat 1, anschließend 16 Uhr Jugendrichterin Ruth Herz auf RTL - letztere in Konkurrenz mit Strafrichter Alexander Hold auf Sat 1. Weiteres ist geplant. In diesen Sendungen werden zwar erdachte Fälle behandelt, aber mit echten Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern. Das - den Älteren unter Ihnen bekannte - gute alte ,,Fernsehgericht", das vor Urzeiten im damals noch ,,1. Programm" ebenso prozessordnungsgemäß wie betulich und in der Regel gütig tagte, lässt mit - wie ich noch erläutern werde - einigen entscheidenden Unterschieden grüßen. Laut Pressemitteilung von Sat 1 stillen diese Sendungen - Zitat - "den Appetit der Zuschauer" - Frau Salesch z. B. erzielt Spitzenquoten an Sehbeteiligung: bis zu 30 Prozent und darüber. Was wird den Fernsehzuschauern hier nun, abgesehen von Fällen, die z. T. noch ordinärer und abgeschmackter sind als die Themen der verrufenen ,,Daily Talks" der Privatsender, an strafprozessualen Abläufen und damit an prinzipiell mit der Gerichtswirklichkeit zu Verwechselndem vermittelt? Aus amerikanischen Serien und Filmen kann der Zuschauer - realistisch - entnehmen, dass es eine Jury gibt, dass Staatsanwalt und Verteidiger im Gerichtssaal hin- und herlaufen, dass das Gericht nach "Einspruch" diesem stattgibt oder nicht, dass in letzterem Fall eine Frage neu formuliert oder auf sie verzichtet wird. Auch: Dass sich vor Gericht offenbar so etwas wie ein Zwei-Kampf, ein Duell zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft abspielt und Verurteilung oder Freispruch von
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der betroffenen Seite als Sieg oder Niederlage empfunden werden, was dann auch öffentlich bejubelt oder betrauert werden darf. Auch in amerikanischen Filmen erfährt der Zuschauer - nach meinem Eindruck - zunehmend weniger über strafprozessuale Regularien des Ermittlungsverfahrens. Schon der Polizeibeamte, der bei einer Festnahme dem Festgenommenen von einem Zettel dessen Rechte verliest, kommt in neueren Filmen kaum noch vor. Ansonsten vollziehen sich Festnahmen meist recht martialisch: Beine auseinander, mehr oder weniger rüdes Durchsuchen nach Waffen, Handschellen, Abtransport auf dem Hintersitz des Streifenwagens, beim Einsteigen schützt der Beamte den Kopf des Festgenommenen. Anders als in deutschen Krimis sind allerdings handfeste Übergriffe auf Beschuldigte die Ausnahme. Inwieweit dabei normengerechtes Vorgehen abgebildet wird., kann hier dahinstehen - der amerikanische Strafprozess folgt ohnehin anderen Regeln als der deutsche; die in den USA derzeit hochgehaltene "political correctness" dürfte allerdings dafür sorgen, dass die TV-Fiktion normgerechter abläuft als die Wirklichkeit - für Deutschland gilt die umgekehrte Vermutung. Interessant ist allerdings in jedem Fall die Frage, ob dem deutschen Zuschauer der internationale Aspekt der Realitätsferne zumindest am Rande bewusst ist, oder ob man nicht doch damit rechnen muss, dass sich nicht nur die eingangs erwähnten ,,12 Geschworenen" festsetzen. Dass der amerikanische Prozess bzw. seine filmische Wiedergabe immerhin zumindest deutsche Drehbuchschreiber und / oder Regisseure beeindruckt, zeigen einige deutsche Serien und Filme, in denen z. B. Hauptverhandlungen jedenfalls äußerlich nach amerikanischem Vorbild ablaufen: Verteidigung und Staatsanwaltschaft sind dann in einem ständigen Dialog, unterbrechen einander nach Belieben, stolzieren im Saal umher, beugen sich zu Zeugen herab, sprechen an einer Balustrade in die - in Wahrheit nur im Fernsehen - regelmäßig zahlreich vertretene Öffentlichkeit hinein. Wie in vielen amerikanischen Gerichtsfilmen werden auch immer wieder einmal soeben gewonnene Zeugen aus dem Zuschauerraum oder dem Off - präsentiert, die den Fall mit einer überraschenden Wendung "lösen". Für diese Art des Fernsehstrafprozesses stehen unter anderem die, was z. B. die eigentliche Fallgestaltung angeht, durchaus realitätsnahen, derzeit - möglicherweise bezeichnenderweise - allerdings nicht mehr fortgesetzten Serien: Liebling Kreuzberg oder Anwalt Abel. Mit dem Ablauf einer Hauptverhandlung hat all das nichts zu tun. Das auch in deutschen Produktionen z. B. angedeutete sog. Kreuzverhör lässt die StPO in § 239 zwar grundsätzlich zu, es kommt aber in der Gerichtspraxis so gut wie gar nicht vor, weil es - zu Recht - als Fremdkörper in einem Strafprozess gilt, der beansprucht, die materielle Wahrheit zu ermitteln. 4
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Vgl. Meyer-Goßner. Strafprozessordnung, 46. Aufl., § 239 Rdn. 1.
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Auch sonst besteht der deutsche Strafprozess auf der Fonn und nicht zuletzt auch auf Äußerlichkeiten: es wird zwar im Allgemeinen, zumindest auf Nachfrage, geduldet, dass z. B. Erklärungen und Anträge der Verteidigung im Sitzen abgegeben bzw. gestellt werden, aber ein Staatsanwalt, der die Anklage im Saal umherwandelnd verliest, ist kaum vorstellbar. Letzteres mögen Marginalien sein - aber denken Sie an den Quasi-Kulturschock, den der oben zitierte Ladendetektiv im Gerichtssaal erlitten hat und der ihn - jedenfalls nach eigener Bekundung - erheblich aus der Fassung hat geraten lassen. Ich komme zu den deutschen TV-Produktionen. Die Auswahl folgt dem Zufall, und ich nehme aus einer recht großen Zahl möglicher Belege, deren Erwerb mir einiges an Zeit und Toleranz abverlangt hat, nur wenige, die - ich versichere es in keiner Weise aus der Reihe tanzen. Ich beschränke mich zudem auf Produkte, die als relativ seriös gelten. Also: Polizeiruf 110 - ARD - vom 18. 02.2001: Eine allseits gehaßte Lehrerin wird von einer Schülerin in und vor der Klasse erstochen. Alle Schülerinnen und Schüler hatten ein Messer dabei, das der Tatwaffe genau entsprach. Die ennittelnde Kommissarin bricht das kollektive Schweigen der Klasse durch die unvennittelte Vorführung der Videoaufnahme der Obduktion der getöteten Frau. Das ist ein Klassiker für eine verbotene Beweisgewinnung, der als abschreckendes Beispiel in die StPO-Lehrbücher aufgenommen werden sollte. Dass alle Schüler als Verdächtige bzw. Beschuldigte vor Abspielen der Aufnahme gern. § 136 StPO hätten belehrt werden müssen, fällt kaum ins Gewicht angesichts des frappierenden Verstoßes gegen § 136a StPO, der unter anderem die "Quälerei", d. h.: auch das Zufügen seelischer Schmerzen zur Herbeiführung einer Aussage, verbietet. S Geradezu grotesk war ein "Tatort" des WDR vom 25. 02. 2001: Ein größenwahnsinniger Jurastudent, der bereits an seiner Promotion arbeitet, tötet mit Hilfe einer Kommilitonin eine Studentin, um an Hand eines perfekten Verbrechens seine Genialität zu beweisen. Der Vater des Täters, ein jaguar-fahrender Richter am OLG i. R., bringt den die Ennittlungen leitenden Oberstaatsanwalt durch ein kurzes Gespräch dazu, das Verfahren gegen den hochverdächtigen Sohn einzustellen. In einer Nebenhandlung wird der greise Vater eines Kommissars wegen eines Bagatelldiebstahls zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Abgesehen von der nicht nur wegen des promovierenden Studenten abstrusen Darstellung der Zustände und Abläufe einer juristischen Fakultät: Es ging um Köln, aber selbst hier fungiert der Dekan nicht - wie im Film - als Vorgesetzter der übrigen Professoren, geht eine Rechtsbeugung nach § 339 StGB einem Oberstaatsanwalt wie nichts von der Hand, und das Strafmaß für einen kleinen Dieb-
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V gl. hierzu Kleinknecht I Meyer-Goßner. § 136a Rdn. 11.
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stahl hat Ähnlichkeiten mit dem eingangs geschilderten Gouda-Fall vor dem AG Bochum. Noch ein "Tatort" (28. 10. 2001 - aus Hamburg): Ein Verdächtiger - A - wird zu einem anderen Beschuldigten - V - in die Zelle gesperrt. A soll V zu zwei Tötungsdelikten angestiftet haben, und zwar unter Zuhilfenahme einer üblen, die Tötungen verständlich machenden Täuschung. V - der Angestiftete - bedroht nun den A durch Würgen bzw. mit einem Messer am Leben. Aber nur zum Schein! Alles ist mit den Ermittlungsbeamten abgesprochen. Daher stehen auch vier Beamte vor der Zelle. Als A in Todesangst nach Hilfe ruft und angibt, der Angreifer sei ein Mörder, öffnet man zwar die Tür, schließt sie aber mit der Bemerkung, es handele sich lediglich um einen Autodieb, die Mördereigenschaft des anderen müsse er - A - erst einmal beweisen. A tut das nach weiteren Scheinattacken kurze Zeit später in Form eines "Geständnisses". Dass dieses Geständnis wegen § 136a StPO nicht verwertbar ist und die einzige justizielle Konsequenz aus dem Geständnis die Entfernung von vier Beamten aus dem Dienst sein müßte, dürfte auf der Hand liegen. Dass in diesem Film ein Haftbefehl von einem Staatsanwalt, der im Übrigen dauernd in Robe hinter seinem Schreibtisch sitzt, erlassen wird und damit auch Art. 104 GG, der das einem Richter vorbehält, dem Drehbuchschreiber entweder unbekannt oder nicht heilig ist, sei noch angemerkt. Staatsanwaltschaftliche Allmacht und Rechtsbeugung unter Ignorierung von Realität und Norm werden auch in folgendem Randereignis in einem Tatort aus München - ARD vom 11. 10. 2001 - phantasiert: Ein Staatsanwalt weist eine Richterin am Verwaltungsgericht mit Erfolg an, ein Verfahren zu Lasten einer bestimmten Sekte zu entscheiden. Auch das ist abstrus: dass ein Staatsanwalt eine Richterin nicht gern. § 146 GVG anweisen kann, folgt schon aus Art. 97 GG und dem dort enthaltenen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. 6 Das soll genügen. Ich habe eigentlich keinen Krimi gefunden, in dem nicht mehrere Verstöße gegen geltendes Prozessrecht vorkamen. Warum ist das so? Strafprozessual gebotene Belehrungen mögen den Handlungsfluss stören, aber müssen Ermittlungsbeamte fast immer so persönlich betroffen sein von der abgrundtiefen Schlechtigkeit eines Beschuldigten, der ihnen in die Hände fällt, dass körperliche Übergriffe wie lässliche, weil die gerechte Strafe vorwegnehmende Sünden wirken? Ich erinnere nur an die von mir ausgesparte, chronisch aggressive und schon deswegen hoch therapiebedürftige Tatortikone Schimanski. Aber - so der naheliegende Einwand - TV-Krimis wollen doch nur unterhalten und beanspruchen gar nicht, die Realität oder gar den Idealzustand des Strafverfahrens wiederzugeben. Ob das eine akzeptable Entschuldigung oder gar eine Rechtfertigung ist, wird noch zu erörtern sein. 6 Nach Angaben, die sich auf der Internet-Seite des "Tatorts" finden - www.tatort-fundus.de -, hat der Drehbuchautor fiir sein Werk ,,monatelang im Sekten-Milieu recherchiert". Eine entsprechende Recherche im "Justiz-Milieu" hat offensichtlich nicht stattgefunden.
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Aber was ist mit den Gerichtsshows? Wenn ein Großteil der Akteure echt ist, muss man eigentlich auch prozedurale Professionalität erwarten dürfen. Die Hoffnung trügt - ich habe mir einige Barbara Salesch-Hauptverhandlungen angesehen - über andere Salesch-Veranstaltungen haben mir kompetente Seher berichtet. Der Ertrag ist überaus kläglich. Frau Salesch gibt - auch äußerlich - die Rolle einer autoritären, keinen Widerspruch duldenden, gerechten Herrscherin. Auf Angeklagte muss sie eitel, selbstgefällig und streng wirken. Die Kameraeinstellungen - frontal auf Angeklagte und Zeugen - drängen den Zuschauer in eine Identifikation mit der richterlichen Perspektive. Vorgeführt wird - Wunschziel populistischer Rechtspolitiker - der (extrem) kurze Prozess. Die Fälle sind meist recht spektakulär, zwei bis vier werden pro Sendung verhandelt, ohne Erklärung mal vor der Strafrichterin, mal vor dem Schöffengericht. Auch nur andeutungsweise sympathische Angeklagte sind seltene Ausnahmen, meist wirken sie bösartig und widerborstig, kommen aus dem Milieu, sind Sektenanhänger, Punks, Neo-Nazis, Türsteher usw. Entsprechend ist ihr meist rüder Jargon. Unverteidigte Angeklagte stehen besonders schlecht da. Beispiel: Nach einer Zeugenvernehmung, O-Ton Salesch: "Ich gehe von einem allseitigen Verzicht nach § 61 Ziff. 5 aus."
Welcher Angeklagte und welcher Fernsehzuschauer weiß, dass sich hinter diesem Satz der Verzicht auf die Vereidigung von Zeugen verbirgt? Der konkrete Angeklagte verzog keine Miene. Er hatte damit, da der Verzicht erklärt werden muss, gerade nicht verzichtet; der Zeuge hätte also vereidigt werden müssen!7 Die Sachen sind kaum je ausermittelt, die Ermittlungen werden in der Hauptverhandlung komplettiert, wobei die Hauptverhandlung sich dann häufig als mehr oder weniger munterer Dialog gestaltet. Kunstgerechte Vernehmungen finden nicht statt, können schon aus Zeitgriinden auch gar nicht stattfinden. Die anderen Prozessbeteiligten passen sich an: Konfliktfreudige Verteidigung ist undenkbar, Beweisanträge oder gar Befangenheitsanträge, die durchaus vorstellbar wären, kommen nicht vor. Erklärungen nach § 257 StPO werden nicht abgegeben, die. Schlussplädoyers, die fast nie mehr als eine Minute in Anspruch nehmen, finden sich meist mit den getroffenen Feststellungen ab, rechtliche Ausführungen ergehen - wenn überhaupt - auf niedrigstem Niveau. 7 Insofern hält sich die Sendung zwar an die Rechtspraxis; vgl. auch Meyer-Goßner. § 61 Rdn. 24; das Gesetz spricht in § 61 Nr. 5 StPO aber eindeutig davon, dass von der Vereidigung abgesehen werden kann, wenn der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte auf sie verzichten.
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Auch die Staatsanwaltschaft bedient in der Regel gängige Vorurteile: polternd, angeklagtenfeindlich, mit zynischen bis beleidigenden Einwürfen. Die Angeklagten lassen sich grundsätzlich zur Sache ein, werden dann durch Zeugen widerlegt oder bestätigt. Dass dabei nicht selten bloße Zeugen vom HörenSagen prozessentscheidend sind, wird nicht zum Thema gemacht. Ebenso wenig beanstanden Gericht oder Verteidigung, wenn Zeugen nicht über eigene Wahrnehmungen berichten, sondern umfassende Wertungen und Einschätzungen der Person des Angeklagten bzw. der Sache abgeben. Auch stört niemanden, dass Zeugen vorab darüber informiert werden, wie sich Angeklagte eingelassen haben und von der Richterin dauernd mit sog. geschlossenen Fragen ("war es nicht so, dass ... ") traktiert werden. Am Ende wird verurteilt oder - seltener - freigesprochen; keine Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO, auch keine ausgehandelten Ergebnisse, kein Täter-OpferAusgleich, Strafzurnessungserwägungen stehen völlig im Hintergrund. Alles in allem: ein waffengleicher, konsensorientierter Strafprozess, in dem die Subjektrolle der Angeklagten zu wahren oder tendenziell herzustellen ist, wird nicht vorgeführt. Die Kommunikation verläuft einseitig autoritär, die Staatsgewalt lässt den angeklagten Bürgern keine echte Chance zur Mitstrukturierung der für sie äußerst folgenreichen prozessualen Situation. Was meine eigenen Erfahrungen als Strafverteidiger angeht, ist das ein Zerrbild der strafprozessualen Realität und entspricht jedenfalls nicht den Partizipationschancen, welche die StPO z. B. den angeklagten Personen und der Verteidigung gewährt. Genug der Belege für fehlende Realitäts- bzw. Normtreue medialer Darstellungen des Strafprozesses. Ich komme zum zweiten Teil dieser Vorlesung und damit zu der Frage: Hinterlassen derartige Sendungen im Konsumenten Spuren, beeinflussen oder gar beeinträchtigen sie dessen Bewusstsein, oder geht all das am Publikum als pure Unterhaltung ohne nachhaltige Wirkung vorbei? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich einige kurze allgemeine mediensoziologische Betrachtungen anstellen und Ihnen anschließend einige kommunikationswissenschaftliche Hypothesen zur Wirkung insbesondere von TV-Konsum vorstellen: Die besondere Bedeutung der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens für große Teile der Bevölkerung nicht nur, aber vor allem in westlichen Gesellschaften zu leugnen, wäre weltfremd. Sehr viele Menschen verbringen sehr viel Zeit mit dem Konsum von sog. Massenmedien. Über die bloße Quantität hinaus strukturieren Massenmedien den Alltag - mediale Großereignisse wie etwa eine Fußballweltmeisterschaft im Femen Osten beeinflussen das Schlaf- und Arbeitsverhalten eines Großteils jedenfalls der männlichen Westeuropäer nicht unwesentlich.
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Die Massenmedien begannen ihren Siegeszug im 19. Jahrhundert mit den Printmedien, setzten ihn mit Film und Radio fort und vollendeten ihn ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Fernsehen. Anfang der 60er Jahre war der Fernsehapparat in etwa einem Viertel aller Haushalte in der damaligen Bundesrepublik vorhanden, schon 10 Jahre später in drei Vierteln - heute übersteigt die Zahl der Fernsehgeräte die der Haushalte. Wie steht es nun mit der Wirkung von Fernsehen auf das Weltverständnis seiner Rezipienten? Für viele Kommunikationssoziologen bzw. -philosophen scheint der Fall klar: Das Fernsehen spiegelt Wirklichkeit nicht nur wider, sondern es prägt bzw. schafft auch Wirklichkeit in unseren Köpfen. Insbesondere für die sog. Konstruktivisten bilden Medien die Wirklichkeit nicht ab, sondern konstruieren sie, unter anderem indem sie die Wahrnehmung kontrollieren und disziplinieren. Wer sich daher mit der Wirkung von Medien beschäftigt, betreibt die Analyse einer anonymen, amorphen Macht: Die Medien als "ein Netz", das ohne jeden Mittelpunkt auskommt und das seine "Opfer" beherrscht wie die Spinne eine eingefangene Fliege. Aber es gibt auch andere, weniger passivisch bzw. pessimistisch anmutende Konzeptionen: Medien lassen sich auch denken als Möglichkeiten frei gewählten sozialen Handelns. Der Rezipient nutzt die Medien nach ihrem jeweiligen Wert für ihn. Dann schaffen sie nicht selbst Weltbilder, sondern bestätigen die des Konsumenten. Dieser zwingt die Medien im Weiteren dann allerdings dazu - Stichwort: Quote -, ihm genehme Inhalte zu zeigen. Auf diese Weise tragen die Medien möglicherweise dazu bei, gesellschaftlich vorgegebene Vorurteilsstrukturen zu verfestigen. Eine ggf. kaum weniger bedenkliche Dialektik im Vergleich mit dem Bild des Spinnennetzes. Das mag sich recht kompliziert und abstrakt anhören, aber die Wirkung der Medien auf den Menschen ist nicht direkt messbar, und dann bleiben nur theoretische Entwürfe. Aber ich will diese zunächst nur allgemein vorgestellten Entwürfe, soweit das hier - bzw. mir - möglich ist, an in engerem Sinne kommunikationssoziologischen Modellen der Interaktion von Medien und Konsumenten zu verdeutlichen suchen: Der Nestor der Medientheorie - Paul Lazarsfeld - vertrat die Theorie des "two step flow of communication". 8 Lazarsfeld wollte die Wirkung der Massenmedien auf den amerikanischen Wahlkampf von 1940 untersuchen. Die Ausgangsüberlegung, die Lazarsfeld mit seiner Arbeit überprüfen wollte, war, dass Bürger, die Zeitungen lasen oder Radiosender hörten, die der demokratischen Partei nahe standen, die Demokraten wählen und umgekehrt Personen, die Medien konsumierten, welche die Republikaner favorisierten, dann ihre Stimme auch für die Republikaner abgeben würden.
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Lazarsjeld/Berelson/Gaudet, The people's choice, New York 1944.
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Das Ergebnis der Untersuchung fiel jedoch anders aus, als man es erwarten würde: Ein Zusammenhang zwischen der Stimmabgabe für diese oder jene Partei und den von den Wählem konsumierten Medien ließ sich nicht nachweisen. ,,zufällig" hatte Lazarsfeld aber bei seinen Interviews auch danach gefragt, ob sich die Interview-Partner auch direkt von anderen Personen Rat holten bzw. an andere Personen Rat erteilten. Die Auswertung dieser Befragung führte ihn dann zu der Annahme, dass allein die sog. Meinungsführer von den Medien erreicht und beeinflusst werden. Diese geben ihre so gewonnene Meinung dann weiter an die sog. opinion-follower, die sich hiervon beeinflussen lassen. 9 Lazarsfelds Annahmen haben sich nicht durchgesetzt; vor allem deswegen nicht, weil sie nicht erklären können, warum nur Meinungsführer von den Medien erreicht und beeinflusst werden, obwohl doch alle anderen auch direkten Kontakt zu den Medien haben. 10 Aber Lazarsfeld hatte das Thema gleichsam entdeckt. In der Folge verschob sich das kommunikationswissenschaftliche Interesse zunächst in eine andere - von mir schon erwähnte - Richtung: Während Lazarsfeld eine Antwort auf die Frage gesucht hatte, wie Medien auf ihre Konsumenten wirken, stellten sich die Vertreter des sog. uses-and-gratification-approach die Frage, was die Menschen mit den Medien machen; d. h. es ging nicht mehr um die unmittelbare Wirkung der Medien, sondern um das Auswahlverhalten der Mediennutzer. 11 Gründe, die zu einer bestimmten Programm-Auswahl führen, können sein die Identifikation mit demonstrierten Lebensstilen, die Projektion eigenen Versagens oder eigener Hoffnungen und Wünsche auf die Akteure in den Medien, die Suche nach Informationen und Ratschlägen und - last but not least - die Suche nach Kompensation für unerfiillte Wünsche und Träume - Stichwort: "Eskapismus", die in mildester und verbreitetster Form offenbar durch Fernseh-Unterhaltungssendungen befriedigt werden kann. Dieses Konzept klingt plausibel, es enthält jedoch keine Antwort auf die eigentlich spannende Frage nach einer denkbaren wechselseitigen Provokation von immer weiter eskalierenden Bedürfnissen und deren Befriedigung, mit anderen Worten: warum z. B. die Gewalt in den Medien zunimmt, oder warum das prozessual korrekte frühere "Fernsehgericht" zur Gerichts-Show degeneriert ist. Ein weiteres Konzept ist der sog. "agenda-setting-approach". Danach haben die Medien zwar kaum Einfluss auf die Einstellungen der Zuschauer, geben aber durch ihre Themen vor, womit sich die Konsumenten beschäftigen. 12 Der FernsehLazarsJeld, S. 151. Vgl. hierzu Merten, Wirkung von Kommunikation, S. 316, in: MertenlSchmidtlWeischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien, Opladen 1994. 11 Kotz I Foulkes, On the use of the mass media as "escape": Clarification of a concept, in: Public Opinion Quartely 26,1962, S. 377 ff. 12 McCombs I Shaw, The agenda-setting function of mass-media, in: Public Opinion Quarterly 36, 1972, S. 176 ff. 9
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zuschauer z. B. nimmt ja nicht nur die Infonnations- bzw. Unterhaltungsangebote wahr, er erfährt außerdem etwas über die Bedeutung des Themas: Was heute abend "im Fernsehen" ist, kann schon morgen viele Köpfe nachhaltig beschäftigen. Agenda-setting-Wirkungen sind allerdings in erster Linie als Langzeitwirkungen zu sehen. Je mehr dabei die Themen der Programme mit den Themen in den Köpfen der Rezipienten übereinstimmen, desto stärker ist der Thematisierungseffekt und damit die Wahrscheinlichkeit, dass über bestimmte Themen im Ergebnis auch materiell Bewusstseinsinhalte vorgegeben werden. Problematisch ist natürlich auch hier die Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage, da kaum je genau auszumachen ist, ob das Medium dem Konsumenten das Thema vorgibt oder umgekehrt. Dass auch der agenda-setting-approach kein völlig untaugliches Erklärungsmodell darstellt, zeigen zahlreiche Untersuchungen, denen zufolge z. B. die Häufigkeit von Mediengewalt den Zuschauer die Welt als noch gefährlicher wahrnehmen lässt, als sie tatsächlich ist. Dass dieses sog. ,,mean world syndrome"13 möglicherweise sogar das Wahlverhalten stark zu beeinflussen vennag, zeigten zuletzt noch die Senatswahlen in Hamburg, und dass der Strafprozess auch außerhalb von Hamburg als wahlrelevant betrachtet werden könnte, zeigten die damalige Diskussion zum sog. "Sicherheitspaket" und die angebliche Abhängigkeit der Freiheit der Bürger von der Erweiterung der Befugnisse der Ermittlungsbehörden. Ein weiteres Konzept - die in Deutschland (von Noelle-Neumann) entwickelte Theorie der Schweigespirale 14 - basiert auf der Annahme, dass Menschen - als soziale Wesen - ihre Meinung gerne unter Kenntnis der Meinung anderer Menschen bzw. unter Orientierung an der vorgestellten Meinung anderer fonnulieren. 15 Dabei nimmt der Einzelne nicht nur die momentane Meinungsverteilung wahr, sondern er registriert auch deren Veränderung. Da nun aber Personen, die von sich glauben, eine dominante Meinung zu vertreten, ihre Meinung stärker herausstellen als Menschen, die glauben, eine nicht-dominante Meinung zu vertreten, wird in der Öffentlichkeit die Dominanz der bis zu diesem Zeitpunkt nur als dominant unterstellten (!) Meinung verstärkt, so dass sich deren Vertreter noch weiter hervorwagen. Dahingegen werden Personen, welche eine als nicht-dominant angesehene Meinung vertreten, dadurch weiter eingeschüchtert und verstummen immer mehr. Am Ende hat die bislang nur als dominant angesehene Meinung dadurch eine gute Chance, zur tatsächlich dominanten Meinung zu werden. Schmidt / Zurstiege, Orientierung Kommunikationswissenschaft, Hamburg 2000, S. 108. Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut, München 1980. 15 Mit Blick auf gruppendynamisches Verhalten auch schon Asch, Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgements, in: Cartwright / Zander; Group dynamies. Research and Theory, London 1954, S. 151 ff. 13
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Die Theorie der Schweigespirale kann also z. B. begründen, dass bloße Fiktionen faktische Wirkungen erzeugen und Wirklichkeit konstruieren, sei es nun die besondere Bedrohung einer Gesellschaft durch Kriminalität, sei es aber auch das Interesse einer Gesellschaft an einem kurzen, autoritären, die Beschuldigtenrechte minimierenden Strafprozess. Aus liberal-rechtsstaatlicher Perspektive ist es eine bedrohliche Aussicht, wenn z. B. durch Fernsehkrimis vermittels der Schweigespirale eine allgemeine Orientierungsgröße, z. B. zum Umgang mit Verdächtigen im Ermittlungsverfahren, die dann als Leitlinie für Handeln und Denken des Sehers übernommen wird, erfolgreich in die Gesellschaft transportiert würde. Zu - was mein Thema angeht - interessanten Ergebnissen kommt - um eine letzte Theorie zu nennen - auch die sog. "knowledge-gap-Hypothese", die seit dem Siegeszug des Internets - hier unter dem Stichwort "user and loser" - unter Kommunikationswissenschaftlern zunehmend Anhänger gewinnt. Nach dieser Theorie nimmt die Kluft zwischen bildungshöheren und bildungsniedrigeren Gesellschaftsschichten auf lange Sicht zu, weil sich Angehörige der bildungshöheren Ränge Informationen schneller verschaffen und aneignen. 16 Die sich daraufhin rapide vergrößernde Ungleichheit der Wissensverteilung wird maßgeblich den Medien zugeschrieben, aber nicht unmittelbar, sondern als mittelbarer Effekt: Menschen, die über ein geringeres Maß an formaler Bildung verfügen, fühlen sich bereits nach der Rezeption weniger Medienangebote gut informiert und geben danach die weitere Informationssuche auf, während sich das Gefühl, gut informiert zu sein, bei Personen mit einem höheren Bildungsniveau langsamer und damit erst später einstellt. 17 Anders ausgedrückt: Während sich Personen mit einem vergleichsweise hohen Bildungsniveau eher selektiv den Medien zuwenden und dabei aktiv bestimmte Informationen suchen und diese ggf. auch von fiktiven Inhalten unterscheiden können, wenden sich Personen mit einem niedrigeren Bildungsniveau Medienangeboten eher passiv konsumierend zu. Was dabei herauskommen könnte, ist der sog. Matthäus-Effekt I8 : "Wer da hat, dem soll gegeben werden, und wer da nicht hat, dem soll genommen werden."
Einfacher ausgedrückt: Die Schlauen werden schlauer, die Dummen werden dümmer. 16 1ichenor / Donohue /Olien, Mass media flow and differential growth in knowledge, in: Public Opinion Quarterly 34, 1970, S. 159 ff. 17 BOn/adelli, Neue Fragestellungen zur Wirklichkeitserforschung: Zur Hypothese der wachsenden Wissenskluft, in: Rundfunk und Fernsehen 28, 2/1980, S. 186. 18 Zum Matthäus-Effekt als Polarisierungseffekt auch http://www.die-frankfurt.de/zeitschrift/2200 l/postitionen l.htm.
Das Bild des Strafprozesses in den Medien
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Damit genug zu den Theorien. Ich kann nicht beurteilen, welchem Konzept die größte Validität zuzubilligen ist, oder ob man sie nicht sogar gleichsam mixen darf. Aber auch ein kommunikationstheoretischer Laie darf feststellen, dass die Medien, und hier insbesondere das Fernsehen auch durch sog. Unterhaltung - wie auch immer - im Ergebnis auf die Konsumenten wirken - sei es bewusstseins- und einstellungsbildend, sei es bewusstseinsverstärkend. Dass dabei, wenn es um die Darstellung fiktiver strafprozessualer Zusammenhänge geht, nicht Aufklärung einer dem Strafprozess fernstehenden Öffentlichkeit bzw. umgekehrt ein Interesse an Belehrung im Vordergrund stehen, liegt auf der Hand. Das mag dann gut sein für die sog. "Quote", der Rechtskultur ist es nicht fcirderlich, wahrscheinlich sogar abträglich. Aber noch etwas: Femsehunterhaltung ist ein Konsumgut und als Ware folgt sie damit den Gesetzen des Marktes. Dass dann aber dieser sich immer offener gebende, deregulierte Markt der Große Bruder sein könnte, der in einer kaum noch bürgerlich-aufklärerisch zu nennenden Öffentlichkeit den Boden dafür mit-bereitet bzw. schon mit-bereitet hat, dass unter anderem Beschuldigtenrechte immer weiter verkürzt werden bzw. vor allem in den letzten 10 Jahren bereits in geradezu exponentiellem Ausmaß verkürzt worden sind, wäre dann nicht mehr nur eine immer wohlfeile, notorisch kulturpessimistische Verdammung der Medien, sondern eine naheliegende Analyse bzw. Prognose. Ob die Medien selbst, die in anderen Segmenten als der Unterhaltung durchaus politikkontrollierende, aufklärende Funktionen wahrnehmen, dem mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten können, vermag ich nicht zu sagen. Aber selbst wenn sie sich das - mehr als bisher - zur Aufgabe machen würden, muss man zusätzlich hoffen, dass der von mir vorhin geschilderte Matthäus-Effekt auf einer unzutreffenden Grundlage beruht - und alle schlauer werden. Wir werden sehen!
Kriterien für konsensuales Vorgehen im Strafverfahren freie Wahl für Urteilsabsprachen?l Bruno Terhorst Das Phänomen, dem wir uns mit dem Thema: "Kriterien für konsensuales fOrgehen im Strafverfahren -freie Wahl für Urteilsabsprachen? " nähern wollen, dieses Phänomen hat viele Namen. Im Gesetz ist es zwar nicht benannt; es ist praeter legem oder gar contra legem entstanden, es hat keinen gesetzlichen Paten oder Namensgeber. Die Autoren, die das Phänomen in den vergangenen achtziger Jahren erstmals beschrieben, benannten es entsprechend ihrer Sicht und Einstellung mal eher abwertend negativ, mal eher euphemistisch positiv. Es war die Rede von Mauschelei, vom Handel mit Gerechtigkeit, vom Deal vor Gericht oder vom strafprozessualen Vergleich - jeder wusste, dass es dies "eigentlich" nicht gab und nicht geben durfte, man war sich nicht ganz sicher, daran sei erinnert, ob nicht vielleicht etwas Strafbares geschehe, man dachte an gemeinschaftliche Nötigung und Strafvereitelung in Tateinheit mit Rechtsbeugung; und dies "fortgesetzt handelnd". Nun, mit Worten und Benennungen macht man Politik, auch Rechtspolitik, und so wurden diese Erscheinungen auch als gentleman agreements, als Vorgespräche, infonnelle Absprachen oder als konsensuale Erledigungen beschrieben. Man suchte und fand, dass auch im Gesetz, in der StPO, mancherlei Ansätze für ein einvernehmliches Vorgehen enthalten sind und sah darin die Bestätigung des allgemeinen Oberbegriffes .. Verständigung im Strafverfahren" und solch' positiv konsensuales, einvernehmlich Rechtsfrieden Schaffendes, Konfliktvenneidendes konnte nun wohl nichts Strafbares bedeuten. Dieser Streit um Wortwahl und um Begriffe erscheint allerdings schon Vergangenheit und heute eher nebensächlich. Es ist in der Diskussion mittlerweile klar geworden, um was es im entscheidenden Punkt geht - um Urteilsabsprachen. Die Beteiligten des Strafverfahrens verständigen sich im vorhinein über ein nachfolgendes die Hauptverhandlung beendendes Urteil. Inhaltlich wird als Prototyp angesehen: Geständnis gegen Bewährung, der Angeklagte legt ein Geständnis ab und erhält dafür die angestrebte Bewährungsstrafe oder genereller und meines Erachtens zutreffender: Der Angeklagte verspricht und beweist Kooperation, bis hin zur Aufgabe seiner Verteidigung und dies wird ihm durch Vorteile, insbesondere eine venninderte Strafe oder auch durch Einstellung anderer Straftaten honoriert.
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Erstveröffentlichung in Goltdammer's Archiv für Strafrecht (GA) 2002, S. 600-614.
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Diese Urteilsabsprachen sind verschieden in ihrer jeweiligen Entstehungsgeschichte und vielfältig in ihren Inhalten. Die Regeln sind infonnell und werden von wechselnden Beteiligten jeweils neu festgelegt. Urteilsabsprachen haben zur Folge, dass die Verfahren wesentlich abgekürzt und beschleunigt werden können. Da sie von den Beteiligten notwendigerweise einvernehmlich getragen und grundsätzlich akzeptiert werden müssen, gelten sie auch zumeist als Ergebnisse, die Rechtsfrieden schaffen und die für die Verfahrensbeteiligten überwiegend Vorteile bringen können. Aus dieser Sichtweise ist die Feststellung nicht überraschend, dass Urteilsabsprachen einen Siegeszug angetreten haben und sich in der Praxis einer allgemeinen Beliebtheit erfreuen. Es wird vielfach berichtet, dass bis zu 27% aller Erledigungen durch Urteile infolge von Absprachen erfolgen, in bis zu 40% aller Strafverfahren soll der Versuch einer Absprache unternommen werden. Diese Zahlen beruhen auf Angaben aus den Jahren 1987 und 1988.2 Mir erscheinen sie eher zuriickhaltend und sie sind, heute jedenfalls, wohl deutlich nach oben zu korrigieren. Zu beachten ist nämlich, dass mittlerweile ein ganz entscheidender Wandel in Entstehung und Ablauf von Urteilsabsprachen festzustellen ist. In den Anfängen der Absprachepraxis war der Deal wohl überwiegend eine Reaktion, ein Zurückweichen von Staatsanwaltschaft und Gericht auf eine engagierte, konfliktbereite Verteidigung, die ein Verfahren umfangreich, schwierig, mühselig und belastend zu gestalten drohte. Richter und Staatsanwalt haben dazu gelernt und wenden nun ihrerseits Techniken an, die eine Vergleichsbereitschaft des Verteidigers und des Beschuldigten wecken sollen. 3 So stellt etwa die Staatsanwaltschaft in die Anklage zusätzliche "Manövriermasse" ein, um sich einerseits "herunterhandeln" zu lassen, dann aber andererseits tatsächlich doch ihre von vornherein realistischerweise gehegten Vorstellungen zu verwirklichen. Auch das Gericht setzt oft zielstrebig die Absprache als Mittel zur Durchsetzung eines für richtig prognostizierten Ergebnisses ohne aufwendiges Verfahren ein. Es stellt nun seinerseits beispielsweise ein langes Verfahren mit enger Terminierung in Aussicht und überlässt dem Beschuldigten mittels des bekannten Instrumentes der "Sanktionsschere " in wohlüberlegten Worten, in der Sache aber ganz ungeniert die "freie Wahl", entweder vier Jahre im Falle einer Kooperation oder sonst eben die angeblichen üblichen sieben Jahre Freiheitsstrafe. 4 Allgemein bleibt zu konstatieren, dass heute Urteilsabsprachen auch gerade von Staatsanwaltschaft und Gericht immer mehr als Mittel zur Verfahrenserledigung eingesetzt werden. Es wird davon berichtet, dass es bei bestimmten Wirtschaftsstrafkammern nahezu unmöglich sei, eine "streitige" Hauptverhandlung durchzuführen. 5 Fast resignierend wird zur Kenntnis genommen von einem Vertreter der 2 Vgl. Dahs, NStZ 1988, 153; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 4. Aufl. 2002, Rn. 43 m.w.N. 3 Vgl. z. B. Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, 2000, S. 149, 152. 4 Vgl. für einen ähnlichen Fall BGH NStZ 1997,561.
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Staatsanwaltschaft, dass manche Gerichte offenbar "auf Biegen und Brechen" zu einer Urteilsabsprache kommen wollen. 6 Und ein Strafverteidiger resümiert: "In dem Bestreben, Verfahren kurz und venneintlich prozessökonomisch zu erledigen, werfen die Berufsjuristen in einer merkwürdigen Allianz aus Staatsanwaltschaft, Richtern und Verteidigern alle Hemmungen über Bord...7
Soviel zur Beschreibung der Lage. Ungewiss erschien lange Zeit, wie sich der BGH zu dieser Praxis der Urteilsabsprachen stellen würde, zu einer Praxis, die immerhin von der Rechtswissenschaft durchweg und nahezu einheitlich als unvereinbar mit den Grundsätzen der geltenden StPO bewertet wurde. Das Bemühen und die Schwierigkeiten des obersten Strafgerichts, mit diesem Wildwuchs der tatgerichtlichen Praxis fertig zu werden, kann und soll hier nicht näher beschrieben werden. Im vorliegenden Rahmen reicht die Feststellung, dass der BGH in keiner der bisher zu unserem Problemkreis ergangenen Entscheidungen die Zulässigkeit einer Urteilsabsprache von vornherein oder generell verneint hat. Der BGH hat sich vielmehr darauf beschränkt, die Beachtung bestimmter Vorgaben zum Inhalt von Absprachen - etwa zur notwendigen Schuldangemessenheit der Strafe und zur Durchführung einer Absprache - z. B. zur erforderlichen Einbeziehung aller Verfahrensbeteiligter und zur Erörterung der Absprache in öffentlicher Hauptverhandlung oder zur unzulässigen Verknüpfung von Rechtsmittelverzicht und Strafmilderung zu fordern. So hat insbesondere der 4. Strafsenat in seiner Entscheidung vom 28. 8. 1997 (BGHSt. 43, 195) zwar festgestellt, dass "das deutsche Strafverfahrensrecht grundsätzlich vergleichsfeindlich eingestellt ist ", gleichzeitig aber stellt er einzelne Kriterien auf, die die Urteilsabsprachen nach Inhalt und in ihrer Durchführung erfüllen müssen, um dann als rechtmäßig und zulässig anerkannt zu werden. Diese Entscheidung ist allgemein als bedeutende Grundsatzentscheidung bewertet worden. Das Urteil ist vielfach besprochen und wohl überwiegend positiv gewürdigt worden. Ungeachtet der Kritik an Einzelfragen wird gelobt, dass das Urteil "den Tatrichtem randscharfe Vorgaben" für ihre Praxis der Urteilsabsprachen vermittelte,8 dass es "die Grenzen legaler Verständigung" aufzeige und dass es generell - nach Weigend - "eine Verfahrensordnung für konsensual zu erledigende Strafverfahren zu entwerfen" versuche. 9 Dencker / Hamm, Der Vergleich im Strafprozess, 1988, S. II O. Kintzi, Anm. zu BGH JR 200 I, 159, 162. 7 Weider, Anm. zu BGH StV 2000, 539, 540. 8 So Kintzi, Anm. zu BGH JR 1998, 245, 249. Gleichzeitig wird damit der ,,Hoffnung" Ausdruck gegeben, dass es keiner normativen Regelung der Abspracheproblematik bedürfe. 9 Weigend, NStZ 1999,57,56, allerdings auch mit deutlicher Kritik und Zweifeln an der Begründung. Positiver in der Bewertung "des fast nicht zu bewältigenden Balanceakts" des BGH erscheint der Beitrag von Weigend in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. IV S. 101l, 1016 sowie ders. in Anm. zu BGH StV 2000, 63, wo dem BGH bescheinigt wird, "eine veritable Verfahrensordnung für Absprachen entwickelt" 5
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Die bisherige Darstellung lässt damit folgenden Befund erkennen. Es gibt Strafverfahren, die zu einem Urteil auf Grund einer Hauptverhandlung führen, die nach den Regeln der StPO und ohne Absprache über das Ergebnis durchgeführt wurden. Es gibt aber auch Strafverfahren, die nach einer Hauptverhandlung zu einem Urteil führen können, wobei diese Urteile vorher abgesprochen worden sind; diese Urteilsabsprachen in einer dann als einverständliches oder konsensuales Strafverfahren zu bezeichnenden Prozessordnung können dann als fair und rechtsstaatlich verbindlich akzeptiert werden, wenn sie der vom BGH für diese Urteilsabsprachen aufgestellten Verfahrensordnung entsprechen. Unklar ist und hierzu sagt der BGH nichts, ob diese zweite bzw. ob diese konsensuale Verfahrensform vom BGH noch als eine Verfahrensmodalität innerhalb der Grenzen der geltenden StPO und als mit dieser vereinbar angesehen wird oder ob sie als völlig eigenständige, andere Verfahrensart außerhalb der StPO - wenn auch mit unverzichtbaren rechtsstaatlichen Standards versehen und legitimiert durch den Konsens der Beteiligten - zu bezeichnen ist. Diese Frage kann hier offen bleiben. Es soll auch nicht weiter erörtert werden, ob die vorn BGH aufgestellten Regeln ausreichend praxisnah oder zu .. blauäugig" sind, um der gestalterischen Phantasie der Absprachebeteiligten, etwa zum erstrebten Rechtsmittelverzicht oder zu den Formulierungskünsten betreffend die sonst üblicherweise ohne Kooperation des Angeklagten zu verhängende Strafe, zu begegnen. Auch die Vorstellung des BGH, die schuldangemessene Strafe dürfe nicht zur Disposition stehen, mag sich als bloßer frommer Wunsch entpuppen; er selbst wird dies bei allseitiger Akzeptanz des Urteils mangels Einlegung eines Rechtsmittels nicht überprüfen können. Erst recht erscheinen seine Ausführungen zum Grundsatz der Öffentlichkeit sowie zur notwendigen Beteiligung der Laienrichter schon fast illusionär, wenn er einerseits festschreiben will, dass die Absprache in öffentlicher Hauptverhandlung unter Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligter erfolgen müsse, andererseits aber eben Voroder Nebengespräche außerhalb der Hauptverhandlung, die eben doch die entscheidenden Verhandlungen mit dem Austausch von Argumenten, von Alternativen für den Fall, dass nicht usw.... und mit den jeweiligen Zugeständnissen sein werden, zulässt. Schon gibt es erste Berichte aus der Praxis, dass sich auch nach dieser Grundsatzentscheidung des BGH nichts Wesentliches an Inhalt und Durchführung von Absprachen geändert habe. 10
Die Bewertung der vom BGH aufgestellten Regeln ist ein anderes Thema; hierzu gibt es schon grundlegende Betrachtungen. 11 Entscheidend für die vorliegend abzuhandelnde Problematik ist, dass es in der Praxis zwei verschiedene Verfahrensordnungen gibt. Hierauf wird einzugehen sein. Unser Resümee lässt aber auch erkennen, dass der BGH keine Stellung bezogen hat zu der eigentlich vorrangigen Frage, in welchen Fällen und nach welchen Kriterien diese konsensuale Verfahrensform der Urteilsabsprachen Platz greifen soll und wann und in welchen Fällen zu haben. Anders dagegen Hamm, FS für Meyer-Goßner, 2001, S. 33,45, der die Möglichkeiten der Revisionsgerichte, das Dilemma der Urteilsabsprachen zu lösen, als gescheitert ansieht. IV So Weider (Fn 3) S. 167; Hamm a. a. O. Fn. 9. 11 Vgl. oben Fn. 8 bis 10 sowie Rönnau, wistra 1998, 49; Kruse, Strafo 2000, 146; Schmitt, GA 2001, 411.
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(nur) nach den (herkömmlichen) Regeln der StPO verfahren werden muss oder soll. Indirekt lässt sich seinen Ausführungen wohl nur der Rückschluss entnehmen, dass die konsensuale Verfahrensform dann nicht, jedenfalls nicht abschließend und endgültig - ein Versuch zur Abrede wird immer zulässig sein - gewählt werden darf, wenn sie zu einem unzulässigen Inhalt - z. B. einer nicht schuldangemessenen Strafe führen würde oder wenn sie nicht in der vom BGH vorgeschriebenen Art und Weise zustande kommen soll. Wird diesen Regeln Rechnung getragen, dann aber, so ist zu folgern, haben die Beteiligten die freie Wahl zwischen der herkömmlichen Verfahrensweise .. streng" nach der StPO (.. streitige" Hauptverhandlung) oder der konsensualen Verfahrensordnung (.. einvernehmliche" Hauptverhandlung). Haben wir damit zur Kenntnis genommen, dass der BGH zwar versucht, die Durchführung und den Inhalt von Urteilsabsprachen zu regeln und die rechtlichen Mindeststandards anzufordern, also praktisch den Weg zu einer Absprache und deren noch zulässigen Inhalt zu beschreiben, und haben wir weiter konstatiert, dass er nichts weiter dazu sagt, ob und gegebenenfalls nach welchen Kriterien dieser Weg der konsensualen Verfahrensordnung zu wählen ist, so könnte dieses Unterlassen seinen Grund darin finden, dass die Weichenstellung des .. Ob" oder mit anderen Worten die Frage, soll .. streitig" oder soll .. konsensual" verhandelt werden, eigentlich kein Problem darstelle. Hierfür könnte auch angeführt werden, dass diese Frage in den breiten und zahlreichen Betrachtungen und Kommentierungen, die von Wissenschaft und Praxis zur Rechtsprechung des BGH und zu seinen Richtlinien zur Zulässigkeit von Urteilsabsprachen erfolgt sind, nicht angesprochen wird - ein bemerkenswerter Umstand, der allerdings auch darauf zurückgeführt werden kann, dass das gespannte Warten auf die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung sich allein darauf konzentrierte, ob denn und unter welchen Voraussetzungen die Praxis der Urteilsabsprachen überhaupt als zulässig anerkannt werden würde. Spätestens nunmehr aber, nach dem Ergebnis, dass die Urteilsabsprache als weitere, als zweite Form einer Verfahrenserledigung anerkannt worden ist, stellt sich die Frage immer dringender, ob auch die Wahl zwischen diesen beiden Verfahrensformen im freien Belieben der Beteiligten steht oder ob sie rechtlichen Kriterien zu unterwerfen ist. Bei der Beantwortung dieser Frage kann ein Blick auf die Praxis hilfreich sein. Wenden wir uns also kurz den Gründen und Ursachen zu, die die professionellen Akteure veranlasst haben, im Verlauf der letzten Jahrzehnte immer mehr die informellen Verfahrenserledigungen, die Urteilsabsprachen zu wählen. 12 An erster Stelle wird zumeist die Überlastung der Strafjustiz benannt, die steigenden Eingänge und die immer länger dauernden und immer komplizierter werdenden Verfahren. Es wird verwiesen auf einen neuen Typ des Strafverteidigers, der sein Verhalten nicht danach ausrichte, den ..javor judicis" zu erlangen, sondern der sich allein an den Interessen seines Mandanten orientiere und mit allen Mitteln der StPO, das heißt auch notfalls im Wege sogenannter Konfliktverteidigung 12 Einen näheren Überblick mit weiteren Hinweisen geben Küpper / Bode, JURA 1999, 351,354 f. Grundlegend ferner Schünemann, Gutachten B für den 58. DJT, 1990, B 27 ff.
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Bruno Terhorst verfahre und so oftmals das Gericht und die Staatsanwaltschaft zu Zugeständnissen, das heißt zu einer konsensualen Lösung "zwinge". Dieser Umstand und die Paradoxie, dass nunmehr auch Gericht und Staatsanwaltschaft sich ähnliche Strategien angeeignet haben, ist bereits angesprochen worden. Es wird weiter die Ausuferung des materiellen Strafrechts genannt, die vor allem in den Bereichen "Umwelt, Wirtschaft und Drogen" neue Straftatbestände schaffe, vorhandene weiter ausdehne und die zusammen mit einer oftmals handwerklich schlechten Gesetzgebungstechnik zu solchen Beweisschwierigkeiten, rechtlichen Unsicherheiten und Komplikationen führe, dass häufig nur eine Absprache helfe, ein Verfahren zu beenden. Angeführt wird weiter ein angeblicher Paradigmenwechsel im Strafverfahren, eine stärkere Betonung des Präventions-Strafrechts bis hin zu Überlegungen, dass je mehr erledigt wird - und dies ja am besten eben durch verfahrensökonomische Absprachen - ein desto höherer Sanktionsoutput und so eine bessere wirkungsvollere Prävention erreicht werden könne. Nicht um die Suche vorrangig nach Wahrheit und Gerechtigkeit soll es gehen, sondern die Effizienz der Verbrechensbekämpfung und die damit verbundenen Kapazitätsprobleme gelten als Ziel und Legitimation. Es fehlen nicht die Hinweise auf eine generell stärker werdende Betonung des Opportunitätsprinzips zu Lasten des Legalitätsgrundsatzes mit der Einführung oder der Erweiterung absprachefördernder gesetzlicher Regelungen wie zum Beispiel den §§ 153, 153 a StPO bis hin zu Kronzeugenregelungen wie § 31 BtmG. Und letztlich verweist man darauf, dass es allgemein dem Zeitgeist oder einem modernen Demokratieverständnis mehr entspreche, wenn ein Problem, wenn ein Konflikt zwischen Bürger und Staat durch ein einvernehmliches partizipatorisches Vorgehen, letztlich also auch vielleicht durch einen Kompromiss seine Erledigung finde, als dass einseitig und autoritär "quasi obrigkeitsstaatlich" entschieden werden müsse.
Diese kurze, sicher nicht ganz vollständige Auflistung der Gründe, die nach allgemeiner Ansicht die Entwicklung - fort von der "streitigen" Hauptverhandlung und hin zu konsensualen Absprachen - herbeigeführt oder zumindest begünstigt haben, stellt jedoch nur den allgemeinen Hintergrund dar. Diese generellen Ursachen besagen noch nichts darüber, warum in diesem Fall streitig verhandelt wird, in dem anderen Einzelfall aber eine einvernehmliche Lösung erreicht wurde oder dies jedenfalls versucht worden ist. Hier sind keine" Gesetzmäßigkeiten" zu erkennen. Es gibt weder Fallgruppen, in denen von vornherein eine Urteilsabsprache als ausgeschlossen gilt, noch gibt es Bereiche, in denen generell von einer" streitigen" Hauptverhandlung abgesehen würde. \3 Es gibt nur ein Mehr oder ein Weniger. Glatte Fälle mit einer für den Beschuldigten eindeutigen, ungünstigen Beweislage etwa bieten in der Regel keinen Anlass für Absprachen; hier ist ohnehin ein nur kurzer Prozess zu erwarten. Langdauernde Verfahren, die schwierig und nicht ganz berechenbar erscheinen, lassen dagegen nach einer einvernehmlichen Abkürzung suchen. So werden gerade etwa für Wirtschaftsstraf- und Betäubungsmittelstrafverfahren die Absprachen als besonders häufig beschrieben; konfliktreiche, streitige Verhandlungen sind aber nicht ausgeschlossen. Strafverfahren, die Gewaltverbrechen zum Gegenstand haben, sollen weniger für konsensuale Lösungen geeignet sein und sollen angeblich auch weniger auf diese Weise erledigt werden. 13 V g1. Kuckein / Pfister, FS aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von BGH usw., 2000, S. 641, 652; Kruse Fn. 11, S. 149.
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Solche Beschreibungen, die vielleicht einmal zutreffend waren, müssen aber mit dem Hinweis etwa auf Verfahren wegen sexueller Gewalttaten in Frage gestellt werden. In solchen Fällen nämlich gehört eine Absprache, dass ein kooperatives Verhalten des Beschuldigten, das etwa dem missbrauchten Kind einen belastenden Auftritt als Zeuge vor Gericht erspart, mit einer zuvor besprochenen Strafmilderung belohnt wird, zur alltäglichen Gerichtspraxis. Absprachen finden sich in Verfahren vor dem Amtsgericht wie vor dem Landgericht und auch in Strafverfahren, die nach § 120 GVG in erster Instanz vor einem Oberlandesgericht stattfinden, kommt es zu Absprachen. Unangenehme Kurdenprozesse verlieren ihren Schrecken, wenn die Verfahrensbeteiligten sich zuvor einigen, dass man Anklagepunkte, die die PKK als terroristische Vereinigung bewerten, fallen lässt, dass man eine Halbstrafenregelung oder eine Haftverschonung in Aussicht stellt und für eine " maßvolle" Strafe die Bereitschaft der Beschuldigten und ihrer Verteidiger zu einem abgekürzten Verfahren erreicht. Selbst in Schwurgerichtsverfahren werden Urteilsabsprachen praktiziert, auch bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe, nämlich jedenfalls dann, wenn der Bereich einer Strafzumessung im weiteren Sinne in Frage steht oder wenn hierbei die Berücksichtigung eines Geständnisses, einer Kooperation oder eines Verzichts auf mögliche verfahrenserschwerende Rechte im Rahmen der erforderlichen "Gesamtwürdigung" das Einfallstor dafür bietet, etwa einen besonders schweren Fall im Sinne von § 212 Abs. 2 StGB oder die Feststellung besonderer Schuldschwere nach § 57 a Abs. 1 Nr. 2 StGB zum Gegenstand von konsensualen Erörterungen zu machen. Erinnert sei auch an die Möglichkeiten einer Strafmilderung bei Mord und Totschlag im Rahmen der Kronzeugenregelung bei terroristischen oder bei organisiert begangenen Straftaten, wie sie jetzt wieder eingeführt werden sollen, und die geradezu klassische Nährböden für Urteilsabsprachen bilden. Noch einmal: es sind keine "Gesetzmäßigkeiten" für die Wahl von Urteilsabsprachen im Einzelfall zu erkennen. Es gibt auch keine rechtlichen Mittel zur Erzwingung einer Absprache; ein Versuch zu einer Absprache bleibt aber jedem Beteiligten unbenommen. Der Befund kann nur dahin lapidar zusammengefasst werden: Wenn dem Richter, dem Staatsanwalt oder dem Verteidiger der Fall "geeignet" erscheint, wenn er eine Absprache für tunIich und zweckmäßig ansieht, dann wird er diese Lösung als zweite und weitere Verfahrensform zur Erledigung anstreben. Nach bisheriger Übung hat er hierfür die freie Wahl. Seine Entscheidung ist insoweit nicht nachprüfbar und keinen rechtlichen Kriterien unterworfen; sie ist willkürlich. Dass diese Praxis der freien, beliebigen Wahl der jeweiligen Verfahrensform zu nur schwer erträglichen Unzulänglichkeiten, zu groben Verletzungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes führt, kann nun aber - und zwar trotz des Schweigens des BGH und weiter Teile des Schrifttums zu diesen Problemen - ernsthaft nicht in Abrede gestellt werden. Es ist kein Geheimnis, dass eine konsensuale, nicht streitige Erledigung vor al\em im Eigeninteresse al\er professionel\en Verfahrensbeteiligten liegt.14 Der Eigennutz der jeweiligen Absprachebeteiligten und ferner das, was Weigend in seiner rechtsvergleichenden Studie anlässI. Vgl. Schünemann (pn. 12) B 31 ff., 35 f.; Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, 1990, S. 54 f. 4 Ringvorlesung WS 2001 /2002
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Bruno Terhorst lich des 58. Deutschen Juristentages 1990 als .. courthouse work group" näher beschrieben hat, also, in meinen Worten, das die professionellen Akteure verbindende positive Gefühl, einen Fall einvernehmlich und zur allgemeinen Akzeptanz gelöst zu haben und damit die künftige weitere Zusammenarbeit der Gruppe nicht durch Konfrontation und belastenden Streit gefährdet zu haben - das sind die eigentlichen Triebfedern, die generell zu Urteilsabsprachen führen, die aber auch den Einzelfall festlegen, in dem diese Verfahrensform statt der StPO oder neben der StPO praktiziert wird.
Der Richter erreicht einen Verfahrensabschluss in oft deutlich kürzerer Zeit. Die Belastungen und Anforderungen, die in einer "streitigen" Hauptverhandlung speziell auf den Gerichtsvorsitzenden zukommen, entfallen weitgehend. Der auf dem Strafrichter lastende Entscheidungsdruck, vielleicht gepaart mit einem Bewusstsein der Fragwürdigkeit strafrichterlichen Tuns, kann ganz wesentlich erleichtert werden, wenn ein Konsens aller und damit eine Entlastung des jeweiligen Einzelnen gefunden werden kann. Auch kann er regelmäßig damit rechnen, wenn es nicht gar vereinbart ist, dass das Urteil nicht mit Rechtsmitteln angefochten und daher nur ein abgekürztes Urteil zu schreiben sein wird. Ein großer Gewinn! Auch den Staatsanwalt erfreut ein Ergebnis, das einmal seine Anklage zumindest dem Grunde nach bestätigt, sowie das nicht immer absehbare Risiko einer zeitraubenden Hauptverhandlung umgeht und das zum anderen auch ihm Zeit gibt, sich anderen Aufgaben und weiteren Erledigungen zuzuwenden. Die Erledigungsstatistiken steigen und dies erfreut, neben Richter und Staatsanwalt, nicht zuletzt, sondern ganz besonders auch Justizverwaltung und Behördenleitung. Für den Verteidiger wiederum bringt eine rasche Erledigung nicht selten einen ökonomischen Anreiz und sie verschafft dem Freiberufler die Gelegenheit, sich um neue Mandanten zu kümmern. Außerdem hat er immer noch die Chance, dem Beschuldigten die gelungene Urteilsabsprache als besonderen Erfolg zu verkaufen und als Frucht seiner Professionalität und seiner Stellung als Insider der Gerichtselite darzustellen. Natürlich werden alle Beteiligten einer Absprache für sich in Anspruch nehmen, sich von sachlichen Gesichtspunkten leiten zu lassen. Vordergründig will man sogar oftmals für den Beschuldigten nur das Beste. Der Verteidiger sieht, dass sich für seinen Mandanten eine Verweigerung der Kooperation allenfalls negativ auswirken würde. Gericht und Staatsanwaltschaft leben nicht selten in der Vorstellung, dass auch die verkürzende Urteilsabsprache nur das Ergebnis bringe, was letztlich auch am Ende einer streitigen Hauptverhandlung gestanden hätte. Es herrscht also regelmäßig Harmonie im Gerichtssaal, wenn ein abgesprochenes Urteil verkündet wird. Statt unnötiger Konfrontation hat vermeintlich die Vernunft gesiegt. Wenn ein Urteil konsensual herbeigeführt und allseits akzeptiert wird, wird es wohl richtig sein. Man möge sich aber nicht täuschen. Wo alle gewinnen, ist Misstrauen angebracht. Der Beschuldigte etwa wird als Laie seine Beurteilung, ob er gut weggekommen ist, zumeist nur auf die Information stützen können, die ihm sein Verteidiger gegeben hat. Dieser aber in seiner oft beschriebenen Rolle als "Doppelagent"lS wird die Tendenz haben, das von ihm - und zwar zunächst meist ohne
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Beteiligung des Beschuldigten - abgesprochene Ergebnis auch als vorteilhaft und akzeptabel darzustellen. Ob der Angeklagte also wirklich gut bedient wurde und ob seine Interessen nachhaltig und optimal vertreten wurden, erscheint durchaus ungewiss. So sieht auch der Strafverteidiger Weider - in der Geschichte der Urteilsabsprachen vielleicht besser bekannt als der Anonymus "Detle! Deal aus Mauschelshausen " - die Gefahr, dass Mandanten von ihren eigenen Verteidigern " verkauft" werden. 16 Vernachlässigt wird auch das Opfer der Straftat. Nur selten wird es zu einer angestrebten Urteilsabsprache angehört oder gar an ihr beteiligt. Eine Teilnahme weiterer Personen kompliziert und ist einer einvernehmlichen Regelung unter den professionellen Akteuren nicht förderlich. Vollends wird außer Acht gelassen, welche negativen Wirkungen die Praxis von Urteilsabsprachen auf die Öffentlichkeit und auf das Rechtsbewusstsein unserer Gesellschaft haben kann. Hinzu kommt aber folgendes und dies ist für unsere besorgte Frage: " ... Freie Wahl für Urteilsabsprachen?" das wichtige: Ehrenwerte Motive und sachliches Streben nach vernünftiger Verfahrensabkürzung sei allen Beteiligten zugebilligt. Realistisch erscheint aber auch, die Gefährdungen und die Verfülubarkeit der Absprachebeteiligten nicht zu vergessen, gerade auch weil wir schon zuvor festgestellt haben, dass der Eigennutz der Beteiligten die wirksamste Triebfeder für Urteilsabsprachen ist. Von Adenauer gibt es den schönen Satz, dessen hintergründige Banalität auch alte Strafrichter immer wieder bestätigt sehen, nämlich den Hinweis: "Se müssen de Menschen nehmen wie se sind - andere jibt et nicht". Und so lehrt die Menschenkenntnis ebenso wie die Erfahrung aus der Praxis, dass Urteilsabsprachen eben nicht selten auch Ausdruck menschlicher Schwächen sein können, dass sie entstehen aus Bequemlichkeit und Faulheit, aus mangelnder Bereitschaft, sich streitigen und oft extrem belastenden Auseinandersetzungen zu stellen, aus einer Scheu vor revisionsgerichtlicher Kontrolle, aus einern zu großen Harrnoniebedürfnis oder geleitet von persönlichen Gerechtigkeitserwägungen, die sich etwa an gesetzlichen Strafandrohungen reiben. Oft werden sich eher ideell gut gemeinte und vordergründig eigennützige Motive mischen. Eine Rolle spielen Sympathien oder Antipathien, zufällige Konstellationen persönlicher Art - die gleiche Wellenlänge oder frühere vertrauensbildende Erfahrungen -, die verschiedenen Terminkalender, die jeweiligen Prozesssituationen sowie alle möglichen Zweckrnäßigkeitserwägungen. Aus allem folgt und so ist es schon früher gelegentlich beschrieben worden, dass es einern "Lotteriespiel" gleicht, ob Absprachen angestrebt und erreicht werden oder nicht. 17 Mir erschien es immer wie eine "Kadi-Justiz", die jede Berechenbarkeit und Beständigkeit vermissen lässt. 18 Schmidt-Hieber, eigentlich ein fiühzeitiger Pionier der" Verständigung Blumberg, StV 1988,79; Weigend (Fn. 14) S. 46. Weider (Fn. 2) S. 149 sowie S. 156 mit der sarkastischen Beschreibung, dass es nicht mehr Sache des Gerichts sei, seine Entscheidung mündlich mitzuteilen und verständlich zu machen; vielmehr habe der Verteidiger - als Gehilfe des Gerichts und an dessen Stelle - dem Angeklagten das Urteil zu verkünden und ihn auch noch zur Annahme durch Rechtsmittelverzicht zu drängen. 17 Baumann, NStZ 1987, 157, 159. IS
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Bruno Terhorst im Strafverfahren ", hat in einer bemerkenswerten Abkehr von früheren Positionen eindringlich davor gewarnt, dass die Praxis ihre Wahl zwischen Urteilsabsprachen oder aber herkömmlichen Verfahren ausschließlich nach eigennützigen Zweckmäßigkeitsüberlegungen ausrichte, dass eine tagtägliche Willkür die Wahl der jeweiligen Verfahrensordnung bestimme und dass Eigennutz und Bequemlichkeit zu einer deutlichen Bevorzugung, zu einem "Privileg des Wohlstandskriminellen" fiihre. 19 Dieser Beurteilung, dass reiche und mächtige Beschuldigte, denen qualifizierte und angesehene Verteidiger zur Seite stehen, ungleich stärker begünstigt werden, kann nur zugestimmt werden. Diese Beobachtung wird heute dahin zu ergänzen sein, dass generell der Beschuldigte, der sich nicht auf eine Absprache einlassen will oder der sich im Einzelfall in einer schwachen Position befindet, nicht reich und nicht mächtig ist, keinen erfahrenen Beistand hat, oder dessen Fall beweismäßig glatt und unkompliziert ist, von vornherein benachteiligt wird, und dies um so eher, je mehr die Urteilsabsprache zum Normalfall der Erledigung wird.
Diese willkürliche und ungleiche Anwendung der "konsensualen" Verfahrensfonn der Urteilsabsprachen darf nicht mit dem Hinweis auf andere Ungleichbehandlungen etwa in den Bereichen der Strafzumessung oder der Anwendung der §§ 153, 153 a StPO beschönigt oder kleingeredet werden. Einmal sollte es von vornherein kein zulässiges Argument sein, einen Missstand durch einen Verweis auf noch andere Übel zu entschuldigen. Eher sollte es doch Anlass sein, weitere Übel erst recht zu venneiden. Zum anderen zeigt auch ein näherer Vergleich mit der Strafzumessung oder mit den §§ 153, 153 a StPO ganz entscheidende Unterschiede zu unserer Problematik auf. In der Strafzumessungspraxis sind zwar Unterschiede und Ungleichbehandlungen, in regionalen Bereichen wie in ein- und demselben Gerichtsbezirk, nicht zu bestreiten. Auch wird dem Tatrichter ein Spielraum der Beurteilung und Bewertung zugestanden. Aber, und das ist entscheidend, der Vorgang der Strafzumessung richtet sich nach gesetzlich vorgegebenen Kriterien, er ist Teil einer gesetzlichen und von Rechtsprechung und Wissenschaft immer mehr entwickelten Dogmatik und unterliegt als Akt der Rechtsanwendung der Kontrolle durch die Rechtsmittelgerichte. Nichts davon bei der Wahl der Verfahrensordnung " Urteilsabsprache "; diese Wahl ist beliebig und nicht überprüfbar.
18 Terhorst, DRiZ 1988, 196, 197. Vgl. ferner Küpper/Bode (Fn. 13) S. 357, Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rdnr. 53 und 54 sowie Weigend (Fn. 15) S. 58/59 - es wird dort - für die Praxis in den USA - "die ungezügelte Ermessensmacht des Staatsanwaltes und die Informalität des Verfahrens" zitiert, "die eine Entwicklung verbindlicher Maßstäbe ebenso ausschließt wie die Berufung auf ähnlich entschiedene Präzedenzfalle". Es fehle ein System, das "nach allgemein verbindlichen Kriterien gegenüber allen Beschuldigten in gleicher Weise angewandt würde". Genau dies ist auch unser Problem. 19 Grundlegend zunächst zur konsensualen Dogmatik in "Verständigung im Strafverfahren", 1986, S. 4 ff. Zu der eigennützigen und willkürlichen Anwendung von Absprachen, die auch nach Schmidt-Hieber "nicht einmal im Ansatz" diskutiert werde, vgl. NJW 1990, 1884, 1885 f. In DRiZ 1990, 321, 325 resümiert Schmidt-Hieber: "Willkür, Opportunismus, Ungleichheit beim Einsatz der Verständigung sind beschämend - bis hin zur Trostlosigkeit, jedenfalls für jemand, der als erster Verständigung propagiert und dabei von hohen und hehren Zielen dieser Art der Verfahrenserledigung geschwärmt hat".
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Auch bezüglich der Praxis der Einstellungen nach den §§ 153, 153 a StPO ist zunächst zuzugestehen, dass Ungleichbehandlungen und eine allzu oft ausufernde Anwendung dieser Vorschriften beklagt werden müssen. Zudem ist der Ablauf und das "Handeln" der Beteiligten, welches dann in eine einvernehmliche Einstellung des Verfahrens mündet, nahezu identisch mit dem Geschehen und dem ,,Handeln" vor einer Urteilsabsprache. Nicht umsonst muss man die Einführung des § 153 a StPO und seine ständigen Erweiterungen durch den Gesetzgeber als wesentliche Geburtshelfer für die Praxis der Urteilsabsprachen ansehen. Aber auch hier bestehen entscheidende Unterschiede. Der Gesetzgeber hat entschieden und das Gesetz benennt einzelne Voraussetzungen für diese konsensuale Erledigungsform. So kommen beispielsweise nur Vergehen, nicht Verbrechen, für eine Einstellung in Betracht und es werden die Schwere der Schuld und das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung näher beschrieben. Nur unter den einzelnen aufgeführten Voraussetzungen darf nach den §§ 153, 153 a StPO verfahren werden. Wenn diese Kriterien auch oftmals nur eine grobe Orientierung ermöglichen werden, so entspricht dies dem Gesetz. Bei der hier in Frage stehenden Wahl zwischen .. streitiger" Hauptverhandlung und konsensualer Absprache gibt es keinerlei vergleichbare Kriterien, an denen die Beteiligten ihre Entscheidung ausrichten können und müssten. Wie wir gesehen haben, lassen sie sich vielmehr allzu leicht von Faktoren leiten, die letztlich wenig mit dem Strafgesetz oder mit den Zielen des Strafverfahrens zu tun haben. Eine auch .. verfahrensrechtliche Gerechtigkeit" wird offenbar nicht angestrebt. Nun wäre vielleicht an einer freien Wahl für Urteilsabsprachen nichts Entscheidendes zu bemängeln oder auszusetzen, wenn die mit den Absprachen erzielten Ergebnisse entweder denen entsprechen, die auch nach einer streitigen Hauptverhandlung ,,herauskommen" oder wenn sie jedenfalls dem Beschuldigten "gerecht" werden. Aber ein solcher Trost ist nicht zu finden. Empirische vergleichende Untersuchungen zu den Ergebnissen je nach streitiger oder nach konsensualer Verfahrensform gibt es meines Wissens nicht. Ihre Bewertung und Aussagekraft würde auch, so kann prophezeit werden, kaum zu meisternde Schwierigkeiten mit sich bringen. Allerdings gibt es durchaus Vorstellungen oder Einschätzungen von Absprachebeteiligten - sie sind zuvor bereits einmal angesprochen worden -, wonach die verkürzende Urteilsabsprache nur das Ergebnis bringe, was letztlich auch am Ende einer streitigen Hauptverhandlung gestanden hätte und außerdem noch allen Beteiligten, auch dem Beschuldigten, den Zeugen usw., eine belastende Hauptverhandlung erspare und die erstrebten Ressourcen freisetze. Solche Beurteilungen sind aber subjektive Einschätzungen, die letztlich nicht überprüfbar und belegbar sind und denen wohl auch eine rechtfertigende Entlastungsfunktion zugesprochen werden muss. Sie stützen sich lediglich auf eine Prognose, was die Hauptverhandlung nach herkömmlichen Regeln am Ende mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit erbracht hätte. Prognosen aber sind bekanntlich Vorhersagen der Zukunft, Wahrsagen mit Ungewissheiten und Unwägbarkeiten. Natürlich kann oftmals, falls die Ermittlungen sorgfältig und umfassend durchgeführt worden sind und falls die Akteure kundig und erfahren sind, bereits zu Beginn der Hauptverhandlung mit durchaus großer Zuverlässigkeit vorhergesagt werden, was am Ende der Hauptverhandlung herauskommt. Oftmals wird dies dann auch eintreten, aber nicht zwingend, nicht notwen-
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Bruno Terhorst digerweise. Die Erfahrung aus Hauptverhandlungen lehrt, dass es eben doch immer wieder Überraschungen gibt, dass die Hauptverhandlung nicht immer ein bloßes Wiederaufbereiten des bisherigen Ennittlungsergebnisses darstellt.
Es gibt Fälle, in denen einem Beweisantrag ohne große Zuversicht nachgegangen wird und dann doch unverhoffte Erkenntnisse zu gewinnen sind, die auch den Beschuldigten überraschen können. Denn wir müssen uns vor Augen halten, dass ein Beschuldigter nicht immer selbst und aus eigenem Wissen beurteilen kann, ob er schuldig ist oder ob alle relevanten Strafzumessungsfaktoren vorliegen; ein Beschuldigter kann nicht immer alle Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- oder auch Schuldmerkmale "gestehen". Plötzlich kann sich eine veränderte Sachlage ergeben, wie sie auch § 265 StPO in Rechnung stellt und hierfür Vorsorge trifft, eine veränderte Sachlage, die den Schuldspruch in Zweifel ziehen, zum Freispruch führen oder die das Strafmaß positiv oder negativ wesentlich beeinflussen kann. Bei Urteilsabsprachen dagegen gibt es keinen Freispruch - systembedingt wird hier nicht die Unschuld vermutet, sondern von der Schuld ausgegangen - und Überlegungen zum Strafmaß gründen sich nur auf die Erkenntnisse, die aus dem Ermittlungsergebnis oder aus der abgekürzten / verkürzten Hauptverhandlung stammen. Stellt man sodann in Rechnung, dass nicht immer sorgfältig und umfassend ermittelt wird und dass die Akteure auch manchmal weniger erfahren und schon mal weniger gut vorbereitet sind, dann kann aus der bloßen Möglichkeit, dass eine Hauptverhandlung in kontradiktorischer Auseinandersetzung wie auch in inquisitorischer Strenge zu neuen Tatsachen und zu veränderten Sachlagen führt, eine immer mehr zunehmende Wahrscheinlichkeit werden. Mir erscheint es deshalb eher naheliegend, dass die beiden unterschiedlichen Verfahrensarten bereits von ihrer Struktur her und jedenfalls in der Tendenz auch zu unterschiedlichen materiellen Ergebnissen führen können. Was fehlt und was dringend Not tut, ist also eine verbindliche Beschreibung der Kriterien, bei deren Vorliegen eine konsensuale Hauptverhandlung mit einer Urteilsabsprache an die Stelle der herkömmlichen "streitigen" Hauptverhandlung gewählt werden kann, soll oder darf. Wer anders soll diese Aufgabe erfüllen, wer anders soll diese Kriterien beschreiben als der Gesetzgeber? Und er rührt sich tatsächlich! Jahrzehntelang schon hatte man sein Eingreifen gefordert und Vorschläge gemacht - allerdings: es gab auch zahlreiche Stimmen, die eine gesetzliche Normierung für entbehrlich oder sogar, wie der Deutsche Richterbund, für gefährlich hielten, da "jedwede Normierung eines konsensualen Verfahrens ein verhängnisvoller Schritt in Richtung auf eine Zweiteilung des Strafverfahrens" wäre und zu einer" unkontrollierten Schleusenöjfnung zur ausufernden, weil bequemen konsensualen Verfahrenserledigung" fiihre?O Hierüber ist die Entwicklung hinweggegangen. Die 20 Vgl. bei Kintzi, IR 1990, 309 ff. Kintzi - Anm. zu BGH IR 2001,159, 162 - hält auch noch heute ein Tätigwerden des Gesetzgebers für entbehrlich und als eher risikoreich. Bemerkenswert erscheint insoweit auch, dass aus richterlicher Sicht oftmals gerade davor gewarnt wird, dass eine gesetzliche Regelung den Richter seiner Wahlfreiheit zur Absprache - oder nicht - beraube und dass sie gar zu einem rechtlich überprüfbaren Zwang führen könne, diesen Verfahrensgang zu beschreiten, bei Kintzi, DRiZ 1992,248.
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Zweiteilung des Strafverfahrens ist bereits Realität, und es entspricht wohl deutlich überwiegender Auffassung, dass man diese Entwicklung nicht wieder rückgängig machen kann - auch wenn man diese doch grundlegende Veränderung unseres traditionellen Strafprozesses bedauert und ablehnt.
Die Bundesregierung hat im April 2001 ein sogenanntes Eckpunktepapier zur Refonn des Strafverfahrens vorgestellt, nach dem unter anderem als ein Schwerpunkt nunmehr eine "gesetzliche Normierung der Verständigung im Strafverfahren ... der Entwicklung in der Praxis Rechnung" tragen soll.21 In diesem Papier ist an vielen Stellen von "konsensualen Elementen" die Rede. Mit der Begriffsbildung des "partizipatorischen Verfahrens", bei dem bereits im "offener" zu gestaltenden Ennittlungsverfahren "die Beteiligten auf der Basis des gleichen Informationsstandes eine möglichst von allen akzeptierte Lösung" finden mögen, soll sodann "das Rechts- oder Kooperationsgespräch ... in formloser, aber doch institutionalisierter Form ein Instrument" finden, um unter anderem unnötige Fronten und Ermittlungen zu venneiden. "Vermehrte Einbindung" der Beteiligten, "das Rechtsgespräch", ein "offenes Gespräch", ein "gesicherter Konsens", Transparenz und mehr Offenheit im Umgang der Verfahrensbeteiligten miteinander - das sind allenthalben die Vokabeln, schöne "konsensuale" Wörter. Zur angestrebten gesetzlichen Normierung der Urteilsabsprachen folgt dann aber nur der eine Satz: "Sie soll in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH und des BVG die dabei zu beachtenden rechtsstaatlichen Anforderungen an verfahrensbeendende Absprachen gewährleisten und insbesondere auch sicherstellen, dass der Boden für eine schuldangemessene Strafe nicht verlassen wird".
Diese sparsame Zielbeschreibung lässt nicht erkennen, wie die gesetzliche Normierung im Einzelnen aussehen soll. Dementsprechend sind auch die bisherigen Stellungnahmen etwa des Deutschen Richterbundes und des Deutschen Anwaltsvereins zu diesem Punkt sehr zurückhaltend. So stellte der Deutsche Anwaltsverein fest, zwar könne einer Förderung einvernehmlicher Erledigungen "vorsichtig zugestimmt werden ", jedoch hänge" in diesem sensiblen Bereich - Strafverfahren sind nun einmal nicht durch Freiwilligkeit gekennzeichnet, sondern durch möglichen Zwang" - alles von den noch unbekannten konkreten Entwürfen ab.22 Der Deutsche Richterbund will abwarten, ob und wie es einem künftigen "Referentenentwurf" gelingen könne, "die von der Rechtsprechung zum sogenannten Deal entwickelten Vorstellungen" in eine Regelung zu fassen. 23 Wir bewegen uns daher noch im Bereich der Spekulation, wenn wir das sogenannte Eckpunktepapier im Hinblick auf unsere Frage "Fr.eie Wahl für Urteilsabsprachen? " überprüfen. Allerdings nimmt das Papier lediglich Bezug auf die Das sog. Eckpunktepapier ist veröffentlicht in StV 2001, 314. Stellungnahme des Ausschusses ,)ustizreform - StPO" und des Strafrechtsausschusses im DAV zu den Eckpunkten einer Reform des Strafverfahrens, Berlin, Nr. 24/2001, S. 4/5. 23 Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Eckpunkte-Papier der Bundesregierung zur Reform des Strafverfahrens, Juni 2001, S. 5. 21
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zur Absprachepraxis entwickelte höchstrichterliche Rechtsprechung und in dieser hat unsere Problematik bisher keinen Ausdruck gefunden. Hiernach bleibt es durchaus vorstellbar und zu befürchten, dass der Gesetzgeber die Frage nach der freien Wahl zwischen streitiger Hauptverhandlung oder einer einvernehmlichen Absprache nicht beantwortet und hierfür keine gesetzlichen Kriterien aufstellt. Es wäre ja nichts völlig Neues, wenn der Gesetzgeber von der Entscheidung einer zentralen Frage absieht, um sie dann, wie es oft heißt, der Entwicklung und Klärung durch Rechtspraxis und Rechtswissenschaft zu überlassen. Denkbar erscheint auch, dass er lediglich einen ganz allgemein gehaltenen Rahmen festschreibt, also etwa die Möglichkeit eines "Rechtsgespräehs " normiert, das im Ermessen des Gerichtsvorsitzenden liege und das einer einvernehmlichen Urteilsabsprache dienen könne, die dann ihrerseits nach Inhalt und Durchführung den noch weiter zu konkretisierenden Mindeststandards des BGH genügen müsse. Damit wäre jedoch für unser Thema ebenfalls nichts gewonnen. Ungleichbehandlung und Willkür in der Wahl der Erledigungsform wären nicht gebändigt. "Das Gericht soll in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreites ... bedacht sein"
- diese Regel unseres Zivilprozesses in § 279 ZPO kann doch wohl, selbst wenn man das "soll" durch ein "darf" ersetzt, nicht die Maxime für die Schnittstelle und für die Entscheidung zwischen zwei Verfahrensarten im Strafprozess bilden. Gleichwohl - möglicherweise ließe sich mit solchen weiten gesetzlichen Beschreibungen wie eines "Rechtsgespräches ,,24 oder eines " Vortermines ,,25 in der Praxis auskommen, wenn andere, nicht notwendig gesetzliche Kriterien zu einer Gleichbehandlung und zu einer berechenbaren Entscheidung - streitig oder konsensual beitragen könnten. Zu denken wäre hier an die Richtlinien und Empfehlungen der Berufs- und Standesorganisationen, die diese Anfang der 90er Jahre während der langen Zeit gesetzgeberischer Abstinenz vorgelegt haben. Aber auch diese erweisen sich nicht als hilfreich. In den von der Bundesrechtsanwaltskammer vorgelegten "Thesen zur Strajverteidigung,,26 ist zur Frage, ob eine Verständigung über das Verfahrensergebnis statt einer streitigen Auseinandersetzung angestrebt werden soll, lediglich angeführt, dass die Verständigung "sinnvolle Verteidigung" sein könne. Dies ist naheliegend und wäre dahin zu ergänzen, dass in bestimmten Fällen die Verständigung aus der Sicht des Beschuldigten und des Verteidigers die einzig sachgerechte und notwendige Strategie sein wird. Auch dass der Verteidiger seine Wahl für oder gegen eine Absprache richtigerweise nach den jeweiligen Interessen und Zielen seines Mandanten auszurichten haben wird und anderen gegenüber keine Rechenschaft für seine Wahl ablegen muss, ist zu akzeptieren. Z. B. Baumann (Fn. 17). Z. B. Dielmann, GA 1981,558,571. 26 Strafrechtsausschuss der BRAK in Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer Bd. 8, 1992, Thesen 38-44. 24 25
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Umgekehrt kann aber diese Interessenausrichtung keine Richtschnur für die anderen Beteiligten sein. Die von den meisten Generalstaatsanwaltschaften für Absprachen im Strafverfahren erlassenen Richtlinien27 schweigen zu unserer Frage, sie verpflichten den Staatsanwalt lediglich zur Beachtung einzelner Anforderungen an Inhalt und Durchführung einer Absprache. Demgegenüber sprechen die sog. Münsteraner Thesen des Deutschen Richterbundes28 zwar die Frage an, nach welchen Kriterien in dafür geeigneten Fällen eine Absprache anzustreben sei oder nicht. Diese Frage müsse dann aber, so heißt es, "der Verantwortung und dem Selbstverständnis des einzelnen Entscheidungsträgers " überlassen bleiben. Das Berufsethos des Richters und die Wächterfunktion des Staatsanwaltes werden somit als ausreichend angesehen. Unter Berufung gerade auf diese Richtlinien und Thesen wollten die "Absprache-Bejürworter" Böttcher, Dahs und Widmaier 1993 bilanzieren,29 dass die Praxis bei der Anwendung von Urteilsabsprachen sehr wohl" über das notwendige Problembewusstsein " verfüge und sich um "Zurückhaltung und rechtsstaatliehe Sorgfalt" bemühe, sie brauche" kein schlechtes Gewissen zu haben ". Dies ist reine Schönf"arberei. Den "Absprache-Gegner" Schünemann30 hat dieses angebliche Bild der Praxis, dieses "Absprachenelysium ". "in seiner vollendeten Harmonie an die Lebensbilder der Heiligen" erinnert, mit denen es auch den nur sehr eingeschränkten "Realitätsgehalt" teile. Nein, Berufsethos, persönliche Integrität und beste Absichten der Beteiligten sind keine wirksamen Abwehrmittel gegen die Versuchungen und Missstände, die zuvor bereits näher - hoffentlich überzeugend beschrieben worden sind. So wenig wie es das Berufsethos der professionellen Akteure verhindert hat, dass eine Praxis entwickelt und immer mehr ausgeübt wurde, die contra legern oder mit viel konsensualem Wohlwollen betrachtet praeter legern zu bewerten ist, so wenig wird dieses Berufsethos die Kraft besitzen, über den erwiesenen Eigennutz und über den Gruppenkonsens hinweg als ein bitteres, geeignetes Medikament zur Beseitigung der Missstände zu wirken. Eine Selbstmedikation und eine Immunisierung der Beteiligten ist deshalb nicht zu erwarten. Sie wäre schlicht unrealistisch. Der Gesetzgeber bleibt gefragt. Die Aufgabe, die auf ihn wartet, wird äußerst schwierig sein. Er hat eine Verfahrensform in die StPO zu integrieren, die" eigentlieh" in deutlichem Gegensatz zu den wichtigsten Prozessmaximen unseres herkömmlichen Strafverfahrensrechtes steht. Nach meinem Verständnis kann er dies nur, indem er abgesehen von Inhalt und Durchführung der Absprachen, bei denen er sich erklärtermaßen an der BGH-Rechtsprechung ausrichten wird, auch möglichst konkret die Kriterien beschreibt, die die Wahl an der wichtigen Schnittstelle 27
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Z. B. hessischer Generalstaatsanwalt StV 1992, 347. Mitgeteilt bei Kintzi. JR 1990, 309 f., 311. Böttcher/Dahs/Widmaier, NStZ 1993,375. Schünemann. StV 1993,657.
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betreffen zwischen herkömmlichem Verfahren der StPO und der neu akzeptierten und dann in die StPO aufgenommenen konsensualen Erledigungsform der Urteilsabsprache. Wie im Einzelnen die Abgrenzung vorzunehmen sein wird, kann sicherlich auch von den noch näher auszugestaltenden Vorschriften über den zulässigen Inhalt und den notwendigen Anforderungen zur Durchführung von Urteilsabsprachen abhängen. Eine grobe Orientierung und erste Anhaltspunkte können in den gesetzlich normierten Fällen gefunden werden, in denen das geltende Prozessrecht bereits besondere weitere Verfahrensarten und deren Voraussetzungen beschreibt, also etwa das Verfahren bei Strafbefehlen oder das beschleunigte Verfahren nach §§ 407 ff. bzw. 417 ff. StPO oder auch das bereits erwähnte Verfahren bei einer Erledigung durch Einstellung nach § 153 a StPO, die bekanntlich auch in einer Hauptverhandlung erfolgen und diese konsensual abschließen kann. Ähnliche Vorschläge sind schon gemacht worden, so zur Erweiterung des Strafbefehlsverfahrens. 31 Andere Vorstellungen gehen in. die Richtung, dass der Anklagevorwurf zugestanden werden kann mit der Folge einer Halbierung des Strafrahmens. 32 Auch Modelle, die dem "plea bargaining "-Verfahren des anglo-amerikanischen Rechtskreises nahekommen, sind zur Diskussion gestellt. 33 Nicht zuletzt wird auf die Regelungen verwiesen, die vor einiger Zeit bereits in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen zum Beispiel Italiens oder Spaniens zu konsensualen Verfahrens formen getroffen worden sind und deren Erfahrungen genutzt werden könnten. 34 Richter und Staatsanwalt haben in der Vergangenheit ihre Entfernung von der Strafprozessordnung und die Praxis der Urteilsabsprachen zumeist damit zu rechtfertigen versucht, dass nur auf diese Weise der tägliche Arbeitsanfall zu bewältigen sei. Solche Aspekte von Effizienz sowie von Nutzen und Kosten dürfen aber vom Richter, Staatsanwalt oder auch vom Verteidiger, die alle zur Wahrung des Rechts gemäß ihrer Rolle aufgerufen sind, nicht verlangen, eigene Wege zur Verfahrenserledigung nach freier Wahl zu suchen. Die Suche und die Lösung in einem Graubereich contra bzw. praeter legem kann verständlich erscheinen, wenn der in erster Linie zur Klärung berufene Gesetzgeber untätig bleibt und den BGH zum "gesetzesvertretenden Grundsatzentscheider,,3S mutieren lässt. Wenn der Gesetzgeber aber den Regelungsbedarf und seine Zuständigkeit erkannt hat, spätestens dann und damit gilt dies heute - wir sollten den Gesetzgeber nicht aus seiner Verantwortung entlassen. 31 Z. B. Bode, DRiZ 1988,281,287; Weber, DRiZ 2000, 377, 379; generell zu den bisherigen Reformvorschlägen: KüpperlBode (pn. 12) S. 398 f. m. w. N.; KuckeinlPfister (Fn. 13)S. 646 f. 32 Meyer-Goßner, NStZ 1992,579. 33 WagnerlRönnau, GA 1990,387 ff. 34 Vgl. Weigend(Fn 14) S. 89 ff. m. w. N.; Sinner, ZRP 1994,478. 35 Weigend (Fn. 9, Festgabe) S. 1011, 1016/1017; vgl. auch Sinner Anm. zu BGH StV 2000,289,292.
Die Stellung des Strafverteidigers Mitgarant einer effektiven Strafrechtspßege oder einseitiger Vertreter der Interessen des Verteidigten?
Norbert Gatzweiler
§ 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung regelt die Stellung des Rechtsanwalts in der Rechtspflege. Er lautet: ..Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege."
Er hat danach - so das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als Organ der Rechtspflege und als berufener Berater und Vertreter der Rechtssuchenden die Aufgabe auf eine sachgerechte Entscheidung hinzuwirken, Gerichte - ebenso wie Staatsanwaltschaften oder Behörden - vor Fehlentscheidungen zu Lasten seines Mandanten zu bewahren und insbesondere die rechtsunkundigen Mandanten vor der Gefahr des Rechtsverlustes zu schützen. I Eine weitergehende, detailliertere, die spezielle Tätigkeit des Rechtsanwalts als Strafverteidiger regelnde Vorschrift sucht man in diesem "Grundgesetz" des anwaltlichen Berufsrechts vergebens. Die Strafprozeßordnung enthält in den §§ 137 ff. eine Reihe von Bestimmungen, insbesondere Rechte und Privilegien des als Verteidiger tätigen Rechtsanwalts. Aber auch hier suchen wir vergebens nach einer grundlegenden Definition dieser anwaltlichen Tätigkeit. Es wundert deshalb nicht, daß das Fehlen einer einheitlichen Konzeption von Strafverteidigung in der Strafprozeßordnung unterschiedliche Auslegungen zuläßt und - vor allem - das Risiko in sich birgt, subjektive Erfahrungen und Einschätzungen in die entsprechende Norminterpretation einfließen zu lassen. Auch wenn bei denen, die sich mit der Frage nach den normativen Grundlagen und Grenzen der Strafverteidigung näher beschäftigt haben, eine Übereinstimmung dahingehend besteht, daß ein Gesamtkonzept der Verteidigung im "gesetzgeberischen Flickenteppich" der §§ 137 ff. StPO zu beklagen sei, so liegt es nahe, daß sich mit der Zeit - oft von bestimmten Strömungen des sogenannten Zeitgeistes oder aber aufgrund praktischer Erfahrung großer, in Öffentlichkeit und Medien beachteter Strafverfahren - höchst unterschiedliche Definitionsbemühungen mit dem Ziel einer besseren Strukturierung der Befugnisse von Verteidigung und der zulässigen Grenzen von Verteidigerverhalten entwickelt haben. 2 I
BverfG, NJW 1996,3267; BverfG, NJW 1988, 191; BverfG, NJW 1993,1535.
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Norbert Gatzweiler
Seit Jahren tobt ein Theorienstreit über die Stellung des Strafverteidigers im Strafprozeß, seine Rechte, vor allem aber auch seine Pflichten. Erwähnt seien die sogenannte Organtheorie, die eingeschränkte Organtheorie auf der einen, die Interessenvertretertheorie, insbesondere die Vertragstheorie bzw. aus Verfassungsrecht oder Strafprozeßordnung unmittelbar hergeleitete funktionelle Bestimmungen von Strafverteidigung auf der anderen Seite. Einige dieser Theorien scheinen darauf angelegt zu sein, die Rechte von Strafverteidigern einzuschränken, ihnen über das gesetzlich Normierte hinaus zusätzliche Verpflichtungen und Beschränkungen aufzuerlegen und insbesondere die Grenzen vermeintlicher Strafbarkeit weit vorzuverlagern. Hierbei geht es keineswegs um einen folgenlosen Disput. Dies macht die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs deutlich, die zunehmend versucht, dem Strafverteidiger Garantenpflichten für den geordneten Verfahrensablauf und das staatliche Interesse an einer effizienten Strafrechtspflege aufzuerlegen. 3 Nun wäre es verfehlt - dies möchte ich ausdrücklich hervorheben - die Vertreter der Organtheorie als ,,Feinde" moderner, wirksamer Strafverteidigertätigkeit zu diffamieren. Dennoch, die Intensivierung der Diskussion hängt untrennbar mit dem Phänomen konfliktbereiter bzw. konfliktgeneigter Verteidigung im Strafverfahren zusammen, obwohl dieses Phänomen keinesfalls neu, gleichwohl typologisch nach wie vor kaum erfaßtes Terrain des Strafprozesses beschreiten läßt.4 Wenn Karl Peters in seinem Lehrbuch des Strafprozeßrechts niedergelegt hat: ,,Ein Prozeß ist nur dann ordnungsgemäß durchzuführen, wenn der Verteidiger auf das Gericht und das Gericht auf den Verteidiger Rücksicht nimmt. ..5
so muß dieser bedeutsame Satz des auch von mir hochgeschätzten und verehrten Nestors des Strafprozeßrechtes Ernst genommen werden. Daß die Rechtspflege auf loyal prozessierende Verteidiger angewiesen ist, betonen nicht nur höchst- und oberlandesgerichtliche Entscheidungen, sondern maßgebliche Vertreter der Wissenschaft. 6 Wo diese stillschweigende Übereinkunft noch existiert, können Obstruktionsund Sabotagepolitik von Verteidigerseite erst gar nicht gedeihen. 7
2 Vgl. Jahn ..Konfliktverteidigung" und Inquisitionsmaxime, Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger e.V., Bd. 16 1998, S. 113. 3 Vgl. Bemsmann. Stra.F.o 1999,229. 4 Jahn. S. 38. 5 Peters. Lehrbuch § 29 IV, S. 121. 6 V gl. Weigend. Referat - Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Münster 1994 Bd. 11 / 1 München 1994, S. M 11 ff.; Hassemer, ZRP 1980, S. 326; Beulke. Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 14. 7 Vgl. auch Ostendorf, DriZ 1993, 197, 198.
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Gleichwohl darf der beschworene, für den rechtsstaatlichen Strafprozeß als unerläßlich apostrophierte Grundkonsens nicht verabsolutiert, schon gar nicht als zwingend und nicht diskutierbar in den Raum gestellt werden, fehlt es doch an einer insoweit bestehenden gesetzlichen Einbindung der Verteidigung in ein solches Grundkonzept. Dem ist entgegenzuhalten: Der Verteidiger hat vorrangig, wenn nicht ausschließlich Verteidigungsdefizite der von Strafverfolgung betroffenen Bürger zu kompensieren. Er kann nicht umgekehrt die Pflicht haben, einen möglichst reibungslosen Prozeßablauf zu gewährleisten und eine Kooperationsbereitschaft mit Gericht oder Staatsanwaltschaft zu zeigen. Schon gar nicht trifft ihn die Pflicht den eigenen Mandanten zu disziplinieren oder zu bevormunden. 8 Es muß mit Entschiedenheit einer zum Teil bedenklichen Entwicklung in Gesetzgebung. und höchstrichterlicher Rechtsprechung entgegengetreten werden, die die Verteidigung gewollt oder ungewollt zu disziplinieren versucht. Es kann nicht richtig sein, daß Verfahrensverstöße des Gerichts in der Hauptverhandlung durch Versäumnisse der Verteidigung (zum Beispiel einen unterlassenen Widerspruch) geheilt bzw. geradezu eine Hinweispflicht des Verteidigers begründet werden soll, die dem Gericht die Korrektur der von ihm begangenen Verfahrensfehler ermöglicht. Zur Sicherung einer effektiven Strafrechtspflege und eines geordneten Verfahrensablaufs sind Gericht und Staatsanwaltschaft weitreichende Kompetenzen durch die Strafprozeßordnung eingeräumt. Ihnen korrespondieren entsprechende Sorgfaltspflichten, diese Rechte verfassungsgemäß und fair auszuüben. Demgegenüber ist der Strafverteidiger - wie es Roxin zu Recht hervorhebt ,,rechtsstaatlicher Garant der Unschuldsvennutung für den Beschuldigten,,9
Selbstverständlich ist ebenso, daß die gesetzlich normierte Grenze für jede Strafverteidigertätigkeit die Einhaltung der geltenden gesetzlichen Bestimmungen ist und daß strafrechtliche Verhaltensnormen der Verteidigertätigkeit Grenzen setzen. Darüber hinausgehende Überlegungen im Schrifttum, gelegentlich aber auch noch aus dem Bereich der Anwaltschaft selbst, können nur Anregungen, Handlungsanleitungen und Hilfen für die tägliche Praxis des Strafverteidigers sein, nicht mehr und nicht weniger. Versuche, praeter oder sogar contra legern darüber hinaus Strafverteidigern Beschränkungen aufzuerlegen und sie in berufsrechtliche Fesseln zu legen, sind zurückzuweisen. Das hat nichts damit zu tun, daß je nach Einzelfall, konkreter Verfahrenslage, psychologischer Gesamtsituation und Interaktion Verteidigerhandeln unterschiedlich gestaltet sein kann und muß. 10 Bernsmann, Stra.F.o 1999, S. 229. Roxin, Gegenwart und Zukunft der Verteidigung im rechtsstaatlichen Strafverfahren, in Festschrift für Ernst-Walter Hanaele, insb. S. 8 ff. 8
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In der neueren Diskussion wird deshalb nicht übersehen, daß Begriffe wie ,,konfliktbereite Verteidigung" bzw. "Konfliktverteidigung" keineswegs Synonyme für mißbräuchliches und dysfunktionales Verteidigerverhalten sind. 11 Der zentrale Argumentationstopos des Grundkonsenses im Strafverfahren läßt allzu leicht Fehlinterpretationen konkreten Verteidigerverhaltens befürchten. Leicht wird dem Verteidiger dysfunktionales Handeln unterstellt, wenn er durch Wahrnehmung ihm durch die Strafprozeßordnung ausdriicklich eingeräumter Befugnisse die Herbeifiihrung einer Entscheidung in - aus der Sicht von Staatsanwaltschaft und Gericht - angemessener Frist verhindert. 12 Daneben wird leicht als Auslegungsmaxime darauf zurückgegriffen, daß es nicht Sinn und Zweck strafprozessualer Nonnen sein könne, Handlungen zuzulassen, die den Eintritt der Prozeßziele unmöglich machten oder doch erheblich verzögerten. Das Strafverfahren dürfe nicht "zu unlauteren Nebenzwecken" mißbraucht werden. 13 Damit wird neben der kritischen Betrachtung von Strafverteidigung auf der Zeitebene (Beendigung eines Verfahrens in angemessener Frist) auch eine weitere Kontrollinstanz auf der Zweckebene in die Diskussion eingeführt, die letztlich in der Kritik gipfelt, daß der Verteidiger seinen Beruf oder unter Verletzung der mit seinem Beruf verbundenen Pflichten das Strafverfahren durch Handlungen mißbraucht, welches die schnellstmögliche Erreichung der Prozeßziele verhindern solle. Vor allem besteht die Gefahr, daß bereits der Konflikt - gleich von welchem Prozeßbeteiligten er ausgelöst wird - die Verteidigung in den Verdacht prozeßordnungswidrigen Verhaltens bringen könnte. Stellung und Aufgabe des Verteidigers bringen zwangsläufig täglich Konflikte mit sich. In der neueren Diskussion um Stellung und Aufgaben des Verteidigers hat sich für die einfache Tatsache, daß die Antinomien der Rechte und Pflichten des Verteidigers es unvenneidlich machen, daß vielseitiger Konfliktstoff entsteht, im Streit um Stellung und Aufgaben des Verteidigers aus dieser Binnenperspektive ein externer Zugriff auf das Konfliktpotential von Strafverteidigung ergeben. Das Schlagwort von der Konfliktverteidigung ist zu einem Kamptbegriff gegen alle Fonnen als zu aktiv, störend, verfahrensverzögernd empfundener Verteidigeraktivitäten geworden. Mit diesem Schlagwort wird versucht, rechtsmißbräuchliche Verteidigungsstrategien zu kritisieren. Typisch seien Handlungen, die im Ergebnis auf eine Verhinderung von Strafrechtspflege hinausliefen. Es handele sich gar um Gatzweiler; StV 1985, S. 248. Vgl. Barton, StV 1995,290,292; Jahn, S. 39. 12 Niemöller; StV 1996, 501; Maatz, NStZ 1992, 513; Wassennann, NJW 1994, 1106, 1107. 13 BGHSt 2, 284; Niemöller ebenda. 10
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einen Kampf gegen die Rechtsordnung mit den Mitteln des Strafprozeßrechtes, eine soziale Errungenschaft - die Strafverteidigung - die ein Kampfverhältnis dergestalt ins prinzipiell Umegelbare hineintreibe. Begriffe wie ,,Amokverteidigung", "Chaosverteidigung" und ,,Prozeßrabatz" sind allzu leicht bei der Hand, um unliebsame Verteidigungsaktivitäten zu diffamieren. All dies könne im Interesse der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, aber auch im vermeintlich wohl verstandenen Interesse eines Angeklagten nicht hingenommen werden. 14 Verkannt wird hierbei insbesondere, daß der Begriff der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege auf eine Staatsanwalts- oder Richterposition reduziert wird. Offensichtlich kann Konfliktverteidigung in diesem Verständnis nur mit Blick auf Prozeßziele und Prozeßstruktur des Strafverfahrens verkürzt gesehen werden. Die Verfahrensherrschaft des Vorsitzenden soll ungestört durchgesetzt werden. Zu fragen ist demgegenüber, was ,,nicht sachbezogene", ja rechtswidrige Verteidigung tatsächlich ist. In soziologischen Untersuchungen ist diese enge juristische Sicht, wonach "Gericht und Staatsanwaltschaft ein gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege, nämlich den Verteidiger in Wirklichkeit in eine der Funktionstahigkeit des Strafverfahrens untergeordnete Sekundärrolle abzuschieben versuchen, sehr viel kritischer gesehen worden: Auf die soziologischen Konflikttheorien kann im Rahmen dieses Referates nicht näher eingegangen werden. Lassen Sie mich nur auf Ralf Dahrendorf zurückgreifen, der gerade mit Bezug auf den bundesdeutschen Strafprozeß als Prototyp eines inquisitorischen Strafverfahrens versucht hat, die ihm inne wohnenden strukturellen Konflikte detaillierter darzustellen. Dahrendorf weist darauf hin, daß - anders als im angelsächsischen Strafverfahren - der Richter im bundesdeutschen Strafprozeß aktiv an der Verhandlung teilnehme. Er, der Richter, und die Staatsanwaltschaft seien im Staatsdienst, ,,Beamte". Der Verteidiger dagegen Privatmann. Dieser Status könne sozial aber auch rechtlich nachteilig sein, denn der Verteidiger sei aufgrund dieser Position schwerlich ein gleichrangiger Gegner des Anklägers. Zugleich spiegele sich die Tradition des deutschen Strafverfahrens in der Annahme wieder, die Staatsanwaltschaft sei als objektivste Behörde der Welt in der Lage und berechtigt, Konfliktpotentiale autoritativ und inhaltlich zu absorbieren, statt ihre Austragung im durch die Strafprozeßordnung geschaffenen formalen Rahmen zu ermöglichen. Zusammenfassend neige also die Prozeßwirklichkeit des Strafverfahrens dazu, konflikthaftes und abweichendes Verhalten gleichzusetzen, statt Konflikte als Ausdruck der Reformbedürftigkeit der Grundstrukturen der Institutionen zu begreifen. 15 14 Vgl. Kropil, ZRP 1997,9, 12; Ankennann, DRiZ 1993,67,69; OLG Hamburg, NJW 1998, 621; Bertram, ZRP 1996, 46, 48.
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Mit Recht wird deshalb die These vertreten, daß strukturell-funktionale Defizite des Strafprozesses in Deutschland Konflikte und vor allem konflikthafte Verteidigung fordern, weil das antagonistische Prinzip der Rollenverteilung im deutschen Strafverfahren nicht symmetrisch ist, sondern stets die Verteidigung und ihre Wirkungschancen beschneidet. 16 Die viel beschworene "Waffengleichheit" bleibt Theorie. Sie wird ebenso wie der Begriff des Verteidigers als "Organ der Rechtspflege" zu dessen Disziplinierung und zum Vortäuschen in der Realität des deutschen Strafprozesses keineswegs ausbalancierter Macht- oder Befugnisverteilung benutzt. Um der Rolle des Widerparts und Kontrolleurs staatlicher Macht gerecht zu werden, muß der Verteidiger die Interessen des Beschuldigten in defensiver ebenso wie in offensiver Hinsicht wahrnehmen. Dabei folgen die einzelnen Aufgaben unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Postulat der SubjektsteIlung des Beschuldigten: Weil der Beschuldigte nicht zum bloßen Untersuchungsgegenstand gemacht werden darf, ist der ihm zur Seite stehende oder gestellte Verteidiger gefordert, staatliche Ermittlungsmaßnahmen, denen eine Tendenz zur Degradierung der von ihnen betroffenen Personen nicht fremd ist, zu kontrollieren und ggfls. anzufechten. Darüber hinaus gehört es zur Natur eines Prozeßsubjekts und entspricht dem Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), Einfluß auf das Prozeßergebnis zu nehmen oder dies zumindest zu versuchen. Auch in dieser Hinsicht hat der Verteidiger dem Beschuldigten beizustehen, hat der "Gegenseite" alternative Geschehensabläufe oder Rechtsansichten anzubieten und darüber ggfls. auch zu "verhandeln". 17 Damit der Verteidiger diese Aufgaben tatsächlich wahrnehmen kann, bedarf es nicht nur allgemeiner juristisch-forensischer Kompetenz und Engagements - es muß eine Fülle weiterer Rahmenbedingungen gegeben sein, z. B.: Der Verteidiger kann seiner Schutzfunktion nur gerecht werden, wenn eine ungehinderte Kommunikation zwischen ihm und dem Beschuldigten gewährleistet ist. Nur in einer "ungezwungenen" Atmosphäre haben Beschuldigter und Verteidiger die Chance, offen über den Grund der Beschuldigung und die Verteidigungsmöglichkeiten zu reden. Das Vertrauen ist die unabdingbare, die unerläßliche Basis für eine erfolgreiche Strafverteidigung. Wenn ich also die Position eines vermeintlich unerläßlichen Grundkonsenses der Prozeßbeteiligten im Strafprozeß einschließlich des Verteidigers hier kritisch beleuchte, so geschieht dies neben den dargelegten, in den soziologischen Konflikttheorien beschriebenen strukturellen Defiziten des Strafprozesses zu Lasten 15 V gl. Dahrendoif, Konflikt und Freiheit auf dem Weg zur Dienst-klassengesellschaft, München 1972, S. 166,312 f. 16 Jahn, S. 82. 17 So mit Recht Bernsmann, Stra.F.o 1999, 229.
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von Angeklagten und Verteidigtem, nicht zuletzt auch aufgrund langjähriger praktischer Erfahrungen meiner und der jüngeren Strafverteidigergeneration in Deutschland. Gerade im Zuge anstehender Gesetzesänderungen, deren Auswirkungen auf die Verteidigungsrechte von Beschuldigten und Angeklagten noch gar nicht abzusehen sind, muß eine Grundkonzeption moderner Strafverteidigung sich auf die elementaren Pflichten und die Schutzfunktion des Verteidigers für den von Strafverteidigung betroffenen Bürger besinnen. Auch im demokratischen Rechtsstaat sind die Rechte von Beschuldigten gefährdet, insbesondere dann, wenn Staatsanwälte und Richter sich dem Prinzip des fair trial und den von Grundgesetz und Strafprozeßordnung kodifizierten Grundüberzeugungen unseres Strafverfahrensrechtes nicht verpflichtet fühlen. Die von mir mit der großen Mehrheit deutscher Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger vertretene Grundkonzeption moderner Strafverteidigung ist sich vor allem deshalb der Tatsache bewußt, daß Freiheits- und Vennögensrechte der von Strafverfolgung betroffenen Bürger in der heutigen Zeit zunehmender Gefährdung ausgesetzt sind. Staatsanwaltschaften und Strafgerichte haben durch umfassende Verfallsvorschriften und die diesen vorgelagerten Zugriffsmöglichkeiten eine nahezu unkontrollierbare Machtfülle bereits in einem frühen Stadium des Ennittlungsverfahrens erhalten - Unschuldsvennutung hin oder her-. Ein so scharfes Instrument wirtschaftlicher und sozialer Gefährdung bis hin zum wirtschaftlichen Ruin und sozialer Vernichtung muß Strafverteidigung als verfassungsrechtlich und strafprozessual begründeten Gegenpol auf den Plan rufen. Sie muß - von allen Fesseln gezielter Bevonnundung und Disziplinierung befreit - auf der Seite des Betroffenen kämpfen. Daß derartige Aktivitäten von Strafverteidigern durch Medien und die sogenannte öffentliche Meinung, aber auch durch Personen aus dem lustizbereich mit Mißtrauen und Argwohn betrachtet werden, ist nicht zu ändern. Immerhin: Noch 1987 hat das OLG Oldenburg Strafverteidiger gegen die verleumderischen Verallgemeinerungen der Vorinstanz in Schutz nehmen müssen und erklärt, es gebe keinen Erfahrungssatz des Inhaltes, daß Verteidiger ständig strafvereiteln und zu Falschaussagen anstiften. 18 Bei der hier entworfenen Grundkonzeption moderner Strafverteidigung ist zu beachten, in welchem gesellschaftlichen Umfeld der Strafverteidigerberuf ausgeübt wird. Einerseits wird der Verteidiger als unerschrockener Kämpfer für Menschenrechte und Garant der Unschuldsvennutung sozusagen zum rechtsstaatlichen Leitbild erhöht; andererseits als Helfer, ja sogar Kumpan von Straftätern aggressiv angegangen. 19 OLG 01denburg, StV 1997,523. Roxin. S. 8 ff.; zur Gegenposition vgl. Dornach. Der Strafverteidiger als Mitgarant eines justizfönnigen Strafverfahrens 1994; Beulke. Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 1998, Rn. 151; ders .• Der Strafverteidiger im Strafverfahren 1980, 88 ff. 18
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Roxin macht in diesem Zusammenhang folgendes besonders deutlich: Diese Ambivalenz des Verteidigerbildes in der Gesellschaft, insbesondere den Medien, weist auf beängstigende Defizite hin. Der Wert der Verteidigung für einen rechtsstaatlichen Strafprozeß ist erheblichen Teilen der Öffentlichkeit offenbar noch nicht hinreichend bewußt. Roxin weist mit Recht darauf hin, daß man Menschen nicht nach Stammtischmanier in anständige Bürger und gefährliche Kriminelle mit der Wirkung aufteilen kann, daß gegen die zweite Gruppe im Interesse der ersten ohne viel Federlesen eingeschritten werden muß. Vielmehr sollte sich jeder in diesem Lande bewußt sein, daß er jederzeit zum Beschuldigten eines Ermittlungsverfahrens werden kann. Auch dann bleibt die Unschuldsvermutung der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 6 Abs. 2) für ihn unangetastet erhalten. Er kämpft, wenn er von staatlicher Strafverfolgung erfaßt wird, um seine Rechte, oft um seine bürgerliche Existenz. Dies muß bewußt gemacht werden und kann vielleicht die Auffassung von Strafverteidigung in der Bevölkerung positiv beeinflussen und damit auch die tägliche Arbeit des Strafverteidigers erleichtern. Es erscheint deshalb - jenseits allen Theorienstreites - entscheidend die notwendigen Aktivitäten moderner Strafverteidigung konkret zu umreißen: Im Gerichtsalltag und in seinen dort entwickelten konkreten Aktivitäten hat der Verteidiger insbesondere auch jedem Mißbrauch der immer umfassender werdenden Machtbefugnisse von Staatsanwaltschaft und Gericht entgegenzutreten. Es geht nicht an, daß durch die tatsächlich wie rechtlich unvertretbare Behauptung der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung i. S. d. § 129 StGB Staatsanwaltschaften zu einem Rundumschlag ansetzen und alle Register der Eingriffsrechte und Zwangsmaßnahmen der §§ 98 c - 104 StPO ziehen. All diese Eingriffe sind rechtswidrig und müssen mit allen, der Verteidigung zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft werden, wenn es tatsächlich nur um Steuerhinterziehung, Betrug, Untreue, Diebstahl oder Hehlerei geht. Modeme und effiziente Strafverteidigung muß daher aufrüsten; sie darf nicht abgerüstet und demoralisiert werden, um gegenüber derartigen rechtswidrigen Eingriffen einschreiten zu können. Dazu muß jedem Versuch der Disziplinierung mit entschlossenem Widerstand entgegengetreten werden. Zu diesem Grundkonzept moderner Strafverteidigung gehört auch, daß mit Jrühestmäglichen Aktivitäten schon im Ermittlungsverfahren Verteidigungsbarrieren errichtet werden. Bemsmann weist in diesem Zusammenhang auf folgendes hin: Zwar sind Gericht und Staatsanwaltschaft zur Ermittlung der Wahrheit verpflichtet; sie müssen auch entlastende Umstände berücksichtigen (§ 160 Abs. 2 StPO). Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch auseinander. Untersuchungen belegen, daß staatsanwaltschaftliche Ermittlungen den Belastungsmomenten fast durchgängig erheblich mehr Beachtung schenken als entlastenden Umständen. Vorrangiger Zweck der Bemühungen der Staatsanwaltschaft ist die Aufklärung einer begangenen Straftat. Ist erst einmal eine verdächtige Person gefunden, ist es nachvollziehbar, daß -
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entgegen der ständigen Warnungen erfahrener Kriminalisten - nur eine eingeschränkte Ermittlungslinie weiter verfolgt wird, zahlreiche Spuren und Beweismittel, die in andere Richtung weisen, verloren gehen. Der Jagdeifer der Ermittlungsbehörden ist, wie Bernsmann es ausdrückte, viel eher auf die Verdichtung des Verdachts als auf dessen Zerstreuung gerichtet. Beschließt die Staatsanwaltschaft dann sogar den Beschuldigten förmlich anzuklagen, wird sie damit in der Realität des Strafprozesses zum Gegner des Betroffenen und seines Verteidigers. Diese durch die Gestaltung der Aktenlage bei Vorlage der Anklageschrift zwangsläufig eingetretene Vorprägung greift auch auf das mit der Sache befaßte Gericht über, mag es sich subjektiv noch so sehr darum bemühen, für andere Sachverhaltsvarianten und unentdeckt gebliebene Entlastungsaspekte offen zu bleiben. Mit Anklageerhebung ist ein wichtiges Ziel der Verteidigung, nämlich Anklagevermeidung, verfehlt worden. Um so mehr müssen alle möglichen und vertretbaren Verteidigungsbemühungen auch im Zwischenverfahren, also nach Anklageerhebung bis zur Entscheidung über die Zulassung der Anklage entfaltet werden. Keinesfalls darf eine aus der Sicht der Verteidigung sich bietende Chance, ein Verfahrenshindemis geltend zu machen und durchzusetzen, ungenutzt bleiben. Dem betroffenen Mandanten wird damit eine möglicherweise lang andauernde Hauptverhandlung mit ungewissem Ausgang erspart. Kommt es zur Eröffnung des Hauptverfahrens und beginnt danach eine Hauptverhandlung, so muß sich der Verteidiger bewußt sein, daß mit Erlaß eines Eröffnungsbeschlusses eine subjektive Hypothese bei den betroffenen Richtern erzeugt wird, wonach der Angeklagte wahrscheinlich auch schuldig sei. Mit der nicht mehr abwendbaren Hauptverhandlung konfrontiert, muß der Verteidiger bereit sein, jeden unausweichlichen Konflikt in der Hauptverhandlung auszutragen. Dabei sei nochmals mit Nachdruck auf folgendes hingewiesen: Konfliktbereitschaft im Interesse des Mandanten bedeutet nicht Suche nach Konflikten. Angesprochen ist vielmehr der Wille und die Fähigkeit, sich persönlich mit Gericht und dessen Vorsitzenden aber auch der Staatsanwaltschaft in der Sache hart auseinanderzusetzen. Der Verzicht auf die Geltendmachung prozessualer Rechte, um einen vermeintlichen favor iudicis für den Mandanten zu erhalten oder zu gewinnen, hat sich nicht selten als verhängnisvolle Fehlstrategie erwiesen. Die von der Prozeßordnung gewährten Rechte in der Hauptverhandlung zu wahren, fordert nicht nur die Kenntnis in der sachlichen Handhabung prozessualer Gestaltungsmöglichkeiten. Der Verteidiger muß sich insbesondere auch der Gefahr einer Präklusion bewußt sein, die diesen Rechten eine zeitliche Grenze setzt. Auch wenn der Grundsatz nicht aus dem Auge verloren werden darf, daß die Verteidigung in der Hauptverhandlung immer auch im Hinblick auf ein mögliches Rechtsmittel geführt werden muß, so muß alle Kraft der Verteidigung in der erstinstanzlichen Tatsacheninstanz darauf gerichtet werden, das Gericht vom ange-
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strebten Verteidigungsziel - Freispruch oder Minimierung der Rechtsfolgen bei Strafinaßverteidigung - zu überzeugen.
Ein weiteres Wesenselement meiner Grundkonzeption von Verteidigung ist der unermüdliche Kampf gegen die Untersuchungshaft: Untersuchungshaft stellt alle Bemühungen, ein rationales, auf gründlicher Aktenanalyse basierendes Verteidigungskonzept zu entwickeln, in Frage, ja geradezu auf den Kopf. Hierüber haben wir immer wieder berichtet. Die ersten Petersberger Gespräche vor nahezu zwei Jahren waren ausschließlich diesem Thema gewidmet. Mangelnde Sorgfalt bei der Sachverhaltsentwicklung und unsaubere Rechtsanwendung durch Staatsanwaltschaften führen immer wieder zur Beantragung von Haftbefehlen, die rechtswidrig sind. Oft ist anband des Aktenbildes nachzuvollziehen, also sozusagen beweisbar, daß Ermittlungsrichter sich nicht scheuen, sich selbst zum sogenannten ,,Häkchenrichter" zu degradieren. Ihre Tätigkeit besteht nachweislich in der wörtlichen Übernahme der von der Staatsanwaltschaft bereits vorformulierten Haftbefehle. Mag auch gelegentliche Überbelastung und der Einsatz junger unerfahrener Richter als Ermittlungsrichter mitursächlich für eine derartige nicht hinnehmbare richterliche Praxis sein. Sie wird nur noch verstärkt und perpetuiert, wenn sich Landgerichte als Beschwerdegerichte nur als Durchgangsstation empfinden. Wenn dann noch die qualitative Überprüfung von Haftbefehlen durch die Strafsenate der Oberlandesgerichte in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen in einer Unterschiedlichkeit erfolgt, die monströse Ausmaße angenommen hat, in vielen Bereichen ineffektiv, wenn nicht skandalös ist, dann wird das Dilemma unzulässiger, mit den Prinzipien unserer Verfassung unvereinbarer Haftanordnungen nicht beseitigt werden können. Umso mehr müssen alle Möglichkeiten der Haftvermeidung angestrebt werden - als Alternativen zur Untersuchungshaft de lege lata bzw. de lege ferenda sind hierbei zu nennen: • die elektronische Fußfessel, • die Regelung eines Aufenthaltsverbotes - oder eines Zwangsaufenthaltes sowie • die Regelung des Hausarrestes, wie sie z. B. die italienische Strafprozeßordnung und andere ausländische Prozeßordnungen vorsehen. Die Untersuchungshaft muß in der Höchstdauer begrenzt werden. Alle aufgezeigten Unzulänglichkeiten des bisherigen Verfahrens zur Verhängung von Untersuchungshaft und der jedenfalls nicht flächendeckenden qualitativ gleichwertigen Haftkontrolle durch Landgerichte und Oberlandesgerichte in den verschiedenen Bezirken werden durch eine solche gesetzliche Begrenzung der Höchstdauer von Untersuchungshaft mit einem Schlage beseitigt.
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Die schnellstmögliche Aufhebung eines Haftbefehls oder Verschonung - von Fällen schwerster Kapital- und Gewaltverbrechen abgesehen - entspricht allein dem Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit und dem fair trial Grundsatz. Nur so wird die Unschuldsvermutung der Europäischen Menschenrechtskonvention im Alltag des Strafprozesses Realität. Hier kann ich auf die verdienstvolle, unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Michael Walter entstandene Untersuchung über die Realität der Untersuchungshaft in Nordrhein-Westfalen verweisen. 2o Die negativen Entwicklungstendenzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben zu einer weiteren Verschlechterung der Position von Strafverteidigung gegenüber dem Tatgericht und der Staatsanwaltschaft geführt. Mein Kollege Schlothauer hat auf dem Frühjahrssymposium der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV in Karlsruhe im Frühjahr 2000 in seinem Referat "Das Revisionsrecht in der Krise" in der ihm eigenen analytischen Schärfe und Klarheit darauf hingewiesen, daß der Bundesgerichtshof die Verfahrensrüge mittels Errichtung immer höherer Zulässigkeitshürden zurückdrängt, daß der gegenwärtige Zustand der Revisionsrechtsprechung durch einen immer höheren Einfallsreichtum beim Erfinden immer weitergehender Anforderungen an die Darstellung der den Mangel enthaltenden Tatsachen charakterisiert wird, deren Funktion allein darin gesehen werden könne, Verfahrensrügen abzublocken. 21 Dies mag in der Rechtsprechung der einzelnen Senate zwar Unterschiede aufweisen, die Grundtendenz muß aber eindeutig negativ gesehen werden. Es mag auch im Rahmen der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte positivere Aspekte geben. Der Kampf um die Rechte des Mandanten, um die Akzeptanz seines Verteidigungsvorbringens muß daher entscheidend in der Tatsacheninstanz geführt werden. Das Tatgericht muß überzeugt werden, die venneintlichen Revisionschancen werden immer mehr zu einer Fata Morgana. Der Verteidigung bläst in diesem Zusammenhang gerade auch aus den Medien eisiger Wind ins Gesicht. Unverantwortliche Stimmen in Öffentlichkeit und Politik konfrontieren uns täglich mit oft irrational anmutenden Verfolgungs- und Rachegelüsten. Wohlgemerkt: Angst vor Gewalttaten und die Allgegenwart von Kriminalität bei den Bürgern müssen auch von Strafverteidigung ernst genommen werden. Gleichwohl: Wer vom Gesetz nicht gedeckte härtere und härteste Strafen fordert, der fordert Richter zur Rechtsbeugung auf. Das Strafrecht war und ist stets das schlechteste Mittel gewesen, um Mißstände in Staat und Gesellschaft und hieraus resultierende Unsicherheiten in der Bevölkerung zu bekämpfen. Die Strafverfol20 H. Geiter, Untersuchungshaft in Nordrhein-Westfalen, Bd. 25 Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften. 21 Schlothauer, Stra.F.o 2000, S. 289.
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gung im Rechtsstaat funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß im Ermittlungsstadium Polizei und Staatsanwaltschaft den Standard prozessualer Form strikt einhalten. 22 Läßt man polizeiliches Handeln orientiert an den Bedürfnissen einiger Sicherheitsfanatiker zu, gibt es kein Halten mehr, grundrechtliche Schranken werden zerstört. Es ist keine negative Verteidigervorstellung oder Phantasie, daß dann nur noch von den Ermittlungsbehörden in eine Richtung improvisiert wird, rechtsstaatliche Grundsätze hin oder her. Aber auch die hieraus resultierenden Gefahren für die Rechtsprechung sind nicht auszuschließen. Unsere Richter sind Teile der Gesellschaft. Sie können sich ihrem Einfluß nicht entziehen. Wenn die Rechtsprechung sich diesen Gefahren politischer und medialer Beeinflussungsversuchen nicht strikt entzieht, sondern - wie leider in der höchstrichterlichen Rechtsprechung in gewissen Tendenzen feststellbar - Beweiserhebungs- und Verwertungsfragen zu stark und einseitig an den Prinzipien wirksamer Verbrechensbekämpfung orientiert oder diesen unterordnet, dann ist Gefahr im Verzug. Setzt sich eine solche Entwicklung im Bereich der rechtsprechenden Gewalt fort, könnte bei den Ermittlungsbehörden die wohltuende Gewißheit Platz greifen, daß unter der Fahne vermeintlich erfolgreicher Verbrechensbekämpfung der Zweck die Mittel heilige. Dann allerdings würden unabhängige Gerichte, denen die Wahrung prozessualer Grundrechte als Verfassungsauftrag anvertraut ist, nicht mehr benötigt. Allerdings wären auch die Auswirkungen für die anwaltliche, die Strafverteidigertätigkeit, verheerend. Diese kann ihre Wirksamkeit nicht im rechtsfreien, sondern nur im gesetzlich geregelten und respektierten Raum entfalten. 23 Ermittlungstätigkeit, die von rechtsstaatlichen Skrupeln befreit, allein ergebnisorientiert und weiterhin unkontrolliert Platz greifen könnte, muß verhindert werden. Das Beharren auf den· bewährten strafprozessualen Strukturen unseres Rechts und das damit verbundene unerbittliche Eintreten von Strafverteidigern für strafprozessuale Formenstrenge und Gesetzestreue unterbindet Umgehungs- und Rechtsverletzungstaktiken allein an polizei staatlicher Effizienz orientierter Strafverfolgung. Diese Grundkonzeption aktiver Strafverteidigung legt die Strafrechtspflege nicht lahm. Ganz im Gegenteil: Wer die berechtigten Ängste der Menschen ernst nimmt, muß auf ihre vielfältigen Ursachen im Bereich gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen und Umstrukturierungen eingehen: Eine differenzierte Befassung mit Ursachen und Folgen sowie Konzepten zur Beseitigung bestehender Mißstände und Notlagen ist notwendig. 22 23
Salditt! AnwBI. 1999,445,446. Salditt, AnwBI. 1999,445,446.
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Allen populistischen Hetzkampagnen müssen nicht nur die Strafverteidiger, ihnen muß die gesamte Anwaltschaft mit Entschlossenheit entgegentreten: Demokratisch legitimiertes Straf- und Strafprozeßrecht hat sich bewährt. Die Gerichte sind an Recht und Gesetz gebunden. Das unerschütterliche Beharren auf den bewährten strafprozessualen Strukturen unseres Rechts legt die Strafrechtspflege nicht lahm. Im Gegenteil: Nur eine so gestaltete Rechtsprechung kann die Achtung der Bevölkerung gewinnen und damit eine positiv verstandene, generalpräventive Wirkung entfalten. Deshalb bekenne ich mich zu konfliktbereiter Verteidigung. Allerdings trete ich ebenso entschieden verleumderischen Angriffe auf diesen Begriff entgegen. Er definiert nichts anderes als die Selbstverständlichkeit des unbeirrten professionellen Einsatzes des Strafverteidigers für die Interessen seines Mandanten. Wer sich im Kampf ums Recht innerhalb der Strafjustiz für die Seite des Betroffenen entschieden hat, muß zur Konfliktverteidigung bereit sein. Wer seine Beistandsfunktion nicht derart wahrnimmt, daß er den notwendigen Konflikt austrägt, verkennt die Voraussetzungen für eine sachlich fundierte, effiziente und damit wirksame Strafverteidigung. Um es mit den Worten Roxin's zu sagen: "Daß kein Unschuldiger und auch der Schuldige nur unter Wahrung aller seiner Persönlichkeits- und Verteidigungsrechte verurteilt werde, ist eine für die Rechtskultur eines Landes entscheidende, seine Rechtsstaatlichkeit mit konstituierende, gesetzliche Forderung. Ihrer Durchsetzung dient der Beruf des Strafverteidigers, dessen Idee daher kein Schatten der Zweideutigkeit treffen kann. Wenn ein Verteidiger hinter den berufsethischen Anforderungen seiner Tätigkeit zurückbleibt, so bezeichnet das nur die Differenz von Idee und Erscheinung, die das Leben kennzeichnet; es kann den einzelnen, aber nicht seinen Beruf herabziehen".24
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Roxin, S. 13.
11. KriminalrechtIiche Konzepte
Straftheorie aus der Perspektive des Opfers? Anmerkungen zum Fall Reemtsma·
Susanne Walther I. Der FaD
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, Sie hätten folgenden Fall zu bearbeiten, entweder im Staatsexamen oder - falls Sie nicht mehr studieren - als Gutachtenauftrag der Bundesregierung: Der 36jährige T vertritt die Lebensphilosophie: spätestens bei Erreichen des 50. Geburtstages sollte man Millionär sein, am besten mehrfacher. Er fasst deshalb den Plan, einen reichen Mann in Norddeutschland zu entführen. Unter mehreren geeigneten Personen, über die er sich Informationen beschafft hat, entscheidet er sich für 0, das spätere OpferJan Philipp Reemtsma, einen in Hamburg lebenden Sozialforscher und Mäzen, Erbe eines Millionenvermögens. Unter Mithilfe von Komplizen überfällt T im März 1996 den 0 abends vor dessen Haus, verschleppt ihn in den Keller eines extra zu diesem Zweck angernieteten Hauses und kettet ihn dort an. Für O's Freilassung fordert T von O's Frau ein Lösegeld von zunächst 20 Millionen DM, später wird die Forderung erhöht auf 30 Millionen DM. Nach mehreren Anläufen gelingt die Übergabe des Geldes, 0 wird nach 33 Tagen Gefangenschaft im Keller freigelassen. Infolge der einschneidenden, existentiellen Gefährdungen und Bedrohungen an Leib und Leben während der Zeit der Geiselhaft tragen 0 wie auch seine Familie langwierige psychische Folgen davon und erleiden empfindliche Einschränkungen ihres gewohnten Lebens. 0 selbst wagt sich auf Jahre hinaus nur noch in Begleitung von Leibwächtern in die Öffentlichkeit. Die Polizei spürt zunächst K und weitere Komplizen in Spanien auf, findet T - Thomas Drach - jedoch erst zwei Jahre später in Argentinien. Zwei weitere Jahre vergehen, bis T ausgeliefert und - im Dezember 2000 - in Deutschland vor Gericht gestellt werden kann. Das Geld bleibt allerdings verschwunden.
Soweit die Fallschilderung, nun kommen die Fragen. Sie weichen von dem im Studium üblichen Muster etwas ab. Die Frage, "Wie hat T sich strafbar gemacht?", beantworte ich Ihnen nämlich selbst vorweg. T hat sich wegen Erpresserischen Menschenraubes, § 239a StGB, strafbar gemacht. Daran schließen sich folgende Fragen an: • Die bewusst auf den studentischen Horizont bezogene "Fall"-Gestaltung des Vortrags wurde beibehalten, auf einen umfassenden Fußnotenapparat verzichtet.
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1. Welche Strafe - also welchen ,,Preis" - sieht das Gesetz für eine derartige Tat vor? 2. T legt schon zu Beginn des Prozesses ein Geständnis ab. Über den Verbleib des Geldes schweigt er aber. Hat das Strafrecht eine Handhabe, um T dazu zu bewegen, das Lösegeld ZUTÜck- bzw. das Versteck preiszugeben? 3. Das Landgericht Hamburg befindet T schließlich des Erpresserischen Menschenraubs (§ 239a StGB) für schuldig. Welche Strafen und ggf. sonstige Maßnahmen sind zu verhängen (und zu welchen Zwecken)? 4. Wie bewerten Sie die gefundenen Ergebnisse - würden Sie Änderungen der Strafgesetze vorschlagen (ggf. welche)? 11. Die Antworten
Zu Frage J (Strafdrohung des Gesetzes) ... Der Erpresserische Menschenraub ist ein schweres Verbrechen, das im Grundtatbestand mit Freiheitsstrafe ,,nicht unter fünf Jahren" bedroht ist. Eine Höchststrafe nennt der Tatbestand nicht. Sie ergibt sich erst in der Zusammenschau mit der allgemeinen Vorschrift über die Rechtsfolgen der Tat. Die Freiheitsstrafe ist eine zeitige, wenn das Gesetz nicht lebenslange Freiheitsstrafe androht, und das Höchstmaß einer zeitigen Freiheitsstrafe beträgt fünfzehn Jahre (§ 38 Abs. 1 und 2 StGB). Schauen wir uns noch an, welche weiteren Abstufungen der Tatbestand enthält. In Abs. 2 erkennt der Gesetzgeber die Möglichkeit eines ,,minder schweren Falles" an, das erhöhte Mindestmaß wird für diesen Fall heruntergefahren auf ein Jahr. Auf der anderen Seite erhöht sich die Strafdrohung unter den Voraussetzungen des Abs. 3 auf "lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren", wenn der Täter "durch die Tat wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers verursacht" hat; es handelt sich um eine sogenannte Erfolgsqualifikation. Schließlich möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf den Abs. 4 lenken. Darin wird dem Täter eine Strafvergünstigung für den Fall einer sogenannten "tätigen Reue" in Aussicht gestellt: Das Gericht kann die Strafe mildem, genauer: es wird von einem niedrigeren Strafrahmen ausgehen (Verweis auf § 49 Abs. 1 StGB), "wenn der Täter das Opfer unter Verzicht auf die erstrebte Leistung in dessen Lebenskreis ZUTÜckgelangen lässt" (S. 1). Doch selbst wenn dieser "Erfolg", wie das Gesetz sagt, ohne Zutun des Täters eintritt, kann er sich eine Milderungschance ausrechnen, sofern er sich "ernsthaft bemüht" hat. Zurück zu unserem Fall: Einschlägig ist der Strafrahmen des Grundtatbestandes, also fünf bis fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe. Eine Vergünstigungschance hat sich der Täter nicht verdient: Zwar hat er das Opfer in dessen Lebenskreis ZUTÜckgelangen lassen, doch geschah dies nicht unter Verzicht auf das Lösegeld.
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Zu Frage 2 (Handhabe zur Rückfohrung des Geldes) ... Man kann in Bezug auf Verbrechen und Strafprozess schlecht den Begriff Idealfall in den Mund nehmen, aber ich tue es jetzt trotzdem: Der Idealfall des Strafverfahrens besteht darin, dass der Beschuldigte die Tat nicht bestreitet, dass er einsieht, welches Unrecht er begangen und was er dem Opfer - und in Fällen wie hier, auch dessen Familie - angetan hat, und dass er dieser Einsicht Taten folgen läßt: Rückgabe des Erlangten und Wiedergutmachung darüber hinausgehender Schäden, wenn dies nicht sofort möglich ist, zumindest die Abgabe einer rechtsverbindlichen Zusage. Eine derartige Verantwortungsübernahme des Beschuldigten - insbesondere des die Tat nicht bestreitenden Beschuldigten - zu ermöglichen und auch gezielt zu fördern, zählt heute zu den anerkannten Kernaufgaben des Kriminalstrafrechts. Es geht dabei um die bestmögliche Erfüllung des Gesamtziels des Strafverfahrens, Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Wir sind zunehmend davon überzeugt, dass eine auf Verantwortungsübernahme beruhende Leistung des Täters eine Art ,,rechtlichen Mehrwert" aufweist gegenüber einer Leistung, die aufgrund eines gegebenenfalls mithilfe von Zwangsmaßnahmen vollstreckbaren Urteilstitels erfolgt. Daneben geht es auch, und auch das ist legitim, um die Vermeidung aufwändiger und kostspieliger Verfahren, mit all den Lasten, die auch das Opfer treffen, wenn es die eigenen Anspruche in einem förmlichen Verfahren vor Gericht durchsetzen und sich überdies den Strapazen der Zeugenrolle aussetzen muss. Das Strafrecht enthält heute bereits eine ganze Reihe von Instrumentarien, die eine derartige Verantwortungsübernahme fördern. Es kann sich dabei natürlich nicht einfach von der Prämisse menschlicher Gutwilligkeit leiten lassen, sondern bedient sich der relativ schlichten Methode, für konstruktive Leistungen ein "Bonbon" - man könnte auch sagen: ein ,,zuckerbrot" - anzubieten. Rechtlich wie übrigens auch pädagogisch - ist dagegen an sich nichts einzuwenden. Ein Beispiel aus dem Strafgesetzbuch habe ich schon genannt: Die Belohnung der "tätigen Reue", die ja - in Gestalt der allgemeinen Rücktrittsregelungen der § 24 und § 31 StGB, aber auch bei zahlreichen Gefährdungsdelikten, besonders im Steuerstrafrecht (§ 371 AO) - eine erhebliche Rolle spielt. Ich verweise weiter auf § 46a StGB, der bei Wiedergutmachung und Ausgleich Strafinilderung und sogar Absehen von Strafe in Aussicht stellt. Diese allgemeinen Vergünstigungsangebote macht - angesichts der Straferwartung - der Gesetzgeber allerdings nicht bei schweren Vergehen und Verbrechen, wie hier. Bleibt immerhin noch die allgemeine Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB. Das "Verhalten des raters nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wieder gutzumachen oder einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen", ist unter den Abwägungsfaktoren des Abs. 2 aufgeführt. Eine begründete Aussicht, auf dieser Grundlage eine relativ "milde Strafe" erwarten zu dürfen, bestand also durchaus auch hier, in einem Fall von Erpresserischem Menschenraub. Die Erklärung, weshalb dieser Anreiz hier allerdings kaum zur Schaffung entsprechender "Urnkehrmotivation" (spätestens nach Beginn des Verfahrens) ausrei-
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ehen konnte,. liegt auf der Hand. Nicht anders als bei räuberischer Erpressung, Betrug oder Steuerhinterziehung haben wir es hier mit einer Tat zu tun, deren Triebfeder im Bereicherungsstreben liegt. Die Tatmotive sind nicht in der Emotion zu suchen, sondern im Kalkül. Entsprechendes gilt dann eben typischerweise auch für die Umkehrmotive. Es geht wn Kosten und Nutzen, wn Preise und Preisnachlässe. Die Strafdrohung und die Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung sind Bilanzposten. Im Falle Reemtsma könnte die Rechnung des T etwa folgendermaßen ausgesehen haben: Von der maximal drohenden Höchststrafe wird die erlittene Untersuchungshaft - insgesamt drei Jahre - in Abzug zu bringen sein. Im schlechtesten Fall, d. h. wenn das Gericht sich durch das abgelegte Geständnis als solches nicht wesentlich milder stimmen lässt und es überdies ablehnt, den in Argentinien verbüßten Teil wegen der - angeblich - schlechten Haftbedingungen dort mit einer Quote von 1:2 oder sogar 1:3 anzurechnen, ist folglich mit 12 Jahren zu rechnen. Geht man von der - wohl plausiblen - Vermutung aus, dass tatsächlich ein großer Teil der Beute, mindestens die Hälfte bis ein Drittel, noch vorhanden ist, so käme man cwn grano salis auf ca. 1 Million DM Jahresverdienst, die der Strafgefangene T am Ende seiner Haftzeit kassieren könnte. Es dürfte, so vermute ich, in diesem speziellen Fall wohl eine andere Währungseinheit sein, nämlich 500.000 US-Dollar. 1
Zu Frage 3 (Strafzumessungsentscheidung, Sanktionsmaßnahmen) ... Ich komme zur dritten Frage, zur Strafverurteilung. Zunächst: Kann die ,,Rechnung", die der Täter mutmaßlich aufgemacht hat, nun bei der Entscheidung über die Rechtsfolgen noch durchkreuzt werden? Anders gesagt, kann mithilfe des Strafurteils verhindert oder zumindest wesentlich erschwert werden, dass ein kühl kalkulierender T nach Strafverbüßung im Frühjahr 2012 an das große Geld kommt, oder bereits - mithilfe von Mittelsmännern - während der Haft von der Beute profitieren kann? Reemtsma, der sich als Nebenkläger an dem Strafverfahren gegen Drach beteiligte, drängte darauf, das Gericht möge neben der Strafe auch noch eine im Anschluss an die Strafvollstreckung zu vollziehende Sicherungsverwahrung anordnen. Der Nebenkläger fiihrte dabei übrigens auch - sogar primär - die Befürchtung ins Feld, der Täter könnte die Tat wiederholen, auch gegen ihn selbst bzw. seine Familie. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 66 StGB lagen nach Auffassung des Gerichts, übrigens auch nach Auffassung der Staatsanwaltschaft, allerdings nicht vor. Was bleibt dann noch, im Bereich der sogenannten ,,Maßregeln der Besserung und Sicherung"? Gibt es gar keine weitere Handhabe gegen T, nach Strafverbüßung?
1 Zu dem spektakulären Auftauchen eines Teils der Beute in Form von über 600.000 USDollar im November 2001 s. Der Spiegel 49/2001, S. 38.
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Doch, allerdings ein schwaches - das Instrument der Führungsaufsicht nach §§ 68 ff. StGB. Ihre Aufgabe liegt nach den Vorstellungen des Gesetzgebers in dem "Versuch, auch Tätern mit vielfach schlechter Sozialprognose und auch solchen der Schwerkriminalität nach Strafverbüßung oder im Zusammenhang mit einer freiheitsentziehenden Maßregel eine Lebenshilfe vor allem für den Übergang von der Freiheitsentziehung in die Freiheit zu geben und sie dabei zu führen und zu überwachen".2 Es geht also hier - anders als im Rahmen der Bewährung - um die besonders schwierige Klientel der gefährdeten und zugleich möglicherweise gefährlichen Täter, und deshalb wird nicht nur ein Bewährungshelfer, sondern auch eine Aufsichtsstelle eingeschaltet. Auf den langjährigen Streit, den es über die Legitimation dieses Instruments gibt, kann ich hier nicht eingehen. Jedenfalls liegt auf der Hand, dass die Wirksamkeit der Führungsaufsicht, wie es in einer Kommentierung vornehm heißt, "wesentlich von der inhaltlichen Ausgestaltung und der Zusammenarbeit zwischen Bewährungshelfer und Führungsaufsichtsstelle abhängt,,3, und man erkennt schon an der Formulierung, dass hier ein massives praktisches Problem liegt. Aber hat unser T überhaupt mit Führungsaufsicht zu rechnen? Explizit angeordnet hat das Landgericht Hamburg dies nicht, als es im März 2001 Drach zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilte. Der Gesetzgeber räumt den Gerichten die Möglichkeit, eine solche Maßregelanordnung zu treffen, bei manchen Verbrechen speziell ein, etwa bei einer Verurteilung wegen Menschenhandels (vgl. § 181b StGB); beim Verbrechen des Erpresserischen Menschenraubes ist das jedoch nicht der Fall. Allerdings tritt, ungeachtet der Art des Delikts, gemäß § 68 f. StGB Führungsaufsicht von Gesetzes wegen u. a. dann ein, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat vollständig vollstreckt worden ist. Ob T dies zu gewärtigen hat, hängt also vom Strafvollzugsrecht ab. Die automatische Unterstellung unter die Führungsaufsicht nach Strafverbüßung, die der Verurteilte Drach sich wahrscheinlich zum 50. Geburtstag nicht wünscht, könnte allenfalls vermieden werden, wenn er - im denkbar besten Falle bereits nach Verbüßung der Hälfte, sonst nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe in den Genuss einer Strafrestaussetzung nach § 57 StGB käme. Solange T nicht bereit ist, das Lösegeld preiszugeben, wird eine Strafrestaussetzung aber so gut wie ausgeschlossen sein. § 57 V StGB sieht nämlich vor, dass das Vollstreckungsgericht von einer (prinzipiell gegebenen) Strafrestaussetzung absehen kann, "wenn der Verurteilte unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib von Gegenständen macht, die dem Verfall unterliegen oder nur deshalb nicht unterliegen, weil dem Verletzten aus der Tat ein Anspruch der in § 73 Abs. 1 Nr. 2 bezeichneten Art erwachsen ist." Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Das Opfer hat einen Anspruch auf Rückgabe des Lösegeldes, dessen Erfüllung dem Täter, wie es in § 73 Abs. 1 S. 2 StGB heißt, "den Wert des aus der Tat Erlangten entziehen 2 3
TIFischer, StGB (50. Aufl. 2001), vor § 68 Rdn. 2 m. w. N. TI Fischer a. a. O.
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würde". Und soweit ersichtlich wird diese Kann-Option des § 57 V StGB in der Praxis als Regelentscheidung gedeutet - die Rechtsprechung geht, von Ausnahmefällen abgesehen, mit anderen Worten davon aus, dass es dem Täter regelmäßig zuzumuten ist, das aus der Tat Erlangte herauszugeben.4 Als Zwischenbefund können wir also festhalten, daß anband der Instrumentarien des geltenden Rechts immerhin die Chance besteht, die Wiedererlangung des Lösegelds nach Strafverbüßung etwas zu erschweren. Welche Chance dem staatlichen Bewährungshilfeund Führungsaufsichtspersonal bei realistischer Betrachtung bleibt, Wesentliches gegen Verdunkelungs- und Verschiebungsaktivitäten eines haftentlassenen Thomas Drach auszurichten, steht freilich in den Sternen. Zur Frage des Lösegeldes sei schließlich noch gesagt: Einen zivilrechtlich vollstreckbaren Titel auf Rückzahlung hätte die Nebenklage lediglich im sogenannten Adhäsionsverfahren, also nach §§ 403 ff. StPO in Gestalt der Geltendmachung eines "aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruchs" erwirken können. Das geschieht aber nicht von Amts wegen, es gibt hierzulande keine Wiedergutmachungsanordnung als selbständige strafrechtliche Rechtsfolge, und so hätte 0 einen Antrag stellen müssen. Der Antrag hätte dann gemäß § 404 Abs. 2 StPO die Wirkungen der Erhebung einer Klage im bürgerlichen Rechtsstreit gehabt. Das Gericht ist übrigens nicht verpflichtet, über einen solchen Antrag zu entscheiden; wenn ihm die Sache zu kompliziert erscheint oder diese sich sonst nicht eignet, kann es von einer Entscheidung absehen (§ 405 S. 2), was auf der Basis pflichtgemäßen Ermessens erfolgt und der Praxis eine weit offene ,,Hintertür" einräumt. 5 Soweit kam es aber nicht, 0 hatte gar keinen Antrag gestellt. In den Berichten über das Verfahren war das gar kein Thema, ich kann mir ein paar Griinde denken, und diese noch gern in der Diskussion ansprechen. 6 Lassen Sie mich zum zweiten Aspekt der Frage nach Strafe und Strafmaß. Wenn die Wirkung der Strafdrohung auf mehreren Ebenen versagt hat - die Tat ist begangen worden, und der Täter räumt dies zwar ein, ist aber auch durch die sichere Siehe die Nachweise bei TI Fischer, StGB (50. Aufl. 2001), § 57 Rein. 39. Zu den Kontroversen um das Absehen von der Entscheidung aus prozesswirtschaftlichen Griinden siehe KleinknechtIMeyer-Goßner, StPO (45. Aufl. 2001), § 405 Rein. 4 m.w.N. 6 Die überkommene Konzeption des .,Adhäsionsverfahrens" thematisiert den Wiedergutmachungsanspruch des Verletzten einseitig zivilistisch als "vermögensrechtlichen" Anspruch, ungeachtet des Verbrechenscharakters der Tat, aus welcher der Anspruch erwächst. Aus Sicht des Verletzten kann mit der Stellung eines Adhäsionsantrages folglich die Gefahr entstehen, dass seine Teilhabe am Verfahren verkürzt wird auf zivilrechtliehe Aspekte, kurzum, es könnte der Eindruck entstehen, als gehe es hauptsächlich um das Thema Geld. Der Vorteil - die Erlangung eines zivilrechtlichen Vollstreckungstitels - wird, praktisch gesehen, diese Gefahr der Schwerpunktverlagerung für das Opfer oft nicht aufwiegen können. Nicht zuletzt deshalb - um den Charakter des Kriminalverfahrens zu wahren - empfiehlt sich de lege ferenda eine Ersetzung des Adhäsionsverfahrens im Wege der Neugestaltung des Sanktionensystems, in dem Wiedergutmachung als eigenständige kriminalrechtliche Maßnahme fungiert; vgl. Walther, Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt (2000), S. 405 f., S. 281 ff. 4
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Straferwartung nicht ansprechbar - welchen Zweck kann die Strafe dann noch haben? Das Strafgesetzbuch selbst gibt darüber keine direkte Auskunft. Es beschränkt sich auf zweierlei: zum einen darauf, die "Schuld des Täters" als "Grundlage der Strafzumessung" zu fixieren, zum zweiten verpflichtet es das Gericht dazu, die "Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind", zu "berücksichtigen" (§ 46 I StGB). Nur im Rahmen dessen, was dem Täter individuell zum Schuldvorwurf gereicht, was gewissermaßen als seine "verdiente Strafe" erscheint, können also Zwecke der Abschreckung - etwaiger Nachahmungstäter wie auch des Verurteilten selbst - verfolgt werden. Im Übrigen darf selbst bei einem schweren Verbrechen die Chance der Resozialisierung des Täters nicht verbaut, sie muss vielmehr aktiv gefördert werden. 7 Ob diese Kompromissformel, die der Gesetzgeber vor dem Hintergrund des langen Widerstreits zwischen relativen und absoluten, präventionsorientierten und tatschuldorientierten sogenannten "Strafzwecktheorien" gefunden hat, die Bestmögliche ist, sei hier dahingestellt. Der Streit ist ohnehin weitgehend akademisch, da die Gerichtspraxis sich im Rahmen der Strafzumessung bei der Auswahl einer Strafe innerhalb eines bestimmten Strafrahmens in professionalisierter und im wesentlichen regelhafter Weise an bestimmten, tat- und täterbezogenen Hauptkriterien wie Tatschwere und Vorstrafenbelastung orientiert. Ich will mich daher an dieser Stelle auf die Frage konzentrieren, welche Rolle die Opferinteressen spielen bzw. nicht spielen - einschließlich des Interesses an Wiedergutmachung. Dass es beim Schuldprinzip und insbesondere bei der schuldangemessenen, "verdienten" Strafe nicht etwa bloß ums ,,Prinzip", um die Antwort des Staates auf die Missachtung seiner Gesetze gehen kann, ist klar. Eine derart von äußeren Zwecken losgelöste Strafe würde sogar unserem Verfassungsrecht widersprechen. Wie aber für den - gedachten - Fall, dass generalpräventive oder spezialpräventive Zwecke ausscheiden, weil sie entweder in concreto schon erreicht sind oder nicht erreicht werden können? Was bleibt dann noch - "Vergeltung" vielleicht? Und wofür - nur für die Tat selbst, oder zusätzlich für die im Verfahren verweigerte tätige Reue? Allein zum ersten Punkt hat Reemtsma selbst sich geäußert, und er hat - obwohl insofern nicht ganz neu - sogar die Diskussion unter Strafrechtlern neu belebt. Der Kernpunkt ist schlicht: Auf ein Verbrechen muss eine Strafe folgen. Reemtsma spricht nun dabei sogar vom ,,Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters" - ein solches ,,Recht" ist allerdings bislang nicht anerkannt. Zugleich aber wendet er sich vehement gegen "Vergeltung" als Strafzweck. Diese Kombination versperrt sich dem Versuch sofortiger, einfacher Einordnung. Reemtsma hat, nachdem seine Äußerungen zum Teil in die Kategorie "Vergeltung" eingeordnet worden sind, ausdrücklich erklärt: Wünsche nach Vergeltung und Rache, deren psychologische Wichtigkeit für die Genesung des Opfers Reemtsma übrigens auch 7 Dies hat besonderes Gewicht bei der Freiheitsstrafe, vgl. nur BVerfGE 98, 169 (200 ff.); BVerfGE 35, 202 (235 ff.).
6 Ringvorlesung
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noch einmal vor Gericht hervorgehoben wurden, müssen "in jeder Rechtspraxis frustriert und von jeder Straftheorie mit Näheverbot belegt werden". Die Bestrafung ist für das Opfer, wie Reemtsma weiter erläutert, aber auch ,,keine Wiedergutmachung". Sie ist vielmehr "die Abwendung weiteren Schadens" vom konkreten Opfer. Dieses stehe nämlich in der Gefahr möglicher psychischer Schadensfolgen, die aus "erlebter Orientierungslosigkeit auf Grund plötzlich erfahrener Rechtlosigkeit" erwachsen. 8 Die Bestrafung sei folglich wichtig, ja sogar dem Opfer rechtlich geschuldet unter dem Aspekt der ,,Anerkennung, dass ein Verbrechen Unrecht war, nicht Unglück".9 Ich kann das ohne weiteres unterschreiben - doch folgt daraus etwas, was sich als "Straftheorie" im engeren Sinne bezeichnen ließe? Ich meine: nein. Denn die Verdeutlichung, die ,,Anerkennung, dass ein Verbrechen Unrecht war, nicht Unglück", ist schon durch die Wahrheitsfindung im Prozess und durch die Feststellungsfunktionen der Verurteilung selbst, also durch Schuldspruch und Strafausspruch erreicht, ohne dass es noch auf die Zufiigung eines Übels gegenüber dem Verurteilten ankäme. Darf man Reemtsma in diesem Sinne verstehen? Angesichts der Schwere des Verbrechens, das ihn zu seinen Stellungnahmen veranlasst hat und dessen Wirkungen er eindruckvoll in seinem 1997 veröffentlichten Buch "Im Keller" schildert lO, wohl kaum. Natürlich, die "Wiederherstellung der Ordnung", die speziell dem Opfer selbst geschuldet ist, wie sollte sie bewerkstelligt werden, wenn nicht im Wege spürbarer Strafe? Das aber verdient - nach meinem Dafürhalten - kaum den Namen Straftheorie, es ist bloß die Feststellung einer Realität, nämlich dass wir für die angemessene Beantwortung von Verbrechen notgedrungen und in Ermangelung einer anderen "Sprache" angewiesen sind darauf, auch den Täter leiden zu lassen. Ob nun bereits diese Funktion der Anerkennung und Kenntlichmachung des Unrechts die beinahe volle Ausschöpfung des Strafrahmens legitimiert, wage ich zu bezweifeln, und was über die Urteilsbegründung bekannt ist, legt diesen Schluss auch gar nicht nahe. Hier kommt nun vielmehr der schwarze Teil der Zukkerbrot-und-Peitsche-Doktrin: Wenn "freiwillige" Wiedergutmachung in der Strafzumessung belohnt werden darf, bedeutet dies etwa, dass Nichtwiedergutmachung umgekehrt bestraft werden darf? Ich komme hier auf die allgemeine Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB zurück. Die dort genannten Abwägungsfaktoren, insbesondere der letzte, auf das Nachtatverhalten bezogene, lassen - nach dem Gesetzeswortlaut - die Frage der Bewertungsrichtung offen, es ist also nicht von Gesetzes wegen schon ausgeschlossen, Nachtatverhalten auch schärfend zu berücksichtigen. Auch findet sich keinerlei Einschränkung dergestalt, dass etwa unter dem "Verhalten nach der Tat" nur das Verhalten zwischen Tatbeendigung und Ent8 Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters - als Problem (1999), S.27. 9 Reemtsma, a. a. 0., S. 26. 10 Vgl. insbesondere S. 172 ff. (Hamburger Edition, Hamburg 1997).
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deckung bzw. Einleitung von Ennittlungsmaßnahmen durch die Kriminaljustiz zu verstehen sei. Nicht einmal das Verhalten des Beschuldigten während des Gerichtsprozesses scheidet als Strafzumessungstatsache von vornherein aus. Und das ist hierzulande tatsächlich der Stand der Rechtsprechung. Abgemildert wird dieser Befund nur durch ein paar wachsweiche Klauseln: Es müssten aus dem betreffenden Nachtatverhalten "Schlüsse auf den Unrechts gehalt der Tat oder die Einstellung des Täters" zulässig sein, oder man müsse sagen können, dass das betreffende Nachtatverhalten ,,neues Unrecht" schaffe oder dass "der Täter Ziele verfolgt, die ein ungünstiges Licht auf ihn werfen".l1 Speziell zum Nachtatverhalten in Gestalt von Wiedergutmachung oder Nichtwiedergutmachung: Dass bei einem bloßen Unterlassen einer Wiedergutmachung eine Strafschärfung ohne Hinzutreten besonderer Umstände in Betracht kommt, ist, soweit ich sehe, von den Gerichten noch nicht behauptet worden, wohl aber in vereinzelten BGH-Entscheidungen aus den 60er und 70er Jahren, dass Strafschärfung bei Verhinderong einer Schadenswiedergutmachung in Betracht kommt, wobei es jeweils speziell um den Verdacht der falschen Angaben über den Verbleib einer Beute ging. 12 Selbst wenn man dies einmal so stehen lässt: Nach welchen Kriterien soll im Einzelnen abgegrenzt werden? Wie ist es bei vollständigem Schweigen, wie bei Teilschweigen? Und müsste gegebenenfalls ein separater Schuldnachweis geführt werden darüber, ob seine Angaben richtig oder falsch - und vorsätzlich falsch - sind? Oder sollte schon Fahrlässigkeit genügen? All diese Fragen rührt unser Fall neu auf. Der Umstand, dass das Landgericht Hamburg den Haupttäter Thomas Drach im Entfiihrungsfall Reemtsma zu einer Freiheitsstrafe von 14,5 Jahren verurteilte - also fast bis an die Höchstgrenze ging - erklärt sich zu einem erheblichen Teil aus der strafschärfenden Gewichtung der Einlassungen des Angeklagten zum Verbleib des Lösegeldes, die nicht nur seitens der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers, sondern auch seitens des Gerichts als unglaubwürdig und verschleiernd beurteilt wurden. Die von der Verteidigung angestrengte, unter anderem auf diesen Punkt gestützte Revision zum BGH blieb übrigens erfolglos, das Urteil ist also inzwischen rechtskräftig. 13 Ob man froh sein soll, oder unfroh im Hinblick auf eine vertane Klärungschance - das sei dahingestellt. Im Strafprozess ist nach meinem Dafürhalten jedenfalls nur das Zuckerbrot okay, die Peitsche nicht - auch nicht gegenüber demjenigen, der den Anklagevorwurf eingeräumt hat und den Strafgrund nicht bestreitet. Das Nemo-Tenetur-Prinzip und der vom BGH selbst anerkannte Grundsatz, wonach die mangelnde Mitwirkung an der Sachaufklärung dem Angeklagten nicht angelastet werden darf,14 steht auch hier einer strafschärfenden Würdigung des Prozessverhaltens entgegen 11
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BGH-und OLG-Rechtsprechung, zit. nach T/Fischer; StGB (50. Aufl. 2001), § 46 Rdn.
12 BGH, MDR 1966, 559; BGH GA 1975, 84; BGH (unveröff.) 1 StR 420/77 v. 25. 10. 1977, zit. nach T / Fischer; a. a. 0., § 46 Rdn. 49. 13 Mitteilung vom 12. Nov. 2001, siehe auch Der Spiegel 49 I 200 1, S. 38. 14 BGHR § 46 Abs. 2/Nr. 17; Besch!. v. 8. Nov. 1995,2 StR 527/95.
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(nicht zuletzt deshalb, weil sich ja aus der Offenlegung von Art und Beschaffenheit des "Geldverstecks" neue, selbständige Strafgründe ergeben können). Aber auch der Grundsatz Nulla-Poena-Sine-Lege verbietet es, Strafe - bzw. einen Teil davon - für Nichtkooperation zu verhängen. Das Gesetzlichkeitsprinzip ist nicht etwa schon deshalb gewahrt, weil die Strafschärfung auf der Grundlage des § 46 StGB beruht. Das Gesetzlichkeitsprinzip ist, genau genommen, doch ein Tatbestandsprinzip. Nur solches Verhalten, das in einem gesetzlichen Tatbestand als strafrechtlich missbilligt definiert ist, kann Strafe nach sich ziehen. 111. Ausblick - zugleich zu Frage 4 Ich komme zum Schluss, zur letzten Frage - empfehlen sich angesichts der gefundenen Ergebnisse Änderungen des Gesetzes? Es ist, so meine ich, bereits deutlich geworden, dass eine Idee sich durchaus aufdrängt: Man könnte - wie etwa im Steuerstrafrecht - bei bestimmten, typischerweise durch übersteigertes Bereicherungsstreben motivierten Delikten gegen Individualrechtsgüter - gerade im Interesse des Opfers - eine stärker ökonomisch orientierte Straftheorie zugrunde legen. Hierüber wird, soweit ich sehe, hierzulande wenig nachgedacht, zumindest nicht laut. Ökonomische Straftheorie gilt wohl als ziemlich unintellektuell, ja als irgendwie grob (nebenbei, mich wundert deshalb auch nicht, dass Reemtsma über dieses Thema kein Wort verliert). In der Tat, auf der Grundlage der klassischen Ideen des individualisierenden, an persönlicher Schuld orientierten Strafrechts, wie wir es kennen, scheint es wenig Raum zu geben für die Idee, Verbrechen und Strafe als eine Frage der Gegenüberstellung und Abwägung von Kosten und Nutzen zu sehen. Ein solches System macht sich das Prinzip zu eigen, das Verbrechen ganz nüchtern in ,,Preisstufen", bis hin zum Höchstpreis, einzuteilen, und zwar je nach der Einstufung der Tatschwere, die wiederum an unterschiedliche Kriterien anknüpfen kann. So ließen sich beim Verbrechen des Erpresserischen Menschenraubes durchaus zahlreiche Abstufungen denken: je nach Gefährdung und Bedrohung von Leib und Leben des Opfers, nach der Dauer seiner Freiheitsentziehung, nach der Verletzlichkeit der Person und nach der Größe des herbeigefiihrten Vermögensverlusts, je nach der Motivation des Täters, je nach der Begehungsweise, insbesondere bei Verwendung von Waffen etc. Die Höhe des Preises für die jeweilige "Stufe" müsste so sein, dass die Aussicht, tatsächlich zahlen zu müssen, geeignet wäre, den Tatgeneigten abzuschrecken, oder, wenn schon nicht dies, dann doch wenigstens, ihn während der noch andauernden Tat zu Rücktritt, und, während des Strafverfahrens, zu tätiger Reue zu bewegen. Aber all dies scheint mir noch nicht einmal so sehr bedenklich - Abstufungen nach Tatschweregesichtspunkten sind ja unserem Strafrecht keineswegs per se fremd. 15 Schwierigkeiten, mich mit einer ökonomischen Straftheorie anzufreunden, habe ich nicht so sehr wegen der damit IS Z. B. in Form von Qualifikationen oder in der Regelbeispieltechnik der "besonders schweren Fälle".
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verbundenen Idee, für Verbrechen einen "Preis" zu nennen bzw. festzusetzen, sondern vielmehr wegen des immanenten Zwangs zu schlichter Konsequenz, die dem Konzept innewohnt, wenn man es auf der Rechtsfolgenseite ernstlich als eine Art Zahlungssystem praktizieren will. Mit anderen Worten: Wenn im konkreten Fall der Täter durch kein noch so großes, rotes ,,Preisschild" (in Gestalt der Strafandrohung 16) sich hat bewegen lassen - dann muss man bei ökonomischer Betrachtungsweise bereit sein, ihn für die Tat ohne Wenn und Aber zahlen zu lassen. Sind wir dazu bereit - bis in die letzten Konsequenzen hinein? Es ist eine Werteentscheidung, die man so oder anders treffen kann. Argumente lassen sich dafür und dagegen finden - und ich diskutiere gerne und eifrig, insbesondere mit meinen amerikanischen Freunden, über solche Fragen und fmde das immer sehr spannend und anregend. Es endet allerdings immer im Patt. Ein wesentlicher Grund liegt wohl darin, dass ich eine rein emotional bedingte, also wohl ganz irrationale Abneigung gegen Lebenslagen, Systeme oder auch Personen habe, die mich dazu nötigen wollen, am Ende schlicht und einfach konsequent zu sein, ,,no matter what". Mein Gegenüber findet es dann typischerweise nicht leicht zu verstehen, wie man das Vermeiden von Konsequent-Sein-Müssen wollen kann, und gleichzeitig behaupten will, vernünftig zu sein. Und manchmal denke ich, wir haben hier ein echtes Problem. Auf der anderen Seite: Die Freundschaft hält schon sehr lange.
16 Ein System vielfach abgestufter Strafdrohungen, mit den Hauptkategorien des Schweregrads der Deliktsbegehung und der Vorstrafenbelastung des Beschuldigten ist auf Bundesebene sowie in vielen Einzelstaaten der USA in sogenannten "Sentencing Guidelines" realisiert. Einen nachhaltigen Eindruck vermittelt z. B. das (in der Handbibliothek des Lehrstuhis vorhandene) United States Sentencing Commission Guidelines Manual (2000).
Strafrecht und Drogenpolitik - eine zerstörerische Allianz Cornelius Nestler Vorbemerkung: Der folgende Beitrag gibt den Inhalt der zu Teilen nur in Stichworten ausgearbeiteten Vorlesung wieder. Der Vortragsstil wurde bewusst beibehalten und die wenigen Fußnoten sollen nur Hinweise auf neuere Literatur geben. Für eine detaillierte Analyse der Legitimität des Betäubungsmittelstrafrechts mit umfangreichen Nachweisen verweise ich auf die gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift im Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, 1998, Hrsg. Arthur Kreuzer, in § 11.
I. Betäubungsmittelstrafrecht gilt als Nebenstrafrecht und wird in der Ausbildung an den juristischen Fakultäten grob vernachlässigt - anders als etwa auch das in der Ausbildung derzeit geradezu boomende nebenstrafrechtliche Wirtschaftstrafrecht. In der Praxis ist Betäubungsmittelstrafrecht aber zu einem der Hauptgebiete des Strafrechts geworden. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik sind zwar nur 3,6% der insgesamt rund 6,3 Millionen Straftaten Delikte nach dem BtMG. Aber unter den Verurteilungen zu Freiheitsstrafen macht das Betäubungsmittelstrafrecht schon 15% aus (ca. 17.000). Und unter den Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von über 5 Jahren entfallen 25%, also ein Viertel aller Verurteilungen auf das Betäubungsmittelstrafrecht. Die Inanspruchnahme von Polizei und Justiz und vor allem auch die Auswirkungen auf den Strafvollzug sind daher enorm. Zur Illustration des Strafrechts einer prohibitiven Drogenpolitik kurz die Schilderung von zwei Fallgeschichten. Sie sind willkürlich allein nach dem Prinzip ausgewählt, dass ich sie aus eigener Beobachtung gut kenne und dass sie symptomatisch für größere Verfahren des Betäubungsmittelstrafrechts sind. Fall J Vier Personen in Deutschland suchen Kontakt zu Kokainlieferanten und treffen sich nach Monaten der Kontaktanbahnung mit zwei Kolumbianern, die ein kg Kokain als Probe mit sich führen. Alle Beteiligten werden unmittelbar nach dem Treffen festgenommen. Im Hotelzimmer der Kolumbianer beschlagnahmt die Polizei 20 kg Kokain. Das Treffen der Beteiligten wird durch Polizeibeamte persönlich und per Video observiert. Ein verdeckter Ermittier der Polizei, der für das Verfahren gesperrt ist, hat die Kolumbianer offensichtlich dirigiert. Vor der Hauptverhandlung macht die zuständige Strafkammer des Landgerichts einen "frühen ersten Termin" mit den Strafverteidigern, um die Möglichkeiten von Ab-
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sprachen zu eruieren. Es kommt zum "deal" bei den Angeklagten aus Deutschland, ihre Verfahren werden abgetrennt und sie werden in einer Hauptverhandlung von einer knappen Stunde Dauer zu Strafen von 4 bis 6 Jahren verurteilt. Die Kolumbianer werden nach durchgeführter Hauptverhandlung zu Strafen von 11 und 13 Jahren verurteilt, vor allem wegen der großen Menge Kokain. Später fällt den Verteidigern auf, dass es mehrere andere Strafverfahren gibt, bei denen die Polizei nach demselben Muster vorgegangen ist. Vermutlich hatte derselbe V-Mann mehrmals ,,Käufer" mit "Verkäufern" zusammengebracht, denen durch die Polizei dieselbe Menge von 20 kg Kokain zur Verfügung gestellt wurde.
Falll Mehrere Gefangene in einer NA ordern über ihre Handys Betäubungsmittel von draußen. Das Schmuggelpaket wird angehalten, mit ca. 150 g Heroin und etwa 1 kg Haschisch. Es kommt zu Anklage und Hauptverhandlung gegen den Transporteur, die Gefangenen und die Lieferanten von außen wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit nicht geringen Mengen nach § 30a Abs. 1 BtMG, Mindeststrafe 5 Jahre, gegen insgesamt zunächst 13 Angeklagte, die von je zwei Verteidigern vertreten werden. Der Tatverdacht beruht vor allem auf umfangreicher Telefonüberwachung. In insgesamt 58 Tagen Hauptverhandlung werden schrittweise im Wege von Absprachen, die über die Kronzeugenregelung des § 31 BtMG eingefädelt werden, alle Angeklagten bis auf einen zu Strafen im Bereichen von drei bis fünf Jahren verurteilt.
Der Aufwand, den Polizei und Justiz in diesen zwei Verfahren zur Bekämpfung des Drogerunarktes getrieben haben, ist immens und im ersten Fall höchst fragwürdig und wird auf der Seite der Justiz durch das Absprache-Verfahren mehr schlecht als recht aufgefangen. Die Juristen, zu deren beruflichem Alltag das Betäubungsmittelstrafrecht gehört, haben sich an all das längst gewöhnt und auch daran, dass "deals" nicht nur auf der Straße, sondern auch in Gerichtssälen gemacht werden. I Thematisiert werden zwar "neuralgische Punkte des Betäubungsmittelstrafrechts" - so unlängst der Titel eines Beitrages in der NJW. 2 Die Frage, ob nicht das Strafrecht grundsätzlich das falsche Mittel ist, um auf die Gefahren des Konsums von Betäubungsmittel zu reagieren und den Umgang mit Betäubungsmitteln zu regulieren, ob also nicht das Betäubungsmittelstrafrecht insgesamt eine Fehlentwicklung ist, wird aber in Deutschland in der Drogenpolitik wie unter Juristen kaum noch gestellt. 3
Kritisch allerdings Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, 2000. EndrißI Kinzig, NJW 2001,3217. 3 Anders in der anglo-amerikanischen Diskussion, vgl. Me Coun I Reuter, Drug War Heresis, 2001; The Case for Legalising Drugs, Beilage des The Eeonomist vom 28. Juli 2001; Carnwath I Smith, Heroin Century, 2002; Husak, Legalize This! The Case for Decriminalizing Drugs, 2002. Dass in den USA und in Großbritannien neben einer Entkriminalisierung auch die Legalisierung von Betäubungsmitteln weiterhin ein Thema ist, dürfte auch damit zusammenhängen, dass dort die ,,Drogenprobleme", d. h. neben den durch den Konsum auch die durch die Prohibition bedingten Probleme, erheblich größer sind als in Deutschland. I
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11. Geht man systematisch vor, dann ist die Frage nach der Legitimität des Betäubungsmittelstrafrechts in drei Unterfragen aufzugliedern: 1. Sind die Ziele legitim? 2. In welchem Umfang sind diese Ziele erreichbar? 3. Welche Neben- und Folgekosten entstehen bei der Zielerreichung? Unter der letztgenannten dritten Frage ist das Thema dieser Vorlesung, die zerstörerische Allianz von Drogenpolitik und Strafrecht, zu thematisieren. Zuvor werde ich in einer gerafften Zusammenschau der Argumente nur kurz auf die ersten beiden Fragen eingehen, damit der Kontext erkennbar wird, in dem die zerstörerische Allianz von Strafrecht und Drogenpolitik zu sehen ist.
Zu 1. Sind die Ziele legitim? Mit dem Betäubungsmittelstrafrecht wird das Ziel verfolgt, den Konsum von Betäubungsmitteln zu verhindern, damit Schäden, die der Konsum bewirken kann, verhindert werden. Diese Schäden lassen sich in zwei große Gruppen einteilen einerseits Schäden, die bei den Konsumenten selbst und andererseits Schäden, die bei Dritten und im sozialen Zusammenleben auftreten können. Bei den Konsumenten geht es - in der Reihenfolge der Gewichtung der Rechtsgüter - um Todesfälle, Gesundheitsschäden und Beeinträchtigungen der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, also um Sucht und Abhängigkeit. Bei den Schäden, die bei Dritten und im gesellschaftlichen Zusammenleben auftreten können, geht es um konkrete Schäden, die mit der pharmakologischen Wirkung der Stoffe in Zusammenhang stehen können, also etwa um Aggressionsdelikte und Straßenverkehrsdelikte unter der Einwirkung von Drogen, mithin um Schäden, die uns im Zusammenhang mit Alkoholkonsum wohlbekannt sind, und darüber hinaus - auch das kennen wir vom Alkoholkonsum - um drogenbedingtes Schlechterbringen von sozialen Leistungen, also etwa Unproduktivität, Eltern, die sich nur ungenügend oder gar nicht um ihre Kinder kümmern, allgemein um Formen unsozialen Verhaltens, die mit Drogenkonsum einhergehen können. Es kann nur dann ein legitimes Anliegen des Strafrechts sein, alle diese Schäden zu verhindern, wenn es eine legitime Aufgabe des Strafrechts ist, die spezifische Fonn der Selbstgefährdung, die der Konsum von Betäubungsmitteln darstellt, verhindern zu wollen. Denn letztlich geht es bei den zentralen Vorschriften des Betäubungsmittelstrafrechts schlichtweg nur darum, die Betäubungsmittel von den Konsumenten fern zu halten, also darum, Verhaltensweisen zu verbieten, die dem Bürger den Konsum bestimmter Güter erst möglich machen. Hat dieser grundsätzlich ein Recht auf Selbstgefährdung - und niemand wird bestreiten können, dass alle möglichen Fonnen selbstgefährdender Verhaltensweisen, sei es Motorradfah-
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ren oder Rauchen oder die Teilnahme an einer Mount-Everest-Expedition, nicht nur faktisch erlaubt sind, sondern als freie Entfaltung der Persönlichkeit verstanden werden -, dann braucht man gute Gründe, warum das bei Betäubungsmitteln anders sein soll und was - um im Beispiel zu bleiben - Motorradhändler, Kioskbetreiber und Veranstalter von Abenteuerreisen außer dem Umstand, dass ihr Verhalten nicht verboten ist, von Drogenhändlern unterscheidet. Innerhalb des durch Verfassungsrecht und strafrechtliche Prinzipien der Verantwortlichkeit abgesteckten normativen Rahmens, in dem diese Fragen zu diskutieren sind, wird man sicherlich auch nach dem Gefährdungsgrad von Drogen differenzieren können und müssen: Auch normativ macht es einen Unterschied, ob es sich um Drogen handelt, die bei beim Konsumenten regelmäßig erst nach längerem Konsum - wie bei Alkohol, Cannabis oder Zigaretten - zu Schäden führen können, oder ob man es mit einer Art Zombiedroge zu tun hat, die regelmäßig schon bei einmaliger Einnahme zu irreparablen Gesundheitsschäden und unkontrolliertem Verhalten gegenüber Dritten führt und darüber hinaus sofort süchtig macht. Eine solche Zombiedroge ist nicht bekannt - entgegen weit verbreiteter Meinung wirkt auch Crack nicht so -, und schon an dieser Feststellung, deren Wahrheitsgehalt ich im Rahmen dieses Beitrages nicht belegen kann, wird deutlich, dass die Debatte über ein Recht auf Selbstgefährdung durch Einnahme von Drogen wohl weniger auf dem Boden verfassungs- und strafrechtlicher Prinzipien entschieden wird, sondern Einschätzungen und vor allem Vorurteile von der spezifischen Gefährlichkeit bestimmter Stoffe, von den ,,Drogen", den kriminalpolitischen Diskurs dominieren.
Zu 2. In welchem Umfang sind diese Ziele erreichbar? Bei der Frage, ob das Betäubungsmittelstrafrecht leistet, was es an Zielerreichung vorgibt, also bei der Frage nach der Effektivität des Betäubungsmittelstrafrechts, werden ganz konträre Thesen vertreten. Die These der Gegner der Prohibition lautet: Der "war on drugs" kann nicht gewonnen werden. So lasse sich die Produktion von Betäubungsmitteln weder mit dem Strafrecht und noch nicht einmal mit den Mitteln des Kriegs unterbinden: Zerschlägt man das Medellin-Kartell, entsteht wenig später das Cali-Kartell. Minimiert man die Produktion in Kolumbien auch durch den Einsatz von Militär und paramilitärischem Terror, dann entsteht eine neue - und noch umfangreichere - Produktion in anderen Ländern; derzeit ist das Mexiko, und wie der "war on drugs" dort aussieht, konnte man sich in diesem Winter in dem hervorragenden Film "Trafiic" vorführen lassen. Auch in den Konsumentenländern ist die Bekämpfung des Drogenhandels nicht wirklich erfolgreich. So können nur ca. I 0% der Importe von Betäubungsmitteln an den Grenzen abgefangen oder im Land beschlagnahmt werden. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass der Markt von "großen Erfolgen" bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität, umfangreichen Sicherstellungen von Betäubungsmitteln
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und dem ,,zerschlagen von Drogenringen" sichtbar beeinflusst wird. So wurde vor mehreren Jahren im Rhein-Main-Gebiet bei der Zerschlagung eines Händlerrings eine größere Menge von Haschisch beschlagnahmt als jemals zuvor. Meine Nachfragen ergaben, dass selbst dieser Erfolg, die Sicherstellung von mehreren Tonnen Haschisch, weder zu Knappheit geführt noch sich erkennbar auf den Preis ausgewirkt hatte. So kommen die Gegner der Prohibition zu der Schlussfolgerung: Das Betäubungsmittelstrafrecht ist gescheitert, es kann den illegalen Markt nicht unterbinden und damit auch den Konsum nicht verhindern. Ja - aber das Betäubungsmittelstrafrecht verhindert, dass noch sehr viel mehr Menschen Betäubungsmittel konsumieren, wenden die Befürworter des Betäubungsmittelstrafrechts ein. Um abschätzen zu können, wer eher Recht hat mit seiner Einschätzung, muss man Prognosen aufstellen, inwieweit sich der Drogenkonsum verändern würde, würde man die strafrechtlich abgesicherte Prohibition aufgeben. Derartige Prognosen fallen unterschiedlich aus, je nach dem, welches Szenarium einer Drogenkontrolle man ihnen zu Grunde legt. Sicherlich wird niemand die gänzlich unregulierten Kräfte des illegalen Marktes durch die Mechanismen des legalen Konsumgütermarktes ersetzen wollen: Dass die Fußballnationalmannschaft anstatt für Bittburger-Bier für Heroin wirbt und man Kokain an der Kasse im Aldi-Markt erwerben kann wie derzeit Zigaretten, ist kein realistisches Szenarium. Vorstellbar ist aber ein restriktives Modell der Abgabe wie etwa in den sog. Coffeeshops in den Niederlanden, in denen jeder ab einem bestimmten Alter Cannabis bis zu einer bestimmten Menge erwerben kann. Das Modell kann noch restriktiver ausfallen, wenn etwa für den Erwerb von Betäubungsmitteln eine Art Drogenerlaubnisschein erforderlich ist, der nur nach eingehender Aufklärung und Beratung ausgestellt wird. Alle vorstellbaren Modelle sind aber nur dann sinnvoll, wenn die Regulierung des Zugangs zu Betäubungsmitteln nicht so restriktiv ist, dass es (erneut) zur Entstehung von parallelen Schwarzmärkten kommt. Die Kernfrage bei allen diesen Prognosen lautet: Welchen Umfang würde der Konsum annehmen, wenn es für Erwachsene prinzipiell möglich wird, Betäubungsmittellegal zu erwerben? Die sozialwissenschaftliche Forschung zum Drogenkonsum legt nahe, dass mit folgenden Verhaltensweisen zu rechnen wäre: Viele Menschen probieren Drogen aus. Nur ein relativ kleiner Teil dieser Gruppe konsumiert dann weiter - so legt die Forschung etwa nahe, dass mehr als die Hälfte der in diesem Hörsaal Anwesenden schon Marihuana und / oder Haschisch probiert haben, dass es aber allenfalls wenige unter uns sein werden, die einigermaßen regelmäßig weiterkonsumiert haben. Von dieser Gruppe beendet der Großteil nach einer gewissen Zeit ebenfalls den Konsum. Und von den Personen, die über längere Zeiträume hin regelmäßig konsumieren, können die meisten den Konsum so kontrollieren, dass die Auswirkungen auf ihre Lebensführung weitgehend unproblematisch sind. Nach den Forschungsergebnissen gilt dieses Verteilungs-
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muster auch für die sog. harten Drogen Heroin, Kokain und sogar für Crack. Nur ein sehr kleiner Teil aller Konsumenten entwickelt die problematischen Konsummuster, wie wir sie ,verstärkt' durch die Bedingungen der Prohibition unter den auffälligen und straffälligen Drogenabhängigen auf den. Drogenszenen der Großstädte erleben. Meine erste These zu der Prognose, was passieren würde, wenn die Prohibition wegfallen würde, lautet auf der Grundlage dieser Forschungsergebnisse so: Die Prohibition trägt zu einem Klima der Nichtakzeptanz von Drogen, insbes. von sog. harten Drogen, bei und verhindert daher schon bei vielen Menschen, dass sie überhaupt Betäubungsmittel ausprobieren. Unter den Bedingungen der Prohibition ist auch der Druck groß, den Konsum wieder aufzugeben: Die Preise sind hoch, die Qualität der Betäubungsmittel auf dem illegalen Markt ist schlecht oder zumindest schlecht kalkulierbar, nicht zuletzt beinhaltet der Konsum ein Kriminalitätsrisiko ein instruktives aktuelles Beispiel liefert Herr Daum, der unbestreitbar trotz seines Kokainkonsums ein hervorragender Trainer war, aber dessen Karriere durch das Strafverfahren jedenfalls erheblich abgebremst wurde. Diese These, wonach die Prohibition sehr wohl den Umfang des Drogenkonsums begrenzt, muss aber modifiziert werden. Denn für Cannabis trifft diese plausibel zu vermutende Leistung des Betäubungsmittelstrafrechts als Mittel zur Durchsetzung der Prohibition erfahrungsgemäß gerade nicht zu. Das zeigt das Beispiel der Niederlande. Dort sind der Konsum und der Erwerb von Cannabisprodukten seit 1976 entpönalisiert worden, und durch das Coffe-Shop-System ist de facto der Zugang zu Cannabisprodukten für alle Personen, die älter als 16 Jahre sind, legal. Die Daten zum Cannabis-Konsum in den Niederlanden (Lifetime-Prävalenz; Konsum im letzten Monat; Konsum innerhalb von bestimmten Altersgruppen, etwa den 12- bis 14jährigen und den 15- bis 17jährigen) sind aber nahezu identisch mit den Daten in Deutschland, das gerade auch den Besitz und Erwerb von Cannabis strafrechtlich verfolgt. Kleinere Abweichungen frodet man zwar in der Zeit Mitte der 80ger Jahre bis Anfang der 90ger Jahre. Diese Abweichungen sind aber gut erklärbar durch die Kommerzialisierung der Coffee-Shops in dieser Phase, und ab Anfang der 90ger Jahre gehen die Daten nicht nur in den USA und in Norwegen (wo die Zahlen ohnehin deutlich höher sind), sondern auch in Deutschland hoch, bleiben in den Niederlanden aber auf dem erreichten Niveau. 4 Diese Daten zeigen, dass der Einfluss des Strafrechts auf den Umfang des Konsums jedenfalls bei Cannabis allenfalls gering ist. Wichtiger für die Prävalenz des Drogenkonsums dürften modische Entwicklungen zu sein, beispielhaft etwa der rasante Anstieg der sog. Techno(Musik)drogen in den letzten Jahren. "Soziale und kulturelle Rahmenbedingungen scheinen wichtiger zu sein als die jeweilige Dro4 Zu den Daten für die Niederlande und Deutschland bis in die späten 80ger Jahre vgl. Reuband. Drogenkonsum und Drogenpolitik. Deutschland und die Niederlande im Vergleich, 1992; zu den neueren Daten auch im internationalen Vergleich Me Coun / Reuter (0. Fn. 1), S. 252 ff.
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genpolitik und infonnelle gesellschaftliche Regelungsmechanismen von größerer Handlungsrelevanz als das Strafrecht und die Verfiigbarkeit von Drogen" (Reuband). Für die Legitimität das Cannabisstrafrechts ist das ein erschreckendes Ergebnis: Die Verurteilungen wegen Cannabis, die zahlenmäßig immer noch den Hauptteil aller Verurteilungen nach dem BtMG ausmachen, sind anscheinend überflüssig, und damit haben auch tausende von Jahren Haftstrafe, die in Deutschland wegen Cannabisdelikten verhängt wurden, ihre Legitimation verloren. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber in seiner Cannabisentscheidung von 1994 aufgegeben zu überprüfen, ob die Kriminalisierung des Umgangs mit Cannabisprodukten tatsächlich geeignet und erforderlich ist. Die Antwort ist längst gegeben durch das Beispiel der Niederlande - von den GRÜNEN und der SPD vor Jahren geplante Forschungsprojekte wie die Abgabe von Cannabis durch Apotheken sind schon deswegen ganz überflüssig, weil es kein besseres "Forschungsprojekt" geben kann als die de facto Legalisierung in einem ganzen Land. Die Effektivität des Betäubungsmittelstrafrechts bei der Verhinderung von Drogenkonsum korreliert somit offensichtlich mit der kulturellen Integration einer Droge. Sobald sich eine Droge in bestimmtem Umfang etabliert hat - so wie Cannabis - kann das Betäubungsmittelstrafrecht anscheinend nur noch sehr wenig bewirken. Andererseits erscheint es plausibel zu sein, dass das Betäubungsmittelstrafrecht zwar Angebot und Nachfrage auch von kulturell nur wenig etablierten Drogen nicht verhindern kann, aber doch ihre Verbreitung behindert und damit den Umfang des Konsums solcher Betäubungsmittel begrenzt. In welchem Umfang das Betäubungsmittelstrafrecht diese Leistung jeweils bei den einzelnen Betäubungsmitteln erbringt, kann man nur vennuten: Beide Extrempositionen, die hierzu vertreten werden, halte ich nicht für überzeugend. Unplausibel scheint es mir zu sein, dass sich "problematische", d. h. insbesondere auch in ihrem Abhängigkeitspotential schwer kontrollierbare Drogen bei einer Rücknahme des Betäubungsmittelstrafrechts epidemisch in großer Zahl verbreiten würden. Diese Befürchtung ist gerade deswegen unplausibel, weil die meisten Menschen in einer Gesellschaft wie der unseren die negativen Effekte des Drogenkonsums vermeiden wollen, und weil die pharmakologische Wirkung der Drogen allein auch keine unüberwindbare Abhängigkeit begründen kann, die es den Menschen unmöglich machen würde, problematische Konsummuster aufzugeben. Ebenso wenig plausibel scheint mir aber auch die Annahme zu sein, dass eine freie Verfiigbarkeit von Drogen nicht zu einer Zunahme des Konsums führen würde. Das wäre nur plausibel, wenn die aktuelle Tabuisierung der harten Drogen, die unter prohibitiven Bedingungen vergleichsweise hohe Gefährlichkeit ihres Konsums, das Kriminalisierungsrisiko und nicht zuletzt die extrem hohen Preise (Schätzungen gehen dahin, dass etwa Kokain bei einer Freigabe nur 5 bis 10 Prozent des aktuellen Straßenpreises kosten würde) die Konsumentscheidungen nicht beeinflussen würden.
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Zu 3. Welche Neben- und Folgekosten entstehen bei der Zielerreichung? Eine utilitaristische Bewertung der Vor- und Nachteile von betäubungsmittelstrafrechtlich bewehrter Prohibition und restriktiv geregelter, dem Grunde nach aber freier Verfiigbarkeit von Drogen, kann aber nicht dabei stehen bleiben, dass bei einer Freigabe einzelner Drogen mit einer höheren Zahl an Konsumenten und damit einer Zunahme an problematischem, d. h. schädigendem Konsum zu rechnen ist. Sondern dieser Bewertung müsste eine Kosten-Nutzen-Analyse vorangehen, welche die unterschiedlichen Optionen der Drogenpolitik nüchtern und rational danach durchforstet, bei welchem Drogenregime insgesamt mit den geringsten Schäden für die Konsumenten, Dritte und die Gesellschaft zu rechnen ist. Sie müsste daher dem vermuteten Nutzen der Prohibition, die Zahl der Konsumenten jedenfalls bestimmter Drogen niedrig zu halten, auch die Kosten gegenüberstellen, die durch die Durchsetzung der Prohibition mit den Mitteln des Strafrechts entstehen. Eine derartige Analyse fördert - und damit bin ich bei dem Titel der Vorlesung angelangt - eine zerstörerische Allianz zwischen Drogenpolitik und Strafrecht zu Tage. Die eine Seite dieser Allianz, die Kosten der Prohibition, die gerade diejenigen Menschen zu tragen haben, die illegale Drogen konsumieren, sind weitgehend bekannt und ich liste sie nur kurz auf: - Das Versagen von lebensmittel- und / oder arzneimittelrechtlichen Kontrollen: Verunreinigte und in ihrem Wirkungsgrad schwer kalkulierbare Produkte des Schwarzmarktes sind unnötig gefährlich. - Extrem hohe Preise (bei Heroin und Kokain, nicht so sehr bei Exstacy und Cannabis), damit einhergehende Vernachlässigung anderer Bedürfnisse und (zumindest) Begünstigung von Beschaffungskriminalität, die Dritte schädigt. - Hohe Preise bewirken im Übrigen gefährliche, weil intensivere, Applikationsformen (z. B. Injektion im Vergleich zur Inhalation). - Gesundheitliche und auch psychosoziale Verelendung, die nicht notwendig mit dem Konsum der Stoffe einhergeht, wie das Beispiel der Heroinvergabe in der Schweiz zeigt. - Mit dem Konsum einhergehende Kriminalisierung (Drogendelikte, Beschaffungskriminalität), die die psychosoziale Verelendung der Konsumenten zusätzlich fördert. - Einbindung der therapeutischen Angebote bei Abhängigkeit in die institutionellen Rahmenbedingungen der Strafjustiz (§§ 35 ff. BtMG) - darin sehen viele Experten gerade die größte Gefährdung für den Erfolg therapeutischer Angebote. Es werden aber nicht nur die Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen Drogen konsumieren, dramatisch verschlechtert, wenn das Betäubungsmittelstrafrecht auf den Plan tritt, sondern der Einfluss der Drogenpolitik auf das Betäu-
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bungsmittelstrafrecht und das Strafrecht insgesamt ist ebenfalls zerstörerisch, und dieser Befund wirkt sich auch negativ aus auf die Legitimität des Betäubungsmittelstrafrechts. So wird das Betäubungsmittelstrafrecht selbst zwar selten zu den Kosten des intendierten Rechtsgüterschutzes durch eine strafrechtliche Absicherung der prohibitiven Drogenpolitik gezählt, und auf den ersten Blick scheint das auch eine zirkuläre Sichtweise zu sein. Ist man aber erst mal soweit, dass man Betäubungsmittelstrafrecht damit begründet, dass mit ihm die Prohibition durchgesetzt wird, um die potentiell vom Konsum der Betäubungsmittel ausgehenden Schäden zu vermeiden, dann muss man eine umfassende Kosten-Nutzenabwägung dieses Gesamtprojekts vornehmen. Zu den Kosten muss man dann auch die unmittelbaren Folgen des Betäubungsmittelstrafrechts, die Qualität seiner Regelungen und seine mittelbaren Auswirkungen auf das Kriminaljustizsystem insgesamt zählen. Zunächst muss in diese Abwägung schlichtweg eingehen, dass die Menschen, die am Betäubungsmittelmarkt teilnehmen, verfolgt und bestraft werden. Das scheint ein erstaunlicher Gedanke zu sein: Wenn jemand eine Straftat begeht, z. B. einen Einbruchsdiebstahl, dann stellt sich doch nur die Frage, ob seine Bestrafung verhältnismäßig ist zu dem Schaden, der Rechtsgutsbeeinträchtigung, für die er verantwortlich ist. Beim Betäubungsmittelstrafrecht stellt sich die Frage nach der Rechtsgutsverletzung aber anders: Wer eine Tonne Kokain importiert, der schädigt damit niemanden - genauso wenig, wie der Importeur von einer Tonne Kaffee. Bestraft man den Kokainimporteur, dann liegt der Strafnorm die Abwägung zugrunde, die Vorteile der Prohibition (Verhinderung von potentiellen Schäden durch Verminderung der Konsumprävalenz von Kokain in der Gesellschaft) überwögen die mit der Prohibition einhergehenden Nachteile. Einer der wichtigsten Nachteile besteht aber darin, dass Menschen zur Aufrechterhaltung der Prohibition zu häufig sogar sehr hohen Freiheitsstrafen bestraft werden. Diese Folge der Prohibition ist somit in die Abwägung, ob die Prohibition und ihr Mittel, das Betäubungsmittelstrafrecht, legitim sind, mit einzubeziehen. Anders formuliert: Während bei den meisten Straftatbeständen die Legitimität der darin enthaltenen Verbotsnorm (im Beispiel: Schädige nicht fremdes Eigentum durch Wegnahme) unstreitig ist und sich allein die Frage stellt, ob die Reaktion auf den Normbruch mit Strafrecht in jedem Fall adäquat ist, beruht beim Betäubungsmittelstrafrecht die Legitimität der Verbotsnormen (Unterlasse jeglichen Umgang mit Betäubungsmittel) auf der Saldierung der Vor- und Nachteile dieses Verbots im Vergleich zu den Folgen, mit denen bei einem Umgang mit Drogen auf einem regulierten legalen Markt zu rechnen wäre. Die mit der strafrechtlichen Reaktion unmittelbar verbundene Beeinträchtigung von Rechtsgütern (Freiheit und Eigentum) ist eine Größe, die mit in diese Saldierung aufzunehmen ist und die daher auch mit über die Legitimität der Strafrechtsnorm entscheidet. Weiterhin ist in die Saldierung der Vor- und Nachteile der Prohibition auch die vom Betäubungsmittelstrafrecht ausgehende Beanspruchung von Ressourcen bei
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der Strafverfolgung einzubeziehen: Die Ressourcen, die das Betäubungsmittelstrafrecht beansprucht, sind immens - erinnern wir uns an die Zahlen, die ich eingangs genannt hatte. Somit wären erhebliche Kapazitäten frei für andere Bereiche des Strafrechts, müssten sich Polizei und Justiz nicht um die Verfolgung von Drogendelikten kümmern - von den aktuellen Zuständen im Strafvollzug ganz zu schweigen. Der Versuch, einen illegalen Markt unter Strafe zu stellen, ist aber nicht nur dem Grunde nach problematisch, sondern er hat spezifische Auswirkungen auf die Qualität des materiellen Strafrechts und das Strafverfahrensrecht - diesen für das Strafrecht zerstörerischen Auswirkungen der prohibitiven Drogenpolitik will ich mich abschließend zuwenden. Das ultima-ratio-Prinzip und der fragmentarische Charakter des Strafrechts sind altehrwürdige Prinzipien des rechtsstaatlichen Strafrechts. Das Strafrecht soll danach das letzte und ein in seinem Umfang begrenztes Mittel der rechtlichen Regulierung sein. Im Betäubungsmittelstrafrecht sind diese Prinzipien weitgehend abgeschafft worden. Der Grund dafür liegt darin, dass das Betäubungsmittelstrafrecht nicht auf bestimmte, umgrenzte Verhaltensweisen abstellt, die konkrete Rechtsgüter schädigen oder gefährden, sondern letztlich einen ganzen Markt unterbinden soll. Zu diesem Zweck wird flächendeckend nicht nur jeglicher Umgang mit Betäubungsmitteln kriminalisiert, sondern darüber hinaus werden auch alle möglichen Verhaltensweisen, die den Umgang mit Betäubungsmitteln fördern können, unter Strafe gestellt - allein der Konsum ist straflos, und auch diese Aussage ist nur in einem strikt dogmatischen Sinn zutreffend, denn faktisch macht sich der Konsument fast ausnahmslos wegen der Tatbestände Erwerb, Sichverschaffen und Besitz strafbar. Die Kriminalisierung ist auch nicht nur flächendeckend, sondern sie geschieht auf hohem Niveau und ohne ausreichende Differenzierungen - Überkriminalisierung horizontal wie vertikal ist das Leitprinzip des Betäubungsmittelstrafrechts. Einige Beispiele: a) Das Handeltreiben ist der zentrale Tatbestand des Betäubungsmittelstrafrechts, was funktional gesehen konsequent ist, denn der Handel konstituiert den Markt. Handeltreiben wird von der Rechtsprechung definiert als jede eigennützig auf Umsatzförderung gerichtete Bemühung. Eine Differenzierung nach der Relevanz des Verhaltens für den Markt findet praktisch aber weitgehend nur auf der Ebene der Strafzumessung und nicht schon bei den Strafrahmen statt, die von den Tatbeständen vorgegeben sind. An meinem zweiten Fallbeispiel, dem versuchten Schmuggel von Betäubungsmitteln in eine Justizvollzugsanstalt, lässt sich das gut demonstrieren: Der Vater eines der Inhaftierten hatte den Kauf von I kg Haschisch für seinen Sohn finanziert und das Haschisch dann für eine halbe Stunde in seiner Wohnung aufbewahrt, bis
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der Transporteur es abgeholt hatte. Das ist zunächst kein Handeltreiben, für das § 29a BtMG bei einer nicht geringen Menge eine Mindeststrafe von einem Jahr vorsieht, da kein Eigennutz gegeben ist, sondern nur Beihilfe zum Handeltreiben, so dass der Strafrahmen als Mindeststrafe nur 3 Monate vorsieht. Aber der Besitz ist im Fall einer nicht geringen Menge ebenfalls in § 29a BtMG enthalten (Abs. 1, Nr. 2). Zwar tritt der Besitz generell als Auffangtatbestand hinter alle sonstigen Tatbegehungsweisen zurück, die von § 29 Abs. 1, Nr. 1 BtMG erfasst sind, aber da zwischen Beihilfe zum Handeltreiben und Besitz Tateinheit angenommen wird, weil bei der Beihilfe nicht notwendig auch die eigene Verfügungs gewalt über die Betäubungsmittel, die den Besitz kennzeichnet, gegeben ist, bleibt es letztlich doch beim Strafrahmen von eins bis fünfzehn Jahren wegen Besitzes. Und nur am Rand als Beispiel für die flächendeckende Kriminalisierung noch folgender Hinweis: Kommt es gar nicht zum Handeltreiben und damit auch zu keiner strafbaren Beihilfe dazu, dann steht immer noch die Strafbarkeit nach § 29 Abs. 1, Nr. l3 BtMG als Auffangtatbestand zur Verfügung - allein das Bereitstellen von Geldmitteln, das zu nichts führt, ist im BtMG schon unter Strafe gestellt. b) Die Verbrechenstatbestände des BtMG folgen dem generellen Muster, dass bestimmte Beteiligungen am Markt als typischerweise so schwerwiegend beurteilt werden, dass dafür der erhöhte Strafrahmen vorgesehen ist - Ausnahmen im Einzelfall können dann jeweils über die unbenannten minderschweren Fälle (§§ 29a Abs. 2; 30 Abs. 2; 30a Abs. 3 BtMG) aufgefangen werden. Erschwerungsgründe, die zu Verbrechenstatbeständen fiihren, sind die Art der Tatbegehung (Umsatzdelikte), die Menge der Betäubungsmittel, Erfolgsqualifikationen (Verursachung des Todes) oder qualifizierte Begehungsweisen (Verabreichung an MindeIjährige, bandenmäßiges Handeln, Beisichfiihren von Schusswaffen). Eine besondere Bedeutung spielt hier vor allem die nicht geringe Menge, deren Vorliegen allein (so in § 29a Abs. 1, Nr. 2 BtMG) oder in Verbindung mit Qualifikationen (so in § 30a Abs. 1 und Abs. 2, Nr. 2 BtMG) den erhöhten Strafrahmen begründet. Bei der Tathandlung der Einfuhr begründet die nicht geringe Menge gern. § 30 Abs. 1, Nr. 4 BtMG auch ohne Vorliegen einer weiteren Qualifikationen sogar eine Mindeststrafe von zwei Jahren. Einfuhr kann nun sowohl mit dem Ziel erfolgen, die Betäubungsmittel zu verkaufen, als auch mit dem Ziel, sie selbst zu konsumieren. Korrigierbar ist der hohe Regelstrafrahmen in den Konsumentenfällen nur über die Ausnahme der Annahme eines minderschweren Falles. In der Praxis handelt es sich bei der Mehrzahl der Fälle einer Einfuhr von nicht geringen Mengen aber um Einfuhr zum Eigenkonsum und um sog. Ameisenhandel. Der im Vergleich zum Handeltreiben erhöhte Regelstrafrahmen fiihrt somit regelmäßig zu einer systematisch nicht zu rechtfertigenden Überkriminalisierung. c) Im Betäubungsmittelstrafrecht ist weiterhin die "Gerechtigkeitsmathematik" (Hasserner) der Zurechnungskriterien des Allgemeinen Teils des Strafrechts gerade bei dem zentralen Tatbestand des Handeltreibens weitgehend abgeschafft. Da das Handeltreiben als jede eigennützig auf Umsatzforderung gerichtete Bemühung 7 Ringvorlesung
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definiert wird, ist schon jedes ernsthafte Sprechen über Kauf und Verkauf von Betäubungsmittel tatbestandliches Handeltreiben - und zwar auch dann, wenn es ganz folgenlos bleibt. Diese extreme Subjektivierung und Grenzenlosigkeit des objektiven Tatbestandes hebelt die Differenzierungen des Allgemeinen Teils aus. So bleibt zunächst für den Versuch, obwohl in § 29 Abs. 2 BtMG gesetzlich vorgesehen, de facto kein Raum mehr. Denn wenn allein schon das ernsthafte Reden über Betäubungsmittel für den Tatbestand ausreicht, dann ist es irrelevant, ob jemand die Betäubungsmittel im Besitz hat, ob er überhaupt weiß, woher er sie bekommen könnte, ob sie schon beschlagnahmt sind oder ob sich die Betäubungsmittel auf dem Weg zur Polizei befinden - immer ist schon vollendetes Handeltreiben gegeben. Beispiel: Wer Puderzucker besitzt und denkt, es seien Betäubungsmittel, und tritt in Kontakt mit jemandem, dem er den Zucker ernsthaft verkaufen will, hat Handel getrieben, obwohl es weder ein Tatobjekt gibt und auch noch keine Tathandlung, die als Handeltreiben gesehen werden kann. Wie flächendeckend die Kriminalisierung ist, zeigt das umgekehrte Beispiel: Weiß der Beschuldigte, dass es sich um Zucker handelt, täuscht er aber vor, es seien Betäubungsmittel, dann ist dieses Verhalten nach § 29 Abs. 1, Nr. 6 BtMG ebenfalls als Handeltreiben zu bestrafen. Gibt es im Vorfeld des Tatbestandes keinen Bereich des Versuchs, dann wird jegliche Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts genommen - und das ist besonders fatal, wenn schon die ernsthaft gemeinte Kommunikation über mögliche Geschäfte tatbestandiich unter Strafe gestellt ist. Wer nur ein Geschäft plant und den Plan dann wieder aufgibt, macht sich trotzdem wegen vollendetem Handeltreiben strafbar. Diese weite Auslegung des Handeltreibens ist gut erklärbar mit der spezifischen Logik der Bekämpfung des illegalen Drogenmarktes. Denn würde man beim Handeltreiben einen Handlungserfolg bestimmen - etwa die Übertragung von Betäubungsmitteln von einer Person auf eine andere auf dem Weg zum Konsumenten dann würden alle die Fälle, in denen die Polizei durch verdeckte Ermittlungen das Marktgeschehen überwacht, sich die Betäubungsmittel also objektiv auf dem Weg zur polizeilichen Sicherstellung befinden oder gar von vorneherein von der Polizei selbst auf dem Markt als Lockmittel angeboten werden, als Versuch behandelt werden. Die effektivste polizeiliche Ermittlungsmethode, nämlich die scheinbare Beteiligung am Handeltreiben, würde automatisch dazu führen, dass das Verhalten derer, die überführt werden sollen, als Versuch zu qualifizieren wäre. Diese Konsequenz scheint der BGH in seiner Rechtsprechung vermeiden zu wollen. Und eine zweiter Grund für die Abschaffung des Versuchs beim Handeltreiben dürfte darin liegen, dass anderenfalls die Geschäftsverhandlungen jener Personen, die häufig gerade vermeiden, selbst mit den Betäubungsmitteln in Berührung zu kommen, also der Großhändler, in den Bereich von Versuch oder sogar strafloser Vorbereitungshandlung fallen würden, wenn das Geschäft letztendlich nicht zustande kommt.
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Auch die Unterscheidung von Täterschaft und Beihilfe beim Handeltreiben ist theoretisch nicht möglich, wenn das Handeltreiben als jede eigennützig auf Umsatzförderung gerichtete Bemühung definiert ist. Denn wer zu Umsatzgeschäften Hilfe leistet, der entfaltet auch immer schon eine Tatigkeit, die auf Umsatz abzielt. Für objektive Unterscheidungen bleibt daher kein Raum mehr. Die Rechtsprechung kann somit nur über den Weg einer extrem-subjektiven Bestimmung von Täterschaft und Teilnahme zu einer Annahme von Teilnahme kommen - eine wertende, auf das Interesse an dem Umsatzgeschäft abstellende Gesamtbetrachtung. Diese wertende Gesamtbetrachtung hat aber dort ihre Grenzen, wo die Auslegung des Handeltreibens "den Besonderheiten des Rauschgifthandels Rechnung zu tragen (habe), der auch durch Arbeitsteilung und Tarnung gekennzeichnet ist" (BGH). Damit bleibt in der Praxis für die Bewertung als Beihilfe zum Handeltreiben wenig Raum - Beihilfe wird nur für extrem untergeordnete Tätigkeiten angenommen und hat ihren eigentlichen Anwendungsbereich nur in den Fällen, in denen kein Eigennutz gegeben ist. Die präventive Orientierung des Betäubungsmittelstrafrechts unterläuft somit die Gerechtigkeitskriterien, die den Wertungen des Allgemeinen Teils und der Dogmatik dazu zugrunde liegen. d) Der Bruch mit Prinzipien des Strafrechts ist aber nicht nur bei der Kriminalisierung, sondern auch bei der Entkriminalisierung im Betäubungsmittelstrafrecht feststellbar. So operiert die Drogenpolitik seit Anfang der 90ger Jahre zunehmend mit dem Gegensatz-Paar der immer intensiveren Bekämpfung des (international) organisierten Betäubungsmittelhandels und der Rücknahme der strafrechtlichen Verfolgung der Konsumenten. Dahinter steht das Bild von den bösen Dealern auf der einen Seite und den abhängigen und kranken Konsumenten auf der anderen Seite, bei denen die Strafverfolgung mit gesundheitspolitischen Maßnahmen kollidiert. Da gleichzeitig aber an der prohibitiven Grundstruktur des Betäubungsmittelstrafrechts festgehalten wird, ergeben sich systematische Friktionen. Dazu zwei Beispiele: In § 29 Abs. 1, Nr. 11 BtMG hat der Gesetzgeber im Jahr 2000 die Voraussetzungen für den Betrieb von sog. Fixer- oder Gesundheitsräumen geschaffen, in denen die mitgebrachten Betäubungsmittel konsumiert werden können. Diese zuvor rechtlich hoch umstrittenen Einrichtungen sind gesundheitspolitisch außerordentlich sinnvoll, weil dort der Konsum unter hygienische Bedingungen stattfindet, Notfallhilfe zur Verfügung steht und auch Kontakte zur Drogenhilfe und damit zu therapeutischer Betreuung hergestellt werden können. Strafrechtlich bleibt das Problem, dass die Personen, die sich in einen Drogenkonsurnraum begeben, regelmäßig strafbaren Besitz an den Betäubungsmitteln haben, die sie dort konsumieren wollen. Praktisch wird dieses Problem dadurch gelöst, dass die Polizei im Zugangsbereich von Gesundheitsräumen von der Strafverfolgung wegen Besitz trotz eindeutigen Tatverdachts absieht. Der renommierte Betäubungsmittelstrafrechtler Körner hat in einem Gutachten behauptet, diese Praxis der Polizei sei rechtmäßig. 7·
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Nach den Prinzipien der StPO darf aber nur die Staatsanwaltschaft die Entscheidung treffen, ob von der Verfolgung einer Straftat abgesehen wird. Die Praxis, dass die Polizei selbst mit Rückendeckung der Staatsanwaltschaft über die Verfolgung von Straftaten entscheidet, widerspricht eindeutig der Kompetenzverteilung der StPO. Die Dynamik der Drogenpolitik erweist sich hier stärker als die Prinzipien des Strafrechts, diesmal nicht aus Gründen einer effektiven Bekämpfung des Drogenhandels, sondern aus vernünftigen gesundheitspolitischen Erwägungen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Cannabisentscheidung von 1994 festgestellt, dass die Strafbarkeit von Verhaltensweisen, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch von Cannabis vorbereiten und nicht mit einer Fremdgeflihrdung verbunden sind, nur deshalb nicht das Übermaßverbot verletzen, weil die Strafverfolgungsbehörden in diesen Fällen von der Verfolgung nach den Einstellungsvorschriften der §§ 153 StPO, 31a BtMG absehen müssten. Die verfassungswidrig zu weit geratene Strafvorschrift könne durch eine Anwendung des Verfahrensrechts auf einen materiell legitimen Geltungsbereich ZUTÜckgeschnitten werden, eine Entkriminalisierung auf der Tatbestandsebene sei nicht notwendig. In der Praxis hat diese Entscheidung einen begrüßenswerten Entkriminalisierungsschub bei der Verfolgung von Cannabiskonsumenten ausgelöst. Der vom Verfassungsgericht vorgeschlagene Weg ist aber schwerlich mit dem Gesetzlichkeitsprinzip und dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, und die Rechtsanwendungsgleichheit, die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst durch einheitliche Richtlinien der Länder zur Einstellungspraxis hergestellt werden muss, ist gerade nicht eingetreten. e) Zum Prozessrecht: Das sog. OrgKG von 1992 trägt nicht ohne Grund den Namen: "Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Formen der organisierten Kriminalität." Der Gesetzgeber hatte relativ präzise Vorstellungen vom Rauschgifthandel und den zu seiner Bekämpfung notwendigen Ermittlungsmethoden und vergleichsweise blasse und abstrakte Vorstellungen von der übrigen "OK". So ist schon die Regelung des Einsatzes Verdeckter Ermittier in der StPO durch das OrgKG von 1992 nur die - unvollständige, weil den noch viel problematischeren Einsatz von V-Leuten aussparende - gesetzliche Fixierung und Präzisierung einer bei der Verfolgung von Betäubungsmitteldelikten schon lange vor 1992 etablierten und auch von der Rechtsprechung akzeptierten Praxis. Diese Praxis reagiert auf die besonderen Errnittlungsschwierigkeiten bei der Verfolgung von Betäubungsmittelstraftaten. Es handelt sich dabei um sog. opferlose, konsensuale Kriminalität, bei er es keine Geschädigten und daher keine Anzeigen gibt und auch keinen Schaden. Solange sich Betäubungsmitteldelikte nicht wie beim Straßenhandel direkt unter den Augen der Polizei abspielen und wenn Betäubungsmittel nicht wie etwa durch Grenzkontrollen von der Polizei entdeckt werden, dann ergeben sich keinerlei Ermittlungsansätze. Daher sind Ermittlungen nur effektiv, wenn sie heim-
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lich, möglichst im Vorfeld der eigentlichen Geschäfte, am besten proaktiv erfolgen. In der kriminalpolitischen Diskussion werden heimliche Ermittlungen, also vor allem die Telefonüberwachung, der Lauschangriff und andere Formen technischer Überwachung sowie der Einsatz von V-Leuten und Verdeckten Ermittlern regelmäßig mit dem besonderen Bedrohungsszenarium organisierter Kriminalität legitimiert. Auf den Bereich der Betäubungsmittelkriminalität trifft schon das Bedrohungsszenarium nicht zu, denn der Betäubungsmittelmarkt ist eher desorganisiert und der beabsichtigte Zugriff auf die "großen Hintermänner" gelingt praktisch nie. Die eigentliche Bedrohung durch Organisierte Kriminalität, die Verflechtung von Kriminalität mit Wirtschaft und Politik, findet im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität in Deutschland ersichtlich nicht statt. Nicht der Organisationsgrad der Kriminalität, sondern die Deliktsform, das einverständliche Zusammenwirken von Marktteilnehmern, verlangt aber nach heimlichen und proaktiven Ermittlungsmethoden - die Strafverfolgungsbehörden müssen sich auf die Suche nach der Kriminalität begeben, die ohne die polizeiliche Aufdeckung gar nicht erkennbar und verfolgbar wäre. So sagen etwa die Statistiken über den Umfang von Betäubungsmittelkriminalität wenig darüber aus, wie groß der Umfang der Kriminalität tatsächlich ist, sondern bilden vor allem die Intensität polizeilicher Aufklärungstätigkeit ab. Die Suche der Polizei nach der Betäubungsmittelkriminalität muss man sich grob so vorstellen: Erste Informationen über die Planung und Begehung von Betäubungsmitteldelikten kommen entweder von V-Leuten, die häufig gezielt eingesetzt werden, oder durch die heimlichen technischen Ermittlungsmethoden. Schon 1974 sind schwere Betäubungsmitteldelikte in den Katalog des § 100a StPO, der die Telefonüberwachung erlaubt, aufgenommen worden. Die Telefonüberwachung gilt als Standardmaßnahme gerade in Betäubungsmittelverfahren, und auch die weiteren heimlichen Ermittlungen nach § 100c StPO dürften dort ihr Hauptanwendungsfeld finden. Am effektivsten ist aber die aktive Marktbeteiligung der Polizei, die auf der Käufer - wie auf Verkäuferseite auftritt. Denn die Vorstellung, V-Leute könnten effektiv sein, wenn sie nur beobachten, was passiert, ohne selbst an der Deliktsbegehung beteiligt zu sein, ist gerade bei der Betäubungsmittelkriminalität kriminalistisch naiv. Betäubungsmittelgeschäfte werden typischerweise nicht im Beisein Unbeteiligter geplant und durchgeführt. Deswegen sind das unter Vortäuschung von Marktbeteiligung erworbene Wissen von und vor allem die Steuerung von Betäubungsmittelgeschäften, die den Zugriff der Polizei auf die Betäubungsmittel und auf die Täter ermöglicht, zur kriminalistisch erfolgreichsten Methode bei den Ermittlungen von Betäubungsmitteldelikten geworden. Die sog. kontrollierte Lieferung, d. h. unter der Kontrolle der Polizei stattfindende Betäubungsmittelgeschäfte, ist zum eigenen Stichwort in Kommentaren zum Betäubungsmittelstrafrecht avanciert. Bei dieser Ermittlungspraxis kommt es mitunter sogar vor, dass die Polizei sowohl auf der Käufer- wie auf der Verkäuferseite agiert und mit sich selbst Geschäfte anbahnt.
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So gibt es mittlerweile kaum ein größeres Betäubungsmittelstrafverfahren ohne die Beteiligung von V-Leuten und Verdeckten Ermittlern. Deren Tätigkeit findet regelmäßig im Grenzbereich von Deliktsbegehung und Tatprovokation statt. So betreffen die neueren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des BGH zu den Folgen der Tatprovokation nicht zufällig gerade Betäubungsmitteldelikte. Zu derartigen Entscheidungen, bei denen im Strafverfahren eine Tatprovokation festgestellt wurde, kommt es aber nur selten. Denn der Nachweis einer Tatprovokation ist praktisch kaum möglich, weil V-Leute und Verdeckte ErmittIer regelmäßig für das Verfahren gesperrt werden. Betäubungsmittelstrafverfahren sind daher häufig durch die Konstellation geprägt, dass V-Leute an den Ermittlungen beteiligt waren und diese Beteiligung für die Bewertung der Delikte höchst relevant sein kann, dass aber gleichzeitig die umfassende Aufklärung dieser Vorgänge dem Geheimhaltungsinteresse der Strafverfolgungsbehörden geopfert wird. Auch an diese Form der polizeilichen Steuerung des Strafverfahrens hat sich die Justiz mittlerweile ersichtlich gewöhnt. Ich fasse zusammen: Vorfeldermittlungen, heimliche Ermittlungen wie Telefonüberwachung, Lauschangriff und Bewegungsprofile, V-Leute und Tatprovokation - alle diese "modemen" und gleichzeitig rechtsstaatlich problematischen Methoden der Beweisgewinnung im Strafverfahren werden vor allem in Betäubungsmittelstrafverfahren praktiziert, in denen auch der Beschuldigte selbst durch die Kronzeugenregelung des § 31 BtMG als Ermittlungsgehilfe institutionalisiert wurde. Es wundert dann nicht, dass sich auch der deal, d. h. die Vereinbarung, dass für die Aufgabe der Verteidigung von Seiten des Gerichts mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft ein bestimmtes Verfahrensergebnis versprochen wird, in Betäubungsmittelstrafverfahren am schnellsten ausgebreitet und sich dort schon seit Jahren jedenfalls in umfangreicheren Verfahren - als Regelform des Strafverfahrens etabliert hat. Denn die Strukturen des Betäubungsmittelstrafrechts begünstigen Absprachen über das Verfahrensergebnis in mehrfacher Hinsicht. 5 So gibt es praktisch nie eine echte Freispruchperspektive, weil das materielle Betäubungsmittelstrafrecht jeglichen Umgang mit Betäubungsmitteln auf irgendeine Weise tatbestandlich erfasst. Und die hohen Strafrahmen erlauben es, die Sanktionsschere zwischen der Strafe, mit der das Gericht für den Fall der Durchführung einer Hauptverhandlung drohen kann, und der Strafe, die für den Fall der Aufgabe der Verteidigung in Aussicht gestellt wird, weit aufzuklappen. Je weiter sich die Schere öffnet, umso attraktiver erscheint dem Beschuldigten der deal. So konnte in meinem zweiten Fallbeispiel des Schmuggels von Betäubungsmitteln in eine NA mit Strafen von weit über 5 Jahren gedroht und dann absprachegemäß für Geständnisse, die auch die Verurteilung der Mitangeklagten ermöglichten, über die Regelung des § 31 BtMG Strafen zwischen drei und vier Jahren angeboten und verhängt werden.
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Instruktiv dazu Weider; Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, 2000.
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Einige abschließende Überlegungen: Die Analyse des Betäubungsmittelstrafrechts zeigt, dass ein Drogenstrafrecht von seinem Gegenstand her latent darauf angelegt ist, die Prinzipien eines nach traditionellem Verständnis rechtsstaatlichen Strafrechts abzuschleifen. Daher muss bei allen Überlegungen zur Drogenpolitik grundsätzlich auch die Frage gestellt werden, ob es sich für das Ziel, den Konsum von Betäubungsmittel zu minimieren, tatsächlich lohnt, ein Strafrecht wie das Betäubungsmittelstrafrecht in Kauf zu nehmen. Die Erwartung, die Drogenpolitik werde ein solches Monitum ernsthaft aufgreifen, ist realpolitisch sicherlich vollkommen unrealistisch. Aber ein erster Schritt in diese Richtung könnte sein, statt auf Aufrüstung auf Abrüstung zu drängen. Alles spricht dafür, dass ein Herunterfahren der extrem hohen Strafen und ein weniger an Strafverfolgung im Betäubungsmittelbereich an den Marktbedingungen und damit an der Konsumhäufigkeit und damit am intendierten Rechtsgüterschutz wenig ändern würden. Die extrem hohen Strafen sind daher auch aus einer rein präventiven Perspektive illegitim, und eine Rücknahme der Intensität der Strafverfolgung bei Betäubungsmitteldelikten würde die gesamte Justiz und vor allem den Strafvollzug entlasten. Ich schließe mit vier Thesen: (1) Das Betäubungsmittelstrafrecht verdient als eines der praktisch wichtigsten Felder des Strafrechts vermehrt Aufmerksamkeit in Forschung und Lehre. (2) Im Betäubungsmittelstrafrecht ist das in seinen Voraussetzungen klar und eng konturierte klassische Strafrecht und Strafverfahrensrecht, wie es - bis auf wenige Ausnahmen - bis in die 80ger Jahre des vergangenen Jahrhunderts der Standard war, durch einen neuen Typus des an präventiven Bedürfnissen orientierten Strafrechts ersetzt worden. (3) Das Betäubungsmittelstrafrecht hat dabei eine Vorreiterfunktion für Entwicklungen im gesamten Strafrecht: Gerade der Entwurf des OrgKG "zeigt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, dass die Verderbnis strafrechtlicher Sitten im Betäubungsmittelstrafrecht anfängt und dass das allgemeine Klima von diesem Bereich her ängstlich und aggressiv wird" (Hassemer). (4) Gegenthese zur zweiten These: Im Betäubungsmittelstrafrecht ist nur eine allgemeine Entwicklung im Strafrecht beobachtbar, eine zunehmende Orientierung an Prävention, die mit einer Rücknahme von rechtstaatlichen Sicherungen und Begrenzungen im Strafrecht einhergeht. Diese generelle Entwicklung im Strafrecht ist im Betäubungsmittelstrafrecht allerdings besonders stark erkennbar.
Die Untreue (§ 266 StGB) als ,,Allzweckwaffe" JÜfgen Seier
I. Die Vielzahl der Untreueverfahren in der Praxis Ich möchte vorausschicken: Ich fühle mich nicht recht wohl mit oder bei meinem Thema. Dieser Vortrag wäre für einen Strafrechtspraktiker maßgeschneidert. Dank seiner größeren Einblicke wäre er weitaus berufener, uns aufzuzeigen, in welchem Ausmaß das Untreuedelikt heute instrumentalisiert wird. Nun - die Ambivalenz von Theorie und Praxis hat an der Kölner Rechtswissenschaftlichen Fakultät lange Tradition. Auch unsere Ringvorlesung steht unter diesem Leitspruch. Von daher bin ich gefordert, den Spagat zu wagen. Sie mögen mir nachsehen, dass ich dabei weitgehend nur auf veröffentlichte Entscheidungen zurückgreifen kann, ergänzt durch einige bescheidene Erfahrungen, die ich selbst in der Rechtspraxis gewonnen habe. Diese Vorbemerkung und das Thema "Untreue als Allzweckwaffe" machen deutlich, dass es weniger um die dogmatischen Feinheiten und Eigenarten des Tatbestands geht. Im Vordergrund soll vielmehr stehen, wie Strafverfolgungsbehörden und Gerichte mit der Untreue umgehen. Die - um es vorwegzunehmen - vielfach nicht nachvollziehbare, ja fast willkürlich anmutende Anwendungspraxis macht es dann freilich doch notwendig, den Blick auf die Tatbestandselemente der Untreue zu richten - und da bin ich gottlob wieder bei meinen Leisten. Der unberechenbare Umgang mit dem Delikt wird nämlich ennöglicht durch die weite Gesetzesfassung des § 266 StGB; einer Nonn von kaum zu überbietender Vagheit und Konturenlosigkeit. Ich darf in diesem Zusammenhang Naucke zitieren; er schreibt in der FAZ vom 01. 01. 2000: "Die Tendenz zur Ungenauigkeit im Strafrecht verbündet sich mit einem nicht mehr zu bändigenden Boom im strafrechtlichen Vennögensschutz.,,1
Das trifft auf die Untreue in besonderem Maße zu. Die Untreue hat seit Jahren "Hochkonjunktur". Fast täglich lesen wir von neu eröffneten oder bereits anhängigen Untreueverfahren. Ich erinnere an das Ennittlungsverfahren gegen Kohl, das nach gut einem Jahr Dauer im Februar 2001 gemäß § 153a StPO gegen "freiwilI
FAZ 01. 01. 2000, S. 12.
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lige" Zahlung von 300.000 DM eingestellt worden ist. Hohe Wellen schlagen gegenwärtig die Untersuchungen gegen den ehemaligen Mannesmann-Vorstand und -Aufsichtsrat wegen der Rechtmäßigkeit von Abfindungszahlungen und Pensionsleistungen von insgesamt 120 Mio DM. Jüngsten Presseberichten zufolge dehnt in diesem Verfahren die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen mehr und mehr auf weitere Beschuldigte aus. Als jemand, der morgens beim Frühstück zunächst den Sportteil der Zeitung liest, darf ich des Weiteren hinweisen auf das laufende Untreueermittlungsverfahren gegen die Vereinsfunktionäre von Energie Cottbus. Im Übrigen würde es mich nicht überraschen, demnächst von einem Ermittlungsverfahren gegen VIi Hoeneß zu hören, weil man der Auffassung ist, der von Bayern München für Sebastian Deisler gezahlte Preis von 20 Mio DM sei unvertretbar überzogen, zumal doch dieser Spieler ohnehin sehr verletzungsanfällig zu sein scheint. Dass diese Vorstellung alles andere als aberwitzig ist, werde ich noch dartun.
11. Die Untreue im Vergleich zum Betrug Angesichts der Flut von Verfahren fragt sich, ob die Untreue mittlerweile nicht sogar dem Betrug den Rang abgelaufen hat. Was die statistische Häufigkeit der Verfahren und Verurteilungen angeht, ist das sicher nicht der Fall. Was aber die Untreue vom Betrug scheidet, sind erstens die Schadenssummen. Wahrend auf einen Betrug die durchschnittliche Schadenshöhe von 7.052 DM entfällt, liegt der Mittelwert der Schadenssummen für eine Untreue bei 341.546 DM, also fast bei dem 50-fachen? Die Untreue ist zweitens, anders als der Betrug, nach der Definition von Sutherland ein echtes Wirtschaftsdelikt, begangen nämlich von einem Angehörigen einer hohen sozialen Schicht - dem sog. white collar - im Rahmen seines Berufes. Die Untreue hat drittens Einzug in alle Lebensbereiche gehalten. Ich nenne nur Wirtschaft, Politik, Sport und Haushaltsrecht. Jeder, der fremde Geschäfte zu besorgen und mit fremdem Vermögen umzugehen hat, wird gewissermaßen im Grenzbereich der Untreue tätig und ist nicht davor gefeit, mit einem Untreueverfahren überzogen zu werden. Die Allgegenwärtigkeit der Untreue kommt äußerlich schon dadurch zum Ausdruck, dass sich im Laufe der Zeit - parallel zum Betrug Fallgruppen gebildet haben, die man mit einem bestimmten Etikett zu bezeichnen pflegt. Aus Ihrem Studium kennen Sie alle diese Bindestrich-Betrugsfälle. Das beginnt mit dem Anstellungsbetrug, geht weiter über den Bettel-, Beweismittelund Submissionsbetrug und endet dann mit der Zechprellerei. Bei der Untreue ist dieses Lexikon ungleich länger, ja unübersehbar. Eine kleine Auswahl: Anwaltsuntreue, Bankuntreue, Gesellschaftsuntreue, Haushaltsuntreue, Konzemuntreue, neuerdings Parteienuntreue, Schmiergelduntreue. Ich will es 2
Vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 2000, S. 188, 195.
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damit bewenden lassen. Eine annähernd erschöpfende Auflistung würde meine gesamte Vortragszeit in Anspruch nehmen. Besonderes Charakteristikum der Untreue ist viertens die Vielzahl möglicher Beteiligter - siehe den Fall Mannesmann - sowie etwaige Sekundär- und Tertiärverantwortlichkeiten. Zur Veranschaulichung ein konstruiertes Beispiel: Eine Bank AG räumt einem Unternehmen gegen ungenügende Sicherheiten einen Kredit ein; das Unternehmen wird später zahlungsunfähig. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft werden sich hier in erster Linie auf den Entscheidungsträger - den Vorstand als Kollektiv - konzentrieren. Der Vorwurf: mittäterschaftlich begangene Missbrauchsuntreue. Die Untersuchungen werden dann auf die nachgeordnete Hierarchieebene - das mittlere Management - sowie sicher auf den Aufsichtsrat ausgeweitet, der die gesellschaftsschädigende Verfügung möglicherweise zu monieren unterlassen hat. Damit nicht genug. Man wird weiter ermitteln, gegen welche Personen auf seiten der kreditnehmenden Firma ein Beihilfevorwurf erhoben werden kann. Und damit ist der Fall immer noch nicht ausgereizt: Nach der sog. ARAG-Entscheidung des BGH3 ist der Aufsichtsrat grundsätzlich verpflichtet, die Vorstandsmitglieder wegen ihres Fehlverhaltens auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen. Sofern er dies versäumt, ist wiederum ein Ansatz für eine strafrechtliche Verantwortung aus § 266 StGB gegeben. Daran können abermals die begünstigten Vorstandsmitglieder als Gehilfen beteiligt sein usw. usf. Ich glaube, dieses Beispiel belegt, welche Dimensionen ein Untreuefall annehmen kann. III. Die AnwendungspraIis Ich komme zur Anwendungspraxis. Hierbei will ich zwei Fallkonstellationen herausgreifen, die ich für besonders bedenklich halte, für bedenklicher jedenfalls als andere Falltypen. Die Erste lässt sich umschreiben mit ,,nützliche Aufwendungen" im Bereich des Gesellschaftsrechts. Dazu als Einstieg ein vom OLG Hamm4 entschiedener Fall: G, Geschäftsführer der Stadtwerke GmbH in Paderborn, kauft für 340.000 DM Gemälde, die er aus Repräsentationszwecken im Vorraum des Verwaltungsgebäudes aufhängen lässt. Die Gerichte haben diese Anschaffung als Missbrauchsuntreue eingestuft. G hatte das Pech, dass es sich bei den Stadtwerken, weil zu mehr als 50% in öffentlichrechtlicher Hand, um einen sog. kommunalen Eigenbetrieb handelte. Für eine solche Gesellschaft gelten die Grundsätze der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit, denen G nach Ansicht der Gerichte zuwidergehandelt hat. Bemerkenswert an diesem Fall ist auch die Schadenskonstruktion. Wegen der Gleichwertigkeit von 3 4
BGH in Zivilsachen, Z 135, 244. OLG Harnm, NStZ 1986, 119.
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Weggegebenem (Kaufpreis) und Erlangtem (Bilder) ist man auf einen individuellen Schadenseinschlag ausgewichen. Der GmbH seien benötigte flüssige Mittel entzogen worden; G habe aus Betriebskapital totes Anlagekapital gemacht. Diese Entscheidung des OLG Hamm hat dann vor allem in den 90-er Jahren eine Vielzahl von Verurteilungen ausgelöst, die in ähnlich gelagerten Sachverhalten gegen Leiter öffentlicher Versorgungs- und Verkehrsbetriebe ausgesprochen worden sind. Zumeist ging es um Anschaffungen oder für den Aufsichtsrat organisierte Reisen, von denen man annahm, sie seien zu luxuriös und kostspielig ausgefallen. Auffällig ist, dass in allen Entscheidungen, die ich gelesen habe, gleich mehrfach die angespannte finanzielle Lage der jeweiligen Kommune hervorgehoben wird. Und in einigen Entscheidungen heißt es sogar entlarvend, dass in besseren Zeiten das Urteil möglicherweise anders gelautet hätte. Das Strafrecht also als zeitbedingtes Mittel, den Haushalt zu konsolidieren? Mit der Einlassung, solche Ausgaben seien gang und gäbe und damit sozialadäquat, sind die Angeklagten regelmäßig nicht gehört worden. In einem Urteil des AG BraunschweigS heißt es dazu apodiktisch: "Die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft wegen etwa zeitgleich durchgeführter Reisen anderer Unternehmen kein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat, mag zwar befremden, spielt jedoch in diesem Zusammenhang keine Rolle. Eine Gleichbehandlung im Unrecht gibt es nicht."
Es ist anzumerken, dass das Legalitätsprinzip die Staatsanwaltschaft anhält, jedwedem Unrecht nachzugehen. Mit der Verfolgungspflicht soll doch gerade einer Ungleichbehandlung im Unrecht vorgebeugt werden. Willkür und freies Ermessen sollen ausgeschlossen sein. An diesen Verfahren ist darüber hinaus auffällig, dass die Begünstigten der Aufwendungen, die Reiseteilnehmer, durchweg ungeschoren blieben. llmen - was ohne weiteres möglich gewesen wäre - eine Beihilfe zur Last zu legen, ging den Strafverfolgungsorganen dann doch offensichtlich zu weit. Unter dem Strich mag man diese Spruchpraxis bei öffentlich-rechtlichen Unternehmen vielleicht noch akzeptieren. Besorgniserregend wird es aber, wenn man - was nicht selten geschehen ist - die staatsanwaltschaftliche Beurteilung von getätigten Aufwendungen auf reine Privatunternehmen überträgt. Ich kann berichten von einem Ermittlungsverfahren gegen den Vorstand eines Energieversorgungskonzerns im Ruhrgebiet. Gegenstand war eine Aufsichtsratssitzung, die - zugegebenermaßen mit viel Protz und Prunk - in München stattfand. Die Staatsanwaltschaft gerierte sich hier sozusagen als Rechnungshof und überprüfte alle angefallenen Rechnungsposten auf Notwendigkeit, Nützlichkeit oder Verschwendung. Denkt man das zu Ende, droht ein erschreckendes Szenario: Jede unternehmerische Entscheidung würde zu einem latenten Strafbarkeitsrisiko; jede untemehmeri5
AG Braunschweig, 4 Ls 703 Js 41626/88.
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sche Entscheidung (z. B. der Einkauf, der Verkauf oder auch Nichtverkauf eines Fußballspielers) müsste sich eine staatsanwaltliche Kontrolle dahingehend gefallen lassen, ob sie mit dem Unternehmenswohl bzw. den Vereinszielen vereinbar war. Kurz: Die Staatsanwaltschaft überwacht und diktiert damit die Unternehmenspolitik. Die zweite Fallgruppe, die ich beleuchten will, lässt sich kennzeichnen mit dem Obersatz "Verletzung nicht vermögensbezogener Pflichten". Zu Anfang wiederum eine veröffentlichte Entscheidung, diesmal eine vom BGIfi bestätigte Verurteilung. Der Sachverhalt erschöpft sich in einem Satz: Kellermeister K hatte Wein gepanscht. An sich, so sollte man vermuten, ein bloßer - wenn auch sanktionsbewehrter - Verstoß gegen das Weingesetz. Es ruft schon Erstaunen hervor, dass darüber hinaus auf eine Untreue - Treubruchsalternative - zum Nachteil des Weingutsbesitzers erkannt worden ist. Den Vermögensschaden begründet der BGH kurzerhand damit, dass K mit seinem vorschriftswidrigen Tun die Gefahr heraufbeschworen habe, der Wein könne bei einer behördlichen Kontrolle beanstandet und dann nicht weiterverkauft werden. Dazu passt ein weiteres Beispiel - und glauben Sie nicht, dass ich damit schlafende Hunde wecke. Ich darf Ihnen versichern, die Hunde sind längst wach. Da ist ein Reisebusunternehmen im nördlichen Ruhrgebiet, betrieben in der Rechtsform einer GmbH. G, der Geschäftsführer, duldet sehenden Auges, dass bei Engpässen die angestellten Busfahrer die vorgeschriebenen Lenkzeiten überschreiten bzw. die Ruhepausen nicht einhalten. Ließe sich hier ein Student in der Klausur darauf ein, die Strafbarkeit des G wegen Untreue zu prüfen, würde - wenn Sie sich in die Rolle eines Korrekturassistenten versetzen - Ihre Randbemerkung vermutlich "femliegend" oder sogar noch vernichtender: "abwegig" lauten. Aber weit gefehlt! G hat durch sein betriebsbezogenes Versäumnis eine Ordnungswidrigkeit begangen. Das kann zur Folge haben, dass nach § 30 OWiG eine Geldbuße gegen die GmbH festgesetzt werden kann. Diese Norm erlaubt es ja, Juristische Personen und Personenvereinigungen als solche mit Geldbußen zu belegen. Damit hat G das Vermögen der GmbH aufs Spiel gesetzt, und für einen Schaden i. S. des § 266 StGB reicht ja anerkanntermaßen die Herbeiführung einer konkreten Vermögensgefährdung. Man muss da schon tief durchatmen, und ich weiß nicht, ob es Ihnen so wie mir ergeht: Je verdrehter und absurder eine Deduktion erscheint, umso schwerer fällt es, sie zu widerlegen. Man bedenke: Aus einem Geschehen, das allein dem Recht der Ordnungswidrigkeiten angehört, wird über § 30 OWiG eine Straftat. Damit ist der Ausverkauf des Strafrechts perfekt; § 266 StGB wird zu einem alles überstrahlenden Universaldelikt aufgeblasen. Der Untreuevorwurf wäre nämlich bei jedem - wie immer auch gearteten - Fehlverhalten begründet, etwa bei Kartellabsprachen, unlauterem Wettbewerb, bei Verstößen gegen Urheberrechte, gegen das Au6
BGH, bei Hansen, MDR 1979, 1988.
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ßenwirtschaftsgesetz oder das Arzneimittelgesetz, sofern aus der Gesetzesverletzung ein Vennögensnachteil für die Juristische Person erwachsen könnte. Worin dieser Nachteil bestünde, ob in einer staatlichen Sanktion, einer Geldbuße der EUKommission - siehe jüngst BASF -, einer Vertragsstrafe oder schlicht in einer Schadensersatzforderung, wäre ohne Belang.
IV. Zur Rechtstechnik: Pflichtenverstoß und Vermögensnachteil als unberechenbare Größen Ich komme zum rechtstechnischen Teil. § 266 StGB in der jetzigen Fassung gilt seit 1933 und ist in der Nazizeit bewusst unpräzise fonnuliert worden. Die Untreue ist die einzige Strafnorm, bei der das Gesetz kein bestimmtes, festumrissenes Verhalten, keine "Tat" beschreibt, sondern einen Erfolg - den Vennögensnachteil und eine ziemlich verschwommene Kennzeichnung dessen, was dem Täter irgendwie als Unrecht vorgeworfen werden kann - die Pflichtwidrigkeit. Die Treupflichtverletzung ist dabei nichts anderes als ein Blankett, das zumeist durch außerstrafrechtliche Regelungen ausgefüllt werden muss. Nur selten gerät man dabei an konkrete Verhaltensanweisungen, wie sie beispielsweise bei der Vormundschaft oder der Testamentsvollstreckung auffindbar sind. Weit öfter stehen nur ganz allgemein gehaltene Maßstäbe zur Verfügung, wie die Sorgfalt, die der Geschäftsverkehr und das Interesse des Geschäftsherm erfordern, die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns oder bei Kapitalgesellschaften die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters oder Geschäftsmannes. Über die Pflichtwidrigkeit entscheidet damit eine - und darin werden sie mir zustimmen weitgehend konturenlose Maßfigur. Der einzige Fixpunkt im Untreuetatbestand scheint das Schadenselement zu sein. Aber auch das ist insbesondere durch die Figur der schadensgleichen Vermögensgefährdung so verwässert worden, dass es an Unbestimmtheit dem Handlungsmerkmal kaum nachsteht. Wann ist eine Vennögensgefahr nur abstrakt vorhanden? Wann verdichtet sie sich zu einer konkreten? Fragen, die sich im Einzelfall nur schwerlich oder auch nach Gutdünken beantworten lassen.
V. Die Auswirkungen auf das Strafverfahren, insbesondere den Anfangsverdacht Diese unselige Allianz zweier unberechenbarer Größen führt dazu, dass das Strafverfahren insgesamt - vom Anfangsverdacht bis zum Urteil - von Unwägbarkeiten belastet wird. Vor allem ist es so, dass sich der Anfangsverdacht im Vergleich zu allen anderen Delikten viel eher, leichter und beliebiger bejahen lässt. Ich darf das im Folgenden aufzeigen. Anfangsverdacht nach § 152 11 StPO ist anzunehmen, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat vorlie-
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gen. Bei der Untreue besteht die Besonderheit, dass schon die Vennutung, es könne eines der beiden Tatbestandsmerkmale gegeben sein, den Anfangsverdacht auslösen kann. Das jeweils andere Merkmal wird dann gleichsam mitvennutet. Und die subjektive Tatseite macht ohnehin keine Schwierigkeiten, weil für sie der bedingte Vorsatz hinreicht. Besteht etwa der Verdacht einer Unregelmäßigkeit oder eines dubiosen Geschäftsgebarens, so kann bereits das zum Anlass für ein Ennittlungsverfahren gegen den Treupflichtigen genommen werden. Ein Vennögensnachteil in Gestalt einer Vennögensgefahr lässt sich theoretisch immer konstruieren. Dabei sollte zweierlei nicht unerwähnt bleiben:
Erstens: Die Aufuahme der Ermittlungen und deren Bekanntwerden in der Öffentlichkeit haben mitunter zur Folge, dass gemde dadurch eine bislang nur latent vorhandene Vennögensgefahr in einen effektiven Schaden umschlägt, weil nämlich verschreckte Gläubiger ihre Kredite und Forderungen sofort fällig stellen. Und zweitens: Bei fast allen riskanten Geschäften läuft der Treupflichtige Gefahr, sich so oder so die Eintrittskarte ins Ennittlungsverfahren zu kaufen. Geht er das Risiko ein, kann man ihm vorhalten, sorgfaltswidrig fremdes Vennögen aufs Spiel gesetzt zu haben. Sieht er dagegen von dem gewagten Geschäft ab, kann der Vorwurf dahin gehen, es pflichtwidrig unterlassen zu haben, das Vennögen des Geschäftsherm zu mehren. Dieses Entscheidungsdilemma wird besonders deutlich bei sog. Sanierungskrediten. Hier steht der Kreditgeber vor der Alternative: Soll man dem Schuldner, der wackelt, einen Tritt geben, mit der zwangsläufigen Folge, dass der ausgereichte Altkredit auf immer verloren ist? Oder soll man gutes Geld dem schlechten nachwerfen, selbst auf die Gefahr hin, dass die Sanierung fehlschlägt? Welchen Weg er auch wählt, ob Skylla oder Charybdis, in beiden Fällen droht ein Untreueverfahren. Ebenso wie der bloße Verdacht eines Pflichtenverstoßes kann auch der Eintritt eines effektiven Schadens - isoliert gesehen - in das Ermittlungsverfahren führen. Denn ein wirklicher Schaden lässt die Vennutung zu, dass ihm ein Fehlverhalten vorausgegangen ist. Maßgeblich für die Feststellung einer etwaigen Pflichtwidrigkeit ist zwar eine objektiv nachträgliche Prognose, ein ex ante-Urteil. Aber dies ist eine Gedankenopemtion, von der nur Juristen vorgeben, sie leisten zu können. Man bedenke: Das Kind ist in den Brunnen gefallen, und der im Nachhinein Klügere muss sich - unter Ausblendung des Schadensereignisses - in die ex ante-Perspektive eines Ahnungslosen versetzen. Man sollte einmal einen Psychologen befragen, wie er zu diesem Rollentausch steht. Meine Ausführungen bringen Strafverteidiger, mit denen ich gesprochen habe, wie folgt auf den Punkt: Die Untreue spielt der Staatsanwaltschaft in die Hände, weil sich mit ihr die Hürde des Anfangsverdachts ohne Mühe überwinden lässt. An diese Aussage knüpfe ich die Vennutung und These: § 266 StGB hat heute weit-
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gehend die prozessuale Funktion übernommen, den Eintritt in das Ermittlungsverfahren zu erleichtern und damit die Voraussetzung für prozessuale Grundrechtseingriffe - Untersuchungshaft, Durchsuchung, Beschlagnahme - zu schaffen. Es gibt bedauerlicherweise keine empirischen Zahlen darüber, wie viele Ermittlungsverfahren, die - wegen Untreue eröffnet - später im Sande verlaufen, sei es, dass sie im Vorverfahren nach §§ 153, 153a StPO oder auch nach § 17011 StPO - kein hinreichender Tatverdacht - eingestellt werden, oder sei es, dass das Gericht im Zwischenverfahren die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnt. Ich glaube fest, dass bei Verfahren, die ohne Urteil enden, die Untreue prozentual mit an der Spitze liegt. Es kommt im Übrigen auch vor, dass sich erst im Zuge der Ermittlungen wegen Untreue Anhaltspunkte für andere Straftaten - z. B. Steuerdelikte - ergeben, die dann allein und ausschließlich weiterverfolgt werden. Auf der anderen Seite sind etliche Fälle zu registrieren, in denen nichts geschieht. Nimmt man etwa die Berichte der Rechnungshöfe oder das Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler zur Hand, hat man den Eindruck, als läse man eine Fallsammlung zur Untreue. Gleichwohl bleibt die Staatsanwaltschaft passiv; sie tritt hier grundsätzlich nur auf den Plan, wenn sich mit der Verschwendung öffentlicher Gelder persönliche Bereicherung oder Korruption verbinden. VI. Die aus der heutigen Anwendungspraxis folgende Verfassungswidrigkeit Ich komme zum letzten Teil: zum Befund oder zur Diagnose. Ich behaupte, und das wird Sie nach meinen bisherigen Darlegungen nicht verwundern: § 266 StGB ist in Anbetracht der heute herrschenden Anwendungspraxis verfassungswidrig. Es gibt einen berühmten Satz von Hellmuth Mayer aus dem Jahre 1954. Er lautet: "Sofern nicht einer der klassischen Fälle der Untreue vorliegt, weiß kein Gericht und keine Anklagebehörde, ob § 266 StGB vorliegt oder nicht."
Diese vor fast 50 Jahren gewonnene Erkenntnis trifft auch heute noch - ich füge hinzu - gerade heute ins Schwarze. In einem vielleicht noch nie dagewesenen Ausmaß und in aller Deutlichkeit zeigt die gegenwärtige Praxis, dass das Normengebilde des § 266 StGB sich nicht mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 11 GG vereinbaren lässt. Selbst die Gerichte räumen mittlerweile unumwunden ein, wie unberechenbar Untreueverfahren sind. So hat etwa das LG Bonn7 im Fall "Kohl" seine Zustimmung zu der Einstellung nach § 153a StPO unter anderem damit begründet, dass der Ausgang des Strafverfahrens völlig ungewiss sei. Bevor ich auf diesen Fall eingehe, soll von einer anderen Strafsache berichtet werden, die viel dramatischer verlief und für die Betroffenen weitaus einschneidenderwar. 7
LG Bonn, NJW 2001,1737 f.
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Es ging um einen Kreisverband e. V. des Deutschen Roten Kreuzes in einer Ruhrgebietsstadt. Der ehrenamtliche Vorstand, bestehend aus einem Stadtkämmerer, einem Rechtsanwalt und Notar und dem Leiter einer Bank (ich darf das sagen, weil der Fall nicht nur durch die Lokalpresse ging, sondern auch - mit Namen und Bildern - von Spiegel und Focus aufgegriffen wurde), hatte einer langjährigen Geschäftsführerin an einem Grundstück ein Erbbaurecht bestellt. Das geschah mit Zustimmung der Mitgliederversammlung und des DRK-Landesverbandes. Die Staatsanwaltschaft wertete dieses Rechtsgeschäft als einen Verstoß gegen die Satzung, und sie nahm überdies den Standpunkt ein, dass durch diesen Missbrauch der steuerrechtliche Status der Gemeinnützigkeit und damit die Existenz des Vereins als solche gefährdet seien. Gegen den Vorstand wurde das Ermittlungsverfahren eingeleitet. Es kam zur Durchsuchung der Geschäftsräume und der Privatwohnungen der Beschuldigten; sämtliche Geschäftsunterlagen wurden beschlagnahmt. Gegen den 1. Vorsitzenden, den Stadtkämmerer, erging Haftbefehl. Anmerkung: In manchen Gerichtssprengeln gilt die Untreue als ein Delikt, das den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gleichsam in sich trägt. Dauer der Untersuchungshaft: 6 Wochen; eine Zeit, die geeignet ist, einen Haftunerfahrenen psychisch zu brechen. Es wurde Anklage erhoben; die Strafkammer lehnte jedoch die Eröffuung des Hauptverfahrens ab. Dieser Beschluss wurde von der Staatsanwaltschaft mit der sofortigen Beschwerde angefochten. Das OLG Hamm8 erachtete die Beschwerde als begründet und eröffuete vor einer anderen Kammer des Landgerichts. Nur der Vollständigkeit halber und um Ihnen die ganze Dimension des Falles vor Augen zu führen, noch ein Nebenkriegsschauplatz: Die Auswechselung des Tatgerichts wurde von den Angeklagten mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen. Mit ihr wurde gerügt, dem gesetzlichen Richter entzogen worden zu sein. 9 Das BVerfG 10 hat allerdings die Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Sodann die Hauptverhandlung mit 4 Sitzungstagen und dem Urteil: Freispruch für alle Angeklagten. Dies ließ wiederum die Staatsanwaltschaft nicht ruhen: Revision und schließlich nach einem Jahr Bestätigung des Freispruchs durch den BGH. Die Verfahrensdauer betrug insgesamt 4 Jahre; für die Betroffenen eine bedrückende Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Ich glaube, dieser Prozess, der eher an ein Gefecht, an einen verbissen geführten Kampf erinnert, bedarf keines weiteren Kommentars. Vielleicht nur eine - zugegebenermaßen zynische - Anmerkung: Warum ist bisher noch niemand auf den Gedanken gekommen, ob sich nicht eigentlich auch die Staatsanwaltschaft selbst mit Blick auf vergeudete Verfahrenskosten und Auslagen im Dunstkreis der Untreue bewegen könnte?
OLG Hamrn, wistra 1999,350 ff. V gl. dazu Seier, StV 2000, 586 ff. 10 BVerfG, StV 2000, 537.
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Jürgen Seier
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Im Fall ,,Kohl" zeichnet das LG Bonn ll die zuvor geschilderte Prozessschlacht als theoretisch möglich exakt nach. In dem Beschluss, mit dem das Gericht der Einstellung nach § 153a StPO Raum gab, heißt es: ,,zu einem solch langwierigen Verfahren könnte es beispielsweise wegen der ungeklärten Rechtsfragen kommen, wenn sich die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung entschlösse, das Gericht aber eine Strafbarkeit verneinen würde. Als nächste Instanz müsste dann das OLG über die Zulassung der Anklage entscheiden. Sollte die Zulassung erfolgen, müsste das Gericht eine sehr aufwendige Hauptverhandlung durchführen, wobei das Ergebnis dann wieder offen wäre. Dieses Ergebnis könnte dann je nach Ausgang von der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung zur revisionsrechtlichen Überprüfung beim BGH gestellt werden, wobei dann wieder die Frage wäre, ob der BGH die Frage der Strafbarkeit bejahen würde ...."
Ich meine, das ist der Offenbarungseid, das ist die Bankrotterklärung! Weil Verfahrensgang und Ergebnis in keiner Weise absehbar sind, wählt man den bequemen Weg der vorläufigen Einstellung unter Geldauflage, offenbar auch im Vertrauen darauf, damit allen Verfahrensbeteiligten gerecht zu werden. Der Justiz ist ein aufwendiges, aufreibendes Verfahren erspart geblieben, dessen Ausgang überdies in den Sternen gestanden hätte. Die Staatsanwaltschaft hat zumindest einen Teilerfolg errungen: Kohl hat einen ,,Denkzettel" erhalten. Kohl selbst ist einer Fortfiihrung des Strafverfahrens in breitester Öffentlichkeit und dem Risiko, dass am Ende eine Kriminalstrafe steht, entgangen. Auf einem anderen Blatt steht natürlich der Eindruck der Bevölkerung, der Staat habe sich seinen Strafanspruch "abkaufen" lassen. Stichworte: "der Freikauf von Strafe" oder "die Kommerzialisierung der Strafrechtspflege". Aber das sind Probleme, die sich allgemein mit der Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO verbinden. Wichtiger für unser Thema ist die Erkenntnis, dass das LG Bonn von der Möglichkeit des § 153a StPO rechtswidrig Gebrauch gemacht hat. Dabei wäre es sicher zu weitgehend zu fordern, dass diese Verfahrenserledigung den positiven Nachweis von Unrecht und Schuld voraussetzt. Die Einstellung kann vielmehr auch dazu dienen, tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Aufklärung des Tatvorwurfs zu begegnen. § 153a StPO ist aber jedenfalls nicht dazu da, ungeklärten Rechtsfragen auszuweichen. "Jura novit curia" - Das Recht ist dem Gericht bekannt! Diese Maxime verpflichtet das Gericht, bei feststehenden Sachverhalten Recht anzuwenden und sich jedem Rechtsproblem zu stellen. Dieser Aufgabe des "dabo tibi ius" (Ich gebe Dir das Recht) kann und darf sich ein Gericht nicht dadurch entziehen, dass es Zugriff auf § 153a StPO nimmt, so "elegant" diese Lösung auch scheinen mag. Die Strafkammer hätte also "weiterdenken" und bei all den von ihr angemeldeten Zweifeln an der Schuld von Kohl die Zustimmung versagen und das weitere Vorgehen der Staatsanwaltschaft abwarten müssen. So hat das Gericht sehenden 11
LG Bonn, NJW 200 I, 1737 f.
Die Untreue (§ 266 StOB) als ,,Allzweckwaffe"
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Auges in Kauf genommen, dass ein aus rechtlichen Gründen möglicherweise gar nicht strafbares Verhalten mit einer strafähnlichen Sanktion belegt wird. Wir halten fest: Die Unberechenbarkeit des § 266 StGB hat Folgewirkungen; sie provoziert nämlich eine Öffnung des § 153a StPO, die nicht legitim, sondern eindeutig contra legern ist. Ich komme zum Schluss. § 266 StGB bedarf aus meiner Sicht dringendst der Reparatur, und man kann sich heute - wie früher geschehen - auch nicht mehr damit trösten, die höchstrichterliche Rechtsprechung werde es schon richten und für die nötige Klarheit sorgen. Das verbietet sich schon deshalb, weil die wirklich heiklen Fälle, die Fälle aus der Grauzone, oftmals infolge vorheriger Verfahrenserledigung den BGH nicht erreichen. Der Gesetzgeber ist also gefordert. Sollte er sich auf eine Reform besinnen, wäre zu hoffen, dass er in sie mehr an Arbeit und Überlegung investiert, als er es beim 6. Strafrechtsreformgesetz getan hat.
Gruppendynamische Prozesse in der Hauptverhandlung GÜDter Tondorf Das Verfahren in der Hauptverhandlung ist bewußt formstrenger als das des Vorverfahrens. Wir sprechen von der Justizförmigkeit des Verfahrens, das den Vorteil leichter Überschaubarkeit haben und dazu beitragen soll, ungerechte Überraschungsentscheidungen zu vermeiden. Der Gang der Hauptverhandlung ist in den §§ 243, 244, 257, 258, 260 StPO genau geregelt. In der Hauptverhandlung ist ein Protokoll aufzunehmen (§§ 271-274 StPO). Die Hauptverhandlung wird geprägt durch die Grundsätze der Verhandlungseinheit, der Konzentration, der Öffentlichkeit, der MÜDdlichkeit, mit vielen Einschränkungen der Unmittelbarkeit und der Beschleunigung. Letzterer erfordert eine Durchführung des Verfahrens ohne gebührliche Verzögerung mit der einen Grenze: Der Angeklagte muß über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung verfügen (Artikel 6 Abs. 3c Menschenrechtskonvention). ,,Friedensstiftende Urteile gedeihen nur in der Atmosphäre ruhiger Gelassenheit, die aller emotionaler Aufgeladenheit weit entrückt ist".'
Sie wissen dies alles. In diesem Beitrag möchte ich die Interaktionen der Beteiligten an einer Hauptverhandlung darstellen, ihre Rollen, im besonderen ihre Stärken und Schwächen näher erläutern. Dies geschieht zugegebenermaßen aus der subjektiven Sicht eines Strafverteidigers, wobei durchaus Kritik an unserem Berufsstand nicht außen vor bleiben soll. Dabei lege ich meinen Ausführungen den vorzüglichen Beitrag von Schumacher zugrunde, der aus der Perspektive eines medizinischen Sachverständigen die Abläufe einer Hauptverhandlung scharfsichtig analysiert hat? Die Mitwirkenden in der Hauptverhandlung sind:
• das Gericht vor dem Hintergrund des Rechtsmittelgerichts, • die Staatsanwaltschaft und • neben dieser in den im Gesetz zugelassenen Fällen der Nebenkläger und seine Anwältin bzw. sein Anwalt als Nebenklagevertreter, , Schünemann, Das beschleunigte Verfahren im Zwiespalt von Gerechtigkeit und Politik, NJW 1968, 975. 2 Schumacher; Die Hauptverhandlung als gruppendynamischer Prozeß, StV 1995, 442.
Günter Tondorf
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• die Verteidigung, • der Angeklagte und schließlich • die Öffentlichkeit, vertreten vor allem durch die Presse. Im einzelnen:
I. Das Gericht wird in seiner Arbeit von der Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls den Nebenklägern unterstützt, was wiederum sein Gewicht gegenüber dem Angeklagten und der Verteidigung verstärkt. Nach der Gerichtsverfassung ist die Hauptverhandlung aufgebaut im Sinne einer "triadischen Symmetrie", wie es Schumachet' beschrieben hat: Das Gericht sitzt in aller Regel über dem Geschehen, herausgehoben, unabhängig und offen nach allen Seiten. Davor befinden sich Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls der Nebenkläger mit seinem Vertreter auf der einen Seite, die Verteidigung mit dem Angeklagten auf der anderen Seite. Dabei gerät die Symmetrie in vielen Gerichtssälen schon wieder ins Ungleichgewicht. In manchen Regionen sitzen die Staatsanwälte und Nebenkläger, gegebenenfalls auch neben diesen die Sachverständigen auf gleicher Höhe wie das Gericht oder jedenfalls höher als die Verteidigung mit dem Angeklagten. Dem Gericht gegenüber findet sich die Öffentlichkeit einschließlich der Presse. Die Asymmetrie geht aber noch weit darüber hinaus: das Übergewicht hat - über den optischen Eindruck hinaus - in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht das Gericht. Das Gericht ist es, das die Verhandlung inquisitorisch führt. Das Gericht ist es vor allem, das die endgültige Definitionsmacht besitzt. So übergeordnet die Position des Gerichtes ist, so sehr es den Sachverhalt inquisitorisch aufzuklären hat, es findet sich bei einem guten Gericht immer auch ein sensibles Gefiihl für die Angemessenheit der Lösungsfindung, für Augenmaß und Verhältnismäßigkeit - wenn man so will- für ein gerechtes Urteil. All dies sind im Grunde genommen irrationale Gesichtspunkte, sie werden aber im übergeordneten Sinne dynamisch wirksam. Daneben tritt immer stärker in den Vordergrund: der Zwang zur Minimierung des Prozeßaufwandes, zum raschen Abschluß des Verfahrens, m. a. W. das Ökonomieprinzip, dem alle Mitwirkenden zustimmen - sowohl unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten als auch unter ökonomischen Gesichtspunkten. 4 Dies funktioniert auch in der Rechtswirklichkeit, wie es Dahs in einem Aufsatz 19995 nachgewiesen hat. 3 4
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Schumacher, StV 1995,442 [443]. Schumacher, StV 995,442 [444]. Dahs, Rechtsmittelrefonn im Strafprozeß, NStZ 1999,323 [322].
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Das Amtsgericht erledigt die Masse der Strafsachen geringeren Gewichts mit gutem Judiz im zügigen Verfahren alsbald. was eine eingehende und zeitaufwendige Verhandlung schwieriger Sachen nicht ausschließt. Die Landgerichte wiederum dealen in erheblichem Ausmaß vor allem in Umfangsachen wie Wirtschaftsstrafsachen. Daß bei alledem das Gerechtigkeitsprinzip manchmal auch auf der Strecke bleibt, soll nicht verkannt werden. Zu erinnern ist an ein Beispiel aus dem letzten Jahr, den Fall des Boxers Rene Weller: Insgesamt soll er den Handel mit 13 Kilogramm Kokain eingefädelt und dafür Provision kassiert haben. Er erhielt aufgrund eines Deals eine Freiheitsstrafe von 7 Jahren. Das Urteil ist angesichts der hohen Strafen in Betäubungsmittelsachen als milde anzusehen. Die Rechtsmittelinstanz, im besonderen die Revisionsinstanz, ist ein weiteres Regulativ gegen die nach außen hin so uneingeschränkte Macht des Gerichts. Je weiter sich das Gericht von einem angemessenen Urteil entfernt, desto größer ist die Chance, daß das Rechtsmittelgericht das Urteil aufhebt. Insofern wäre es zu bedauern, wenn die sogenannte Sprungrevision gegen Urteile von Amtsrichtern in Fortfall geriete, zwingt sie doch letztendlich allzu selbstherrliche Amtsrichter zu einer sozial verträglichen Lösung mit allgemeiner sozialer Akzeptanz.
11. Demgegenüber ist festzustellen, daß die Rolle der Staatsanwaltschaft in diesem Kräftefeld im allgemeinen unauffällig bleibt. Viele Staatsanwälte begnügen sich nach dem Verlesen des Anklagesatzes mit der Rolle des Zuschauers. Sie achten nur darauf, daß das Gericht "auf Verurteilungskurs" bleibt. 6 Sie machen erst wieder auf sich aufinerksam, wenn sie am Ende der Hauptverhandlung in ihrem Schlußvortrag einen - wenn der Angeklagte einen pechrabenschwarzen Tag hat hohen Strafantrag stellen. Zum besseren Verständnis einige Worte zur Rolle der Staatsanwaltschaft7 : Der Staatsanwalt ist ein jederzeit austauschbarer Vertreter seiner Behörde. Oft ist er auch nicht der Sachbearbeiter und verfügt deshalb über eine geringe Aktenkenntnis, jedenfalls in der Vielzahl der Fälle bei den Amtsgerichten, wenn nicht ein sogenannter Sitzungsvorbehalt vermerkt wurde. Der Staatsanwalt ist an Weisungen gebunden, auch wenn sie seiner Rechtsauffassung widersprechen. Die Staatsanwaltschaft ist behördlich organisiert: Schumacher. StV 1995,442 [443/444]. Die Regelungen für die Staatsanwaltschaft finden sich in den §§ 141-152 GVG, die Dienstpflichten der Staatsanwaltschaft sind in den RiStBV niedergelegt. Aus § 160 Abs. 2 StPO ergibt sich, daß die Staatsanwaltschaft auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln hat. Weitere wichtige Vorschriften finden sich in den §§ 161, 163, 16380 168b StPO. 6
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An der Spitze steht der Generalstaatsanwalt. Er ist - um es salopp zu fonnulieren - der "Chef aller Staatsanwälte in seinem Bezirk". Er hat Weisungsbefugnis gegenüber allen Staatsanwälten, er kann jede Diensthandlung jederzeit selbst vornehmen oder auch durch einen anderen als den eigentlich zuständigen Staatsanwalt vornehmen lassen. Aber selbst er hat einen ,,Höheren" über sich, einen, der ihm Anweisungen geben kann, einen, der ihn sogar entlassen kann, je nach Land der Justizminister oder Ministerpräsident8 . Die Behördenleiter sind politische Beamte. Hat die Staatsanwaltschaft einmal den ,,Brocken in die Arena geworfen" - sprich den Anklagesatz verlesen -, kann das "Tauziehen zwischen Gericht und Verteidigung" beginnen. Zwischen dem Gericht und der Verteidigung "spielt dann in aller Regel die Musik". Die Musik weist allerdings oft schrille Töne auf, wenn an dem Verfahren Nebenkläger teilnehmen, zumal wenn sie durch Rechtsanwältinnen oder Rechtsanwälte vertreten werden, die sich aus feministischen Kreisen rekrutieren, wie z. B. aus der Gruppe "Wildwasser". Dadurch gerät der Prozeß schnell zum Schlachtfeld. Militante Feministinnen verstehen es mitunter, über - zumeist Nebenklägervertreterinnen - sich Gehör zu verschaffen. Zur Rolle der Verteidigung habe ich mir an anderer Stelle Gedanken gemacht. 9 Unter diesen Umständen ist, wenn das Gericht und die Staatsanwaltschaft nicht ausgleichend wirken, die Waffengleichheit eine Farce. Es sei allerdings an dieser Stelle Kolleginnen und Kollegen Hochachtung ausgesprochen, die in Vergewaltigungsprozessen mit sachlich ruhigem, aber argumentativ hohem Aufwand das Plädoyer des Staatsanwaltes unterstützen. Ihre Ausführungen haben schon vielen Verteidigerinnen bzw. Verteidigern ,,harte Nüsse zum Knacken" aufgegeben. An dem Verhalten der Nebenklägervertreter ist deutlich zu erkennen, wie sehr die Rollenposition, die jemand innerhalb eines Gruppenfeldes einnimmt, nicht nur sein Handeln beeinflußt, sondern auch den Bereich der perzeptiv-kognitiven Funktionen, d. h. das Wahrnehmen, Erkennen und Denken, verändert. Beobachtet man beispielsweise einen engagierten Strafverteidiger in der Position des Nebenklägervertreters, so stellt man fest: Plötzlich "hört er anders, gewichtet er anders, sieht, ja denkt offenbar anders", als in der Rolle des Strafverteidigers. 1O Da wird aus einem "simplen" Totschlag im Plädoyer des Nebenklägervertreters ein Mord, bei dem die besondere Schwere der Schuld die Vollstreckung über 15 Jahre der Strafe hinaus gebietet!
So unlängst geschehen in Mecklenburg-Vorpomrnem und in Nordrhein-Westfalen. Vgl. Tondorf, Grenzen der Verteidigung in Vergewaltigungsprozessen, StV 1988, 500. 10 Schumacher; StV 1995,442 [445].
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III. Besonders in der Hauptverhandlung gilt der viel zitierte, aber oft mißverstandene Satz, mit dem Dahs sein Handbuch des Strafverteidigers beginnt: "Verteidigung ist Kampf,.ll
Dieser Kampf ist an Spielregeln gebunden, die das Strafrecht und das Strafprozeßrecht aufstellen. Der "totale Krieg" im Gerichtssaal ist darin nicht angelegt, ebensowenig ein Verhalten, das in den Kampfworten von der "Prozeßsabotage" und der ,,Konfliktverteidigung" zusammengefaßt wird. Die Strafprozeßordnung enthält eine klare Definition über die Rollenzuweisung bei der gemeinsamen Aufgabe auf der "Suche nach dem Recht". Der Verteidiger hat zugleich "Organ der Rechtspflege" und der zur Einseitigkeit berechtigte und verpflichtete ,,Fürsprecher" seines Mandanten zu sein. Es geht um eine ,,Kunst der Verteidigung", die den Konflikt nicht sucht, die ihm aber, wenn es nötig ist, nicht aus dem Wege gehen darf. Das engagierte und energische Eintreten für die Rechte des Mandanten kann es auch erfordern, daß man massive Kritik am Vorgehen der Staatsanwaltschaft und des Gerichtes anbringt, und es sind Fälle nicht nur denkbar, sondern sie kommen vor, an denen diese Kritik den jeweils tätigen Richter als Person trifft. Er (der Vorsitzende) ist es an erster Stelle, der Widersprüche zwischen den Aussagen in der Hauptverhandlung und in den polizeilichen Protokollen feststellt und vorhält. Dies geschieht allzu oft in einer Form, die den Eindruck erweckt, als identifiziere sich der Vorsitzende so mit dem polizeilichen Ermittlungsergebnis, daß er die Hauptverhandlung überhaupt nur noch als formale Pflichtübung ansieht. Glaubt der Verteidiger eine solche Haltung des Vorsitzenden festzustellen, ist es seine Pflicht, einzuhaken. Wenn sich in dieser Lage der Verteidiger um den "favor judicis" sorgt und klein beigibt, begeht er Verrat an der Sache. 12 Mit dem "favor judicis" ist es - Sarstedt hat dies einmal angemerkt - "überhaupt so eine Sache": Der Verteidiger wird es sich überlegen und selbstverständlich entscheiden müssen, ob es zu der betreffenden Sache besser paßt, um den "favor" zu werben oder um Recht zu kämpfen. Beides verträgt sich bisweilen nicht miteinander. Ein guter Richter wird übrigens seine Sympathie eher dem Verteidiger schenken, den er als ernstzunehmenden Gegenspieler kennt. 13 Wenn der Verteidiger davon überzeugt ist, daß die Beweisaufnahme nur noch zum Schein durchgefiihrt werden soll und an dem längst feststehenden Endurteil nicht mehr zu rütteln ist, dann ist es mehr als legitim, wenn er dazu übergeht, für das Gericht ,,Minen und Stolpersteine" zu legen. Dann darf er sich auch einmal darauf beschränken, in der Hauptverhandlung Revisionsgründe zu sammeln. Dahs, Handbuch der Strafverteidigung, 1. Aufl. 1969, Rdn. 1. Hamm, Entwicklungstendenzen der Strafverteidigung, Festschrift für Sarstedt 1981, S.58. 13 SarstedtlHamm, Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl. 1983, Rdn. 183. 11
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Der Verteidiger muß "stehen". Der Strafprozeß ist nach dem Vorbild des Alten Testaments, nicht nach dem des Neuen Testaments gemacht. Beispielhaft sei hierzu genannt: Räumt der Vorsitzende in der Hauptverhandlung auf einen Unterbrechungsantrag hin eine zu geringe Pause mit dem Hinweis ein: "wir gehen inzwischen frühstücken", sollte der Verteidiger entgegnen: ,,Dann frühstücke ich auch." Die Tätigkeit des Strafverteidigers in der Hauptverhandlung ist - wie die des Gerichts, nur unter anderen Aspekten - auch nur vor dem Hintergrund einer möglichen Revision zu verstehen. Es sei an dieser Stelle nochmals hervorgehoben: die Regelung in der Strafprozeßordnung ist so angelegt, daß grundsätzlich jedes Urteil mit der Revision anfechtbar ist, die Urteile der Großen Strafkammern sowieso, die Urteile der Amtsgerichte mit Sprungrevision. Die Revision kann nur auf die Behauptung gestützt werden, daß das Urteil auf einer unrichtigen Rechtsanwendung beruhe. Die Grundlagen für die Revision müssen daher in der Hauptverhandlung gelegt werden und erfordern zwangsläufig ein Tätigwerden des Verteidigers. Dabei ist daran zu denken, daß die Revision in den Fällen, in denen nur eine Tatsacheninstanz gegeben ist (Große Strafkammer), die einzige Möglichkeit zur Korrektur des Urteils darstellt. Greift daher der Verteidiger nicht unverzüglich in die Hauptverhandlung bei einem Fehler des Gerichts ein, kann er diesen grundsätzlich in der Revision nicht mehr rügen, man denke an die Vielzahl von Präklusionsvorschriften. Jetzt sind die Anträge zu stellen, die bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung erarbeitet wurden. Jetzt gilt es, Fragen zu stellen, Erklärungen gemäß § 257 StPO abzugeben, Beweisanträge zu verlesen, Urkunden vorzulegen usw. Jetzt sind Entscheidungen des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO herbeizuführen, gegebenenfalls der schriftlich begründete Antrag zu stellen, die Hauptverhandlung auf bestimmte Zeit zu unterbrechen. Der Verteidiger darf sich nicht manipulieren lassen. Er lebt von (fehlerhaft) abgelehnten Anträgen. Ich bin fest davon überzeugt: sachlich gerechtfertigte Anträge führen ein gutwilliges Gericht dazu, dem Angeklagten helfen zu wollen. Und vielleicht noch eins: Der Verteidiger sollte die Stimmung im Gerichtssaal nicht unnötig anheizen. Er verbaut sich damit nur den Weg zum Erfolg. Erfahrung und Fingerspitzengefühl sind die besten Ratgeber. Er muß einerseits in der Hauptverhandlung den richtigen Ton schnell treffen, andererseits die Interessen des Mandanten während der Hauptverhandlung tatkräftig wahrnehmen. Nachgiebigkeit ist nicht angebracht. Übrigens, bei totaler Konfrontation bleibt oft nichts anderes übrig, als den Amts- oder Landgerichtspräsidenten zu bitten, sich in den Hauptverhandlungstermin zu setzen und zuzuhören. Das wirkt Wunder. Die Verteidigung organisiert das Feld so, daß möglichst als Lösung das herauskommt, was sie für richtig hält. Das kann ein Freispruch, eine Einstellung oder ein mildes Urteil sein. Ihre Aufgabe ist es, jedenfalls beim schuldigen Angeklagten, die Marke des Deals möglichst zugunsten des Mandanten so weit hinauszuschie-
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ben, wie sie gerade noch für die Mitwirkenden hinnehmbar iSt. 14 Die Ermittlungsbehörden arbeiten selten fehlerfrei, auch dem Gericht unterlaufen in der Hauptverhandlung Mißgeschicke, wenn auch seltener als den Ermittlungsbehörden. Die Verteidigung hat im Interesse des Angeklagten die Fehler zu erkennen und sich zu Nutze zu machen. Der Verteidiger muß in der Hauptverhandlung aufpassen "wie ein Schießhund". Es darf ihm kein Fehler entgehen. Er muß - anders als es gelegentlich bei Laienrichtern nach der Mittagspause zu bemerken ist, wenn sie ein Schläfchen einlegen - ständig präsent sein. Seine Aufgabe ist es auch - dies sagte einmal die Sachverständige Müller Luckmann in einem Vortrag an dieser Universität - gegen Alltagstheorien und Vorurteile anzukämpfen, die in der Hauptverhandlung auftreten. Ein Atom sei leichter aufzuspalten als ein Vorurteil. Dabei habe der Verteidiger behutsam vorzugehen, er dürfe nicht versuchen, das Gestrüpp der Vorurteile "mit einer Machete zu zerschlagen". Manche Verteidiger organisieren das Feld von vornherein konfrontativ. Konfrontation schafft nur eine Atmosphäre der Gereiztheit. Der Angeklagte gerät dabei leicht in den Hintergrund. Das gilt übrigens nicht nur für die Verteidigung. Manche Staatsanwälte sprechen eine militante Sprache, z. B.: ,.Angeklagter, Sie weichen auf Nebenkriegsschauplätze aus". Manche unbedachte Richter unterstellen nicht selten dem Sachverständigen, er würde einen "Weichspülvorgang" unternehmen, wenn er sich mit dem Vorleben des Probanden befasse. Im Interesse des Angeklagten macht es auch Sinn, alles daran zu setzen, die Spannungen zwischen den Prozeßbeteiligten in der Hauptverhandlung erst gar nicht entstehen zu lassen bzw. abzubauen, z. B. durch eine scherzhafte Bemerkung zum richtigen Zeitpunkt, was nicht heißt, daß der Strafverteidiger aus der Hauptverhandlung eine Komödie machen soll. Andere Verteidiger verhalten sich quasi wie der "personifizierte Deal" und glauben, auf diesem Weg zum Ziel zu gelangen. Zu der letztgenannten Gruppe gehören vor allem die Pflichtverteidiger. Werden sie vom Mandanten vorgeschlagen, hat sich das Gericht an den Vorschlag zu halten. Da dies nicht immer geschieht, werden sie nicht selten vom Gericht beigeordnet. In Umfangsachen werden Pflichtverteidiger oft gegen den Willen des Mandanten neben einem Wahl- bzw. auch einem vom Mandanten ausgewählten Pflichtverteidiger bestellt. Im Jargon der Verteidiger ist dann die Rede von einem ,,zwangspflichti" im Gegensatz zu dem vom Mandanten ausgewählten "Vertrauenspflichti". Das Gericht wiederum ordnet nur diejenigen als Verteidigerin oder Verteidiger bei, die sich "bewährt" haben. Unter Bewährung versteht das Gericht, ,,keine Schwierigkeiten machen". Unter Schwierigkeiten verstehen manche Richter das, was die eigentliche Aufgabe des Verteidigers ist, nämlich den Gang der Verhandlung aufzuhalten durch Fragen, durch Anträge, durch Erklärungen usw. Die Verteidigung hat nur dann einen Sinn, wenn 14
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sie den Sachverhalt von ihrem Standpunkt aus durchleuchtet und alle entlastenden Alternativen aufzeigt. Der gute Verteidiger wird dadurch leicht zum Störenfried. Für den Ptlichtverteidiger, der seine Aufgabe unnachgiebig ausfüllt, besteht die Gefahr, daß er nicht wieder bestellt wird. Finanzschwache Verteidiger, vor allem Anfanger in den Jahren des Praxisaufbaus, sind aber auf Ptlichtverteidigungen angewiesen. Sessar hat in einer älteren Untersuchung (1981) aufschlußreiche empirische Daten zur Verteidigungssituation im Bereich der Tötungsdelinquenz erhoben. 15 Er hat nachgewiesen, daß Gerichte eher von der Mordanklage zu Gunsten minderschwerer Tatbestände abgewichen sind, wenn sich der Beschuldigte eines Wahlverteidigers bedient hatte. Die Benachteiligung gegenüber einem Wahlverteidigten trifft nicht auf alle Schichten gleichermaßen zu: auf einen Ptlichtverteidiger angewiesen sind vornehmlich soziale Randgruppen (58%) und Angehörige der Unterschicht (51 %), während nur 20% aller Beschuldigten der unteren Mittelschicht und lediglich 7% der mittleren Mittelschicht eines Ptlichtverteidigers bedürfen. Über die Gründe der Leistungsunterschiede besteht keine letzte Klarheit. Vogtherr sieht einen der Gründe für das Effizienzdefizit des Ptlichtverteidigers in seiner vergleichsweise späten Hinzuziehung. 16 Ein weiterer Grund liegt sicherlich in der geringeren Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit des Ptlichtverteidigers, die auf dem Fehlen wirtschaftlicher Anreize und seiner Ohnmacht beruht, Beweiserhebungen zu Gunsten des mittellosen Mandanten zu erzwingen (vgl. § 245 StPO). Der Ptlichtverteidiger erhält beispielsweise im Schwurgerichtsverfahren für das gesamte Vorverfahren nur 120,00 Euro (zuzüglich 25% Haftzuschlag). Die zeitraubenden Mandantenbesuche in der NA, die Haftbeschwerden, der überdurchschnittliche Zeitaufwand für Aktenstudium (einschließlich der Überprüfung der psychiatrischen und psychologischen Gutachten) und Sichtung von Fachliteratur werden nicht gesondert vergütet. Mein Respekt gilt dem Ptlichtverteidiger, der sich unter diesen Umständen voll und ganz für seinen Mandanten einsetzt. Offen gesagt, auch nicht jeder gewählte Verteidiger ist ein vollwertiger Verteidiger. Ob dies bei Fachanwälten für Strafrecht generell anders ist, möchte ich zumindest in Frage stellen (am 01. 01. 2001 gab es 912 ausgewiesene Fachanwälte für Strafrecht). Das offenbar weit verbreitete Vorurteil, Straf- und Strafverfahrensrecht seien überschaubarer und unkomplizierter als andere Rechtsmaterien, verleitet zudem nicht selten zivilrechtlich orientierte Anwälte zu der - zuweilen fatalen - Annahme, Mandanten auch in strafrechtlicher Hinsicht sachgerecht beistehen zu könnenP Leider wählen Mandanten ihre Anwälte mit nicht größerer Sachkunde aus Sessar, Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungskriminalität, 1981. Vogtherr, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung, Europäische Hochschulschriften, Reihe II, 1991, S. 204 [durchschnittlich 3 Monate Zeitvorsprung des Wahlverteidigers]. 17 Zwiehoff, Haftung des Strafverteidigers, StV 1999,555. 15
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als Patienten ihren Zahnarzt. Wer nicht weh tut, ist ein guter Zahnarzt. Wer keine unangenehmen Fragen stellt, ist offenbar in den Augen vieler ein guter Anwalt. Aber ob der um Hilfe Ersuchte wirklich das Sachdienliche tut, kann weder der Patient noch der Mandant beurteilen. Leider ist es oft für den Strafverteidiger geboten, dem Mandanten bohrende Fragen zu stellen und tief in den Sachverhalt einzudringen, so wie es für den Zahnarzt erforderlich ist, tief zu bohren und unter Umständen dem Patienten auch einmal kurzfristig Schmerzen zuzufügen, "um die Wurzel des Übels freizulegen". 18
IV. Der Angeklagte steht im Mittelpunkt des Strafverfahrens, es geht um seine Taten, seine Bestrafung. Für die von Berufs wegen an seinem Fall Beteiligten ist dieser nur einer von vielen, der professionell zu lösen ist. Das klingt hart, zeigt aber, welche Rolle der Angeklagte im psycho-dynamischen Prozeß spielt, nämlich gar keine. Kafka hat dies in seiner Novelle ,,Der Prozeß" literarisch dargestellt. Er zeigt Verteidiger, Staatsanwalt und Richter als die Bediener, ja als die Räder einer unbarmherzigen Gerechtigkeitsmaschine, einer Rachemaschine, die den Angeklagten verschlingt. Der Angeklagte versteht die Sprache der Juristen ebenso wenig, wie umgekehrt die Juristen die Sprache des Angeklagten verstehen. Der Angeklagte sinkt im Verlauf des Verfahrens vom Subjekt zum Objekt herab, seine Rolle ist im Grunde genommen passiv. In aller Regel fühlt er sich existentiell verunsichert. 19 Dies zeigt sich schon daran, wie der inhaftierte Angeklagte hinter seinem Verteidiger an die Wand gequetscht auf seiner harten Anklagebank sitzt. Daß es eine der Hauptaufgaben des Strafverteidigers ist, dem Angeklagten das Rollenspiel und die Sprache im Gerichtsaal wenigstens andeutungsweise zu erläutern, ihn psychologisch aufzurichten, steht auf einem anderen Blatt, ändert aber nichts daran, daß die Rolle des Angeklagten im gruppendynamischen Prozeß bedeutungslos ist. Gisela Friedrichsen hat dies in DER SPIEGEL anhand des Prozesses gegen den Fußballehrer Daum zutreffend beschrieben: "Jetzt ist er (seil. Daum) einer von vielen, die nervös vor den Sitzungssälen auf und ab gehen, der Kunst seiner Anwälte ausgeliefert ist, die ihn beschützen sollen vor schneidigen Staatsanwälten und den für ihn undurchschaubaren Windungen der Justiz.'.20
H. Ostermeyer, Strafunrecht, 1971, S. 29. H. Ostermeyer, Strafunrecht 1971, S. 55, 57, 58. 20 Spiegel Nr. 50, 2001, S. 150. 18
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v. In der Alltagssituation des Strafprozesses spielt die Presse, die die Rolle der Öffentlichkeit in aller Regel wahrnimmt, keine allzu große Rolle. Das war anders in den 20er Jahren, ich denke an Tucholski 21 und an Sling, die großen Gerichtsreporter in der Weimarer Zeit, die mit Häme und scharfer Kritik Gericht und Staatsanwaltschaft kritisierten. Ich denke an die 60er und 70er Jahre, als Gerhard Mauz für das Wochenmagazin DER SPIEGEL schrieb. Da war die gruppendynamische Wirkung der Presse im Spiel der Kräfte unmittelbar im Gerichtssaal wirksam. Schumacher hat es so beschrieben: "Wenn er im Gerichtssaal erschien, änderte sich schlagartig schon spürbar das Kräftefeld. Gerhard Mauz trat gewöhnlich bescheiden ein und nahm in den hinteren Reihen Platz, trotzdem war plötzlich alles anders. Der Verteidiger zeigte Kampfbereitschaft und versuchte Antrag auf Antrag zu stellen, der Vorsitzende, bis dahin gelassen, wirkte plötzlich nervös. Der Staatsanwalt wirkte irritiert... 22
Heute ist kritische Berichterstattung in den Gerichtssälen dieser Republik eine Seltenheit. Die Presse kritisiert nicht zu viel, sondern zu wenig, sie betreibt oft Hofberichterstattung. Sie arbeitet mit einem unkritischen überholten Klischee, es ist das Klischee von der verdienten Strafe für den hartgesottenen Sünder. Das gilt vor allem für die Boulevardpresse. Der Täter ist ein Spitzbube und hat seine Strafe verdient. So ist es gut, das will der kleine Mann lesen, um an die Ordnung glauben zu können, das erbaut ihn beim Frühstück. Wenn das Gericht kritisiert wird, dann weniger wegen übertriebener Härte als wegen unverständlicher Nachsicht. Ich weiß nicht, ob der Leser dies auch so sieht.
21 Dr. jur. Kurt Tucholsky, damals ständiger Gast im Kriminalgericht Berlin - Moabit fragte bspw. 40 Jahre vor Fritz Teufel am 31. OS. 1927 in der Weltbühne: "Warum stehen eigentlich Angeklagte vor dem Richter?" Seine Antwort: "Später sitzen sie lange genug!" (in: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 5, 1975, S. 223 f.). 22 Schumacher, StV 442 [445].
III. Kriminalpolitik
Von den "Fakten" zur Kriminalpolitik: Datenaufbereitungen - Wahrnehmungen - Folgerungen Michael Walter I. Kriminalpolitische Bedeutung von Realitäten Nach unserem Alltagsverständnis richtet sich die Kriminalpolitik nach der empirisch feststellbaren und von den Strafverfolgungsbehörden tatsächlich ermittelten Kriminalität. Die Fakten liefern so gesehen den Stoff, auf den sich das Recht bezieht. Und die Gestaltung des Rechts sowie dessen konkrete Anwendung zielen auf eben diese Fakten, sind darauf gerichtet, die Kriminalität künftighin zu verhindern oder wenigstens zu verringern, sie - wie die Politiker gern sagen - zu "bekämpfen". Die Kriminalität und deren Entwicklung sind danach die Gegenstände der Kriminalpolitik, die Kriminalpolitiker reagieren, insbesondere auf den Kriminalitätsanstieg, um mit der immer bedrohlicheren Wirklichkeit fertig zu werden. Das Anliegen des folgenden Beitrages besteht darin, dieser gängigen Sichtweise entgegenzutreten und zu veranschaulichen, warum sie trotz der anfänglichen Plausibilität, die ihr fraglos zukommt, letztlich so nicht stimmt. Die Gegenthese, die entwickelt werden soll, betrachtet Kriminalität als ein sehr komplexes soziales Konstrukt, das uns in verschiedenen Formen "erscheint". Zusätzlich wird behauptet, dass sich die Kriminalpolitik nicht als eine reaktive, auf Fakten antwortende, begreifen lässt, vielmehr vorrangig von Gedanken und Bildern abhängt, die wir uns aufgrund unserer allgemeineren Weltanschauung und unserer spezifischen Lebenssituation machen. Meine Überlegungen möchte ich anband einiger Befunde erläutern, die im Laufe der vergangenen Jahre an der Kriminologischen F orschungsstelle erarbeitet worden sind.
11. HersteUung der Kriminalität Kriminalität existiert nicht wie ein Baum oder auch eine Virusinfektion, die sich trotz aller Verschiedenartigkeit jeweils naturwissenschaftlich nachweisen lassen. Es gibt bei der Kriminalität zwar ebenso menschliche Handlungen und objektiv erkennbare Erfolge, etwa die Wegnahme einer Sache oder den Tod eines Menschen. Doch liefern diese Umstände noch keine hinreichenden Bedingungen, um von Kriminalität zu sprechen. Das Crimen, das Verbrechen, wird erst aus diesen 9 Ringvorlesung ws 200 1/2002
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"Versatzstücken" konstruiert, indem eine bestimmte menschliche Handlung angenommen wird, mit Vorstellungen, Wünschen, Befürchtungen, Absichten und Motivationen. Derartige Momente müssen hinzugedacht, ,,zugeschrieben", werden. Der empirische Prozess, in dem das geschieht, lässt sich von seinen einzelnen Stationen her beschreiben. Am Anfang steht regelmäßig der Eindruck eines juristischen "Laien", er sei Opfer eines kriminellen Geschehens geworden. Dabei beziehen sich seine Vorstellungen auf Gesetze, die ihrerseits von Ministerialbeamten und Parlamenten ,,hergestellt" worden sind. Die Wahrnehmung des Kriminellen hängt von der jeweiligen Sensibilität ab. Diese kann beispielsweise bei Sachbeschädigungen sehr ausgeprägt sein, bei Falschangaben gegenüber Versicherungen demgegenüber eher schwächer. Wie schnell eine Nähe zum Strafbaren erlebt wird, beeinflussen auch Zeitströmungen. So ist etwa unsere Sensibilität gegenüber häuslicher Gewalt oder der Korruption in den letzten Jahren deutlich erhöht worden. Freilich genügt die Entdeckung einer Straftat noch nicht. Vielmehr muss sich das Opfer oder eventuell ein Dritter des Weiteren entschließen, den Strafverfolgungsbehörden, fast stets der Polizei, Mitteilung zu machen. Bei dieser Entscheidung spielen verschiedene, teilweise gegenläufige Tendenzen eine Rolle. Einerseits macht der Gang zur Polizei Mühe, kostet Zeit" und ist eventuell mit unangenehmen Fragen verbunden. Andererseits drängt das Erleben einer Viktimisierung zu einer Antwort. einem ausgleichenden Handeln. So verwundert nicht, dass die meisten Anzeigen deshalb unterlassen werden, weil der Schaden als insgesamt gering angesehen oder eine Strafverfolgung als im Ergebnis erfolglos prognostiziert wird. I Wenn es dann zu einem Polizeikontakt kommt, ist noch nicht gesagt. dass der betreffende Beamte auch eine Anzeige aufnimmt. Bei bestimmten Delikten, etwa Beschädigungen an einem Personenkraftwagen, dürften kaum Widerstände bestehen. Anders stellt sich die Lage aber schon dar, falls Körperverletzungen unter Bekannten, beispielsweise Auseinandersetzungen in einer Obdachlosenunterkunft, berichtet werden. Insoweit kann es leichter passieren, dass das als ,,Privatsache" deklariert wird. 2 Ferner ist bekannt, dass ein einmal nach Hause geschickter Anzeigewilliger, der etwa am nächsten Tag ausgeschlafen usw. wiederkommen soll, kein zweites Mal mehr erscheint, also endgültig "abgewimmelt" wurde. Die Anzeigebereitschaft der Polizei hat ebenfalls mit zeitbedingten Strömungen zu tun. Werden zum Beispiel fremdenfeindliche Übergriffe in der Öffentlichkeit besonders thematisiert, besteht im Allgemeinen eine größere Sensibilität in der Wahrnehmung derartiger Phänomene und zugleich eine stärkere Bereitschaft, solche Vorkommnisse in entsprechende Anzeigen umzusetzen (vgl. §§ 102 f., 129 f., 130, 185 f., 211 f., 223 f. StGB)? Da die proaktive Tätigkeit der Polizei nicht einmal 10% der Strafdes Näheren G. Kaiser, Kriminologie, Lehrbuch, 3. Aufl. 1996, S. 558 f. Vgl. J. Kürzinger, Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion, 1978, S. 56 f. 3 s.a. M Kubink, Fremdenfeindliche Straftaten, Polizeiliche Registrierung und justizielle Erledigung - am Beispiel Köln und Wuppertal, 1997. 1 S.
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verfolgung ausmacht, werden die ,,Fakten" von den berichtenden Bürgern geschaffen und sodann im Verlauf der Fallbearbeitung modifiziert. 4 Während die Polizeibeamten noch dazu neigen, bei der strafrechtlichen Einordnung des Geschehens ,,hoch in die Tasten zu greifen", werden diese vorläufigen rechtlichen Qualifikationen von den Staatsanwaltschaften und später von den Gerichten nicht selten im Schweregrad heruntergestuft. S Diese Vorgänge haben mit der jeweiligen Interessenlage der einzelnen Institutionen zu tun: Die Polizei kann von einer wachsenden und gefährlicheren Kriminalität als Behörde nur profitieren; die Staatsanwaltschaft zeigt, wer Herr(in) des Verfahrens ist und muss die Masse der Akten ökonomisch mit relativ knappem Personal bewältigen; die Gerichte schließlich wollen die Lösungen ausloten, denen die Staatsanwaltschaft noch und die Verteidiger schon zustimmen. Kriminalität liefert allerdings nicht lediglich den Stoff fiir Experten, der dann in individuellen Verfahren von konkreten Beteiligten abgearbeitet wird. Straftaten bilden vor allem auch einen ständigen öffentlichen Gesprächsgegenstand, der die Menschen unterhält, dem langweiligen Alltag Farbe verleiht, der Empörung hervorruft, in Spannung versetzt oder mitunter auch zum Schmunzeln anregt. 6 Dass Straftaten längst nicht immer nur Furcht hervorrufen, sondern mitunter sogar bewundernde Anerkennung, zeigen zum Beispiel die Reaktionen auf den spektakulären Postraub in England oder auf den technischen Tüftler "Dagobert", der längere Zeit die Bahn erpresst hat. Die Medien bieten Nachrichten, die die gesamte Bandbreite zwischen den Polen "grauenhaft" und ,,meisterhaft gekonnt" abdecken. Sie sind, um möglichst rasch an die sie interessierenden Informationen zu gelangen, auf eine gute Zusammenarbeit mit der Polizei als der Instanz des ersten Zugriffs angewiesen. Die Polizeibehörden wiederum profitieren davon, dass die Medien aus dankbarem Entgegenkommen meist die Sicht des Geschehens präsentieren, die der Polizei recht ist. Auf diese Weise haben beide Seiten etwas von der Zusammenarbeit. Medienforscher betonen, dass Zeitungen, Illustrierte, Fernsehsendungen oder Rundfunkprogramme nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern aus einer immensen Vielzahl von Meldungen relativ wenige heraussuchen und diese gemäß der jeweiligen journalistischen Tendenz und Richtschnur der Chefredaktion aufbereiten, d. h. offener oder eher verdeckt mit bestimmten Ansichten und Vorverständnissen ,,mixen". So setzen beispielsweise die Frankfurter Allgemeine und die Frankfurter Rundschau trotz des ähnlich klingenden Namens keineswegs immer die gleichen Akzente. Sie unterliegen aber beide den Marktgesetzen und müssen sich behaupten, indem sie den Zusf. K.-L. Kunz, Kriminologie, 3. Aufl. 2001, S. 245 f. Vgl. zum Ganzen E. Blankenburg I K. Sessari W. Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozess strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1978, S. 302 f. 6 Dazu demnächst die Beiträge zum Kölner Symposium: Alltagsvorstellungen von Kriminalität, Kurzfassung hrsg. v. Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br., Reihe: Forschung aktuell, 2002. 4
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Leserstamm halten oder möglichst noch etweitern. Da die Menschen auf - im Grunde nur wenige - Themen besonders heftig reagieren, kommt keines der Medien umhin, in diesen Bereichen Schwerpunkte zu setzen. Wir alle kennen die Schlagworte "Sex and Crime" - sie beherrschen neben der Politik oder zusammen mit der Politik das Feld. Und mit Crime sind nur ganz wenige Delikte gemeint, nämlich vorrangig Gewaltdelikte, visualisierbare, emotionalisierende und intellektuell leicht verstehbare Übergriffe junger Männer - im Gegensatz etwa zu komplizierten Anlagebetriigereien oder Subventionserschleichungen, bei denen zudem die Guten von den Bösen nicht so klar geschieden sind. Die besondere Medieneignung der handgreiflichen Gewaltkriminalität Jugendlicher und Heranwachsender hat zu hohen Berichtsanteilen geführt. Oft beschäftigen sich mehr als 50% der Kriminalitätsnachrichten mit diesen Delikten, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur wenige Prozentpunkte erreichen. Die Folge ist ein weit verbreiteter Irrtum: Der Umfang der Gewaltkriminalität wird von den Menschen stark überschätzt. 7 Wir haben es also zusätzlich mit einem medialen Herstellungsprozess zu tun, der überdies ein Bild produziert, das den kriminalstatistischen Daten widerspricht. Weil die Medien existentiell darauf angewiesen sind, das Ungeheuerliche zu entdecken, das idealiter so noch nie da gewesen ist, können sich die betreffenden Journalisten auch nicht einfachhin von ihren faktischen Übertreibungen und Überzeichnungen lösen. Im Gegenteil sehen sie sich gezwungen, die aller schlimmsten Fälle trotz ihrer Seltenheit in den Mittelpunkt zu rücken. Weil der anschauliche Einzelfall am besten "ankommt", kann auf ihn nicht verzichtet werden. In dieser Konzentration auf den Extremfall liegt jedoch ein großes kriminalpolitisches Problem. Es besteht nicht allein in der Überschätzung der Gewaltkriminalität, vielmehr zusätzlich darin, dass die untypische exzeptionelle Deliktsbegehung trotz ihres Ausnahmecharakters zu einer Art Leitbild für kriminalrechtliche Sanktionen stilisiert wird. Das besorgen weniger die Juristen, sondern votwiegend Politiker, die sich genötigt fiihlen, auf die aufwühlenden Mediendarstellungen zu reagieren, auf die Taten der Kriminellen Taten der Kriminalpolitiker folgen zu lassen. Die gedankliche Brücke, welche den Weg von der seltenen Ausnahme zum gesetzgeberischen Leitfall ebnet, bildet die Vorstellung, die Kriminalität werde ständig ungeheuerlicher. Dadurch erscheint die Ausnahme von heute als Drohgespenst von morgen. Obwohl mit einem Kriminalitätsanstieg keineswegs eine auch qualitative Unrechtserhöhung einhergehen muss, kommt dennoch dem Kriminalitätsanstieg eine zentrale kriminalpolitische Bedeutung zu. 8 Denn die Dynamik der Kriminalitätsvermehrung scheint nach einem Gegenmittel zu rufen, das vordergründig zu allererst in härter durchgreifenden Maßnahmen liegt. Und woran lässt sich diese 7 Zum Thema s. d. Beiträge des 5. Kölner Symposiums, hrsg. v. Bundesministerium der Justiz: Kriminalität in den Medien, 2000. 8 S. M Walter: Entwicklung der Jugendkriminalität in Deutschland - zugleich: Zum Aussagegehalt des Kriminalitätsanstiegs, i. D. Dölling (Hrsg.): Das Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, 2001, S. 37 f.
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Forderung plausibler demonstrieren wenn nicht an besonders scheußlichen Ereignissen!
III. Der Kriminalitätsanstieg: Seine Darstellung und seine Wahrnehmung Die seit vielen Jahrzehnten amtlich registrierte Zunahme der "offiziellen" Kriminalität, insbesondere die betreffenden Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik fiir Jugendliche und Heranwachsende, werden in jedem Jahr medial deutlich herausgestellt. Derartige Präsentationen, dass alles immer bedrohlicher werde, fungieren als Motor, der die Forderungen nach schärferen Reaktionen kontinuierlich belebt. Dabei konzentrieren sich die Medien auf die "bad news", während Entwarnungen und KriminalitätsTÜckgänge, die es ja durchaus auch gibt, kaum vorgetragen werden. Dieses Berichtsmuster kann an vielen Beispielen belegt werden. Mitunter lösen die Journalisten die Schwierigkeit der Koinzidenz von Anstiegen und Rückgängen auch in der Weise, dass sie die Anstiege, beispielsweise bei Taten mit rechtsradikalem Hintergrund, stark betonen und in der Hauptüberschrift thematisieren, die Rückgänge, etwa beim Kfz-Diebstahl, hingegen lediglich in einem Untertitel oder nur im Text vermerken. Für die flüchtigen Leser - und das sind die meisten - setzt sich der Eindruck wachsender Bedrohung fest. Der gleiche Effekt wird erzielt, wenn beispielsweise auf der ersten Seite als Kurzmeldung lediglich der Anstieg genannt wird und dann erst weiter hinten, auf den späteren Seiten, die Einschränkungen und teilweise gegenläufigen Nachrichten in einem längeren Beitrag folgen. Auf die Frage, warum so verfahren werde, kommt regelmäßig die Antwort, dass die hofthungsvolleren und die moderateren Botschaften keinen llohen Nachrichtenwert hätten. Die Menschen wollen eher durch Horrormeldungen geschockt werden, jedenfalls (ver)fiihren solche Texte dazu, das betreffende Blatt zu kaufen. Und letztlich interessiert vorwiegend das eine, nämlich das Kauf- oder Konsumverhalten. Freilich denken und reagieren nicht alle Menschen gleich. Sie haben ihre spezifischen Vorurteile und Vorlieben und suchen sich schon danach ihre Informationsquellen aus. Ob jemand im Buchladen die "taz" oder aber den ,,Rheinischen Merkur" kauft, liegt nicht nur an der jeweiligen Titelseite, sondern hauptsächlich an der allgemeineren politischen Ausrichtung des Interessenten. Die Darstellungen sind unterschiedlich akzentuiert und diese Unterschiedlichkeit beruht auf unterschiedlichen Einstellungen und Erwartungshaltungen der potentiellen Leser oder Zuschauer. Die Redaktionen versuchen, diese subjektiven Momente vorauszusehen, zu antizipieren, auf sie einzugehen, schon bevor sie sie näher kennen. Wir können folglich feststellen, dass nicht nur die Vorstellungen über den richtigen Umgang mit Kriminalität verschieden ausfallen, sondern dass bereits die Realitäten, die Nachrichten über die Kriminalitätsentwicklung, von den Menschen in unterschiedlicher Weise wahr- und aufgenommen werden. Die gleiche Botschaft,
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etwa aus der Polizeilichen Kriminalstatistik, kommt bei verschiedenen Menschen jeweils anders an. Dieser Befund konnte in einer Untersuchung bestätigt werden, die seitens der Kriminologischen Forschungsstelle im Rahmen einer Befragung Kölner Rechtsanwälte durchgeführt wurde. 9 Die Befragten wurden gebeten, die Kriminalitätsentwicklung der letzten Jahre zu beurteilen. Dabei ergab sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Selbsteinschätzung als konservativ und dem Urteil über den Kriminalitätsanstieg: Als je konservativer die Anwälte sich einordneten, desto stärker fiel der Kriminalitätsanstieg aus. IO Die Wahrnehmung und Einschätzung der Realitäten war letztlich mit der Haltung zu bestimmten Grundaussagen verbunden. Wir konnten ein Meinungsset bilden, das in erheblichem Maße die jeweiligen Wirklichkeitsverständnisse vorstrukturierte. Ansichten, die sich insgesamt als ,,konservativ" qualifizieren lassen, korrelieren meist mit besonders negativen und dramatisierenden Auffassungen von der Kriminalitätsentwicklung. Die umgekehrte Deutung, negative Realitätswahrnehmungen begünstigten eher konservative Auffassungen, überzeugte demgegenüber nicht. Denn u. a. wurden die Leistungen der Polizei umso besser beurteilt, je mehr man die Kriminalität im Auftrieb sah. 11
IV. Wahrnehmung und Schwereeinschätzung von Delikten
Wie sich gezeigt hat, bestimmen schon unsere Vorprägungen und längerfristigen Grundhaltungen darüber, wie wir eine Information aufnehmen und für uns verarbeiten. Informationsaufnahme und -verarbeitung sind zusammengehörige Prozesse. Man kann sich den Vorgang vielleicht so vorstellen, dass eine Neuanschaffung im eigenen Hause "untergebracht" oder in die Wohnung "eingeordnet" werden muss. Dafür ist die Erkenntnis des Gegenstandes, des Weiteren aber ist eine Einschätzung der persönlichen Relevanz vonnöten: Ich muss mir darüber klar werden, welche Bedeutung und welchen Stellenwert das "Neue" für mich hat. Auch mit dieser Frage beschäftigen wir uns an der Forschungsstelle, da sie zu dem größeren Bereich der "subjektiven Kriminalität" hinzugehört. In der herkömmlichen Kriminologie ist der gemeinte Aspekt unter dem Stichwort der individuellen Schwereeinschätzung von Delikten erfasst worden. 12 Man verband Fragen nach der Schwerebeurteilung freilich mit anderen Überlegungen, vorwiegend solchen der genaueren Messung von Kriminalität. Im hiesigen Kontext geht es indessen darum zu erkunden, inwieweit die Qualifikation der Schwere - oder rechtlich präziser: des Unwertes einer Handlung oder eines Erfolges - von persönlichen
M Walter u. a., Tliter-Opfer-Ausgleich aus der Sicht von Rechtsanwälten, 1999. Dazu M Walter, Über subjektive Kriminalität - am Beispiel des Kriminalitätsanstiegs, in Festschrift fiir Hans Joachim Schneider, 1998, S. 119 f. (131). 11 M Walter, in Festschrift fiir Hans Joachim Schneider, S. 133. 12 B. Villmow, Schwereeinschätzung von Delikten, 1977. 9
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Dispositionen abhängt und welche Variablen es denn hauptsächlich sind, die dieses Urteil beeinflussen. Die schon erwähnte Anwaltsbefragung ließ erkennen, dass bei aller Übereinstimmung beim Sortieren von Delikten nach deren Schwere (z.B.: Körperverletzung vor Sachbeschädigung) sowohl das Alter als auch das Geschlecht das Urteil über die Tat(en) einfärben. So fanden wir beispielsweise heraus, dass die Nötigung eines Autofahrers auf der Autobahn durch einen hinter ihm drängelnden Überholer mit zunehmend höherem Alter als gravierender beurteilt wurde. 13 Offenbar können sich ältere Rechtsanwälte eher in die Lage des langsameren Opfers, jüngere eher in die des ungeduldigen Dränglers versetzen. Umgekehrt fiel die Einschätzung einer Vergewaltigung einer mit dem Täter bekannten Frau aus. Hier urteilten die Älteren deutlich milder als die Jüngeren. 14 Da keine echte Verlaufsstudie durchgeführt werden konnte, sondern an einem Stichtag unterschiedlich alte Anwälte befragt worden waren, ist zu vermuten, dass insoweit stärker generationsbedingte Auffassungen zum Ausdruck gelangten: Früher dürften entsprechende männliche Übergriffe vergleichsweise nachsichtiger beurteilt worden sein als das heute der Fall ist. Als besonders ertragreich hat sich die Differenzierung nach dem Geschlecht erwiesen. Deswegen möchte ich diesen Aspekt etwas ausführlicher behandeln. Wir finden von hier aus auch leichteren Anschluss an die entscheidende theoretische Frage, wie verschiedene Urteile erklärt werden können. Wir hatten unsere Kölner Anwälte um eine Einschätzung der Strafwürdigkeit ausgewählter Delikte und um eine Beurteilung gebeten, wie sie die Durchführbarkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) einschätzen. Dabei zeigten sich zunächst auf die Gesamtheit der Deliktsbeispiele bezogen für Männer und Frauen keine nennenswerten Unterschiede. Jedoch sahen die Frauen (Rechtsanwältinnen) bestimmte Delikte als etwas strafwürdiger an als die männlichen Rechtsanwälte. 1s Bei näherem Hinsehen ergab sich, dass die Unterschiede nie besonders groß waren, aber durchgängig bei Deliktskonstellationen auftraten, in denen eine Person in einer schwächeren Lage verletzt wurde. Die Differenzen waren signifikant, also nicht zufällig. Korrespondierend dazu wurden die Möglichkeiten einer Mediation von den Frauen etwas geringer eingeschätzt. Diese Befunde legen eine Interpretation durch die Vulnerabilitätsthese nahe. 16 Frauen werden im Allgemeinen mehr von menschlichen Verletzungssituationen angesprochen, fühlen sich betroffener. Ihre Stellung in der Gesellschaft ist mitunter gefährdeter als die von Männem. Männer sind möglicherweise bei Lichte betrachtet kaum minder verletzlich, doch fühlen sie sich eher vor Übergriffen gefeit.
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M Walter u. a., Täter-Opfer-Ausgleich aus der Sicht von Rechtsanwälten, S. 77. M Walter u. a., Täter-Opfer-Ausgleich aus der Sicht von Rechtsanwälten, S. 82. M Walter u. a., Täter-Opfer-Ausgleich aus der Sicht von Rechtsanwälten, S. 75. Nähere Erl. u. Literaturhinw. bei M Walter; Jugendkriminalität, 2. Aufl. 2001, S. 296 f.
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