111 75 4MB
German Pages 529 [531] Year 2022
Sarah Alice Nienhaus Entscheidungen erzählen
Sarah Alice Nienhaus
Entscheidungen erzählen Autobiografische Archivierungspraktiken bei Fanny Lewald-Stahr, Paul Heyse und Arthur Schnitzler
Durch Nachdenken war sie noch nie zu irgendeinem Entschluss gekommen. Judith Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste, S. 105. 26. Juni. […] Die Zeitschrift, die ich jetzt gründen möchte, müßte natürlich in englischer Sprache erscheinen und durchaus internationalen Charakter haben; eine Spezialisierung auf die Problematik der deutschen Emigration, etwa im Stil der »Sammlung«, wäre heute unbefriedigend, ja gefährlich. Ich bin kein Deutscher mehr. Bin ich noch Emigrant? Mein Ehrgeiz ist, ein Weltbürger amerikanischer Nationalität zu werden. […] 27. Juni. […] … Der Gedanke an die neue Zeitschrift läßt mich nicht los. Wie nenne ich sie? Von den Namen, die ich bisher erwogen habe, gefällt »Solidarity« mir am besten. […] 1. Juli. […] Der Name »Solidarity« gefällt mir nicht mehr. Zu »laut«, zu »propagandistisch«. »Zero Hour« wäre vielleicht besser. (Wie ließe sich das übersetzen? »In letzter Stunde?« – »Eine Minute vor Zwölf?« – »Der letzte Augenblick?«: Alles gleich unmöglich. Aber glücklicherweise ist es ja kein deutscher Name, nach dem ich diesmal suche …) […] 25. September. Die Zeitschrift kommt zustande! […] Übrigens ist es Lazare, der mich dazu bestimmt, den Namen der Zeitschrift zu ändern. »Zero Hour« klingt zu alarmierend; die Leute mögen das nicht. Von den neuen Namen, die erwogen werden, leuchtet mir »The Cross-Road« am meisten ein. Daß wir uns einer Wegkreuzung nähern – wer von uns spürte es nicht? […] 9. November. Den Namen der Zeitschrift geändert, im letzten Augenblick. Glenway Wescott, auf dessen Urteil ich etwas gebe und an dessen Mitarbeit mir übrigens gelegen ist, fand »The Cross-Road« zwar »ganz hübsch«, konnte aber doch nicht umhin, mich zu fragen: »Don’t you think such a name might suggest a somewhat undecided editorial policy?« Unentschieden? Gerade das wollen wir doch nicht sein! Meine Antwort: »If Cross-Road sounds undecided, why, I’ll call it DECISION.« ENTSCHEIDUNG … ? Ja, dabei bleibt es!
Klaus Mann, Der Wendepunkt, S. 396, 397, 400, 408, 412.
Inhalt
I. Archivierung oder Kassation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 erster teil
Forschungsüberblick und Methode II. ›Entscheiden‹: Eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . 37 II.1 Initialformel und Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . 37 II.2 Forschungsstand und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 III.1 Autobiografie und Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 III.2 bricolage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
zweiter teil
Literarische Analysen I V. Fanny Lewald-Stahrs Meine Lebensgeschichte und Römisches Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 IV.1 Berufene Entscheiderin
Entscheidenskompetenz als Alleinstellungsmerkmal . . . . . 129 IV.2 Ehe in Eigenregie Johann Wolfgang von Goethes »Die Natürliche Tochter« als Entscheidungsressource . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 IV.3 Entscheidende Ergänzung Verlustereignisse als Entscheidungsmoment . . . . . . . . . 222 V. Paul Heyses Jugenderinnerungen und Bekenntnisse . . . . . . . V.1 Entschieden unentschieden Wirk- und werkmächtige Krisen . . . . . . . . . . . . . . . V.2 Correspondenzschrank, öffne Dich! Exklusive Entscheidungsdokumente . . . . . . . . . . . . . V.3 Von Archiv zu Archiv Korrespondenzen als Wertpapiere . . . . . . . . . . . . . . .
251 251 282 327
i n h a lt
VI. Arthur Schnitzlers Jugend in Wien. Eine Autobiographie . . . VI.1 Dilemmatisches Doppelleben Unentschiedenheit als Markenzeichen . . . . . . . . . . VI.2 Vom Tagebuch ans Tageslicht Synoptische Werkschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.3 Testierte Werkbiografie Präventive Publikationspraktiken . . . . . . . . . . . .
351 351 394 428
VII. Netzwerke des Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 VIII. Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 IX. Transkriptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
468
X. Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 XI. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
483
XII. Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 XIII. Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
6
I. Archivierung oder Kassation?
Fanny Lewald-Stahr referiert in ihrer Lebensgeschichte, wie sie ihre lyrischen Erstlingswerke verfeuert und begründet ihre Entschlussfreudigkeit wenig zögerlich: »Ich besitze von diesen Gedichten jetzt nicht mehr ein Blatt. Ich habe sie vor langen Jahren verbrannt, weil das Aufbewahren unnützer Papiere etwas so Törichtes und Unpraktisches ist«.1 Archivwürdige und autobiografiefähige Schriftzeugnisse bedecken demgegenüber ihren Arbeitsplatz, dienen der Autorin als Vorlage oder genauer als Erzählbausteine, die zusammengefügt und ergänzt ihre mehrbändige Lebensgeschichte ergeben.2 Erst der dramatische Effekt einer Kassationsfiktion entfacht hier die nachlasspolitische Wirkmacht autobiografischer Archivierungspraktiken: Die imaginierte Textgenese wird zum ereignisreichen Entscheidensprozess.3 Gilt es, ein Leben in nachweltfähige Form zu bringen, werden, so die erste These, oftmals aufbewahrte Dokumente, Korrespondenzen und Werk manuskripte publikumswirksam ›kassiert‹, ›archiviert‹ sowie ›kuratiert‹, um schließlich eine Edition zu erstellen. Die folgenden Fallbeispiele zeigen, dass ebendiese Praktiken explizit verhandelt werden, sobald die Auto biografen und Autobiografinnen eine Entscheidung erzählen.4 Diese formieren wiederum jene autobiografischen Projekte, die hier vorgestellt werden. Mit dem Ausdruck ›autobiografisches Projekt‹ soll die publizierte Autobiografie primär als Ausgangspunkt konturiert werden, sodass kontextuelle, philologische und archiv- sowie editionspraktische Teilhandlungen berück-
1 Lewald, Meine Lebensgeschichte. Im Vaterhause, S. 254. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle MLGI angegeben. 2 Vgl. auch: Lewald, Meine Lebensgeschichte. Leidensjahre; Lewald, Meine Lebensgeschichte. Befreiung und Wanderleben. Zitate aus diesen Ausgaben werden fortan mit den Siglen MLGII und MLGIII angegeben. Die Autorin führte und unterschrieb mit Doppelnamen, weshalb dieser auch hier verwendet wird. 3 Gemäß Sigrid Weigel steht »die Arbeit an einer Biographie« mitunter für »die zahlreichen Entscheidungen, die auf dem Wege von den Hinterlassenschaften zu einem Buch liegen« (Weigel, Hinterlassenschaften, S. 34). 4 Im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache werden fortan die Endungen variiert. Setzt sich ein Personen- oder Figurenkreis allein aus Frauen oder Männern zusammen, wird auf eine geschlechtergerechte Sprache punktuell verzichtet.
7
archivierung oder kassation ?
sichtigt werden.5 Eine signifikante Gemeinsamkeit der einzelnen Fallbeispiele ist die prominente Positionierung ausgewählter Archivalien:6 Fanny Lewald-Stahr, Paul Heyse und Arthur Schnitzler zitieren bislang unveröffentlichte Manuskripte, um einen lebens- wie auch werkkonstitutiven Entscheidensprozess prägnant zu vergegenwärtigen. Diesen punktuellen, spektakulären Zitationen werden, nachlasspolitisch konsequent, Archivierungs- und Kassationsanekdoten beigegeben.7 Auffällig ist, dass die Zitate nebstdem mit einer exakten Datierung sowie detaillierten Ortsangabe versehen werden. Mit den in die Erzählung eingebetteten Manuskriptzitaten präsentieren die Autobiografen nicht schlicht ein reiches Depot voller Entscheidungsressourcen. Vielmehr wird ein exklusiver Blick auf den zurückliegenden Schreibprozess entworfen: Ein ›singuläres Schreibmoment‹ wird eingeholt, die textgenetische Prozessualität ausgestellt. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die gewissenhaften Provenienzangaben eine authentizitätsstrategische Inszenierung darstellen. Klärungsbedürftig ist demnach, weshalb die expliziten Faktualitätssignale unmittelbar vor lebenslauf konstitutiven Entscheidensprozessen gesetzt sind. Oder: Warum wird gerade für einen Entscheidensprozess ein ausgewähltes Manuskript publiziert und seine zukünftige Auffindbarkeit akribisch arrangiert? Ausschlaggebend hierfür ist, so die zweite These, ein editionsphilologisches Vermittlungskonzept, das in den autobiografischen Projekten mit präventiven Publikationspraktiken einhergeht, für die das effektvolle Ereignispotenzial einer krisenhaften Entscheidung nur vorteilhaft sein kann. Im Übrigen dokumentieren Lewald-Stahrs, Heyses und Schnitzlers Autobiografien eine professionalisierte Nachlassgenese, die auch im 21. Jahrhundert keinesfalls an Prominenz einbüßt.8 Sie veranschaulichen insgesamt, dass der Erzähltext einer archivarischen Genauigkeit verpflichtet ist und 5 Vgl. hierzu: Blasberg, Biografie als Projekt, S. 67. 6 Exakt ist, erst von ›Archivalien‹ zu sprechen, wenn der Vor- oder Nachlass zum Archivgut in einer entsprechenden Institution wird. Der Ausdruck wird hier dennoch verwendet, da die Materialien bereits in einem Privatarchiv geordnet, bearbeitet und verwahrt werden. Die Fallbeispiele zeigen allesamt den Prozesscharakter der Übertragung an. Der Ausdruck zeigt auch an, dass zuvörderst im Zuge der Bestandsbearbeitung zwischen Werken, Korrespondenzen, Dokumenten und Objekten differenziert wird. 7 Für letzteres liefert Marie von Ebner-Eschenbachs Autobiografie eine aussagekräftige Passage. Gerade deshalb eignet sich ihre Autobiografie als ergänzendes Beispiel für den Problemaufriss. 8 Zu nennen wären hier etwa Hans Magnus Enzensberger, Tomas Tranströmer, Oskar Negt und Natascha Wodin. Vgl. Enzensberger, Eine Handvoll Anekdoten; Tranströmer, Randgebiete der Arbeit; Wodin, Sie kam aus Mariupol, S. 81, 155, 361-364; Negt, Überlebensglück, S. 7 f.
8
archivierung oder kassation ?
sich nicht in einer ausschließlich fiktionalen Dimension erschöpft. Selbstverständlich ist damit keine gattungsanalytische Behauptung verbunden. Anders formuliert: Die Zitation ausgewählter Archivalien ist kein obligatorisches Merkmal für Autobiografien.9 Die für diese Studie ausgewerteten Quellen legen allerdings – zumindest für ein beachtliches Korpus des 19. und 20. Jahrhunderts – nahe,10 dass Bernd Neumanns vorgeschlagene Trennung zwischen ›Autobiografien‹ und ›Memoiren‹ nicht vorbehaltlos übernommen werden sollte: Ein »Wandel« von »Autobiographie zu Memoiren« liege vor, erklärt Neumann, sobald die dokumentarische Funktion dominant werde.11 Primär diese als Differenzkriterium zwischen Autobiografien und Memoiren festzulegen, erscheint heikel, denn augenscheinlich werden auch in Autobiografien gezielt Archivalien inszeniert. Eine trennscharfe Distinktion zwischen ›Autobiografien‹, ›Erinnerungen‹ und ›Memoiren‹ sei Gudrun Wedel zufolge ohnehin ein utopisches Unterfangen.12 Die Präsenz archivalischer Expertisen, die mit zitierten Manuskripten einhergeht, fordert einmal mehr dazu auf, ihrer ›nachlass- sowie werk politischen‹ Dimension nachzugehen.13 Die textgenetische Analyse lässt mindestens zwei Beobachtungen zu: (1) Die ausgewählten Passagen wurden 9 Der Zugriff auf eigene Manuskripte ist nebstdem keinesfalls selbstverständlich. Beispielhaft können genannt werden: Hilde Domin, Alfred Döblin, Klaus Mann, Walter Mehring und Anneliese Rieß. Dies verdeutlichen auch ihre Autobiografien, die während oder nach einer Exilzeit entstanden sind. Vgl. exemplarisch: Rieß, Exil wird Heimat; Domin, Fast ein Lebenslauf; Mehring, Die verlorene Bibliothek; Mann, Turning Point; Mann, Der Wendepunkt; Döblin, Epilog. 10 Vgl. etwa: Hilde Domins Autobiografie Fast ein Lebenslauf. Vgl. auch: Brod, Streitbares Leben 1884-1968; Brod, Neben dem Schriftstellerberuf / Ein Zyklus Selbstbiographien; Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir; Ebner-Eschenbach, Meine Kinderjahre; Kruse, Ich und meine Puppen. 11 Vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 32 f. In diesem Zusammenhang notiert er: »Besonders das Zitieren von Dokumenten ist ein untrügliches Zeichen für den memoirenhaften Charakter einer Lebensbeschreibung, zumindest aber für deren ›drohenden‹ Umschlag in Memoiren« (ebd., S. 53). In Neumanns Ausführungen klingt nahezu ein ›entweder oder‹ an, besonders wenn er resümiert: »Die Auto biographie befreit, wo die Memoiren verpflichten« (ebd., S. 63). Erstaunlich ist demgegenüber, dass Fanny Lewald-Stahr ihre Autobiografie als Memoiren bezeichnet und verglichen mit allen hier vorgestellten Schriftstellerinnen kaum eigene Archivalien zitiert (MLGIII, 216, 241). Die von Neumann vorgeschlagene terminologische Unterscheidung zwischen den Ausdrücken ›Memoiren‹ und ›Autobiografie‹ trifft nicht zwingend die Gebrauchssprache und ist ohnehin als heuristische Differenzierung aufzufassen. 12 Wedel, Rekonstruktionen des eigenen Lebens, S. 154 f. 13 Vgl. hierzu besonders Steffen Martus’, Kai Sinas und Carlos Spoerhases Unter suchungen und Methodenkonzepte: Martus, Werkpolitik; Sina und Spoerhase, Nachlassbewusstsein.
9
archivierung oder kassation ?
sorgfältig zitiert und für die Publikation kaum verändert. (2) Des Weiteren weisen exakt jene Passagen nachträgliche Lesespuren auf, die dezidiert einen zurückliegenden Entscheidensprozess belegen sollen. Beide Befunde verdeutlichen, dass erst mit einer textgenetischen Analyse dargelegt werden kann, wie Entscheidensprozesse retrospektiv konstruiert, ihre raumzeit liche Verknappung kalkuliert und ihr dramatisches Potenzial inszeniert werden. Diese Bemühungen zeigen, wie ein singuläres Entscheidungs moment zum Publikationsaufhänger modelliert wird, um die Autorfigur sowie das Gesamtwerk in nachweltfähige Form zu bringen. Die Erstpublikation ausgewählter Archivalien sorgt auch dafür, dass vormals private Manuskripte erstmalig öffentlich zugänglich werden und den literaturwissenschaftlichen Fachdisziplinen ein organisierter, diegetisch eingebetteter Forschungsgegenstand präsentiert wird:14 Das Publikationsprojekt scheint für Philologen und Schriftstellerinnen verheißungsvoll und der Weg ins Archiv vorerst geebnet, wenn bereits Spreu vom Weizen getrennt, ›Törichtes und Unpraktisches‹ aus dem Rezeptions- und Forschungsweg geräumt wurde.15 Dahinter stecken nicht ausschließlich monetäre Beweggründe, denn nicht minder bedeutend ist das formulierte Anliegen, mit ›zensiertem‹ Selbstbild in die Literaturgeschichte einzugehen.16 14 Eine Strategie, die Johann Wolfgang von Goethe zu seiner prominenten Position in der literaturwissenschaftlichen Archivforschung verhalf. Roswitha Wollkopf legt dar, wie Goethe seinen Nachlass vorbereitete und ihn als zukünftigen Forschungsgegenstand konzipierte. Vgl. Wollkopf, Nachlaß. Vgl. hierzu auch: Grésillon, Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben, S. 170 f.; Weigel, Hinterlassenschaften, S. 42. Auch für den Nachlass müssen der Publikationsakt und die Konstitution des aufbereiteten Materials vom Archivzustand differenziert werden. Dabei darf teilweise davon ausgegangen werden, dass Schriftsteller bereits den prospektiven Nachlass- und Archivzustand aufbereiten, damit er bestimmte Publikationsformen nahelegt. Die Wirkungsabsicht der Schriftstellerinnen reicht also bis zu Publikationen, die sie aufgrund ihres Todes nicht mehr selbst in der Hand hatten, jedoch testamentarisch vorbereitet haben. 15 Es gab zugleich die Tradition, bevorzugt Drucke zu bewahren und Manuskripte zu zerstören. Ulrich Raulff führt dazu aus: »Während Schiller noch, wie bis dahin üblich, die Manuskripte seiner gedruckten Werke vernichtete oder verschenkte, hob Goethe sie auf und ließ sie, zehn Jahre vor seinem Tod, fachmännisch archivieren« (Raulff, Nachlass und Nachleben, S. 21). Vgl. hierzu auch exemplarisch: Bülow, Papierarbeiter, S. 14; Grésillon, Literarische Handschriften, S. 115; Flach, Goethes literarisches Archiv, S. 62; Sina und Spoerhase, Nachlassbewusstsein. 16 Lewald-Stahr ist deutlich bemüht, ihre Autobiografie als Literatur- und Kultur geschichte zu konzipieren, indem sie dezidiert und systematisch an zahlreiche Schriftstellerinnen und Künstlerinnen erinnert und dabei Schriftsteller und Künstler keineswegs vernachlässigt. Zugleich dienen Kassationspraktiken nicht zuletzt auch dazu, private Manuskripte endgültig vor einer ungewollten Publikation zu
10
archivierung oder kassation ?
Aufschlussreich ist, dass der »schriftstellerische Nachlass«, wie Carlos Spoerhase feststellt, primär »als Material für eine ›postume‹ Publikation verstanden« worden ist.17 Mit den Fallanalysen wird sichtbar, dass die Archivierungspraktiken vorbereiten, wie Entscheidungen jeweils autobiografisch dargestellt werden.18 Während in Testamenten schriftlich fixiert ist,19 wie mit dem faktualen Nachlass umzugehen ist, werden bereits in Autobiografien entscheidungsförmige Archivierungspraktiken erzählt.20 Autobiografien besitzen
schützen. Jedoch zeigt sich bei Fanny Lewald-Stahr ein Archivierungsbestreben, das eine Teilhabe zukünftiger Literaturgeschichten sicherstellt. 17 Spoerhase, Neuzeitliches Nachlassbewusstsein, S. 25; vgl. ebd., S. 26-30. 18 In Uwe Wirths Archivdefinition klingt dieses Verhältnis bereits an: »Das Archiv ist eine Institution, die Dokumente und Monumente sichert und über die Politik des Archivs (also die Zugangsmöglichkeiten) die Politik der Edition (nämlich die Veröffentlichungsmöglichkeiten) steuert« (Wirth, Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 74). Dass archivarische Praktiken bestimmen, wie Entscheidensprozesse dargestellt werden und werden können, erinnert an Michel Foucaults weite Archivdefinition: »L’archive c’est d’abord la loi de ce qui peut être dit, le système qui régit l’apparition des énoncés comme événements singuliers. Mais l’archive, c’est aussi ce qui fait que toutes ces choses dites ne s’amassent pas indéfiniment dans une multitude amorphe, ne s’inscrivent pas non plus dans une linéarité sans rapture, et ne disparaissent pas au seul hasard d’accidents externes; mais qu’elles se groupent en figures distinctes« (Foucault, L’›a priori‹ historique et l’archive, S. 139). 19 Vgl. zur Relation zwischen ›Literatur‹, ›Werk‹ und ›Testament‹ exemplarisch: Niethammer, Das Testament im Spannungsfeld von juristischen Vorgaben und individueller Gestaltung; Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv; Willer, Die Schreibszene des Nachlasses bei Goethe und Musil. Ulrike Vedder hält für Testamente von Schriftstellern fest, dass es eine nahezu unlösbare Aufgabe sei, die Frage zu lösen, »ob es sich bei einem Dichtertestament um einen ästhetisch-literarischen Text handelt, der zum Werk eines Autors gehört, oder aber um einen Funktionstext, der den Alltag einer historischen Person im rechtlichen oder ökonomischen Sinne regelt«. Demnach sei »der uneinheitliche Umgang mit Testamenten von Autor/innen in der editorischen Praxis besonders aufschlussreich« (Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, S. 169). 20 Vgl. hierzu auch: Willer, Die Schreibszene des Nachlasses bei Goethe und Musil, S. 67. Zanetti zieht eine hilfreiche Verbindungslinie zwischen ›Schreiben‹ und ›Selbstarchivierung‹. Vgl. Zanetti, Einleitung, S. 31. Entscheidensprozesse motivieren eine Spurenlese, indem mit ihnen schriftgebundene Archivierungspraktiken explizit dargestellt werden. Lesespuren ermöglichen jedoch keine »Rückschlüsse auf Denkprozesse« (Grésillon, Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben, S. 153). Die Nähe zwischen ›Autobiografie‹ und ›Testament‹ belegen bereits frühe Rechnungs- und Handelsbücher. Vgl. hierzu: Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 131.
11
archivierung oder kassation ?
mitunter ein symbiotisches Verhältnis zu Archiven, so die dritte These.21 Insofern sind sie mit dem Etikett »Adressat: Nachwelt« versehen.22 Interessanterweise lassen sich »[u]mfassendere Vernichtungsakte […] oft als Symptom einer grundsätzlichen Krise oder Neuorientierung deuten«.23 Daran anschließend ist es erstaunlich, dass Autobiografinnen krisenhafte Entscheidensprozesse mithilfe privater Archivalien darstellen, allent halben mit Archivierungs- und Kassationserzählungen verknüpfen. Selbst verständlich nehmen solche Berichte nicht zwingend auf faktische Geschehnisse Bezug, sie können gegebenenfalls topischen, autofiktionalen Charakter haben. Insgesamt zeigen sie das ›ernsthafte Ringen‹ der Autoren um ein für die Gegenwart und Nachwelt a rchivwürdiges Werk. Überdies wird anhand autobiografischer Entscheidensprozesse exemplarisch präsentiert, wie eine erzählte Krisis in Ordnungspraktiken überführt wird.24 Symptomatisch ist ferner, dass erzählte Kassationssequenzen nicht darlegen, wie der Entscheidensprozess aussah. Vielmehr demonstrieren sie entschlussfreudige Handlungen. Erzählte Archivierungspraktiken sind dagegen weitgehend mit lebenslaufkonstitutiven und besonders werk konstitutiven Entscheidensprozessen verknüpft. Gemeinsam werden sie mit unikalen, bislang unpublizierten Manuskripten ›aufgewertet‹, indem mit den zitierten Passagen eine krisenerprobte Autorfigur mitsamt archivwürdigem Werk begründet wird. Folglich umfassen die hier vorgestellten autobiografischen Projekte auch den gesamten Gestaltungsprozess, so die vierte These, aus dem schließlich Vor- und Nachlass hervorgehen. Entscheidensprozesse gehen offenbar gerade dann ›Papierbündnisse‹ ein, wenn ausgestellt werden soll, wie eine Entscheidung gemacht ist. Um diese auto- wie auch werkbiografische Konstellation zu illustrieren, wird der Forschungsgegenstand vorerst anhand erzählter Kassations- und Archivierungsentscheidungen vorgestellt: Denn diese bedingen Marie von EbnerEschenbachs, Fanny Lewald-Stahrs, Paul Heyses und Arthur Schnitzlers autobiografische Projekte. Außerdem verweisen sie auf Darstellungsmöglichkeiten werkkonstitutiver Entscheidensprozesse. 21 Autobiografische Archivierungspraktiken bestätigen Lothar Müllers Beobachtung, dass Autorinnen mit ihrer »Arbeit am Nachlaß« die eigene Werkherrschaft präventiv verstetigten. Müller, Weiße Magie, S. 285. Zur kulturgeschichtlichen Relation von ›Autobiografie‹, ›Archiv‹ und ›Nachlass‹ sei hier auf Ulrich von Bülow verwiesen, der festhält: »So gesehen sind die Gräber mit ihren Beilagen die Urform der Nachlassüberlieferung«. (Bülow, Papierarbeiter, S. 12). 22 Vgl. hierzu exemplarisch den Sammelband: Schöttker, Adressat: Nachwelt. 23 Bülow, Papierarbeiter, S. 27. 24 Vgl. zur ›Krisis‹ exemplarisch: Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹, S. 203 f.
12
archivierung oder kassation ?
Ähnlich wie Lewald-Stahr gibt Ebner-Eschenbach in Meine Kinderjahre eine Kassationserzählung zum Besten, wenn sie ihre Werkgenese mit archivarischen Praktiken verknüpft:25 Lange Jahre hindurch sollte ich mich mit diesem Stoffe […] herum schlagen. Zuletzt stand ich an der Spitze einer kleinen Armee von Manuskripten, von denen nur die ersten den Titel »Cinq-Mars«, die letzten aber den »Richelieu« führten. […] Allmählich waren die Augen mir aufgegangen, ich wußte: Mit all meiner Begeisterung, all meinem Fleiß habe ich nur ein Pfuschwerk zustande gebracht. Durchaus nicht in einem Verzweiflungsanfall, ganz ruhig schichtete ich dann meine »Cinq-Mars« und »Richelieus« im Ofen sorgfältig und nett zu einem Scheiterhaufen zusammen und zündete ihn an. Es rauchte erst stark, dann lohten schöne Flammen auf. Die Blätter – viele von ihnen waren kalligraphiert und illustriert – wanden und krümmten sich wie in Schmerzen, Fünkchen […] huschten über den Zunder. Nun lag ein unförmiger Pack schwarzer, schmutziger Fetzen da – als Frucht so vieler Mühen. Hätte eine Vision mich dieses Ende sehen lassen, als ich in den ersten zärt lichen Verkehr mit dem vortrefflichen »Stoffe« trat, […] würde ich die Arbeit […] unternommen haben? Fast glaube ich: Ja.26 Indem die autodiegetische Erzählerin berichtet, dass die verbrannten Manuskripte, »kalligraphiert und illustriert«, insgesamt aus jahrelanger mühevoller Arbeit hervorgingen, evoziert sie den Verdacht, die bewahrten Archivalien mögen noch kunstvoller gestaltet sein. Die Kassationserzählung erhöht den ›Wert‹ der bewahrten Archivalien und damit denjenigen des faktualen Nachlasses, denn: Wenn bereits kostbare Archivalien spontane Pyromanie provozieren, welche Schätze mögen erst im Nachlass schlum25 Die krisenhafte Werkentstehungsgeschichte legt Marianne Henn vor: »Die Arbeit an Cinq-Mars besteht nach Ebner-Eschenbachs Briefen an Devrient und ihren Tagebucheinträgen in den nächsten Jahren darin, zu schreiben, zu planen, zu ändern und zu verwerfen. […] Dann kommt es zur Krise, und sie muß sich entscheiden, entweder aufzugeben oder von neuem zu beginnen (T I, 16.11.1863). […] Sie steht vor einer schweren Entscheidung. […] In einem Brief an Devrient begründet Ebner-Eschenbach dann, warum es nicht zur Vollendung von Cinq/Mars/Richelieu gekommen ist: ›Der Cinq-Mars ist am Umarbeiten zu Grunde gegangen – die 3te und letzte Version dieses unglücklichen Stückes ist bis zum 5t Akte beendet‹ (Br 21). Und in Meine Kinderjahre gestaltet sie das Ende dieser langjährigen Arbeit auf fast dramatische Weise. […] Dem geplanten und in Meine Kinderjahre beschriebenen Autodafé sind nicht alle Manuskripte zum Opfer gefallen« (Henn, »RichelieuFragmente«, S. 720 f.). 26 Ebner-Eschenbach, Meine Kinderjahre, S. 119 f.
13
archivierung oder kassation ?
mern? Entsprechend erfüllt die autobiografische Kassationssequenz primär eine strategische Funktion: Sie verweist indirekt auf die verfügbare, repräsentative Handschriftensammlung, die untersucht respektive zumindest professionell archiviert werden sollte, bevor es zu spät sein könnte. Der Exklusivitätswert steigt, wenn ein vermutlich kassiertes Manuskript doch gefunden wird. Ebendiese Rechnung geht auf, wenn Marianne Henn festhält: »Bettelheim fand im Zdislawitzer Archiv Handschriften von verschiedenen Fassungen von Richelieu und kommt nach begeisterter Lektüre zu der Auffassung, daß dies ihre ›bedeutendste Historie‹ sei«.27 Ein angeblich verfeuertes Manuskript avanciert im Rezeptionsprozess zum luziden Qualitätsfund: Die Feuer- wird zur Werkprobe. Ein Brief Ebner-Eschenbachs an ihren Verleger Julius Rodenberg präfiguriert förmlich die zuvor zitierte Erzählpassage. Es ist charakteristisch für den Untersuchungszeitraum, dass erzählte Kassationsereignisse und Archivierungsvorgänge gleichermaßen in fakto- und fiktografischen Texten auffindbar sind. Fest steht, dass Ebner-Eschenbach ihren Verleger just in diesem Brief mit ihrem Vorhaben konfrontiert, eine Autobiografie zu schrei ben, sodass sie ihm unumwunden postalisch eine Editionsentscheidung anträgt. Zentral ist für dieses Fallbeispiel, dass der Entscheidensprozess brieflich arrangiert wird und nicht die Entscheidung selbst: Nun bin ich hier damit beschäftigt mein litterarisches Haus zu bestellen, ordne meine Correspondenzen, weihe viele Manuscripte dem Feuertode, lese alte Tagebücher durch und dabei kommt mir manchmal der Gedanke ob sich nicht ein Lebensbild zusammensetzen ließe, das nicht gerade langweilig anzumuten brauchte. Haben Sie, lieber, verehrter Freund, nicht einen Schrecken vor Lebensbildern? Wenn Sie sagen: nein, mache ich vielleicht einen Versuch in diesem Genre. Doch werden die Vorarbeiten dazu schwerlich vor vier Wochen fertig werden.28
27 Henn, »Richelieu-Fragmente«, S. 721. 28 Marie von Ebner-Eschenbach an Julius Rodenberg am 8. August 1903. Bei EbnerEschenbach wird wie auch später bei Tomas Tranströmer das Privatarchiv zur Autobiografie. So verrät der Klappentext in der deutschen Übersetzung zu Tranströmers Randgebiet der Arbeit: »In seiner ehemaligen Speisekammer sammelte Tranströmer über viele Jahre die Dokumente aus den Randgebieten seiner schriftstellerischen Arbeit: Tagebücher, Manuskripte, Briefe, Zeitungsartikel und Fotos. Aus ihnen hat er kurz vor seinem Tod sein letztes Buch zusammengestellt, Autobiographie und Werkstattbericht zugleich«. Die Ankündigung schließt marktorientiert, werbestrategisch: »Der bislang persönlichste Einblick in das Leben des großen Dichters« (Tranströmer, Randgebiete der Arbeit).
14
archivierung oder kassation ?
Die zukünftige Autobiografin schildert, wie die Entscheidung, ihre Lebensgeschichte zu schreiben, an archivarische Praktiken gebunden ist, und schöpft aus dem Potenzial einer Kassationserzählung, das sowohl im »Trauma eines Verlusts« wie auch in der »Erfahrung von Kontingenz« liegt.29 Eine Konstellation, die Archivierungswünsche bei Archivarinnen, Verlegern und Wissenschaftlerinnen regelrecht befeuert. Offeriert werden zwei Alternativen: Autodafé oder Autobiografie. Denn zitierte und publizierte Archivalien sind einstweilen vor einem unwiederbring lichen ›Feuertode‹ halbwegs sicher. Ein Kassationsentschluss legt zugleich einen Erinnerungsgrundstein.30 Ebner-Eschenbachs Brief dokumentiert eine kulturhistorisch relevante Funktion, die Autobiografien hier zukommt: die Archivierung.31 Ferner wird häufig der eigene Nachlass gesichtet und geordnet, wenn ein autobiografisches Projekt nicht in einer Schublade verstaubt, sondern auf dem Schreibtisch einer Bearbeitung harrt. Im Zuge dessen wird zumindest ein Teilbestand privater Besitztümer archiviert: Autobiografische Projekte sind Rettungsanker und Feuermeer zugleich.32 Erwähnenswert ist dies, da es für Magnus Wieland bis heute eine Ausnahme darstellt, »[d]ass Manuskripte nach der Drucklegung weiterhin 29 Raulff, Sie nehmen sich gern von den Lebendigen, S. 230. Thomas Steinfeld zitiert in seiner Studie Karl August Varnhagen von Ense, der 1846 in seinem Tagebuch die Sorge festhält, dass etwaige Kulturgüter unwiederbringlich kassiert werden könnten. Vgl. Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter, S. 40; vgl. ebd., S. 36-39. 30 Vgl. Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, S. 332 f. 31 Gemäß Rüdiger Nutt-Kofoth »übernimmt die Edition […] auch die Aufgabe der Bestandssicherung« (Nutt-Kofoth, Zum Verhältnis von Nachlasspolitik und Editionskonzeption, S. 111). Zentral sind hier Carlos Spoerhases Beobachtungen zum ›Format‹. Vgl. Spoerhase, Das Format der Literatur, S. 43. Vgl. hierzu auch: Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter, S. 41. Roland Reuß erhebt das Buch zum krisenfesten Überlieferungsträger. Vgl. Reuß, Die perfekte Lesemaschine, S. 17. Schalansky baut an diesem Sockel mit und so ist das Buch für sie das »vollkommenste[ ] aller Medien« (Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste, S. 25). 32 Klaus-Detlef Müller hebt die archivarische Dimension hervor, die autobiografischen Projekten zukommt und die Goethe auf den Weg zur Autobiographie brachte. Müller hält hierzu fest: »Bei der Vorbereitung der Manuskripte war Goethe das Unfertige und in mancher Hinsicht Vorläufige seiner Produktionen bewußt, aber die Plünderung und Brandschatzung Weimars im Oktober 1806 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt bestimmte ihn, sein Zögern zu überwinden. Er mußte erkennen, daß der Druck des Unfertigen weniger problematisch war als seine Einstellung oder gar sein Verlust. In diesem Sinne schrieb er am 24.10.1806 an Cotta: ›In jener unglücklichen Nacht waren meine Papiere meine größte Sorge, und mit Recht. […] Ich werde nach dieser überstandenen Epoche um desto mehr eilen, meine Manuskripte in Druck zu bringen. Die Tage des Zauderns sind vorbei‹« (Müller, Goethes Weg zur Autobiographie, S. 995).
15
archivierung oder kassation ?
aufbewahrt werden«.33 Landen Manuskripte nicht im analogen oder digitalen ›Papierkorb‹, »gehen sie [bestenfalls] zurück an die Autoren«.34 Ein ebenso hitziges Ereignis wie zuvor Ebner-Eschenbach hält Paul Heyse in seinen Jugenderinnerungen und Bekenntnissen fest und schildert, wie er ein Manuskript rasch den Flammen überlässt: [D]as Ergebnis so armselig, daß, als ich das Stück später meinen lieben Kuglers vorlas, niemand sich daran belustigte, ja überhaupt, nachdem ich geendet hatte, kein Wort der Kritik laut wurde, so daß ich die Blätter, gleichfalls ohne ein Wort zu sagen, sofort in den Ofen steckte.35 Für seine berufliche Entscheidungsnot, die er seinem Vater brieflich erläutert, flicht er sogar zweimal eine Kassationserzählung ein. Offensiv wird auf diese Weise ein Entscheidungsdilemma konstruiert, das Heyse an seinen Vater zügig weiterreicht: »Ich sende das Blatt gleich ab, um es nicht auch noch zu zerreißen«. Heyse überlässt seinem Vater, rhetorisch geschult, scheinbar die letzte Entscheidungshoheit, obschon er gleichfalls in diesem Brief bereits seine Entscheidung als getroffen darlegt und sein zukünftiges ›Dichterdasein‹ anvisiert: »Ich hätte all meine Schmiererei ins Feuer werfen mögen, und doch sagt ich mir ein ganz keckes anch’io – aber nicht sono, sondern s a r ò «. Die durchdachte Dramaturgie belegt ein handschriftlicher Nachtrag: Das Zeitadverb ›gleich‹ wird ergänzt und das dialogische Moment akzeleriert.36 33 Wieland, Einleitung, S. 10. So bekennt noch Sabine Friedrich, dass sie sämtliche Materialien zu ihren Romanen vernichte, sobald diese publiziert seien. Friedrich, Wer wir sind, S. 7. 34 Wieland, Einleitung, S. 10. Vgl. auch: Gastell, Verlagsgeschichtsschreibung ohne Verlagsarchiv, S. 46 f. 35 Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, S. 169. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle JBV angegeben. Die Manuskriptzerstörung kann als topische Anekdote verbucht werden. Beispielhaft seien zwei Episoden genannt, die weite Zeitspanne ist bewusst gewählt: Unzufrieden mit seinem Text macht Hermann Bahr sein Manuskript zum Opfer eines Wutanfalls: »Aber warum saß ich dann Tage lang, Nächte durch und strich, was ich eben niederschrieb, gleich darauf wieder aus, ein neues Wort dafür einsetzend, aber auch dieses im nächsten Augenblick wieder mit einem anderen vertauschend, dem es dann aber gleich auch nicht besser erging, bis ich in Wutanfällen morgendlich zuweilen am Ende den ganzen Stoß vor lauter fiebernden Strichen unleserlicher Blätter zerriß?« (Bahr, Selbstbildnis, S. 186). Die Kassation gehört in Max Frischs Montauk zum Beruf des Schriftstellers: »Ein Kamin in meinem Studio scheint mir nicht nötig; […]; ich meine: Lassen wir’s. Der Beckett widerspricht: Un Scrittore, meint er, müsse viel Papier verbrennen. Ich stimme zu« (Frisch, Montauk, S. 195). 36 Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I 33.
16
archivierung oder kassation ?
Unentschlossener als Heyses oder gewissenhafter, ›nachlassbewusster‹ ist Arthur Schnitzlers Kassationserzählung,37 die er mit einem neuen Lebensabschnitt und entscheidungsförmigen, retro- wie prospektiven autobiografischen Praktiken verknüpft: Blickt man in vorgerückten Jahren auf sein Dasein zurück, so scheinen sich, wie Kapitel eines Romans, mit kunstgerechter Absicht voneinander geschieden, die einzelnen Abschnitte aneinanderzureihen. Aber kaum an einem anderen Punkt vermag ich diesen Scheidestrich mit solcher Entschiedenheit zu ziehen, als im Sommer des Jahres 1882, in dem ich mein zwanzigstes Lebensjahr vollendete, mein erstes Rigorosum bestand, mir meine Einjährig-Freiwilligenuniform bestellte und meine alten Tage bücher vernichtete, dies allerdings nicht, ohne mir vorher die wesentlichsten Stellen daraus sorgfältig auszuschreiben.38 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass besonders Lewald-Stahrs und Schnitzlers erzählte Kassationsentschlüsse innerhalb der Autodiegese eine proleptische Funktion besitzen und die Berufsentscheidung kontinuierlich vorbereiten. Die gewissenhafte, datierte, nachweltorientierte Kassation der »alten Tagebücher« und die Archivierung ausgewählter Tagebuchpassagen ist im autobiografischen Gesamtkontext relevant, da wiederholt einzelne Tagebuchpassagen zitiert werden, um vergangene Entscheidensprozesse illustrativ zu explizieren und einen ›Authentizitätswert‹39 zu generieren. In Schnitzlers Autobiografie wird die Relation zwischen faktualem Archivbestand und autobiografischem Textbestand erzähl- sowie nachlassstrategisch beständig kultiviert: Tagebücher, Briefe und Autobiografie werden sorgsam miteinander vernetzt. Die Vernetzung ist bereits prospektiv erfolgsversprechend, indem sie testamentarisch eine Parallellektüre offeriert: Die Sperrfristen für die »Tagebücher bis 1899« und die Autobiografie enden zeitgleich »nach zwanzig Jahre[n]«.40 Autobiografie und Nachlass werden im autodiegetischen Verlauf als ergiebiger Forschungsgegenstand dargeboten und dem Werk wird zukünftiger Widerhall versprochen.41 37 Vgl. Sina und Spoerhase, Nachlassbewusstsein. 38 Schnitzler, Jugend in Wien, S. 136. Zitate aus dieser Autobiografie werden fortan mit der Sigle JiW angegeben. 39 Zitierte Archivalien stehen innerhalb der Autodiegese für punktuelle Metalepsen. Innokentij Kreknin legt dar, dass Metalepsen, die die »Autor-Figur« und den »alltagswirklichen Träger der Autorfunktion« kurzschlössen, einen »Rezeptions effekt der Authentizität« bewirkten (Kreknin, Poetiken des Selbst, S. 430). 40 Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen, S. 33-35. 41 Schnitzlers Autobiografie trug ursprünglich den Titel Leben und Nachklang.
17
archivierung oder kassation ?
Als Intertext zu den bereits zitierten Passagen ist Johann Wolfgang von Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit zu nennen; dort zeigt sich eine »phönixhafte Lust der Zerstörung und der Auferstehung«.42 Zumal die Autorfigur Goethe als Vergleichsfigur in den genannten Texten präsent ist, sobald ansteht, die Literaturgeschichte um die eigene,43 erzählerisch konstituierte Autorfigur zu ergänzen. Der autodiegetische Erzähler nutzt einzelne Erzählpassagen, um punktuell autobiografische Archivierungspraktiken zu reflektieren.44 So bleiben auch Goethes Manuskripte nicht vor »Küchenherd«, »Rauchqualm« und »Haupt-Autodafé« verschont, wie Schnitzler rettet er einzelne Texte.45 Statt sie einzuäschern, erWerk und Widerhall. Heinrich Schnitzler und Therese Nickl edierten den Text unter dem Titel Jugend in Wien. Eine Autobiographie. 42 Lutz, Autodafé, S. 30. 43 Weiterführend ist in diesem Zusammenhang, dass Goethe in einem Brief an seinen Verleger Cotta sein autobiografisches Projekt ausdrücklich mit zukünftigen Literaturgeschichten zusammenbringt. So schreibt er am 16. November 1810: »Ich bin genötigt in die Welt- und Literaturgeschichte zurück zu gehen, und sehe mich selbst zum erstenmal in den Verhältnissen, die auf mich gewirkt und auf die ich gewirkt habe; und dies gibt zu sonderbaren Reflexionen Anlaß« (Johann Wolfgang von Goethe an Johann Friedrich Cotta, 16. November 1810, FA, II. Abt, Bd. 6, S. 617). Sina legt dar, dass »Goethes Nachlasspraktiken […], […] in mehreren Dokumenten festgehalten sind und im Kontext eines umfassenden, vielschichtigen Selbsthistorisierungsprojekts gesehen werden müssen (hierzu gehören u. a. auch die Arbeit an verschiedenen autobiographischen Texten, die Planungen zur Werkausgabe letzter Hand, die Edition des Briefwechsels mit Schiller)« (vgl. Sina, Kafkas Nachlassbewusstsein, S. 233). Vgl. zur kulturpolitischen Bedeutung einer ›Ausgabe letzter Hand‹ exemplarisch: Plachta, Goethe über das »lästige Geschäft« des Editors, S. 230 f., 237. 44 Müller hebt hervor, dass Goethe »durch die Mischung von Überlieferung und Vernichtung [definierte, was zu seiner Autorschaft gehörte]« (Müller, Weiße Magie, S. 285). Einen Platz finden Goethes Nachlassstrategien auch in Alexander M. Fischers Studie Posierende Poeten: »Es ist sicherlich nicht allzu gewagt, Goethe als einen der großen Meister der Selbstinszenierung vor 1900 zu bezeichnen, der als einer der ersten sein Leben konsequent zum Kunstwerk gestaltet« (Fischer, Posierende Poeten, S. 570). Zanetti legt dar, dass Goethe mit seiner ›Ausgabe letzter Hand‹ und Archivmitgründung »bereits zu Lebzeiten zum Verwalter seines eigenen Nachruhms geworden [ist]. [Er hat] […] zudem dafür gesorgt, daß ein ganzer Stab von Mitarbeitern das Unternehmen ›Goethe‹ gedeihen ließ« (Zanetti, Sich selbst historisch werden, S. 90). Vgl. zum Zusammenhang von ›Autobiografie‹ und ›Autorschaft‹: Stüssel, Autorschaft und Autobiographik im kultur- und mediengeschichtlichen Wandel. 45 Vgl. hierzu: Atze, »… und kaum blieb etwas verschont.«, S. 94. Wie streng Goethe seinen Nachlass formierte, erläutert Wollkopf (vgl. Wollkopf, Nachlaß, S. 744). Vgl. hierzu auch: Müller, Weiße Magie, S. 284. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre eine parallel gestaltete Erzählpassage zu finden ist. So wird Wilhelm archivarisch tätig, um seine Berufsentscheidung endgültig zu besiegeln. Die Passage legt den Schluss nahe, dass Wilhelm, indem er
18
archivierung oder kassation ?
hebt er sie zu archivwürdigen Manuskripten.46 Kassationsereignisse sowie reflektierte Nachlassordnungen tauchen wiederholt in seinen Lebenserzählungen auf – wie etwa in der folgenden Textpassage, wenn der Erzähler retrospektiv seine frühen archivarischen Praktiken wiedergibt, seine »akademische Laufbahn« dabei als »geringschätzig« einstuft und mit diesen Praktiken seinen weiteren beruflichen Werdegang kathartisch vorbereitet: Eine andere, etwas menschlichere und […] nützlichere Beschäftigung war, daß ich die Briefe durchsah, welche ich von Leipzig aus nach Hause geschrieben hatte. Nichts gibt uns mehr Aufschluß über uns selbst, als wenn wir das, was vor einigen Jahren von uns ausgegangen ist, wieder vor uns sehen, so daß wir uns selbst nunmehr als Gegenstand betrachten können. Allein freilich war ich damals noch zu jung und die Epoche noch zu nahe, welche durch diese Papiere dargestellt ward. Überhaupt, da man in jungen Jahren einen gewissen selbstgefälligen Dünkel nicht leicht ablegt; so äußert sich dieser besonders darin, daß man sich im kurz Vorhergegangenen verachtet: denn indem man freilich von Stufe zu Stufe gewahr wird, daß dasjenige was man an sich so wie an andern für gut und vortrefflich achtet, nicht Stich hält; so glaubt man über diese Verlegenheit am besten hinauszukommen, wenn man das selbst wegwirft, was man nicht retten kann. So ging es auch mir. […] Auch waren mir die Gedichte, die ich in Leipzig verfaßt hatte, schon zu gering […]. Dieses bewog mich, […] wieder ein großes Haupt-Autodafé über meine Arbeiten zu verhängen. Mehrere angefangene Stücke, […] nebst vielen anderen Gedichten, Briefen und Papieren wurden dem Feuer übergeben, und kaum blieb etwas verschont.47
sich in diesem Moment gegen den Beruf des Schriftstellers entscheidet, kein Archiv mehr benötigt. Die Gründung eines Privatarchivs erweist sich als eine zentrale Tätigkeit, die den Beruf des Schriftstellers auszeichnet. Vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, FA, I. Abt, Bd. 9, S. 80. Vgl. hierzu auch: Jean Paul, Selberlebens beschreibung, Bd. 6, S. 1058; Jean Paul, Briefe und bevorstehender Lebenslauf; Benne, Die Erfindung des Manuskripts, S. 516-520. Vgl. zu Entscheidungsszenarien in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre: Riedl, Am Scheideweg. 46 Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt, Bd. 14, S. 282, 381. Vgl. zum ›Autodafé als Werkentscheidung‹ in Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 178-180. Untersuchungsgegenstand bleibt für Wagner-Egelhaaf ausschließlich der edierte Text. Eine textgenetische Perspektive fehlt. 47 Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt, Bd. 14, S. 376, 381. Lediglich die Manuskripte, die potenziell Lessings »unerreichbares Muster, wie ein Drama zu exponieren sei«, darbieten, werden verschont und archiviert (ebd., S. 381 f.).
19
archivierung oder kassation ?
Eine archivarisch gemünzte »Autopsie des Materials« wird förmlich ins Werk gesetzt.48 Autodiegetische Erzähler entwickeln signifikante Wert urteile zu einer wirkmächtigen Nachlasserzählung, in der ein zaudernd abwägendes ›Entweder – Oder‹ kaum aufglimmt. Goethe formuliert, so Lothar Müller, »die Gleichrangigkeit von Arbeit am Werk und Arbeit am Nach laß«.49 Hier ist hervorzuheben, dass in den autobiografischen Passagen Autorschaft konsequent als ›Werkherrschaft‹, aber auch als ›Archiv herrschaft‹ inszeniert wird.50 Goethe erkennt das spektakuläre, ökonomische Potenzial einer Kassationserzählung, lagert erzähllogisch bündig eine beobachtete Kassationsanekdote seinen autobiografischen Kassations erzählungen vor und motiviert diese ›final‹ sowie ›kompositorisch‹:51 Wir mußten Zeugen von verschiedenen Exekutionen sein, und es ist wohl wert zu gedenken, daß ich auch bei Verbrennung eines Buchs gegenwärtig gewesen bin. Es war der Verlag eines französischen komischen Romans, der zwar den Staat, aber nicht Religion und Sitten schonte. Es hatte wirklich etwas Fürchterliches, eine Strafe an einem leblosen Wesen ausgeübt zusehen. Die Ballen platzten im Feuer, und wurden durch Ofengabeln auseinander geschürt und mit den Flammen mehr in Berührung gebracht. Es dauerte nicht lange, so flogen die angebrannten Blätter in der Luft herum, und die Menge haschte begierig darnach. Auch ruhten wir nicht, bis wir ein Exemplar auftrieben, und es waren nicht wenige die sich das verbotne Vergnügen gleichfalls zu verschaffen wußten. Ja, wenn es dem Autor um Publizität zu tun war, so hätte er selbst nicht besser dafür sorgen können.52 Das 19. Jahrhundert ist nicht ausschließlich ein Jahrhundert des Sammelns und Archivierens, es ist gleicherweise ein Jahrhundert des Kassierens.53 48 Bülow, Papierarbeiter, S. 17. 49 Müller, Weiße Magie, S. 283. Vgl. zur Nachlassgestaltung exemplarisch: Raulff, Nachlass und Nachleben, S. 21. 50 Vgl. Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. 51 Matías Martínez und Michael Scheffel zufolge kann eine Erzählung ›final‹, ›kausal‹ und/oder ›kompositorisch‹ motiviert sein (vgl. Martínez und Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 114-117). Vgl. zum ökonomischen Potenzial von Vor- und Nachlässen: Kastberger, Nachlassbewusstsein. Vorlass-Chaos und die Gesetze des Archivs, S. 413. 52 Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt, Bd. 14, S. 166. 53 Kassationspraktiken kommen hingegen in Forschungsüberblicken selten oder gar ungern zur Sprache, beliebt ist es demgegenüber, ausgiebige Sammelpraktiken zu schildern. So erläutert Steinfeld exemplarisch: »Nichts sollte mehr verloren gehen, wenigstens nichts Wichtiges und vor allem kein Zeugnis vergangener künstlerischer Größe. Und es kam auch nichts mehr abhanden, zuerst die Werke vergangener
20
archivierung oder kassation ?
Ulrich Raulff differenziert zwischen Gestaltung und Vernichtung und formuliert die Leitformel: »Wer seinen Nachlass vernichtet, entzieht sich dem Blick der Nachwelt, wer von ihr erkannt werden will, formt und gestaltet ihn«.54 Die vorgelegten Textpassagen illustrieren deutlich, dass die eifrigen Kassationsentschlüsse und -erzählungen eine publikumswirksame Praxisformation darstellen, die den eigenen Nachlass als autobiografieund nachweltfähig manifestieren. Gemeinsam garantieren sie eine gesteigerte Aufmerksamkeit für gestalterische Nachlassformationen. Carlos Spoerhase und Caspar Hirschi legen dar, dass »Bücherverbrennung […] gemeinhin als Akt von Barbaren und Biblioklasten, Zensoren und Inquisitoren [gilt]«. Sie dokumentieren in ihrer Studie eine konventionelle, un zureichende Zuschreibungspraxis,55 denn erst mit der Industrialisierung ten nicht und dann auch nicht die Briefe und Aufzeichnungen der Zeitgenossen, und bald fanden auch ihre Federkiele und Schreibmaschinen, ihre Weinrechnungen, Wettermäntel und Wäscheklammern den Weg nicht nur ins Archiv, sondern auch ins Buch. Die Verbuchung war und ist auch heute noch das privilegierte Medium im Widerstand gegen das Verschwinden« (Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter, S. 40 f.). Vgl. auch: Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste, S. 14-16. Besonders das 19. Jahrhundert wird als Jahrhundert des ›Archivierens‹ und ›Sammelns‹ konzipiert. Vgl. hierzu exemplarisch: Bülow, Papierarbeiter, S. 14; Zanetti, Einleitung, S. 13; Lepper, Philologie zur Einführung, S. 74. Jürgen Osterhammel leitet mit diesem Narrativ seinen Absatz »Archive« ein: »Keinem früheren Jahrhundert war das Archiv wichtiger als dem neunzehnten« (Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 32). Monika Rieger verweist demgegenüber auf Kassationspraktiken im 19. Jahrhundert: »Die[ ] Ordnung, in der sich die Objekte gegenseitig erhellen, täuscht darüber hinweg, dass das Archiv von einer strengen Hierarchie geprägt ist, die aus der Auswahl, aus dem Gegensatz zwischen den aufgehobenen – im Archiv anwesenden – und den weggeworfenen – den im Archiv abwesenden – Dingen entsteht. Während in jedem Archiv ersichtlich ist, welche Objekte vorhanden sind, ist es unmöglich festzustellen, was fehlt. Gleichzeitig sind meistens keine Gründe für die Anwesenheit bestimmter Dinge zu ermitteln, wie es auch keine augenfällige Begründung für die Abwesenheit anderer Dinge gibt. Darüber hinaus liegt das Fehlen mancher Dinge nicht nur darin begründet, daß sie von Anfang nicht als archivwürdig und bewahrenswert galten; seit dem 19. Jahrhundert ist das Aussondern und Vernichten von Archivbeständen, die sogenannte Kassation, Bestandteil archivarischer Alltagsarbeit. Dennoch sind die Kriterien und Wertmaßstäbe, die dabei gelten, eher selten dokumentiert und nachvollziehbar« (Rieger, Anarchie im Archiv, S. 255). Vgl. zum Verhältnis von ›Erinnern‹ und ›Vergessen‹: Neumann, Schreiben und Edieren, S. 187, 190. Vgl. auch Aleida Assmanns Überlegungen zu ›Erinnerung‹: Assmann, Erinnerungsräume, S. 344 f. 54 Raulff, Nachlass und Nachleben, S. 19 f. Vgl. hierzu auch: Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, S. 162. 55 Hirschi und Spoerhase, Kommerzielle Bücherzerstörung als ökonomische Praxis und literarisches Motiv, S. 1. Mona Körte und Cornelia Ortlieb legen dar, dass die »Geschichte der verbrannten Bücher, nicht nur die Geschichte der Zensur bestätigt oder ergänzt, sondern andere Implikationen und vernachlässigte Aspekte des
21
archivierung oder kassation ?
sei ein vormals öffentlicher Prozess privatisiert und tabuisiert worden.56 Marcel Atze widmet sich genau diesen Gesten und schreibt ihnen in seiner Studie Autoren als Zerstörer eigener Texte eine lebenslauf- und werk konstitutive Funktion zu.57 Mit den Fallbeispielen wird ersichtlich, dass archivarische Praktiken nicht allein als autoritative Kassationserzählung in der Autodiegese aufscheinen, sondern bewahrte Archivalien kuratiert werden, um das gestalterische Potenzial einer Entscheidung vorzustellen.58 Des Weiteren bilden Autobiografien nicht den alleinigen oder bevorzugten Schauplatz für erzählte Kassations- und Archivierungssequenzen: Sie begleiten Entscheidens prozesse genreübergreifend. Höchstwahrscheinlich ließen sich auch exemplarische Fallbeispiele vor Beginn des 19. Jahrhunderts finden.59 Die referentiellen Signale innerhalb des autobiografischen Erzähltextes schreiben der Lebensgeschichte einen zeitdokumentarischen Legitimationswert zu: Das erzählte ›Leben‹ ist mit all seinen Papierbündeln archiv würdig und -reif.60 Mit autobiografischen Archivierungspraktiken lässt sich nomens ›Büchervernichtungen‹ in ihrer Ambivalenz aufnimmt, […] noch ungeschrieben [ist]« (Körte und Ortlieb, Verbergen – Überschreiben – Zerreißen, S. 20). 56 Vgl. Hirschi und Spoerhase, Kommerzielle Bücherzerstörung als ökonomische Praxis und literarisches Motiv, S. 1. 57 Vgl. Atze, »… und kaum blieb etwas verschont.«. Wirth diskutiert Kassationsentscheidungen, wenn er nach »Praktiken und Konzepten« fragt, »die aus makuliertem Papierabfall nicht nur neues Papier, sondern neue Texte entstehen« lassen. Er betont ebenfalls die erzählkonstitutive Wechselbeziehung zwischen faktualen und fiktionalen Archivalien (Wirth, (Papier-)Müll und Literatur, S. 22). Sandro Zanetti erläutert, wie notwendig es sei, »Veröffentlichungs-, Hinterlassungs- und Vernichtungs gesten« verstärkt zu untersuchen. Es seien jene Gesten, die »Wahrnehmbarkeit, Hörbarkeit und Lesbarkeit eines Werkes befördern oder verhindern«. Er hält ferner fest, dass sie keinesfalls auf eine alleinige Urheberin reduziert werden könnten. Zanetti, Avantgardismus der Greise?, S. 17. Vgl. hierzu auch den geschichtswissenschaftlichen Sammelband: Goeing, Grafton und Michel, Collectors’ Knowledge. 58 Dies gilt nicht ausschließlich für Schriftsteller: Die autodiegetische Erzählerin Käthe Kruse betont in ihrer Autobiografie, wie bedeutend eigene Archivalien für ihre Lebenserzählungen seien. Auch dort wird hervorgehoben, dass auto biografische Projekte häufig auf archivarische, kuratorische und selektive Entscheidenspraktiken zurückgehen und dass dies nicht allein für Schriftstellerinnen gilt (Kruse, Ich und meine Puppen, S. 46 f.). 59 Eine solche Untersuchung muss aber einer anderen Gelegenheit vorbehalten werden. 60 Ein aussagekräftiges Beispiel findet sich auch in Carl Zuckmayers Als wär’s ein Stück von mir. Ebendort wird erinnert, wie Alice Zuckmayer als Archivarin und Nachlassverwalterin agiert, dementsprechend Entscheidungsressourcen verwahrt, die in der Autobiografie späterhin einer exklusiven Erstpublikation dienen (Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 236). Vgl. zum Ausdruck ›Entscheidungsressource‹ exemplarisch: Pfister, Einleitung, S. 25 f. Jörg Schuster zeigt, wie in
22
archivierung oder kassation ?
die virulente Beziehung zwischen Fakt und Fiktion nachverfolgen, insofern faktuale Archivalien in die Diegese eingehen, diese für die Diegese entworfen werden oder ihr Status nicht zu bestimmen ist.61 Der heuristische Mehrwert einer solchen Verhältnisbestimmung zeigt sich, wenn Johannes Franzen erläutert, dass, sobald ein »Text als ›fiktional‹ markiert« werde, der Autor »die Möglichkeit bestimmter Konzessionen in der Darstellung« erwerbe. Anders formuliert: »Der Verfasser eines fiktionalen Textes ›darf‹ mehr als der Verfasser eines faktualen Textes«.62 Mit Schnitzlers Auto biografie und literarischem Nachlass zeigt sich allerdings, dass eine eindeutige Markierung mitunter nicht ermittelt werden kann und die faktuale Darstellungserlaubnis mithilfe einer Sperrfrist erwirkt wird.63 Da autobiografische Projekte einen »referentiell-fiktionale[n] Doppelcharakter« aufweisen, sei es notwendig, so Hartmut Vinçon, die präsentierten Texttypen zu differenzieren; dabei bezieht er sich dezidiert auf Literaten Harry Graf Kesslers Gesichter und Zeiten primär private Archivalien und Intertexte zitiert werden. Laut Schuster besitzen diese Einschübe die Funktion, Evidenz herzustellen und dienen als ›authentischer Beleg‹. Archivarische, kuratorische und entscheidungsförmige Funktionen berücksichtigt Schuster dabei nicht (Schuster, Der Autobiograph als Herausgeber, S. 321). 61 Vgl. zur Beziehung zwischen ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ exemplarisch die folgende Auswahl: Fludernik, Falkenhayner und Steiner, Einleitung; Fludernik, Narrato logische Probleme des faktualen Erzählens; Rüggemeier, Die relationale Auto biographie, S. 7; Vismann, Akten, S. 9; Hoffmann, Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890-1923 (Originalbeitrag 1980), S. 507; Holdenried, Im Spiegel ein anderer, S. 5 f., 59-66, 98. Gröbert erklärt, dass der faktuale Redegestus in Autobiografien ein enormes analytisches Potenzial für literaturwissenschaftliche Studien berge, denn indem autobiografische Fakten falsifiziert oder verifiziert werden könnten, ließen sich erst »ästhetische[ ] Verfahren nachvollziehen« (Görbert, Selbsterzählungen in Gedichtform, S. 40). Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass eine Liaison zwischen ›Autobiografie‹ und ›Schlüsselroman‹ besteht. Für Autobiografien gilt gleichfalls das, was Johannes Franzen für Schlüsselromane bestimmt: Sie »bewegen sich in der literarischen Halbwelt zwischen Fiktionalität und Faktualität« (Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 12). Frank Zipfel legt in seinem viel zitierten Aufsatz dar, dass es »kaum möglich [erscheint], einen Text durch gehend sowohl nach dem referentiellen Pakt wie auch nach dem Fiktions-Pakt zu lesen«. Der kontinuierliche Paktwechsel mache »auf die Spezifik der beiden Pakte aufmerksam« (Zipfel, Autofiktion, S. 306). 62 Franzen, Ein ›Recht auf Rücksichtslosigkeit‹, S. 35. Hierzu zählt Franzen »epistemologische[ ] Lizenzen«, »ästhetische[ ] Lizenzen« und »moralische[ ] Lizenzen« (ebd., S. 35, 41). 63 Feitscher hält fest, dass »[e]s […] verfehlt [wäre], eine Autobiographie bzw. eine autobiographische Erzählung als unbezweifelbare Darstellung einer historischen Realität zu verstehen« (Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 92). Ebenso verfehlt scheint es, ein distinktes ›Entweder – Oder‹ zu veranschlagen.
23
archivierung oder kassation ?
autobiografien der Jahrhundertwende.64 Die Fallbeispiele konturieren die Hürden, die mit solchen Ansprüchen einhergehen, zumal die autobio grafischen Zeugnisse innerhalb des Erzähltextes eine derartige Typisierung fordern, fördern und nicht selten unmöglich machen. Für Vinçon ist es entscheidend, den Status der jeweiligen Zeugnisse ausfindig zu m achen, um auszuloten, inwieweit diese für etwaige Kommentare historisch-kritischer Werkausgaben hilfreich sein könnten. Dies stelle eine außerordentliche Dringlichkeit dar, da zahlreiche Editionen autobiografischer Schriften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bislang kaum kommentiert seien.65 Der Status erweist sich mitunter als klärungsbedürftig, da einige Manuskripte in autobiografischen Erzähltexten tatsächlich erstmalig publiziert werden und ein intertextuelles Netzwerk abbilden, das sich nicht in verfügbaren Editionen erschöpft und so angelegt ist, dass Archivbestände mit berücksichtigt werden müssen.66 Wird eine Autobiografie veröffentlicht, bedeutet dies eine doppelte Premiere, denn nicht allein der autobiografische Text wird publiziert, auch bis dahin ›private‹, unpublizierte Archivalien liegen fortan einem Lesepublikum vor. Dies führt unmittelbar zur Frage, ob primär bei lebenslaufkonstitutiven Entscheidensprozessen werk genetische sowie archivarische Praktiken präsentiert werden, um die epochenkonstitutive Qualität des schriftstellerischen Nachlasses auszustellen. Unzweifelhaft haben die hier vorgestellten Autobiografien den Charakter einer Literaturchronik, da nicht allein die eigene Biografie in Form gebracht wird, sondern auch die prominenter Weggefährtinnen. Überdies versuchen die Schriftsteller, ihre eigene Position zu namhaften, historischen Persönlichkeiten im ›literarischen Feld‹ zu bestimmen. Indem aufsehenerregende Archivalien zitiert werden, appelliert die autodiege tische Erzählerin an zukünftige Biografinnen oder Literaturgeschichts schreiber,67 die in der Autobiografie vorgestellte, entworfene Autorfigur 64 Vinçon, ›Jahrhundertwende‹, S. 249. 65 Ebd., S. 250. 66 Vgl. zu Netzwerkstrukturen in Archiven: Foucault, L’›a priori‹ historique et l’archive, S. 139. 67 Bemerkenswert ist, dass die autodiegetischen Erzählerinnen mehrfach betonen, wie sie ihren eigenen Nachlass ordnen, wodurch etwaigen Biografen zugearbeitet wird. Die »Urszene des Biographieschreibens«, die Bernhard Fetz entwirft, wäre in diesem Kontext allenfalls ein abschreckendes Gegenbeispiel: »Der Biograph, die Biographin sitzt mit gebeugtem Rücken, denn die Dokumente sind schwer zu entziffern, über den nachgelassenen Schriften, Briefen und Lebensdokumenten des auserwählten Objekts. Er oder sie versucht, Ordnung in das sich darbietende Chaos zu bringen, zu sichten, zu rubrizieren, chronologische Ordnung herzustellen. […] Im Kampf mit dem überlieferten lebensgeschichtlichen Material entsteht die
24
archivierung oder kassation ?
nicht zukünftigem Vergessen anheimzustellen, sondern in das Figuren repertoire einer Literaturgeschichte aufzunehmen. Und was ließe sich besser vermarkten als Entscheidensprozesse, die ›offenlegen‹, wie es zu zentralen biografischen Wendepunkten kam?68 Die Autobiografie wird punktuell zum Guckloch ins Privatarchiv. Unabhängig vom autobiografischen Erzähltext belegen existierende faktuale, fiktionale Schriftstücke den funktionalen Wert der Autobiografie als einer Gattung, die mit ihrer fakto- sowie fiktografischen Dimension nachlassstrategische Publikationsvorhaben ermöglicht. Autobiografische Projekte bringen das individuelle Leben in eine intersubjektive Form und ermöglichen, einmal ediert,69 eine materiale,70 mediale Lektüreerfahrung.71 phie« (Fetz, Schreiben wie die Götter, S. 17). Alma-Elisa Kittner beschreibt Sammeln als auktoriale Praxis (vgl. Kittner, Visuelle Autobiographien, S. 14). 68 Vgl. zur dramatischen Dimension von Wendepunkten in Biografien: Blasberg, Biografie als Projekt, S. 64 f. Dies gilt besonders, sobald autobiografischen Projekten eine gewisse Ereignislosigkeit zugeschrieben wird. Hans-Martin Kruckis skizziert das »in jeder Künstler- oder Gelehrtenbiograhie auftretende[ ] Dilemma, daß ein solches Leben in der Regel äußerlich ereignislos verläuft« (Kruckis, Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert, S. 561). 69 Zum Verhältnis zwischen ›Archiv‹, ›Erschließung‹ und ›Edition‹ vgl: Chartier, Die Hand des Autors, S. 511; Nutt-Kofoth, Plachta, Vliet und Zwerschina, Text und Edition; König und Seifert, Literaturarchiv und Literaturforschung. 70 Verwiesen sei hier auf Per Röckens Ausführungen: »Es ist überdies wichtig, zu sehen dass ›Materialität‹ ein mehrstelliger Relationsausdruck ist, der zur Beschreibung der Eigenschaft (a) einer Sache (b) in einer bestimmten Hinsicht (c) dient« (Röcken, Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität?, S. 28). Wird in der vorliegenden Studie von Materialität gesprochen, ist damit zweierlei gemeint: Erstens die Materialität des Buches und die typografische Beschaffenheit des Textes. Zweitens die »Eigenschaft der ›Stofflichkeit‹«, die faktualen Archivalien zukommt und auf die zitierte Archivalien in der Autodiegese verweisen (ebd., S. 28). Zitierte Archivalien besitzen die Eigenschaft einer materialen Dimension, die sich anhand ihrer faktualen Präsenz in Archiven zeigt. Diese Interdependenz besitzt die Funktion, einen Vorund Nachlass sowie die Autorfigur zu konturieren, ferner einen zukünftigen Forschungsgegenstand zu etablieren. Zugleich soll einer Tendenz entgegengearbeitet werden, die Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski be obachten und der zufolge »die interpretatorische Praxis […] sich nach wie vor – allen Theoriebildungen zur Materialität und Medialität zum Trotz – weitgehend am Paradigma des immateriellen Textes [orientiert]« (Lukas, Nutt-Kofoth und Podewski, Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation, S. 1). Vgl. zum Begriff ›Materialität‹: Benne, Die Erfindung des Manuskripts, S. 45-153. Vgl. auch zu ›Entscheiden‹ und ›Materialität‹: Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 246. 71 Aufschlussreich ist Lukas, Nutt-Kofoths und Podewskis Feststellung: »Die materiale Erscheinungsform von Text ist durch das Medium, das ihn transportiert, ganz wesentlich bestimmt« (Lukas, Nutt-Kofoth und Podewski, Zur Bedeutung von
25
archivierung oder kassation ?
Die tatsächliche mediale sowie materiale Dimension zeigt sich jedoch erst angesichts einer Synopse der Archivalien, Fassungen und unterschiedlichen Ausgaben. Dieser editionspraktischen, produktionsästhetischen und epochenkonstitutiven Tatsache kommt in der theorieaffinen Autobiografieforschung bislang wenig Aufmerksamkeit zu.72 Die vorliegende Studie begegnet ausdrücklich dem Desiderat einer literaturwissenschaftlichen praxis orientierten Autobiografieforschung, der Dünne und Moser bereits mit dem Ausdruck »Automedialität« beikommen.73 Gemeinsam legen sie dar, dass dieser Ausdruck dabei helfe, »die Autobiographie nicht bloß als literarisches Genre, sondern als kulturelle und mediale Praxis zu begreifen«.74 Daran anschließend steht diese Studie für das Vorhaben, eine Analyse methode zu entwickeln, die gleichermaßen Praxis und Theorie auto biografischer Projekte berücksichtigt. Einen Anhaltspunkt zur praktischen Dimension autobiografischer Projekte stellt erklärtermaßen Vinçons Studie dar. In dieser skizziert er kontinuierlich, wie mit Manuskripten im Kontext autobiografischer Schreibprojekte umgegangen wird, dabei verweist er – lediglich in einer Fußnote – auch auf eine Kassationserzählung.75 Für Vinçon besteht die
Materialität und Medialität für Edition und Interpretation, S. 12). Umso erstaun licher, dass Dorothee Kimmich die Materialität als Untersuchungsgegenstand marginalisiert und folgert: »Mit Materiellem, Material oder auch Materialität hat die Literatur – und damit die Literaturwissenschaft eigentlich nichts zu tun«. Kimmich schreibt zudem, dass »[d]ie Konjunktur des Materiellen […] erstens mit der Literatur der Moderne zusammen[hängt] und zweitens mit dem cultural turn der Literaturwissenschhaft« (Kimmich, Literaturwissenschaft, S. 305). Nicht allein Mediävistinnen werden Kimmich in diesen Punkten widersprechen. Cornelia Ortlieb, Tobias Fuchs und Carlos Spoerhase sehen Kimmichs Position kritisch: Spoerhase, Das Format der Literatur, S. 34; Ortlieb und Fuchs, Schreiben, Büchermachen, Publizieren, S. 20. 72 Neumann betont, »einen Beitrag zur Theorie der Autobiographie« leisten zu wollen (Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 7). Vgl. auch: Holdenried, Im Spiegel ein anderer, S. 7; Rüggemeier, Die relationale Autobiographie; Volkening, Am Rand der Autobiographie. Dünne und Moser beklagen eine »Medienvergessenheit« in der Autobiografieforschung. Diese führe dazu, dass »die Mediengebundenheit der Autobiographie […] in literaturwissenschaftlichen Studien […] nur selten zum Gegenstand der Analyse gemacht [wird]« (Dünne und Moser, Allgemeine Einleitung, S. 7). Unberücksichtigt bleibe dabei, »dass die Identität des Subjekts wie auch der Zusammenhang seines Lebens sich erst im autobiographischen Schreibprozess konstituieren« (ebd., S. 8). 73 Ebd., S. 14. 74 Ebd. 75 Vgl. Vinçon, »Jahrhundertwende«, S. 254.
26
archivierung oder kassation ?
wissenschaftliche Aufgabe darin, die »poetische[ ] Funktion zu rekonstruieren«, die Handschriften zukomme, sobald sie in einen autobiografischen Erzähltext aufgenommen wurden.76 Eine solche Funktionsbestimmung verfolgt auch diese Studie. Dabei soll gezeigt werden, dass faktuale und fiktionale Manuskripte oder Intertexte primär dann in den Erzähltext eingefügt werden, wenn Entscheidensprozesse mithilfe einer synoptisch organisierten bricolage dargestellt werden. Die zitierten Passagen zeigen, dass Archivgenese, Werkgenese und Entscheidensprozesse in einem reziproken Verhältnis zueinanderstehen, daher nicht unabhängig voneinander zu analysieren sind. Mit erzählten Kassations- und Archivierungpraktiken schreiben Goethe, Ebner-Eschenbach, Lewald-Stahr, Heyse und Schnitzler – so der empirische Befund – präsentierten Manuskripten eine nachweltfähige, dokumentarische, literaturgeschichtliche wie auch ökonomische Wertigkeit zu. Von diesen Erzählungen profitieren relational auch institutionalisierte Archive. Sie skizzieren wie der literarische Nachlass geordnet und prozessual etabliert wird. Der ›Nachlass‹ existiert als fiktionale, punktuell referentielle Formation in der Autobiografie und als faktualer Bestand in privaten und öffentlichen Archiven.77 76 Ebd., S. 251, 257. 77 Die Tatsache, dass faktuale Archivalien in privaten wie öffentlichen Archiven stets einen selektiven, ordnenden und arrangierenden Prozess durchlaufen, bedingt die Präsentationsform der konstituierten, somit konstruierten Sammlung. Die dadurch entstandene neue Ordnung formiert neue Erzählungen. Mit den Bezeichnungen ›faktuale Archivalien‹ und ›faktualer Nachlass‹ wird dieser Kontext mit berücksichtigt. In der vorliegenden Studie hilft die Unterscheidung zwischen ›fiktionalen‹ und ›faktualen Archivalien und Nachlässen‹ dabei, in der Analyse kenntlich zu machen, dass in autobiografischen Projekten auf faktuale Archiv bestände rekurriert wird. Vgl. hierzu exemplarisch: Dallinger, Hofer und Judex, Archive für Literatur. Herbert Kopp-Oberstebrink erläutert, dass »vorgefundene Ordnungen des Nachlasses […] aufgelöst und durch neue Ordnungen, die dem Gesetz des Archivs folgen, ersetzt [werden]« (Kopp-Oberstebrink, Das Literatur archiv als Laboratorium der Kulturforschung, S. 135). Vgl. hierzu auch exem plarisch: Plachta, Editionswissenschaft, S. 66. Spoerhase hält zur ›Sammlungs ordnung‹ fest: Die Ordnung »kann eine kontingente, d. h. nicht durch die Sache selbst motivierte, nicht einem übergreifenden poetischen Plan geschuldete Ordnung sein, deren Zusammenhalt primär von dem Sammelwillen nahestehender Personen und der Materialität des buchförmigen Einbandes gestiftet wird. Die Sammlung des Zerstreuten restituiert keine einstmals vorliegende (und dann zeitweise verlorene) Ordnung, sie stellt auch keine ursprünglich intendierte (aber zunächst nicht realisierte) Ordnung erstmals her; sie bindet vielmehr das Disparate in der überlieferungstauglichen Buchform materiell zusammen, ohne dass der damit unvermeidlich vorgenommene ideelle Ordnungsvorschlag (d. h. die Auswahl
27
archivierung oder kassation ?
Demnach sind die hier vorgestellten autobiografischen Projekte das Ergebnis archivarischer, kuratorischer und editorischer Entscheidens prozesse. Als soziale Prozesse zeichnen sie sich durch eine kommunikative Dimension und raumzeitliche Konstellationen aus,78 nebstdem ebnen die vorgestellten selektiven Archivierungspraktiken zukünftigen auto biografischen Projekten den Weg. Das prozessuale Vorgehen lässt an Wilhelm Diltheys Definition autobiografischer Erinnerungsarbeit denken, denn dort notiert er: Der Autobiograf habe »aus der endlosen, wahllosen Vielheit […] eine Auswahl dessen […], was darstellungswürdig ist«, zu treffen.79 Die bisherigen Überlegungen legen nahe: Archivalien, die für den Autobiografen weder werk- noch lebenslaufkonstitutive Qualitäten be sitzen, verschwinden in Öfen oder gehen verloren. Die Ausführung der getroffenen Entscheidung wird mitunter externalisiert und bereitet zugleich einen neuen Entscheidensprozess vor.80 Als aussagekräftig darf gelten, dass nachlassrelevante Entscheidensprozesse durch den ›Rational Choice‹-Ansatz nicht angemessen beschrieben werden können.81 Vielmehr wird das Gefühl als Entscheidungsmaxime bestimmt, die mithin ein Urteilskraft involvierendes Abwägungsverfahren nahelegt. Entscheiden
und Anordnung des Gesammelten) definitiv wäre« (Spoerhase, Das Format der Literatur, S. 43). 78 Bernadette Rieder stellt anhand eines detaillierten Forschungsüberblicks die »Autobiographie als kommunikative Handlung« vor (Rieder, Unter Beweis, S. 85-89). Vgl. exemplarisch zur sozialen und prozessualen Dimension autobiografischer Projekte: Brockmeier, Beyond the Archive, S. 219-255. 79 Dilthey, Das Erleben und Selbstbiographie S. 200. Burckhard Dücker beschreibt »Literatur als Prozess Permanenter Evaluation« (Dücker, Einleitung, S. 10). 80 Lübbe zufolge werden Entscheidungen bevorzugt in Momenten externalisiert, die der Zweifel regiere (Vgl. Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 126). So bestimmt Franz Kafka bekanntermaßen brieflich Max Brod als entscheidungsbefugten Nachlassverwalter, wenn er testiert, alle bislang ungedruckten Texte »ausnahmslos zu verbrennen« (Franz Kafka an Max Brod, 29. November [1922], Bd. 2, S. 422). Kai Sina hat jüngst dargelegt, wie Kafkas Verfügungen exemplarisch ein sich entwickelndes ›Nachlassbewusstsein‹ dokumentieren (vgl. Sina, Kafkas Nachlass bewusstsein). 81 Somit wird der Rahmen für eine Entscheidung explizit gesetzt. Gemäß Pfister handelt es sich bei einem Kalkül nicht um eine Entscheidung: »Die kontingente Natur der Selektion unter Alternativen impliziert, dass zu einem gegebenen Problem auf der Grundlage von Kalkül oder der Kombination von Normen ab geleitete Schlüsse keine Entscheidungen darstellen« (vgl. Pfister, Einleitung, S. 14; Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 223).
28
archivierung oder kassation ?
erweist sich als eine netzwerkbildende Kommunikationstechnik, die Entscheidungsressourcen kontinuierlich generiert.82 In erzählten Entscheidensprozessen steht mit dem zitierten Manuskript der zuvor intime Schreibakt fortan im Vordergrund.83 Sobald ein Entscheidensbedarf aufleuchtet, werden Schreibutensilien zu entscheidungsnotwendigen Werkzeugen und »die Geste des Schreibens selbst«,84 »das […] Moment des Skripturalen« zum Topos.85 Autobiografische Entscheidensprozesse legen luzide dar, dass Entscheidungen getroffen wurden, nachdem schriftlich oder lektürebasiert Alternativen abgewogen worden
82 Böhme bestimmt ›Netzwerke‹ folgendermaßen: »Netze beruhen durchweg auf einfachen Prinzipien, auf Ökonomie und Simplizität; sie weisen klare Funk tionsziele auf; sie beruhen auf einfachen Bauformen; sie verfügen über hervor ragende Fähigkeiten zur Serialität, Variation, Hybridität, haben also sowohl hohe Potentiale zur Selbststabilisierung wie zur Adaption an veränderte Bedingungen. Netze arbeiten evolutionär, d. h. sie differenzieren sich aus, und sie sind selbst bezüglich. Dadurch sind sie gewissermaßen lernfähig, ununterbrochen entwickeln sie neue Beziehungen und Differenzen, Knoten und Relais. Sie verarbeiten Fehler, Störungen, Krisen, Katastrophen. Und dabei emergieren sie eine dynamische Identität, die nicht aus einer Reihe fixierter Elemente und Entitäten besteht, sondern aus der Gesamtheit autopoietischer Verfahren und flows« (Böhme, Einführung, S. 23). 83 Fischer unterscheidet in seiner Studie zwischen ›Fremdinszenierung‹ und ›Selbst inszenierung‹. Für autobiografische Texte sind Fischers Ausführungen zur ›im pliziten Selbstinszenierung‹ hilfreich: »Implizit autorisiert wären etwa die foto grafische Dokumentation eines Schriftsteller-Auftritts, die durch die abgebildete Person des Autors und ihr Äußeres autorisiert erscheint, wie auch etwa im Rahmen von Tagebuchaufzeichnungen überlieferte Berichte über auktoriale Auftritte oder Verhaltensweisen, die im weitesten Sinn als beglaubigt gelten können, also von anderen Quellen bestätigt werden« (Fischer, Posierende Poeten, S. 551). 84 Wirth legt dar, dass seit dem 18. Jahrhundert die Geste des Schreibens und auch der Herausgebertätigkeiten zu textkonstitutiven Erzählbausteinen avancieren (Wirth, Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 21 f.). 85 Stingelin, »Unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«, S. 290. ›Schreiben‹ ist in dieser Arbeit ein Kollektivsingular, der verschiedene Praktiken bündelt und sich nicht auf einen kognitiven Akt reduzieren lässt. Vgl. hierzu auch: ebd., S. 283-288. Zanetti bestimmt ›Schreibakte‹ treffend: »Schreibakte sind jedoch nicht nur Aufzeichnungsakte. Es sind auch Akte, in denen Erinnerungen, Erfahrungen und Wissensbestände produziert, artikuliert und organisiert werden« (Zanetti, Einleitung, S. 7). Wieland betont, dass »Schreiben […] nicht nur reine zeichenspezifische Textverarbeitung [ist], sondern mitunter eben auch physi sches Paperwork« (Wieland, Paper works!, S. 30). Vgl. ebenfalls: Günther und Ludwig, Schrift und Schriftlichkeit; Krings, Schwarze Spuren auf weißem Grund, S. 47.
29
archivierung oder kassation ?
sind.86 Hilfreich sind diesbezüglich Ulrich Pfisters Ausführungen zu Entscheidungsressourcen: Generell dienen sie dazu, Handlungsalternativen zu erzeugen, zu bewerten und eine Option zu selegieren. […] Die beim Entscheiden zum Einsatz gebrachten Ressourcen existieren nicht einfach. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um materielle und immaterielle Bestände, die Akteure im Zusammenhang mit der Entwicklung bestimmter institutioneller Formen des Entscheidens und deren Vollzug als Teil ihres praktischen Sinns zu Ressourcen machen und als solche sich aneignen.87 Es formiert sich förmlich eine Entscheidensanleitung, der zufolge Schreibtechniken, Schreibutensilien,88 aufbewahrte Manuskripte und fiktionale Texte ein »kulturkonstituierend[es]« survival kit angesichts eines Dilemmas darstellen.89 Anders gewendet: Entscheidensprozesse werden in Autobiografien bevorzugt als schriftgebundene Praktiken erzählt. Diesem Arrangement kommt Cornelia Vismanns Feststellung entgegen, dass »idealtypische[ ] […] Entscheidungssituationen […] sesshaft gemachte Prozeduren [sind]«.90 In ihrem heuristischen Situationsentwurf verfügten Entscheiderinnen über einen ruhigen Rückzugsraum sowie ausreichend Zeit, sodass sich eine »mit Bedacht« gefällte Entscheidung entwickeln könne.91 Obschon die hier vorgestellten Autobiografen ihre entscheidenskonstitutiven Schreibsituationen in intimen Kommunikationsräumen verorten, einen entschei densbedingten Schreibtischaufenthalt vergegenwärtigen, obsiegt keinesfalls das rationale Kalkül. Anschlussfähig sind hier Thomas Fuchs’ 86 Die autodiegetische Erzählerin Lewald-Stahr profiliert kanonisierte, literarische Texte als bedeutende Entscheidungsressource. Gemäß Lewald-Stahr sichert die private Lektüre Frauen eine umfassende Bildung. Autodidaktischen Leserinnen sei es möglich, sich aus einer repressiven Unmündigkeit zu befreien. Dies stellt Lewald-Stahr konsequent, repetitiv aus, wenn in kritischen Entscheidungssituationen ausgewählte Höhenkammliteratur zur entscheidenden Ressource wird. Vgl. zum Archivwert schriftstellerischer Nachlässe: Willer, Die Schreibszene des Nachlasses bei Goethe und Musil, S. 68. 87 Pfister, Einleitung, S. 25 f. 88 Vgl. hierzu exemplarisch: Ortlieb und Fuchs, Schreibkunst und Buchmacherei; Zanetti, Schreiben als Kulturtechnik. Franz Thalmair charakterisiert das ›Buch‹ als »prozessorientierte[s] Werkzeug« (Thalmair, publish, S. 44.). 89 Zanetti, Einleitung, S. 31. 90 Vismann, Das Drama des Entscheidens, S. 91. 91 Ebd. Den idealtypischen Entscheidungsmoment skizziert Vismann folgender maßen: »Bevor jemand eine Entscheidung trifft, nimmt er zumeist Platz, setzt sich, denkt nach und entscheidet dann« (ebd.).
30
archivierung oder kassation ?
Beobachtungen, dass krisenhaften Entscheidensprozessen »eine Stockung, ein Moratorium« zukommt. Diese Beobachtung erweitert er um »die Etymologie des arabischen Wortes für ›entscheiden‹, nämlich: ›aus dem Zustand der Wanderung und Unstetigkeit in den der Sesshaftigkeit übergehen‹«.92 In den Autobiografien wird besonders die sesshafte Schreibpraxis figuriert, wenn Szenen des Brief- oder Tagebuchschreibens wachgerufen werden, die sich in Privaträumen an stationären Schreiborten vollziehen und intime Kommunikationsräume für ein Lesepublikum öffnen. Ausgewählte Passagen werden hierfür dem Privatarchiv entnommen und im Erzähltext eindrucksvoll aufbereitet. Wenn selbstarchivierte faktuale oder fiktionale Manuskripte in den autobiografischen Text integriert werden, zeigt dies nicht lediglich die werkstrategische und editionserprobte Handhabung des eigenen faktualen wie fiktionalen Materials. Vielmehr wird vorgestellt, dass autobiografische Praktiken aus archivarischen Verfahren hervorgehen und diese reziprok auch bedingen. Unweigerlich stehen autobiografische Projekte für die Möglichkeit, das eigene Leben in eine literarische Form zu bringen, auf eine gewisse Seitenanzahl zu begrenzen und zwischen zwei Buchdeckel zu bannen. Wird das autobiografische Projekt – wie bei Fanny Lewald-Stahr und Paul Heyse – um weitere Bände ergänzt, zeigt dies an, dass fortwährend der einstmals gesetzte Rahmen gesprengt werden muss, da ›Leben und Werk‹ reich an Material sind. Diese Deutung legt zumindest eine solche Inszenierungslogik nahe. Hervorzuheben ist, dass autobiografische Texte eine Formenvielfalt aufweisen und zuhauf offenkundig ausstellen, wie sich der lebensgeschichtliche Text zusammensetzt. Die autobiografische Formation komplexer Entscheidensprozesse kartografiert Kontexte, die wuchernde Entscheidenselemente ordnen. Anhand dieser kartografierten Kontexte wird der Lebensverlauf nachvollziehbar und als geleistete Rekonstruktionsarbeit fassbar. 92 Fuchs, Was heißt »sich entscheiden«?, S. 107. Fuchs referiert Thomae und dieser zitiert Hartungs Studie, die nicht veröffentlicht vorliegt: »Eine eingehende ver gleichende Etymologie legte Hartung vor. Herangezogen wurden von ihm die Ursprünge der Bezeichnungen für ›Entscheidung‹ in den wichtigsten indogermanischen und in einigen semitischen Sprachen sowie im Chinesischen. […] So verschieden aber die Bilder sind, mit denen die verschiedenen Sprachen ursprünglich das Geschehen in der Entscheidung umschreiben, so gemeinsam scheint doch der Bezugspunkt dieser Bilder zu sein: eine multivalente Situation, vor der man seine Kräfte zusammennimmt, aus der heraus man einen neuen Stand gewinnt, die man wägt, in der man eine neue Ordnung zu finden trachtet usf.« (Thomae, Der Mensch in der Entscheidung, S. 16 f.).
31
archivierung oder kassation ?
Ein beginnender Entscheidensprozess bedeutet, dass das Figuren repertoire positioniert wird, sodass Verantwortlichkeiten verteilt werden können. Zitierten Archivalien kommt dabei eine ›referentielle‹ Legitimationsfunktion zu. (1) Die Entscheidungsverantwortung wird mit diesem Zitationsverfahren letztgültig ›dokumentarisch‹ abgesichert, (2) an aus gewählte Figuren delegiert und (3) vergangene Handlungsverläufe werden illustrativ vergegenwärtigt.93 Hilfreich ist hier Martin Bez’ Feststellung, dass »[m]it dem Begriff des Archivs […] im zeitgenössischen Kontext um 1800 hauptsächlich die Frage nach der Glaubwürdigkeit [korreliert]«. Er resümiert: »Was aus einem Archiv stammt, hat Autorität und kann sogar vor Gericht bestehen«.94 Bei seiner Ausführung bezieht sich Bez maßgeblich auf die Archivdefinition aus Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigem Universallexikon:95 Schrifften und Brieffschafften, die aus einem öffentlichen Archiv genommen werden, […] verdienen völligen Glauben. […] Gewiß ist es, daß man denen Privat-Scripturen und Registern, welche in dem Archiv angetroffen werden, auch bei dem Kayserlichen Camer-Gericht Glauben zustellet. […] Archiv heißt ein Behältniß von Sachen und Brieffschafften, welchen man, des Ortes halben, Glauben beyzulegen. […] Wer also ein recht oder Amt hat, dem man trauen und glauben solle, (persona publicæ fidei) der kann auch dem Ort, wo er seine Papiere hinleget, dergleichen Glauben machen. Weil aber die blosse Richter oder einzelne Menschen ihre Papiere, wo sie wollen, verwahren; so wird ihnen dieses Wort billig verweigert. […] Zu bedauern ist es, daß insgemein die Archiven wie ein vergrabener Schatz verborgen liegen: weil entweder der Herr mißtrauisch, oder die Archivarii faul sind.96 Für die Textanalysen ist entscheidend, dass Archivalien in einen gericht lichen, referentiellen Kontext gestellt werden, der einer möglichen ›Wahr93 Die autodiegetische Erzählerin führt – trotz externalisierter Entscheidung – weiterhin die Regie des erzählten Entscheidensprozesses, mit dem der erzählten Figur Handlungsalternativen offeriert werden. Hinzu kommt, dass Friedrich zufolge Archive ursprünglich gerade für Zwecke der Diplomatik und Rechtsstreitigkeiten eingerichtet wurden (vgl. Friedrich, Die Geburt des Archivs, S. 51-87, 203-205). 94 Bez, Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, S. 23. Fetz stellt ›Archiv‹ und ›Er innerung‹ in eine relative Beziehung: »Die lebendige Erinnerung kann verfälschend sein, das Archiv kann die Korrektur enthalten – oder auch umgekehrt; die Legenden und Anekdoten können dem ›Leben‹ näher kommen als die dürren Fakten« (Fetz, Schreiben wie die Götter, S. 18). 95 Vgl. Bez, Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, S. 23-26. 96 Zedler, Archiv.
32
archivierung oder kassation ?
heitsfindung‹ innerhalb eines Entscheidensprozesses gewidmet ist.97 Bemerkenswert für alle Fallbeispiele ist, dass Johann Heinrich Zedler »Brieffschafften« einen besonderen Stellenwert zuschreibt,98 denn ein solcher wird postalischen Memorabilien auch in den hier vorgestellten autobiografischen Projekten zugeschrieben. Bevorzugt werden Berufsentscheidungen an Briefe geknüpft, die den Beruf als Berufung deklarieren und so die Entscheidung gewissermaßen als ein Empfehlungsschreiben vorlegen. Schriftsteller nutzen das exklusive Archivpotenzial für ihre autobiografischen Projekte, indem sie signifikante und bislang verborgene Archivalien erstmalig publizieren: Sie präsentieren nicht nur einen archivwürdigen Nachlass, vielmehr inszenieren sie sich als fleißige ›Archivarii‹. Zuletzt sei der Aufbau knapp skizziert: Der erste Teil bietet einen Überblick zur Entscheidungsforschung, zu literaturwissenschaftlichen Anschlussmöglichkeiten und zum heuristischen Potenzial autobiografischer Archivierungspraktiken. Des Weiteren wird die Untersuchungsmethode, unter Berücksichtigung des historischen Kontexts, anhand der Analyse kategorien ›Autobiografie‹, ›Archiv‹ und ›bricolage‹ entwickelt und in den drei archivbasierten Fallanalysen erprobt. Letztere sind insgesamt den konkreten Herstellungsverfahren gewidmet, die hinter den erzählten Entscheidungen stehen.
97 Vgl. zum autobiografischen ›Rechenschaftstopos‹: Kremer, Autobiographie als Apologie; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 105-107. 98 Bezeichnend ist, dass Zedler ›den Archivar‹ ausschließlich als Verwalter verwahrter »Brieffschaften« definiert. In dieser Definition, wie auch in den autobiografischen Entscheidensprozessen, kommt ›Briefen‹ eine Sonderposition zu: »Archivarius, der über das Archiv oder Behältniß derer Urkunden und andern Brieffschafften bestellet ist, ein Vorsteher des Brieff-Gewölbes« (Zedler, Archivarius). Lukas, Nutt-Kofoth und Podewski heben in ihrer Einleitung ebenfalls den Sonderstatus hervor, der Briefen zukommt: »Die Textsorte Brief bietet sich für die Eröffnung der intensiven Diskussion um die materiale Dimension von Textualität allerdings auch besonders an, weil im Brief der Doppelcharakter von Dokument und Text durch dessen spezifische historische Adressatenbezogenheit erzeugt wird« (Lukas, Nutt-Kofoth und Podewski, Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation, S. 8). Briefe verfügen über eine raumzeitliche Gebundenheit, mit der wiederum der jeweilige Lebensweg rekonstruiert werden kann. Dies macht sie bereits für Goethe archivwürdig: »An C. v. Knebel, 21.11.1782: Alle Briefe an mich seit 72, und viele Papiere jener Zeiten, lagen bei mir in Päckchen ziemlich ordentlich gebunden, ich sondre sie ab und lasse sie heften. Welch ein Anblick! Mir wird’s doch manchmal heiß dabei. Aber ich lasse nicht ab, ich will diese zehn Jahre vor mir liegen sehen wie ein langes durchwandertes Tal vom Hügel gesehn wird« (Goethe, Äußerungen Goethes zur Autobiographie und zu »Dichtung und Wahrheit«, FA, I, Bd. 14, S. 1006).
33
erster teil Forschungsüberblick und Methode
II. ›Entscheiden‹: Eine Bestandsaufnahme
Die nachstehenden Teilkapitel bieten einen transdisziplinär ausgerichteten Forschungsüberblick zum Themenkomplex ›Entscheiden‹. Wie dieser für die Analysen methodisch konzeptualisiert wird, lege ich in den daran anschließenden Teilkapiteln zu autobiografischen Entscheidenspraktiken dar. Der Forschungsüberblick zeigt deutlich, dass Entscheiden bevorzugt anhand literarischer Beispiele exemplifiziert und theoretisiert wird, jedoch bislang keine literaturwissenschaftlichen Analysemethoden für diegetische Entscheidensprozesse entwickelt wurden.1 Als topisch darf gelten, literarische Texte zu zitieren, um Entscheiden zu erläutern, letztlich verstehbar zu machen. Dieses Verfahren eint unterschiedlichste Fachdisziplinen. An gesichts dessen werden im Folgenden eine prominente Initialformel und bewährte Komponenten vorgestellt, um in einem weiteren Schritt die spezifische Qualität literarischer Fallbeispiele zu konturieren. Mit dieser Bestandsaufnahme wird ersichtlich, dass eine Analysemethode benötigt wird, die der materialen, medialen, raumzeitlichen sowie besonders der text genetischen Dimension fiktionaler sowie faktualer Entscheidensprozesse gerecht wird. Die Ausführungen sind erneut eng an ausgewählte Fall beispiele geknüpft. Dies soll erstens einer theoretischen Verallgemeinerung vorbeugen und zweitens kenntlich machen, dass die Analysemethode aus den Quellenbefunden hervorgeht.
II.1 Initialformel und Komponenten Initialformel: Die Frage, wie sich ein Entscheidensprozess ankündigt, wird in der ›Literatur‹ sowie in der ›Wissenschaft‹ oftmals mit der topischen Initialformel ›Was tun?‹ beantwortet.2 Max Frischs Biografie. Ein Spiel 1 Dieses Desiderat benennt auch Martina Wagner-Egelhaaf und erläutert, dass literaturwissenschaftliche Analysen eine hilfreiche Ergänzung darstellen könnten: WagnerEgelhaaf, Sich entscheiden, S. 18-21; Wagner-Egelhaaf, Brecht & Co, S. 218. 2 Namensgebend wurde diese Frage für den Roman Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskis: Tschernyschewskij, Was tun?. Ausdruck einer Krisensituation ist die Frage in Ludwig Pietschs autobiografischen Roman Wie ich Schriftsteller geworden bin. Pietsch, Wie ich Schriftsteller geworden bin, S. 15; vgl. auch: Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 431. Ebenso ist die Frage für Jens Beckert titelgebend, wenn er untersucht, welche Funktion Emotionen in Entscheidensprozessen zukommt
37
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
darf als prädestiniertes Beispiel gelten, denn ebendort sieht sich die Figur Hannes Kürmann mit der herausfordernden Frage »Was soll ich tun!?« konfrontiert,3 da er gezwungen ist seine Entscheidungen zu revidieren, Alternativen zu generieren und eine neue Biografie zu entwerfen. Als gestaltende Erzählinstanz seiner eigenen Lebensgeschichte hat er das primäre Anliegen, ein Leben ohne Antoinette Stein zu verbringen. Symptomatisch ist zunächst, dass bevorzugt in Entscheidenspassagen Kürmanns Privatarchiv konsultiert wird, das wiederum der Spielleiter – als unermüdlicher Be rater – verwaltet. Die katalysatorische Initialformel in Frischs Biografie ist hilfreich, um drei Aspekte zu konturieren, die schriftlich fixierte Entscheidensprozesse auszeichnen:4 (1) Die Verbindung zwischen Autobiografie, Archiv und Werk, (2) eine bricolage und (3) eine Poetik gesetzter Zeichen. Die Satzzeichen markieren besonders im zuvor präsentierten Fallbeispiel die emotive, poetische, »rhetorisch-dialektische«5 und »semantische Funktion« eines Entscheidensprozesses.6 Katharina Jacob nimmt ebendiese vielfältigen Interpunktionsfunktionen in ihrer Studie Linguistik des Entscheidens noch nicht in den Blick. Obschon die Satzzeichenregie besonders für die mediale Präsentation politischer Entscheidensprozesse aufschlussreich ist.7 In den Textanalysen wird kenntlich, wie gerade mithilfe einer Satzzeichenregie ausgewählte Figuren als entschlussfreudig oder entscheidungsstark charakterisiert werden. So ist die rhetorisch versierte Interpunktion ein erstes qualitatives Merkmal, das literarische Fallbeispiele auszeichnet. Doch zurück zur Initialformel: Cornelia Vismann erläutert anhand der formelhaften Frage die dramatische Qualität, die einem Entscheidens
3 4
5 6
7
(vgl. Beckert, Was tun?). Vgl. hierzu auch: Glatzmeier, Entscheidungen, S. 9; Vogl, Über das Zaudern, S. 27; Boshammer, Von schmutzigen Händen und reinen Gewissen, S. 148; Fuchs, Was heißt ›sich entscheiden‹?, S. 106; Helmstetter, Guter Rat ist (un)modern, S. 156; Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 64 f. Peter Philipp Riedl legt dar, dass die Figur Wilhelm Meister, wie sein intertextuelles Vorbild Hamlet, mit dieser Frage konfrontiert sei (vgl. Riedl, Am Scheideweg, S. 185, 187). Frisch, Biografie, S. 156. Konstanze Fliedl ermittelt für Schnitzlers Tagebücher, dass ebendiese entscheidendskonstitutive Frage häufig notiert wird, zumal Schnitzler mit ihr letztlich seine »Entscheidungsschwächen« verstetige. Bemerkenswert ist dies, weil Schnitzler ein dilemmatisches Doppelleben zu einem wirk- sowie werkmächtigen Markenzeichen etabliert (Fliedl, Arthur Schnitzler [1997], S. 262 f.). Nebrig und Spoerhase, Für eine Stilistik der Interpunktion, S. 12. Ebd. Nebrig und Spoerhase nennen die »syntaktisch-grammatische[ ]«, »phonetischprosodische«, »pneumatisch-physiologische« und die »kognitive« als weitere relevante Satzzeichenfunktionen. Vgl. hierzu auch: Abbt und Kammasch, Punkt, Punkt, Komma, Strich? Vgl. Jacob, Linguistik des Entscheidens.
38
ii .1 i n i t i a lfor m el u n d kom pon en t en
prozess inhärent zu sein scheint. In Das Drama des Entscheidens führt sie aus, dass die Frage ›Was tun?‹ bereits für die dargestellten Handlungs möglichkeiten in Aischylos’ Dramen grundlegend sei.8 Bei ihren Ausführungen bezieht sich Vismann auf Bruno Snells Ergebnisse. Snell hält wiederum für Aischylos’ Dramen fest, dass der Frage »ti draso? oder: ti dromen?« eine handlungsgenerierende, entscheidungsförmige Funktion zukomme und mit »›Was tun?‹ oder ›Wie soll ich mich entscheiden?‹« übersetzt werden könne.9 Ausschlaggebend ist für Vismann, dass diese Frage »die Dimension des Sich-Entscheidens, die jeder Tat vorausgeht [, bezeichnet]«.10 Schließlich bezieht sie mit Snell die Position, dass entgegen aller Widersprüche ›dran‹ mit »sich entscheiden‹« übersetzt werden müsse. Daran anschließend ermittelt sie die Semantik des Verbs: Dieses Moment des Selbstbezugs im Entscheiden ist der Aufschub selbst, das Innehalten, bevor eine Entscheidung in die Umlaufbahn der Tat geschickt wird und nicht mehr aufzuhalten ist und also das Drama in aller Wörtlichkeit seinen Lauf nimmt.11 Fest steht, dass Entscheiden sich durch eine zeitliche, räumliche und soziale Dimension auszeichnet, die gemeinsam das dramatische Potenzial manifestieren.12 Für die Konnexion zwischen Autobiografie und Entscheiden sind die aufgezählten Dimensionen heuristisch wertvoll, denn sobald Entscheidensprozesse in Autobiografien vorgestellt werden, wird unweigerlich ein ›Moment des Selbstbezugs‹ erkennbar, den Fuchs als pausierendes Moment beschreibt.13 Zäsur: Es ist ebendieses punktuelle, bereits unter Zeitdruck stehende Ruhemoment, durch das ein weiteres qualitatives Merkmal luzide aufscheint: die Zäsur.14 Die Suche nach Entscheiden in literaturwissenschaftlich ausgerichteter Forschungsliteratur führt direkt zu Joseph Vogls ausgearbeiteter Antrittsvorlesung Über das Zaudern. Ein lesenswerter Fund, der die zeitliche Qualität einer Zäsur erklärt. Allerdings ist Vogls Studie 8 Entscheiden steht für Vismann somit indirekt für die Entstehungsphase des Dramas. 9 Snell, Aischylos und das Handeln im Drama, S. 13, 23. Zit. nach: Vismann, Das Drama des Entscheidens, S. 96. 10 Vismann, Das Drama des Entscheidens, S. 96. 11 Ebd. 12 Bereits Alexander Honold argumentiert dafür, dass sich Entscheiden durch ein solches auszeichne, das sich prozessual entfalte (vgl. Honold, »Entscheide Du«, S. 503). 13 Vgl. Fuchs, Was heißt »sich entscheiden«?, S. 107. 14 Vgl. zu ›Zäsur‹ und ›Entscheiden‹: Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaf t, S. 228.
39
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
primär dem ›Zaudern‹ als einer Figur des Entscheidens sowie »Sammlungsort von Entscheidungs- und Ereignisfragen« gewidmet als der Entwicklung einer genuin literaturwissenschaftlichen Analysemethode für narrative Entscheidensprozesse. Als hilfreich für Textanalysen erweist sich jedoch, dass er sich gegen das Vorurteil ausspricht, ›Zaudern‹ stehe vor allem für eine Unentschlossenheit.15 So bestimmt Vogl Zaudern zuvörderst »als aktive Geste des Befragens«.16 Momente des Zauderns seien vorrangig Entstehensprozessen gewidmet, da sie einen »potentiellen Charakter« besäßen.17 Dabei plädiert er dafür, stets dann von einer »Zauder-Funktion« auszugehen, sobald »ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten, eine Unter brechung markiert [wird]«.18 Wie bereits bei Fuchs und Vismann erweist sich ein ›pausierendes Moment‹ als federführendes Element, das Entscheidensprozesse bedingt und die Rekonstruktionsleistung erkennbar werden lässt. Dieses spezifische Moment konzeptualisiert Wagner-Egelhaaf als »Kraftmoment«, das oftmals ein »Gefühlsmoment« sei. Ein solches Moment zeige die signifikante ›Gewichtung‹ einer Alternative an, sodass die daraus resultierende asymmetrische Konstellation letztlich die Entscheidung herbeiführe.19 Inszenierte Entscheidensprozesse werden im Aktualisierungsmodus oftmals retrospektiv emotionalisiert und seltener rationalisiert.20 Im Übrigen wird ein ›Gefühlsmoment‹ bevorzugt mittels ›auratischer‹ Archivalien vergegenwärtigt, was letztlich einem szenischen Erzählmodus zupasskommt.21 15 Vogl, Über das Zaudern, S. 57. 16 Ebd., S. 24. Damit hat das ›Zaudern‹ naturgemäß auch eine kommunikative Funktion, wer zaudert, macht anderen deutlich, dass ihm bzw. ihr ein Sich Festlegen nicht leichtfällt. 17 Ebd., S. 24, 28, 47. 18 Ebd., S. 24. 19 Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 32. 20 Für Fuchs sind »Zeitlichkeit«, »Zukunftsbezogenheit« und »Gefühle und Bewertungen« konstitutive Elemente eines Entscheidensprozesses (Fuchs, Was heißt ›sich entscheiden‹?, S. 106). ›Rationalität‹ findet interessanterweise keine Erwähnung. 21 Es lässt sich beobachten, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts und bis ins 21. Jahrhundert hinein kontinuierlich vermehrt Abbildungen eingefügt werden. Möbius argumentiert dafür, dass »das verlegerische Finanzkalkül […] die einheitliche Typografie [bevorzugt]« (Möbius, Montage und Collage, S. 59). Gegenwärtig scheint das verlegerische Finanzkalkül gattungsunspezifisch eine vielfältige Typografie, eine bildhafte Textgestalt zu befürworten. Hier sind etwa Saša Stanišić, Tomas Tranströmer und Heinrich Böll zu nennen, die alle eine Autobiografie verfasst haben. Nennswert ist hier auch der Briefwechsel zwischen Astrid Lindgren und Leonie Hartung. Vgl.: Stanišić, Herkunft, S. 214; Tranströmer, Randgebiete der Arbeit; Böll, Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind; Lindgren und Hartung, »Ich habe auch gelebt!«.
40
ii .1 i n i t i a lfor m el u n d kom pon en t en
Ebendiese zeitliche Zäsur tritt auf, sobald die routinierte Erzählhaltung durch eingefügte faktuale oder fiktive Archivalien und ›kanonische‹ Textpassagen unterbrochen wird, ein Entscheidensprozess angekündigt und autobiografische Archivierungspraktiken ausgestellt werden. Die Zäsur und damit das pausierende Moment fallen unmittelbar typografisch auf. Ein solch initiierter Formwechsel verbildlicht, wie vergangene Geschehensmomente retrospektiv zu einem Entscheidensprozess montiert werden. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Pierre Bourdieus These, dass Texte, die mit prominenten Darstellungstraditionen brechen, die »rhetorische Illusion« eines linear verlaufenden Lebens ostentativ ausstellen.22 Dies erklärt mitunter die Funktion einer solchen Zäsur, zumal mit ihr ausschnitthaft die gattungsbedingten und materialen Eigenschaften der Entscheidungsressourcen, der Umgang mit ihnen und damit ihre Provenienz wie Archivierung ausgestellt werden.23 Die entscheidungsformale Darstellungstechnik löst ein ›authentisches‹, präsentisches, szenisches oder auch lyrisches Moment aus. Prozessen des Entscheidens kommt gewissermaßen ein exploratives Potenzial zu, denn mit ausgewählten, zitierten Archivalien kann die entscheidensaffine wie auch -heuristische Funktion unterschiedlicher literarischer Formen erfahrbar gemacht werden. Ergänzt werden kann an dieser Stelle, dass Ulrich Raulff Archiven ein unerschöpfliches »poetisches Potenzial« zuschreibt.24 Die Analysen zeigen, dass und wie für Entscheidensprozesse ebendieses ›poetische Potenzial‹ genutzt wird. Offenkundig wird dem eigenen prospektiven Nachlass dabei ein solches Potenzial zugeschrieben. Weiterführend ist Honolds Feststellung, dass in Heinrich von Kleists Der Zweikampf die entscheidende »Duellszene […] im Erzählgang eine dramatische, insofern eigentlich gattungsfremde Einlage [bildet]«.25 Ins gesamt bestätigen solche Einschübe eine zentrale Bobachtung, die Tobias Conradi, Florian Hoof und Rolf F. Nohr pointiert darlegen: Sobald eine Entscheidung ansteht, sind »Medien zur Stelle, um diese vorzubereiten, zu dokumentieren, zu verlautbaren, zu archivieren oder gegebenenfalls auch selbst zu treffen«.26 Eine formale sowie stilistische Zäsur darf daher als eine entscheidenskonstitutive Komponente gelten, die zudem mediale, gattungsbewusste, archivarische und kuratorische Praktiken vorstellt. 22 Vgl. Bourdieu, Die biographische Illusion, S. 75 f. 23 Vgl. zur ›Materialität‹ exemplarisch: Köhler, Siebenpfeiffer und Wagner-Egelhaaf, Einleitung; Schubert, Materialität in der Editionswissenschaft. 24 Raulff, Nachlass und Nachleben, S. 34. 25 Honold, Das Gottesurteil und sein Publikum, S. 106. 26 Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung, S. 10.
41
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
Nicht allein die Erstpublikation eines bislang unveröffentlichten Archivales ist ereignishaft, sondern auch der dabei wiedergegebene Inhalt, da mit diesem punktuelle Ereignisse offenbart, Alternativen addiert oder dezimiert werden.27 Formwechsel: Die Gattungszugehörigkeit des Archivales entscheidet maßgeblich darüber, wie der eigene Lebensweg ausgerichtet wird, zumal in literarischen Texten, so Andrea Harbach, »›Lebenswahl‹« und »›Gattungswahl‹« wechselseitige Bezugsgrößen darstellen.28 Der Untersuchung liegt dezidiert kein normativer Gattungsbegriff zugrunde, vielmehr dient der Ausdruck ›Gattung‹ einem heuristischen sowie ordnenden Verfahren, demnach einem pragmatischen Anliegen.29 In diesem Zusammenhang werden Gattungsinterferenzen berücksichtigt und nicht als eine Ausnahme erscheinung verstanden. Der Ausdruck ›Gattung‹ ermöglicht zunächst, dass die analysierten Texte gruppiert werden können, um daran anschließend etwaige entscheidungsförmige Spezifika und auch Kontinuitäten zu er fassen. Nochmal: Mit der Entscheidung, eine Autobiografie zu schreiben, geht zumeist eine Ordnung des Privatarchivs einher. Die Biografie wie auch das Werk werden parallel zum autobiografischen Projekt kuratiert, denn die Wahl für ein ebensolches evoziert fortwährende Vor- und Nachlassentscheidungen.30 Neben diesen können Ehe-, Berufs- und Reiseentscheidungen eine lebenslaufkonstitutive Funktion einnehmen, allenthalben for27 Vgl. zur Differenz von ›Prozess‹ und ›Ereignis‹: Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens, S. 631. Vgl. zur ›Alternativengenese‹: Pfister, Einleitung, S. 25 f.; Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 231. 28 Harbach, Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur, XIII. Laut Harbach »wurde [d]er Begriff ›Lebenswahl‹ […] in der Altphilologie genuin geprägt für die Entscheidung zwischen Lebensweisen, die auch die Wahl einer Gattung anklingen lässt« (ebd., S. 14). 29 Vgl. Till, Normentheoretische Problemkonstellationen. 30 Vgl. zur historischen Dimension von ›Vorlass‹ exemplarisch: Raulff, Nachlass und Nachleben. David C. Sutton verweist in seiner Einleitung Literary Papers as the Most ›Diasporic‹ of all Archives auf den Leitfaden Authors and Their Papers für Schriftstellerinnen, der Rat gebende Funktion bezüglich aller Archivierungs- und Kassationsentscheidungen übernehmen soll. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob der versierte Umgang mit literarischen Archiven verloren geht oder Schriftsteller nicht als geübte Entscheider ernstgenommen werden. Bemerkenswert ist, wie die Entscheidensthemen gereiht sind: »›Rationale‹, ›What to keep‹ ›How to keep it‹« (Sutton, Introduction, S. 10). Erkennbar wird das Vorhaben, zukünftige Wissenschaftsgeschichte prophylaktisch zu gestalten. Der Leitfaden lässt sich insgesamt folgendermaßen zusammenfassen: Archivieren geht über Kassieren (vgl. N. N., Appendix).
42
ii .1 i n i t i a lfor m el u n d kom pon en t en
mieren Archivierungspraktiken zumeist all jene Entscheidensprozesse. Der Formwechsel in den hier vorgestellten Autobiografien steht für einen Einschnitt innerhalb des Erzähltextes, der – so der Befund – eine entscheidungsförmige Erzählpraxis markiert, die archivarische, kuratorische und editorische Praktiken bündelt wie auch divergierende Zeiträume verschränkt. Raum und Zeit: Die bisherigen Beobachtungen können allesamt durch die vorgestellten Fallbeispiele um einen weiteren, charakteristischen Aspekt ergänzt werden: Zitierte Intertexte evozieren eine neue raumzeitliche Struktur, die vergangene Ereignisse vergegenwärtigt und in ein prospektives Nachlasskonzept inkludiert. Die Autodiegese wird entweder durch einen Formwechsel oder durch ein ›Formzitat‹ zur Szene, in der inszenierte Zeitknappheit und eine Exklusion vorherrschen.31 Rezeptionsästhetisch ermöglicht dieses Erzählverfahren, das Lesepublikum innerhalb des Text raums mit unterschiedlichen Zeiträumen zu konfrontieren: Vergangene Ereignisse erhalten punktuell präsentischen Charakter und ein zurückliegendes Entscheidungsmoment wird eingeholt.32 Barbara Stollberg-Rilinger bestimmt, wie bereits Hermann Lübbe, dass »Entscheidungen […] stets einen Hiatus im zeitlichen Verlauf [bilden]«.33 Dieser Hiatus konstituiere eine »Grenze zwischen Vorher und Nachher, zwischen der gewählten Option und allen anderen, die nicht gewählt worden sind«.34 Hervorzuheben ist, dass Niklas Luhmann zwischen einem sachlichen und einem zeitlichen Analyseweg unterscheidet.35 Mit einem sachlichen Analyseweg gehe die Frage einher, wie Alternativen konstruiert werden; demgegenüber konzentriere sich der zeitliche Analyseweg auf die »in 31 Gemäß Andreas Böhn macht ein Formzitat »auf die Art und Weise des Gemachtseins und der Darstellung« aufmerksam. Er bestimmt das Formzitat als rezeptionsästhetisches Verfahren (Böhn, Das Formzitat, S. 190; vgl. hierzu auch: Gfrereis, Arbeit am unscheinbaren Exponat, S. 269). 32 Vgl. zu ›Entscheidungsmomenten‹ in Autobiografien exemplarisch: Wagner- Egelhaaf, Sich entscheiden. 33 Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens, S. 632. 34 Ebd. Vgl. Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 127. 35 Vgl. Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, S. 289 f.; Niehaus, Die Entscheidung vorbereiten, S. 21. Der Aufsatz »Paradoxie des Entscheidens« ist außerdem abgedruckt in: Luhmann, Schriften zur Organisation 2. Dies veranschaulicht, dass Luhmanns Explikationen zu Entscheidungskommunikation im Zusammenhang mit organisierten Sozialsystemen zu denken ist. Das ist für eine Adaption in andere Kontexte zu berücksichtigen. Luhmanns Ausführungen zu Entscheidensprozessen waren zentral für den SFB 1150. Für die später vorgestellte Analysemethode wird nicht auf Luhmanns Systemtheorie zurückgegriffen.
43
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
aktuellen Zeithorizonte von Vergangenheit und Zukunft«.36 Vor einer Entscheidung herrsche »offene Kontingenz«, die nach einer Entscheidung »verdichtet« sei, dies mache wiederum kenntlich, dass jeweils alternative Entscheidungen möglich gewesen wären.37 Zugleich sei Kontingenz das distinkte Merkmal, das eine Entscheidung auszeichne.38 Auffällig ist, dass auch Reinhart Koselleck in seinen Ausführungen zur ›Krise‹ ausschließlich die temporale Begriffsdimension fokussiert, er de finiert ›Krisis‹ als einen genuin temporalen Ausdruck.39 Entscheidens prozesse werden oftmals und disziplinübergreifend in ein Näheverhältnis mit Krisen gebracht.40 ›Entscheiden‹ und ›Krise‹ wird sogar eine symbiotische Beziehung zugeschrieben.41 Zentral für autobiografische Entscheidensprozesse sowie die Qualität literarischer Entscheidungsszenarien ist, dass »auf eine Krise stets eine allgemeine Produktivitätssteigerung« folge.42 Koselleck widmet dem Begriff ›Krise‹ offenkundig besondere Aufmerksamkeit und formuliert den Anspruch, kulturhistorische Merkmale für diesen zu ermitteln. Zunächst resümiert er ein allgemeines Alltagsverständnis über den Ausdruck, der »Unsicherheit, Leiden und Prüfung« indiziere und »auf eine unbekannte Zukunft« verweise.43 Des Weiteren führt Koselleck aus, dass ›Krisis‹ […] zu den Grundbegriffen gehört, d. h. zu den nicht ersetzbaren Begriffen der griechischen Sprache. Abgeleitet aus ›krino‹, scheiden, auswählen, entscheiden, beurteilen: medial, sich messen, streiten, kämpfen, zielte ›Krisis‹ auf eine endgültige, unwiderrufliche Entscheidung. Der Begriff implizierte zugespitzte Alternativen, die keine Revision mehr zuließen: Erfolg oder Scheitern, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod, 36 Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, S. 290. 37 Ebd., S. 291. 38 Vgl. hierzu: Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung, S. 8; Pfister, Einleitung, S. 14; Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, S. 36. 39 Vgl. Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹, S. 206, 213, 215. 40 Vgl. Seebold, entscheiden. 41 Die Etymologie des Ausdrucks ›Krise‹ dokumentiert bereits eine Nähe zu ›Entscheiden‹: »Krise Sf std. (16. Jh.). Entlehnt aus 1. crisis, dieses aus gr. krísis (eigentlich ›Scheidung, Entscheidung‹), zu gr. krīnein ›scheiden, trennen‹. Zunächst ein Fachwort der Medizin, das den entscheidenden Punkt einer Krankheit bezeichnete« (Seebold, Krise). Vgl. Koselleck, Krise [1976], S. 1235. 42 Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹, S. 211. Vgl. zur Verbindung von ›Krise‹ und ›Entscheiden‹ auch: Friedrich, Erzähltes Leben, S. 66. 43 Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹, S. 203.
44
ii .1 i n i t i a lfor m el u n d kom pon en t en
schließlich Heil oder Verdammnis. […] Der Begriff erfaßte also potentiell alle Entscheidungslagen des inneren und äußeren Lebens, des einzelnen Menschen und seiner Gemeinschaft. Immer handelte es sich um endgültige Alternativen, über die ein angemessenes Urteil gefällt werden mußte, deren alternativer Vollzug aber auch in der jeweiligen Sache selbst, um die es ging, angelegt war. Es war ein Begriff, der immer eine zeitliche Dimension mitsetzte, der, modern gesprochen, wenn man so will, eigentlich eine Zeittheorie implizierte.44 Die ›Krisis‹ steht hier für eine existentielle Entscheidungsnotwendigkeit, die zugleich eine intersubjektive ›Zeittheorie‹ impliziert und somit als zentrales Strukturelement gelten darf. Unterschiedliche Disziplinen vereine, dass in krisenhaften Entscheidensprozessen »der rechte Zeitpunkt für das erfolgreiche Handeln getroffen werden mußte«.45 Koselleck zufolge erfasst ›Krisis‹ allmählich »die Politik, die Psychologie, die sich ent wickelnde Ökonomie und schließlich die neu entdeckte Geschichte«.46 Kosellecks These lautet, »daß der Begriff ›Krise‹ sogar dazu beitrug«, die juristischen, medizinischen, politischen und theologischen Bereiche »als eigenständige Wissenschaften zu begründen«.47 Denkbar ist, dass dieser Befund auf die ›Philologie‹ übertragen werden darf. In seiner Begriffs geschichte steht gerade das 18. Jahrhundert für einen fachdisziplinären Wendepunkt, indem er darlegt, dass »›Krise‹ […] zu einem geschichts philosophischen Grundbegriff [aufrückt]«.48 Koselleck beansprucht ›Krisis‹ und damit ›Entscheiden‹ für seine eigene Fachdisziplin, wenn er die ›Geburtsstunde der Geschichtswissenschaft‹ mit diesem Begriffspaar proklamiert. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich in Hoffmann-Rehnitz’, Krischers und Pohligs Aufsatz Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft.49 Tatsächlich aber spielt das Krisenphänomen auch und gerade für die Literaturwissenschaft und die Professionalisierung des Schriftstellerberufs eine entscheidende Rolle, die sich exemplarisch in autobiografischen Projekten ermitteln lässt.50 Ergänzt werden kann hier Volker Depkats Beobachtung, dass der »Entschluß zur Autobiographie« mitunter aus einer 44 Ebd., S. 203 f. 45 Ebd., S. 205. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 206. 49 Vgl. Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft. 50 Vgl. hierzu: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 18-21; Wagner-Egelhaaf, Trauerspiel und Autobiographie, S. 72-74.
45
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
Krise resultiere.51 Dies deckt sich mit Luhmanns Feststellung, dass die Kategorie der Zeit die Perspektivierung wie den Verlauf einer Entscheidung bestimme.52 Prominent ist durchweg, dass die Kategorie ›Raum‹ in den vorgestellten Entscheidensdefinitionen bislang keine explizite oder eine äußerst marginale Rolle spielt. Übersehen wird, dass für retrospektiv rekonstruierte Ent scheidensprozesse ein diegetischer Zeitenwechsel unweigerlich mit einem Raumwechsel einhergeht, denn es wird von vergangenen Raumaufenthalten b erichtet, die eine bestimmte, exklusive Rahmung für die jeweilige Entscheidung bedingten. Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig betonen, dass die Raumgestaltung zentral für den jeweiligen Entscheidensprozess sei.53 Honold verdeutlicht den Faktor Zeit und expliziert die Bedeutung von Raumkonstellationen für Entscheidensprozesse. Die Entscheidensfigur des ›Scheidewegs‹ zeige dies: »Erst das Zusammenspiel von räumlicher Bifurkation und zeitlicher Sequentialität erzeugt den Punkt der Entscheidung als markant herausgehobenen Moment einer Weichenstellung«.54 Er erklärt besonders den Scheideweg zur prominenten Entscheidensfigur, wenn er Kleists Dramen, Erzählungen und Briefe analysiert. Die Komplexität des Entscheidens findet vorzugsweise Ordnung und Struktur in metaphorischen Stilfiguren wie dem ›Scheideweg‹.55 Zahlreich 51 Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 60. Depkat untersucht in seiner Studie primär »die temporale Struktur der Autobiographien von vierzehn deutschen Politikerinnen und Politikern« (ebd., S. 15). Wie bereits bei Koselleck stehen die ›temporalen Strukturen‹ im Zentrum, während die räumlichen Strukturen un bemerkt in der Peripherie verschwinden. Kremer legt dar, dass »[a]llen auto biographischen Texten gemeinsam ist […], sich für die Tatsache, überhaupt eine Autobiographie zu veröffentlichen, zu rechtfertigen« (Kremer, Autobiographie als Apologie, S. 51). 52 Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, S. 291. 53 Vgl. Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 246. 54 Honold, Das Gottesurteil und sein Publikum, S. 111. Vgl. hierzu ebenfalls: Vogl, Über das Zaudern, S. 46; Niehaus, Die Entscheidung vorbereiten, S. 17 f.; Richter, Das narrative Urteil, S. 61-76. 55 Bereits Bourdieu beschreibt autobiografisches Erzählen als Konstruktionsleistung, bei der Wegstrukturen genutzt würden, um bildlich darstellen zu können, wie divergent das Leben sei. Dabei verbindet er autobiografisches Erzählen topisch auch mit dem Scheideweg und verweist explizit auf Herkules am Scheideweg. Vgl. Bourdieu, Die biographische Illusion, S. 75. Andrea Harbach erläutert zum Scheidewegtopos: »›Schlechtigkeit‹ und ›Tüchtigkeit‹ sind abstrakte Begriffe und deshalb prinzipiell wenig anschaulich. Um sie zu illustrieren, werden Bilder verwendet, die die beiden Optionen allegorisch repräsentieren. Für die Geschichte von Herakles’
46
ii .1 i n i t i a lfor m el u n d kom pon en t en
wird auf Scheidewege in wissenschaftlichen Untersuchungen hingewiesen, die dem Themenkomplex ›Entscheiden‹ und auch Autobiografien gewidmet sind.56 Dies belegt letztlich die räumliche Dimension, die Entscheidensprozessen gleichermaßen zukommt. Ähnlich argumentiert Friedrich, wenn er, sobald Wegstrukturen verwendet werden, ein Verfahren erkennt, das die Komplexität sowie »kritische Phasen« des Lebens innerhalb einer Narration darstellbar mache.57 Den ›Raum‹ konzeptualisiert er dabei als gleichwertige Analysekategorie zur ›Zeit‹.58 Hilfreich ist des Weiteren, dass Peter Philipp Riedl die ›Scheidewegmetapher‹ für Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als zentrale, topologische Reflexionsfigur bestimmt, zumal mit dieser die »Grenzen individueller Handlungsautonomie« repetitiv vorgeführt würden.59 Seine Analyse verdeutlicht, wie zentral spannungsvolle Zeiträume für Entscheidensprozesse sind. Friedrich erläutert exemplarisch, wie topische Entscheidungsfiguren komplexe Konstellationen zum Ausdruck bringen: Die Alternative, die die Wissenschaft in der dichotomischen Logik von wahr und falsch, die Moralphilosophie in der von Gut und Böse vorgibt, übersetzt das Diagramm vom Scheideweg in eine simple Entscheidungssituation in einer krisenhaften Lebenssituation. […] Zur mythischen Urszene avanciert aber […] die Fabel von Herkules am Scheideweg. […] Der Scheideweg kann zum Kreuzweg werden, an dem sich plötzlich mehrere Alternativen stellen und den Entscheidungsprozess in eine komplexe Reflexion führen. […] Das diagrammatische Modell des Scheidewegs liefert Optionen, immer neue Konstellationen zu erfinden. So
Wahl kennt man zum einen das Bild vom Scheideweg, zum anderen die Personifikation der Alternativen als Frauen. […] Das Besondere dabei ist, dass es sich nicht allein um die Personifikation zweier abstrakter Ideen handelt, sondern dass sie in einer Synkrisis miteinander in Kontrast gesetzt werden« (Harbach, Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur, S. 33). Vgl. hierzu auch: Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 224-226. 56 So schreibt etwa Lübbe: »Man trifft auf Scheidewege, jedoch weiß man längst, in welche Richtung zu gehen ist, und wer dennoch die falsche einschlägt, folgt, wie man weiß, keiner Entscheidung, sondern gibt einer Versuchung nach« (Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 124). Vgl. hierzu auch: Ortmann, Kür und Willkür, S. 190; Schlotheuber, Der Mensch am Scheideweg, S. 71-96. Zuletzt sei darauf verwiesen, dass in Karl Gutzkows Autobiografie ein Unterkapitel den Titel Am Scheidewege trägt (Gutzkow, Rückblicke auf mein Leben, S. 21). 57 Friedrich, Erzähltes Leben, S. 55. 58 Vgl. ebd., S. 53. 59 Riedl, Am Scheideweg, S. 185.
47
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
muss die Entscheidung nicht notwendig zwischen asymmetrischen oder gleichwertigen Geltungsansprüchen getroffen werden.60 Der Scheidewegtopos erklärt nicht, inwieweit dieser als exordium eine innovative Verwendung findet, die Rhetorizität des Textes akzentuiert und konventionelle Muster durchbricht.61 Der rhetorisch-innovative Einsatz topischer Entscheidensfiguren verdeutlicht, dass sich ein Entscheidensprozess aus konventionellen, routinierten und besonders auch kreativen Erzählbausteinen zusammensetzt. Letztere dienen dazu, Handlungsabfolgen als entscheidungsförmige Vorzeichen zu markieren. Die Textanalysen ergeben, dass auch der Zweikampf, der Kreis (vgl. RT, 240),62 der Münzwurf (vgl. MLGII, 78), der Apfel, die Waage,63 das Los, der Widerstreit und die Schifffahrt topische Entscheidensfiguren sind.64 Die Auswertung aus gewählter Autobiografien lässt den Befund zu, dass Briefe, Tage buch- wie auch Dramenpassagen in Kombination ermöglichen, eine Zeitgebundenheit und -knappheit in Szene zu setzen sowie einen intimen Kommunikationsraum zu öffnen. Optionalität: Zitierte Briefe aus dem schriftstellerischen Privatarchiv blenden eine externe Stimme und Perspektive ein, die der Gewichtung einer Entscheidungsoption gelten. Die Darstellungstechnik ausgewählte faktuale, fiktive Archivalien oder kanonische Textpassagen einzufügen und punktuell einen intertextuellen sowie -medialen Formwechsel zu initiieren, wird mit der bricolage als ein bildgebendes Verfahren vorgestellt. Kurzum: Ein Entscheidensprozess beginnt, indem Erzählerinnen oder diegetische Figuren Alternativen entwickeln oder mit Alternativen konfrontiert werden. Optionalität ist eine Konstruktion, sie wird aktiv hergestellt. Für jedweden Entscheidensprozess muss gemäß Stollberg-Rilinger zuvor festgelegt wer60 Friedrich, Erzähltes Leben, S. 66-70. 61 Bischoff und Wagner-Egelhaaf legen dar, dass sich diese These von einem ›Ende der Rhetorik‹ für das 18. Jahrhundert nicht bewahrheite, dies zeige besonders eine genderkritische Lektüre (vgl. Bischoff und Wagner-Egelhaaf, Einleitung [2010], 9; vgl. hierzu auch: Tonger-Erk, Actio, S. 180, 191; Arnold, Rhetorik der Empfindsamkeit, S. 55 f.). Vgl. zur ›rhetorischen Dimension‹ exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Weibliche Rede; Bischoff und Wagner-Egelhaaf, Einleitung [2003], S. 14-20; Knape, Was ist Rhetorik?, S. 33, 76. 62 Vgl. hierzu auch exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Brecht & Co. 63 Vgl. hierzu exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 31 f. 64 ›Schifffahrt‹ und ›Navigation‹ als Entscheidensfiguren finden sich exemplarisch in Lewald-Stahrs Autobiografie (vgl. MLGII, 186, 204; MLGIII, 94, 257, 293; RT, 252, 298). Vgl. hierzu auch: Fontane, Theodor an Emilie Fontane. Berlin, 15. August 1876, S. 72; Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 13, 438; JiW, 190; Döblin, Epilog, S. 451. Vgl. auch: Große, Die letzte Stunde, S. 671.
48
ii .1 i n i t i a lfor m el u n d kom pon en t en
den, »was als entscheidensbedürftig und entscheidbar gilt«.65 Gleich wertige Alternativen seien, so Lübbe, ein obligatorisches Kriterium für Entscheidensprozesse.66 Ortmann legt dagegen plausibel dar, dass für Entscheidensprozesse nicht automatisch gegebene, gleichwertige Alternativen vorausgesetzt werden dürfen, vielmehr habe sich das Subjekt »zwischen Handlungsentwürfen« zu entscheiden.67 Überdies seien Handlungs entwürfe »nicht gegeben, sondern müssen geschaffen werden«.68 Das zeitliche Nacheinander und die praktische Gestaltung eines Prozesses bewirken, dass sie einem kontinuierlichen Wandel und einem Perspektivwechsel unterworfen seien.69 Dies erinnert unmittelbar an die autobiografische Rekonstruktionsleistung. Auch Honold exemplifiziert den Aspekt einer gestalteten Optionalität anhand eines literarischen Beispiels und betont in seinen Untersuchungen zu Kleists Amphitryon, dass sich das Ideal gleichwertiger Alternativen gewissermaßen einer Darstellung entziehe: Kleist arbeitet in diesem Drama an der für einen Autor schier unlös baren Aufgabe, das perfekte Entscheidungsdilemma zu bauen. Er reagiert damit auf die Beobachtung, dass es in der Wirklichkeit kaum je eine so fein eingestellte Waage gibt, dass sich deren beide Schalen in einem vollkommenen Gleichgewicht befänden. Ein lupenreines Dilemma, eine genaue Gleichwahrscheinlichkeit zweier Optionen, wie im Leben kaum vorstellbar.70 Für die Textanalyse sind Ortmanns sowie auch Honolds Beobachtungen heuristisch wertvoll, da selten komplett ›gleichwertige Alternativen‹ dar65 Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens, S. 632. Florian Klinger hält fest, dass für Herodot eine Unterscheidung mit der Wahl einer vorhandenen Alternative zur Entscheidung wird (Klinger, Urteilen, S. 11). 66 Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 127. 67 Ortmann, Kür und Willkür, S. 190. Auch R. Schicker betont in seinem Eintrag zum Begriff ›Entscheidung‹, dass nicht von »notwendig gleichwertigen oder umfangsgleichen Alternativen« ausgegangen werden müsse, damit es sich um eine Entscheidungssituation handle (Schicker, Entscheidung, S. 1222). 68 Ortmann, Kür und Willkür, S. 190. 69 Vgl. ebd., S. 191. 70 Honold, »Entscheide Du«, S. 524. Auch Rudolf Probst weist in seiner Unter suchung zu Friedrich Dürrenmatts Autobiografie hin, wie herausfordernd es sei, überhaupt einen zentralen Entscheidensprozess zu rekonstruieren: Bei der »Darstellung des Entschlusses zur Schriftstellerei [schildert] der Autobiograph seine Schwierigkeit […], das Ereignis zu begründen und adäquat darzustellen, weil es sich je nach Perspektive unterschiedlich präsentiert« (Probst, (K)eine Autobiographie schreiben, S. 48).
49
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
gestellt werden und es sich hierbei um ein Ideal handelt, das in autobiografischen Erzähltexten kaum entwickelt oder erprobt wird. Erzählte Lebensentscheidungen zeichnen sich dadurch aus, dass unterschiedliche literarische Formen und Medien in den autobiografischen Erzähltext eingefügt werden, um das wirksame Entscheidungsmoment zu ›dokumentieren‹, gleichzeitig zu dramatisieren. Auf diese Weise werden mit ausgewählten Archivalien vergangene, gegenwärtige wie auch zukünftige Perspektiven zusammengefügt. Der »Hiatus fehlender Gründe«, der, so Lübbe, Entscheidungen auszeichnet, wird formal, typografisch überbrückt.71 Zusammengefasst besitzen die Initialformel, Zäsuren, konfligierenden Zeiträume und Optionalitätskonstruktionen die Funktion, das innovative Potenzial punktueller Gattungsinterferenzen als Operationa lisierungsinstrument vorzustellen. Ereignis und Routine: Scheitern Handlungsroutinen, wird gemäß Karl H. Hörning Kreativität erst freigesetzt: »[W]enn etwas Außerordentliches einbricht, wenn ein etabliertes Feld umstrukturiert werden muss, wenn neue Erfahrungsmuster gefordert sind, kann aus solchen Krisen eine gesteigerte praktische Intelligenz, ein kreatives Potential erwachsen«.72 Nicht mehr auf routinierte Handlungsformen zurückgreifen zu können, bestimmt Pfister als ein signifikantes Kriterium für Entscheiden.73 Es ist demzufolge durchaus beachtenswert, dass sich Autobiografinnen innerhalb eines dargestellten, krisenhaften Entscheidensprozesses als Figuren präsentieren, die gewissenhaft ihren prospektiven Nachlass archivieren, edieren und kuratieren. Für das Lesepublikum wird erkennbar, dass »ein etabliertes Feld umstrukturiert« wird, zugleich neue »Erfahrungsmuster« entwickelt und erprobt werden. Bemerkenswert ist zudem, dass stets Archivalien aus gestellt werden, die zeigen, wie die autobiografische Figur ihr Entscheidungsdilemma schriftlich entwickelt und wie die dabei entstandenen Manuskripte später durch den Autobiografen versiert verwahrt werden.74 71 Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 127. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Trauerspiel und Autobiographie, S. 82. 72 Hörning, Kultur als Praxis, S. 147. Hörnings Ausführungen beziehen sich auf die Handlungstheorien von John Dewey und George Herbert Mead. 73 Vgl. Pfister, Einleitung, S. 13-19. 74 Magdalena Marszałek betont in ihrer Untersuchung zur Schriftstellerin Zofia Nalkowska, dass die Thematisierung des Schreibprozesses entscheidend dafür ist, wie die autobiografische Figur in der Diegese gestaltet wird. Marszałek stellt fest, dass »das autobiographische Ich weniger als ein Produkt der Erfahrung [erscheint], denn als Effekt der autobiographischen Tätigkeit selbst« (Marszałek, »Das Leben und das Papier«, S. 30). Dabei bezieht sie sich auf Leigh Gilmores autobiografietheoretischen Ansatz, da dort die schreibende Figur neben den Instanzen der
50
ii .1 i n i t i a lfor m el u n d kom pon en t en
Schriftstellerinnen stellen nicht zuletzt mit unikalen Manuskripten ein reiches Depot voller Entscheidungsressourcen und -dokumenten vor, auf das sie die Nachwelt mittels exklusiver Entscheidensprozesse und punktueller Publikationsereignisse aufmerksam machen. Mit autobiografischen Ent scheidungsressourcen werden vergangene Entscheidungsmomente nicht schlicht vergegenwärtigt, sie werden vielmehr zu prägenden Wendepunkten stilisiert. Zeitgleich werden mit Entscheidensprozessen konsequent die Text- und Gattungsflexibilität autobiografischer Projekte ingeniös umgesetzt. Es ist signifikant, dass lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidensprozesse bevorzugt in Briefen, Notiz- und Tagebüchern entwickelt, reflektiert und diskutiert werden. Ihr werktätiges Potenzial zeigt sich letztlich in Autobiografien, denn dort wird mit ihnen das erzählerische Potenzial einer Lebensgeschichte ausgeschöpft. Anschlussfähig ist diese Beobachtung an Luhmanns These, dass entscheidungskonstitutives Beobachten »ein Herausgreifen« darstelle.75 In autobiografischen Projekten wird ein solches ›Herausgreifen‹ insofern präsentiert, als exemplarische Archivalien kurzerhand aus einem eigens angelegten Privatarchiv buchstäblich heraus gegriffen und neu kontextualisiert werden, sobald die Frage ›Was tun?‹ emergiert. Diese kuratorische Tätigkeit erinnert daran, wie Thomas Thiemeyer »Museumsdinge« definiert: Archivalien »werden aus ihrem Sammlungszusammenhang genommen und in neue Kontexte eingebettet«. In dieser Konstellation »sind Exponate interpretierte Archivalien«.76 Die Zitation als Publikationsereignis kann somit als ein Ausstellungsakt verstanden werden, der die hermeneutische Interpretation des eigenen Lebens kenntlich macht. Die bricolage ermöglicht in diesem Zusammenhang eine synoptische Lektüre und repräsentiert den Autobiografen als philologisch geschulten Archivar. Eingewendet werden kann, dass Praktiken einer bricolage jeder künstlerischen Tätigkeit zukommen. Allerdings wird hier dafür argumentiert, dass gerade in Entscheidensprozessen die bricolage im Erzähltext auf hervorgehobene Weise aufscheint. Es sind gerade lebenslaufkonstitutive Wendepunkte, die prädestiniert sind, die eigene Biografie als ereignisreich, somit erzählenswert darzubieten. So sind es bislang unveröffentlichte faktuale Archivalien und fiktionale Textpassagen, die mittels einer bricolage relationiert werden, eine Zäsur im Erzähltext darstellen und einen Entscheidensprozess generieren. Die an Entscheidensprozessen ten Figur und erzählenden Figur besonders berücksichtigt werde (vgl. ebd.; Leigh, From Autobiographics). 75 Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, S. 293. 76 Thiemeyer, Museumsdinge, S. 230.
51
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
offensiv vorgelegte Konstruktionsleistung, verweist auf die professiona lisierten Praktiken, die über den Erfolg auf dem Literaturmarkt entscheiden. Die Erzähltechnik der bricolage setzt die Biografie in einen neuen Sinn zusammenhang. Vorbereitet wird auf diese Weise eine Vorlassordnung, die für eine Veröffentlichung bestimmt ist und im weiteren Verlauf in einem besonderen, mitunter konstitutiven Verhältnis zur zukünftigen archivarischen Nachlass- und Werkordnung steht. In diesem Kontext ist Kai Sinas und Carlos Spoerhases kulturwissenschaftlicher Sammelband Nachlass bewusstsein: Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000 lehrreich. Ebendort wird detailliert dargelegt, wie sich ein Nachlassbewusstsein bei Schrift stellerinnen seit dem 18. Jahrhundert entwickelt und verändert hat.77 Gleichermaßen hilfreich ist Petra-Maria Dallingers, Georg Hofers und Bernhard Judex’ Sammelband Archive für Literatur: Der Nachlass und seine Ordnungen. Dieser kulturwissenschaftliche, interdisziplinär angelegte Sammelband dokumentiert archivpraktische sowie -theoretische Analysemethoden für literarische Nachlässe. Nicht übersehen werden sollten zudem Sandro Zanettis Überlegungen zu einer »Archivpolitik« und wirkungs ästhetischen »Nachlaßpoetik«, die es gerade notwendig machten, werkkonstitutive Entscheidungen in den Blick zu nehmen.78 Als Zwischenbilanz kann festgehalten werden: Mit autobiografisch vermittelten Vor- und Nachlassordnungen werden archivarische, kuratorische und editorische Praktiken erkennbar, die das autobiografische Projekt im gegenwärtigen Privatarchiv sowie im prospektiven, institutionalisierten Archiv fortsetzen. Aufsehenerregend ist, dass ein zuvor intimer Schriftraum erstmalig publiziert zu einem öffentlichen Lese- und Anschauungsraum wird.79 Entscheidensprozesse besitzen innerhalb autobiografischer Projekte infolgedessen kulturpraktische und gleichermaßen -theoretische Funktionen, die bislang in den hier vorgestellten Entscheidenstheorien unberücksichtigt blieben. Die Prominenz literarischer Fallbeispiele in Ent77 Vgl. Spoerhase, Neuzeitliches Nachlassbewusstsein; Sina, Die vergangene Zukunft der Literatur. Müller hebt ebenfalls die Bedeutung eines sich entwickelnden Nachlassbewusstseins hervor, wenn er Goethes archivarische Tätigkeiten erläutert, die werkstrategische Funktionen besitzen (vgl. Müller, Weiße Magie, S. 282 f.). Die Herausforderungen literarischer digitaler Nachlässe werden in den Literatur- und Kulturwissenschaften bislang zögerlich verhandelt. Vgl. zur Thematik digitaler Nachlässe exemplarisch: Herzog, Der digitale Nachlass in der Vorsorge- und Erbrechtspraxis; Krajewski, Denkmöbel; Seidler, Digitaler Nachlass. 78 Zanetti, Sich selbst historisch werden, S. 95. 79 Vgl. Zanetti, Selbstherausgaben. Müller betont, dass »[d]ie Arbeit am Nachlaß […] die Herrschaft des Autors über sein Werk über den eigenen Tod hinaus [verlängert]« (Müller, Weiße Magie, S. 285).
52
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
scheidenstheorien kann mitunter damit erklärt werden, dass sie die Kon struktion eines Entscheidensprozesses akzentuiert ausstellen, eine intersubjektive Verständigung und kompromisslos strikte Zuspitzung als Erfolgsrezept versprechen.
II.2 Forschungsstand und Vorgehen In den Geistes- und Sozialwissenschaften wird besonders die konstitutive Funktion unterschiedlicher Medien für Entscheidensprozesse markant positioniert.80 Tentativ ist ebendiese Fokussierung wertvoll, um die Funktion ereignishafter Entscheidensprozesse innerhalb autobiografischer wie auch allgemein diegetischer Lebenslaufkonstruktionen zu ermitteln. Für einen textanalytischen Zugriff auf Entscheidensprozesse bietet sich deshalb eine narratologische, kontextbasierte und textgenetische Analysemethode an, die archivarische, kuratorische, editorische, letztlich erzähltechnische Praxisformationen autobiografischer Projekte einschließt. Besonders die textgenetische Perspektive und die archivbasierten Analysen lassen verstehbar werden, dass »[d]ie Praxis des Entscheidens […] Teil und Grundlage wirkmächtiger Narrative« sei.81 Oder anders formuliert: Die autobiografischen Vorstufen und Archivierungspraktiken erklären, wie Entscheidens prozesse hergestellt werden und sie eine nachlasspolitische sowie institutionelle Wirkmacht entfalten können. Bereits die eingangs gewählten Fallbeispiele verdeutlichen, dass autobiografische Entscheidensprozesse dazu dienen, auf ein angelegtes Manuskriptkonvolut zu verweisen und einen präsentischen Erzählmodus zu entwickeln.82 Den hier vorgestellten Autobiografien kommt merklich ein musealer Charakter zu, sie fungieren als Anschauungsraum ›durchlebter‹ Entscheidensprozesse. Doch welcher Stellenwert und welches kulturkonstitutive Potenzial kommt Entscheidensprozessen in autobiografischen Projekten insgesamt zu? Der Soziologe Peter Gross gibt hierauf eine rezeptionsästhetische Antwort, wenn er Autobiografien primär als Entscheidungsressource charakterisiert. Hervorzuheben ist, dass Gross ein sehr weites Gattungsverständnis vorlegt. Die berufliche Profession der Autobiografin wie auch den Publi80 Vgl. exemplarisch: Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung; Balke, Schwering und Stäheli, Paradoxien der Entscheidung. 81 Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung, S. 8. 82 Jean Pauls autodiegetischer Erzähler benennt in Selberlebensbeschreibung Par allelen zwischen ›Autobiografie‹ und ›Drama‹. Vgl. Jean Paul, Selberlebens beschreibung, Bd. 6, S. 1049.
53
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
kationskontext lässt er indes außer Acht. Jedoch zeigen die hier vorgestellten Fallbeispiele, dass gerade die fachdisziplinäre Professionalisierung zu berücksichtigen ist, denn diese darf als maßgebend für die gewählte Darstellungstechnik und damit einhergehenden autobiografischen Archivierungspraktiken gelten.83 Die disziplinäre Zuordnung bestimmt zugleich, so zeigen es die Fallbeispiele, wie Entscheidensprozesse gerahmt, semantisiert und erzählt werden. Auffallend ist ungeachtet dessen, dass der Autor der Studie Die Multioptionsgesellschaft dezidiert eine literarische Gattung als Schauplatz lebenslaufkonstitutiver Entscheidensprozesse und Ratgeber für ebensolche Entscheidensprozesse nennt.84 Es entsteht der Eindruck, dass Gross Autobiografien als Enklave innerhalb einer unentschiedenen Multi optionsgesellschaft versteht, mittels der Entscheidenspraktiken medial vermittelt, nachvollziehbar werden können. Im postum veröffentlichten Vorlesungsmanuskript Organisation und Entscheidung entfaltet Luhmann seine systemtheoretischen Überlegungen in Bezug auf organisationssoziologische Fragestellungen. Entscheidungskommunikation zählt er dabei zur Operationsweise organisierter Systeme. Der eigentliche Vorzug besteht in der Möglichkeit, Entscheidungen in organisierten Gebilden aufzuzeigen.85 Dies ist auch für Stollberg-Rilinger und Krischer ausschlaggebend, wenn sie Entscheidensprozesse als Untersuchungsgegenstand kartografieren. Krischer zufolge stelle ein Entscheidensprozess »eine unerhörte Belastung dar, die Strategien der Entlastung notwendig macht«.86 Die Zumutung bestehe vor allem in der gegebenen »Kontingenz jeder Entscheidung«, denn sie hätte stets, als unkalkulierbare Herausforderung, auch anders ausfallen können.87 Ebendiesen Aspekt greift auch Jens Beckert auf, wenn er in seiner Untersuchung ausdrücklich betont, dass in Entscheidensprozessen »begrenzte[ ] Rationalität und Ungewiss-
83 Vgl. zur Beziehung zwischen ›Literatur und Literaturwissenschaft‹, die hier besonders für die philologische Professionalisierung der Autobiografen zentral ist, exemplarisch: Spoerhase, Neuzeitliches Nachlassbewusstsein, S. 37-41; Nebrig, Disziplinäre Dichtung, S. 12-14, 16-19, 21, 25; Behrs, Der Dichter und sein Denker. 84 Vgl. Gross, Multioptionsgesellschaft. 85 Vgl. Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 141 f. 86 Vgl. Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, S. 35. Vgl. auch: Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 12; Stollberg-Rilinger, Für eine Historisierung des Entscheidens; Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens; Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹, S. 213. 87 Vgl. Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens, S. 630. ›Kontingenz‹ zählt auch für Florian Klinger zum Merkmalskatalog von ›Entscheidensprozessen‹ (vgl. Klinger, Urteilen, S. 20).
54
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
heit« vorherrsche. Dies bedinge mitunter den Zumutungscharakter, der Entscheidensprozesse regiere.88 Des Weiteren argumentiert er dafür, dass Risiko- sowie auch Handlungserwartungen ein »prekär bleibende[s] Resultat eines sozialen Konstruktionsprozesses« seien.89 Die konzeptionelle Dimension, die mit dem Ausdruck ›Zumutung‹ vorgebracht wird, zeigt an, dass ein Entscheidensbedarf oftmals an einzelne Akteure oder Kollektive herangetragen wird. Sobald dieser oder eine Entscheidungsnotwendigkeit formuliert wird, die häufig schriftlich fixiert ist, entwickelt sich ein räumlich wie auch zeitlich limitierter Entscheidensprozess. Dies gilt auch im Falle einer letztlich ausbleibenden Entscheidung, das heißt in einem gescheiterten Entscheidensprozess. Das ›Scheitern‹ bemisst sich hier relativ zum Zweck der Eröffnung eines Entscheidensprozesses, nämlich durch diesen ein Entscheidungsresultat zu erzielen. Zwar ist das Scheitern des Prozesses gleichfalls ein Resultat, aber kaum sein Zweck. Angesichts der Fallbeispiele lässt sich ergänzen, dass Entscheidensprozesse in Autobiografien durch die jeweilige Erzählinstanz – je nach diegetischem Lebenskontext – als positive, chancenreiche oder auch krisenhafte, negative Zumutung präsentiert werden. Kurzum: In diegetischen Welten ist die semantische Dimension besonders facettenreich. Parallel hierzu besitzen Entscheidungen nicht für alle dargestellten Lebensbereiche und Figuren eine Entlastungsfunktion oder reduzieren Komplexität.90 Für die Autobiografin Fanny Lewald-Stahr öffnet sich beispielsweise mit der Option, einen Entscheidensprozess selbstbestimmt zu gestalten, ein Raum der Freiheit. Der gewonnene Entscheidungsspielraum wird neben Entscheidungsdilemmata im autodiegetischen Verlauf primär als eine positive Herausforderung geschildert: Lewald-Stahr befürwortet und betont etwa Autonomie und Optionalität, die Entscheidensprozesse mitbringen. Einen Entscheidensprozess als Herausforderung oder Zumutung zu inszenieren, ermöglicht der Autobiografin und den Autobiografen insgesamt eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Zumal Entscheidensprozesse vornehmlich dann eine iden tifikatorische Wertigkeit zugeschrieben wird, sobald sie tatsächlich für vereinzelte, biografische Wendepunkte stehen dürfen. Allenthalben sind 88 Beckert, Was tun?, S. 123. Vgl. hierzu auch: Willke, Zur Komplexität der Entscheidungstheorie, S. 64. 89 Beckert, Was tun?, S. 128. 90 So schreiben Stollberg-Rilinger und Krischer trotz angenommener Prozesshaftigkeit jedweder Entscheidung gewissermaßen eine Komplexitätsreduktion zu. Vgl. Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 12; Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, S. 35. Eine Annahme, die aber bei erweiterten Textanalysen zumindest für autobiografische Texte nicht ausreichend ist.
55
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
vorzugsweise Manuskripte a rchivwürdig, die signifikante Wendepunkte ›bezeugen‹. Diese werden wiederum als autobiografische Entscheidungsressourcen zu limitierten, exklusiven Referenztexten, sodass mit ihnen zugleich der ›wahrhaftige‹ Status autobiografischer Entscheidensprozesse statuiert werden kann. Entscheiden wird obendrein häufig als emanzipatorischer Prozess und meist positive Zumutung validiert.91 Schlotheuber zeigt in ihrer Unter suchung, dass »die Wahl des Lebensweges die erste selbständige Entscheidung [ist] und damit den Beginn eigenverantwortlichen Handelns« ein läutet.92 Ähnliches formuliert Eva Geulen, indem sie Entscheiden ein »anarchistische[s] Moment« zuschreibt.93 Beide Komponenten werden besonders in Lewald-Stahrs und Schnitzlers Autobiografien als chancenreiche Konstellationen dargeboten. Zusammengefasst erweisen sich Entscheidungen in den präsentierten Erzähltexten durchweg als ambivalent bewertete und perspektivierte Prozesse. Anders gewendet: Was für Heyse eine Zumutung ist, bedeutet für Lewald-Stahr und Schnitzler ein Zugewinn an Autonomie. Der aktuelle Forschungsstand führt zu einem heiklen Befund: Ent scheiderinnen stehen bislang im toten Winkel literaturwissenschaftlicher, ökonomischer, politischer sowie soziologischer Entscheidungsforschung. Deutlich zeigt sich dies in Lübbes Theorie der Entscheidung, wenn erklärt wird, was »›[e]in Mann von einsamen Entschlüssen« oder ein »Mann der großen Entscheidungen« sei.94 Zwar nimmt er hierbei Bezug auf Insze nierungsstrategien im politischen Feld und stellt dar, dass es sich bei omnipräsenten Entscheidungen meistens nicht um ›Entscheiden‹ handle, dennoch finden Entscheiderinnen keine Erwähnung. Hauptfigur ist der ›Entscheider‹ ebenfalls in Schimanks Theorieentwurf zur Entscheidungsgesellschaft, wenn er die fiktionalen entscheidensreichen Tagesverläufe eines »männlich[en], Professor[s], im mittleren Alter« mit dem »einer nicht berufstätigen Hausfrau und Mutter« kontrastiert.95 Trotz ihrer prominenten Position und Funktion innerhalb erzählter Entscheidensprozesse konnten Entscheiderinnen und Entscheidungsberaterinnen als Explikations 91 Vgl. Koselleck, Grenzverschiebungen der Emanzipation. 92 Schlotheuber, Der Mensch am Scheideweg, S. 74. 93 Geulen, Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, S. 53. 94 Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 129. 95 Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft, S. 12, 17. Die Präsenz von Entscheidern in der Literaturgeschichte thematisieren exemplarisch: Harbach, Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur, S. 3; Schlotheuber, Der Mensch am Scheideweg. Auch bei Glatzmeiers Einführung stehen ausschließlich Entscheider im Zentrum. Vgl. Glatzmeier, Entscheidungen, S. 15.
56
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
figur kaum die Forschungslandschaft der Wissenschaftsprosa betreten, obschon sie zum topischen Repertoire eines erzählten Entscheidensprozesses gehören.96 Als ein weiterer gemeinsamer Nenner darf der fachdisziplinäre Fokus gelten: Die geistes- und sozialwissenschaftlichen Studien jüngeren Datums fokussieren primär juristisches, ökonomisches und politisches Entscheiden.97 In ihrer Studie Linguistik des Entscheidens ergänzt Jacob rechts historische, soziologische, politologische sowie ökonomische Forschungsvorhaben erstmals um einen praxeologischen und diskurslinguistischen Ansatz. Nebstdem bestimmt sie ›Entscheiden‹ als einen sozialen Prozess, in dem Kommunikation eine »Schlüsselfunktion« einnehme.98 In ihrer Untersuchung verfolgt sie das Ziel, ein Methodenrepertoire zu etablieren, mit dem Entscheidensprozesse analysiert werden können. Allerdings sind ihre Fallbeispiele ausschließlich der politischen Disziplin zuzuordnen und einem fachspezifischen Entscheiden gewidmet. Auch Uwe Pörksens Politische Rede: oder wie wir entscheiden zeichnet sich durch einen kommunikationswissenschaftlichen Ansatz aus, mithilfe dessen die Politische Rede als Entscheidungsinstrument konturiert werden soll. In seiner Untersuchung bewertet er die »Entscheidungsrede« positiv und klassifiziert sie als »Werkzeug politischer Autonomie«. Die Rhetorik der politischen ›Entscheidungsrede‹, die von ihren Kritikern als schematisches Wortgebilde disqualifiziert worden sei, versuche er mithilfe kommunikationswissenschaftlicher Analysen wieder aufzuwerten. Auch hier bleibt weiterhin das präferierte Forschungsfeld die Politik.99 96 Weiterführend ist, dass Honold darlegt, wie in Kleists Drama Amphitryon Alkmene die Funktion einer zentralen »Entscheidungsinstanz« zukomme. Honold, »Entscheide Du«, S. 530. Honolds Befund validiert einmal mehr, dass Frauen die Entscheidensregie maßgeblich mitbestimmen, somit zentrale Akteurinnen innerhalb des jeweiligen Entscheidensprozesses sind. 97 Vgl. hierzu exemplarisch: ebd., S. 530; Stollberg-Rilinger und Krischer, Herstellung und Darstellung von Entscheidungen; Vismann und Weitin, Einleitung; Scherzberg, Kluges Entscheiden. Etymologisch ist das Verb ›entscheiden‹ bereits in einem richterlichen Kontext verankert und etwa seit dem 14. Jahrhundert belegt (vgl. Seebold, entscheiden). 98 Jacob, Linguistik des Entscheidens, S. 3 f. Vgl. hierzu: Niehaus, Die Entscheidung vorbereiten. 99 Pörksen, Politische Rede, S. 12. Auch Lübbe sieht neben dem Entscheidungszwang das Moment der Freiheit, das die Möglichkeit, sich zu entscheiden, mit sich bringe. Vgl. Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 123. So bestimmt Lübbe »Entscheidungssituationen« wertneutraler als »Ausnahmesituationen« (ebd., S. 128). Schlotheuber betont ebenfalls den positiven Aspekt eines Entscheidensprozesses. Vgl. Schlotheuber, Der Mensch am Scheideweg, S. 74.
57
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
Carolin Rocks und Martina Wagner-Egelhaaf untersuchen in ihrer Studie Ästhetik des Dezisonismus, wie ein textbasiertes Entscheidungsszenario konstituiert und innerhalb des literarischen Feldes ›Entscheiden‹ problematisiert wird.100 Ferner konzeptualisiert Wagner-Egelhaaf für Goethes Autobiografie lebenslauf- sowie werkkonstitutive Momente als autobiografiefähige Entscheidungen.101 Während sie das Resultat bereits vollzogener Entscheidungen in Form jener publizierten Autobiografie untersucht, will die vorliegende Studie mithilfe archivbasierter Materialstudien die maßgebenden Vorstufen eines diegetisierten, buchförmigen Entscheidens prozesses aufdecken. Das ist umso dringlicher, als jene wirk- und werkmächtigen Relationen das autobiografische Entscheiden erst zu einem nachlasspolitischen Akt formieren. Wegweisend ist Zanettis Aufforderung, dass literaturwissenschaftliche Disziplinen werkkonstitutive Entscheidungen untersuchen sollten: In der Literaturwissenschaft gibt es bislang noch kaum eine Diskussion darüber, inwiefern man editorische, archivarische sowie allgemein juristisch, wirtschaftlich und institutionell folgenreiche Aktivitäten und Entscheidungen von Autoren im Blick auf deren Werke – deren Konstitution (oder auch Dekonstitution […]) – als integrale Bestandteile nicht nur pragmatischer Kalküle, sondern poetischer und poetologisch reflektierter Arbeit bestimmen könnte.102 Der Sonderforschungsbereich Kulturen des Entscheidens liefert für diese Fragestellungen mögliche begriffliche Angebote, die dem vorgestellten, prozesssensiblen Entscheidenskonzept zugrunde liegen. Die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ›Entscheiden‹ innerhalb des Sonderforschungsbereichs zeichnet sich durch einen historisch-kulturwissen schaftlichen Ansatz aus.103 Im Zentrum der interdisziplinären Untersuchun gen stehen nicht singuläre Entscheidungen sowie deren Bewertung,104 100 Vgl. Rocks und Wagner-Egelhaaf, Entscheiden oder nicht entscheiden, S. 117, 120, 140. 101 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 20 f. Vgl. hierzu auch: Wagner-Egelhaaf, Trauerspiel und Autobiographie. 102 Zanetti, Sich selbst historisch werden, S. 93. Vgl. hierzu auch: Zanetti, Selbst herausgaben, S. 369-371. 103 Eine kulturhistorisch und -wissenschaftliche Entscheidenstheorie bestimmt noch Rössler als Desiderat: (Rössler, Autonomie, S. 277). 104 Dabei schließen die Teilprojekte des Sonderforschungsbereichs an Untersuchungen an, die klassische Rational-Choice-basierte Entscheidungstheorien kritisch diskutieren, nicht zuletzt auch kulturwissenschaftlich erweitern. Vgl. hierzu exempla risch: Pfister, Einleitung, S. 12-19. Vgl. hierzu auch Michael Quantes und Tim
58
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
sondern die Genese des Entscheidensprozesses.105 Untersuchungsgegenstand bilden materiell fixierte Entscheidensprozesse. Kommunikation und Prozess sind innerhalb des Sonderforschungsbereichs zentrale Bezugs größen, um den praxisorientierten Ansatz zu kennzeichnen und ihn von mentalistischen Ansätzen abzugrenzen.106 Bedeutsam ist, dass Michael Richter in seiner Untersuchung ›Narrativ‹ und ›Entscheiden‹ zusammenführt. Als heuristisch wertvoll darf sicherlich gelten, dass Richter die »Fähigkeit des Erzählens« betont, die darin liegt, »kontingente Entscheidungen darzustellen«.107 ›Literatur‹ erfährt in seiner Studie eine besondere Relevanz für wissenschaftliche Vorhaben, die dem Entscheiden gewidmet sind. Rojeks Studie: Quante und Rojek, Entscheidungen als Vollzug und im Bericht. Die kritische Reflexion der ›Rational Choice-Theorie‹ besitzt bereits eine längere Tradition. Vgl. hierzu: ebd.; Glatzmeier, Entscheidungen, S. 12; Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens, S. 631; Scherzberg, Kluges Entscheiden. Bereits im Jahr 1994 resümieren Lucian Kern und Nida-Rümelin gemeinsam: »Die Analyse kollektiver Entscheidungen bedarf eines begrifflichen Instrumentariums, das über dasjenige der traditionellen rational choice- und social choice-Theorien hinausgeht. Die zeitgenössische LkE ist sich seit einigen Jahren der Defizite dieser traditionellen Modelle zunehmend bewußt geworden, was zu einer beträchtlichen Anreicherung ihres Analyseinstrumentariums geführt hat. Sie ist an keine spezifische Theorie praktischer Rationalität gebunden, und jedenfalls nicht aufgrund der zweifellos bestehenden praktischen und theoretischen Schwächen des homo oeconomicus obsolet geworden« (Kern und Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S. 261 f.). 105 Vgl. hierzu: Quante und Rojek, Entscheidungen als Vollzug und im Bericht, S. 49-51; Pfister, Einleitung; Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft. 106 Vgl. Hoffmann-Rehnitz, Pfister, Quante und Rojek, Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus; Quante und Rojek, Entscheidungen als Vollzug und im Bericht, S. 43; Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens, S. 631 f.; Gethmann und Sander, Anti-Mentalismus. Es ist laut Niehaus notwendig, Entscheidungen als »sprachliche Handlungen« zu kontextualisieren (Niehaus, Die Entscheidung vorbereiten, S. 17; vgl. Quante und Rojek, Entscheidungen als Vollzug und im Bericht, S. 37-40). Materialisierte Entscheidensprozesse sind für kulturhistorische Studien beobachtbare Gegenstände, anders ist dies bei mentalen Vorgängen. Herbert Kraft hält dies folgendermaßen fest: »Aber keine Psyche kann […] ediert werden, sondern allein ein Text« (Kraft, Editionsphilologie, S. 154). Auch Almuth Grésillon betont, dass textgenetische Studien an dokumentierte, empirisch nachprüfbare Spuren gebunden seien (Grésillon, Literarische Handschriften, S. 36 f.). Vgl. auch: Spoerhase, Das »Laboratorium« der Philo logie?, S. 60; Bohnenkamp, Autorschaft und Textgenese, S. 64. 107 Richter, Das narrative Urteil, S. 2. Richter führt weiterhin aus: »Als narrative Problemverhandlung bezeichne ich die Darstellung einer Entscheidung zwischen verschiedenen Lösungsalternativen eines Problems mit Hilfe narrativer Struk turen« (ebd., S. 3). Seine Studie verortet er dezidiert interdisziplinär, dabei entwirft er einen kultur- sowie kognitionswissenschaftlichen Ansatz. Rössler verwendet
59
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
Der Forschungsüberblick zeigt deutlich, dass (1) literarische Texte als exemplarische Fallbeispiele dienen, (2) da mit diesen die dramatische Dimension des Entscheidens akzentuiert werden kann, (3) Schriftstel lerinnen als professionelle Entscheidensbeobachterinnen charakterisiert werden, (4) Autobiografien als Entscheidungsressourcen qualifiziert werden und (5) dennoch weder literarische noch literaturwissenschaftliche Praktiken und Theorien ins Zentrum der Studien rücken. Daher fehlt bislang eine narratologische sowie textgenetische Analysemethode für autobiografische und diegetische Entscheidensprozesse.108 Für die Entwicklung der Analysemethode kann auf bereits kulturwissenschaftlich perspektivierte Entscheidenstheorien und -analysen rekurriert werden, die besonders die sozialdimensionierte Prozesshaftigkeit des Entscheidens darlegen. Im Folgenden werden die narratologischen Voraus setzungen erläutert, um zu erklären, weshalb der Ausdruck ›autobiografische Figur‹ und gerade nicht ›autobiografisches Ich‹ verwendet wird. Nicht zuletzt wird deutlich, dass der diegetische Aufbau bereits an werkkonstitutive Entscheidensprozesse gebunden ist. Die theoretische Grundlage der Textanalyse bildet hier Wolf Schmids Narratologie, mit der ein idealgenetisches Modell vorgestellt wird. Mit diesem zeichnet er den Entwicklungsprozess einer Erzählung nach. Die präsentierte Erzählung stellt, so Schmid, ein Konstrukt dar.109 Die dargestellte Welt kann in diesem Zusammenhang als ein Produkt verstanden werden, das sich mittels Selektions- und Kombinationsprozessen formiert.110 In den vorgestellten Autobiografien bestimmen selbstarchivarische, kuratorische, selektive und kombinatorische Praktiken die Handhabung autobiografischer Materialien, die besonders in Entscheidensprozessen präsentiert werden. Schmids idealgenetisches Modell ist geeignet, um zu untersuchen, wie ein Entscheidensprozess gestaltet wird. Die Erzähltechnik beruht auf entscheidungsförmigen Archivierungspraktiken, die in autobiografischen Projekten präsentiert werden. Schmids Analysemodell funktioniert zudem gattungsübergreifend. Die Elemente der Narratologie dienen dazu, die einzelnen skizzierten Instanzen eines Erzählwerks zu klassifizieren, dabei betont Schmid, dass ein ebenfalls literarische Beispiele, um ihre Thesen bezüglich ›Entscheiden‹ und ›Autonomie‹ zu exemplifizieren (ebd., S. 21, 24, 259). Literarischen Fallbeispielen wird gewissermaßen ein paradigmatischer Mehrwert zugeschrieben. 108 Einschränkend ist hinzuzufügen, dass Objekte in dieser Studie nicht als Akteure verstanden werden, Archivalien und anderweitige Objekte sind Entscheidungsressourcen, auf die Autobiografen zurückgreifen können. Vgl. Schimank, Kulturelles am Entscheiden, S. 395. 109 Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 37, 253. 110 Vgl. ebd., S. 129.
60
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
»Erzählwerk […] nicht selbst erzählt, sondern ein Erzählen darstellt«.111 Die ›Kommunikation‹ setze sich aus zwei konstitutiven Elementen und einem fakultativen Element zusammen: Innerhalb des Modells seien die Dimensionen der Autorkommunikation und Erzählkommunikation konstitutiv, die der Figurenkommunikation fakultativ.112 Letztere komme ausschließlich dann zum Einsatz, wenn eine Figur des diegetischen Fi gurenrepertoires die Funktion von einer »Sprech- oder Erzählinstanz« übernehme.113 Für die Analysekapitel muss an dieser Stelle ergänzend hinzugefügt werden, dass in Autobiografien die erzählende Figur auch stets die erzählte Figur ist. In aktualisierenden Rückblenden werden die zeitlichen Divergenzen zwischen erzählender Figur und erzählter Figur betont, wodurch vorerst der Eindruck entsteht, dass die diegetische Erzählerin passagenweise als nichtdiegetische Erzählerin präsentiert wird. Die auf diese Weise konturierten Figuren der dargebotenen, zeitlich auseinanderliegenden Lebensabschnitte bilden zusammen die Figur des autodiegetischen Erzählers. Formulierte Trennungen wie ›erlebendes Ich‹ und ›erzählendes Ich‹ suggerieren, dass das erzählende Ich nicht zugleich erlebendes Ich sein kann. Fraglich ist unweigerlich, ob das erzählende Ich nicht vielmehr ein wieder erlebendes Ich ist. Hinzu kommt, dass mit dem Personalpronomen ›ich‹ eine direkte Referenz zwischen Diegese und Lebenswelt der ›konkreten Autorin‹ nahegelegt wird, die mediale, literarische Vermittlung womöglich unberücksichtigt bleibt.114 In Lyrikanalysen wird aus ähnlichen Gründen auf den Ausdruck ›lyrisches Ich‹ verzichtet, sodass dieser durch Ausdrücke wie ›Sprecher‹, ›Figur‹ oder jüngst ›Adressat‹ ersetzt wurde.115 In der vor111 Ebd., S. 43. 112 Vgl. ebd. 113 Ebd. 114 Eine direkte Referenz klingt etwa bei Neumann an, wenn er nicht zwischen Carl Philipp Moritz und der Figur Anton Reiser unterscheidet (vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 25). 115 Vgl. hierzu exemplarisch: Hillebrandt, Klimek, Müller und Zymner, Wer spricht das Gedicht?, S. 3-14; Görbert, Selbsterzählungen in Gedichtform, S. 40 f. Feitscher hält in seiner narratologischen Analysemethode an den Kategorien »erlebendes Ich« und »erzählendes Ich« fest, anschließend ergänzt er beide um die Kategorie »erinnerndes Ich« (Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 101). Indem Feitscher darlegt, dass der zeitliche Abstand »zwischen der erzählten Vergangenheit und der Erzählgegenwart […] sich im Verlauf des Erzählens [verringert]«, geht er weiterhin von einer linear chronologischen autobiografischen Erzählung aus, die mit der Kindheit beginnt und dem gehobenen Alter endet (vgl. ebd., S. 92). Viele autobiografische Formen bieten jedoch keine lineare Erzählung und beginnen explizit nicht mit der Kindheit. Vgl. hierzu exemplarisch: Pietsch, Wie
61
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
liegenden Studie vertrete ich die Annahme, dass der autodiegetische Erzähler erzählende und erzählte Figur des autobiografischen Erzähltextes ist. ›Die autobiografische Figur‹ ist das Resultat aller erzählten Figuren und der erzählenden Figur. Eine autobiografische Figur kann innerhalb des Erzähltextes als eine sekundär-autodiegetische Erzählerin auftreten. Schmid betont, dass jede Kommunikationsformation eigens »eine Senderund eine Empfängerseite« besitzt.116 Für die Autorkommunikation unterscheidet er dabei zwischen »konkrete[m]« und »abstrakte[m] Autor«.117 Unter dem ›konkreten Autor‹ sei die »reale historische Persönlichkeit« zu verstehen, die außerhalb des literarischen Werks existiere, dies gelte parallel auch für den »konkrete[n] Leser«.118 Beide Seiten stellten zumeist für das jeweilige Gegenüber eine gewisse Leerstelle dar. Der Ausdruck ›abstrakter Autor‹ beziehe sich auf fassbare auktoriale Spuren im jeweiligen Text; er sei das »Korrelat[ ] aller auf den Autor verweisenden indizialen Zeichen des Textes«.119 Das dadurch entstehende Bild des abstrakten Autors stelle eine Rekonstruktionsleistung dar, die das Lesepublikum erbringe. Die abstrakte Leserin und der abstrakte Autor seien jeweils mit der Lektüre entstehende »semantische Rekonstrukte«.120 Wenn in der vorliegenden Studie Schriftstellerinnen namentlich genannt werden, referiere ich damit nicht auf die uns unverfügbare realhistorische Person mitsamt Lebenswelt, sondern auf die Aussageinstanz, die jeweils in einem spezifisch autobiografischen Funktions- respektive Kommunikationsgefüge verortet ist.121 Ziel meiner
116 117
118 119
120 121
62
ich Schriftsteller geworden bin; Brod, Neben dem Schriftstellerberuf/Ein Zyklus Selbstbiographien. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 43. Ebd., 45 f. Dabei wendet sich Schmid gegen den Ausdruck des ›impliziten Autors‹, da dieser den abstrakten Autor in ein Äquivalenzverhältnis zum konkreten Autor setze: »Den werkimmanenten Repräsentanten kann man auch nicht als ›Sprachrohr‹ des konkreten Autors modellieren, was der Terminus ›impliziter Autor‹ nahelegt« (ebd., S. 61). Ebd., S. 45. Ebd., S. 59. Vgl. hierzu auch: »Alle Artikulationen der Figuren und des Erzählers drücken figuren- bzw. erzählerbezogene Inhalte aus und tragen dadurch dazu bei, die Bedeutungsintentionen des Autors auszudrücken« (ebd., S. 63). Es existiere in jedem Werk eine Grundmenge eines objektiven Sinngehalts, die jeder Interpretation einen Rahmen setze, darüber hinaus plädiert Schmid jedoch für eine Deutungsoffenheit eines jeden Werks (vgl. ebd., S. 60 f.). Ebd., S. 64. Vgl. zum Ausdruck ›Autor‹: Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 200 f.; Spoerhase, Autorschaft und Interpretation, S. 16 f., 53. Vgl. hierzu auch: Rojek, Hegels Begriff der Weltgeschichte, S. 40. Gleichzeitig soll Autobiografien keinesfalls ein faktualer Gehalt abgesprochen werden. Franzen legt die »Verkettung von Fiktionskonzept und Rezeptionsimperativ« dar (Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 56 f., 58-64). Er
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
tudie ist nicht, detektivisch zu ermitteln, wie es ›wirklich‹ gewesen sein S mag. Es geht um die Darstellung und Inszenierung von Entscheidens prozessen, also um die Frage, welche literarischen, dezidiert autobiografischen und archivarischen, kuratorischen, letztlich auch editorischen Praktiken sich formieren. Schmid nennt des Weiteren fünf erzähltextbasierte Verfahren, die für die Konstitution des Erzählers referentiellen Charakter besitzen und in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Für die Ermittlung einer Typologie der Erzählerin seien folgende Textverfahren zu berücksichtigen: die »Auswahl von Momenten«, »Konkretisierung und Detaillierung der ausgewählten Geschehens momente«, »Komposition des Erzähltextes«, sprachliche »Präsentation der Erzählung« und die »Bewertung der aus gewählten Momente« sowie die »›Einmischung‹ des Erzählers«.122 Diese selektiven wie kombinatorischen Teilhandlungen erinnern an den Aufbau eines Entscheidensprozesses.123 Die letzte Dimension ist für Schmid die präsentierte Erzählung. Diese sei die jeweilig wahrnehmbare, schriftlich fixierte Textfassung. Für diese Dimension unterscheidet Schmid zwischen Diegesis als »der Ebene der erzählten Welt« und der Exegesis als »der Ebene des Erzählens«.124 Die Dichotomie zwischen histoire und discours wird zugunsten eines viergliedrigen Konstitutionsmodelles aufgegeben: Dieses besteht aus folgenden Elementen: »Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung«.125 Das Geschehen kann als das verfügbare Material verstanden werden, daraus selektierte Elemente ergeben eine Geschichte, die durch das Verfahren der »Komposition« wiederum zu einer Erzählung wird.126 In der vorliegenden Studie sind dies die jeweils verfügbaren Archivalien und literarischen Texte. Die Komposition umfasst sinnkonstituierende Mechanismen der »Linearisierung« sowie der »Permutation«, dabei werden zugleich die Perspektiven generiert.127 Bedenkt man das Verhältnis zwischen Wirklichkeitswahrnehmung und deren Darstellung für das Konzept eines autobiografischen Projekts, zeigt sich deutlich, dass Erzählverfahren, die sich Lebensläufen zuwenden, Realität keineswegs direkt widerspiegeln,
122 123 124 125 126 127
betont, wie auch Feitscher, dass Literarizität kein valides Fiktionsmerkmal sei (ebd., S. 76 f.; Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 3). Schmid, Elemente der Narratologie, S. 73, 79. Pfister, Einleitung, S. 19-32. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 86; vgl. ebd., S. 253. Ebd., S. 251. Ebd., S. 253. Ebd., S. 274 f.
63
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
sondern aufgrund kompositioneller Vorgehensweisen ebenfalls als prismatisch gebrochen verstanden werden müssen. Die letzte und für die Textanalyse zentrale Dimension ist die präsentierte Erzählung, sie bildet mit der Textgenese respektive den autobiografischen Manu- und Typoskripten den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie. Diese Praktiken sind auch für Wilhelm Dilthey zentral, wenn er sich zu autobiografischen Projekten äußert. In seiner Studie Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften widmet er sich bekanntermaßen auch der Selbstbiografie. Hervorzuheben ist, dass just in jener Passage, in der Dilthey autobiografische Erzählarbeit definiert, entscheidungsförmige, nämlich archivarische sowie kuratorische Praktiken erwähnt werden. Das Augenmerk liegt wie bei Schmid auf selektiven und kombinatorischen Praktiken, die eine Erzählung bedingen: Er hat in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er als bedeutsam erfuhr, herausgehoben und akzentuiert und die anderen in Ver gessenheit versinken lassen. […] Die Einheiten sind in den Konzeptionen von Erlebnissen gebildet, in denen Gegenwärtiges und Vergangenes durch eine gemeinsame Bedeutung zusammengehalten ist. […] [A]us der endlosen, zahllosen Vielfalt ist eine Auswahl dessen vorbereitet, was darstellungswürdig ist. Und zwischen diesen Gliedern ist ein Zusammenhang gesehen, der freilich nicht ein einfaches Abbild des realen Lebensverlaufs so vieler Jahre sein kann, der es auch nicht sein will.128 Es ist die Komposition einzelner Momente, die aus einem großen Fundus gewählt wurden, um das Leben und seine Entwicklung verstehbar zu machen. Mit erzählten Entscheidensprozessen wird das Augenmerk auf analytische und synthetische Verfahren gelenkt. Die Studie kann als Plädoyer dafür verstanden werden, die ästhetische und praxeologische Dimension autobiografischer Entscheidensprozesse zu untersuchen. Um Entscheidensprozesse verstehen zu können, ist die Erzähltextanalyse grundlegend. Sonach wird autobiografisches Entscheiden als ein retrospektiver Prozess definiert, der schrift- sowie lektüregebunden ist: Entscheiden zeigt sich in literarischen Texten primär mittels schrift gebundener, archivarischer und kuratorischer Praktiken. ›Schreiben‹, ›Kuratieren‹ und ›Archivieren‹ fungieren als heuristische Entscheidenspraktiken, die dabei helfen, Kontingenz zu kaschieren. Hervorgehoben werden muss an dieser Stelle, dass mediale und materiale Eigenheiten der Schreib 128 Dilthey, Das Erleben und die Selbstbiographie, S. 200.
64
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
utensilien bestimmen, wie der Entscheidensprozess dargestellt, wahrgenommen und rezipiert werden kann. Mit diesem praxeologischen Ansatz geraten »die praktische Handhabung und Produktion von Kultur im Handeln der Akteure in den Vordergrund« und »[n]icht die Handlungsintention, sondern die Handlungsform steht im Fokus«.129 Autobiografische Projekte auf einen rein kognitiven, intuitiven und spontanen Erinnerungsvorgang zu reduzieren, würde im Kontext der hier vorgestellten Fall beispiele eine quellenferne Verknappung bedeuten. Exemplarisch sei hier darauf verwiesen, wie Moser Diltheys Erinnerungskonzept resümiert: »Erinnern ist also kein bewusstes Ordnen, sondern ein spontaner Vorgang«.130 Unerwähnt bleiben dabei die autobiografischen Konzepte, die Erinnern gerade als bewusstes Ordnen und weniger als spontanen Vorgang beschreiben. Zweierlei wird deutlich: Wenn Wilhelm Diltheys Forschungen in Studien zu Autobiografien zitiert werden, dann wird selten sein Aufsatz Archive für Literatur berücksichtigt.131 Un berücksichtigt bleibt also, dass Dilthey sich um Archive für Literatur bemüht. Er fordert eine Institution, die Konzepte spontaner, zufälliger sowie dauerhafter, systematischer und geplanter Erinnerung vereint.132 Es zeigt sich wiederholt, dass eine Kontextanalyse notwendig ist, um Entscheidensprozesse zu untersuchen.133 Einer solchen Forderung wird in den Textanalysen nachgegangen. Eine kontingente Erfahrung sowie un bestimmte Handlungen werden in der retrospektiven Erzählung zu einem Gebilde von Zusammenhängen, dabei steht nicht primär die Erfüllung einer Ganzheit, Einheitlichkeit oder gar Kohärenz voran.134 Vielmehr zeigt sich ein hermeneutisches, nachweltorientiertes Deutungsangebot und Ord129 Elias, Franz, Murmann und Weiser, Hinführung zum Thema und Zusammen fassung der Beiträge, S. 3 f. 130 Moser, Einleitung, S. 20. Moser bezieht sich hier auf Dilthey und referiert Goethes Brief an Christian Moritz Engelhardt, in dem Goethe sich dezidiert dagegen wende, dokumentarisches Material in seiner Autobiografie zu zitieren (Moser, Einleitung, S. 20). Entgegen seiner brieflichen Äußerung verfährt er in seinen autobiografischen Projekten anders, was wiederum seinen archivarischen Erinnerungskonzepten unterstützend entgegenkommt. 131 Vgl. Dilthey, Archive für Literatur. In Ulrich Hermanns kritischer Gesamtausgabe ist der Aufsatz hier zu finden: Dilthey, Archive für Literatur [1970], S. 1-16. 132 Bülow betont, dass Diltheys »Vorschlägen folgend, […] das Weimarer Goethe archiv ausgebaut und bald darauf das Schiller-Nationalmuseum in Marbach gegründet [wurde]« (Bülow, Papierarbeiter, S. 15). 133 Arno Scherzberg hebt hervor, dass für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Entscheidungsforschung die Kontext- und Prozessanalysen unabdingbar seien (vgl. Scherzberg, Ausblick, S. 326 f.). 134 Vgl. hierzu: Zipfel, Autofiktion, S. 307 f.
65
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
nungsverfahren. Bestimmend sind dabei das verfügbare Archivmaterial, die handhabbare Zeit und ein gestaltbarer Raum. Entscheiden ist demnach eine Handlungsform, die folgende archivarische, kuratorische und editorische Tätigkeiten zusammenbringt: Planung, Ordnung, Selektion und Kombination. Offenkundig wird dabei, dass sich Entscheiden nicht allein durch Schnittstellen auszeichnet, sondern auch für die Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Privatheit steht. Denn sich zu einer Entscheidung zu bekennen, bedeutet die Verantwortung einer Gestaltbarkeit eingegangen zu sein oder diese rückblickend zu übernehmen. Diesen Befunden gehe ich mithilfe einer umfassenden Kontextanalyse nach, die sich wiederum in Ausgabenvergleiche, textgenetische Archiv studien, Abgleiche zwischen testamentarischen Bestimmungen und autobiografischen Projektverläufen sowie Paratextanalysen gliedern lässt. Erwartet werden können demnach detaillierte Kontextanalysen, die dabei helfen, autobiografische Praktiken sowie deren Funktion zu bestimmen. Festhalten möchte ich an dieser Stelle, dass die Studienergebnisse primär Gültigkeit für die vorgestellten Fallbeispiele besitzen, eine Allgemeingültigkeit kann und soll nicht der Anspruch sein. Dennoch verraten die punktuell eingeflochtenen, ergänzenden Beispiele, dass autobiografische Archivierungspraktiken keinesfalls ein marginales, singuläres Phänomen darstellen. Vielmehr stehen diese für eine etablierte, kulturrelevante Praxis, die womöglich das weite Forschungsfeld zur Autobiografietheorie ergänzen kann. Für die Textanalysen wurden exemplarische Autobiografien gewählt, denen gemeinsam ist, dass ähnliche ›werkpolitische‹ Traditionslinien und Nachlassstrategien referiert werden.135 Neben Fanny Lewald-Stahrs, Paul Heyses und Arthur Schnitzlers Autobiografien werden weitere aussagekräftige Fallbeispiele punktweise berücksichtigt. Entscheidend für die Textauswahl ist auch, dass die Schriftsteller und Schriftstellerinnen teilweise miteinander korrespondierten und ihre Werke allesamt ausgeprägte Archivierungspraktiken ausstellen, die brieflichen Korrespondenzen werden oftmals genutzt, um vorlasspolitische und nachlassorganisatorische Weichenstellungen zu diskutieren.136 Alle genannten Schriftsteller ver 135 Zentral ist hier Steffen Martus’ Studie zur ›Werkpolitik‹: Vgl. Martus, Werkpolitik. 136 Einzig Arthur Schnitzler steht nicht in direkter Korrespondenz mit den genannten Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Vgl. zur Korrespondenz: Sternagel, Fanny Lewald und ihre jungen Männer; Heyse und Fontane, Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse; Heyse und Ebner-Eschenbach, Briefwechsel; Petzet, Vorwort; Heyse und Lewald, Der Briefwechsel von Paul Heyse und Fanny Lewald. Die Briefwechsel werden lediglich als informativer Kontext hinzugezogen.
66
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
fügen über ein gemeinsames kulturhistorisches Wissen, das signifikant von der Etablierung einzelner Literaturarchive um 1900 beeinflusst ist. Dies mag erklären, weshalb explizit die archivarische Funktion autobiografischer Editionsprojekte genutzt wird, um sich nicht zuletzt einen dauerhaften Sitz innerhalb der europäischen Literaturgeschichtsschreibung zu sichern. Die edierten Briefwechsel, Tagebücher und unveröffentlichten Archivbestände der Schriftstellerinnen präsentieren ein Netzwerk des Entscheidens, das maßgeblich beeinflusst, wie Entscheidensprozesse dargestellt werden können. Zugleich wird anhand solcher Netzwerke erstmalig die Prozesshaftigkeit lebenslaufkonstitutiver Entscheidungen erkennbar. Mit der Text auswahl gewinnt auch der Untersuchungszeitraum Kontur, so liegt der Fokus auf dem späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert. Während Lewald-Stahrs, Heyses und Schnitzlers Autobiografien jeweils ein ganzes Analysekapitel gewidmet wird, werden Ebner-Eschenbachs, Fontanes und Brods Autobiografien in den Methodenkapiteln neben weiteren Fallbeispielen bevorzugt analysiert. Innerhalb der Einleitung und der Methodenkapitel fungieren Ebner-Eschenbachs und Brods Autobiografien als vorstehende Fallbeispiele, da beide Autobiografien für die Fragestellung paradigmatischen Charakter besitzen und innerhalb des Unter suchungszeitraums den Anfangs- und Endpunkt markieren. Sie eignen sich besonders dazu, das Analyseinstrumentarium, für den durch sie umspannten Zeitraum, weiterzuentwickeln.137 Die Studie ist so angelegt, dass die Analysemethode anhand der Textbefunde konzipiert und parallel zur Textanalyse kontinuierlich profiliert wird. Daraus folgt, dass bereits die Methodenkapitel textanalytisch ausgerichtet sind und mit dem Kapitel zur bricolage als Analysemodell schließen. Die Textanalysen werden um einzelne Quellenauswertungen ergänzt, diese dienen zunächst einer textgenetischen Vorgehensweise, um autobiografische Entscheidenspraktiken und entscheidensaffine Darstellungstechniken ermitteln zu können. Des Weiteren werden ausgewählte Archivalien, die innerhalb der hier vorgestellten Entscheidensprozesse eine konstitutive Funktion übernehmen sowie für den Themenkomplex Autobiografische Archivierungspraktiken kulturhistorisch relevant sind, transkribiert, sodass diese vollständig wiedergegeben werden können. Besonders für diejenigen Autobiografien, für die bislang keine historisch-kritischen Ausgaben existieren, sind textgenetische, kontextorientierte Materialsichtungen unabdingbar, um den Zusammenhang 137 Es wird nicht beansprucht, dass sich das vorliegende Analyseinstrumentarium ohne Modifikationen auf andere Zeit- und Kulturräume (z. B. die Frühe Neuzeit) anwenden lässt. Wohl aber, dass es erste Hinweise und Schritte für ein dann ggf. auch übergreifendes Analyseinstrumentarium bereitstellt.
67
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
zwischen archivarischer Praxis und Archivalieninszenierung nachvollziehen zu können. Erneut: Mit der Archivarbeit soll weder die Frage beantwortet werden, wie es wohl ›tatsächlich‹ gewesen sein mag, noch wird mit ihr das Anliegen vertreten, realhistorische Entscheidungen des konkreten Schriftstellers zu rekonstruieren oder zu justieren. Vielmehr ist das textgenetische Unter suchungsvorhaben ein praxeologisches. Es ist im näheren Umfeld der Editionsphilologie und praxisorientierten Archivforschung zu verorten.138 Die Textanalysen sind dem Versuch geschuldet, neben der omnipräsenten Autobiografietheorie, die Autobiografiepraxis zu profilieren.139 Damit ist nicht intendiert, die Literaturwissenschaft von Archiv-, Buch- und Editions wissenschaften zu separieren, sondern gerade die unterschiedlichen Per spektiven nutzbar zu machen. Vorangestellt werden kann, dass für die ausgewählten autobiografischen Projekte nachlassstrategische Tätigkeiten maßgebend sind.140 Der Entscheidensprozess wird aus kuratierten Archiva138 Verwiesen sei hier auf Spoerhases Plädoyer, »verlagshistorische oder buchhandelsgeschichtliche Kontextfaktoren« zu berücksichtigen (Spoerhase, Das Format der Literatur, S. 15 f.). Deutlich zeigt sich dieser Zusammenhang in Hanne Knickmanns Aufsatz zu Kurt Pinthus: Knickmann, »Ich weiß nicht, bin ich zum Dichter, zum öffentlichen Kritiker, oder zum Wissenschaftler bestimmt?«, S. 55). Des Weiteren betont Spoerhase: »Die Berücksichtigung der spezifischen Buchförmigkeit von Literatur ist […] nicht etwas, das unterschiedliche historischen Kontextualisierungsinteressen anheimgestellt wäre, sondern etwas, das die spezifische Gemachtheit von literarischer Textualität in ihrem Kern betrifft« (Spoerhase, Das Format der Literatur, S. 16). Vgl. hierzu auch: Thalmair, publish! Dies wird besonders in der Textanalyse zu Lewald-Stahrs autobiografischem Projekt deutlich, denn die Schriftstellerin organisierte ihre Textarbeiten gleich zu Beginn in Buchform. Der überlieferte Nachlass besteht zumeist aus Manuskriptbüchern und kaum aus einer losen Blattsammlung. Vgl. zum Potenzial einer ›materialen Textkulturforschung‹ exemplarisch: Hilgert, Praxeologisch perspektivierte Artefaktanalysen des Geschriebenen. Vgl. auch: Jannidis, Lauer, Martínez und Winko, Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern, S. 9-15; Bohnenkamp, Autorschaft und Textgenese, S. 64. 139 Spoerhase plädierte in seiner Studie Das Format der Literatur für eine kontextbewusste Literaturwissenschaft, die gleichermaßen Theorie und Praxis berücksichtige. Nur so ließen sich »medien- und auch literaturwissenschaftliche[ ] Allgemeinplätze […] vermeiden, die sich oftmals aus ungedeckten theoretischen Verallgemeinerungen ergeben. An die Stelle dieser Allgemeinplätze treten, so jedenfalls die Hoffnung, auf mikrologischer Beobachtung materieller Textualität beruhende archiv- und quellengestützte Thesen, die ausgehend von einer mittleren Ebene der Theoretisierung letztlich auch weitreichendere makrologische Revisionen einleiten« (Spoerhase, Das Format der Literatur, S. 47). 140 Die Bibliotheksordnung seines Vaters wiederherzustellen wird für Walter Mehring ein lebenslaufkonstitutiver Prozess. Die Bibliotheksordnung, durch den Krieg
68
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
lien arrangiert, für die Rezeption fixiert und als schriftgebundene Praxis ›imitierbar‹. Beachtenswert ist, dass Autobiografinnen in der Diegese ihre editorische Expertise explizieren. Das ausgestellte editorische Erfahrungswissen prägt die narrativierten Entscheidensprozesse, da in Autobiografien mitunter erstmalig private Archivalien publiziert werden. Eine solche Erstpublikation wird medienwirksam dargeboten und ist keinesfalls nur ein kontingentes Nebenprodukt einer Entscheidungserzählung. Die Teil publikationen einiger Brief- sowie Tagebuchpassagen oder neukontextualisierte Editionen bereits edierter Novellen, Dramen und Gedichte fristen ein Schattendasein in der theorieaffinen Autobiografieforschung. Neben Paratext und autobiografischem Pakt erscheinen sie marginalisiert. Autobiografische Projekte sind einmal mehr ein kulturrelevantes Kapitel innerhalb der Editionsgeschichte angesichts der Tatsache, dass Schriftsteller oftmals als Editoren agieren. Zumal Steinfeld erläutert, dass ›Entscheiden‹ ein konstitutives Merkmal jedweder Editionsprojekte sei: Am Ende, wenn der Philologe das Suchen und Sammeln läßt und zur Gestaltung einer Edition übergeht, steht er vor einem Dilemma, das dem Durcheinander, das er zu Beginn seiner Arbeit vorgefunden hat, nicht nur von ferne ähnlich sieht. Wieder liegt eine zu bewältigende Masse vor ihm, und er muß sich entscheiden: zwischen dem Material, das er in die Edition aufnehmen kann und will, und dem, was er, schon aus Gründen des Umfangs, also der Übersichtlichkeit, der Organisierbarkeit und Handlichkeit, fortlassen muß. Alle Editionen entstehen aus Entscheidungen für die zweitbeste Alternative.141 zerstört, muss Mehring mühsam wiederherstellen: »Nie hätte er – dieser Musterschüler des Rationalismus – sich vorstellen können, sich ausdenken wollen, in welchem Zustand ich die Bücher wiederfinden sollte – kopflos in Kisten geworfen und verfrachtet unter Lebensgefahr aller Mitbeteiligten – Band für Band, den ich auspackte, um die Ordnung wiederherzustellen, während das ganze Theater des Abendlandes im Blechgetöse und Paukenfortissimo eines Götterdämmerungs finales zusammenkrachte. Indem ich nun daran ging, in dem chaotischen Bücherhaufen die Anordnung wiederherzustellen, die mein Vater nach seinem Maßstab geregelt hatte, war es mir, als müßte ich mühselig ein Landschaftsbild meiner Kindheit aus Erinnerungstrümmern rekonstruieren« (Mehring, Die verlorene Bibliothek, S. 36-38). 141 Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter, S. 136. Wie mühsam die Arbeit an einem Buchprojekt ist, mag folgende Passage ahnen lassen: »Geduld war von nöten, da Gutzkow mit einer unvergleichlichen Genauigkeit in die seine Werke betreffenden Verlagsabläufe Einblick nehmen wollte. Sein Perfektionismus zeigte sich vor allem in seiner ›Korrektur-Wut‹« (Lawall, Verlagswahl, Verlagswechsel und Korrespondenzen von Autoren als Quellen für die Verlagsgeschichtsschreibung, S. 38).
69
ii . › en tsch ei den ‹: ei n e be sta n dsau f na h m e
Clayton Childress notiert eine ähnliche Beobachtung und konstatiert: »To tell a typical publishing story also means to learn why the publisher made its decisions«.142 Indem in den Textanalysen auch Editionsentscheidungen der Schriftstel lerinnen untersucht werden, ist damit keinesfalls intendiert, den autobiografischen Text auf einzelne schriftstellerische Entscheidungen festzulegen oder ihnen alleinige Deutungshoheit zuzuschreiben. Diese Kapitel sind der Literaturwissenschaft und -geschichte gewidmet, denn die Erscheinung und Bewahrung des jeweiligen autobiografischen Projekts kann nicht auf eine Autoren-, Editorinnen- oder Verlagsentscheidung reduziert werden. Vielmehr beweist diese, dass einer Textveröffentlichung ein Entscheidens prozess mit mehreren Instanzen vorausgeht und dieser sich in dargestellten Entscheidensprozessen merklich niederschlägt. Eine zentrale Figur ist für diesen Zusammenhang die Ehefrau,143 deren Bedeutung in der Literaturgeschichtsschreibung häufig hinter Verlagsnamen, Autornamen und in Archivkästen verschwindet. Beispielsweise sind Emilie Fontane und Erna Döblin die Satzmanuskripte zu verdanken, Anna Heyse, Liselotte Jünger,144 Hadwig Klemperer die Nachlassverwaltung und -archivierung. Erdmut Wizisla hebt in ihrer Untersuchung hervor, dass Ruth Berlau und Helene Weigel sich bemühten Brechts Nachlass zu archivieren und somit zukünftige Forschungsvorhaben überhaupt erst ermöglicht hätten.145 Auch wenn 142 Childress, Under the Cover, S. 12. 143 Barbara Hahn beschreibt diese Konstellation als prekäre Arbeitsgemeinschaft: »Frauen schreiben […] Literatur. […] Eine dieser Konstellationen ist die Arbeitsehe. Damit sind schreibende Paare gemeint, bei denen sich eine prekäre Arbeitsteilung zeigt: dem Mann die Wissenschaft – der Frau die Ideologie; das bekannteste Beispiel dafür sind Max und Marianne Weber« (Hahn, Unter falschem Namen, S. 72). Vgl. hierzu auch: Grésillon, Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben, S. 170. 144 Als Archivarin war sie für das Cotta-Archiv im DLA Marbach verantwortlich. 145 In seiner Autobiografie hebt Fontane die »gute[ ] Rollenverteilung« hervor, die nicht unmaßgeblich an seinem Erfolg beteiligt war: »[S]ie hat mir alle Bücher und alle Zeitungen vorgelesen und hat mir alle meine von Korrekturen und Einschiebseln starrenden Manuskripte abgeschrieben, also, meine dicken Kriegsbücher mit eingerechnet, gute vierzig Bände« (Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 360). Vgl. Wizisla, Archive als Editionen?, S. 407. Die Bedeutung der Ehefrau für schriftstellerische Publikationsvorhaben hebt Grésillon hervor (Grésillon, Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben, S. 170). Dennoch wird diesen werkpolitischen Tätigkeiten selten wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Ulrike Edschmid betont, dass dank der Ehefrauen »Doktorarbeiten und Biographien zustande[kommen], aber keine der Frauen […] in der Literaturgeschichte erwähnt [wird]« (Edschmid, Diesseits des Schreibtischs, S. 263). Hahn schreibt im Vorwort zu Edschmids Studie, dass »ein schreibender Mann […] eine nicht
70
ii .2 for sch u ngs sta n d u n d vorgeh en
der autobiografische Text der primäre Untersuchungsgegenstand ist, sollte seine Entstehungs- und Publikationsgeschichte nicht übersehen werden, besonders da auf diese Praktiken und Prozesse innerhalb der Diegese bereits explizit hingewiesen wird. Schließlich sollten sie nicht vergessen werden, da sie allesamt maßgeblich unsere Rezeptionsmöglichkeiten bestimmen.
schreibende Frau an seiner Seite [braucht], die das Leben organisiert, während schreibende Frauen meistens allein leben« (Hahn, Wer schreibt, wer spricht?, S. 11). Hahns These wäre in einer vergleichenden Studie zu überprüfen. Die editorische Tätigkeit von Frauen seit dem 18. Jahrhundert stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar. Heinrich Spiero lässt die literarhistorische Relevanz editorischer Tätigkeiten kurz aufscheinen, wenn er schreibt: »L udm illa Assin g […] hatte […] später recht urteilslos den Nachlaß ihres Oheims herausgegeben, auch Lebensbeschreibungen der Gräfin Elise Ahlefeldt, der Freundin Immermanns, und der Sophie La Roche veröffentlicht« (Spiero, Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800, S. 49).
71
III. Analysekategorien
In den folgenden drei Kapiteln expliziere ich die Grundlagen meiner Analysemethode. Das erste Kapitel legt die kulturhistorische Bedeutung sowie den Kontext autobiografischer Archivierungspraktiken dar, zudem bereitet dieses Kapitel maßgeblich die weiteren Methodenkapitel vor. Wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln sind die literaturwissenschaftlichen Ausführungen eng an praxisnahe Fallbeispiele geknüpft. Die bevorstehende Textanalyse wird auf diese Weise sukzessiv vorbereitet, um zu vermeiden, dass sich Praxis und Theorie zusammenhangslos gegenüberstehen. Die bricolage als entscheidungsförmige Erzähltechnik wird im ersten Kapitel bereits veranschaulicht. Damit erklärt sich, weshalb dieses Kapitel grö ßeren Raum einnimmt als die beiden anschließenden. Faktuale sowie fiktionale autobiografische Praktiken und Erzähltechniken, die in text- und lebenslauf konstitutiven Entscheidensprozessen ersichtlich werden, beschreibe ich mit dem Begriff bricolage. Eine bricolage ist nicht zuletzt auch für diegetische sowie nichtdiegetische Entscheidensprozesse konstitutiv.
III.1 Autobiografie und Archiv Mit den hier vorgestellten autobiografischen Projekten wird deutlich, dass Entscheidensprozesse mithilfe ausgewählter, bislang unpublizierter Archivalien gestaltet werden.1 Der gewährte Einblick in das Privatarchiv lässt Spekulationen über archivwürdige Manuskripte, lukrative Editionsprojekte und erzählenswerte, nämlich krisenhafte Ereignisse zu. Die Entscheidung, eine Autobiografie zu schreiben, ist eingebettet in einen weitläufigen kuratorischen und editorischen Entscheidensprozess. Demzufolge bedeutet autobiografische Arbeit zumeist auch, dass das eigene Archiv
1 Vgl. zum Verhältnis von ›Selbstarchivierung‹ und ›Selbsthistorisierung‹ exemplarisch: Sina, Die vergangene Zukunft der Literatur, S. 52-58; Zanetti, Einleitung, S. 31; Spoerhase, Postume Papiere, S. 510 f.; Zanetti, Sich selbst historisch werden; Lübbe, Im Zug der Zeit, S. 167-211. Festgehalten werden kann an dieser Stelle, dass in keinem der Aufsätze die Verbindung zwischen Autobiografie, Archiv und Werk konstatiert wird.
73
iii . a na lysek at egor i en
durchforstet wird und besonders illustrative Archivalien ausgewählt werden, um persönliche Weggabelungen darzustellen. Währenddessen übernimmt der Schriftsteller die Funktion eines Kurators. Stefan Krankenhagen zufolge ermöglicht das ›Kuratorische‹ »eine spezifische Auswahl«, »eine ästhetische Ordnung der Dinge« und »einen Akt der subjektiven Selbstkonstituierung«.2 Ferner verweist er in seiner Begriffsdefinition auf Dorothea von Hantelmanns Ausführungen, in der sie ›Entscheiden‹ zum zentralen Merkmal der kuratorischen Praxis erhebt: »The curator emerges as a figure who exemplarily constitutes himself or herself through aesthetic choices, who is a virtuoso in choosing and in making these choices meaningful«.3 Krankenhagens und Hantelmanns Definitionen erinnern an das Konzept der ›Selbsthistorisierung‹.4 Archivierung als autobiografische Praxis bestimmt maßgeblich die Formation und Darstellung lebenslaufkonstitutiver und werkkonstitutiver Entscheidensprozesse, die sich wechselseitig bedingen und nicht zuletzt auch werkpolitische und werkordnende Funktionen besitzen.5 Die Entscheidung, eine Autobiografie zu schreiben, bedeutet das Leben in ein 2 Krankenhagen, Geschichte kuratieren, S. 10. Krankenhagen sieht in der Figur des Kurators einen Entscheidensexperten: »Die in den letzten beiden Jahrzehnten gewachsene kulturelle Bedeutung des Kurators ist auf jene Expertise zurückzuführen, die in dieser Figur beispielhaft zur Anschauung kommt: auf die gesteigerte Fähigkeit sinnvoll auszuwählen und dieser subjektiven Auswahl zugleich objektiven Sinn zu verleihen« (ebd., S. 9). Kuratorische Praktiken stehen für die Frage, wie Geschichte »in eine ästhetische Form gebracht wird« (ebd., S. 12). Um etwaige Entscheidensprozesse, die zu einem Buch führen, nachvollziehen zu können, ist laut Wieland ein Blick ins Archiv unabdingbar (vgl. Wieland, Einleitung, S. 12). 3 Hantelmann, Affluence and Choice, S. 47. Vgl. auch: Smith und Watson, The After lives of Those Who Write Themselves, S. 10. Annette Gilbert stellt fest, dass »[z] unehmend […] das Buch und die Bibliothek als kuratorische[r] Raum [entdeckt]« werde (Gilbert, Vom Rand ins Zentrum, S. 72). Deutlich zeigt sich dies in Tranströmers Randgebiete der Arbeit. Im Vorwort wird das autobiografische Projekt als ein archivarisches, kuratorisches und editorisches Kollektivprojekt beschrieben: »Fast zwei Jahre lang trafen Tomas Tranströmer, seine Frau Monica und Magnus Halldin sich regelmäßig in der Stigbergsgatan, um die Stapel von Material in diesem labyrinthischen Privatarchiv durchzuarbeiten. Gemeinsam bildeten sie eine Redaktion, deren Vorsatz es war, ein Buch gemischten Inhalts zusammenzustellen, in dem verschiedene Seiten der schriftstellerischen Arbeit zur Geltung kommen sollten. Es erwies sich als eine delikate Aufgabe, aus einem Material, das durchgehend eine so hohe Dichte aufweist, eine Auswahl zu treffen; es fiel ganz einfach schwer Dinge auszusondern.« (Halldin und Butt, Eine literarische Vorratskammer, S. 7). 4 Vgl. zum Ausdruck ›Selbsthistorisierung‹ auch: Stockinger, Das 19. Jahrhundert, S. 255. 5 Vgl. zum Zusammenhang von ›Archiv‹ und ›Werkpolitik‹ exemplarisch: Schwieren, Gerontographien; Martus, Werkpolitik.
74
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
»Format der Literatur« zu bringen.6 Für das in Form gebrachte Leben ist weder eine anschließende Publikation noch das Buchformat ein konsti tutives Merkmal.7 Publizierte Autobiografien haben gemeinsam, dass Auto biografen ihre editorischen Expertisen ausstellen. Erzählte Entscheidensprozesse sind für Childress – wie bereits erwähnt – das lehrreiche sowie erfolgsversprechende Herzstück einer Publikationsgeschichte: To tell a typical publishing story also means to know why publishers that rejected the novel did reject it, and why the publisher that published it did so too. […] To tell a typical publishing story also means to learn why the publisher made its decisions.8 Mit den Textanalysen wird gezeigt, dass die autodiegetische Erzählerin bemerkenswerterweise nicht allein das ›Why‹, sondern auch das ›How‹ offenlegt. Diese signifikante Korrelation ermöglicht wiederum, die Praxeologie der Autobiografie auszuarbeiten. In diesem Zusammenhang können erzählte Kassations- und Archivierungsentscheidungen als nachlass- und werkstrategische Verfahren verstanden werden, die den zukünftigen Archiv- und auch Marktwert vorbereiten: Fiktion wird Fakt.9 Anders formuliert: Autobiografisch aufbereitete Archivalien haben das Potenzial dazu, eine ökonomische Tatsache zu werden, indem durch sie womöglich erstmals die Aufmerksamkeit auf einen archivwürdigen Nachlass gelenkt wird. Erzähler und autobiografische Figuren sind innerhalb autodiegetischer Entscheidensprozesse intensiv damit beschäftigt, ehemalige Schriftstücke zu archivieren respektive zu ordnen und den vergangenen Schreibprozess als konstitutives Ereignis zu vergegenwärtigen. Autobiografische Projekte sind spätestens seit dem 19. Jahrhundert auffallend häufig an Archivierungspraktiken gebunden.10 Mit einem Verweis 6 Vgl. Spoerhase, Das Format der Literatur. 7 Vgl. hierzu Spoerhases Thesen zum ›Buchformat‹: ebd., S. 38, 40-45. 8 Childress, Under the Cover, S. 12. 9 Vgl. Zur Reziprozität zwischen ›Fakt‹ und ›Fiktion‹: Tippner und Laferl, Ein leitung, S. 9; Kreknin, Poetiken des Selbst; Wagner-Egelhaaf, Einleitung [2013], S. 12; Zipfel, Autofiktion, S. 306; Man, Autobiography as De-facement. 10 Marcel Lepper betont in seiner Einführung die »Aufmerksamkeitskonjunktur«, die derzeit Archiven aus der »philologischen Theoriebildung und Praxisgeschichte« zukomme und über eine poststrukturalistische »Archivmetaphorik« hinausgehe (Lepper, Philologie zur Einführung, S. 73). Beispielhaft für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert ist in diesem Zusammenhang auch Jean Pauls Selberlebens beschreibung. Norbert Miller erläutert die werkbildenden, archivarischen Praktiken des autobiografischen Projekts und hält dabei fest, dass Jean Paul »[d]ie Absicht, sein eigenes Leben als einen Schlüssel zu seinen Romanen zu schreiben, […] sehr lange [beschäftigte]. Sieht man von einem jugendlichen Versuch aus dem Jahr 1781
75
iii . a na lysek at egor i en
auf Jürgen Osterhammel, der das 19. Jahrhundert als »Jahrhundert des Archivs« bezeichnet,11 legt Marcel Lepper dar, dass »Philologie und Archiv in ihren europäischen Ausprägungen zu keiner Zeit mächtiger erscheinen als im 19. Jahrhundert«.12 Doch welche Funktion erfüllen fiktionale sowie faktuale Archivierungspraktiken innerhalb eines autobiografischen Projekts? Instruktiv versprechen Jens Brockmeiers Ergebnisse zu sein, denn er untersucht in Beyond the Archive, wie Erinnerung, Erzählen und ein autobiografischer Prozess in Verbindung stehen. Dabei referiert er die intersubjektive, diachrone ›Tradition‹, »memory [a]s a kind of archive« zu verstehen.13 In seiner Studie verwendet Brockmeier den Ausdruck ›Archiv‹ allerdings primär metaphorisch. Die Gegenwart beschreibt er schließlich als »postarchival« und knüpft Erinnerungen bevorzugt an Narrative, denn diese könnten zeigen, wie kognitive, kreative und identitätsbildende autobiografische Erinnerungs- und Imaginationsprozesse funktionieren. Mit Narrativen können Brockmeier zufolge aktiv Identitäten konstruiert werden, dies bleibe aus, sofern passiv auf Archive verwiesen werde.14 Er erwägt ab, so trat er seinem Vorhaben zuerst um die Jahrhundertwende ernsthaft gegenüber, als er seinen ›opera omnia‹, an deren Ausgabe er damals zuerst dachte, einen biographischen Vorspann in Gestalt eines Nekrolog-Artikels voranstellen wollte. Um diese Zeit begann er, sich Aufzeichnungen und Erinnerungsnotizen zu seinem Leben zu machen, die er später als ›Vita-Buch‹ fortlaufend ordnete. […] In den Jahren 1813-1817 sammelte er Nachrichten über seine Eltern und seine frühe Kindheit. Schließlich begann er am 4. Juli 1818 mit der Sichtung des Materials und am 14. Juli mit der Niederschrift« (Miller, Anmerkungen zur Selberlebens beschreibung, S. 1312). Vgl. hierzu auch: Benne, Die Erfindung des Manuskripts, S. 516-550; Benne, »kein Einfall sollte untergehen«. Bemerkenswert ist, dass Günter Häntzschel gerade »Sammeln als autobiographisches Moment in lyrischen Texten« ermittelt (Häntzschel, Sammel(l)ei(denschaft), S. 163-175). 11 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 32. 12 Lepper, Philologie zur Einführung, S. 74. Müller hält fest, dass »[d]er Historismus des 19. Jahrhunderts […] die Sorge um die Handschriften [institutionalisiert]« (Müller, Weiße Magie, S. 280). 13 Brockmeier, Beyond the Archive, S. 8. 14 Ebd., S. 13. Vgl. hierzu: ebd., S. 7-10. Dabei ist seine zentrale These, dass das Subjekt mithilfe autobiografischer Erzählungen aktiv seine Identität gestalte und nicht ein passives Produkt der eigenen Lebensgeschichte sei (vgl. ebd., S. 174). Brockmeier legt eine kulturhistorische und interdisziplinär ausgerichtete Studie vor und geht dabei der Frage nach, was ›Erinnerung‹ gegenwärtig bedeutet beziehungsweise welche dominanten Phrasen die gegenwärtige Erinnerungskultur prägen (vgl. ebd., S. 7). Literarische Texte dienen Brockmeier dabei als Fallbeispiele (vgl. ebd., S. 99101). Den Ausdruck ›Narrative‹ bestimmt Brockmeier in seiner Studie folgendermaßen: »Narrative, like remembering, involves a variety of senses and mental capacities; it is embodied in a broad range of media and semiotic environments; and it is a socially embedded, cultural practice« (ebd., S. 9).
76
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
nicht, dass es ebenso passiv ist, etablierte Narrative zu wiederholen. Gleichfalls unberücksichtigt lässt er, dass Archivalien bereits einen aktiven Identitätsentwurf dokumentieren, der durch eine Neukontextualisierung reaktualisiert und potenziert wird. Hinzu kommt, dass auch Archive als Quellen für Narrative herangezogen werden können. Zuletzt haben Sidonie Smith und Julia Watson einen archivologischen Blick auf Autobiografien geworfen. Beide verwenden einen recht weiten Archivbegriff, den sie mit einem Verweis auf Jacques Derrida an poststrukturalistische Theoreme binden. Differenziert erläutern sie autobiografische Dimensionen des Archivs. Ihre Fallbeispielauswahl zeigt, dass sie allein publizierte Texte analysieren, und so bleibt das konkrete Archiv noch in weiter Ferne.15 Autobiografische Archivierungspraktiken, wie sie in der vorliegenden Studie vorgestellt werden und die eine werkpolitische Funktion besitzen, bleiben bislang noch unberücksichtigt. Brockmeiers These ist zudem entgegenzuhalten, dass Autobiografien weit über das 19. Jahrhundert hinaus einen aktiven Zugriff auf das selbstgestaltete Archiv dokumentieren. Schließlich stellen auch das Anlegen von und der Umgang mit einem Archiv Praktiken dar und sollten daher nicht als bloß passive Widerfahrnisse im eigenen Lebenslauf konzipiert werden. Die archivarische Funktion, die Autobiografien zukommt, indiziert die Genese eines schriftstellerischen ›Vor- und Nachlassbewusstseins‹. Kai Sina und Carlos Spoerhase erläutern, »dass der Nachlass mit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer ästhetischen Strategie wird« und generell »zu einem Antrieb poetischer Produktivität, zu einer werkbildenden Kraft werden« könne.16 Für den Bedeutungsgewinn archivarischer Tätigkeiten im 19. Jahrhundert ist es relevant, dass Archiv/ Fiktionen im 19. Jahrhundert an Beliebtheit gewinnen und »der literarische
15 Vgl. Smith und Watson, The Afterlives of Those Who Write Themselves, S. 20, 2729. Vgl. zum Verhältnis von ›Todesbewusstsein‹ und ›Autobiografie‹ exemplarisch: Sennefelder, Rückzugsorte des Erzählens, S. 130, 131; Holm und Oesterle, Andacht und Andenken, S. 443; Große, Die letzte Stunde, S. 655, 683 f.; Berndt, Anamnesis, S. 8. Sennefelder verweist nochmals auf Goldmann (vgl. Goldmann, Topos und Erinnerung, S. 662). Das präsente ›Todesbewusstsein‹ vermerkt auch Depkat in seiner Definition: »Als Selbstzeugnisse gehören Autobiographien zur Quellengattung der ›Tradition‹, also zu dem historischen Material das absichtlich mit dem Ziel verfaßt wird, Geschichte und den Anteil, den ihr Verfasser daran hatte, der Nachwelt zu überliefern« (Depkat, Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt, S. 106). Einzuwenden ist jedoch, dass Autobiografien ebenso Fremdzeugnisse sind. Dies gilt besonders, wenn sie erst postum herausgegeben werden. 16 Sina und Spoerhase, Nachlassbewusstsein, S. 611, 621. Vgl. hierzu auch: Henrich, Werke im Werden, S. 12 f.
77
iii . a na lysek at egor i en
Archivar zu einer Leitgestalt des intellektuellen Lebens« wird.17 Hilfreich ist Ulrich von Bülows Beobachtung, dass »[m]it dem 19. Jahrhundert […] die Zeit der methodischen Nachlass-Überlieferung [beginnt]«.18 Wie diese in autobiografischen Projekten zum Zug kommt und primär an lebenslauf- und werkkonstitutiven Entscheidensprozessen exemplifiziert wird, soll mit den Analysen anschaulich werden. Bemerkenswert ist, dass sich diese Entwicklung primär anhand erzählter Entscheidensprozesse verfolgen lässt, sobald sich der Autobiograf als Ordnungsinstanz des eigenen Nachlasses darstellt. In den folgenden vier – paradigmatischen – Fallbeispielen ist die Autorfigur als werktätige Figur inszeniert, die den eigenen wie auch fremden Nachlass ordnet, archiviert und kuratiert: (1) Fanny Lewald-Stahr präsentiert die Entscheidung, ihre edierte Autobiografie um einen Band zu erweitern, als einen Akt archivarischer Tätigkeit. Nach dem Tod ihres Ehemannes erinnert sie sich an ihr Versprechen, ihre mehrbändige Autobiografie um das Römische Tagebuch zu ergänzen und auf diese Weise die Beziehung zu Adolf Stahr nicht dem Vergessen anheimzustellen: »Dem theuren Entschlafenen seinen Willen zu thun, nehme ich nach langen Jahren, heute, an seinem Geburtstage diese Blätter einmal wieder in die Hand«.19 (2) Theodor Fontane gibt in seiner Autobiografie Von Zwanzig bis Dreißig erstmalig Teile eines Briefwechsels mit Theodor Storm heraus, der das Autorbild seines Schriftstellerkollegens konturieren soll. Die Tragweite dieser Handlung bemisst sich anhand der herausfordernden Aufgabe, eigene Briefe oder Briefkonvolute wieder zurückzuerhalten, um etwaige Editionsprojekte voranzutreiben. Die Editionsentscheidung beschließt die autobiografische Figur knapp mit dem Vermerk: »Aus dieser Korrespondenz gebe ich hier einiges«.20 Erstaunlich ist diese bündige Ankündigung, wenn man den Wert unveröffentlichter Korrespondenzen berücksichtigt, der ausschlaggebend dafür ist, dass Briefe oftmals zurückgefordert werden, wie in Fontanes Fall. Die Rückforderung eigener Briefe war besonders an ökonomische Interessen gebunden, naturgemäß auch dem Schutz der Privatsphäre geschuldet. Dies mag erklären, weshalb autobiografische Texte und Briefwechsel zu-
17 Vgl. hierzu exemplarisch: Gretz und Pethes, Archiv/Fiktionen. Vgl. hierzu auch: Falk, Die archivalische (Auto-)Biographie als geschichts- und kulturpoetisches Metagenre; Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter, S. 40. 18 Bülow, Nachlässe, S. 144. 19 Lewald-Stahr, Einleitung, GSA, FannyLewald-Stahr, 96.1816, Bl. 13799-13801. 20 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 216.
78
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
meist mit einer Sperrfrist bedacht werden.21 Fontane wird der Wert eigener Briefe und Briefkorrespondenzen mit Schriftstellerkollegen bekannt gewesen sein, besonders durch die Verlagstätigkeit seines Sohnes Friedrich Fontane. Hinzu kommt, dass testamentarisch meist verfügt wird, was mit den nicht edierten Manuskripten geschehen soll, und postume Editionen dabei eine finanzielle Absicherung der Familienangehörigen oder weiterer Schriftstellerinnen gewährleisten sollen.22 Das Privatarchiv ist Kapital anlage und »Vorratskammer«.23 Der 11. Juni 1837 ist in diesem Kontext ein Tag mit editions- und nachlasspolitischer Bedeutung, wie Ulrike Vedder erklärt, wenn sie ausführt, dass an diesem Datum erstmalig ein preußisches Gesetz erlassen wurde, welches fortan Werke mit einer Schutzfrist versieht und etwaige Nachdrucke für dreißig Jahre unterbindet.24 21 Bereits Jean-Jacques Rousseau testierte postume Herausgaben autobiografischer Texte (vgl. Zanetti, Sich selbst studieren, S. 245). Atze legt einen »Katalog von Motivationen vor[ ], die Autoren dazu veranlaßt haben, ihre eigenen Werke auszulöschen, sie zu zerreißen, einstampfen zu lassen oder zu verbrennen« (Atze, ›… und kaum blieb etwas verschont.‹, S. 92). Dabei nennt er mitunter folgende Kassationsmotive: »Unzufriedenheit«, »Selbstkritik«, »erfolglose Verlegersuche«, »Selbstschutz[ ]«, »Ehrgeiz«, Suizid (ebd., S. 93, 96, 99, 102, 103-105). 22 Vgl. hierzu exemplarisch: Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, S. 162-180. Den kulturhistorischen Wert schriftstellerischer Korrespondenzen weiß auch Gottfried Benn für seine Autobiografie zu nutzen, wenn er den Brief Klaus Manns und seinen Antwortbrief publiziert und mit folgendem Kommentar versieht: »Das Vorstehende ist die Einleitung zu einem Thema, das ich in meiner Lebensgeschichte nicht umgehen will. Es handelt sich um jene ›Antwort an die literarischen Emigranten‹, die im Frühjahr 1933 durch Presse und Rundfunk ging, im In- wie im Ausland besondere Beachtung fand und mir bis heute vorgehalten wird. Der Anlaß zu dieser Stellungnahme von mir war ein Brief von Klaus Mann gewesen, den ich im folgenden veröffentliche. […] Ich veröffentliche den Brief auch als Ehrung für den Verstorbenen […]. Die im Brief genannten Namen lasse ich fort, da sie zum Teil noch Lebende betreffen, die auch heute noch oder wieder eine öffentliche Rolle spielen. Dieser schöne Brief lautet«. Nachdem Manns Brief ›vollständig‹ wiedergegeben wurde, leitet der Erzähler zu seinem Antwortschreiben über: »Dies ist der Brief, niemand wird ihn ohne Rührung lesen. […] Aus meiner Antwort bringe ich zunächst aus dem Schlußteil unverändert zwei Abschnitte« (Benn, Doppelleben, S. 96 f.). Die erstmalige ›unveränderte‹, tatsächlich stark gekürzte, Veröffentlichung wird prominent in Szene gesetzt. Benn gestaltet seinen Nachlass konsequent als einen kulturhistorisch relevanten Forschungsgegenstand und setzt private Archivalien apologetisch ins Werk. 23 Halldin und Butt, Eine literarische Vorratskammer, S. 7. 24 Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, S. 164. Vedder bezieht sich bei ihren Ausführungen auf Max Veits und Elmar Wadles Studien. Die dreißigjährige Schutzfrist machte 1867 ebenfalls zu einem editionsgeschichtlich relevanten Jahr: »In 1867, the release from copyright of the classic literary works of German authors who had died prior to 1837 made possible the creation of legitimate cheap editions
79
iii . a na lysek at egor i en
Relevant für ebendiese Konstellation ist das folgende Beispiel: Nach Fontanes Tod arbeiten seine Kinder, Martha und Friedrich Fontane, mit Hochdruck an einer Gesamtausgabe, die auch ausgewählte Briefwechsel berücksichtigen soll. Martha Fontanes Bitte, die Briefe ihres Vaters zu erhalten, schlägt Paul Heyse aus: Es ist mir unmöglich, liebe verehrte Frau, Ihren Wunsch zu erfüllen. Die Briefe Ihres Vaters sind wie alle andern in meinem Correspondenzschrank aufbewahrt, doch chronologisch geordnet, nicht nach Namen, so dass es einer langwierigen Arbeit bedürfe, sie aus der Masse der Pakete herauszuholen. Auch dann aber möchte ich in die Veröffentlichung nicht willigen. Ein solch einseitiger Briefwechsel sollte bei Lebzeiten des Empfängers nicht erscheinen, trotz der Goethe-Schiller-Briefe. Ich denke, Sie werden meine Empfindung in diesem Punkte verstehen.25 of classic authors for the masses by such publishers as Reclam and Tauchnitz« (Tatlock, Introduction, S. 10). Vgl. hierzu auch: Nutt-Kofoth, Einleitung, 18. Vgl. zur Urheberrechtsentwicklung exemplarisch: Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht. Weiterführend wären Informationen, wie die verlagspolitischen Entscheidensprozesse aussahen, die ›Klassiker‹ hervorbrachten. 25 Paul Heyse an Martha Fontane, München 8. November 1907, GSA, Theodor Fontane, 96.4230. Prekär ist Heyses Antwort, wenn man Bülows Ausführungen zu literarischen Nachlässen hinzunimmt: »Ein Nachlass im archivarischen Sinn enthält, etwa in Gestalt eingegangener Briefe, meist auch Schriftstücke, an denen der Nachlasser keine Urheberrechte besaß« (Bülow, Papierarbeiter, S. 16). Die »letzte Bitte« Kafkas an Brod berücksichtigt ebenfalls Rückforderungsprozesse, wenn er den Umfang seines Nachlasses skizzierend schreibt: »Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist […] – alles dies ist ausnahmslos am liebsten ungelesen […] – zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich. Franz« (Franz Kafka an Max Brod, 29. November [1922], Bd. 2, S. 421 f.). Den ökonomischen Wert einer Briefausgabe, testamentarischer Verfügungen und Weimar als literaturarchivarisches Kulturzentrum im Zusammenhang mit autobiografischen Projekten verhandelt und autorisiert auch der autodiegetische Erzähler in Jean Pauls Briefe und Bevorstehender Lebenslauf: »Statt aller Korrespondenten brauchte bloß mein Buchbinder in Weimar, der alle meine Brief-Couverts leimt, als Zeuge aufzustehen, wie oft ich diese Fülle für jene. Gleichwohl seh’ ich noch kein einziges Schreiben gedruckt; man setzt die Publikation, scheint es auf mein Verscheiden hinaus; ein schlechter Profit für den Briefsteller! […] Überhaupt warum errichtet kein Mann, der Korrespondenz hat, eine Leihbibliothek von lauter Briefen? In Städten und an Höfen würde man, wie die Alten, gern mit einer solchen Lektüre von bloßen Manuskripten anfangen und dann weitergehen. Die meinigen in diesem Buch sind ein Anfang. […] Weimar, am Fastnachtstage 1799. Jean Paul Fr. Richter« (Jean Paul, Briefe und bevorstehender Lebenslauf, S. 927). Wie Jean Paul eingangs in Selberlebensbeschreibung ironisch auf Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Bezug nimmt, liegen
80
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
(3) Der Vergleich mit Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller folgt dem nachlassbewussten Autorschaftskonzept, das Heyse in seiner Autobiografie für sich als Autorfigur konsequent entwirft. Wie einst Goethe nach Schillers Tod steht nun er vor außerordentlichen Editionsentscheidungen, die prospektiv das Andenken an ihn und Theodor Fontane regulieren könnten. Besonders nachdem Fontane seinem Briefpartner Heyse zusichert, dass Heyse einstweilen seiner »Epoche sehr wahrscheinlich den Namen geben« werde.26 Heyses Antwort dokumentiert zugleich eine nachlass- sowie medienbewusste Vorsicht, denn ein zu Lebzeiten veröffentlichter Briefwechsel könnte Conrad Alberti zu einem weiteren pejorativen Kommentar verleiten oder eine ähnliche Kritik evozieren,27 wie sie Grabbe dem publizierten Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller besonders Goethe zuteilwerden lies, indem er ein Charakterbild eines unverantwortlichen Editionsentscheiders zeichnet: Schiller und Goethe, ihr beiden Heroen am deutschen Dichterhimmel, brauchtet euren Glanz nicht mit den Erbärmlichkeiten eures Privatlebens zu umnebeln […]. Was Schiller oder Goethe künstlerisch oder moralisch sind, weiß der Gebildete auch ohne diese Briefe. […] Hält Goethe sich für so wichtig, glaubt, es sei zu seiner und zu Schillers dereinstigen Charakterschilderung so nötig, daß er nach Schillers Tode diese Briefwechselei herausgibt, so hätte er doch den Leser und das Papier mit den Visiten- und Küchen-Charten […] verschonen sollen. […] Wer diesen Briefwechsel in das Publikum gegeben hat, ist auch imstande, seine und Schillers abgetragene Hosen lithographieren zu lassen.28 sicherlich auch hier ironische Bezugnahmen vor (vgl. Jean Paul, Selberlebens beschreibung, S. 1039). Die Briefe und der bevorstehende Lebenslauf beginnen nach der Vorrede und einem Brief direkt mit der Nachlasserzählung Privilegiertes Testament für meine sämtlichen Töchter (Jean Paul, Briefe und bevorstehender Lebenslauf, S. 933-938). Vgl. hierzu auch: Strobel, Von der Zettelwirtschaft zum Archivroman. 26 Theodor Fontane an Paul Heyse, 9. März 1890, S. 205. 27 Im Jahr 1889 tönte Conrad Alberti: »Heyse lesen, heißt ein Mensch ohne Geschmack sein – Heyse bewundern, heißt ein Lump sein« (Alberti, Paul Heyse als Novellist, S. 976). 28 Grabbe, Etwas über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S. 395 f. Grabbe zieht einen kritischen sowie polemischen Vergleich zwischen Goethes und Schillers Lebensverläufen. Im Vergleich ist Goethes Lebensweg geebnet und begünstigt, während Schillers Lebensweg steinig und reich an Hürden ist. Heyse, der vielfach begünstigt wurde, könnte einen ähnlichen Vergleich scheuen. Goethe arbeitet während der Briefedition mit einem Mitarbeiterstab an seinem Schriftsteller archiv sowie autobiografischen Projekt, anders als Fontanes Kinder muss er nicht um die begehrten Briefe ›kämpfen‹: »Dabey tritt der wichtige Umstand ein, daß die
81
iii . a na lysek at egor i en
Kai Sina erklärt demgegenüber die »Selbstherausgabe des Briefwechsels mit Schiller vom Jahr 1828/29« nicht als indiskreten Akt, sondern als Produkt und Dokument einer Selbsthistorisierung.29 Heyses Absage ist sicherlich gleichfalls das Ergebnis einer ökonomisch versierten Kalkulation, denn ein Jahr vor seinem Tod wird sein bereits testierter Nachlassverwalter Erich Petzet den Briefwechsel von Theodor Fontane und Paul Heyse heraus geben und wer würde sich selbständig das eigene Geschäft vermiesen?30 Der en passant eingefügte Verweis auf den eigenen »Correspondenzschrank« ist unzweifelbar kein kontingentes Nebenprodukt, denn der Schrank ist laut Anke te Heesen »die Keimzelle des Museums«.31 Kulturgeschichtlich sei der Schrank besonders in den »drei Lebensbereiche[n] […] Handel, sakraler Raum und Haushalt« präsent, denn mit dem Schrank wurde laut Te Heesen »[e]in Lehrsystem geschaffen, eine stabile Ordnung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr als die Grundlage zur Schillersche Familie mir meine Briefe an diesen hohen Freund bis auf das letzte Billetchen übergeben hat, die ich nun mit seinen, gleichfalls heilig aufgehobenen Briefen und Blättern in einander arbeite und dem gewiß allgemeinen Wunsch, von einem solchen Verhalten Kenntnis zu nehmen, entgegen arbeite« (Johann Wolfgang von Goethe an C. L. F. Schulz, 3. Juli 1824, Bd. 4. 38, S. 181). Die Passage zeigt deutlich, dass Goethe Schillers Briefen einen literaturgeschichtlichen und auch ökonomischen Wert beimisst. Kurzum: Schillers, indirekt auch Goethes, Briefe werden zu Reliquien. 29 Vgl. hierzu: Sina, Die vergangene Zukunft der Literatur, S. 70. Bodo Plachta legt dar, dass der Briefwechsel im Kontext einer kalkulierten »Literaturpolitik« stand und Goethe mithilfe des Briefwechsels »sein Bündnis mit Schiller authentisch als ›Bildungswerk‹ inszenieren« wollte (Plachta, Goethe über das »lästige Geschäft« des Editors, S. 229). 30 Vgl. Petzet, Vorwort. Petzet betont in seinem Vorwort, dass bereits »[s]eit Jahrzehnten […] das Verlangen nicht verstummt [ist]«, über den Briefwechsel zwischen Heyse und Fontane in edierter Form zu verfügen (ebd., S. 5). Dabei versäumt Petzet nicht darauf hinzuweisen, dass sich bereits seit Jahrzehnten unterschiedliche Personen bemüht hätten, den Briefwechsel herauszugeben, und so schreibt er: »Nicht nur die Ungunst der Zeitverhältnisse, sondern auch innere Schwierigkeiten haben sich also der Veröffentlichung des vielfach entscheidend wichtigen und mit größter Spannung erwarteten Briefschatzes solange hindernd in den Weg gestellt. Und um so wärmer ist der Dank des Herausgebers an die verfügungsberichtigten Erben der beiden Dichter, Frau Anna von Heyse und Herrn Verlagshändler Friedrich Fontane, für das ihm mit dieser ehrenvollen Aufgabe erwiesene Vertrauen« (ebd., S. 6). Interessant ist, dass Petzet von »Briefschatz[ ]« spricht und die semantischen Konnotationen von ›Wertigkeit‹, ›Verborgenheit‹, ›Kapital‹ und ›Wertanlage‹ wachruft. Petzet lobt zuletzt die Gesamtausgabe, die Fontanes Erben herausgegeben haben, und dennoch erschien der Briefwechsel nicht bei Friedrich Fontane & Co. (ebd., S. 8 f.). 31 Heesen, Vom Einräumen der Erkenntnis, S. 94.
82
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
Erforschung des Lebens zeigte«.32 Heyse erhebt seinen »Correspondenzschrank« zum Behälter wertvoller Archivalien, die sorgsam kuratiert in seiner Autobiografie erstmalig ausgestellt werden. Der »Correspondenzschrank« wird dabei ein kulturrelevantes Wissensmöbel,33 über dessen exklusiven Inhalt der Autor als Archivar und Kurator entscheidet. Heyse verwirklicht in seinem Privatarchiv ein Ordnungsprinzip, das er als Archivar und Editor gemeinsam mit Hermann Kurz für den Novellenschatz nicht konstant verwirklichen konnte.34 Philip Ajouri beschreibt, wie Werk- und Archivordnung im 19. Jahrhundert regelrecht unter einem »Bann der
32 Ebd., S. 92 f. Krzysztof Pomian beschreibt, wie im 14. Jahrhundert antike Archivalien als Forschungsgegenstände anerkannt, »aus Abfall […] Semiophoren« werden. Doch was hat dieser Prozess mit Autobiografien gemeinsam? Die Antwort zeigt sich im Vorgehen, das »Überreste« zu »Reliquien«, »mirabilia« zu »Forschungsgegenständen« werden lässt (Pomian, Der Ursprung des Museums, S. 56). Indem Überreste kontextualisiert werden, stehen sie fortan in einem Sinnzusammenhang; man könnte auch sagen, sie werden Teil einer Kulturerzählung. Archivalien in autobiografischen Texten teilen dieses Schicksal. Einmal in einen autobiografischen Erzähltext eingefügt, werden sie nicht lediglich lesbar, sie werden erstmalig erforschbar. Just in dieser Passage fügt Krzysztof Die Vision des heiligen Augustinus von Vittore Carpaccio ein und einen zentralen Protagonisten der wohl bekanntesten Kanonfiguren innerhalb der Autobiografieforschung: Augustinus, Rousseau, Goethe. 33 Eine erwähnenswerte Passage zum Schrank als Wissensmöbel bei Goethe ist in Matthias Buschmeiers Studie Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit zu finden. Die Passage, die Buschmeier wiedergibt, zeigt einmal mehr die wissensgenerierende und archivarische Funktion des Schranks: »Die Ordnungsbestrebungen sind für Goethe […] zentraler Teil seiner Sammlungspraxis, die er gelegentlich auch anderen anempfiehlt. So ergeht im Spätsommer 1823 an J. Grüner der dringende ›Wunsch, er möge einige Schränke anschaffen und am System zu ordnen anfangen, wozu schon das schönste Material vorhanden ist‹. Grüner scheint diesem Rat aber nicht nachgekommen zu sein, sodass Goethe selbst zur Tat schreitet: ›Als ich heute von meinen Berufsgeschäften nach Hause kam, fand ich Goethe in meinem Bilderzimmer. Nach kurzem Gespräche wurde mein Arbeitszimmer geöffnet, und Goethe zeigte auf einen mit vierzehn Schubkästen versehenen Schrank, den er zu meiner Überraschung verfertigen und während meiner Abwesenheit, weil er meine Amtsstunden kannte, hatte aufstellen lassen.‹ [Woldemar u. Flodoard Biedermann, Goethes Gespräche. 2. stark vermehrte Ausgabe. Bd. II, Leipzig 1909, S. 597. Das Zitat Grüners ist hier auf den 12. August datiert. Der Tagebucheintrag Goethes hingegen datiert vom 9. September]‹« (Buschmeier, Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit, S. 225 f.). Markus Krajewski stellt Schreibtisch und Schrank als Wissensmöbel dar, die Nachlass- und Werkpraktiken begünstigen (Krajewski, Denkmöbel, S. 202). 34 Vgl. hierzu: Heyse und Kurz, Novellenschatz, S. 22; Ajouri, Chronologische Werkausgaben im 19. Jahrhundert, S. 88.
83
iii . a na lysek at egor i en
Chronologie« standen und mit dieser Ordnungsmaxime berufliche sowie werkpoetische Entwicklungsprozesse dargestellt werden sollten.35 Die Ordnung des Privatarchivs kann in diesem Kontext als eine editionsvorbereitende Praxis verstanden werden. Der selbstangelegte Nachlass wird kontinuierlich zum Forschungsgegenstand und Autobiografien dienen dabei als werkökonomisches Medium des Entscheidens. Indem Autobiografien den kalkulierten Umgang mit dem Nachlass darbieten, übermitteln sie einen Auftrag zukünftiger Nachlasspflege. Dies zeigt sich, wenn Heyse die zweite, »neu durchgesehene und stark vermehrt[e]« Auflage seiner Jugenderinnerungen und Bekenntnisse für eine Ergänzung nutzt, die seinem postalischen Archiv entstammt (JBV). Die autobiografische Figur berichtet von dem Vorhaben, in die Autodiegese einen Brief des Vaters einzufügen, da dieser den Entscheidensverlauf des beruflichen Werdegangs dokumentiere. Heyse hält in dieser Textpassage seine archivarische, literarische Tätigkeit als ›poeta philologus‹ folgendermaßen fest:36 »Die Antwort auf diesen Herzenserguß, die ich Mitte Januar 1850 erhielt, habe ich nach zweiundsechzig Jahren mit tiefster Rührung wiedergelesen […]. Von den sechs enggeschriebenen Seiten dieses Briefes soll hier nur der Anfang mitgeteilt werden« (JBV, 117).37 Wenn Jochen Strobel vermerkt, dass ihm »[n]ur wenige Fälle […] bekannt [sind], bei denen der Editor eigene Briefe heraus gibt«,38 kann kurzum auf die Gattung Autobiografie verwiesen werden, die sich, wie die Analysen belegen, dadurch auszeichnet, dass Schriftsteller als Archivare und Editoren ihre eigenen Schriften publizieren. (4) Arthur Schnitzler verweist bei seiner Unentschiedenheit, den Beruf des Arztes oder Schriftstellers zu ergreifen, auf eine »Tagebuchnotiz«, da dort das zu erzählende Dilemma »mit […] Wahrheit festgehalten und im
35 Vgl. ebd., S. 88 f. 36 Vgl. hierzu: Dehrmann, Studierte Dichter. 37 Vgl. Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33; Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. 38 Strobel, Von der Zettelwirtschaft zum Archivroman, S. 308. Nicht allein Goethe weiß diese Nachlasstechnik zu nutzen. Urs Meyer vertritt die gleiche These, wenn er festhält: »Die Medien der Autorschaft werden in der traditionellen Literaturwissenschaft marginalisiert. Ein Indiz dafür ist nicht zuletzt, dass die Briefwerke und Tagebücher wichtiger Autorinnen und Autoren oft erst spät ediert werden« (Meyer, Tagebuch, S. 9). Die Autobiografie als frühes, autorisiertes Publikationsorgan wird nicht berücksichtigt. Obschon gerade die Autobiografie ein zentrales ›Medium der Autorschaft‹ ist, denn gerade in autobiografischen Texten agieren autobiografische Figuren nicht als zurückgezogene Schriftstellerinnen hinter einem Schreibtisch, sondern als werkpolitische und ökonomisch versierte Literaturagentinnen.
84
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
Ausdruck so charakteristisch« ist (JiW, 189).39 Als archivarisch tätige Figur verpasst der Erzähler nicht, die genauen Angaben zu nennen, sodass mögliche Recherchevorhaben erleichtert werden. Schnitzler vermerkt ›zu verlässig‹, dass das Zitierte unter »dem Datum des 7. Mai« in seinem Tagebuch zu finden sei (JiW, 189). Bemerkenswert ist die genaue Datierung, da Almuth Grésillon feststellt, dass »[der Autor] [n]ur in Ausnahme fällen […] aufs genaueste seinen Schreibprozeß datiert«.40 Zwischen Lewald-Stahrs und Schnitzlers autobiografischen Projekten liegen etwa zweiundvierzig Jahre, die für die kontinuierliche Profilierung schriftstellerischer Nachlasspraktiken stehen.41 Im Vergleich zeigt sich signifikant, dass bevorzugt unveröffentlichte Briefe und Tagebücher zitiert werden. Diese Präferenz mag in dem ›präsentischen‹, ›intimen‹ sowie ›literarisch-dokumentarischen‹ Charakter der beiden Gattungen begründet sein, der eine szenische Gestaltung des Entscheidensprozesses begünstigt. Erzählte Entscheidungen stellen insofern eine Unterbrechung der Diegese dar, als die Inklusion ausgewählter Archivalien oder eines literarischen Texts einen punktuellen Formwechsel impliziert.42 Mit dieser expliziten Verweistechnik formuliert und offeriert die autobiografische Figur die potenzielle ›Überprüfbarkeit‹ sowie ›Exklusivität‹ des Dargebotenen und etabliert den eigenen schriftstellerischen Nachlass auf diese Weise als einen archivwürdigen, geordneten Forschungsgegenstand. Autobiografische Projekte müssen demnach so aufgefasst werden, dass sie mehr umfassen, als das Abrufen eines Kanons konventioneller Muster. Weiterführend ist, dass Johannes Franzen »faktualen Texten wie Reportagen oder Autobiographien […] ein[en] Evidenzdruck« attestiert. Dieser gehe zumeist mit dem »epistemologischen Problem« einher, das sich in der Frage formiert: »Woher weiß der Autor das?«.43 In den Textanalysen kann belegt werden, dass Autobiografinnen mithilfe ausgestellter Archivalien
39 Bernd Gräfrath definiert den Begriff ›Dilemma‹ folgendermaßen: »Ganz allgemein gefasst bezeichnen wir ein Problem als dilemmatisch, wenn eine Entscheidung in einer Situation erforderlich ist (oder zumindest zu sein scheint), in der schwerwiegende Argumente unvereinbare Empfehlungen geben« (Gräfrath, Dilemma, S. 532). 40 Grésillon, Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben, S. 167. 41 Verfolgt wird dabei nicht eine Gesamtdarstellung autobiografischer Erzähltexte von Schriftstellern oder des gesamten 19. Jahrhunderts. Die vorliegenden Analyseergebnisse besitzen jedoch dahingehend Aussagekraft, dass analoge Verfahrensweisen in weiteren Autobiografien ermittelt werden konnten. 42 Laut Lepper beruhen »Archive […] auf Brucherfahrungen […] und erzeugen selbst Erfahrungsbrüche« (Lepper, Philologie zur Einführung, S. 73). 43 Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 13; vgl. Assmann, Wie wahr sind Erinnerungen?
85
iii . a na lysek at egor i en
explizit hervorheben, wie die Evidenz überprüfbar bleibt,44 sofern der literarische Nachlass über den Tod hinaus archiviert wird. Indem aussagekräftige Archivalien ausgestellt und dadurch zum Kulminationspunkt eines Entscheidensprozesses werden, erhalten Entscheidenspassagen einen musealen Charakter. Gerade »[d]as Museum, auch das imaginäre,« ist laut Heike Gfrereis »ein Ort der Evidenzerzeugung«.45 Die Antwort auf die Frage ›Woher weiß die Autorin das?‹, wäre demnach kurzerhand: aus ihrem Privatarchiv. Dies gilt naturgemäß nicht für alle Autobiografien, dennoch sind autobiografische Archivierungspraktiken keine Randerscheinung oder gar eine Ausnahme. Archivalien, die eine fortwährende ›Überprüfbarkeit‹ garantieren, bekunden, dass mit der Autobiografie kulturwissenschaftliche und kulturhistorische Ansprüche einhergehen. Beispielhaft kann hier Schnitzlers autobiografische ›Werkentscheidung‹ genannt werden, denn testamentarisch verfügt er, die eigene Autobiografie zeitgleich mit den Tagebüchern postum edieren zu lassen.46 Mit den zahlreichen autodiegetischen Verweisen auf die Tagebücher fordert Schnitzler die zukünftige Leserschaft dazu auf, die Autobiografie und Tagebücher parallel zu lesen.47 Faktuale und fiktionale Verfahren werden hier verknüpft und stellen die enge Relation zwischen Testament, Autobiografie und Tagebuch als referentielle Gattungen vor.48 Häufig fallen der Abschluss eines autobiografischen Erzählprojekts und die Verschriftlichung des eigenen Testaments zusammen. Ulrike Vedder 44 Vgl. hierzu auch: Schuster, Der Autobiograph als Herausgeber, S. 321. Schuster beschreibt noch nicht, wie punktuelle Erstpublikationen innerhalb des autobiografischen Projekts mit Entscheidensprozessen zusammenhängen. 45 Gfrereis, Immaterialität/Materialität, S. 61. 46 Die ›Werkentscheidung‹ wird in der vorliegenden Studie als ein Ergebnis unterschiedlicher Teilhandlungen bestimmt. Sie dient primär dazu, das autobiografische Projekt, alle publizierten und unpublizierten Texte und Textfragmente sowie den Nachlass zu vernetzen. Nicht zuletzt unterstützt sie das Vorhaben, eine nachlassfähige Autorfigur mitsamt archivwürdigem, kanonfähigem Werk zu konzipieren. Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen, S. 23-25, 34 f. Vgl. zum Zusammenhang von ›Archiv‹ und ›Werk‹ exemplarisch: Zanetti, Sich selbst historisch werden, S. 91 f. 47 Vgl. hierzu: Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen. 48 Vgl. zu ›Faktualität‹, ›Fiktionalität‹ und ›Autofiktion‹ exemplarisch: Tippner und Laferl, Einleitung, S. 11; Kreknin, Poetiken des Selbst; Wagner-Egelhaaf, Auto(r)fiktion; Schuster, Der Autobiograph als Herausgeber. Gemäß Raulff »geht die Arbeit am eigenen künftigen Nachlass mit Werkbildungsstrategien Hand in Hand« (Raulff, Nachlass und Nachleben, S. 22). In den Analysen werde ich zeigen, dass besonders Autobiografien diese Relation offenkundig ausstellen.
86
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
betont, dass Testamente einen »literarisch-fiktionalen und rechtlich-pragmatischen Charakter[ ]« besitzen.49 Hier wird argumentiert, dass für die Konzeption einer Autobiografie die Auswertung eigener Archivalien maßgebend sein kann und in der Autodiegese erkennbar wird. Mit dem Zeitpunkt der Publikation fungiert die Autobiografie als ein autorisierter Ausstellungsraum privater, bislang unbekannter faktualer oder fiktionaler Archivalien.50 Gfrereis bemerkt, dass »[i]nstitutionengeschichtlich […] das Ausstellen ansonsten verborgener Dinge jung [ist]«.51 Fasst man Autobiografien selbst aber als eine Ausstellungsform, dann scheint die Ausstellungspraxis »ansonsten verborgener Dinge« nicht allzu jung zu sein. Zumal Autobiografien mitunter eine Nähe zu Ausstellungskatalogen aufweisen können.52 Hinzu kommt Annegret Pelz’ Beobachtung, dass auch Schriftsteller zu Kuratoren werden könnten: »Die Autorschaft äußert sich dann nicht allein in der Formulierung, sondern in der Auswahl aus dem Repertoire fertiger Texte sowie in der Anordnung, der Um- und Verstellung des Materials«.53 Im Anschluss daran kann eine Autobiografie als »museographischer Text[ ]« klassifiziert werden, wenn Entscheidensprozesse mithilfe einer bricolage dargestellt werden.54 Aktuell lassen sich in literaturwissenschaftlichen Studien zur Gattungsgeschichte der Autobiografie zwei Tendenzen erkennen: Neben der Position, die Gattungen ›Tagebuch‹, ›Brief‹, ›Reisebericht‹, ›Biografie‹, ›Memoiren‹ und ›Autobiografie‹ voneinander zu lösen, ist die angelsächsische Position zu nennen, die primär die genannten Gattungen weniger trennscharf mit dem Ausdruck ›life writing‹ erfasst.55 49 Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, S. 169. Vgl. auch: ebd., S. 170 f. 50 Hier stellt sich zugleich die Frage nach der Urheberrechtsentwicklung. Vgl. etwa: Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. In den ausgewählten Texten artikulieren die Erzähler ein ausgeprägtes Autorbewusstsein. Plachta legt dar, dass »im deutschsprachigen Raum […] Preußen 1835 und der Deutsche Bund 1837 Gesetze zum Schutz des ›geistigen Eigentums‹ [erließen]. Nach der Reichsgründung im Jahr 1871 wurde ein umfassendes Gesetz verabschiedet, das Schriftwerke, Dramen, Abbildungen und musikalische Kompositionen und später auch Werke der bildenden Kunst und Fotographien urheberrechtlich schützte« (Plachta, Literaturbetrieb, S. 56). 51 Gfrereis, Ausstellung, S. 227. 52 Vgl. hierzu exemplarisch: Tranströmer, Randgebiete der Arbeit. 53 Pelz, Von Album bis Zettelkasten, S. 27. Vgl. hierzu auch: Stapelfeldt, Vedder und Wiehl, Museales Erzählen. 54 Pelz, Von Album bis Zettelkasten, S. 27. 55 Anja Tippner und Christopher F. Laferl formulieren zum Begriff des ›life writing‹: »Dieser weite Begriff, der auch Reiseliteratur umfassen kann, unterdrückt jedoch die signifikanten Differenzen, die zwischen den einzelnen Formen der
87
iii . a na lysek at egor i en
Ebendieses ›Ausfransen‹ zeigt sich signifikant bei autodiegetischen Berufsentscheidungen, denn gerade in jenen Passagen tritt der inklusive Gattungscharakter autobiografischer Texte zutage. In der vorliegenden Studie soll der Fokus nicht auf die Klassifizierung einzelner Gattungen gelegt werden, sondern auf die methodische Relation der Gattungen zueinander. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Autobiografie unzulänglich bestimmt ist, sofern sie allein auf Prosatexte beschränkt wird, wie etwa in Philippe Lejeunes Definition. Vor vierundvierzig Jahren erschien Lejeunes Le pacte autobiographique und fortan war die Autobiografieforschung um eine Definition reicher, die vielfach ergänzt und kritisiert wurde. Ebendort bestimmt er Autobiografien als »[r]écit rétrospectif en prose qu’une personne réelle dait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité«.56 Mit dieser Feststellung werden eine retrospektive Erzählhaltung in Prosa und eine realexistierende Person samt ihrer Persönlichkeit, die autodiegetisch dargeboten wird, zu konstitutiven Elementen einer Autodiegese. Lejeune lässt Gattungsinterferenzen, archivarische, kuratorische sowie editorische Praktiken unberücksichtigt, obschon diese Konstituenten autobiografische Projekte und das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion bisweilen maßgeblich bedingen:57 Archivierungs- sowie Kassationserzählungen gehören zum lungen bestehen« (Tippner und Laferl, Einleitung, S. 10). Hinzu kommt, dass die Gesetze des Buchmarkts mitbestimmen, welche Gattungsbezeichung die Verlege rinnen wählen. 56 Lejeune, Le pacte autobiographique, S. 14. Wolfram Bayer und Dieter Hornig übersetzen die Passage folgendermaßen: »Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte der Persönlichkeit legt« (Lejeune, Der autobiographische Pakt, S. 14). Auch Günter Niggl definiert Autobiografien als »zusammenhängende Erzählung über einen größeren Zeitraum hinweg aus dem Rückblick« (Niggl, Zur Theorie der Autobiographie, S. 40). Kritisiert wurde die Definition bereits vielfach. Vgl. hierzu exemplarisch: Achermann, Von Fakten und Pakten, S. 51 f.; Dünne und Moser, Allgemeine Einleitung, S. 13 f. Georg Feitscher leistet in seiner Studie Kontemplation und Konfrontation einen detaillierten und lehrreichen Überblick zur Geschichte der Autobiografieforschung (vgl. Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 7-60, 90-99). Vgl. hierzu ebenfalls exemplarisch: Kremer, Autobiographie als Apologie; Enenkel, Die Erfindung des Menschen, S. 40-88, 146-189; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie; Niggl, Die Autobiographie; Holdenried, Geschriebenes Leben; Holdenried, Im Spiegel ein anderer. 57 Im Handbuch Literaturwissenschaft wird die Autobiografie ebenfalls als Prosa erzählung definiert. Daniela Langers Beitrag zur ›Autobiografie‹ ist im Handbuch Literaturwissenschaft unter dem Gliederungspunkt »Prosatextanalyse: Autobiografie« zu finden (Langer, Autobiografie). Jüngst verdeutlicht Johannes Görbert, dass eine Autobiografie keineswegs an Prosaformen gebunden ist. Forschungen zu
88
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
topischen Repertoire autobiografischer Projekte. Lejeune relativiert seine Definition, differenziert dennoch Autobiografien von »genres de la littérature intime (journal, autoportrait, essai)«.58 Infolgedessen kann gemäß Lejeune eine Autobiografie nicht die Form eines Essays oder Gemäldes haben. Wesentlich offener und für die vorliegende Studie weiterführend ist dagegen Georg Mischs Autobiografiedefinition. Misch betont explizit die formale Vielgestaltigkeit und das kreative, innovative Potenzial, die gemeinsam der Gattung – trotz topischer Erzählbausteine – zukommen:59 Die Selbstbiographie ist keine Literaturgattung wie die andern. Ihre Grenzen sind fließender und lassen sich nicht von außen festhalten und nach der Form bestimmen wie bei Lyrik, Epos oder Drama […]. [S]ie ist selber eine Lebensäußerung, die an keine bestimmte Form gebunden ist. Sie ist reich an neuen Anfängen, und das wirkliche Leben gibt sie ihr […]. Und keine Form fast ist ihr fremd. Gebet, Selbstgespräch und Taten bericht, fingierte Gerichtsrede oder rhetorische Deklamation, wissenschaftlich oder künstlerisch beschreibende Charakteristik, Lyrik und Beichte, Brief und literarisches Porträt, Familienchronik und höfische Memoiren, Geschichtserzählung rein stofflich, pragmatisch, entwicklungsgeschichtlich oder romanhaft, Roman und Biographie in ihren verschiedenen Arten, Epos und selbst Drama – in all diesen Formen hat die Autobiographie sich bewegt, und wenn sie so recht sie selbst ist und ein originaler Mensch sich in ihr darstellt, schafft sie die gegebenen Gattungen um oder bringt von sich aus eine unvergleichbare Form hervor.60 Um der autobiografischen Formenvielfalt gerecht zu werden, entwickelt Feitscher den »Begriff des ›autobiographisch strukturierten Erzählens‹«, grenzt diesen bewusst von Breuers und Sandbergs »Begriff des autobiographischen Schreibens« ab.61 Denn Feitscher zufolge ermöglicht der Begriff ›autobiografisches Schreiben‹ nicht, die »Gattungsgrenzen überschrei utobiografien, die auch andere literarische Formen berücksichtigen, stellen für A Gröbert bislang ein Desiderat dar (vgl. Görbert, Selbsterzählungen in Gedichtform, S. 37 f.). Dabei hält Gröbert als zentrales Ergebnis fest, dass »[e]pische und lyrische Autobiographie […] relational anstatt kategorial voneinander unterschieden [erscheinen]« (ebd., S. 42). 58 Lejeune, Le pacte autobiographique, S. 24. Bayer und Hornig übersetzen die Passage folgendermaßen: »Gattungen der intimen Literatur (Tagebuch, Selbstporträt, Essay)« (Lejeune, Der autobiographische Pakt, S. 25). 59 Vgl. zur formalen Vielgestaltigkeit auch: Brockmeier, Beyond the Archive, S. 225. 60 Misch, Geschichte der Autobiographie, S. 3. 61 Breuer und Sandberg, Einleitung, S. 10.
89
iii . a na lysek at egor i en
tende[ ] Pluralität autobiographischer Formen« zu berücksichtigen, da Breuer und Sandberg mit dem Begriff primär den Schreibakt als »Moment autobiographischer Narration« fokussierten, somit etwaige »Varianten und Vorstufen – wie die Selbstreflexion und Selbstimagination – vernachlässi gen«.62 Feitschers Beobachtung ist zutreffend und zugleich symptomatisch für die gegenwärtige Autobiografieforschung. Primär theoretisiert er die »autobiographische Narration« und legt sie zuvörderst auf rein kognitive Tätigkeiten fest: »Selbstreflexion und Selbstimagination«.63 Autobiografische Praktiken – die naturgemäß auch eine kognitive Dimension besitzen – bleiben weitestgehend außer Acht. Feitscher geht in seiner Studie von einem »traditionelle[n] autobiographische[n] Erzählmodell« sowie »souveränen Autobiographen« aus, die erst im Verlauf des Poststrukturalismus ironisiert würden, sobald »die Autobiographen [nicht länger] darauf vertrauen [können], dass das Gedächtnis seine Archive öffnet und alle wesentlichen Erinnerungen wie von selbst freigibt«.64 Die folgenden Textanalysen werden demgegenüber zeigen, dass autobiografische Projekte explizit als archivarische, kuratorische und editorische vorgestellt werden. Dabei handelt es sich keinesfalls um »rudimentäre Formen einer Erinnerungsgeschichte«65 und ebenso wenig werden erst mit dem Poststrukturalismus oder dem 20. Jahrhundert autobiografische Projekte zu einem »zeitaufwendigen Prozess«, zu einer »mühseligen Arbeit«.66 62 Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 97 f. Vgl. zur ›Formenvielfalt‹ auch: ebd., S. 3. 63 Ebd., S. 98. Niggl bestimmt autobiografische Erinnerung ebenfalls primär als ein kognitives Vorgehen, wenn er sie »als rückschauende Einbildungskraft« definiert (Niggl, Zur Theorie der Autobiographie, S. 44). Wagner-Egelhaaf verweist etwa auf die »Lückenhaftigkeit des autobiographischen Gedächtnisses« (Wagner-Egelhaaf, Autobiographie – Rhetorik – Schrift, S. 7). 64 Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 269-271. 65 Ebd., S. 270. 66 Ebd., S. 270 f. Vgl. ebd., S. 272, 329. Feitscher resümiert: »Während sich die klas sische Autobiographik also ganz im Sinne eines opus inszeniert, bleibt der Aspekt des labor weitgehend ausgeklammert. […] Die klassische Autobiographie erscheint als opus ohne labor« (ebd., S. 272). Mit den Ergebnissen der folgenden Textanalyse muss diesem Resümee widersprochen werden. Müller legt dar, wie akribisch Goethe sein autobiografisches Projekt vorbereitet und als mühsam inszeniert habe: »Goethe sieht […], wie die Eintragungen in seinem Tagebuch bezeugen, alte Tagebücher und Briefe durch und sammelt Material zur Ergänzung des Schemas. Er informiert sich auch in zeitgeschichtlichen und historischen Dar stellungen, Lexika […], literarischen Zeugnissen« (Müller, Goethes Weg zur Autobiographie, S. 1001 f.). Diese archivarischen Praktiken werden innerhalb der Autodiegese kontinuierlich anhand ausgewählter Archivierungs- und Kassationserzählungen reflektiert.
90
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
Hinzu kommt, dass »Selbstreflexion und Selbstimagination« vielmehr Teilhandlungen sind, die zum Gesamtergebnis eines autobiografischen Textes führen. Werden lediglich diese Teilhandlungen für die Textanalyse berücksichtigt, besteht die Gefahr, dass das jeweilige autobiografische Projekt auf ein mentalistisches Handlungskonzept reduziert wird.67 Es bleibt schließlich unberücksichtigt, dass ›Kassieren‹, ›Archivieren‹, ›Kuratieren‹ und ›Edieren‹ zentrale Teilhandlungen innerhalb eines prozesshaften, eine Autobiografie erzeugenden Handlungsplans sind. Zwar bedenkt Feitscher archivarische Tätigkeiten für sein Konzept der »Erinnerungs geschichte«,68 beabsichtigt des Weiteren, »die verschiedenen Varianten des autobiographisch strukturierten Erzählens [zu erfassen]«, jedoch spricht er »konventionellen« Autobiografien die ›mühevolle Erinnerungsarbeit‹,69 also den textgenetischen »Prozess des Erinnerns und Erzählens ganz in den Mittelpunkt zu rücken«, ab.70 Unbestimmt bleibt jedoch, welche Autobiografien Feitscher konkret als konventionell und traditionell betrachtet. Vermutlich sind für ihn Augustinus’, Rousseaus, letztlich auch Goethes Autobiografien exemplarische Fallbeispiele.71 Insgesamt erinnert diese konzeptuelle Gegenüberstellung an Niggls gattungsgeschichtliches Konzept, für das »die traditionelle ganzheitliche und die moderne fragmentarische Autobiographie« als heuristische Kategorien separiert werden.72
67 Vgl. hierzu: Hoffmann-Rehnitz, Pfister, Quante und Rojek, Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus. 68 Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 106. Feitscher definiert ›Erinnerungsgeschichte‹ folgendermaßen: »Analog zur Erzählgeschichte ließe sich die ›Erinnerungsgeschichte‹ als jene narrative Ebene definieren, auf der der Erinnerungsprozess präsentiert wird. Auch die Erinnerungsgeschichte ist Teil der diegetischen Welt. Sie ist zeitlich zwischen erzählter Geschichte und Erzählgeschichte angesiedelt, kann im Grenzfall aber auch identisch mit der Erzählgeschichte sein, wenn Erzähl- und Erinnerungsakt vom Autor als simultane Prozesse inszeniert werden« (ebd.). Feitscher ergänzt Schmids zweigliedriges Modell der ›erzählten Geschichte‹ und ›Erzählgeschichte‹ um das Konzept der ›Erinnerungsgeschichte‹ (ebd., S. 105). 69 Ebd., S. 302. 70 Ebd., S. 99, 101, 269-327. Insgesamt unterscheidet er zwischen drei narratologischen Komponenten: ›Erleben‹, ›Erinnern‹ und ›Erzählen‹ (vgl. ebd., S. 101). 71 Vgl. ebd., S. 48-51. Feitscher dienen paradigmatische Fallbeispiele dazu, eine Differenz zwischen ›traditionellen Autobiografien‹ und ›modernen Autobiografien‹ zu skizzieren. Ähnlich argumentiert bereits Niggl (vgl. Niggl, Zur Theorie der Autobiographie, S. 49). Kontextanalysen lassen diese binären Darstellungsweisen problematisch erscheinen. Feitscher betont in diesem Zusammenhang, dass es gattungsund literaturgeschichtlich verfehlt sei, Idealtypen zu konstruieren (vgl. Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 55-57). 72 Niggl, Zur Theorie der Autobiographie, S. 49.
91
iii . a na lysek at egor i en
Demgegenüber steht hier die vorgestellte Beobachtung, dass bereits Autobiografien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Schrift stel lerinnen dezidiert eine ›werkpolitische‹ Arbeit am Nachlass kom munizieren.73 Mühelos ist allenfalls der Zugriff auf eine geordnete Archivalieneinheit, wodurch einem zukünftigen Publikum eine strukturierte Nachlassordnung mitsamt entscheidungsförmiger Editionsgeschichte erzählt wird.74 Die Gestaltung des schriftstellerischen Nachlasses sowie des eigenen Autorbildes beginnt spätestens mit der Autobiografiekonzeption. Als Sonderfälle können dabei bearbeitete Neuausgaben gelten, die um Dokumente oder literarische Texte ergänzt respektive angereichert wurden; mitsamt den Erzählerkommentaren, Vorworten und auch ›Rechenschaftsberichten‹ konstituieren sie einen Entscheidensprozess. Heyses fünfte Auflage seiner Jugenderinnerungen und Bekenntnisse stellt einen solchen Sonderfall dar. Für Autobiografien gelten ebenso diejenigen Praktiken, die Lepper für das Archiv bestimmt, »[sie halten bereit], wie Personen oder Körperschaften ihr Handeln dokumentieren«.75 Dies verdeutlicht sich mit den hier analysierten Autobiografien: Die Erzähler präsentieren allesamt ein ausgeprägtes Vor- wie Nachlassbewusstsein, das graduell unterschiedlich profiliert ist, da archivarische Praktiken merklich an die jeweiligen fachdisziplinären Ausbildungen, die ›Verwissenschaftlichung‹ der Literaturbeobachtung und Archivgründungen gekoppelt sind: Heyse war studierter, promovierter Philologe, Lewald-Stahr autodidaktische Philologin und Schnitzler promovierter Mediziner. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang die Konstituierung philologischer Lehrstühle, Gründung literarischer Archive und die Diskussion dieser Zeitereignisse in philologischen Fachzeitschriften und auf Fachtagungen.76 73 Vgl. Martus, Werkpolitik. 74 Das ›Sammeln‹, ›Archivieren‹, ›Kuratieren‹, ›Edieren‹ und die ›Kassation‹ sind jedoch durchweg mühsame Arbeitsprozesse. Steinfeld erklärt, dass »[d]as Sammeln […] ein emphatischer Akt [ist], zu dem Aufmerksamkeit, Disziplin und große Akribie gehören« (Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter, S. 129). Cornelia Blasberg legt dar, wie Harry Graf Kessler für sein biografisches Projekt auf eigens angelegte Archivalien zurückgriff (vgl. Blasberg, Biografie als Projekt, S. 60). Rüdiger Nutt-Kofoth setzt Goethes archivarische und autobiografische Vorhaben zueinander in Beziehung (vgl. Nutt-Kofoth, Zum Verhältnis von Nachlasspolitik und Editionskonzeption, S. 97). 75 Lepper, Philologie zur Einführung, S. 74. 76 Vgl. hierzu besonders zwei Sammelbände: Fohrmann und Voßkamp, Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert; Dallinger, Hofer und Judex, Archive für Literatur. Vgl. ferner: Spoerhase, Neuzeitliches Nachlassbewusstsein, S. 37-41.
92
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
Im Jahr 1889 hält der Autor der Schrift Das Erleben und die Selbst biographie und Mischs Lehrer den Vortrag Archive für Literatur,77 der fortan als Plädoyer für Literaturarchive, für eine Professionalisierung im Umgang mit schriftstellerischen Nachlässen und für eine Neuausrichtung der Literaturwissenschaft rezipiert wird.78 Wilhelm Dilthey skizziert in diesem Aufsatz zunächst die Stellung Deutschlands in der europäischen, geisteswissenschaftlichen Forschungslandschaft, dabei bezieht er sich bevorzugt auf Frankreich und Großbritannien. Er begrüßt die sich kontinuierlich entwickelnde Wertschätzung geordneter Schriftstellernachlässe und literarischer Hinterlassenschaften und bemängelt deren bislang semiprofessionelle Handhabung. Das pejorative Urteil, das Dilthey über Familien verhängt, ist zu relativieren, denn vieles wäre ohne sie schlicht verloren. Eine Lösung erkennt Dilthey, der den damaligen »Zustand unerträglich« findet, in der Etablierung zentraler Archive für Literatur, deren Konzeption analog zu den bereits bestehenden Staatsarchiven zu gestalten sei.79 Wiederholt hebt er die Bedeutung des handschriftlichen Nachlasses als Quelle für die literaturwissenschaftlichen, historischen und textgenetischen Analysen hervor, die primär den »Regeln des Schaffens« gewidmet seien,80 um die Entwicklung der Neuen deutschen Literaturwissenschaft skizzieren zu können. Hervorzuheben ist, dass Dilthey sich allein auf die Nachlass archivierung von Schriftstellern bezieht und damit seine Auffassung der »ideale[n] Mächtigkeit des Mannes« bekundet.81 Dies überrascht, wenn die zahlreichen Lexika und Untersuchungen zu Schriftstellerinnen aus die77 Vgl. Dilthey, Das Erleben und die Selbstbiographie; Dilthey, Archive für Literatur. Herbert Kopp-Oberstebrink stellt fest, dass neben Archive für Literatur Diltheys weiterer Aufsatz Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie fast in Vergessenheit geraten sei. Der »eigenständige[ ] Charakter« des Aufsatzes sei weitestgehend verkannt worden (Kopp-Oberstebrink, Das Literaturarchiv als Laboratorium der Kulturforschung, S. 122). Während Dilthey in Archive für Literatur »archivpraktische Aspekte« in den Blick nehme und dies als »Gründungsaufruf« zu verstehen sei, akzentuiere er im Aufsatz Archive der Literatur »das Moment einer wechselseitigen Dynamik zwischen innovativer geisteswissenschaftlicher Forschung und dem neu zu gründenden Institut« (ebd., S. 124). 78 Vgl. hierzu: Sina und Spoerhase, Nachlassbewusstsein; Weigel, Hinterlassen schaften. Müller erkennt in Diltheys Aufsatz ein »Plädoyer für die Ausbildung starker Vernichtungshemmungen« (Müller, Weiße Magie, S. 286). Vgl. hierzu auch: Kopp-Oberstebrink, Das Literatur archiv als Laboratorium der Kultur forschung, S. 126-130; Große, Die letzte Stunde, S. 664. 79 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 368. 80 Ebd., S. 365. 81 Ebd., S. 363. Diltheys Rede ist auch im historischen Kontext des Topos, dass ›mächtige Männer Geschichte machen‹, mithin im Zuge des Nationalismus, zu sehen.
93
iii . a na lysek at egor i en
ser Zeit Diltheys Ausführungen gegenübergestellt werden.82 Für die Ordnung und Archivierung des fremden wie eigenen Nachlasses ist jedoch von Bedeutung, dass Dilthey die »Erhaltung, Sammlung und zweckmäßige Anordnung der Handschriften für das wissenschaftliche Studium der Literatur [als] ganz unentbehrlich« empfindet.83 Neben der zweckmäßigen Anordnung spricht er sich für ein »systemisches Anordnen« aus, ohne jedoch dabei eine Ordnungsstruktur beispielhaft zu entwickeln. Dies ist nicht zuletzt dem Vortragsformat geschuldet.84 »[D]er hohe Sinn [einer] Frau« wird für ihn zum exemplum der professionalisierten Nachlassordnung.85 Wilhelmina Sophie Marie Luise von Oranien-Nassau habe – wie Dilthey anerkennend vermerkt – »den ersten bedeutenden Sammelpunkt für deutsche literarhistorische Forschung geschaffen«, nachdem »das Familienarchiv in dem Goethehaus zu Weimar auf die Großherzogin von Sachsen« überging.86 Einen Hinweis darauf, wie bedeutend die Entstehung des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar für die beobachtenden Zeitzeugen und die Ordnungsvorhaben professio82 Bereits sechsundsechzig Jahre vor Diltheys Aufsatz erschien Carl Wilhelm Otto August von Schindels Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts (Carl Wilhelm Otto August von Schindel, Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts). Vierundzwanzig Jahre nach Diltheys Aufsatz legte Heinrich Spiero eine Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800 vor (vgl. Spiero, Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800). Noch mehr überrascht jedoch, dass sich im Jahr 2013 Argumentationsstrukturen dieser Art erhalten haben. In seinem Aufsatz Nachlass und Nachleben. Literatur aus dem Archiv referiert Raulff zahlreiche Beispiele der Nachlasspraktiken, jedes Beispiel ist allerdings einem Schriftsteller gewidmet. Die weibliche Form findet einmalig Erwähnung: Sobald er sich die Klassifizierung der Hinterbliebenen vornimmt, kommen die »Witwen« ins Spiel (vgl. Raulff, Nachlass und Nachleben, S. 25). Dies erstaunt umso mehr, wenn Wedels Arbeitsergebnisse berücksichtigt werden, die belegen, dass für das 19. Jahrhundert 600 Autobiografien von Frauen bekannt sind, und sie fügt ergänzend hinzu, »die Dunkelziffer der nicht publizierten Manuskripte, die im Laufe der Zeit vernichtet wurden oder die vergessen in Schubladen und auf Dachböden ruhen, mag beträchtlich sein« (Wedel, Rekonstruktionen des eigenen Lebens, S. 154). Im Falle Rahel Varnhagen von Enses oder Maxie Wanders ordneten und organisierten die Witwer den Nachlass, um nur zwei Beispiele anzuführen. Raulffs dargestellte Archiv- und Literaturgeschichte kann demnach als eine Geschichte des Vergessens bezeichnet werden. 83 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 364. 84 Ebd., S. 367. 85 Ebd. 86 Ebd. Zugleich formuliert Dilthey die Hoffnung, dass Weimar die zentrale Anlaufstelle für literarische Nachlässe wird (ebd., S. 374). Die kulturhistorische, literaturwissenschaftliche Relevanz dieses Ereignisses hält auch Jürgen Thaler fest (vgl. Thaler, Vom Rohen zum Gekochten: zur Ordnung des Nachlasses, S. 91).
94
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
neller Schriftstellerinnen gewesen sein muss, gibt Katja Mellmann, wenn sie zu Gabriele Reuters Autobiografie feststellt: [D]ieses vergleichsweise hohe und präzisierte Nachlassbewusstsein erklärt sich daraus, dass Reuter als Weimarerin aus nächster Nähe Einblick in die Anfänge des professionellen Archivwesens hatte, und zwar am Beispiel der einschlägigen Institution schlechthin: des damaligen GoetheArchivs in Weimar.87 Das kulturgeschichtliche Ereignis ist für Dilthey gleichzeitig Anlass,88 Goethes Nachlassordnung als ›unerhörte Begebenheit‹ vorzustellen. Laut Dilthey sind die meisten Nachlässe des 18. Jahrhunderts in einem miserablen Zustand, umso mehr sticht unter diesen Beispielen Goethes profilierte Nachlassordnung hervor: »Die Handschriften Goethes wurden schon zu seinen Lebzeiten mit einer Sorgfalt verwaltet, die vielleicht in der Geschichte der Literatur einzig ist«, schreibt Dilthey.89 Indem Anett Lütteken Fallbeispiele nennt, die archivarische Praktiken während des 18. Jahrhun87 Mellmann, Vom »Andenken für Freunde« zur autobiografischen Auskunft über »Dichtung und Wahrheit«, S. 291. Entscheidend ist hier Gabriele Reuters Autobiografie: Reuter, Vom Kinde zum Menschen. Sina betont, dass die Gründung literarischer Archive maßgeblich dazu beigetragen habe, dass sich ein Nachlass bewusstsein bei Schriftstellerinnen entwickelte: »[I]n den Jahren um 1900 [gründen sich] in Marbach am Neckar und in Weimar die großen deutschen Literaturarchive, namentlich das Schiller-Archiv und -Museum in Marbach [1903] sowie das GoetheArchiv [1885, ab 1889: Goethe- und Schiller-Archiv] in Weimar, die sich aber mitnichten bloß den Hinterlassenschaften ihrer berühmten Namenspatrone widmen« (Sina, Kafkas Nachlassbewusstsein, S. 221). 88 Plachta und Vliet legen dar, dass »[d]ie Errichtung von Dichter-Denkmälern, die Ausrichtung von Dichter-Feiern, die Stiftung von Literaturpreisen und die Gründung von literarischen Gesellschaften, Literaturmuseen und Archiven […] im 19. Jahrhundert eine Entwicklung in Gang [setzten], die die Literatur über die Verbreitung durch das Buch hinaus auch auf eine andere Weise in die Öffentlichkeit holte« (vgl. Plachta und Vliet, Überlieferung, Philologie und Repräsentation, S. 19). 89 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 369. Vgl. zur Bedeutung Goethes für das Goethe- und Schiller-Archiv exemplarisch: Theile, Die Akten des Goethesangs, S. 13, 19. Ebendort verweist Theile auf Gerhard Schmids Aufsatz 100 Jahre Goetheund Schiller-Archiv, der Goethes archivarische Tätigkeiten einmal mehr erläutere. Irmtraut Schmid beschreibt, wie bei Goethe archivarische und autobiografische Arbeitsschritte für sein Projekt Tag- und Jahreshefte zusammenfielen: »Goethe selbst hat uns die Nutzung seiner eigenen Briefregistratur bereits vorexerziert. Das geschah, als er sich entschloß, seine autobiographischen Schriften durch die TuJ zu ergänzen. Zu diesem Zweck versah er seine eingegangenen Briefe, die chronologisch abgelegt waren und quartalsweise geheftet wurden, mit einer Foliierungsziffer« (Schmid, Goethes Briefregistratur, S. 108).
95
iii . a na lysek at egor i en
derts belegen, zeigt sie dezidiert, dass es kulturhistorisch falsch sei, Goethe zur ersten und exemplarischen Leitfigur archivarischer Praktiken zu er heben.90 Nichtsdestotrotz fungiert Goethe weit über das 19. Jahrhundert hinaus als die exemplarische Autorfigur, die stellvertretend für eine literarische, archivarische und kanonische Erfolgsgeschichte steht: Er gilt als »Meister der Selbstinszenierung«.91 Für das 19. Jahrhundert kann Dilthey verzeichnen, dass die »Nachlaßmassen [zunehmen]«, diese aber zumeist in »Familienbesitz« seien, und der Forschung wie professionellen Archivierung vorenthalten würden.92 Insgesamt schneiden Familien in Diltheys Darstellung als archivarische Verwalter mäßig bis schlecht ab, denn verbleibt ein handschriftlicher Nachlass in Familienbesitz, drohen gemäß Dilthey »Zerstörung und Zersplitte rung«.93 Ein Szenario, das Karl Lachmann bereits vierzig Jahre zuvor mit seinem Urheberrechtsstreit bezüglich Gotthold Ephraim Lessings Schriften entwickelt hat, wenn er die »große[n] Mühen« schildert, die er gehabt habe, als er »das Chaos des litterarischen Nachlasses […] in den Schick gebracht« habe,94 um der zukünftigen Literaturwissenschaft einen komfortablen Forschungsgegenstand darreichen zu können.95 Allerdings gehören zu den dramatis personae gleichermaßen die »früheren Herausgeber«,96 die Verleger und besonders Buchhändler.97 Vedder macht ebenfalls auf das prominente Narrativ aufmerksam, nach dem »Dichtererben, die […] Nachlässe ihrer Erblasser blockieren, deren Schriften ›bereinigen‹ oder Publika-
90 Lütteken, Das Literaturarchiv, S. 75 f. Vgl. hierzu auch: Thaler, Vom Rohen zum Gekochten: zur Ordnung des Nachlasses, S. 89. 91 Lütteken, Das Literaturarchiv, S. 80. 92 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 371. 93 Ebd., S. 371. 94 Lachmann, Zum Lessing, S. 556. 95 Lachmann benennt bereits den Wert schriftlicher Korrespondenzen. Primäres Ziel bleibt für ihn jedoch, eine Gesamtausgabe zu schaffen, die ganz dem Autor und seinem Stil gewidmet sei. Somit entscheidet er sich dafür, die Briefe an Lessing gesondert zu edieren: »Aber unter den Briefen der andern ist zu viel Widerwärtiges, als dass der Herausgeber sich hätte entschließen können sie unter die von Lessing zu mischen. Gleichwohl sind die von Mad. König zu schön, und die meisten der übrigen, samt Nicolais unerträglichen Anmerkungen, für Lessings Geschichte und für die Literaturgeschichte zu wichtig« (ebd., S. 557). Bereits Lessing klagte über ein fehlendes Urheberrecht, das das jeweilige Werk vor etwaigen Nachdrucken schützt (vgl. Lessing, Leben und leben lassen). Vgl. hierzu auch: Weigel, »Nur was du nie gesehn wird ewig dauern«, S. 57-59. 96 Lachmann, Zum Lessing, S. 553. 97 Ebd., S. 557, 559, 565-570.
96
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
tionen verhindern«.98 Dieses Narrativ wird bis heute fleißig verstetigt. Anzumerken ist demgegenüber, dass bevorzugt Witwen als entschlussfreudige Kassationsexpertinnen dargestellt werden. So führt Lütteken aus, dass »Überlieferungsverluste […] auf das Konto von Verlobten und Witwen des 19. Jahrhunderts gehen«.99 Lachmann, Dilthey, Vedder, Lütteken und Raulff vernachlässigen dabei, dass viele Nachlässe ohne bemühte Familienmitglieder nicht erhalten wären und viele Editionen nicht vorlägen. Besonders in Fontanes Fall ist ›Theodor Fontane‹ ein ›Familienunternehmen‹.100 Unbestreitbar bleibt die Rolle von Familien ambivalent, zumal keine öffentliche Kontrolle vorliegt und keine Nachvollziehbarkeit gegeben ist, was kassiert respektive zensiert wurde. Nachlassverwalter stellen ein gewisses, kontingentes Gefährdungspotenzial dar, dies erklärt die akribischen Testierungen.101 Zugleich inszenieren diese den Wert respektive die Archiv würdigkeit des Vor- und Nachlasses. 1894 bezieht sich Jakob Minor in Wien auf Diltheys Archivkonzept in seinem Aufsatz Centralanstalten für die literaturwissenschaftlichen Hilfsarbeiten, den er für die literaturgeschichtliche Zeitschrift Euphorion verfasst. Diltheys Plädoyer hat bereits seinen fünften Jahrestag und dennoch liegt unverändert laut Minor »[gegenwärtig] [d]ie Gründung von Literatur-
98 Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, S. 166. In diesem Zusammenhang verweist Vedder auf folgende Studie: Grieser, Glückliche Erben. 99 Lütteken, Das Literaturarchiv, S. 78. Frauen werden auch bei Raulff lediglich als Bestandsverminderinnen erwähnt (vgl. Raulff, Nachlass und Nachleben, S. 25). 100 Vgl. hierzu die Danksagungen an die Nachlassverwalterinnen (vgl. exemplarisch: Wagner, Arthur Schnitzler, S. 12; Lederer, Arthur Schnitzlers Autobiographie, S. 4, 6; Petzet, Vorwort, S. 7). Vgl. zu Autor und Werk als Unternehmen: Zanetti, Sich selbst historisch werden, S. 90. 101 Diese mögen letztlich auch keinen umfassenden, zuverlässigen Schutz bieten. Das Gefährdungspotenzial treibt auch Goethe um, wenn er seine testamentarischen Überlegungen ausspricht: »›Meine Nachlassenschaft ist so kompliziert, so mannigfaltig, so bedeutsam, nicht bloß für meine Nachkommen, sondern auch für das ganze geistige Weimar, ja für ganz Deutschland, daß ich nicht Vorsicht und Umsicht genug anwenden kann, um jenen Vormündern die Verantwortlichkeit zu erleichtern und zu verhüten, daß durch eine rücksichtslose Anwendung der gewöhnlichen Regeln und gesetzlichen Bestimmungen großes Unheil angerichtet werde. Meine Manuskripte, meine Briefschaften, meine Sammlungen jeder Art sind der genauesten Fürsorge wert. Nicht leicht wird jemals so vieles und so vielfaches an Besitztum interessantester Art bei einem einzigen Individuum zusammen kommen. […] In diesem Sinne möchte ich diese meine Sammlung kon serviert sehen. […] Die übrigen Sammlungen soll man wenigstens zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre lang nicht zerstreuen‹« (Müller, November 1830, FA, II. Abt., Bd. 11, S. 335).
97
iii . a na lysek at egor i en
archiven […] in der Luft«.102 Wie Dilthey beklagt auch Minor die »Riesenmassen gedruckten und ungedruckten Materials«, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts exorbitant zunähmen.103 Hilfe mögen angesichts dieser Herausforderung lediglich archivarische Ordnungssysteme und »sorgfältige[ ] Centralregister« leisten.104 Für ausbleibende Ordnung und Regis trierung entwirft Minor folgendes Szenario: [W]enn dieses Jahrhundert, das sich selber mit Vorliebe das papierene nennt, zur Neige geht, ohne daß die aufgehäuften Papiermassen geordnet und gesichtet sind, dann wird man bei dem voraussichtlichen Anwachsen des Materials im künftigen vergebens streben seiner Herr zu werden.105 Wissenschaftliches Arbeiten wird ohne Selektion und Ordnung zur Herkulesaufgabe. Die Gestaltung einer Autobiografie ist hier eine literaturwissenschaftliche Arbeit, als solche ebenfalls auf archivarische, kuratorische und editorische Entscheidenspraktiken angewiesen. Betont werden muss, dass die hier vorgestellten Autobiografien durchweg neben einem literarischen einen dezidiert literaturwissenschaftlichen Anspruch dokumentieren. Die angesprochenen Prinzipien der Ordnung und Dokumentation erinnern an frühe Kaufmannsbücher, die als Vorläufer der Autobiografie gelten.106 Wie bei Dilthey statuieren in Minors Ausführung das GoetheArchiv in Weimar und Goethes Nachlasspraxis wissenschaftsgeschichtliche exempla. Wie war es um Goethes Aktenführung bestellt, fragt sich Jahre später auch Ernst Robert Curtius. Laut Curtius entwickelte sich Goethes Archivpraxis »durch sein Rechtsstudium, durch seine Tätigkeit als Anwalt, endlich durch seine Staatsämter« in Weimar. »Sammeln und Ordnen des Gesammelten war ein Grundzug von Goethes Wesen« in dieser Zeit geworden.107 Diese Tour d’Archive brachte Johann Wolfgang von Goethe den Beinamen »Aktensportler« ein.108 Zugleich hebt Curtius Goethes Buchführungstechniken hervor. Die Ergebnisse gewinnt er, indem er akribisch die Tagebücher und Briefwechsel auswertet. Curtius’ Essay ist für die vorliegende 102 Minor, Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen Hilfsarbeiten, S. 17. 103 Ebd., S. 18. 104 Ebd., S. 19. 105 Ebd., S. 19 f. 106 Vgl. hierzu: Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 131; Hämmerle, Nebenpfade?, S. 141. 107 Curtius, Goethes Aktenführung, S. 111. Benjamin betsimmte ›Sammeln‹ als »eine Form des praktischen Erinnerns« (Benjamin, Das Passagen-Werk, S. 271). 108 Vgl. Kastberger, Nachlassbewusstsein, Vorlass-Chaos und die Gesetze des Archivs, S. 411.
98
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
Fragestellung bedeutsam, da er autobiografische mit archivarischen Praktiken zusammenführt.109 Goethes Bedürfnis der Ordnung und Selektion perspektiviert er zuletzt pathologisch wie ironisch, indem er feststellt, dass Goethe »mit steigenden Jahren an Entschlußlosigkeit litt«.110 Im Anschluss daran zitiert Ernst Robert Curtius den Bericht von Goethes Hausarzt Vogel: Es wurde Goethen, der, von seiner frühen Jugend abgesehen, vielleicht jederzeit zur Bedächtigkeit und Umständlichkeit neigte, im höheren Alter ungemein schwer, Entschlüsse zu fassen. Er selbst war der Meinung, diese Eigenthümlichkeit, welche er geradezu als Schwäche ansprach, rühre daher, daß er niemals in seinem Leben rasch zu handeln genötigt gewesen sei […]. Waren schnelle Entschließungen nicht zu umgehen, häuften sich gar die Veranlassungen dazu in kurzer Zeit zusammen, so machte ihn das leicht grämlich.111 Wenn auch ironisch perspektiviert, konstituieren ›Sammeln‹, ›Ordnen‹ und ›Selektieren‹ eine Archivierungspraxis als Entscheidungsheuristik.112 Detlev Schöttker formuliert bezüglich Goethes archivarischer Tätigkeit: »In der Archivierung des eigenen Nachlasses kommen Beruf und Berufung zusammen«.113 Des Weiteren argumentiert Stefan Blechschmidt dafür, Goethes Archivverständnis nicht allein in Abhängigkeit von seiner Amts tätigkeit zu sehen, sondern seine naturwissenschaftlichen Studien in diesem Kontext ebenfalls zu berücksichtigen. Dabei betont Blechschmidt, »dass
109 Curtius verweist auch auf die Bedeutung des Nekrologs (vgl. Curtius, Goethes Aktenführung, S. 118). Vgl. zur Verbindung von ›Biografie und Nekrolog‹: Graevenitz, Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. 110 Curtius, Goethes Aktenführung, S. 121. 111 Ebd., S. 121. 112 Müller resümiert Curtius’ Ausführungen und hebt die kulturhistorische Wirkmacht getroffener Nachlassentscheidungen hervor: »Von den rubrizierten Papiersäcken führen Verbindungslinien zu den spektakulärsten Nachlaßentscheidungen Goethes: zur Versiegelung des ›Faust II‹-Manuskripts und zur Überantwortung des zweiten Teils der Walpurgisnacht aus dem ›Faust I‹ an den ›Walpurgissack‹. In beiden Fällen wurden wichtige Werkteile der Publikation entzogen. Des damit verbundenen Zeitbombeneffekts war sich Goethe bewußt. Dies zeigt seine Bemerkung, die Deutschen würden ihm nicht so schnell vergeben, ›wenn mein Walpurgissack nach meinem Tode sich einmal eröffnen und alle bis dahin verschlossenen, stygischen Plagegeister, wie sie mich geplagt, so auch zur Plage für andere wieder loslassen sollte‹« (Müller, Weiße Magie, S. 285). 113 Schöttker, Posthume Präsenz, S. 239.
99
iii . a na lysek at egor i en
Goethe die praktischen Vorteile der Aktenführung für die Verwaltung des autobiographischen Archivs seiner selbst zu nutzen wusste«.114 Es scheint, keine Autobiografiegeschichte ohne Johann Wolfgang von Goethe und kein Johann Wolfgang von Goethe ohne Autobiografie geschichte möglich zu sein. Erwähnt werden muss an dieser Stelle, dass es nicht an Forschungen zu Schriftstellerinnen und ihren autobiografischen Texten und Textarbeiten fehlt und trotzdem meist Augustinus’, Rousseaus und Goethes Autobiografien als prominente Beispiele in literaturgeschichtlichen Überblicken erörtert werden.115 Daran hat sicherlich auch die intertextuelle Verweistechnik ihren Anteil, so ist auch in Lewald-Stahrs, Fontanes, Heyses und Schnitzlers Autobiografien Goethe – aus der genannten Dreiergruppe – unbestreitbar die prominenteste Referenzfigur, seine Autobiografie firmiert als zentraler Intertext, um etwa die eigene Bildungsgeschichte und Berufung zu parallelisieren,116 um diese als Erfolgsgeschichte zu etikettieren. Goethe als Literatur-Figur wird zum Wegbegleiter und -bereiter der autodiegetischen Figuren.117 Goethe wird in Autobiografien nicht zuletzt aufgrund von werkökonomischen, das verlegerische Risiko senkenden Aspekten zur topischen Vergleichsfigur,118 denn der Name ›Goethe‹ verspricht Kassenerfolg. Dies zeigt sich beispielhaft in Theodor Fontanes Brief an seinen Sohn und Verleger Friedrich Fontane. Am 17. September 1890 schreibt Fontane seinem Sohn: »Und dies führt mich auf Deine Anfrage wegen des Goethe-Buchs. Sehr viel wird es wohl nicht damit sein, denn ich glaube das beste Fett ist weg, trotzdem ist es immer was Nettes, Anständiges und muthmaßlich auch die Kosten Deckendes«.119 Im Folgenden soll jedoch nicht die traditionsbegründende Bedeutung von Goethes Autobiografie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit diskutiert werden, sondern die ebenso wirkmächtige Schrift Archiv des Dichters und Schriftstellers.120 Sie kann als eine frühe Praxeologie des Archivs gelten, die zeitgleich belegt, dass der Wahlweimarer archivarische Arbeiten zu externalisieren wusste und zugleich zum exemplum archivarischen Arbeitens avancierte.121 Müller hält konzis fest, dass Goethe in seinen An114 115 116 117 118 119 120 121
100
Blechschmidt, Goethes lebendiges Archiv, S. 37. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Ein Leben für die Wissenschaft, S. 302. Vgl. auch: Grimm, Einleitung. Vgl. Honold, Kunz und Schrader, Goethe als Literatur-Figur. Vgl. hierzu besonders: Erhart, »Jeder soll werden wie er«, S. 193, 211-213, 243. Radecke, Vom Schreiben zum Erzählen, S. 20. Goethe, Archiv des Dichters und Schriftstellers, FA, I. Abt., Bd. 17, S. 366-368. Zur Kulturgeschichte archivarischer Praktiken vgl. exemplarisch: Friedrich, Die Geburt des Archivs. Vgl. hierzu auch: Müller, Weiße Magie, S. 282; Plachta und Vliet, Überlieferung, Philologie und Repräsentation, S. 19.
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
stalten zur Herausgabe meiner Werke »[u]nmißverständlich[ ] […] die Gleichrangigkeit von Arbeit am Werk und Arbeit am Nachlaß […] for muliert«.122 Auch Goethe beklagt, wie später Dilthey und Minor, die erschlagende Wirkung ungeordneter Papiermassen, wenn er bilanziert: Uebersah ich nun öfters die große Masse, die vor mir lag, gewahrte ich das Gedruckte theils geordnet, theils ungeordnet, theils geschlossen, theils Abschluß erwartend, betrachtete ich wie es unmöglich sei in späteren Jahren alle die Fäden wieder aufzunehmen, die man in früherer Zeit hatte fallen lassen, oder wohl gar solche wieder anzuknüpfen, von denen das Ende verschwunden war, so fühlte ich mich in wehmüthige Verworrenheit versetzt, aus der ich mich, einzelne Versuche nicht abschwörend, auf eine durchgreifende Weise zu retten unternahm. Die Hauptsache war eine Sonderung aller der bey mir ziemlich ordentlich gehaltenen Fächer, die mich mehr oder weniger früher oder später beschäftigten; eine reinliche ordnungsgemäße Zusammenstellung aller Papiere, besonders solcher, die sich auf mein schriftstellerisches Leben beziehen, wobey nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet werden sollte. Dieses Geschäft ist nun vollbracht; ein junger, frischer, in Bibliotheks- und Archivsgeschäften wohlbewanderter Mann hat es diesen Sommer über dergestalt geleistet, daß nicht allein Gedrucktes und Ungedrucktes, Gesammeltes und Zerstreutes vollkommen geordnet beysammen steht, sondern auch die Tagebücher, eingegangene und abgesendete Briefe in einem Archiv beschlossen sind, worüber nicht weniger ein Verzeichniß, nach allgemeinen und besonderen Rubriken, Buchstaben und Nummern aller Art gefertigt, vor mir liegt, so daß mir sowohl jede vorzunehmende Arbeit höchst erleichtert, als auch den Freunden, die sich meines Nachlasses annehmen möchten, zum besten in die Hände gearbeitet ist.123 Die Metaphorik des Fadens greift Goethe wieder auf, wenn er in seinem Essay Lebensbekenntnisse im Auszug archivarische und autobiografische Tätigkeiten zusammenführt:
122 Müller, Weiße Magie, S. 282. Vgl. hierzu auch: Curtius, Goethes Aktenführung, S. 110 f. 123 Goethe, Archiv des Dichters und Schriftstellers, FA, I. Abt., Bd. 17, S. 367 f.; 704 f. Bülow erklärt, dass Goethe 1822 seinen gesamten Nachlass »von seinem Sekretär Friedrich Theodor Kräuter fachgerecht ordnen und verzeichnen« habe lassen (Bülow, Nachlässe, S. 144).
101
iii . a na lysek at egor i en
Seit gedachtem Jahre habe ich von Zeit zu Zeit in ruhigen Stunden fortgefahren, sinnige Blicke in’s vergangene Leben zu werfen und die nächste Zeit auf gleiche Weise zu schematisieren, wozu mir denn ausführlichere Tagebücher erwünscht und hülfreich erschienen; nun liegen nicht alleine diese, sondern viel andere Documente nach vollbrachter archivarischer Ordnung auf’s klarste vor Augen und ich finde mich gereizt, jenen Auszug aus meiner ganzen Lebensgeschichte dergestalt auszuarbeiten, daß er das Verlangen meiner Freunde vorläufig befriedige und den Wunsch nach fernerer Ausführung wenigstens gewisser Theile lebhaft errege, woraus denn der Vorteil entspringt, daß ich die gerade jedesmal mir zusagende Epoche vollständig bearbeiten kann und der Leser doch einen Faden hat, woran er sich durch die Lücken folgerecht durchhelfen möge.124 Der »Faden« wird gewissermaßen als leserfreundliches Hilfsmittel vor gestellt. Ähnlich argumentiert Goethe in Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, wenn er im Vorwort zum vierten Teil eine längere Schreibpause begründet, wichtiger als eine stringente Kohärenz seien die »Hauptfäden«, die helfen, womöglich fragmentarische Lebensereignisse, somit Erzählbausteine zu vernetzen.125 Goethes archivarische Praktiken besitzen werkbildende Funktion und liefern kontinuierlich den Scherenschnitt einer Autorfigur. Er entscheidet sich dabei nicht zwischen prodesse und delectare, sondern führt entschieden beide Konzepte zusammen. Bemerkenswert ist, dass Goethe – wie später auch Ebner-Eschenbach, Heyse und Schnitzler – parallel zu seinem autobiografischen Projekt seine letzten Bestimmungen testiert. Das geplante Testament bespricht Goethe nur acht Tage nachdem er den vierten Teil seiner Autobiografie konzipiert.126 Kurzum: Goethe entwickelt sich, so Zanetti, zum Markennamen eines literarischen Unternehmens.127 Beachtenswert ist, dass in beiden Textpassagen die Briefe und Tagebücher eine prominente Position – besonders bezüglich zukünftiger autobiografischer Projekte – einnehmen. Zugleich sind geordnete Papiere das Fundament schriftstellerischer Arbeit, für ein autobiografisches Projekt gewähr-
124 Goethe, Lebensbekenntnisse im Auszug, FA, I. Abt., Bd. 17, S. 368-370; 709 f. 125 Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt., Bd. 14, S. 727. 126 Goethes Tagebuch. Mi. 10./Do. 11. November 1830, FA, II. Abt., Bd. 11, S. 334; Müller, 19. November 1830, FA, II. Abt., Bd. 11, S. 334-338. 127 Vgl. Zanetti, Sich selbst historisch werden, S. 90. Zanetti legt in seiner Studie dar, wie wichtig es sei, »die Arbeit nicht nur am Werk, sondern auch an der Figur des Autors als Arbeit […] zu bestimmen« (ebd., S. 99).
102
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
leisten sie bis zu einem gewissen Grad ›gesicherte Erinnerungen‹.128 Die archivarische Tätigkeit wird Mittel zum Zweck. ›Die Lücken‹, für die Goethe die Fadenmetapher bemüht, verwendet auch Raulff, wenn er biografische Projekte und archivarische Tätigkeiten zusammenbringt, um das »große[ ] poetische[ ] Potential« zu bekunden, das Archivbeständen zukommt:129 Aus seinen Lücken und Redundanzen, aus den Netzstrukturen, die es sichtbar, und den Vergleichen, die es möglich macht, kurz: aus seinen Unter- wie Überschüssen ergeben sich Materiallagen und Erkenntnisse, die die Form der Biographie unter Spannung setzen und kurzerhand sprengen.130 Ebendiesen Effekt bewirkt ein punktueller Formwechsel. Ulrich Raulff bestimmt zugleich den Begriff ›Vorlass‹, gemeint sei damit die Übergabe sämtlicher Schriften an ein Archiv zu Lebzeiten einer Schriftstellerin. Darin zeige sich die Hoffnung auf einen ruhmsichernden »Erkenntnisdrang der Nachwelt«.131 Nicht zu vergessen, dass Vor- und Nachlässe für Schriftsteller und deren Familien eine keinesfalls unwesentliche finanzielle Absicherung darstellen. Im Falle der Autobiografie zeigt sich, wie Vor- und Nachlasspraktiken in einer reziproken Beziehung stehen, die Autobiografie zugleich als Vorlass vorab die Ordnung des Nachlasses mitbestimmt. Nachlasskonstitutive Entscheidensprozesse finden in der Autobiografie einen überlieferungs sicheren Ort, einen ›Bekenntnisraum‹.132 In autobiografischen Erzähltexten gibt nicht selten die autodiegetische Erzählerin wieder, wie die autobiografische Figur eigene Werkmanuskripte verbrennt. Diese topische Erzählpraxis birgt mitunter den Effekt, einen noch vorhandenen Nachlass zukünftig zu verwalten, somit zu vervielfältigen und nicht zuletzt die getroffene Entscheidung retrospektiv zu legitimieren. Vorbereitet wird auf diese 128 Häufig wird darauf verwiesen, dass Goethe und Schiller unterschiedliche Auf bewahrungstechniken praktizierten. Raulff schreibt hierzu: »Hier zeichnet sich ein interessanter Wandel im Verhältnis zum eigenen Nachlass als Form des literarischen Nachlebens ab: Während Schiller noch, wie bis dahin üblich, die Manuskripte seiner gedruckten Werke vernichtete oder verschenkte, hob Goethe sie auf und ließ sie, zehn Jahre vor seinem Tod, fachmännisch archivieren« (Raulff, Nachlass und Nachleben, S. 21). 129 Ebd., S. 34. 130 Ebd., S. 26. 131 Ebd., S. 19. 132 Goethe verwendet den Ausdruck ›Bekenntnis‹ in beiden Schriften an prominenter Stelle. Vgl. hierzu: Wagner-Egelhaaf, The Alibis of the Autobiographer.
103
iii . a na lysek at egor i en
Weise eine Vorlassordnung, die für eine Veröffentlichung bestimmt ist und im weiteren Verlauf in einem besonderen Verhältnis zur testamentarischen Verfügung sowie zukünftigen archivarischen Nachlassordnung steht. Weiterführend ist hierfür abermals Sinas und Spoerhases Aufsatz Nachlassbewusstsein, ebendort beziehen sie maßgeblich Zanettis Schreibprozessforschungen ein, zumal er erzählte Schreibszenen und die damit einher gehende ›Selbstverwaltung‹ untersucht.133 ›Autobiografien‹ als eine Gattung, die sich durch den ordnenden Umgang und die Ausstellung privater Manuskripte, Dokumente und publizierter Werke auszeichnet, demnach ein Element innerhalb des Entscheidensprozesses der eigenen schriftstellerischen Vor- bzw. Nachlassordnung ist, werden lediglich am Rande erwähnt. In diesem Zusammenhang soll hier den Fragen nachgegangen werden, in wieweit die Autobiografie unter nachlassbewusstem Vorzeichen steht, ein bevorzugtes Medium für Archivierungspraktiken darstellt und weshalb diese besonders in Entscheidensprozessen thematisiert und reflektiert werden. Anke te Heesen schreibt wie Kai Sina und Carlos Spoerhase, dass archivarische Praktiken kulturhistorisch bedeutend für das 19. Jahrhundert seien, denn [d]er Nachlaß weckte die Illusion, man könne retrospektiv den Menschen aus den hinterlassenen Dingen rekapitulieren. Mit dem Nachlaß und seinen Dingen ordnete sich der Mensch in den Strom der Geschichte ein und brachte zugleich seine Anwartschaft auf einen Platz im Gedächtnis der kommenden Generationen zum Ausdruck.134 Unzweifelhaft nennt te Heesen hier zentrale Funktionen (auto-)biografischer Projekte. Umso bedeutender ist ihre Beobachtung, dass ein »Kanon an Fakten« als instabiles Konstrukt erfahren und darauf reagierend fleißig archiviert worden sei.135 Eine ebenso zentrale Praxis gerät innerhalb ihrer Studie allerdings in Vergessenheit: die Kassation. Dabei sind es gerade erzählte Kassations entscheidungen, die Archivierungsprozesse regelrecht befeuern und dazu beitragen, dass sich diese gleich einem Lauffeuer ausbreiten. Ebendiesen nachlasskonstitutiven Archivierungs- und Kassationserzählungen sowie den damit verbundenen, bislang marginalisierten autobiografischen Archivierungspraktiken kommt ein aktueller Trend zupass: Das Interesse der Literaturwissenschaften an schriftstellerischen Nachlässen, 133 Vgl. hierzu: Zanetti, Sich selbst historisch werden, S. 85-113. 134 Heesen, Das Archiv, S. 117. 135 Ebd., S. 116.
104
iii .1 au tobiogr a fi e u n d a rch i v
den Umgang mit Vorlässen wie deren Ordnung wächst kontinuierlich. Jürgen Thaler verkündet, »[k]eine Epoche [war] so wie die unsere auf sogenannte Originale aus«.136 Auch Gabriele Radecke vermerkt, dass sich aktuell in den Geisteswissenschaften die Hinwendung zu den Handschriften und damit zur materialen Grundlage des Editionstextes als Trend wahrnehmen lasse.137 Entscheidungsförmige Prozesse in autobiografischen Erzähltexten fordern regelecht das Publikum dazu auf, die Textgenese zu berücksichtigen, indem die materiale, mediale Bedingtheit innerhalb des autobiografischen Projekts explizit ausgestellt wird. Gemäß Luhmann wird jede Entscheidung zur Ressource für mögliche Folgeentscheidungen,138 die Interdependenz zwischen archivarischen und autobiografischen Entscheidensprozessen bestätigt dies. Das benannte Verhältnis zeigt sich, wenn autobiografische Entscheidensprozesse an die Entscheidung rückgebunden sind, eine Lebensgeschichte zu schreiben,139 parallel dazu lebenslauf- und textkonstitutive Schriftstücke zu archivieren. Die Erzähltechnik, einen Entscheidensprozesses darzustellen, tritt in den Vordergrund, sobald zum Beispiel (1) eigene und fremde Schriftzeugnisse zitiert, (2) divergierende wie konfligierende Lebensläufe in Relation gebracht oder (3) autobiografische Praktiken thematisiert werden. Das Tagebuch und der Brief erfreuen sich in den vorgestellten Texten ungebrochener Prominenz, denn sie fungieren als ›Dokumente‹ der inneren und auch einer äußeren Stimme.140 Ihrer prominenten Position in autobiografischen Scheidewegszenarien ist das folgende Kapitel gewidmet, vorgestellt wird dort, wie mithilfe einer punktuellen formalen Komposition das entscheidensaffine Potenzial unterschiedlicher Gattungen präsentiert wird. 136 Thaler, Vom Rohen zum Gekochten: zur Ordnung des Nachlasses, S. 99. Margret Cohen beschrieb diesen Wissenschaftstrend bereits 2009 als »›return to the archive‹« (Cohen, Narratology in the Archive of Literature, S. 51). 137 Radecke, Vom Schreiben zum Erzählen, S. 17. Stefan Höppner argumentiert ähnlich, wenn er schreibt: »Die Frage nach der Materialität von Literatur erlebt eine neue Blüte in der Zeit des Digitalen« (Höppner, Bücher sammeln und schreiben, S. 14). 138 Vgl. Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, S. 298. 139 Vgl. hierzu: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 50-61. 140 Diese besondere Vorliebe für Briefwechsel und Tagebücher scheint äußerst nachhaltig zu sein. So bekundet noch Fritz J. Raddatz seinen Unmut über diese dauerhafte Präferenz, als er in Erwägung zieht, seinen Nachlass an das Literaturarchiv Marbach zu übergeben: »Höchst irritierend dabei zwei ›Prinzipien‹ dieses Schiller-Museums: ›Werke‹ (inklusive der Handschriften dazu) interessieren dort offensichtlich garnicht; nicht nur Meine nicht, sondern generell keine – nur Briefwechsel und Tagebücher« (Raddatz, Tagebücher, S. 539).
105
iii . a na lysek at egor i en
III.2 bricolage III.2 ›bricolage‹ Der Ausdruck ›bricolage‹ ist seit dem 19. Jahrhundert dokumentiert, er geht zurück auf das seit ca. 1480 bekannte französische Verb bricoler und lässt sich als vielgestaltige Tätigkeit umschreiben: »faire toute sorte de petites besognes«.141 Übersetzt werden kann bricolage mit: »basteln«, »geschickt sein«, »pfuschen« sowie »zusammen(basteln)«.142 Die Etymologie des Ausdrucks offeriert gewissermaßen ein Bild der Unentschiedenheit, charakteristisch stand im 16. Jahrhundert bricoler für »aller en zigzag«.143 Die unentschiedene zig-zag-Bewegung bietet entscheidenstheoretisch produktions- und rezeptionsästhetische Anknüpfungspunkte. Die autobiografische Praxis einer bricolage bezeichnet in der vorliegenden Studie den kontingenten, aber auch organisierten Zugriff auf Archivalien, die für einen Entscheidensprozess bearbeitet werden. Dieser Formwechsel wird im autobiografischen Kontext oftmals von entschlussfreudigen Kassationserzählungen begleitet, mit diesen erhält das Bewahrte eine exklusive Wertigkeit. Innerhalb der Autodiegese verweisen ausgewählte Archivalien auf eine Vielzahl archivierter Entscheidungselemente, die sich zugleich als ehemals konsultierte Entscheidungsressourcen vorstellen lassen. Rezeptionsästhetisch bewirkt der mit der bricolage einhergehende Formwechsel ein zig-zag zwischen Fiktionalität und Faktualität. Diese oszillatorische Bewegung erinnert daran, dass Frank Zipfel zufolge der Leseakt autobiografischer Texte von einem »Hin und Her zwischen dem [referentiellen]« und »dem Fiktions-Pakt« geprägt ist.144 Durch die bricolage wird dieses ›Hin und Her‹ visualisiert. Außerdem schafft sie recht eigentlich ein Bewusstsein für wechselhafte Aussagemodi. Obendrein werden die archivarischen, kuratorischen und editorischen Praktiken ersichtlich, die faktuale und fiktionale Entscheidensprozesse und schließlich eine entscheidenstheoretische Erzähltechnik sowie Rezeption bedingen. Besonders die Funktion, die faktualen und fiktionalen Archivalien in autobiografischen Projekten zukommt, wird durch das synoptische Verfahren der bricolage erfahrbar. Denn mithilfe einer bricolage gelingt es, autobiografisches Entscheiden als einen sozialen, vielgestaltigen Prozess darzustellen. Die bricolage erweist sich bereits in ihrer metaphorischen 141 Wartburg, bricole. Vgl. hierzu auch: Dubois, Mitterand und Dauzat, bricole. 142 Auvrai, March, Hald, Kopyczinski, Meister, Sgorlon und Wirth, bricoler. 143 Dauzat, bricole; Wartburg, bricole. 144 Zipfel, Autofiktion, S. 306. Vgl. hierzu auch: Kreknin, Poetiken des Selbst; Wagner-Egelhaaf, Einleitung [2013]; Man, Autobiography as De-Facement, S. 921.
106
iii .2 › br icolage ‹
sowie auch etymologischen Dimension als ein hilfreicher Terminus, doch worin liegt ihr narratologisches, heuristisches Potenzial? Weiterführend für die Analysemethode sind Claude Lévi-Strauss’ Ausführungen zum Ausdruck bricolage, denn dieser ist für ihn der Ausgangspunkt, um Mythengenesen zu konzeptualisieren.145 In seinem Methodenwerk La pensée sauvage unterscheidet er graduell zwischen dem Typus des bricoleurs und des ingenieurs. Im Gegensatz zum ingenieur zeichnet sich der bricoleur durch folgende Vorgehensweisen aus: [I]l ne subordonne pas chacune d’elles à l’obtention de matières premières et d’outils, conçus et procurés à la mesure de son projet: son univers instrumental est clos, et la règle de son jeu est de toujours s’arranger avec les ›moyens du bord‹, c’est-à-dire un ensemble à chaque instant fini d’outils et de matériaux, hétéroclites au surplus, parce que la composition de l’ensemble n’est pas en rapport avec le projet du moment, ni d’ailleurs avec aucun projet particulier, mais est le résultat contingent de toutes les occasions qui se sont présentées de renouveler ou d’enrichir le stock, ou de l’entretenir avec les résidus de constructions et de destructions antérieures. L’ensemble des moyens du bricoleur n’est donc pas détinissable par un projet […]; il ne définit seulement par son instrumentalité, autrement dit et pour employer le langage même du bricoleur, parce que les éléments sont recueillis ou conserves en vertu du principe que ›ça peut toujours servir‹. […] Chaque élément représente un ensemble de relations, à la fois concrètes et virtuelles.146 145 Vgl. allgemein: Lepenies und Ritter, Orte des wilden Denkens; Kauppert, Funcke, Wirkungen des wilden Denkens; Seitz, Geschichte als bricolage, S. 66-83. 146 Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 27. Hans Naumann übersetzt diese Passage folgendermaßen: »Der Bastler […] macht […] seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müßten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d. h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, sondern das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenheiten ist, den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen. Die Mittel des Bastlers sind also nicht im Hinblick auf ein Projekt bestimmbar […]; sie lassen sich nur durch ihren Werkzeugcharakter bestimmen – anders aus gedrückt und um in der Sprache des Bastlers zu sprechen: weil die Elemente nach dem Prinzip ›das kann man immer noch brauchen‹ gesammelt und aufgehoben werden. […] Jedes Element stellt eine Gesamtheit von konkreten und zugleich möglichen Beziehungen dar.« (Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 30). Vgl. zur
107
iii . a na lysek at egor i en
Die vorgestellte Differenzierung ist heuristisch wertvoll, um die Hand habung der ›Materialien‹ beschreiben zu können. Es ist ebendieses Beschreibungsrepertoire und nicht die poststrukturalistische Implikation, die hier für eine tentative Methodik angewandt wird. Die Tätigkeit des bricoleurs sei stets retrospektiv, (mytho)poetisch, selektiv und dialogisch.147 Tatsächlich repräsentiert jedes eingefügte Archivale »un ensemble de relations à la fois concrètes et virtuelles«. Der bricoleur beherrscht entscheidungsförmige, archivarische und kuratorische Praktiken, die in autobiografischen Entscheidensprozessen vorgestellt werden, denn der bricoleur excité par son projet, sa première demarche pratique est pourtant retrospective: il doit se retourner vers un ensemble déjà constitué, formé d’outils et de matériaux; en faire, ou en refaire, l’inventaire; enfin et surtout, engager avec lui une sorte de dialogue, pour répertorier, avant de choisir entre elles les réponses possibles que l’ensemble peut offrir au problème qu’il lui pose. Tous se objets hétéroclites qui constituent son trésor, il les interroge pour comprendre ce que chacun d’eux pourrait ›signifier‹.148 Ersichtlich wird bereits hier die Nähe der bricolage zu autobiografischen Archivierungspraktiken: Um den Entscheidensprozess darzustellen, wird (1) ein Archivale gewählt, das ein zurückliegendes Entscheidungsmoment aussagekräftig präsentiert, zugleich den weiteren, naturgemäß zukünf tigen Nachlass respektive die entwickelte Nachlassordnung exemplarisch repräsentiert. (2) Zuvor gilt es die verfügbare Sammlung zu sichten, zu ordnen und zu kuratieren. (3) Mit der Zitation wird das autobiografische Projekt an die prospektive Hinterlassenschaft gebunden, sodass ein Netzwerk generiert wird. (4) Schließlich wird die angelegte Sammlung als nachweltfähiger Schatz konzipiert.149 Stephan Seitz weist darauf hin, dass Rezeption: Lepenies und Ritter, Orte des wilden Denkens; Kauppert und Funcke, Wirkungen des wilden Denkens. 147 Vgl. Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 26, 28; Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 30 f. 148 Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 28. Naumann übersetzt diese Passage fol gendermaßen: »Von seinem Vorhaben angespornt, ist sein erster praktischer Schritt dennoch retrospektiv: er muß auf eine bereits konstituierte Gesamtheit von Werkzeugen und Materialien zurückgreifen; eine Bestandsaufnahme machen oder eine schon vorhandene umarbeiten; schließlich und vor allem muß er mit dieser Gesamtheit in eine Art Dialog treten, um die möglichen Antworten zu ermitteln, die sie auf das gestellte Problem zu geben vermag. Alle diese hetero genen Gegenstände, die seinen Schatz bilden, befragt er, um herauszubekommen, was jeder von ihnen ›bedeuten‹ könte« (Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 31). 149 Vgl. Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 28, 31. Vgl. hierzu auch: Seitz, Geschichte als bricolage, S. 67; ebd.
108
iii .2 › br icolage ‹
bricolage […] bereits von Lévi-Strauss als ein genuin poetisches und in der Folge auch historiografisches Prinzip beschrieben worden ist«.150 Gemäß Seitz ist die »[d]ie Tätigkeit des Bastlers […] ein unabschließbarer Prozess von Zerlegung und Rekombination, von Analyse und Synthese«.151 Ebendiese d ialogische Struktur wird bevorzugt anhand singulärer Entscheidens prozesse pointiert ausgestellt. Der damit einhergehende Formwechsel kann als ein strukturalistisches, topisches Erzählverfahren – auch für autobiografische Entscheidensprozesse – bezeichnet werden. Die dadurch vorgestellten punktuellen Entscheidungsmomente werden sogleich in Form einer Synthese mit dem schriftstellerischen Nachlass kontextualisiert.152 Des Weiteren ist hervorzuheben, dass Claude Lévi-Strauss gerade Künstlerinnen eine Zwischenposition in der entworfenen Typologie zuschreibt.153 Für die Textanalyse erweist sich Lévi-Strauss’ Theorie als besonders anschlussfähig, da sie die Tätigkeit der bricolage mit Entscheiden in Beziehung setzt: »[L]a décision dépend de la possibilité de permuter un autre élément dans la fonction vacante, si bien que chaque choix entraînera une réorganisation complète de la structure«.154 Die Tätigkeit der bricolage betrifft zwei Bereiche: den der Disposition und Darstellung. Aus narratologischer Perspektive sind Entscheidens prozesse innerhalb der Diegese, somit der präsentierten Erzählung zu ermitteln. Die dort exzerpierten Archivalien verweisen wiederum auf ein faktuales Archiv, das für das autobiografische Projekt konsultiert wird. In autobiografischen Entscheidensprozessen interferieren demzufolge drei erzähltextbasierte Verfahren: »Auswahl von Momenten«, »Kompositon des Erzähltextes« und »Präsentation der Erzäh 150 Ebd., S. 11. 151 Ebd., S. 68. 152 Diese Teilhandlungen erinnern an Diltheys hermeneutisches Verstehensmodell, für das gerade die Analyse ein konstitutives Element ist. Nebstdem verknüpft Dilthey fortwährend archivologische Praktiken mit narratologischer Theorie. Vgl. hierzu: Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 365 f.; Dilthey, Das Erleben und die Selbstbiographie, S. 200 f.; Dilthey, Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen, S. 205. 153 Vgl. Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 33; Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 36. Bemerkenswert ist, dass somit nicht eine »Gegenüberstellung von inspiriertem Genie und poetischem Handwerker oder Ingenieur« fortgeführt wird, die gemäß Anne Bohnenkamp »bekannte[ ] Gegensatzpaare[ ]« kanonisiert (Bohnenkamp, Autorschaft und Textgenese, S. 62). 154 Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 29. Naumann übersetzt diese Passage folgendermaßen: »[D]ie Entscheidung [hängt] von der Möglichkeit ab, ein anderes Element in die frei gewordene Funktion einzusetzen, so daß jede Wahl eine vollständige Neuorganisation der Struktur nach sich zieht« (Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 32).
109
iii . a na lysek at egor i en
lung«.155 Die autobiografische Figur ist dadurch als bricoleur wie ingenieur bevorzugt in entscheidungsförmigen Passagen der Autodiegese präsent. Nebstdem setzen inszenierte Entscheidensprozesse in einer Autobiografie den dargestellten Lebenslauf einer bestimmten Perspektive aus und präsentieren Entscheidungen dezidiert als »sprachliche Handlungen«.156 Karlheinz Stierle zufolge bezeichnet Claude Levi-Strauss mit bricolage die »Tätigkeit, Altes, das unbrauchbar geworden ist, aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen herauszunehmen und durch einfallsreiche Kombinationen einer neuen Intention dienstbar zu machen«.157 Die Textanalysen zeigen, dass lebenslaufkonstitutive Entscheidungen an textkonstitutive Entscheidungen gebunden sind, sodass sukzessiv ›Leben‹ und ›Werk‹ verknüpft werden.158 Die »poésie du bricolage« zeigt sich vornehmlich in autobiografischen Textpassagen, die lebenslauf- sowie werkkonstitutive Scheidewegsituationen präsentieren. Mithilfe einer bricolage werden Entscheidungen zwischen Alternativen ersichtlich, diese demonstrieren wiederum laut Lévi-Strauss »le caractère et la vie de son auteur«, denn »[s]ans jamais remplir son projet, le bricoleur y met toujours quelque chose de soi«.159 Die getroffene Auswahl steht gewissermaßen stellvertretend für die Gesamtheit aller angehäuften ›Lebens- und Werkzeugnisse‹. Entscheidensprozesse dienen explizit dazu, das autobiografische Projekt werkbiografisch auszurichten. Autobiografinnen, die sich als Archivarinnen vorstellen, präsentieren ihren prospektiven Nachlass als archivwürdige Kulturgabe. Archivalien sind relativ zu entsprechenden Hintergrundnormen eine stabile Wertanlage und dies steigert nicht zuletzt den Marktwert autobiografischer Projekte. Mittels einer bricolage wird zudem ein vergangener Entscheidens prozess vergegenwärtigt, den skripturale Archivalien ›bezeugen‹. 155 156 157 158
Schmid, Elemente der Narratologie, S. 73, 79. Niehaus, Die Entscheidung vorbereiten, S. 17. Stierle, Mythos als »bricolage«, S. 457. Sandra Oster stellt vor, wie mit Autorenporträts die Verknüpfung zwischen Leben und Werk medientechnisch inszeniert wird (vgl. Oster, Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, S. 82-84. Vgl. hierzu auch: Tanzer, Kein Ort nirgends, S. 129). Vgl. zur Verbindung von ›Leben‹ und ›Werk‹ auch: Rippl, Life and Work; Benne, »kein Einfall sollte untergehen«, S. 226 f.; Werle, Nachlass, Nachwelt und Nachruhm um 1800, S. 128; Honold, Kunz und Schrader, Goethe als Literatur-Figur, S. 7; Schwieren, Gerontographien, S. 121 f.; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 48 f. 159 Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 32. Naumann übersetzt die Passage folgendermaßen: »indem sie durch die Auswahl, die sie zwischen begrenzten Möglichkeiten trifft, über den Charakter und das Leben ihres Urhebers Aussagen macht« (Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 34 f.).
110
iii .2 › br icolage ‹
Indem Entscheidensprozesse an autobiografische Schreibpraktiken rückgebunden werden, erscheinen Rückzugsorte als privilegierte Entscheidensräume, die eine ungestörte Entscheidenszeit garantieren. Schreiborte ermöglichen Schreibprozesse, die laut Almuth Grésillon »neue Erkenntnisse, neue Assoziationen zu Tage [fördern], ja, […] selbst Erfindungsund Entdeckungsmechanismen [sind]«.160 Einmal archiviert, bietet das angelegte Privatarchiv fortan eine Fülle an Entscheidungsressourcen, Erklärungs- wie Rechtfertigungsmustern.161 Dadurch, dass einzelne Entscheidungsmomente aus einer Vielzahl unterschiedlicher Archivalien exzerpiert werden, wird ein Entscheidensprozess gewissermaßen verkleinert. Demzufolge können lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidensprozesse lediglich als »modèle reduit« dargestellt werden, denn »la transposition graphique ou plastique implique toujours la renonciation à certaines dimensions de l’objet«.162 Claude Lévi-Strauss zufolge helfe die Verkleinerung dabei, den jeweiligen Gegenstand zu verstehen.163 Die bricolage ermöglicht daher, ein Verstehensmodell zu entwickeln. In Schriftsteller-Autobiografien besitzt Entscheiden die Funktion, eine Schnittstelle erfahrbar zu machen. Die semantische Dimension einer Zäsur, die dem Wortverbund ›Entscheidung‹, ›decisio‹ und ›Krise‹ zukommt, wird mithilfe einer formalen Komposition und einer bricolage bildhaft präsentiert. Zudem lassen punktuelle typografische sowie formale Zäsuren ein kreatives, gestalterisches Moment emergieren. Im Zuge dessen wird die Schriftstellerin als versierte Archivarin in Szene gesetzt. Mit einem autobiografischen Entscheidensprozess mitsamt bricolage gerät signifikant die »aktionistische[ ] Dimension der Autorschaft« in den Blick und belegt schriftstellerische Inszenierungspraktiken.164 Zugleich generieren Archiva160 Grésillon, Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben, S. 157. Vgl. hierzu auch: Zanetti, Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Vgl. hierzu auch: Hughes, Fries und Wälchli, Schreibprozesse; Raible, Kulturelle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse. 161 Vgl. hierzu exemplarisch: Pfister, Einleitung, S. 25; Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 228. 162 Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 34. Kruckis beschreibt biografische Darstellungen als »Mikrologie«, denn: »Darstellung muß den Reichtum der Gegenstände notwendig einschränken, sie ist Konstruktion und damit Selektion« (Kruckis, Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert, S. 565). 163 Vgl. Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 35; Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 37. 164 Grimm und Schärf, Einleitung, S. 8. Vgl. hierzu auch: Jürgensen und Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 10; Laferl und Tippner, Zwischen Authentizität und Inszenierung, S. 19. Inszenierungspraktiken evozieren
111
iii . a na lysek at egor i en
lien gemäß Herbert Kopp-Oberstebrink spätestens seit Diltheys Archive für Literatur »innovative Verfahren […] und diese wiederum ermöglichen neue Wissensproduktion«.165 Tatsächlich erscheint das Archiv in allen hier vorgestellten Fallbeispielen als »Laboratorium der Kulturforschung« und der »Schriftstellernachlass […] als eine […] epistemische Formation«,166 zumal anhand archivarischer, kuratorischer Praktiken vermittelt wird, dass Entscheiden ein sozialer, interaktiver, kontingenter, nicht zuletzt voraussetzungsvoller Selektionsprozess ist. Geulen erklärt, dass eine Instanz benötigt werde, die Möglichkeiten »voneinander scheidet« und »konfiguriert«, damit von einer Entscheidung gesprochen werden könne.167 Die bricolage stellt eine solche Analyse dar, die mit ihr einhergehenden Zäsuren lassen spätere Collage- und Montagetechniken bereits erahnen.168 Kontingente Entscheidungen werden in autobiografischen Texten retro- und prospektiv in einen Prozess überführt, indem private Archivalien in einen neuen, diegetischen Kontext gesetzt werden. Exzerpierte Archivalien kontextualisieren die Autobiografie wiederum mit dem schriftstellerischen Nachlass, somit auch mit den gegenwärtigen und potenziell auch zukünftigen Archiven.169 Die Textanalysen zeigen, dass mithilfe autobiografischer Entscheidensprozesse narrative, intermediale wie -textuelle Techniken entwickelt werden, die der poetischen und kulturhistorischen Funktion einer autobiografischen Entscheidenspassage zukommen. Die Archivierungspraktiken autobiografischer gleich einen theatralen Darstellungsmodus. Vgl. hierzu: Laferl und Tippner, Vorwort, S. 8; Samida, ›Inszenierte Wissenschaft‹, S. 12 f.; Mazza und Pornschlegel, Einleitung. 165 Kopp-Oberstebrink, Das Literaturarchiv als Laboratorium der Kulturforschung, S. 132. 166 Ebd., S. 133; Sina, Die vergangene Zukunft der Literatur, S. 50. 167 Geulen, Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, S. 52. 168 Vgl. zur literarischen und kulturhistorischen Dimension von ›Schnitttechniken‹ exemplarisch: Wirtz und Wieland, Paperworks; Vogel, Die Kürze des Faktums [2015b], S. 146; Vogel, Kampfplatz spitzer Gegenstände; Heesen, Der Zeitungsausschnitt; Metken, Geschnittenes Papier; Sander, Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«. Magnus Wieland legt dar, dass »Cut and Paste […] keine Erfindung des digitalen Zeitalters [ist], sondern die Implementierung einer althergebrachten Kulturtechnik«, die eine »Trennung zwischen Kopf- und Papierarbeiter« negiere (Wieland, Paper works!, S. 22). Vgl. zum Zusammenhang von ›Cento‹, ›Collage‹ und ›Montage‹: Blänsdorf, Montage, Intertextualität, Gattungsmischung, Kontamination?, S. 2-12. Die Technik der bricolage erinnert des Weiteren an »scrapbooks«, die laut te Heesen als »persönliche[ ] Wissensbehälter« funktionierten (Heesen, Der Zeitungsausschnitt, S. 42 f.). 169 Diese Vernetzungsstrategie erinnert an Anne Rüggemeiers Konzept der ›relationalen Autobiografie‹: vgl. Rüggemeier, Die relationale Autobiographie.
112
iii .2 › br icolage ‹
Figuren besitzen zugleich eine topische und eine dezidiert referentielle Dimension. Die referentielle Dimension überwiegt, sobald Entscheidensprozesse genutzt werden, um erstmalig faktuale Archivalien auszustellen, sodass die Autobiografie zum Repertorium wird. Dabei bleibt selbst redend nicht ausgeschlossen, dass auch fiktionale Archivalien präsentiert werden.170 Berücksichtigt werden muss jedoch, dass die jeweilige Archivordnung bereits ein Produkt gestalterischer Teilhandlungen ist. Klaus Kastberger betont, dass »[l]iterarische Nachlässe« artifizielle Anordnungen seien, dadurch »eine spezifische Geschichte und spezifische Formationsprinzipien« hätten.171 Festgehalten werden kann vorerst: Entscheidensprozesse stellen das gestalterische Moment einer bricolage offenkundig aus, weshalb im Folgenden diese kreativen, planerisch strukturierten und besonders archivarischen wie kuratorischen Praktiken fokussiert werden. Bricolage verstehe ich als ein archivkonstitutives, werkkonstitutives, lebenslaufkonstitutives, letztlich erzähltechnisches Verfahren, das Entscheidensgründe generiert. Der Ausdruck veranschaulicht Kontingenz bewältigung in autobiografischen Entscheidensprozessen. Kontingent wahrgenommene Entscheidungen erscheinen retrospektiv erklärbar, die Kontingenz des Entscheidens wird autodiegetisch verhandelt und als Teil des eigenen erzählten Lebenslaufs akzeptiert. Archivalien, die einen vergangenen Entscheidensprozess dokumentieren, werden einem Privatarchiv entnommen oder für ein autobiografisches Projekt konzipiert und daran anschließend in ein rezeptionsorientiertes Kommunikationsgefüge integriert. Sonach werden faktuale und fiktionale Textpassagen zu konstitutiven Erzählbausteinen einer Autodiegese.172 Die ausgewählten Archivalien werden dabei zu konstitutiven Momenten eines Entscheidensprozesses, der innerhalb der Diegese zumeist dialogisch und polyperspektivisch ausgestaltet wird. Anhand ausgewählter, zitierter Archivalien wird eine entscheidungsförmige Schreibszene zu einem fortwirkenden Moment funktionalisiert. 170 Vgl. hierzu auch: Foucault, L’›a priori‹ historique et l’archive, S. 139; Chartier, Die Hand des Autors, S. 506 f. 171 Kastberger, Nachlassbewusstsein, Vorlass-Chaos und die Gesetze des Archivs, S. 410. Vgl. hierzu auch: Dallinger, Hofer und Judex, Archive für Literatur; Kopp-Oberstebrink, Das Literaturarchiv als Laboratorium der Kulturforschung, S. 135; Ajouri, Chronologische Werkausgaben im 19. Jahrhundert, S. 92. 172 Juliane Vogel legt dar, dass »Fakten […] Erzählkerne [liefern], die durch Literatur entfaltet und ausgeschrieben werden und dadurch der Erfindung oder den klassischen Stofftraditionen, die ehemals die Basis des Erzählens bildeten, den Rang streitig machen« (Vogel, Die Kürze des Faktums [2015a], S. 304).
113
iii . a na lysek at egor i en
Hilfreich ist, dass Neumann »Schreibszenen« als »Bauelemente im Prozess der Lebens-Architektur« bestimmt.173 Des Weiteren führt er aus: Die Schreibszene hat ihrem Wesen nach theatralen Charakter, sie ist eingebettet in die insgesamt theatrale Struktur der Kultur. Schreibszenen in der Literatur sind häufig Schreibtisch-Szenen: der Schreibtisch ›inszeniert‹ sich als Schreibtheater. […] Es ist kein Zweifel, Schreibszenen […] bieten Orientierung, sie entwickeln Ordnungskräfte.174 Ähnlich argumentiert Pelz, wenn sie darlegt, wie anhand autobiografischer Schreibtischszenen »eine Praxis« vorgestellt wird, »die in enger Beziehung zum Sammeln, Archivieren und Inventarisieren und damit am Ursprung des Museums und der privaten Sammlung steht«.175 Autobiografische Entscheidensprozesse belegen Neumanns und auch Pelz’ Beobachtungen, zugleich wird deutlich, dass sie ergänzt werden müssen. Autobiografinnen holen Schreibszenen primär anhand bislang un veröffentlichter Manuskripte in die Autodiegese. Dort kommt ihnen die Funktion zu, nachhaltige Archivierungspraktiken vorzustellen und deren werkpolitisches,176 kuratorisches Potenzial erfahrbar zu machen. Die bricolage erweist sich gleichermaßen als eine faktuale und fiktionale Tätigkeit: (1) Sie bewirkt innerhalb der Autodiegese einen merklichen raumzeitlichen Wechsel, ein ›dokumentarisches‹ Moment und (2) sie verweist auf einen realweltlichen, mitunter verfügbaren Archivbestand. Kurzum: Autobiografie und Archiv werden zu Bestandteilen eines vernetzten Werkkonzepts. Das Ziel ist erklärtermaßen einen faktualen sowie fiktionalen Nachlass zu etablieren respektive darzubieten und beide kurzzuschließen. Das narrative, soziale Potenzial einer getroffenen Entscheidung kann sich entfalten, sofern dem Lesepublikum Entscheidensprozesse als Rekonstruktionsleistung vor173 Neumann, Die Schreibszene, S. 25. 174 Ebd., S. 25, 28. Lubkoll und Öhlschläger schreiben zur ›Schreibszene‹: »Jede Schreibszene ist […] als eine komplexe mediale Konfiguration zu betrachten, an der Produzenten und Rezipienten in spezifischen Schreib- und Lektüresituationen beteiligt sind; die mediale Konfiguration betrifft aber auch das Verhältnis von Produkt und verwendetem Schreibgerät bzw. Material« (Lubkoll und Öhlschläger, Einleitung, S. 10). Krajewski betont, dass Schreibtische »die Schaltstellen und missachteten Zentren von Netzwerken [bilden]« (Krajewski, Denkmöbel, S. 196). Vgl. auch: Pelz, Der Schreibtisch. 175 Ebd., S. 234. 176 Für Christian Benne sind »konkrete materiale Objekte« und »Werkbewusstsein« konstitutiv für ein Nachlassbewusstsein. Insgesamt gerate durch diese beiden Faktoren die Prozessualität literarischer Produkte in den Blick (Benne, »kein Einfall sollte untergehen«, S. 217-219).
114
iii .2 › br icolage ‹
gestellt werden. Dies gelingt durch das bildhafte, synoptische Verfahren der bricolage. Indem ausgewählte Archivalien als passgenaue Erzählbausteine und ›wertvolle‹ Entscheidungsressourcen präsentiert werden, zeigt sich in autobiografischen Projekten, dass kontingente Entscheidungen rückwirkend rationalisiert, dramatisiert, emotionalisiert, zumindest erläutert werden können. Mithilfe aussagekräftiger Archivalien wird der prozessuale Charakter einer Entscheidung ersichtlich, sodass vergangene Entscheidungsmomente situativ vergegenwärtigt werden können. Die Archivierungspraktiken besitzen erklärtermaßen Merkmale einer Selbsthistorisierung. Aufschlussreich ist, dass Kai Sina das Konzept einer ›Selbsthistorisierung‹ von Stockinger resümiert und dabei als zentrale Elemente eine »angestrebte Selbstinterpretation«, den »[Einfluss auf] künftige Literaturgeschichtsschreibung« sowie die »Verquickung individueller und kollektiver Bedeutsamkeiten« festhält. Als zusätzliches Element fügt er die »fortdauernde[ ] Vergegenwärtigung« hinzu.177 Des Weiteren gehen, so Christiane Holm und Günter Oesterle, die Kulturpraktiken Andacht und Andenken stets mit einer ›Vergegenwärtigung‹ einher. Diese bewirke eine »Reflexion von Temporalisierung« und eine »räumliche Qualität von Präsenz«.178 All dies trifft auf die Manuskripte zu, die zitiert werden, um eine Entscheidung in ein retro- und prospektiv ausgerichtetes Erklärungs- oder Rechtfertigungsmuster zu überführen.179 Demnach besteht die erzähltechnische Möglichkeit, Verantwortungslasten zu verteilen oder zu konzentrieren. Insofern stellen autobiografische entscheidungsförmige Rekonstruktionsarbeiten eine hermeneutische Entlastungsheuristik und eine écriture testamentaire dar.180 Indem lebenslaufkonstitutive und textkonstitutive 177 Sina, Die vergangene Zukunft der Literatur, 62 f., 73. Sina legt in diesem Zu sammenhang dar, dass »das Konzept der Selbsthistorisierung stets auf einem sowohl konservierenden als auch dynamisierenden Prinzip [beruht]« (ebd., S. 63). Dabei bezieht er sich auf Claudia Stockingers Studie Das 19. Jahrhundert (vgl. Stockinger, Das 19. Jahrhundert, S. 255). Er argumentiert mit Lübbe, dass erst die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung eine »modernitätsspezifische Kontinuitäts erfahrung […] ermögliche[ ]« (Sina, Die vergangene Zukunft der Literatur, S. 62). Vgl. Moser, Erinnerung als Sammlung, S. 90. 178 Holm und Oesterle, Andacht und Andenken, S. 442 f. 179 Vgl. hierzu: Pfister, Einleitung, S. 25; Kremer, Autobiographie als Apologie. 180 Vgl. Favre, La Mort-Caution. Vgl. hierzu: Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv, S. 105 f. Vgl. hierzu auch: Kittner, Visuelle Autobiographien, S. 195, 250; Grésillon, Literarische Handschriften, S. 115-125; Plachta und van Vliet, Überlieferung, Philologie und Repräsentation, S. 21; Willer, Die Schreibszene des Nachlasses bei Goethe und Musil, S. 68; Kastberger, Nachlassbewusstsein, Vorlass-Chaos und die Gesetze des Archivs, S. 415.
115
iii . a na lysek at egor i en
Entscheidungen ausdrücklich nicht als kohärente Erzählung konzipiert werden, wird die soziale Komplexität, die Prozesshaftigkeit des Entscheidens und der retrospektive Zugriff darauf verhandelt. Autobiografische Projekte ermöglichen, erstmals selbstarchivarische Tätigkeiten darzubieten und die eigene autobiografische Figur explizit als professionellen »Papierarbeiter« zu modellieren.181 Die autobiografischen Praktiken bedingen maßgeblich, wie die Autorfigur ausgestattet wird. Weiterführend ist, dass, so Bodo Plachta, die jeweiligen Arbeitsweisen das spätere Erscheinungsbild edierter Texte bedingen.182 Diese Konstellation macht abermals auf die angelegte symbiotische Beziehung zwischen Leben und Werk aufmerksam. Die Textanalysen bestätigen Plachtas Befund.183 In den hier vorgestellten Autobiografien formieren wissenschaftliche Praktiken und Normen die Erzähltechnik und Autorinszenierung. Christian Moser und Jürgen Nelles erwähnen en passant in ihrer Einleitung Konstruierte Identitäten, dass Autobiografien und bricolage zusammenhängen, wenn sie ausführen, dass besonders in der gegenwärtigen »Alltagskultur […] [s]ubjektive Identität […] als das Produkt einer kreativen Tätigkeit angesehen« werde.184 Daran anschließend betonen beide, dass sobald Identität als bricolage verstanden werde, sich »ein Bewusstsein für den fiktionalen Charakter von Lebensläufen« zeige, der biografische sowie
181 Vgl. Bülow, Papierarbeiter. Almuth Grésillon und Bodo Plachta unterscheiden in ihren Untersuchungen zwischen »Kopfarbeiter« und »Papierarbeiter«: Plachta, Editionswissenschaft, S. 46-58; Grésillon, Literarische Handschriften, S. 131-137; Wirtz und Wieland, Paperworks. 182 Vgl. Plachta, Editionswissenschaft, S. 46. Allerdings ist bei dieser Unterscheidung zweierlei zu bedenken. Zunächst wird stets unklar bleiben, wie viel nachträglich respektive zusätzlich produziert wurde, um sich als Papierarbeiterin darzustellen. Ebenso wird nicht zu erforschen sein, wie viel vorsorglich kassiert wurde, um sich als Kopfarbeiter zu inszenieren. Wieland bemerkt zudem, dass »mit dieser terminologischen Scheidung nicht gesagt sein soll, dass der Papierarbeiter vollkommen kopflos und der Kopfarbeiter sans papier arbeitet« (Wieland, Paper works!, S. 19 f.). 183 Deutlich wird mit diesen Praktiken die etymologische Dimension des Ausdrucks ›Autobiografie‹: Das eigene Leben wird als selbstarchivarischer Akt aufgezeichnet (›αὐτός‹, ›βίος‹, ›γράφειν‹). 184 Moser und Nelles, Einleitung, S. 7. Die bricolage erwähnen beide, um zu exemplifizieren, dass im allgemeinen Alltagsverständnis keine kohärenten, stabilen Selbstbilder mehr existieren: »[M]an entwirft Selbstbilder, nach denen man seine Lebensführung einrichtet, um sie nach einiger Zeit gegen andere auszutauschen; oder man kombiniert gar gleichzeitig verschiedene kulturelle Identitätsmuster, um sich – nach Art eines bricolage – ein hybrides patchwork-Selbst zu verfertigen. Das Selbst erscheint unter diesen Umständen nicht als natürliche Gegebenheit, sondern als ein künstliches Konstrukt« (ebd.).
116
iii .2 › br icolage ‹
autobiografische Darstellungsformen auszeichne.185 In ihrer Einleitung führen sie die Funktion oder die Merkmalsstruktur einer bricolage nicht aus. Ein methodisches Konzept, das herangezogen werden könnte, um autobiografische Projekte zu analysieren, fehlt noch.186 Die mediale und materiale Dimension autobiografischer Entscheidensprozesse tritt anhand ausgestellter Archivalien zutage. Hilfreich ist hier Alma-Elisa Kittners Ausdruck »Visuelle Autobiographien«, den sie in ihrer Studie zu den Konzeptkünstlerinnen Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager entwickelt. Mit diesem kann einmal mehr darauf aufmerksam gemacht werden, dass Lejeune eine verkürzte Auto biografiedefinition vorlegt, die es nicht erlaubt, die vorhandene Vielfalt autobiografischer Artefakte angemessen zu erfassen. In ihrer Studie stellt Kittner vor, wie Sammlung, Autobiografie und Museum zusammen hängen, letztlich in Form einer autobiografischen, selbstkuratorischen, retro spektiven Collage präsentiert werden.187 Ausgestellte Archivalien evozieren ein szenisches Moment innerhalb der Autodiegese. Cornelia Blasberg argumentiert dafür, dass zitierte Archivalien »den Text zur Bühne [machen], auf dem das Identitätsprojekt als modernes Drama aufgeführt wird«. Zugleich stehe dieses »zeigende[ ] [Verfahren]« für eine »überlegte[ ] Choreografie«.188 Der Mehrwert, den Formwechsel bei autobiografischen Entscheidensprozessen nicht als intertextuelles Verfahren, sondern als bricolage zu beschreiben, liegt zunächst darin, dass bricolage ein Sammelbegriff ist, der vielgestaltige Praktiken benennt. Diese besitzen wiederum besonders für autobiografische Projekte einen zentralen Stellenwert. Zwischen Form zitat und Bildcollage liegen zahlreiche Formvariation einer autobiografischen bricolage. Exemplarisch zeigt sich dies an Hannah Höchs Lebensbild, das als Eine collagierte Autobiographie demonstriert, dass jedwede autobiografischen Formen archivarische, kuratorische sowie editorische Praktiken ausstellen und das Ergebnis einer bricolage sind. Die archivarischen, kuratorischen, editorischen Praktiken und punktuelle Erstpublikationen, die Höchs Lebensbild auszeichnen, hält Alma-Elisa Kittner in ihrer Einleitung fest: Das geradezu monumentale Erinnerungsbild ist in jeder Hinsicht eine Ausnahme in ihrem Werk. Inhalt, Größe und Materialien sind einzig185 186 187 188
Ebd., S. 7 f. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. Kittner, Visuelle Autobiographien, S. 12. Blasberg, Biografie als Projekt, S. 63, 72.
117
iii . a na lysek at egor i en
a rtig: Ihre Person steht im Zentrum der visuellen Autobiographie, es ist ihre größte Collage (130 × 150 cm), und nur hier benutzt die Künstlerin ausschließlich Originalfotografien. Doch nicht nur ihr Leben, auch ihr Werk resümiert die Grande Dame der Collage in einem Querschnitt von über 20 Arbeiten. Sie lässt sie abfotografieren, zitiert sie ausschnittweise und gibt ihnen durch Montage und Neukontextualisierung andere Bedeutungen: das Lebensbild ist eine Collagen-Collage. […] Zum einzigen Mal benutzt die Künstlerin Fotografien aus ihrem Privatarchiv: bereits vorhandene Bilder von Freunden, Partnern und der Familie sowie neue Bilder von ihrem Haus und Garten, die ebenfalls von den Orgel-Köhnes stammen und unter Höchs Regie entstehen. Nur wenige – wie etwa die von ihrem Ehemann Kurt Heinz Matthies – montiert sie als nicht-reproduzierte Originale ins Bild. […] Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis von Dokument und Montage, von Sachlichkeit und ironischer Selbst distanz. […] Die Fotocollage zielt auf eine Gesamtskizze ihres Lebens aus der Retrospektive – ein genuin autobiografisches Anliegen, jedoch mit bildlichen Mitteln. […] Nicht selten wird das Autobiografische mit dem Prinzip der archivalischen Collage verknüpft. […] Sie inszeniert sich in dieser groß angelegten Collage als Autorin und Künstlerin, wenn sie etwa auch den Entstehungsprozess der Collage im Bild durch die Darstellung von ›Künstler-Modell-Szenen‹ mit den Orgel-Köhnens offensiv vorführt. Gleichzeitig reflektiert sie die Krisenhaftigkeit des Autor begriffs in der Konstruktion eines facettierten Ichs. Sie stellt sich als Sammlerin, Collagistin und Monteurin, aber auch in ihrer Rollenvielfalt als Tochter, Ehefrau oder Geliebte dar. Statt ein stabiles Selbst zu konstituieren, führt sie Identitätskonstruktionen vor und kehrt dabei immer wieder statt zu ihrer Lebensgeschichte zu ihrem Werk zurück.189 Die aufgezählten Aspekte erinnern merklich an die hier vorgestellten autobiografischen Archivierungspraktiken, die wiederum innerhalb der Autodiegese explizit anhand erzählter Entscheidensprozesse demonstriert werden.190 Mithin geht Archivierung nicht in Textdokumenten auf, denn auch für visuelle Autobiografien wird auf Privatarchive zurückgegriffen. Dabei stehen besonders lebenslaufkonstitutive Entscheidungen mit text-, werk-
189 Kittner, Das Lebensbild von Hannah Höch, S. 1-3 (Hervorhebungen durch S. N.). Vgl. auch: Höch, Das Lebensbild 1972/73. 190 Zumal im Zentrum des Bildes Hannah Höch als die Künstlerfigur steht. Gerade von der zentrierten Künstlerfigur gehen die einzelnen fotografischen Lebens momente respektive Teilhandlungen aus.
118
iii .2 › br icolage ‹
und archivkonstitutiven Entscheidungen in einer produktiven Wechsel beziehung. Wie lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidensprozesse korrelieren, zeigt sich exemplarisch in Klaus Manns Autobiografie Der Wendepunkt, im vorletzten Kapitel, das den Titel Entscheidung trägt und die Arbeit an einem Nachruf auf Stefan Zweig, die Arbeit an seiner eigenen Autobiografie, seine Entscheidung, in die amerikanische Armee einzutreten und seinen »Todeswunsch« thematisiert.191 Just in diesem Kapitel erwähnt Mann nahezu beiläufig Zweigs Briefe, die in seinem Besitz sind. Briefe, die umso wertvoller sind, nachdem Vertreibung, Flucht und Exil eine systematische Archivierung erschweren, gar unmöglich machen.192 Er knüpft bemerkenswerterweise den Umgang mit Zweigs Briefen an autobiografische, werkkonstitutive und nachlassbewusste Praktiken, versucht anhand der Briefe den Entscheidensprozess zum Suizid zu rekonstruieren und zu verstehen: Ich lese seine Briefe aus den letzten Jahren wieder durch. Hier dankt er für ein Buch, dort übt er Kritik, gibt Ratschläge, verspricht einen Artikel, erzählt von einer Reise, einem Theaterabend. Sonst nichts? Doch, manchmal gibt es wohl ein Wort der bitteren Ironie oder Müdigkeit, gedämpfte Seufzer und diskrete Klagen. Mir fiel nichts auf. Ich verstand ihn nicht. Ich hielt ihn für den genäschig-weltoffenen Literaten, dem nichts nahegeht. Und er war ein Verzweifelter! […] 15. März. Den Nachruf auf Stefan Zweig für ›Free World‹ abgeschlossen. Nun wieder zum ›Turning Point‹. […] Der Todeswunsch. Ich wünsche mir den Tod. Der Tod wäre mir sehr erwünscht. Ich möchte gerne sterben. Das Leben ist mir unangenehm. Ich mag nicht mehr leben. Es wäre mir äußerst lieb, nicht mehr leben zu müssen. Der Tod wäre mir entschieden angenehm. Ich wünsche mir den Tod.193 Augenscheinlich arbeitet er an seinem (autobiografischen) Nachlass und dokumentiert zugleich seinen Todeswunsch. Die Autobiografie hat auch hier offenkundig eine testamentarische sowie archivarische Funktion. Wie in allen hier vorgestellten Fallbeispielen steht das autobiografische Projekt im Zeichen des Todes und Todesbewusstseins. Gerade diese Konstellation ist konstitutiv für den Anspruch, eine nachweltfähige Autorfigur mitsamt
191 Mann, Der Wendepunkt, S. 486. 192 Vgl. hierzu exemplarisch: Mehring, Die verlorene Bibliothek. 193 Mann, Der Wendepunkt, S. 495-496, 502.
119
iii . a na lysek at egor i en
archivwürdigem Werk und Nachlass zu entwerfen. Davide Giuriatio, Martin Stingelin und Sandro Zanetti argumentieren dafür, dass [autobiographische Projekte] [a]ls ›klassische‹ Formen der Selbst lektüre […] gelten [können], in denen der Entwurf eines personalen ›Selbst‹ mit der Produktion und Relektüre der Schriften zusammenfällt, in denen dieses ›Selbst‹ eine Geschichte erhalten (haben) soll.194 Im genannten Kapitel Entscheidung findet sich passgenau hierzu eine Passage, die seinem Zeitschriftenprojekt Decision gewidmet ist.195 Das erste Heft erschien 1941, nach dem genannten Doppelheft musste die Zeitschrift frühzeitig eingestellt werden. Daran anschließend befasst sich Mann explizit mit seiner Entscheidung, in die Armee einzutreten, mit Zweigs Abschiedsbrief, seinem Nekrolog auf Zweig, seinem eigenen Privatarchiv und seinem autobiografischen Projekt Turning Point, dem englischen Vorläufer des Wendepunkts. Während gemäß Franzen in Schlüsselromanen versucht wird, »die Gefahr der Referenzialisierbarkeit zu verringern«,196 zeigen die hier vorliegenden Textanalysen, dass in Autobiografien ebendieses Potenzial genutzt wird, um den zukünftigen Nachlass als Forschungsgegenstand zu etablieren. Wie bereits dargelegt wurde, kultivieren und dokumentieren Schrift steller während des 19. Jahrhunderts kontinuierlich Archivierungs- und Kassationstätigkeiten, die auf ein sich ausprägendes Nachlassbewusstsein zurückgehen. Erklären lässt sich dies mit Anke te Heesens Beobachtung, dass im 19. Jahrhundert der Menschheitsforschung erstmalig eine exorbitante Aufmerksamkeit zugedacht werde: Seine materielle Entsprechung fand dieser Prozeß in der Anlage von spezialisierten Sammlungen, die den Menschen in Form von Zahlen, Abbildungen, Abgüssen, Modellen und Präparaten festhielten: das Archiv des Menschen. Doch mit der Beobachtung des Menschen und seiner Geschichte als einem geeigneten Forschungsgegenstand setzte auch die Selbstbeobachtung und Sensibilität gegenüber dem eigenen Tun ein. […]
194 Dabei gehen sie nicht auf konkrete Teilhandlungen ein, die ein autobiografisches Projekt konstituieren sollen. Giuriato, Stingelin und Zanetti, Einleitung, S. 13. 195 Mann vermerkt hierzu: »31. Januar. Man versichert mir allgemein, das soeben erschienene Doppelheft von ›Decision‹ (die Januar-Februar-Nummer) sei das beste von allen. Schade, daß es auch das letzte ist. Es geht nicht weiter. Schluß!« (Mann, Der Wendepunkt, S. 494). 196 Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 311.
120
iii .2 › br icolage ‹
[W]ie in keinem anderen Jahrhundert zuvor wurde der Mensch nun gespeichert und dingfest gemacht.197 Te Heesen nennt vier zentrale Aspekte, die mit der Konjunktur autobiografischer Archivierungspraktiken einhergehen, dabei erwägt sie die Autobiografie als archivarische sowie museale Form noch nicht: »Archiv des Menschen«, der »Mensch und seine[ ] Geschichte als Forschungsgegenstand«, »Verwahrung von Relikten des eigenen Handelns und der eigenen Geschichte« und »Selbstbeobachtung«. Daran anschließend lässt sich für den hier skizzierten Kontext festhalten: Während aussagekräftige Archivalien erstmalig innerhalb eines autobiografischen Textes publiziert werden, wird das selbstbeobachtete, selbst archivierte und selbstkuratierte Leben zu einem profunden Forschungsgegenstand, die inszenierte Archivwürdigkeit des eigenen Lebens erhebt aussagekräftige Archivalien zu exklusiven Wertpapieren.198 Dazu tragen Kassationserzählungen maßgeblich bei. Dies gilt besonders, sobald Autobiografinnen sich als bewusste Nachlassentscheiderinnen darbieten, sodass die geschaffene Autorfigur als konservatorische wie kassationsfreudige Papierarbeiterin und Pyrotechnikerin auftritt. Christian Benne zufolge wird »[d]er problematische Status der Handschrift in der Literaturwissenschaft – aber auch ihre Aura – […] dadurch befeuert, dass sie gewöhnlich den Blicken entzogen ist. Man muss sie an den Orten, wo sie verborgen ist, in Archiven oder Privatbibliotheken, aufsuchen«.199 Umso bemerkenswerter erscheint es, dass Autobiografien bereits exklusive Einblicke in Privatarchive offerieren. Die Textanalysen zeigen, dass eine bricolage nicht ausschließlich die Funktion besitzt, den ›fiktionalen Charakter‹ einer Biografie oder Autobiografie zu markieren, sondern oftmals genutzt wird, um den fakto- wie fiktografischen Gehalt markant hervorzuheben oder zu chiffrieren. (1) In
197 Heesen, Das Archiv, S. 115. 198 Walter Muschg legt in seiner Tragischen Literaturgeschichte dar, wie Manuskripte in Kriegszeiten erstmalig zu Wertpapieren werden: »Im zwanzigsten Jahrhundert fielen noch einmal ungezählte, in Museen und Kirchen gehütete Meisterwerke den Kriegszerstörungen zum Opfer, während gleichzeitig im bombardierten Deutschland ein von der Hand Goethes oder Hölderlins beschriebenes Blatt zeitweise als einzig sicheres Wertpapier galt. Dieser Börsenwert des Dichters war etwas Neues, die Vernichtung der Kunstwerke ist so alt wie die Kunst selbst« (Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 608). Benne spricht insgesamt von einer »im Nachlass angelegten Potentialität« (Benne, »kein Einfall sollte untergehen«, S. 246). 199 Benne, Die Erfindung des Manuskripts, S. 31.
121
iii . a na lysek at egor i en
jedem Fall motiviert die Erzähltechnik einer bricolage eine Synopse.200 (2) Sie verbindet die Autobiografie mit privaten und institutionellen Archiven. (3) Die Autobiografie fungiert gerade in zentralen Passagen als publiziertes Findbuch, (4) das einer dominanten Tendenz entgegenwirkt: »Wer liest, sieht nicht«.201 Mit dieser Quintessenz macht Sandra Potsch darauf aufmerksam, dass das Originalmanuskript als zentrales »Erkenntnismaterial« hinter dem gedruckten Text verschwindet.202 Sie referiert ferner, wie »Originale […] als Zeugnisse betrachtet [werden], in denen der Moment der Entstehung eines Werkes konserviert ist«, und dass bestenfalls »mit dem sehenden Blick auf die Originale« der jeweilige Text »aus einer neuen Perspektive gelesen werden kann«.203 Des Weiteren legt Gottfried Boehm zu ›Originalen‹ dar, dass es »[z]u ihrer Auszeichnung gehört […], bestimmten historischen Momenten (oft aus dem Kontext oder Untergrund ihrer Entstehung) Gesicht oder Gestalt zu geben«. ›Originale‹ definiert er als »stehende[n] Augenblick, der durch die Geschichte hindurch Stand hält«.204 Durchweg wird in den Fallbeispielen das Entscheidungsmoment als eine »haptisch nachprüfbare Erinnerung ausgezeichnet«.205 Auto biografien offerieren somit das, was Benne einen »genetischen Pakt nenn[t]«: Dieser fordere ein close reading ein, sodass der »Leser umerzogen werde[ ], am besten durch textuelle Herausforderungen, die ihn mit der Nase darauf stoßen, dass die literarische Oberfläche Resultat eines langwierigen Prozesses ist«.206 Entscheidensprozesse werden dezidiert als epistemologisches Handwerk dargestellt. Die Textanalysen der ausgewählten Autobiografien belegen, dass sich Schriftsteller des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht allein als Künstler geben, sondern als Literaturwissenschaftler, die ihr analytisches, archivarisches Geschick demonstrieren, sodass sich Tendenzen einer sukzessiven Professionalisierung abzeichnen. Der Entwurf eines poeta philologus schließt die Kenntnisse erzähltechnischer, medienbewusster und kreati200 Gemäß Grésillon »konfrontieren uns [literarische Handschriften] […] häufig mit dem Bild der unendlich sich verzweigenden Pfade, die Netze und Verkettungen schaffen und alle Möglichkeiten, alle Virtualitäten in sich enthalten« (Grésillon, Literarische Handschriften, S. 21). Diese Dimensionen und die Formenvielfalt treten mithilfe einer bricolage deutlich hervor. 201 Potsch, Literaturvermittlung an den Resten der Literatur, S. 164. 202 Ebd., S. 165. 203 Ebd., S. 165, 180. 204 Boehm, Augenblicksgötter, S. 21. 205 Holm und Oesterle, Andacht und Andenken, S. 437. 206 Benne, »kein Einfall sollte untergehen«, S. 231. Vgl. hierzu auch: Grésillon, Literarische Handschriften, S. 131.
122
iii .2 › br icolage ‹
ver Gestaltungsverfahren mit ein, die durch eine bricolage anschaulich werden. Die Autorfigur ist gleichermaßen nachlassbewusster, medien bewusster ingenieur und kreativer, versierter bricoleur der eigenen Lebensgeschichte. Möbius zeigt in seiner Kulturgeschichte der Montage und Collage deutlich, dass die literarische Montage primär eine explizit kon trastierende Verfremdungstechnik sei. Die eingesetzten »Fremdmaterialien« würden fragmentiert, ihre Provenienz bewusst nicht ausgestellt.207 Die Materialität ist für Möbius zugleich das distinkte Merkmal, das Collage und Montage von Intertextualität primär unterscheidet.208 Demgegenüber hantieren die Autobiografinnen in den hier vorgestellten Fallbeispielen mit Materialien, deren Provenienz sie dem zukünftigen Publikum geradezu feilbieten. Dennoch stellen literarische Entscheidensprozesse eine frühe Form der Montage dar, denn eingefügte Brief-, Tagebuch- und fiktionale oder faktuale Textpassagen besitzen stets einen fragmentarischen, netzwerkbildenden und ›dokumentarischen‹ Charakter. Für eine erste Begriffsbestimmung übersetzt Möbius Fremdmaterial mit dem »vertrauten Terminus […] Dokument[ ]«.209 Sobald der Erzähltext mit Manuskripten angereichert wird, werden laut Möbius beabsichtigte Lücken erzeugt und »oftmals durch die Druckanordnung […] verstärkt«. Das Lesepublikum werde dadurch dazu aufgefordert, »den Sinn zwischen den beiden Anschlußstellen zu erschließen«.210 Kurzum: Den »Lesern [wachsen] neue Aufgaben zu«, »die Rezeption wird aufgewertet«.211 Ebenso operieren Autobiografen: Sobald sie Archivalien zitieren, wird die formale, mediale, gattungsbedingte Zäsur zugleich typografisch markiert. Die referentielle, exakte Angabe des zukünftigen Fundortes bereitet prophylaktisch eine synoptische Lektürepraxis vor, die eine Archivpraxis ist und die Prozessualität des autobiografischen Projekts als ästhetisches Verfahren ausstellt. Ohne zu klären, welche Aufgaben konkret auf das Lesepublikum zukommen, emergiert daraus für Möbius unmittelbar die Frage, »ob es ein unbezweifelbar authentisches Dokument in der Literatur überhaupt geben kann«.212 Der Authentizitätseffekt, der Brief- und Tagebuchpassagen zukommt, wird in autobiografischen Texten genutzt, ohne dabei auf das ästhetische, poetische Potenzial eines faktualen und fiktiona207 208 209 210 211
Möbius, Montage und Collage, S. 39. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd. Diese Beobachtungen erinnern abermals an Bennes Konzept zu textgenetischen Pakten (Benne, »kein Einfall sollte untergehen«, S. 231). 212 Möbius, Montage und Collage, S. 40.
123
iii . a na lysek at egor i en
len Wechselspiels zu verzichten. Dieses setzt sich fort, wenn die verwendeten Materialien für das autobiografische Projekt synoptisch arrangiert werden. Laut Feitscher steht Peter Härtlings Erzählung Zwettl: Nachprüfung einer Erinnerung für eine »Zäsur in der autobiografischen Gattungstradition, indem sie die historischen Quellen, auf die der Autor zurückgreift, nicht länger aus dem Text ausschließt, sondern zu dessen integralem Bestandteil erhebt«.213 Angesichts der hier vorgestellten Ergebnisse wird ersichtlich, dass Archivalien, ›historische Quellen‹ und auch »[i]solierte Erinnerungsfragmente« bereits lange Zeit zuvor ›integraler Bestandteil‹ der Autobiografien waren,214 die bricolage ein zentrales Merkmal ›der autobiografischen Gattungstradition‹ ist. Möbius ist zu widersprechen, wenn er Collage und Montage als literarische Techniken des 20. Jahrhunderts etabliert.215 Die Autobiografie bietet weit vor dem 20. Jahrhundert die Möglichkeit Collage- und Monatgetechniken, wie die bricolage, für eine Inszenierung anzuwenden.
213 Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 283. 214 Niggl, Zur Theorie der Autobiographie, S. 47. Bereits Niggl stellt einem traditionellen Autobiografiekonzept ein modernes entgegen, ebendiese Trennung wird trotz erwähnter Verbindungslinien und Mischformen beibehalten. 215 Vgl. Möbius, Montage und Collage, S. 45, 124. Vgl. auch: Hage, Collagen in der deutschen Literatur, S. 69-73.
124
zweiter teil Literarische Analysen
Mit den folgenden Analysen wird augenscheinlich, dass exklusive Entscheidensprozesse dazu dienen, der eigens geschaffenen Autorfigur ein charakteristisches ›Markenzeichen‹ beizugeben. Fanny Lewald-Stahr stilisiert sich zur krisenrobusten, paradigmatischen Entscheiderin, Paul Heyse korrigiert die ›glücklichen Fügungen‹ respektive den steilen Karriereweg, sodass auch seine Autorfigur fortan als krisenerprobter Entscheider gelten darf. Anders verfährt Arthur Schnitzler, indem er die ›Krise‹ zum charakteristischen Kriterium erhebt und das dilemmatische Doppelleben als modernen Lebenslauf konturiert. Ein Erzählschema, das wiederum Biografen und Literaturwissenschaftlerinnen später gerne anekdotisch, bisweilen auch systematisch aufnehmen, um es weiterzutragen. Krisenerzählungen sind eine topische und besonders wirkungsvolle Nachlassstrategie. Allen Autobiografien ist gemeinsam, dass bislang weder die Funktion zitierter Archivalien noch die lebenslauf- und werkkonstitutiver Entscheidensprozesse in den Blick genommen wurden. Dies mag erstaunen, da Heyse für die Entscheidungserzählung ›letzter Hand‹ sogar eine neue Ausgabe konzipiert. Die Entscheidung einen monetär prekären Beruf zu ergreifen, gestalten Lewald-Stahr, Heyse und auch Schnitzler zum Distinktionsmerkmal. Die erfolgreich durchlebte Krise wird retrospektiv zum Fundament für den zukünftigen Erfolg. Prophylaktisch werden für einen postumen Erfolg erkennbar Autobiografie und Archiv mittels zitierter Archivalien vernetzt. Das jeweilig zitierte Archivale ist in der Autodiegese eingebettet in Erzählerkommentare, sodass die Autobiografien gewissermaßen als archivalisches Findbuch konzipiert sind. Diese ›werktätigen‹ Erzählerinnenkommentare sollten dem Lesepublikum nicht vorenthalten werden, sodass diese nicht getilgt wurden. Hierin ist mitunter die Entscheidung begründet, die zitierten Passagen nicht zu verknappen. Gewährleistet werden soll, dass semantische Isotopien nicht durch überblicksartige Zusammenfassungen ›verschwinden‹.
127
IV. Fanny Lewald-Stahrs
Meine Lebensgeschichte und Römisches Tagebuch IV. Fanny Lewald-Stahr
IV.1 Berufene Entscheiderin Entscheidenskompetenz als Alleinstellungsmerkmal Über die vier Bände ihrer Lebensgeschichte hinweg stilisiert sich die Autobiografin Fanny Lewald-Stahr nicht als eine ausschließlich berufene Schrift stellerin,1 denn als solche käme keinesfalls ihre autodidaktische Entscheidungskraft zur nachweltfähigen Geltung.2 Vielmehr bietet sie ihrem anvisierten, prospektiven Lesepublikum dezidiert eine selbstbestimmte und zudem selbstberufene Autorfigur, deren Entscheidungsfähigkeit sie dem etwaigen Lesepublikum paradigmatisch darbietet. Während im ersten Band 1 In den beiden Jahren 1861 und 1862 wurden die drei Bände der Lebensgeschichte – unterteilt in Abteilungen – veröffentlicht, 1871 folgte im Zuge der Gesamtausgabe ebenfalls bei Otto Janke die zweite Auflage. 1897 erschien Neues Leben. Neues Lieben respektive Das Buch Adolf beziehungsweise Lebenserinnerungen zunächst auszugsweise in Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart, 1927 folgte eine ebenfalls gekürzte Ausgabe unter dem Titel Römisches Tagebuch und der vierte Band des autobiografischen Projekts (Lewald, Römisches Tagebuch 1845/46; Lewald, Lebenserinnerungen 1; Lewald, Lebens erinnerungen 2; Lewald, Lebenserinnerungen 3). Zur besseren Übersicht zähle ich in der Analyse ausschließlich die Bandzahlen und nicht die einzelnen Abteilungen. 2 Bezeichnet werden kann diese Darstellungweise als ›Posteritätspräzeption‹. Sina und Spoerhase referieren mit diesem Ausdruck auf Lübbes Konzepte der ›Präzeption‹ und ›Selbsthistorisierung‹. Beide erläutern hierzu: »Der Nachlass ist, kulturhistorisch gesehen, ein zentraler Ort einer in sich selbst spannungsgeladenen Posteritätspräzeption: Einerseits ist der Nachlass für den Nachlasser der Ort einer Ohnmacht, eines vollständigen Steuerungsverlusts, andererseits ist er der Ort von Versuchen, das eigene Nachleben zu verwalten. Einerseits ist der Nachlass verbunden mit starken ›Tendenzen der Selbsthistorisierung‹, da sich der Nachlasser als einen möglichen historischen Gegenstand späterer Nachforschungen versteht, andererseits zeugen die antizipatorischen Vorgriffe auf das eigene Nachleben gerade von der unhistorischen Vorstellung, die Kultur einer fernen Zukunft sei derjenigen der Gegenwart mindestens so ähnlich, dass ihre Erkenntnisinteressen und -verfahren antizipierbar seien« (Sina und Spoerhase, Nachlassbewusstsein, S. 623; vgl. hierzu: Lübbe, Im Zug der Zeit, S. 191-211, 290).
129
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
der Lebensgeschichte sowie im Römischen Tagebuch der thematische Schwerpunkt auf der Eheentscheidung ruht, verlagert sich dieser im zweiten und dritten Band auf die Berufsentscheidung. Dennoch sind für das autobiografische Gesamtprojekt beide Entscheidensbereiche untrennbar miteinander verwoben. Demzufolge handelt es sich in der vorliegenden Studie um eine heuristische, systematische Trennung, die ermöglichen soll, die unterschiedlichen Entscheidungsressourcen vorzustellen und zu analysieren, die innerhalb der Autodiegese für Ehe-, Berufs- und Werkentscheidung konsultiert werden. In Lewald-Stahrs Autobiografie ist – anders als später bei Heyse – bereits in den ersten Ausgaben die Entscheidensthematik omnipräsent, demnach wird die Autorfigur ungebrochen über die Bände hinweg als krisenerprobte, geradezu berufene Entscheiderin vorgestellt,3 zumal sie einen als alternativlos inszenierten, unverzweigten Lebensweg für Frauen neu anlegt und potenzielle Scheidewege für diese exemplarisch kartografiert. Die im Jahr 1871 »[n]eue, von d[er] Verf[asserin] veranstaltete, rev[idierte] Ausg[abe]« ihrer Lebensgeschichte und ihr Römisches Tagebuch stellen dennoch, aufgrund der Vorworte und Widmungen, für das autobiografische Gesamtprojekt entscheidende Ergänzungen dar. Diese markieren zudem gegenüber den vorherigen Ausgaben einmal mehr die Thematik der selbstbewussten Ehe(ent)scheidung, die explizit als emanzipatorisches Gut und als berufs- sowie werkkonstitutives Moment ausgewiesen wird. Ulrike Helmer, die sich für die kritische Neuauflage der Lebensgeschichte primär an der Erstauflage orientiert, betont demgegenüber, dass LewaldStahr in der Ausgabe für 1871 hauptsächlich zuvor abgekürzte Namen nun vollständig nenne und einige kritische Aussagen, besonders diejenigen über ihre Mutter, offensiver formuliere.4 Aussagekräftig ist in diesem editorischen Zusammenhang, dass Helmer entschieden darauf verzichtet, das mit zahlreichen Goethezitaten ausgestattete Vorwort der ersten Ausgabe und das an Adolf Stahr adressierte Vorwort mitsamt einer ihrem Vater zuge3 Heyses Autorfigur tritt erst in der fünften Auflage als Entscheider auf das autobiografische Tableau. Im dritten Band ihrer Lebensgeschichte ironisiert die Erzählerin die Schmerzenstopik, ohne die eine erfolgreiche Autorenbiografie nicht auskomme, derweil sie selbst auf diese topische Beigabe nicht verzichtet (vgl. MLGIII, 248). Nachruhmversprechend und verkaufsfördernd erweisen sich Krisenerzählungen respektive erzählte Entscheidungskrisen, die einen Wendepunkt innerhalb eines offenen Entscheidensprozesses bedeuten, denn – so vermerkt die Autobiografin: »In dem Leben jedes Menschen wie in der Weltgeschichte, dem Leben aller Menschen, sind es immer einzelne Momente, an welchen sich die lange und allmählich vor bereiteten Veränderungen zur Entscheidung bringen« und diese Momente seien kontingent und unberechenbar (MLGII, 101, vgl. auch: MLGII, 142). 4 Vgl. Helmer, Nachwort, S. 287.
130
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
dachten Widmung der zweiten Auflage in ihrer Edition mitabzudrucken, obschon sie die Erstausgabe von 1861 und 1862 bevorzugt. Nebstdem begründet die Herausgeberin ihre Editionsentscheidung damit, dass »an der späteren Überarbeitung Fanny Lewald-Stahrs Ehemann Adolf Stahr beteiligt war«.5 Diese Editionsentscheidungen dokumentieren eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber den Männerfiguren, denen Lewald-Stahr eine ausgewählte Präsenz in ihrem autobiografischen Projekt zugesteht und die vielfach als eine fortdauernde patriarchalische Befangenheit gedeutet wurde, obschon Lewald-Stahr nicht nur für Fontane, Heyse und Lepel als entscheidende, vorbildhafte Netzwerkerin gegolten habe, die gemäß Jana Kittelmann selbstbewusst und versiert ihre eigenen Schriften zu vermarkten wusste.6 Besonders die außerordentliche Präsenz der Vaterfigur und das innige Verhältnis zu dieser, das die Erzählerin fortwährend über die Bände hinweg betont, wurde in der Forschung als Ausdruck eines ungebrochenen, unreflektierten, nämlich internalisierten patriarchalen Gesellschaftsmodells gedeutet.7 Zunächst verdeutlichen diese, zumeist polemischen, Wertungen 5 Ebd. Gudrun Marci-Boehncke widmet der Editionslage ein gesondertes Kapitel in ihrer Studie zu Lewald-Stahrs Autobiografie. In diesem problematisiert sie BrinkerGablers gekürzte Ausgabe, während sie demgegenüber Helmers Neuauflage be fürwortet. Erstaunlich ist, dass Marci-Boehncke die in dieser Neuauflage marginalisierten Widmungen und Vorworte erst in ihrer Textanalyse erwähnt und einen Ausgabenvergleich weiterhin unberücksichtigt lässt (vgl. Marci-Boehncke, Fanny Lewald, S. 118 f., 128). Zwar geht jüngst Constantin Sonkwé Tayim auf das Vorwort zur zweiten Auflage ein, versäumt es aber, mit einem genauen Ausgabenvergleich die Funktion des Paratextes zu ermitteln, auch wenn er in einer Fußnote kurz darauf hinweist, dass dieses Vorwort lediglich in der zweiten Auflage von 1871 zu finden sei (Sonkwé Tayim, Narrative der Emanzipation, S. 125, 139, 140). 6 Vgl. Kittelmann, Von der Reisenotiz zum Buch, S. 172-175, 177. Vgl. auch: Sternagel, Fanny Lewald und ihre jungen Männer; Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 27; Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 55; Ward, »Ich bin jetzt Ihr treues Tagebuch«, S. 131. Deutlich wird ihr Einfluss auch etwa, wenn Schneider darlegt, dass Lewald Stahr bei Alexander von Humboldt ein »Empfehlungsschreiben für die englische Gesellschaft [besorgte]« (Schneider, »Es ist mir eine Arbeit, nach London zu gehen«, S. 165). 7 Vgl. exemplarisch: Venske, »Disciplinierung des unregelmäßig spekulierenden Verstandes«, S. 66, 68; Calabrese, »Wie gerne möchte ich einen neuen Ausdruck dazu erschaffen«, S. 136; Venske, Discipline and Daydreaming in the Works of a Nineteenth-Century Woman Author, S. 175, 181; Lewis, Introduction, S. 14; Tromsdorf, Fanny Lewald. Auffallend ist zudem, dass Lewald-Stahrs neuaufgelegte Werke unter ihrem ›Mädchennamen‹ publiziert werden, obschon ihre Ehe mit Adolf Stahr eine zentrale lebenslauf- und werkkonstitutive sowie emanzipierte Entscheidung darstellt und sie all ihre Dokumente mit dem Doppelnamen Lewald-Stahr, der diese Entscheidung repräsentiert, unterzeichnet. Brinker-Gablers Bemerkung, dass L ewald-Stahr
131
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
zwei interpretatorische Probleme beziehungsweise Kurzschlüsse, denn (1) indem die konkrete Autorin Fanny Lewald-Stahr an ihren autodiegetischen und auch diegetischen Emanzipationshaltungen und -verfahren gemessen wird, werden unterschiedliche Aussagekontexte und -modalitäten vermengt. Dies hat zur Folge, dass fiktionale nicht von faktualen Aus sagen, die Autobiografien nicht von den Romanen und politischen Tendenzschriften getrennt, ebenso wenig Figurenperspektive und Erzählerinnenperspektive unterschieden werden und letztlich auch nicht zwischen konkreter und abstrakter Autorin differenziert wird.8 (2) Da die Auto biografin den Vater als entscheidenskonstitutive Vergleichs- sowie Iden tifikationsfigur und Goethe als »Charaktant« für ihre autobiografische Figur bestimmt,9 wählt sie topische sowie kanonische Charakteranalogien »unter Beibehaltung ihres Namens [heiratete]«, lässt außer Acht, dass sie dezidiert einen Doppelnamen führte (Brinker-Gabler, Einleitung, S. 21). Vgl. hierzu exemplarisch: MLGII, 193. Zumal ein formulierter Ehe- und Kinderwunsch (vgl. RT, 24, 79) eine aufgeklärte Emanzipationshaltung nicht ausschließt. Auch Schneider hält fest, dass Lewald-Stahr auf dem Doppelnamen bestanden habe: »Stolz auf die erreichte bürgerliche Existenz führt Fanny Lewald nun offiziell den Doppelnamen und Titel der Frau Professor Lewald-Stahr« (Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 53). Hinzu kommt, dass gegen Lewald-Stahrs patriarchale Befangenheit spricht, dass sie sich im Verlauf der Eheschließung explizit um eine Gütertrennung bemühte (vgl. LewaldStahr, Vertrag über Gütertrennung zwischen Fanny Lewald und Adolf Stahr, 25. Mai 1854, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 1). Diesbezüglich legt auch Ward dar: »Lewald gave Carl Alexander another progress report in February 1854. Then she took a rather unusual step by having a Vertrag der Gütertrennung […] drawn up. This document, dated 25 May 1854, reveals the extent to which the writer thought of herself as a professional at this point. She was proud of the fact that she was able to earn her own living, and she wished to preserve that economic independence in her marriage. Invoking a rarely used provision of the Prussian Civil Code of 1794, Stahr agrees to forfeit in advance his right to any income she would earn thereafter. The contract expressly states, ›that she alone had the right to administer her income, without the oral or written consent of her future husband‹« (Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 196 f.). Vgl. zur Gütertrennung auch: Schneider, »Meine Mutter paßt auf, daß mir Keiner was thut!«, S. 256 f.; Schneider, »Arbeiten und nicht müde werden«, S. 200; Schneider, Fanny Lewald, S. 89-93. 8 Dies zeigt sich eindrücklich, wenn Marci-Boehncke als Beleg für ihre Argumentation auf Lewald-Stahrs »Unterbewußtsein« referiert. Es ist schwer vorstellbar, dass die Literaturwissenschaftlerin für ihre Studie darauf zugreifen konnte (Marci-Boehncke, Fanny Lewald, S. 141). 9 Krogh Hansen, Figuren, S. 241. Ruth Whittle und Debbie Pinfold resümieren in ihrer komparatistisch angelegten Studie die Präsenz des prominenten Weimarers als werkkonstitutiv: »her literary hero Goethe, on whose autobiography her own is closely modelled«. Ward hält eine ähnliche Beobachtung fest: »The bust of Goethe and her own Goethe cult still cast is long shadow over her desk at the end of her writing career, as it had at the beginning« (Whittle und Pinfold, Voices of
132
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
autobiografischer Projekte. Wiederum werden ebendiese Charakteranalogien bei autobiografischen Erfolgsgeschichten von Schriftstellern nicht vermerkt, auch nicht als patriarchale Befangenheit ausgelegt, obschon eine solche auch in Autobiografien von Schriftstellern auffindbar ist. Die Präsenz der Vaterfigur, über alle Bände und Auflagen hinweg, lässt indes die Frage zu, ob ebendiese Präsenz nicht vielmehr eine erzähllogische Funktion besitzt, die besonders für die Entscheidensprozesse konstitutiv sein könnte und mit der es der Autobiografin gelingt, ihre Autorfigur als berufene Entscheiderin zu statuieren sowie für die Nachwelt in Form zu bringen. Bezeichnenderweise setzt die Autobiografin der »eigenen Vergänglichkeit«, die ihr aus den bereits geschriebenen »Blättern« als »ein stilles momento mori […] entgegen[tritt]«, »ein mutiges: momento vivere! entgegen« (MLGIII, 126). Zentral ist eingangs, dass Lewald-Stahr maß geblich die vitale Urteilskraft ihrer Autorfigur formiert, indem sie ihre autobiografische Figur Entscheidensprozesse, trotz eines durchsetzungsstarken Gegenübers, mit einer autoritativen Entscheidung beenden lässt, während etwa der Vater, trotz seiner Entschlussfreudigkeit und Entscheidungsmacht (vgl. auch MLGIII, 42, 173), die freimütig geschlossenen Entscheidungen seiner Tochter lediglich akzeptieren kann. Vorerst wird die patriarchale und zugesprochene Entscheidensbefugnis des Vaters als beinahe unumstößliche Größe aufgebaut und exemplarisch anhand der Konfessionsentscheidung für Lewald-Stahrs Brüder vorgeführt, die der Vater über die gesamte Familie autoritativ verhängt. Es lohnt sich, diese relevante Passage etwas ausführlicher wiederzugeben: Meine Brüder zählten etwa dreizehn und fünfzehn Jahre, als mein Vater mich und sie eines Tages in das Wohnzimmer kommen ließ, um uns die Anzeige zu machen, dass er beschlossen habe, die beiden Söhne zum Christentume übertreten zu lassen. Wir waren alle gleichmäßig davon überrascht; ich, weil ich von dem Übertritte ausgeschlossen werden, die Brüder, weil derselbe vor sich gehen sollte, ohne daß davon mit ihnen zuvor die Rede gewesen. […] Als wir Kinder aber die erste Bestürzung überwunden hatten, erklärte der älteste Bruder sehr bestimmt, er wolle nicht zum Christentume übergehen, wenn die Eltern und Geschwister es nicht auch täten. Er wolle geistig nicht von ihnen getrennt leben, wolle
lion, S. 75; Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 388). Vgl. auch: MarciBoehncke, Fanny Lewald, S. 126; Wolf, Nachwort, S. 331. Zugleich unterlassen es allesamt, nach der erzähllogischen Funktion zu fragen, die Goethe als Figur in der Autodiegese zukommt.
133
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
die äußere Gemeinschaft mit ihnen nicht verlieren […]. Mein anderer Bruder eine starke und leidenschaftliche Natur, bei der jedoch all diese Kraft sich damals mehr in körperlicher Gewaltsamkeit als in geistiger Unabhängigkeit äußerte, nahm die Sache, wie alle solchen Dinge, höchst gleichgültig auf. […] Dazu kam, daß mein Vater, da der leidenschaft liche Sinn dieses Sohnes sich schon in frühester Kindheit kundgegeben, denselben, statt ihn in die rechte Bahn zu lenken, zu brechen versucht hatte. Moritz fürchtete den Vater also, obschon er ihn mit Leidenschaft liebte. […] Es ist aber ein Irrtum, der in Hunderten von Familien immer wieder auf das Neue begangen wird, daß man sich für die Kinder halbwege im Voraus Schemata zurecht macht, in denen ihr Lebensweg sich halten soll. Will eine Ausnahme-Natur sich nicht danach bequemen, so legt man sie auf das Prokrustesbett […]. Erzieher müssen Leiter, nicht Herren des Menschen sein, der ihrer Pflege zuteil geworden ist, wenn sie nicht schaden, sondern fördern wollen. Auch ich hatte sonst meinem Vater gegenüber keinen rechten Mut, und die Erklärung, daß ich von dem Übertritt zum Christentume ausgeschlossen bleiben sollte, erschreckte mich doppelt, weil sie mir ein langgehegtes bestimmtes Verlangen versagte, und weil sie mir gleichzeitig als ein böses Omen für die Zukunft meiner Lieben erschien. Von dieser getrieben und ermutigt, wagte ich die Frage, warum der Vater mich nicht die Taufe empfangen lassen wolle? »Weil dich die Taufe bindet, die die Brüder frei macht!« antwortete der Vater fest. »Ich habe alles überlegt, macht ihr euch also keine Gedanken darüber! Es bleibt, wie ich gesagt habe. Wenn ich die Söhne Christen werden lasse, mache ich sie zu Herren über ihre Zukunft. Sie können jeden Beruf wählen, der ihnen ansteht, sie treten als Gleichberechtigte in das Staatsleben ein, können sich mit Jüdinnen oder Christinnen verheiraten, wie sie wollen; und glauben in sich tut zuletzt jeder vernünftige Mensch, was ihn gut dünkt. Frauenzimmer aber, die weder ihren Beruf noch ihren Mann wählen können, bleiben am besten in den Verhältnissen, in denen sie geboren sind, und wenn die Neigung eines Christen einmal auf eine Jüdin fällt, so kann man dann überlegen, was man tun will. […] Die Taufe meiner Brüder erfolgte denn auch bald darauf« (MLGI, 195-197; vgl. auch: MLGIII, 118, 217). Mit der oktroyierten Konfessionsentscheidung räumt der Vater seinen Söhnen kalkulierte Berufs- und Heiratsmöglichkeiten ein, die er für diese notwendig, für seine Töchter entbehrlich erachtet. Der Entschluss des Vaters ist vorerst beispielgebend für die asymmetrische berufliche Selbstbestimmung, die das Verhältnis sowie die entscheidensbefugte gesellschaftliche 134
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
Teilhabe von Männern und Frauen reguliert. Doch frühzeitig entpuppt sich auch die offerierte Entscheidungsfreiheit für die Brüder als leeres Versprechen und ein Trugschluss, denn die Entscheidungsgewalt behält weiterhin der Vater sich allein vor (vgl. MLGIII, 29, 31, 47). ›Entscheiden‹ ist in der diegetischen Welt demnach an einen Emanzipationsakt gebunden, den nur wenige tatsächlich vollziehen können und dessen Gelingen Lewald-Stahr für ihre entworfene Autorfigur mit ihrem autobiografischen Projekt schließlich monumentalisiert. Beachtenswert ist zugleich, dass gerade die skizzierte Asymmetrie zwischen Männern und Frauen einen entscheidungsrelevanten Coup glücken lässt, denn während vornehmlich der Bruder, der über »eine starke und leidenschaftliche Natur« verfügt, es unterlässt sich zu widersetzen, da er »den Vater [fürchtet]«, wagt die autobiografische Figur nachzufragen, »warum der Vater« gerade ihr die Taufe verweigere, obschon auch sie ihren Vater »fürchtet[ ]« und »liebt[ ]« (vgl. auch MLGII, 86; MLGIII, 224).10 Die Autobiografin charakterisiert ihre autobiografische Figur kurzerhand als widerspruchfähiges Familien mitglied, das zugleich Entscheidungen nicht schlichtweg hinnimmt oder über diese lamentiert, sondern die als »eine Ausnahme-Natur« bemüht ist (vgl. MLGII, 5),11 aktiv jedwede entscheidungsrelevanten Wissens- und Rechtfertigungsdefizite zu beheben. Dieses analytische Talent hilft der autobiografischen Figur, den vorgelagerten Entscheidensprozess einer Entscheidung zu entschlüsseln und sich entsprechende Techniken zu erschließen, die letztlich ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Konsequent erhebt die autobiografische Figur die Wendung »Herr[ ] über [die] Zukunft« fortan für sich zur Lebensmaxime, wenn sie wiederholt einfordert und statuiert »Herr« – und geflissentlich nicht Herrin – ihrer »Handlungen« sein zu wollen und nicht zuletzt auch zu sein (vgl. hierzu MLGI, 223, 229; MLGII, 75, 184; MLGIII, 44, 70, 296; RT, 209). Bereits in der hier wieder10 Deutlich zeigt sich die ungebrochene Hinwendung zu ihrem Vater auch im letzten Band der Lebensgeschichte, wenn sie die Liebe zu ihrem Vater als lebenssichernden Anker beschreibt: »Solange er unterwegs war, hatte Stahr mir an jedem Tag geschrieben, und er verbarg mir die Verzweiflung und den furchtbaren Zwiespalt in seinem Innern nicht, der sich immer weiter auftat, je näher er der Heimat kam. ›Ich kann nicht leben ohne dich!‹ Darauf lief alles hinaus. Als er nach Oldenburg gekommen war, blieben seine Briefe völlig aus. […] Ich wußte oft nicht, ob und wofür ich eigentlich noch lebte. Nur die Liebe für meinen Vater richtete mich bisweilen auf« (RT, 274). 11 Lewald-Stahr stilisiere, das hält Marci-Boehncke ebenfalls fest, ihre autobiografische Figur als »Außenseiter-Frau«. Unerwähnt bleibt dabei, dass die Autobiografin wie auch ihre Kollegen und Kolleginnen schlichtweg einen prominenten autobiografischen Topos nutzt. Vgl. hierzu auch: MLGI, 70; MLGII, 232.
135
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
gegebenen Passage ermöglicht die entschlussfreudige und entscheidungsmächtige Vaterfigur der Erzählerin, die autobiografische Figur als eine ebenbürtige Gesprächspartnerin zu konzipieren, die sich bemüht, Entscheidensprozesse zu kontextualisieren, zu rekonstruieren und fortlaufend die Kunst des Zwiegesprächs zu professionalisieren. Dementsprechend lässt sich hier bereits ahnen, dass der Widmung sowie dem Vorwort mitsamt den präsenten Männerfiguren eine zentrale erzähllogische Funktion zukommt, denn mit dem Paratext sowie dem Figurenrepertoire werden die folgenden Entscheidensprozesse kontinuierlich vorbereitet. Nachdem die Konfessionsentscheidung des Vaters zunächst die autobiografische Figur nicht betrifft, können die restriktiven Möglichkeiten für Frauen vorgeführt und die Konfessionsentscheidung kann überdies später als nunmehr individuelles, einschneidendes Ereignis fixiert werden, das selbsttätig gestaltet und – dem Vater nicht gehorchend – ausgeführt wird.12 Ein weiteres Beispiel für die väterliche Entscheidungsmacht betrifft den Familiennamen: Wie ehemals die Konfessionsentscheidung erweist sich auch diese Entscheidung angesichts des zunehmenden Antisemitismus als notwendig und zwingend und auch hier konfrontiert der Vater erneut »überrasch[end]« (MLGI, 195; MLGII, 242) seine Familie mit seiner bereits getroffenen Entscheidung, die eine verfügbare ›Entscheidungsoptionalität‹, diesmal für die gesamte Familie, bewahren soll: 12 Lewald-Stahrs Konfessionsentscheidung wird in dieser Studie kein eigenes Kapitel gewidmet, da im Vergleich zur Ehe-, Berufs- und Nachlassentscheidung dazu kein werkbegleitender Entscheidensprozess dargeboten wird. Sonkwé Tayim stellt zu Recht fest, dass der Konfessionswechsel innerhalb der Autobiografie primär als »Mittel zum Zweck dargestellt« werde (Sonkwé Tayim, Narrative der Emanzipation, S. 168). Vgl. insgesamt zur ›Glaubensfrage‹ in Lewald-Stahrs Autobiografie: ebd., S. 145-152; 161-163; Marci-Boehncke, Fanny Lewald, S. 134-145; Schneider, Fanny Lewald, S. 22. Hinzu kommt, dass die Autobiografin die Konversion als Berechnung darlegt und explizit von ihrer selbstbestimmten Berufs- und auch Eheentscheidung separiert: »Indes kaum setzte ich mich nieder, dieses Glaubens bekenntnis zu schreiben, als ich – nun allein im Nachdenken mit mir selbst die unwiderstehliche Einsicht gewann, daß ich beinahe nichts von alledem glaubte, was die eigentlichen Glaubensartikel bildet. […] Ich vermied soviel ich konnte jede positive Erklärung, und bei der Unklarheit, mit welcher junge Mädchen sich im Allgemeinen über abstrakte Gegenstände auszudrücken pflegen, hätte es in manchem andern Falle wohl passieren können. Für mich aber, die schon damals Herrschaft über ihre Gedanken und deren Ausdruck besaß, war es ein reines Produkt der Berechnung und als solches mir in späteren Jahren so unheimlich und widerwärtig, daß ich es gelegentlich verbrannte, um dieses Aktenstück gegen meine Wahrhaftigkeit nicht immer wieder zu Gesichte zu bekommen« (MLGI, 215 f. Vgl. auch: MLGI, 147, 149, 195 f., 212, 214).
136
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
Bald nach dem Ausbruch der Cholera überraschte der Vater uns eines Tages mit der Nachricht, daß er bei der Regierung darum eingekommen sei, den Namen Markus ablegen und dafür den Namen Lewald führen zu dürfen […]. [Die Mutter] fiel dem Vater weinend um den Hals, sie bat ihn, nicht darauf zu bestehen, sie wären nun zwanzig Jahre unter diesem Namen glücklich miteinander gewesen, und es sei ihr, als ob man ihr ein Stück ihres Lebens entreiße, wenn man ihr diesen Namen nehmen wolle. Solche aus dem Gemüte entstammenden Einwendungen schonte der Vater liebevoll, ohne daß sie natürlich in seinem Entschlusse etwas änderten. Sein Herz war sehr warm, aber sein Verstand bewahrte ihn vor aller Weichheit der Empfindung […]. Er tröstete die Mutter freundlich mit Gründen der Vernunft (MLGI, 242, vgl. auch MLGII, 211). Der Vater wird in beiden Beispielen als ein der Aufklärung verpflichteter Vernunftmensch vorgestellt, der sich in seinen autonom gefällten Entschlüssen nicht beirren lässt (vgl. auch: MLGI, 176, 181 f.), demnach werden einmal getroffene Entscheidungen nicht revidiert. Festgehalten werden muss an dieser Stelle, dass wie bei der Konfessionsentscheidung der »vernünftige[ ] Mensch« und das rationale Kalkül beispielgebend ist (vgl. MLGII, 84). Lewald-Stahrs Entscheidung gegen eine ›vernunftgemäße Versorgungsehe‹ wird ein effektiver Eklat, der schrittweise,13 wie auch der Auftritt als eigentliche Aufklärerin und Entscheiderin, proleptisch prä pariert ist.14 Beide beispielgebenden Passagen sowie die Figurendarstellung erinnern daran, wie Lübbe zwischen ›Entschluss‹ und ›Entscheiden‹ dif ferenziert. Gemäß Lübbe kennzeichnen ›Entschlüsse‹ »eine Form der Herrschaft«, die frei von der »Last« des Entscheidens sei.15 Für die autobiografische Figur wird es zur berufskonstitutiven Bewährungsprobe, auto13 Als vernünftig sowie alternativlos wird eine Versorgungsehe der autobiografischen Figur stetig vorgestellt, weshalb die Erzählerin exemplarische Situationen hierfür rekapituliert: »Die kinderlosen Onkel und Tanten […] ermahnten mich dringend, nun endlich vom ›hohen Pferde‹ zu steigen, und wenn ein ordentlicher Mann mich haben wolle, vernünftig zu heiraten, ohne groß an Liebe zu denken […]. [W]er wie ich fünf Schwestern und kein Vermögen habe, der müsse sehen, daß er aus dem Hause und unter die Haube komme« (MLGI, 266). Die erste Reise empfindet die autobiografische Figur demnach als eine erfolgreich eröffnete Alternative: »Und dann der Triumph, an den Häusern der beiden Tanten vorbeizufahren, die mich durchaus verheiraten wollten, und mir dabei zu sagen: Ich heirate doch nicht, und niemals, wenn ich es nicht will!« (MLGI, 267. Vgl. auch MLGII, 17). 14 Margaret E. Ward stellt in ihrer Studie fest, dass eine dramatische Gestaltung der Lebensgeschichte charakteristisch sei für das gesamte autobiografische Projekt (vgl. Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 89). 15 Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 129.
137
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
nom die Entscheidungslast zu tragen, von der die Entschlüsse des Vaters vordergründig frei scheinen. Umso mehr stilisieren ihre punktuellen, qualitativen Entscheidungen und die unvermittelten, quantitativen Entschlüsse des Vaters die autobiografische Figur zur berufenen, besonnenen und auch versierten Entscheiderin. Die selbstbestimmte Entscheidung gegen eine Versorgungsehe und die anschließende Berufsentscheidung wirken ausdrücklich als bis dahin ungeahntes Entscheidensprivileg sowie aufklärerischer Akt, nachdem im zuletzt zitierten Beispiel weder der Bruder noch die Mutter den Vater umstimmen oder überzeugen konnten, zumal ihre Bitten, seine Entscheidungen rückgängig zu machen, unmittelbar versiegen. Kurz und bündig exemplifizieren die gewählten Passagen ein entscheidenskonstitutives Figurenverhältnis, denn je umfassender Lewald-Stahr die Entscheidensbefugnis und Wirkmacht ihres Vaters zeichnet, desto gewaltiger erscheint die Entscheidungskraft ihrer autobiografischen Figur. Besonders in Anbetracht der vorherrschenden Gesetzeslage, so erläutert Rolf Parr: [S]chriftstellernde Frauen [waren] gleich mehrfach mit Tabus belegt. Juristisch galten sie bis zum Inkrafttreten des ›Bürgerlichen Gesetzbuches‹ (1901) als unselbständig, sodass Frauen ohne Zustimmung ihrer Ehemänner, Väter oder Vormünder keine wirksamen Rechtsgeschäfte abschließen konnten. Das schränkte auch die Möglichkeiten ihres wirtschaft lichen und juristischen Handelns als Autorinnen erheblich ein.16 Vorgestellt werden soll hier demnach die These, dass die präsenten, durchaus dominanten Männerfiguren keineswegs die emanzipatorische Leistung der Autorin Lewald-Stahr schmälern, sondern die autodiegetische Erzählerin mit diesen ihre autobiografische Figur erst als Entscheiderin profiliert. Somit ermöglichen ihr gerade diese Figuren den erzähllogischen Kniff, eine Autorfigur zu entwerfen, die als berufene Entscheiderin über eine eigens erarbeitete Entscheidungsgewalt und über eine gestaltbare Zukunft verfügt. Kurzum: Je stärker und mächtiger der Gegenspieler konzipiert ist, desto durchsetzungs- und willensstärker erweist sich die nicht allein getroffene, sondern ausgehandelte und anschließend durchgesetzte Entscheidung. Demnach ist das an den Vater gerichtete sowie Goethe gewidmete Vorwort ein zentraler Baustein für den Sockel, auf dem die ›nachweltfähige‹ Entscheidensfigur positioniert wird.17 Dies korrespondiert mit Wards Be16 Parr, Autorschaft, S. 76. Vgl. hierzu auch: Sonkwé Tayim, Narrative der Emanzipation, S. 113 f.; Wagner-Egelhaaf, Einführung, S. 46; Westphal, Von der Gelehrten zur Hausmutter, S. 67. 17 Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass Lewald-Stahr tatsächlich und bereits 1890 in ein autobiografisches Projekt als Entscheiderin eingehen wird: Karl Frenzel zählt
138
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
obachtung, dass Lewald-Stahr durchweg bemüht sei, ein »ideal self« zu gestalten.18 Zugleich habe sie kaum etwas kassiert, was dieses Idealbild als Trugbild darstellen könnte und Ward resümiert, dass sie bereits zukünftige Forschungsvorhaben fokussiert habe, denn [s]he also cared deeply what posterity would think of her, and, in the end, she wanted to make sure that even these most private papers would eventually be read. […] [S]he saved as many unpublished papers as she could, as if to challenge some future reader to do what she could no longer do herself.19 Mit ihrem autobiografischen Projekt setzt Lewald-Stahr demnach eine Autorfigur auf den Buchmarkt, die fortan für Frauen sowie Männer als ein kulturstiftendes exemplum funktionieren soll, sodass Emma Vely 1912 in einer biografischen Skizze vermerken kann; »1861 erschien ihre Autobiographie, sechs Bände umfassend: ›Meine Lebensgeschichte‹. Vorbildlich ist sie geschrieben«.20 Es wird deutlich, dass sie mit ihrem autobiografischen Projekt dem Desiderat einer positiv konnotierten, exemplarischen Frauenfigur begegnet, der es gelingt selbstbestimmt ihre Berufs- und Eheentscheidungen zu treffen. Lily Tonger-Erk erläutert, dass die »gelehrten Frauen« als positive nachahmenswerte exempla bevorzugt in Frauenlexika auf tauchen. Diese Lexika seien Kataloge mit Kurzbiographien von gelehrten Frauen. Sie verfolgen das Ziel, Vitae von Schriftstellerinnen, Wissenschaftlerinnen und eben auch Rednerinnen aus entlegenen Schriften zusammenzutragen, sie einem größeren Publikum gesammelt vor Augen zu führen und damit zu beweisen, dass die Frau ebenso vernunftbegabt, gelehrsam und eloquent ist wie der Mann. Unterschiede in der intellektuellen Leistung der Geschlechter begründen die Frauenzimmer-Lexika mit dem mangelnden Zugang der Frau zur Bildung […]. Gesteigert wird die solchermaßen die Autorin nicht allein zu den »drei große[n] Schriftstellerinnen« des 19. Jahrhunderts, lobt ihren »nüchternen Verstand[ ]«, er charakterisiert sie als Entscheiderin, wenn er schreibt: »Eine Frau stand vor uns, die voll Klugheit und Entschlossenheit in die Dinge eingreifen und sie nach ihrer Meinung ordnen wollte, die viele Menschen in ihren Dienst zu zwingen wußte, mit einer sanften, aber doch unwiderstehlichen Gewalt, der die litterarische Arbeit wesentlich ein Bedürfnis sich zu bethätigen, praktisch zu wirken und Einfluß zu gewinnen war« (Frenzel, Erinnerungen und Strömungen, S. 148, 149, 150). Später wird auch Kriemhild Stöver die Autorin als Entscheiderin skizzieren (Stöver, Leben und Wirken der Fanny Lewald, S. 92). 18 Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 387. 19 Ebd. 20 Vely, Fanny Lewald, S. 74.
139
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
evidente Beweiskraft der exempla noch durch ihre schiere Masse: Nicht das einzelne Beispiel garantiert den Rückschluss, dass die Frau im Allgemeinen intellektuell befähigt ist, sondern die Exempelsammlung. Erst die Quantität der gelehrten Frauen verfestigt den grundsätzlich umstrittenen Bezug zwischen Einzelfall und Allgemeinem.21 Relevant ist zudem Tonger-Erks Fazit, denn dort wird erläutert, dass [d]ie Rednerin […] nur für eine kurze Zeit und nur in der Textgattung der Frauenzimmer-Lexika als ein mustergültiges exemplum und als ein Beleg für die rhetorische Befähigung der Frau [erscheint]. Mit dem Ende der Gattung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verschwinden die im Modus des exemplum zum Wissen gebrachten gelehrten Frauen und Rednerinnen ebenfalls.22 Womöglich ist dies ein punktuelles Gattungs- sowie Genreproblem und die neue Exempelsammlung wäre in Autobiografien zu finden, wie etwa in Lewald-Stahrs groß angelegtem autobiografischen Projekt. Während ihres Entscheidensprozesses für eine schriftstellerische Laufbahn imaginiert die autobiografische Figur punktuell ihren Schreibtisch und besonders die Requisiten, die ihren Arbeitsplatz geradezu zum topischen schriftstellerischen Tatort werden lassen. Sie vergegenwärtigt sich »die Statuette der Jungfrau von Orleans« und eine »kleine Büste von Goethe«, die sie selbst auf ihrem Schreibtisch platzierte, als vorbildhaften Klassiker und nachahmenswerte Entscheidensfiguren (MLGII, 277, 280). Indem 21 Tonger-Erk, Exempla, S. 149 f. Siegrid Westphal legt in ihrer Studie dar, dass man exemplarische Biografien erfolgreicher, gebildeter Frauen spätestens seit der Aufklärung aufgrund ihrer Vorbildfunktion zunehmend gefördert habe. »Wichtigstes Element der Beweisführung waren für die frauenfreundliche Partei die ›Exempla‹ weiblicher Gelehrsamkeit. Die bekannteste Quellengattung sind in diesem Zusammenhang die Frauenzimmerlexika. […] Wichtig wurden nun unter Einfluss frühaufklärerischer Tendenzen Zusammenstellungen von gelehrten Frauen, die aus eigener Kraft und durch Erziehung den Beweis erbracht hatten, die gleichen geistigen Fähigkeiten wie Männer zu besitzen« (Westphal, Von der Gelehrten zur Hausmutter, S. 53 f.; Albrecht, »Ehe und Nicht-Ehe ist eine individuelle Sache«, S. 312; vgl. auch: Goldmann, Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis, S. 255). Lewald-Stahr knüpft mit ihrem autobiografischen Projekt deutlich an diese Strömung an. Vgl. zum ›exemplum‹ und zum exemplarischen Gehalt der Lebens geschichte: MLGI, 67, 82, 134, 136, 231; MLGII, 67, 233; MLGIII, 106, 218, 221 f.; Fludernik, Narratologische Probleme des faktualen Erzählens, S. 117, 119; Rheinberg, Fanny Lewald, S. 28; Marci-Boehncke, Fanny Lewald, S. 124; Dittrich und Dittrich-Jacobi, Die Autobiographie als Quelle zur Sozialgeschichte der Erziehung, S. 272-274; Brinker-Gabler, Fanny Lewald (1811-1889), S. 82. 22 Tonger-Erk, Exempla, S. 154.
140
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
ewald-Stahr ihre Autorfigur mit ihrem autobiografischen Projekt als eine L berufene Entscheiderin entwirft, entwickelt sie die Vorlage einer weiteren Entscheidensfigur, die einmal in Form gebracht, ebenfalls etwaige Schreibtische zieren mag (vgl. MLGII, 280).23 Es fällt auf, dass sie ihre Schreibtischbeschreibung just in jene Passage einfügt, in der sie ihre selbstarchivarischen Praktiken vermerkt und abschließend ihre Berufsentscheidung besiegelt (vgl. MLGII, 277 f., 280-286). In jedem Fall erinnert die Schreibtischbeschreibung an die prominente ikonografische Porträtierung erfolgreicher Schriftsteller,24 zu denen sie sich bereits zählen durfte, nachdem sie einen prominenten Platz auf dem Buchmarkt erreicht hatte und gemäß Gabriele Schneider zu den »bestbezahlten Autoren ihrer Zeit« gehörte.25 Als erfolgreiche, vorbildhafte Entscheiderin weiß die Autobiografin sich zu inszenieren.26 Obschon Lewald-Stahr mithilfe der eigenen Entscheidungs23 Vgl. zum Schreibtisch als Erinnerungsort: Pelz, Der Schreibtisch, S. 233-235. 24 Deutlich wird der enorme Aufwand einer professionalisierten Schriftstellerinszenierung in Klaus-Peter Möllers Studie Preußisches Panoptikum mit Pfefferkuchen: »Selbst Fotos kann man nicht trauen. Die bekannte Aufnahme, auf der Fontane in seinem Arbeitszimmer festgehalten ist, an seinem Schreibtisch sitzend, den Blick ins Weite gerichtet, die Schwanen-Feder in der Hand, zeigt gar nicht, was sie vorgibt, den Schriftsteller bei seiner Arbeit, sondern nur die Pose des Schreibens, inszeniert für den potenziellen Betrachter. Alles auf diesem Bild ist arrangiert, so gut wie nichts dem Zufall überlassen. Die Gegenstände auf der Tischplatte wurden sorgfältig angeordnet, ja der große, zentnerschwere Schreibtisch mußte extra für die Aufnahme an eine andere Stelle des Zimmers gerückt werden« (Möller, Preußisches Panoptikum mit Pfefferkuchen, S. 52 f., vgl. ebd., S. 54 f., 57). Auch Ebner-Eschenbach wählte ein ähnlich ikonisches Motiv für ihre Autorenpostkarte. Das in Weimar archivierte Exemplar ist bereits auf der Rückseite unterschrieben und datiert: »Marie von Ebner Eschenbach Wien April 1912« (Ebner-Eschenbach, Postkarte mit Autogramm, April 1912, GSA: 96.585d.). 25 Hier zeigt sich, wie die inzwischen erreichte Position als erfolgreiche Schrift stellerin, die indirekt auch das Verfassen der Autobiografie rechtfertigt, in die Anfangszeit zurückgeblendet wird. Denn als die autobiografische Figur an ihrem ikonisch-motivational angerichteten Schreibtisch begann, war sie von zukünf tigem Ruhm noch weit entfernt. Umso markanter zeichnet sich der erreichte Erfolg ab. 26 Vgl. MLGI, 11, 20, 34, 227, 238; MLGII, 14, 23-25, 27, 85, 156, 158, 241; MLGIII, 44-46, 50, 56-59, 64-67, 79, 82, 84, 86, 90, 102, 187, 197 f., 200, 205, 241, 246, 248, 250, 260, 265, 270, 280-282, 286; RT, 76, 91, 93, 98, 109, 187, 210, 213, 250, 264, 287 f., 295. Schneider, »Arbeiten und nicht müde werden«, S. 198; vgl. auch: ebd. S. 197. Lewald-Stahr präsentiert auf diese Weise zugleich, dass ihre Lebensgeschichte autobiografiefähig ist (vgl. hierzu: RT, 109, 295; MLGIII, 27, 125 f., 142, 216, 241, 257, 267, 290). Die erreichte Prominenz ist umso werk- und wirkmächtiger angesichts der zunächst anonym publizierten Texte (vgl. hierzu: MLGIII, 56, 65, 77 f., 92, 97, 102, 151, 153, 166 f., 170, 210, 212 f., 216, 221, 227, 237, 260). Deutlich wird dabei, dass das gewählte Pseudonym mit dem eintretenden Erfolg umgehend entschlüsselt
141
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
fähigkeit ihren Lebensweg als einen unkonventionellen darstellt und ihre Autorfigur geradewegs als Ausnahmeerscheinung stilisiert, statuiert sie gleichfalls ein exemplum, das zukünftig nachgeahmt werden kann und soll, sodass es sein kulturstiftendes Potenzial entfalten mag. Entsprechend charakterisiert sich Lewald-Stahr zunächst mitsamt ihrer Familie – väterlicherseits – als eine »Ausnahme-Natur« und Autodidaktin:27 Keiner von ihnen hatte, wie ich erwähnt, eine folgerechte regelmäßige Schulausbildung erhalten; aber sie waren alle geistig sehr begabt, sehr strebsam, äußerst beharrlich und unverzagt und dem ganzen Charakter nach ein Geschlecht, dem anzugehören ich immer als einen Vorzug empfunden habe (MLGI, 11). Wie später Heyse und Schnitzler konzipiert auch Lewald-Stahr ihre Begabung als eine epigenetische Gegebenheit. Demzufolge betont die Erzählerin, dass aus einem untalentierten, unberufenen Menschen kein Schriftsteller geformt werden könne, da dies einer rationalen Kalkulation widerspräche, und so bekundet sie: »Ich glaube, kaum einem vernünftigen Menschen fällt es ein, seinen Sohn zum Maler oder Dichter zu machen, ohne daß irgendetwas in demselben zu einem solchen Plane ermutigt« (MLGI, wurde. Wie später auch bei Heyse und Schnitzler ist die Vorstellung, in unbedeutender Mittelmäßigkeit unterzugehen, dilettierend mangelhafte Texte hervorzubringen, ein abschreckendes Unglücksszenario, das in der autobiografischen Erfolgs geschichte zur Pointe wird (vgl. MLGII, 223 f.). 27 Mehrfach betont Lewald-Stahr, dass in der Familie ihres Vaters Bildung geschätzt und kultiviert wurde, während ihre Mutter zeitlebens unter einem eklatanten Bildungsmangel ihrer Familie gelitten habe, der wiederum besonders Frauen betroffen habe: »[D]er Großvater [betrachtete] die Bildung der Frauen als etwas Überflüssiges […]. Meine Mutter, sein jüngstes Kind, beklagte dies durch ihr ganzes Leben als ein Unglück. Sie trug ein großes Verlangen nach Kenntnissen, aber ihr fehlte die Vorbedingung der ersten Grundlagen, sich dieselben noch in späterer Zeit anzueignen; denn sie schrieb und rechnete nur notdürftig« (MLGI, 7). Dies hat zur Folge, dass für die autobiografische Figur ausschließlich der Vater ein Vorbild sowie eine entscheidenskonstitutive Größe darstellt und darstellen konnte. So ist es der Vater, dessen Interessen und Bildung richtungsweisend für die autobiografische Figur werden. Das kanonische, literarische Wissen, das der Vater besitzt, ist für die autodiegetische Erzählerin ausschlaggebend dafür, dass er über ein ausgeprägtes Freiheitsstreben und ein ausgeprägtes Entscheidensbewusstsein verfügt: »Aber es war ein anderes Element, welches ihm den Gedanken an eine dauernde Fremdherrschaft unannehmbar machen mußte: mein Vater wurzelte mit seiner ganzen Bildung in Deutschland. Er liebte den deutschen Geist, er liebte und bewunderte die deutsche Literatur und ihre Klassiker mit tiefem Verständnis, und da jeder Mensch das Produkt seiner Zeit und ihres Geistes ist, so hatte ein Zug der damaligen Romantik höchst eigenartig neben dem scharfen Verstande meines Vaters Platz gefunden« (MLGI, 24; vgl. auch: ebd., 62 f., 67 f., 135).
142
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
135). Später erläutert die Erzählerin unumwunden: »Ausdauer ist die Sache des Blutes. Zum Manne der Revolution, wie zum Dichter, wird man geboren« (MLGII, 166). Diese biologistische Vorstellung ist auch in Heyses Autobiografie präsent, maßgebend ist jedoch, dass in beiden Fallbeispielen erst die explizit ausgesprochene, krisenhafte Berufsentscheidung einen Dichter sowie eine Dichterin mit Kanonpotenzial und einer gewissen erfolgsverheißenden Willenskraft hervorbringt, denn die Berufsentscheidung wird bei beiden – wie auch in Schnitzlers Autobiografie – als eine lebensentscheidende Bewährungsprobe, nämlich lebensbedrohende »Krisis« vorgestellt (vgl. MLGII, 207).28 Geflissentlich legt die Erzählerin eine Befähigungsinventur vor und zählt diejenigen topischen Elemente auf, über die sie ›naturgemäß‹ verfügt und die ein Schriftstellerinnendasein als erfolgversprechenden »Plan[ ]« etikettieren. Hiernach besitzt sie wie auch ihre Schriftstellerkollegen eine außerordentliche Beobachtungsgabe (vgl. MLGI, 41, 45, 191) sowie eine unstill bare,29 nahezu pathologische Lesewut (vgl. MLGI, 70, 116, 146),30 sodass die autobiografische Figur retrospektiv als »wahrer Lesewolf« bezeichnet wird (MLGI, 116). Topisch versiert gelingt es Lewald-Stahr, die autobiografische Figur als eine Musterschülerin zu stilisieren, die bereits »früh und gleich sehr deutlich sprechen lernt«, über »ein starkes Gedächtnis«, »ein ungemeines Wortgedächtnis«, »ein[en] starke[n] Kopf«, »große geistige Selbsttätigkeit« (MLGI, 26, 107, 218; vgl. auch MLGI, 30, 56, 58; vgl. MLGII, 218) verfügt und nicht zuletzt einen notwendigen »Ergeiz und […] Wissensdurst« besitzt (MLGI, 70), weshalb sie als »kluges Kind« (MLGI, 88) zu einem exklusiven Zirkel begabter Kinder gehört, die man als »Paradepferde« bezeichnet habe (MLGI, 86; vgl. auch: MLGII, 65).31 Die eigene 28 Bei einer ausschließlich ›biologistischen‹ Konzeption würde das eigene Talent und dessen Entfaltung primär als ein Geschenk wirken und so ginge der Aspekt der eigenen Leistung und des eigenen Leidens verloren, die Erzählung wäre demnach wenig ereignisreich. 29 Vgl. auch: MLGII, 18, 83; MLGIII, 64, 77, 281; RT, 20, 22. Diese sei derart ausgeprägt, dass gemäß der Erzählerin die autobiografische Figur bereits in Kindheitstagen unter »dissolving views« und »Phantastik« gelitten habe (MLGI, 50 f.). Das literarische Talent wird gleich einer (chronischen) Krankheit diagnostiziert. Heilsam seien »zwei Hilfsmittel«: »die Beschäftigung der Phantasie mit heiteren Bildern und mit fremden Personen, d. h. die Dichtung, namentlich das Märchen – und eine Disziplinierung des unregelmäßig spekulierenden Verstandes durch den Unterricht« (MLGI, 53). Wie später auch Heyse spielen Märchen für den Berufseinstieg und die berufliche Emanzipation eine zentrale Funktion. 30 Vgl. auch: MLGII, 59, 66, 74, 109, 129; MLGIII, 151, 179. 31 Wie auch Heyse und Schnitzler stilisiert sich Lewald-Stahr als eine Ausnahme erscheinung, die einem exklusiven Zirkel angehört. Dies zeigt sich etwa in einer
143
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Mutter bildet in diesem Talentpanoptikum durchweg die Kontrastfolie, denn erst die mütterlichen Bildungsdefizite lassen den Bildungsüberschuss der autobiografischen Figur markant aufscheinen. Angesichts einer solchen Begabungsfülle erscheinen nur noch die Privilegien begehrenswert, die Männern zugeschrieben werden und deren asymmetrische Verteilung sich bereits früh in der schulischen Förderstruktur niederschlägt. Ebendiese Diskrepanz wird anhand einer hierfür exemplarischen Prüfungssituation von der autobiografischen Figur schmerzlich durchlebt und retrospektiv verbucht, wenn sich die Erzählerin an diese erinnert: Ich mußte ihm meine Rechenkünste vormachen, die vortrefflich gelangen, wurde viel in der Geographie befragt, in der ich gerade meinen ganz dummen Tag hatte und mir eigensinnig auch von Herrn Ulrich nicht einhelfen ließ, so daß ich schlecht bestand und dann mich erst wieder durch Französisch und Geschichte einigermaßen vor den Augen Dinters zurechtzusetzen hatte. Herr Ulrich war nicht zufrieden mit mir, Dinter aber klopfte mir auf den Kopf und sagte: »Nu! Dein Kopf hätt’ auch besser auf’nem Jungen gesessen!« – Dann aber fügte er freundlich hinzu: »Wenn du aber nur’n mal eine brave Frau wirst, so ist’s auch gut!« Mit heißen Wangen und höchst aufgeregt kam ich an dem Tage aus der Schule zurück. Ich erzählte alles, was geschehen war, ich klagte mich an, daß ich nichts gewußt hätte, aber ich verweilte doch noch länger auf dem Lobe, das mir erteilt worden war, denn ohne es zu wissen, was er getan, hatte der treffliche Mann einen meiner geheimen Schmerzen berührt – ich beneidete es schon lange allen Knaben, daß sie Knaben waren und studieren konnten, und ich hatte eine Art Geringschätzung gegen die Frauen. So töricht das an einem Kinde von neun Jahren erscheinen mag, und so unberechtigt es in meinem besondern Falle war, lag doch der Ursprung zu diesen Gedanken nicht in mir selbst. Von jeher hatten Fremde, wenn sie meine Fähigkeiten lobten, mit einer Art von Bedauern hinzugefügt: »Wie schade, daß das kein Junge ist!« – Ich hatte die Idee gefaßt, daß die Knaben etwas Besseres wären als die Mädchen (MLGI, 87 f.). Die Lehrerfigur belegt mit ihrer Aussage bereits eine gesellschaftliche, asymmetrische Gegebenheit, die über die einzelnen Bände hinweg repetiert wird. Der mit der direkten zitierten Figurenrede einhergehende mimetische Passage, in der die Erzählerin in einem einzigen Satz sechs Mal das neutrale Personal pronomen »wir« einfügt und betont, dass sie zu einem zeit- und auch standes bewussten literarischen Bildungszirkel gehört habe. So spricht auch sie explizit von »den Werken unserer Klassiker« (MLGII, 65, 69).
144
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
Darstellungsmodus erweist sich als authentizitätsstrategischer Marker. Auf diese Weise wird dem prospektiven Lesepublikum einprägsam erläutert, dass eine umfassende Bildung bei Frauen wie literarische Werke von Frauen pejorativ als Mangel und mangelhafte Ware bewertet worden seien (vgl. MLGI, 110; MLGII, 139; MLGIII, 166 f.). Die retrospektiv dargestellte Prüfungssituation ist derart gestaltet, dass eine sprachliche Diskrepanz zwischen Erzählerrede und Figurenrede markiert wird. So ist es gerade die Lehrerfigur, die sich unreflektiert, umgangssprachlich, gar salopp ausdrückt, obschon sie gegenüber der Schülerin hierarchisch höhergestellt ist und über ein abgeschlossenes Studium verfügt. Indem die Erzählerin demgegenüber ein gebildetes, ausgewähltes Sprachprofil besitzt und sich für punktuelle, zitierte Jargonausdrücke entschuldigt, wird das umgangssprachlich aus gesprochene Urteil disqualifiziert und der Jargon des Lehrers erhält geradezu indirekt die Auszeichnung ›mangelhaft‹. So erscheint die Wendung »treffliche[r] Mann« als satirisch-ironischer Euphemismus. Für die schriftstellerische Profession und spätere Berufsentscheidung ist es entscheidend, dass bereits hier vermerkt wird, dass »der treffliche Mann« mit seinem Ausspruch die »geheimen Schmerzen berührt« habe, unter den die autobiografische Figur bis zur letztgültigen Berufsentscheidung gelitten habe. In Ebner-Eschenbachs, Lewald-Stahrs, Heyses, Fontanes und Schnitzlers Autobiografien sind die autobiografischen Figuren schließlich aufgrund einer als schmerzlich wahrgenommenen Berufsentscheidung krisenerprobt und erst aufgrund dessen Protagonisten und Protagonistinnen einer autobiografischen Erfolgsgeschichte. Walter Muschg beschreibt den topischen Schmerz als Quelle der Kunst und resümiert unter ironischem Vor zeichen: Die Dichter des 19. Jahrhunderts trieben den Kult des Leidens auf die Spitze, aber etwas Niedagewesenes kann man es nicht nennen. Daß die Dichtung eine Ausgeburt des Schmerzes sei, ist keine Erfindung der modernen Zeit.32 Die Berufung zum sowie die Entscheidung für den Schriftstellerberuf sind nebstdem in den Fallbeispielen prekäre Lebenskonzepte, also eine geheime Last (vgl. MLGI, 83; MLGII, 228; MLGIII, 6), deren Offenbarung topisch einem Gelöbnis gleichkommt. Beide Aspekte liefern auch eine Teilerklärung dafür,33 weshalb das Erstlingswerk bei allen hier vorgestellten Fall32 Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 414. 33 Womöglich motivierte gerade das Image einer bestandenen Krise, das Erstlingswerken zukommt, Karl Emil Franzos dazu, einen Sammelband zu Erstlingswerken
145
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
beispielen pseudonym veröffentlicht wird (vgl. MLGIII, 6, 12).34 Gleichermaßen wird der Schriftstellerberuf als eine bereits professionalisierte Tätigkeit präsentiert und so erlebt die autobiografische Figur sicherlich nicht zufällig auf dem »Polterabend« eines Philologen ihren »ersten dichterischen Erfolg[ ]« (MLGI, 250).35 Wie überhaupt ihre gesamte Berufsentscheidung an ihre Eheentscheidung gebunden ist, werden auch in dieser Passage beide Themenbereiche verwoben. Nachlassstrategisch wird der Erfolgsgeschichte eine, womöglich Archivierungswünsche befeuernde, Kassationserzählung beigegeben, die in einer werkkonstitutiven, proleptischen Gattungsentscheidung mündet: [I]ch erntete einen großen Beifall, fand lebhafte Bewunderung für meine Verse, und von dem Tage an stand es unter meinen jüngern weiblichen Bekannten eigentlich felsenfest, daß ich eine Dichterin sei. Ich selbst herauszugeben und auf das erfolgsversprechende Potenzial einer Krisenerzählung hinzuweisen (vgl. Franzos, Die Geschichte des Erstlingswerks). 34 Paul Heyse und Hermann Kurz verweisen in ihrer Novellensammlung auf LewaldStahrs vorerst anonym publizierte Erstlingswerke. Sie führen diese mit LewaldStahrs Lebensentscheidungen zusammen und betonen den Stellenwert ihrer Auto biografie(n) für den kulturellen Fortschritt: »Nachdem sie schon 1834 zur Unterhaltung ihrer kranken Schwester Märchen geschrieben hatte, wagte sie sich 1841 an ihre erste Novelle ›der Stellvertreter‹, die in August Lewalds ›Europa‹ ohne ihren Namen erschien. Die größeren Erzählungen ›Clementine‹ (1842), ›Jenny‹ (1843), ›Eine Lebensfrage‹ (1845), ebenfalls anonym, lenkten rasch das allgemeine Interesse auf dies energisch sich entfaltende Talent; in rascher Folge erschienen eine Reihe umfangreicherer Romane, farbiger und lebendiger Reiseschilderungen (eine Reise durch Italien im Jahre 1845 hatte sie mit Adolf Stahr zusammengeführt, dessen Gattin sie im Jahre 1854 wurde), und kleinere in Zeitschriften zerstreute Arbeiten, zum Theil auch theoretisch eingreifend in die socialen Probleme der Zeit, die in vielen ihrer Dichtungen den Mittelpunkt der Handlung und die bewegende Kraft in den Charakteren bilden. Aus diesem Grundzug ihrer Natur, aus dem ernst und liebevoll auf das Ordnen und Klären der vielfach verworrenen Lebensfragen gerichteten Sinn der Schriftstellerin geht von selbst hervor, daß der Roman diejenige Form ist, in der sich ihr Talent am Freiesten und Fruchtbarsten zu entfalten vermag. Frühzeitig, wie es in ihrer trefflichen Selbstbiographie Stufe für Stufe sich verfolgen läßt, in einen Culturgegensatz hineingestellt, auf den Kampf der Confessionen, der Vorurtheile und Traditionen aufmerksam geworden, hat sich das dichterische Talent der begabten Frau zu immer größeren und allgemeineren Aufgaben gerüstet und zu deren Lösung immer breiterer Formen bedurft« (Lewald, Die Tante, Bd. 14.2, S. 71 f.). In jedem Fall schildert die Autobiografin, wie ihr Bruder als Lektor in ihre schriftstellerische Tätigkeit eingeweiht gewesen sei (MLGIII, 16). 35 Dietrich Erben und Tobias Zervosen halten fest, dass im 19. Jahrhundert Berufsautobiografien äußerst beliebt gewesen seien, da diese eine fortschreitende Professionalisierung berücksichtigt hätten (vgl. Erben und Zervosen, Berufsautobiographien und Professionsgeschichte, S. 13 f.).
146
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
glaubte das nicht unbedingt, aber ich hatte doch das größte Vergnügen von dem Abende und von meinem Erfolge. Ich fand mich sehr schön in meinem Geniuskostüm, ich hatte mich selbst mit meiner gefühlvollen Poesie sehr gerührt, und da alle andern mich auch lobten, gab ich mich doch heimlich der schmeichelhaften Hoffnung hin, etwas nicht Gewöhnliches geleistet zu haben. Ich besitze von diesen Gedichten jetzt nicht mehr ein Blatt. Ich habe sie vor langen Jahren verbrannt, weil das Aufbewahren unnützer Papiere etwas so Törichtes und Unpraktisches ist. Ich habe aber immer, auch als ich reifer war, nur schlechte Verse und mit Ausnahme von Gelegenheitsgedichten für meinen Gebrauch nur wenig Verse gemacht. Außer ein paar kleinen Gedichten, die ich auf einer Reise geschrieben hatte und die mein Vetter August Lewald einmal in der Europa abdrucken ließ, ist keine meiner gereimten poetischen Produktionen den Leuten gedruckt unter die Augen gekommen, und als ich dann zehn Jahre später einsehen lernte, daß ich Prosa schreiben könne, habe ich die Poesie vollends in Ruhe gelassen (MLGI, 253 f.; vgl. auch: MLGII, 229, 276).36 Die Bedeutung einer solchen Kassationserzählung dokumentiert ein archiviertes Manuskript, auf dem verso eine Kassationsentscheidung, unter einem Porträt der Schriftstellerin, notiert, autorisiert und datiert ist. Sodass mit dem Nachlass geradezu gewissenhaft punktuelle Kassationsentscheidungen dokumentiert werden. Aufbewahrt wird dieses aussagekräftige Archivale mit Adolf Stahrs Manuskripten, einem Gedichtband und einem weiteren Porträt von Fanny Lewald-Stahr. Unter dem hier gezeigten Porträt ist mit Bleistift das Entstehungsdatum der Zeichnung fixiert: »Rom d. 20sten März 1846« und mit Tinte die erfolgte selbstkuratorische sowie -zensorische Kassationsentscheidung verewigt: »Die sämtlichen Briefe dieser ›Wegzehrung‹ habe ich mit des Geliebten Zustimmung vernichtet, weil ihr erzwungener Ton uns Beide später peinigte. Fanny Lewald-Stahr Berlin 1864«. Dieses Kassationsdokument überliefert bis heute die Nachricht, dass L ewald-Stahr ihren Nachlass in Form brachte und längst mobilisiert diese bündige Information etwaige Archivierungsvorhaben. Für die Liebesbeziehung und Arbeitsgemeinschaft mit Adolf Stahr ist zudem der Text der Vorderseite 36 Die Bezeichnung ›Dichterin‹ lässt die Autobiografin lediglich als zitierte, indirekte Figurenrede zu, da sie für sich selbst die maskuline Form als Gleichstellungskennzeichen bevorzugt. Äußerst selten bezeichnet die Erzählerin die autobiografische Figur als »Schriftstellerin« (MLGIII, 71). Auch die topische Verbrennung der eigenen Tagebücher findet in Lewald-Stahrs Autobiografie einen Platz (MLGI, 177; vgl. Marci-Boehncke, Fanny Lewald, S. 126, 192).
147
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
bezeichnend, denn auch dort funkt der Schutzpatron Goethe dazwischen, denn zitiert wird aus Goethes Claudine von Villa Bella: »Ihrem Adolf Stahr als ausschließliches Eigenthum! Angefangen d. 28. Februar Beendet d. 28. April Rom 1846 Auf glückliches Wiedersehen! ›Wer dichtet nicht, Dem diese schöne reine Sonne scheint, Der diesen Hauch des Lebens in sich zieht? Goethe‹«.37 Wie auch der Autobiograf Heyse relativiert die Autobiografin in der zuvor zitierten Passage das gefällte, pejorative Urteil, indem sie diesem ein ›objektives‹, zumindest externes Korrektiv zur Seite stellt. Anders als Heyse konzipiert Lewald-Stahr ihre Autobiografie jedoch nicht als wissenschaftliche Studie, somit ergänzt sie relativierende Belege, die ihr Talent bekunden, nicht mit einer ›gewissenhaften‹ Bibliografie ihrer Publikationen und trägt diese auch nicht in der zweiten Auflage nach (MLG I2, 382).38 Alle ihre veröffentlichten Werke nennt sie mit Titel und oftmals auch mit dem dazugehörigen Erscheinungsjahr, sonach knüpft sie ein intertextuelles Netzwerk, ohne jedoch exakte Literaturhinweise beizugeben. Demgegenüber ist Heyse mit seinen detaillierten bibliografischen Angaben um eine zuverlässige Auffindbarkeit seiner Schriften bemüht. Doch nochmals zurück zur annotierten asymmetrischen Privilegienstruktur: Die Privilegien der Männer und Jungen werden wiederholt vorgetragen, was schließlich dazu führt, dass die Berufsentscheidung besonders für Frauen als Bewährungsprobe gerahmt wird. Verstärkend kommt hinzu, dass Lewald-Stahr ihre eigene privilegierte Position kaschiert, wodurch wiederum die Entscheidenskompetenz ihrer autobiografischen Figur als eine individuelle und geradezu außergewöhnliche Eigenschaft klassifiziert werden kann. Die im Folgenden zitierte Passage leitet bereits früh den beruflichen Entscheidensprozess ein, der erst am Ende des zweiten Bandes entfaltet und mithilfe ausgewählter Briefe mitsamt einer entscheidungs fömigen bricolage dargestellt wird: 37 Vgl. die Abbildungen auf S. 150-151. Fanny Lewald-Stahr, Porträt mit Widmung, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 19, Manuskripte von Adolf Stahr und ein Band Gedichte, dazu zwei Porträts von Fanny Lewald-Stahr, Vorder- und Rückseite; vgl. Goethe, Claudine von Villa Bella, FA, I. Abt., Bd. 5, S. 693. Tayim hält ebenfalls fest, dass Goethe mitsamt seinen Werken für Lewald-Stahr eine zentrale, wegweisende »Identifikationsfigur« darstelle (Sonkwé Tayim, Narrative der Emanzipation, S. 125). Vgl. exemplarisch zu Goethe in Lewald-Stahrs Autobiografie: MLGI, 33, 107, 152, 185, 228, 264; MLGII, 12, 14, 23 f., 32, 70 f., 106, 151 f., 154, 241, 279; MLGIII, 62, 164, 185; RT, 12 f., 14, 46, 53 f., 92, 96, 105, 107, 210, 213, 237. Gleichfalls vergisst die Autobiografin nicht, auf Augustinus zu verweisen (vgl. MLGI, 213). 38 In Spieros Edition wird jedoch für Stahrs Werke der exakte Publikationsort an gegeben (vgl. RT, 91).
148
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
[N]och ehe ich mein achtes Jahr vollendet hatte, wußte ich tatsächlich auch mehr als meine Mutter. […] Lieb hatte ich dabei die Mutter von ganzem Herzen, aber ich hatte den Vater noch lieber, bei dem ich immer Rat und Hilfe, wenn auch viel häufigeren und strengern Tadel als bei der Mutter fand. Der Vater las mit mir […]. Lobte meine Mutter meine Fortschritte, so dachte ich, sie verstehe es im Grunde nicht recht. […] Und da die Mehrzahl der Frauen, welche ich damals kannte, auch nicht viel unterrichteter waren als meine Mutter, so setzte sich eben die Vorstellung in mir fest, die Frauen seien geringer als die Männer, und für sie sei es ganz gut, daß sie auf Ordnung sähen und Haus hielten. Ich aber wolle lernen wie ein Mann, und ordentlich zu sein hätte ich gar nicht nötig. Eine unklare Erinnerung an eine Frau, die, wie ich hatte erzählen hören, damals Professor in Bologna gewesen war, schwebte mir dabei vor und trug noch dazu bei, mich vollends zu verwirren. Meinem Vater entging die Ursache dieser schiefen Richtung keineswegs, und je mehr er Grund hatte, die Mutter zu lieben und zu verehren, umso entschiedener trat er jener Richtung entgegen. Ich besitze einen Brief, den er mir noch vor Beendigung meines achten Jahres aus Warschau schrieb, wohin seine Geschäfte ihn für einige Zeit gerufen hatten. Ich setze ihn hierher, weil er mit meinem damaligen Zustande zugleich die Art und Weise dartut, in welcher der Vater mit mir verkehrte. Warschau, den 11. Oktober 1818 Mittwoch. »Meine liebe Fanny! Dein liebes Briefchen von heute vor acht Tagen hat mir viel Freude gemacht; es war recht nett geschrieben, und nicht so sehr kurz, als das früher empfangene. Die gewünschten Karten werde ich Dir mitbringen, und daß Du abermals ein Zähnchen verloren hast, ist recht gut, da Du dieselben wechseln mußt. – So wie sich aber Deine Zähne verändern oder wechseln, so wird noch alles an Dir wechseln: Dein Urteil über das, was um Dich her vorgeht, Deine Gesinnungen dar über, Deine Kenntnisse, genug alles! – Du mußt nun aber, wenn Du ein ordentliches Mädchen werden willst, sehr auf Dich aufpassen, daß dieses Wechseln immer zu Deinem Besserwerden beitrage. […] Mit Demjenigen, was Deine Eltern Dich jetzt und später lernen lassen, mußt Du nie prahlen. […] Deine Lage ist also sehr glücklich; Du kannst alle Deine Zeit darauf verwenden, um ein gutes und liebes Kind zu werden. […] Du bist die Älteste, mache Du nur den Anfang, und die Übrigen werden Deinem Beispiel folgen.« (MLGI, 88-90). Zunächst ist anzumerken, dass keiner der hier vorgestellten Autobiografen die eigens entworfene autobiografische Figur einen Entscheidensprozess bereits im frühen Kindesalter durchlaufen lässt (»noch ehe ich mein achtes 149
Abb. 1 und 2: Fanny Lewald-Stahr, Porträt mit Widmung, SBB, Nachlass LewaldStahr, Kasten 19, Manuskripte von Adolf Stahr und ein Band Gedichte, dazu zwei Porträts von Fanny Lewald-Stahr, Vorder- und Rückseite.
150
151
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Jahr vollendet hatte« [MLGI, 88]); Lewald-Stahrs Autobiografie stellt eine Ausnahme dar. Außergewöhnlich ist zudem, dass ein Brief gerade aus den frühen Kindheitstagen (»noch vor Beendigung meines achten Jahres« [MLGI, 89]) zitiert und dem Lesepublikum als wegweisendes ›Dokument‹ vorgelegt wird, das sie erhält, nachdem sie sich ein berufliches Vorbild geschaffen und dieses postalisch kundgegeben hat. Längst wählt sie mit dem berufsbezeichnenden Substantiv »Professor« die männliche Form, so bezeichnet sich die Autobiografin auch hier konsequent als Dichter und Schriftsteller, lehnt indirekt, bis auf wenige Ausnahmen, die feminine Form ab und distanziert sich auf diese Weise von dem pejorativen Bild, das mit dem Ausdruck ›Schriftstellerin‹ einhergehe.39 Die Erzählerin meidet zudem zunächst offenkundig explizite Vergleiche mit Schriftstellerinnen sowie Frauenfiguren und forciert demgegenüber merklich misogyne Vergleiche mit Schriftstellern und entschlussfreudigen, willensstarken Männerfiguren, wie etwa ihrem Vater (vgl. auch MLGII, 231, 184 f.; MLGIII, 17). Dieses Vorgehen besitzt zunächst zwei Funktionen: (1) Lewald-Stahr verdeutlicht auf diese Weise implizit, dass berufstätige Frauen als Vorbilder selten sind und ein Desiderat auf dem Buchmarkt darstellen, somit etabliert sie mit ihrer Autobiografie anteilig einen zukunftsweisenden Nischenmarkt. (2) Mit den angelegten Vergleichen disqualifiziert sie hausfrauliche Rollenentwürfe für sich selbst nicht schlichtweg, sondern konserviert geradezu ihre Autorfigur als Ausnahmeerscheinung, für die es noch keine passenden Rollenentwürfe und keine positiv konnotierte Berufsbezeichnung gibt (vgl. auch MLGIII, 79). In Anbetracht dessen ist hervorzuheben, dass die vor dem zitierten Brief wiedergegebene indirekte Figurenrede, die durchweg im Konjunktiv 39 Vgl. auch: MLGI, 110; MLGII, 209, 232; MLGIII, 86, 166, 218, 224. Vgl. hierzu etwa: Vely, Fanny Lewald, S. 76; Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 389. Auch für George Sand wählt sie durchgehend die maskuline Form, wenn sie thematisiert, dass die wiederholten Vergleiche zwischen ihr und Sand unzureichend gewesen seien und es falsch gewesen sei, sie als eine Nachahmerin der berühmten George Sand darzustellen. Ein »Nachahmer« sei sie »niemals gewesen« (MLGIII, 219), ebenso distanziert sie sich von der Autorin Ida Hahn-Hahn. Ausdrücklich veranschlagt die Autobiografin – auf die Individualität ihrer Autorfigur pochend – eine singuläre Position auf dem gegenwärtigen sowie zukünftigen Buchmarkt, die einen Vergleich mit anderen Schriftstellerinnen geradezu verbiete (vgl. auch MLGIII, 224). Vgl. hierzu auch: Sonkwé Tayim, Narrative der Emanzipation, S. 120. Whittle und Pinfold halten hierzu fest: »Her autobiography is intended to chart her emancipation from the stifling structures and conventions in which she grew up and her development into a writer who was to defy many of the gender expectations of her time« (Whittle und Pinfold, Voices of Rebellion, S. 75).
152
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
ehalten ist, den zeitlichen Abstand zwischen der vergangenen und gegeng wärtigen Kommunikationssituation markiert. Die misogyne Einstellung der autobiografischen Figur und das einstmalige internalisierte, polare Geschlechtermodell werden auf diese Weise kontextualisiert, erklärt und letztlich korrigiert. Ebenso revidiert die Erzählerin ein starres, polares Geschlechtermodell, indem sie ausdrücklich darauf hinweist, dass ihren Brüdern zwar eine schulische sowie universitäre Ausbildung gewährt, jedoch eine selbstbestimmte Berufsentscheidung verwehrt worden sei (vgl. MLGI, 258).40 Die angestrebte Bildung wird dennoch für die autobiografische Figur zur Konfession, da diese ihr erlaubt, sich zu emanzipieren und das starre Geschlechtermodell zu verwerfen, jene »Ordnung«, die sich für ein »ordentliches Mädchen« und eine zukünftige »brave Frau« ziemt, abzulehnen und dafür »Unordnung zu einer Art von Glaubenssache« zu erklären (MLGI, 91). Chaotisch, nämlich undurchschaubar ist vielmehr die oktroyierte Gesellschaftsordnung und gerade nicht der Lebensstil der als äußerst diszipliniert dargestellten autobiografischen Figur. Die emanzipatorische »Glaubenssache« verliert sie kurzzeitig aus dem Blick und findet in jenem Moment »allmählich wieder zur« vermeintlichen »Ordnung zurück«, als »neue Gedanken« ihr »die Erinnerung an den weiblichen Professor aus dem Sinne gebracht hatten« (MLGI, 91). Dieser Sinneswandel stellt jedoch lediglich ein kurzes Intermezzo dar und schon bald fokussiert die autobiografische Figur wieder ihr gesetztes Berufsziel, für das eine gescheiterte Liebesehe, die Entscheidung gegen eine Versorgungsehe, eine sich allmählich aus prägende Urteilskraft sowie fortwährender Widerstreit zwischen ›ratio‹ (›Rationalismus‹) und ›sensus‹ (›Empirismus‹) konstitutiv erscheinen: Und weil ich glaubte nie wieder einem stillen Glück begegnen zu können wie das, welches ich an Leopolds Seite zu finden gehofft, fingen meine Wünsche wieder an, sich auf die belebten Kreise der großen Welt zu richten, und die Schilderungen der großen weltberühmten Salons, die Schilderungen der berühmten Frauen, um welche sie sich gebildet, beschäftigten meine Phantasie und regten meinen Ehrgeiz auf, während 40 Punktuell legt Lewald-Stahr dar, dass die beruflichen und partnerschaftlichen Entscheidungsmöglichkeiten für Frauen und auch Männer limitiert sind. Exemplarisch zeigt Lewald-Stahr dies etwa anhand eines Briefs von Heinrich Simon, mit dem sie ein Leseduett unterhält: »›Ich bin sehr ärgerlich über mich, daß ich Dich gestern in so schlechter Stimmung begleitete. Aber den ganzen Tag hatte es mir verwirrend im Sinn gelegen, daß es schön wäre, wenn man einen Seitenweg aus der plattgetretenen Heerstraße des Lebens gehen dürfte‹« (MLGII, 90. Vgl. auch: MLGII, 209, 211-213).
153
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
meine Vernunft mir unablässig vorhielt, daß solche Wünsche für mich töricht, daß ein Leben, außerhalb der beschränkten Verhältnisse, in denen ich geboren war, für mich nicht möglich sei (MLGI, 257 f.). Die gelehrte Frau, die als »Professor in Bologna« tätig ist, sowie die berühmten »Frauen« beziehungsweise Salonières dienen der autobiografischen Figur als wegweisende Vorbilder (vgl. MLGII, 13, 157; MLGIII, 79, 84-86, 90, 219), die gleichzeitig als phantastische Trugbilder um diese »schweb[en]« (vgl. MLGI, 90). Die Erzählerin betont stetig, dass ihre autobiografische Figur, bis zur Entscheidung gegen eine Versorgungsehe, unfähig gewesen sei, alle richtungsweisenden, berufsentscheidenden Zeichen zu deuten, da diese das doktrinär vermittelte »patriarchalische Verhältnis« internalisiert habe (vgl. MLGII, 188). Die Erzählerin bereitet mit ebensolchen Kommentaren sukzessiv vor, dass die Berufsentscheidung der autobiografischen Figur als ein erwachtes emanzipatorisches respektive aufgeklärtes Entscheidensbewusstsein dargestellt und der berufliche Entscheidensprozess erst rückblickend rekonstruiert werden kann.41 Bis zum emanzipatorischen Entscheidungsmoment wird die Berufswelt als ein metadiegetisches Phantasma der autobiografischen Figur präsentiert (vgl. hierzu MLGII, 149, 182). Kulturpolitisch erscheint Lewald-Stahrs autobiografisches Projekt als ein kulturkonstitutiver Entwicklungsprozess. Bemerkenswert ist hierbei, dass mit dem autobiografischen Projekt innerhalb der autodiegetischen Welt ›überholten Kulturen des Entscheidens‹ nicht lediglich eine autobiografisch konzipierte, gleichberechtigte sowie emanzipatorische ›Kultur des Entscheidens‹ gegenübergestellt wird, sondern vielmehr das pädagogische, zukunftsweisende Potenzial, das ebendieser gleichberechtigten Entscheidenskultur zukommen soll, rezeptionsästhetisch ausgelotet und anschaulich erprobt wird. Das Briefzitat des Vaters »mache Du nur den Anfang, und die Übrigen werden Deinem Beispiel folgen« (MLGI, 90) wird in diesem Zusammenhang zur zweckentfremdeten Sentenz. Die väterliche Anweisung, dass die autobiografische Figur nicht mit ihrem verfügbaren Wissen prahlen solle, wird gerade von den Eltern inkonsequent umgangen, indem diese die begabte Tochter regelrecht als Wunderkind vorführen. Etwa, wenn die Mutter »stolz […] ein so kluges Kind zu haben, […] [s]ein Wissen vor […] Onkeln und Tanten gern in ein großes Licht [setzte]« und ihr »Vater mit einem […] Bekannten darauf gewettet 41 Dies geht mit einem ausgeprägten Freiheitsverlangen und -bewusstsein einher. Vgl. hierzu exemplarisch: MLGI, 50, 135, 199, 211, 214, 218, 220, 241; MLGII, 76, 85, 157, 169, 181, 189, 231, 280; MLGIII, 20, 127, 133, 138 f., 147, 156, 213, 225 f., 230, 234, 236, 238, 239 f., 258 f., 296; RT, 32, 74, 79, 241.
154
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
hatte«, dass seine Tochter »in zwei und einer halben Stunde die ganze Glocke von Schiller fehlerlos auswendig« könne, da die autobiografische Figur mit »zehn, elf Jahre[n] […] die meisten Schiller’schen und Goethe’schen Balladen auswendig« gewusst habe (MLGI, 107). Es sind externe Talentbekundung, die scheinbar beiläufig erzählt werden und umso exorbitanter in ihrer repetitiven Häufung wirken. Literatur wird kontinuierlich zum Lebensmittelpunkt der autobiografischen Figur. Lyrik sei für diese bereits früh »wie erfrischende Luft« gewesen und auch Dramen habe sie ausgesprochen früh in ihr, später entscheidenskonstitutives, Wissensrepertoire integrieren können, denn: [D]ie Mehrzahl der Schiller’schen und Goethe’schen Dramen, den Götz, den Egmont, die Iphigenie, die natürliche Tochter und den Tasso lernte ich sehr früh, ich meine, bald nach meinem elften Jahre kennen, während ich gar keine Romane in die Hände bekam und nur selten Gelegenheit hatte, das Theater zu besuchen (MLGI, 107, vgl. auch: ebd., 125).42 Bereits hier wird das im weiteren autodiegetischen Verlauf prägende Drama genannt, denn es ist Goethes Natürliche Tochter,43 die Lewald-Stahr als Entscheidungsressource verfügbar ist und einmal mehr beweist, dass eine frühe literarische Bildung ein Entscheidensbewusstsein ermöglicht sowie dramatisierte Entscheidungen eine verfügbare Urteilskraft schulen. Wie später auch bei Heyse ist das gemeinsame Lesen, vornehmlich mit dem 42 Goethe beschließt mit einem Zitat aus seinem Egmont nicht lediglich seine Autobiografie, sondern beendet diese mit einer bricolage, die einen Entscheidensprozess darstellt. Die natürliche Tochter ist das Drama, das konstitutiv ist für Lewald-Stahrs Eheentscheidung. Die Figuren Iphigenie, Tasso und Götz zeichnet ein ›individuelles‹ Freiheitsstreben aus, Götz stirbt mit den Worten »Freiheit! Freiheit!« (V. 35), Iphigenie deklamiert »Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück!« (V. 29) und Torquato Tasso bekundet »Frei will ich sein im Denken und im Dichten!« (V. 2305), (Goethe, Götz von Berlichingen, FA, I. Abt., Bd. 4, S. 388; Goethe, Iphigenie auf Tauris, FA, I. Abt., Bd. 5, S. 555; Goethe, Torquato Tasso, FA, I. Abt., Bd. 5, S. 800). Die Erzählerin reiht Figuren aneinander, die als exemplarische sowie tragische Entscheidensfiguren bezeichnet werden können. Den hier zitierten Vers aus Goethes Iphigenie repetiert der Vater mehrfach, um der autobiografischen Figur die Ehe für Frauen als unabwendbare Notwendigkeit darzulegen (vgl. MLGI, 185). Geiger vermerkt in seiner Einleitung zu Lewald-Stahrs Gefühltes und Gedachtes: »Aber nur einem Schriftsteller weihte sie einen wirklichen Kultus, nämlich Goethe« (Geiger, Einleitung [1900], S. 18). Die Begegnung mit und die Passion für das Theater ist für Autobiografien von Schriftstellerinnen ein prominenter Topos (vgl. für Lewald-Stahrs Lebensgeschichte hierzu auch: MLGI, 208; MLGII, 70; vgl. allgemein: Goldmann, Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis, S. 259 f.). 43 Goethe, Die natürliche Tochter, FA, I. Abt., Bd. 6, Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle NT angegeben.
155
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Vater, eine berufsentscheidende Routine (vgl. MLGI, 70 f.; RT, 16). Zugleich skizziert die Autobiografin fast die gesamte Leselandschaft als ein von Männern dominiertes Feld, so betont sie etwa, dass ihre »Aufmerksamkeit erst« durch die »Gesellschaft der Männer [auf die Werke hingeführt worden sei]«, die sie nicht nur gelesen, sondern auch exzerpiert habe (MLGII, 66). Im Vergleich mit Heyses Autobiografie wird jedoch deutlich, dass die Autobiografin Lewald-Stahr präzise das politische, nämlich emanzipatorische Potenzial einer frühen literarischen Bildung als Heuristik vorstellt, denn erst diese ermöglicht ihr als Entscheiderin, ihre Ehe- und Berufs entscheidung und ihre Lebenswelt aktiv zu gestalten. Als Königsbergerin sind für Lewald-Stahr die Schriften der philosophischen Stadtgröße ein lehrreiches wie vertrautes Handbuch für die Fülle möglicher Lebenslagen mitsamt Scheidewegen. Anders als Heyse bekundet die berufene Entscheiderin nach erfolgreicher Lektüre keinerlei Verständnisschwierigkeiten (vgl. MLGI, 184), zumal die Autobiografin Immanuel Kant geradezu als einen wegweisenden Ahnherren skizziert (vgl. MLGI, 6). Ebenso wie Heyse zitiert sie prominente faktuale und fiktionale Figuren, um potenzielle Parallelen vorzuweisen respektive die eigene autobiografische Figur als Mitglied eines exklusiven Zirkels vorzustellen. Die Autobiografin betont ihren prominenten Platz, indem sie etwa gleich zu Beginn ihrer Lebensgeschichte hervorhebt, dass »der Professor Kant« ihren Großvater »immer freundlich gegrüßt habe« (MLGI, 6),44 entscheidend ist wie später auch bei Heyse nicht zwingend der direkte Kontakt, sondern ein weitreichendes loses und auch enges berufsförderndes Netzwerk.45 Berufs44 Wie auch Heyse betont die Autobiografin fortwährend ihre Teilhabe an einem prominenten Netzwerk (vgl. hierzu auch: Marci-Boehncke, Fanny Lewald, S. 125). Hierzu kann auch der Kontakt zu Ottilie von Goethe gezählt werden: »[D]er Gedanke, der Schwiegertochter Goethes, einer Frau zu begegnen, die den Gewaltigen durch lange Jahre an jedem Tage gesehen, ihm so nahegestanden hatte, so manches von ihm zu sagen wissen mußte, [ergriff und erhob] mich beinahe ebenso […], als der erste ferne Blick auf Rom« (RT, 46). Vgl. hierzu auch: Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 25; Hoffmann, Das Mädchen mit dem Jungenkopf, S. 9. 45 Die Erzählerin zitiert aus Kants Vom Charakter des Geschlechts und erläutert, dass ihr diese Schrift fortan »eine große Abneigung gegen die sogenannte schwache Weiblichkeit [gab]«. Bemerkenswert ist allerdings, dass die autobiografische Figur für ihre Entscheidung gegen eine Versorgungsehe die »affektvolle Beredtheit« nutzt und damit »den Mann« respektive ihren Vater »entwaffnet« (MLGI, 184; Kant, Der Charakter des Geschlechts, FA, I. Abt., Bd. 7, S. 303-311). Lewald-Stahr zitiert für ihr autobiografisches Projekt die gewählte Passage aus Kants Vom Charakter des Geschlechts sorgfältig. Ebenso sorgfältig zitiert sie auch Stellen, die sie »einmal irgendwo […] gelesen« habe (MLGI, 199). Die angeführte Rezeptionsangabe ist als captatio benevolentiae zu verstehen. Ludwig Georgs Beobachtung, dass
156
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
und erfolgsentscheidend ist, wie auch für die Entscheidungsmacht, demnach primär die Erkenntnisfähigkeit und nicht ausschließlich der Bildungs zugang. Somit schließt die Erzählerin die Passage eben nicht mit der Tatsache, dass Männer ihr weiterbildende Werke vermittelt hätten, sondern mit einer wissensverwaltenden, archivarischen Praxis und dem daraus resultierenden Postulat gleichberechtigter Bildungsmöglichkeiten. Die Auto biografin plädiert für eine »nötige Reform in den Berufsverhältnissen der Frauen« (MLGII, 142, vgl. MLGIII, 116 f., 168), die eine semiprofessionelle Autodidaktik ersetzen müsse: Ich besitze noch einen Band Exzerpte aus jener Zeit, der mir die Erinnerung an meinen damaligen Zustand lebhaft in das Gedächtnis ruft. Ich las, was ich dringend habhaft werden konnte, ich war unersättlich im Aufnehmen, aber glücklicherweise auch im Nachdenken des Aufgenommenen. Jeder Pfad des Geistes, der sich vor mir eröffnete, lockte mich, ihn zu verfolgen, jeder Blick in die mir fremden Gebiete des Lebens reizte mich, sie kennenzulernen. Ich hätte alles auf einmal erfassen mögen, ich dachte mich und alle meine Freunde in die wunderbarsten Lebenslagen hinein, ich sann und dichtete unaufhörlich […]. Es macht mir dabei einen seltsamen Eindruck, an jenen Exzerpten zu ersehen, aus welch kleinen vereinzelten Bruchstücken sich mein Wissen und meine Einsicht gebildet, aus wie vielen unscheinbaren und von den verschiedensten Ecken und Enden mühsam herbeigeholten Stiftchen sich mein Lebensmosaik zusammengesetzt und zu einem selbständigen Ganzen abgerundet hat; und es drängt sich mir das alte Bedauern darüber auf, daß man den Frauen auch heute noch jene gründliche, wissenschaftliche Schulbildung, jene Erziehung für ihren Beruf versagt, welche man für die Männer aller Stände und Berufstätigkeiten mehr oder weniger als eine unerläßliche Notwendigkeit betrachtet. […] Dies ist eine Geringschätzung der Frauen, ein völliges Verkennen ihrer Stellung und ihrer Aufgabe innerhalb der menschlichen Gesellschaft, von welcher dafür später auch niemand schwerer zu leiden hat, als diejenigen, welche sich dieser Sünde gegen die Frauen und gegen das menschliche Geschlecht schuldig machen. […] Was von den eigentlichen Kenntnissen gilt, das gilt natürlich in den meisten Fällen auch von der Lektüre der Mädchen, die wenigstens für Stahr »offenbar zu den Frauen gehörte, die nur aus dem Gedächtnis citieren« und sich somit »Wortlaut« und »Sinn[ ] […] völlig verschob«, kann für das zu Lebzeiten herausgegebene autobiografische Projekt nicht bestätigt werden (Geiger, Einleitung, S. 7). Vgl. zur Rezeption ausgewählter Werke Kants in Lewald-Stahrs Autobiografie auch exemplarisch: Whittle und Pinfold, Voices of Rebellion, S. 86-89.
157
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
die geistige Entwicklung und für das Heranreifen derselben etwas leisten und ihnen den Weg bahnen könnte, sehen, denken und urteilen zu lernen (MLGII, 68; vgl. hierzu auch: MLGII, 139 f.). Die genannte triadische Klimax »sehen, denken und urteilen« benennt exakt jene Techniken, über die Lewald-Stahr maßgeblich verfügt und über die sie ihre Entscheidenskompetenz definiert. Ausschlaggebender Katalysator ist das stetig empfundene »Unglück« über die eigene Situation. In diesem Zusammenhang wird Marschallin von Raës’ Aussage, in der sie ein empfundenes Unglück zum entscheidenden Movens für gesellschaftliche Veränderungsprozesse ernennt, für Lewald-Stahr zur Lebensregel, denn: »›Unglück gibt Entschlossenheit und Mut‹« (MLGII, 233; vgl. auch: MLGII, 139; MLGIII, 8, 13, 19, 71). Das ehemals erfahrene Unglück vergegenwärtigt sich die Erzählerin, indem sie ehemalige Tagebücher, Manuskripte und Haushaltsbücher auswertet, um anschließend ihr autobiografisches Projekt an diese entscheidungsrelevanten Dokumente zu knüpfen. Das eklatante Unglück weicht erst nach der hier proleptisch annotierten Berufsentscheidung dem Glück,46 das Lewald-Stahr als Schriftstellerin erfährt, und so resümiert die Erzählerin rückblickend: Ich kann es nicht oft genug wiederholen, welch ein Glück das Arbeiten mir war, welch ein Genuss das Schaffen mir gewährte. Wie mit einem Zauberschlage entrückte der Moment, in welchem ich mich an den Schreibtisch setzte und meine Hefte zur Hand nahm, mich allen meinen Sorgen und Kümmernissen. Ich war froh, frei, mächtig und unverzagt, ich hatte fortwährend ein Gefühl meiner Kraft und auch ein gewisses Gefühl des Gelingens […]. [V]on dem Augenblicke an, in welchem mein Vater mir das Recht zuerkannt, mein Denken im Worte niederzulegen 46 Für die autobiografischen Heiratsentscheidungen ist der Ausdruck ›Unglück‹ ebenfalls eine zentrale Vokabel, da diese mit einer erzwungenen Konvenienzehe gleichgesetzt wird (vgl. hierzu auch: MLGI, 138, 142, 207; MLGII, 149, 183, 185, 191, 199, 233; MLGIII, 55; RT, 137). ›Glückseligkeit‹ löst demgegenüber die freie Entscheidung für eine Liebesehe aus. Beachtenswert ist Stefanie Arends Studie Glückseligkeit, da sie ebendort darlegt, dass es sich um einen wirkmächtigen »›Schlüsselbegriff‹« für die Aufklärung handle (Arend, Glückseligkeit, S. 16). Zudem erläutert sie, dass bereits Seneca ›Glückseligkeit‹ und ›Entscheiden‹ verbunden habe, indem er die »recta ratio« befürworte, da »[d]iese […] sich dadurch aus[zeichnet], daß sie zu jeder Zeit, in jeder Situation das angemessene Urteil fällt« (ebd., S. 44; vgl. ebd., S. 46). In Lewald-Stahrs Autobiografie wird der ›aufgeklärte Vernunftmensch‹ als vorbildhaft dargestellt und dennoch zeigen die Entscheidensprozesse, dass erst ein plötzlicher Affekt den ausschlaggebenden Mut auslöst, eine Entscheidung zu treffen oder auszusitzen.
158
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
und der Öffentlichkeit zu übergeben, habe ich von ihm nie auch nur den leisesten Angriff gegen die von mir ausgesprochenen Überzeugungen, nie eine Mißbilligung über Meinungen und Schilderungen gehört […]. Von der Stunde ab, in welcher er mich als freie Persönlichkeit seiner natürlichen Zucht entlassen, hat er meine Freiheit und mein Recht auf Selbstbestimmung respektiert (MLGIII, 35 f.).47 Gemäß ihrer Berufung besitzt die literarische Tätigkeit nicht allein vitalisie rende,48 sondern geradezu magische Wirkung, wenn die Erzählerin diese mit einem »Zauberschlage« vergleicht. Die gewählte Metapher erinnert an die »märchenhafte Glückswendung« (JBV, 185; vgl. JBI-JBIV, 172, JBP, 169), mit der Heyse seine Berufung nach München umschreibt. Der autobiografische Berufsweg wird in beiden Fallbeispielen mit märchenhaften Elementen versehen, so können sie ihre Autorfiguren einmal mehr als Ausnahmeerscheinungen stilisieren, die sich aufgrund außergewöhnlicher Fähigkeiten gegen alle Widerstände bewähren und verwirklichen. Lewald-Stahr gelingt es, sich mit ihrer Berufs- und Eheentscheidung zu emanzipieren, indem sie die Entschlüsse des Vaters nicht als Endpunkt, sondern als Beginn des Entscheidensprozesses versteht. Sie selbst beschließt den Entscheidensprozess und erwirkt sich somit »Freiheit und […] Recht auf Selbstbestimmung«, eine »natürliche[ ] Zucht« obliegt fortan ausschließlich ihr allein (MLGIII, 36). Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass wie auch bei ihrer Eheentscheidung das ›Natürliche‹ fokussiert wird. Mit dieser Schwerpunktsetzung legt die Autobiografin dar, dass Entscheidens47 Zuvor liest die autobiografische Figur ihrer todkranken Mutter aus ihrem »ferti ge[n] Manuskript vor« (MLGIII, 34 f. Vgl. ebd., 36). Wie später auch bei Heyse werden Todesfälle stets an Werk- und Erfolgserzählungen geknüpft, die in einem ›gerade noch‹ Erzählmodus dargeboten werden. Fokussiert wird dadurch, dass sich die literarische Arbeit noch rechtzeitig erfolgreich bewährt. 48 Das demonstrierte Entscheidensbewusstsein bringt der autobiografischen Figur das erwünschte Ansehen und den ersehnten Respekt ein und zugleich werden die Entscheidungen als Zumutung und kräftezehrende Bewährungsprobe dargestellt: »Ich liebte es nicht, mich über die äußeren Unbequemlichkeiten und Entbehrungen zu beschweren, welche ich infolge meines Entschlusses zu tragen hatte […]. Wo man sich gewöhnt hat, an die Kraft eines Menschen zu glauben und auf dieselbe zu vertrauen, fordert man von ihm mit großem Gleichmut, was er nur mit höchster Anstrengung zu leisten imstande ist […]: Der hat Kraft, der kann, was er will! Aber niemand fragt, wieviel Kraft wir aufgewendet, wie müde man uns gemacht hat. In gewissem Sinne ging es mir ebenso« (MLGIII, 233 f.). Demnach erinnert sich die Erzählerin, wie sie sich in den prekärsten Lebenslagen verboten habe, ihre Entscheidungen in Frage zu stellen oder sich zu beklagen und sich stattdessen auferlegt habe, sich fortwährend an der gewonnenen Entscheidungsmacht zu erfreuen (MLGIII, 234-236).
159
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
befugnis ein allgemeines ›Naturrecht‹ darstellt, das Frauen ebenso wie Männern zusteht und das sich erst mit einer neuen, gleichberechtigten Entscheidenskultur etablieren könne: [E]in Frauenzimmer ist sehr übel dran, wenn es im Leben einen andern Weg zu gehen hat als den von ihres Vaters Tisch in ihres Mannes Haus. Wie kann es aber anders sein? Das Staatsgesetz, das allgemeine Recht erklären die Frauen ein für allemal als unmündig, wie sollte der einzelne nicht geneigt sein, ein gleiches zu tun. Die Familie erzieht nach überkommenen Grundsätzen die Frau zur Abhängigkeit und Unterordnung, und sie tut auf ihre Weise recht daran, denn die Frau ist unter uns so gestellt, daß ihr keine Veranlassung zu selbständigem Handeln und Entscheiden gegeben ist – vorausgesetzt, daß sie immer das Glück hat, Männer zu finden, die für sie denken und sorgen. […] [S]o mag sie ihr Leben hindurch in sanfter Abhängigkeit sich glücklich fühlen, mag vor jeder eigenen Entscheidung und vor fremdem Beraten durch die Rücksicht gesichert sein, daß sie ja ihren natürlichen Berater habe. […] Sie mag dann als glückliche uralte Matrone aus der Welt gehen, und der Prediger, der ihr die Leichenrede hält, mag von ihr sagen, sie habe durch ihr ganzes Leben sich das reine sanfte gehorsame Herz eines Kindes bewahrt. Aber die Medaille hat zwei Seiten – wenden wir sie um! Nicht jeder Frau ist es gegeben, in Verhältnissen aufzuwachsen, die sie aller Sorge um ihre Zukunft entheben. […] Oder habt Ihr noch nicht dagestanden vor der weiblichen Hilflosigkeit, die sich nicht zu raten, sich und den Ihren nicht zu helfen wußte! Die mit herabgesunkenen Armen, mit gefalteten Händen den Blick zu Euch erhob, als ob ihr allmächtig wäret, als ob Ihr mit Eurem Willen und Eurem Rate nun mit einem Male ihre Schwäche in Stärke, ihre Zaghaftigkeit in Entschlossenheit, ihre Unkenntnis in Einsicht und Umsicht verwandeln könntet? […] Hättet Ihr Euch nicht gern des Rater-Amtes und der daraus erwachsenen Verantwortung enthoben gesehen? […] Wenn dem so ist, warum mißfällt es Euch, warum wartet Ihr den Erfolg nicht ab, warum scheltet Ihr es, wenn ein Frauenzimmer den Mut und den Beruf fühlt, seine eigene Straße zu gehen […]. Ich bin meiner Anlage nach keine Natur, die es nötig hat, sich auf andere zu lehnen oder zu stützen, und doch habe ich den Unsegen an mir selbst erprobt, den unsere Erziehung zur Unmündigkeit über uns verhängt. [ ] Solang ich mich zu erinnern vermag, habe ich immer ziemlich bestimmt gewußt, was ich wollte, und das Ziel nicht leicht aus dem Auge verloren, dem ich zustrebte. Ich hatte unabhängig sein wollen, nun war ich es; aber ich sah, daß ein großer Teil meiner Bekannten sich darüber wunderte, 160
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
daß manche den Entschluß mißbilligten, den ich gefaßt hatte; und statt sie sich und ihren Ansichten ruhig zu überlassen und meiner Wege zu gehen, woran mich niemand hindern konnte, wollte ich jeden Einzelnen von der Richtigkeit und Notwendigkeit meiner Handlungsweise überzeugen […]. Ich war wie die Matrosen, die mitten in den wirklichen Gefahren eines Sturmes guten Mutes sind und sich daneben in ruhigen Stunden vor dem Seegespenste fürchten (MLGIII, 256 f.).49 Anders als in Heyses, Fontanes und Schnitzlers Autobiografien wird ›Entscheiden‹ nicht ausschließlich zur nachruhmversprechenden Lebenskrise, sondern auch zum gesellschaftsnotwendigen, sozialreformatorischen Politikum. Die eigene Berufs- und Eheentscheidung dient der Autobiografin unentwegt auf asymmetrische Bildungsmöglichkeiten hinzuweisen, die eine gleichberechtigte Lebensgemeinschaft unmöglich machen. Die zuletzt zitierte Passage erinnert mitsamt den rhetorischen Fragen und Appellen an eine Predigt und verdeutlicht, dass Lewald-Stahr ihre Autobiografie durchaus als einen Ratgeber konzipiert, der Direktiven für eine neue Entscheidenskultur bieten mag.50 Während Heyse später direkt und indirekt seine berufliche Weisung von Dritten erfahren und bestätigt haben möchte, seine Entscheidungen, sich geradezu als ›Kindmann‹ stilisierend, externalisiert, spricht sich Lewald-Stahr explizit gegen die unmündige, gesellschaftlich honorierte ›Kindfrau‹ (vgl. MLGII, 68) aus und fordert demgegenüber ein unbequemes,51 selbstbestimmtes Entscheidensbewusstsein: Es ist, um gar keinem Zweifel über meine Forderung Raum zu lassen, es ist die Emanzipation der Frau, die ich für uns begehre; – jene Emanzipation, die ich für mich selbst erstrebt und errungen habe, die Emanzipation zur Arbeit, ernster Arbeit (MLGII, 69).
49 Womöglich verweist Lewald-Stahr hier auf Heinrich Heines zweiteiligen Zyklus Die Nordsee. Auch dort bleiben die Aussagen primär auf den Sprecher bezogen, das Meer steht mit seiner spiegelnden Oberfläche und Tiefendimension symbolisch für eine konzentrierte Selbstreflexion (vgl. Heine, Die Nordsee 1825-1826, DA, Bd. 11, S. 356-427). Entscheidend ist, dass in Heines Zyklus das Träumen als ein Erwachen sowie konturiertes Sehen dargestellt wird, ebenso erweisen sich die beruflichen Träume der autobiografischen Figur als ein sich bewahrheitendes und prophetisches Sehen. 50 Deutlich wird dies, wenn die Erzählerin abschließend darlegt: »[D]as […] Schöne und das Ermutigende an der Freiheit [ist], daß niemand sie für sich allein erkämpft« (MLGIII, 259). 51 Wenig später zitiert Lewald-Stahr ausdrücklich die ›Scheidemünze‹ als bequeme Entscheidenshilfe.
161
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Sie weiß die Wirkkraft der inneren Stimme zu nutzen und muss nicht wie Heyse erst auf diese hingewiesen werden (vgl. MLGI, 139; MLGIII, 99, 156). Das strukturierte Bildungsdefizit, das Frauen gesellschaftspolitisch obliegt, wird dabei zu einem zentralen Dreh- und Angelpunkt. Dementsprechend ruht sich die autobiografische Figur nicht auf ihrem Talent aus, sondern sucht geflissentlich Vorbildfiguren, darauf konzentriert, autodidaktisch ihre literarische, gewissenhaft bibliophile Tätigkeit zu professionalisieren: Ein Teil meines geringen Taschengeldes ging darauf hin, das schönste Papier und die feinsten Deckel für meine Hefte zu beschaffen, und ich wüßte nicht, daß ich in der Zeit irgendeine liebere Beschäftigung gekannt hätte, als deutsche Aufsätze zu schreiben (MLGI, 125, vgl. hierzu auch: MLGII, 149; MLGIII, 123, 293). Erst eine professionalisierte Tätigkeit, die eine Schulbildung und ein anschließendes philologisches Studium ermöglichen, würden gleichberechtigte Arbeitsbedingungen schaffen, weshalb Lewald-Stahr als autodidaktische poeta philologa explizit literarisches als ernstes Arbeiten konzipiert und darauf hinweist,52 dass Frauen als Vorbilder aufgrund der reglementierten Ausbildungsmöglichkeiten bislang nicht existieren beziehungsweise existieren können: Es galt, wie später mein Mann das genannt hat, ›als ehrlicher Arbeiter mit dem Schurzfell zu arbeiten‹, es galt, kein vornehmer Dilettant, kein gefühlsseliger sich mit dem ungefähren Anschein der Dinge begnügender Blaustrumpf zu sein, sondern ernst zu arbeiten, wie der Jurist, der Philologe, wie jeder Mann es in seinem Fache tun mußte, wo etwas Ordentliches geleistet werden sollte (MLGIII, 124; vgl. auch: MLGIII, 17 f.). Daran anschließend legt die Autobiografin dar, dass Schriftstellerinnen bislang der »rechte[ ] freudige[ ] Ernst des Schaffens« abgesprochen werde, weshalb sie abermals darauf zurück[kommt], für Frauen jene Emanzipation zu verlangen, die ich in diesen Blättern schon vielfach für uns begehrt: die Emanzipation zu ernster Pflichterfüllung, zu ernster Verantwortung und damit zu der Gleichberechtigung und Gleichstellung, welche ernste Arbeit unter ernsten Arbeitern dem Einzelnen erwerben muß (MLGIII, 169).
52 Vgl. zur Figur des poeta philologus Mark-Georg Dehrmanns und Alexander Nebrigs Sammelband: Dehrmann und Nebrig, Poeta philologus.
162
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
Die Emanzipationsfähigkeit wird durchweg an die vorgestellte Urteilskraft, die einem ausgeprägten Entscheidensbewusstsein entspringt, gebunden. Daher gelinge es nur mit dieser, als gleichberechtigtes Mitglied, innerhalb einer Gruppe studierter Schriftsteller, akzeptiert zu werden (vgl. MLGIII, 182 f., 201, 210). Ein ausgeprägtes Entscheidensbewusstsein deklariert die Autobiografin als ein gesellschaftspolitisches Desiderat und gleichermaßen als eine kulturkonstitutive Notwendigkeit. Lewald-Stahr legt dar, dass es der autobiografischen Figur erst mit der getroffenen Ehe- und Berufsentscheidung gelungen sei, fortan von ihrem Vater als ebenbürtige Entscheiderin wahrgenommen zu werden (vgl. MLGIII, 226, 228). Das emanzipatorische Entscheidungsmoment wäre jedoch ohne die gewissenhafte, selbstarchivarische Buchführung und -konzeption des eigenen Lebens sowie die bibliophilen, textkritischen Praktiken undenkbar, da diese die notwendige Urteilskraft überhaupt erst schulen, und mit ihnen kann »der Moment der Entscheidung […] ex post als solcher identifiziert werden«.53 Die bibliophile Lebenspraxis zeichnet, gemäß der Erzählerin, die auto biografische Figur geradewegs als eine gewissenhafte und disziplinierte Musterschülerin aus, denn diese, so »bemerkt« die Erzählerin »beiläufig«, habe ihr Tagebuch »– der guten Ulrich’schen Schulordnung getreu – hübsch in blaues Deckelpapier eingenäht und mit dem festgenähten reglementsmäßigen Löschblatt versehen« (MLGI, 176, vgl. auch: MLGI, 86, 107; MLGII, 149; MLGIII, 16).54 Ein Vergleich dieser Passage mit Lewald-Stahrs hinterlassenen Manuskripten zeigt rasch die bevorzugte Tendenz, literarische und auch autobiografische Projekte bereits früh in Buchform zu konzipieren.55 Geschriebenes wird nicht schlicht in Form gebracht, sondern 53 In der zitierten Passage erläutert Stollberg-Rilinger, dass Entscheiden und Entscheidungsmomente stets an retrospektive, rekonstruktive Praktiken gebunden sind (Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens, S. 633). Allerdings mag sich diese Beobachtung primär auf erzählte Entscheidensprozesse beziehen, da sonst ›Entscheiden‹ ausschließlich retrospektiv und niemals faktisch möglich wäre. 54 Lewald-Stahr archiviert und ordnet ihre Manuskripte und Briefschaften ganz im Stile Goethes – dem erprobten Archivar. Hahn schreibt zu Goethes Ordnungspraxis: »Doch welcher Ordnung gehorchen Handschriften? Dem Alphabet oder dem Kalender? Goethe archivierte die Briefe an ihn zusammen mit seinen Briefkonzepten chronologisch in Quartalheften« (Hahn, »Weiber verstehen alles à la lettre«, S. 22; vgl. auch: Schmid, Goethes Briefregistratur, S. 110). 55 In Lewald-Stahrs archiviertem Nachlass befindet sich ein besonderes Exemplar, dass diese bibliophile Profession dokumentiert, nämlich ein »Sitten-Censurbuch für Adolf Stahr geführt von Fanny Lewald in Berlin vom 25. October 1854 bis Ende April 55«. Vermerkt wurden darin die folgenden Kategorien: »Fleiß«, »Betragen«, »besonderes Lob«. Häufig erhält Stahr das Prädikat »mußterhaft«. Es sind ineinander gelegte Blätter in einem geradezu winzigen Format. Die im GSA Weimar
163
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
die eigenen Pläne und Widerfahrnisse werden in einem auf Dauerhaftigkeit angelegten Medium konserviert, und so vermerkt die Autobiografin, dass »Exzerpt[ ]- und Notizbuch[zitate]« das »Verdienst der Ursprünglichkeit haben« (MLGII, 27). En passant vermitteln diese selbstarchivarischen Praktiken die prozessuale Entwicklung von einer privaten, laienhaften Bibliophilie hin zu einer professionellen Buchgestaltung. Sodass die Erzählerin ihre Tagebuchaufzeichnungen schon bald zu einer zielgerichteten Tätigkeit und »Pflichterfüllung« erklärt (MLGI, 177), die womöglich archivwürdige Aufzeichnungen und kein gängiges »Frauentagebuch« hervorbrächten. Für letztere Gattung hat Lewald-Stahr ausschließlich verschmähende Urteile übrig: »Ein frohes, fröhliches, gesundes Frauentagebuch ist mir nie vorgekommen; sie waren alle nichts nutz und wie das meine zu nichts weiterem gut, als den Ofen damit zu heizen« (MLGI, 177). Relativiert wird die ausschließlich pejorative Selbstbewertung der eigenen Werke dadurch, dass ihr Tagebuch gerade nicht dazu dient den »Ofen« zu versorgen, sondern den Buchmarkt und das Interesse an etwaigen Hinterlassenschaften von ihr anzuheizen. Gerade die Autobiografie des selbstgewählten Schutzpatrons Goethe zeigt exemplarisch, dass gezielt gesetzte Kassationserzählungen werkkonstitutive und nachruhmsichernde Wirkmacht haben können. Dementsprechend vergisst die Autobiografin nicht die Erzählgegenwart und ihre autobiografischen, selbstarchivarischen Praktiken zu erwähnen, mithilfe der Klammer als Parenthese zu markieren und ihre Manuskripte als auratische Dokumente zu inszenieren: »(die Blätter, die ich zum Andenken unter meinen Reise-Erinnerungen aufbewahrt, liegen, während ich dies schreibe, fahl und vergilbt auf meinem Tische)« (MLGII, 30).56 Bald gesellt sich zum Schutzpatron Goethe die Schutzpatronin Rahel Varnhagen von Ense: Die bereits verstorbene Schriftstellerin wird wie bei vierten Notizen und Skizzen liegen gleichfalls in gebundener Buchform vor (vgl. Lewald-Stahr, »Sitten-Censurbuch« 1854/55, 1858, SBB, Nachlass Lewald-Stahr: Kasten 3, Korrespondenz, Briefe von Fanny Lewald an Adolf Stahr, 1851-1852 und 1855-1864, Nr. 49-62, Nr. 63, 10 Bl.). 56 Punktuell werden die Manuskripte personifiziert und zu Zeitzeugen: »Die übrigen Blätter, nach denen ich jetzt zum Teil die Erlebnisse meiner Leidensjahre aufzeichne, sind durchweg ernst und traurig und haben mich seltsam angeschaut, als ich sie jetzt wieder einmal aus ihrem alten Schiebfache hervorgeholt habe« (MLGII, 152). Die Schreibgegenwart wird wiederholt dargeboten: »Diese Situation, die ich damals nach der Natur schilderte, weil mir mit einem Male der Gedanke durch den Kopf schoß, ich müsse eine Erzählung schreiben, kopiere ich in diesem Augenblicke aus dem Buche« (MLGII, 223). Durchweg hebt die Autobiografin den bewahrend und selektierenden Umgang mit ihren Manuskripten hervor, sodass ihre Autobiografie zugleich eine Werkbiografie ist, die als Nachlasserzählung dargeboten wird.
164
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
Heyse eine entscheidenskonstitutive Figur. Allerdings konzentriert sich Lewald-Stahr explizit auf ihre Werke und nicht wie Heyse ausschließlich auf ihr netzwerkbildendes Potenzial (vgl. MLGII, 156; MLGIII, 201 f.).57 Goethes und Rahels Werke ermöglichen der autobiografischen Figur, eine eigene, trostspendende Kunstreligion zu entwerfen. Die literarischen Texte dienen ihr durchweg als richtungsweisende Ratgeber: »[u]nd wie der Gläubige die Bibel aufschlägt, um Rat und Trost und Beruhigung aus ihr zu schöpfen, so griff ich zu den Briefen Rahels« (MLGII, 157). Der Umgang mit Varnhagens Briefen greift das Bibelstechen als Entscheidenspraxis auf, bezeichnend ist, dass abermals Briefe als eine Entscheidungsressource klassifiziert werden und somit jene Gattung, die für die finale Berufs entscheidung zentral sein wird.58 Später legt die Erzählerin zudem dar, dass ihre autobiografische Figur das Schreiben als ein »Glaubensbekenntnis« (MLGIII, 13, vgl. auch MLGIII, 27) empfunden habe und ihre schriftstellerische Arbeit sie »Tag und Nacht« nicht nur beschäftigt, sondern ihre »ganze Seele […] entflammt« (MLGIII, 14), sie bis zur Selbstaufgabe ge arbeitet habe, sodass sie mitunter von ihrer Mutter »neckend« als »ihr[ ] arme[r] Poet« bezeichnet worden sei (MLGIII, 14). Lewald-Stahr schildert die berufliche Tätigkeit nach ihren untätigen Leidensjahren als ein entscheidendes Erweckungsmoment und knüpft an pietistische Autobiografie modelle an.59 Zugleich wird weiterhin besonders die Autorfigur Goethe durchweg als Schutzpatron konzipiert, und seine Werke sind demnach hilfreiche Entscheidungsressourcen. Dies verdeutlicht eine Passage, in der LewaldStahrs Vater die autobiografische Figur dazu einlädt, ihn auf eine Dienstreise zu begleiten. Ein vormals getätigter Ausspruch des Vaters wird direkt als prophetische Weisung ausgelegt und so wird an die zitierte Figurenrede – »›Fanny soll einmal noch mehr von der Welt zu sehen bekommen als ihr jetzt!‹« – eine Passage angeschlossen, in der die autobio57 Marci-Boehnckes Eindruck, dass die Autobiografin »ihrer Verwandten Rahel Varnhagen« eine »auffällig […] geringe Rolle« beimesse, kann hier nicht geteilt werden (Marci-Boehncke, Fanny Lewald, S. 135). 58 Als Vorbild dient wahrscheinlich die Gartenszene bei Augustinus. 59 Lewald-Stahr verweist mit dem Ausdruck ›Leidensjahre‹ nochmals auf die ungleichen Bildungschancen, dies verdeutlicht besonders eine komparatistische Lektüre: So vergleicht sich auch Heyse mit der diegetischen Figur Wilhelm Meister und beschließt geradezu unbekümmert, nämlich protegiert durch ein Netzwerk erfolgreicher Männer, seine »Lehrjahre«, ohne dabei die eigene privilegierte Position zu reflektieren (vgl. JBV, 119). Vgl. zu pietistischen Lebenserzählungen exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 28, 59, 145-147, 157 f., 161 f.; Goldmann, Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis, S. 247-249.
165
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
grafische Figur mit Wilhelm Meister parallelisiert (vgl. RT, 179),60 die bevorstehende Reise als ein zukunftsweisendes, nämlich berufsentscheidendes Ereignis gerahmt und bereits proleptisch an die zukünftige Eheentscheidung geknüpft wird: Indes das Wort war keine Zusage gewesen, und sooft ich auch, am Fenster sitzend, mir bei winterlichen Sonnenuntergängen den rötlich schimmernden Schnee der Dächer betrachtete und mir das Alpenglühen auf den Gletschern vorgestellt, sooft ich mir Mignons »Dahin, dahin!« vordeklamiert und so begeistert ich oftmals für mich in der Stille beim Nähen die Worte der Jungfrau von Orleans von »der prächtig strömenden Loire« wiederholt hatte: auf eine Reise für mich zu hoffen, eine Reise mir so nahe zu glauben, war mir niemals eingefallen. […] Und ein schön Stück Welt und Leben hat jene erste Reise mir erschlossen, den Weg gebahnt hat sie mir für alle Zukunft – wenn schon einen Weg, den weder mein Vater noch ich damals für mich im Auge haben konnten! […] Meine Schul- und Jugendfreundinnen […] sagten mir, mein Vater nähme mich mit, weil ich Schriftstellerin werden sollte! Wie außerordentlich dies gegen meines Vaters damalige Wünsche für mich war oder wie das eigentlich angefangen werden würde, mich zur Schriftstellerin zu machen, das wußten sie freilich so wenig als ich selbst. […] Wie wir zu Hause Abschied nahmen, wie wir nach der Post fuhren, das beschreibt sich nicht. Aber ebensowenig beschreiben sich die Seligkeit und der Stolz, mit denen ich in dem Cabriolet der Schnellpost an des geliebten Vaters Seite durch die Straßen fuhr. […] Und dann der Triumph, an den Häusern der beiden Tanten vorbeizufahren, die mich durchaus verheiraten wollten, und mir dabei zu sagen: Ich heirate doch nicht, und niemals, wenn ich es nicht will! […] Mein Vater gab mir die Hand. »Nun Fanny?« sagte er. Ich küßte ihm die Hand, und er selbst führte mich hinaus in die Welt, hinaus in das Leben, das mich auf den weitesten Wegen hinbringen sollte an ein mich beglückendes Ziel (MLGI, 265-267, vgl. hierzu auch: MLGII, 12). Zunächst werden mit der Fensterszene lose zwei prominente Entscheidungsszenen referenziert: (1) So stehen in Goethes Die Leiden des jungen Werthers Lotte und Werther an einem Fenster, indem Lotte den Namen »Klopstock!« ausruft, ist die Liebe zwischen beiden entschieden artikuliert und (2) mit Mignons Figurenrede wird Wilhelm Meister als bestimmendes 60 Vgl. zu Lewald-Stahrs ›Bildungsromankonzept‹ exemplarisch: Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 210 f.
166
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
Referenzmodell aufgerufen, an das geradezu unentschiedene Verhältnis zwischen Mignon und Wilhelm erinnert und prophetisch die Wiedergeburt als Dichterin in Italien als gemeinsamer, intertextueller sowie innerfamiliärer Weg annotiert.61 Die erste Reise fungiert als Bildungsreise und folgt den Spuren des auserwählten Schutzpatrons und so vermerkt die Erzählerin zur Ankunft in der Archivmetropole Weimar:62 »Goethe war erst wenige Wochen tot. Wir standen in Betrachtung vor seinem Hause, und mein Vater war auffallend gerührt« (MLGII, 14). Goethes Tod fällt somit just mit Lewald-Stahrs ›Geburt‹ als Autorin zusammen. Nicht zufällig erlebt die autobiografische Figur diesen Moment mit ihrem Vater, der lediglich in Entscheidungsmomenten emotional reagiert. Göhler wird später die Ankunft in Weimar proleptisch als ein signifikantes Ereignis stilisieren: »Auf dieser [Reise] betrat sie zum ersten Male Weimars Boden und weilte in stiller Andacht an dem Hause Goethes, der für ihr ferneres Leben ihr Leit-
61 Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, FA, I. Abt, Bd. 8, S. 53; Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, FA, I. Abt, Bd. 9, S. 503. 62 Friedrich Gundolf konzipiert in seiner Goethe-Biografie die Stadt Weimar zu einem Entscheidensort und 1775 zu einem wegweisenden Entscheidensjahr, wenn er im Kapitel Weimar darlegt: »Die[ ] schicksalhaften Augenblicke von Goethes Übergang, mit all ihren Schwingungen verfangen, in Sprache unmittelbar wiedergegeben, besitzen wir in dem kurzen Reisetagebuch vom 30. Oktober 1775. […] Dieses Reisetagebuch […] ist […] einzig unter den Zeugnissen seines Lebens, daß es uns seine entscheidende Krisis im Moment ihres Vollzugs als Stimmung vergegenwärtigt, wie seine Briefe uns sonst seine augenblicklichen Stimmungen wiedergeben, doch begreiflicherweise sind darunter keine Entscheidungen über sein Leben – denn in diesen selbst war er schweigsam. Hier lauschen wir einmal dem Monolog des welthistorischen Menschen in einer für die Geistesgeschichte Deutschlands verhängnisvollen Entscheidung. Das Merkwürdige dabei ist die vollkommene Heiligkeit Goethes bei dem unruhigsten Wühlen, beim heftigsten Gedräng der Empfindungen und Eindrücke: vollkommnes Bewußtsein der Tragweite des Augenblicks bei dumpfem Gefühl des irrationalen Schicksals und der Kräfte. Kein Dokument kann besser den Übergang vom Werther-Goethe zum Weimarer Goethe bekunden als dies Tagebuch« (Gundolf, Goethe, S. 235 f.). Gundolf verfährt als Biograf ähnlich wie die Autobiografen, wenn es darum geht, einen Entscheidensprozess darzustellen: (1) Er betont den exklusiven Wert eines Archivales, (2) die ›Gefühle‹ als entscheidenskonstitutives Element und (3) den kulturhistorischen Wert einer Krisenerzählung. Vgl. zum Aspekt des ›Irrationalen‹: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 7-10. Philipp Redl konzipiert wiederum Gundolfs Goethe-Biografie als Entscheidungsmedium in der Krisenzeit des Ersten Weltkriegs: »Gundolfs Goethe trug ihm nicht nur einen strahlenden Namen in der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit ein, er sicherte zudem seine Beförderung ab und begünstigte seine Versetzung in die Bürotätigkeit während des Ersten Weltkrieges« (Redl, Dichtergermanisten der Moderne, S. 228).
167
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
stern werden sollte«.63 Die Reise wird allein schon durch den präsenten Schutzpatron, die auratisch-emotionale Episode in Weimar und die damit einhergehende kompositorische Motivierung zu einem wichtigen Baustein für die zukünftige Berufsentscheidung. Diese sowie auch die Eheentscheidung bleiben primär eine Familien angelegenheit. So sprechen sich Lewald-Stahrs Tante und Vetter ihr gegenüber aus: »Ich würde, wenn ich dein Vater wäre«, sagte meine Tante einmal zu mir, »dich täglich schreiben lassen.« – »Ja, was denn?« fragte ich. – »Was du wolltest. Dir ist es offenbar ein Bedürfnis, dich mitzuteilen, und du wirst dir, das habe ich oft gesehen, in der Mitteilung selbst viel klarer.« […] Ein anderes Mal sagte mein Vetter: »Ich glaube, du wirst im Leben viel zu leiden haben, denn mir kommt vor, als könntest du standhaft ertragen, und solchen Naturen schenkt’s das Schicksal nicht. Ich möchte wohl wissen, was aus dir noch einmal werden wird? Ewig Tapisserie und Strümpfe stopfen wirst du gewiß nicht.« – »Ich versichere dich, daß dies auch keineswegs mein Verlangen, sondern nur mein Los ist!« versetzte ich. – »Hast du nie Verse gemacht oder sonst gedichtet?« (MLGII, 87 f.). Die gesetzten verba dicendi verdeutlichen, dass es sich um explizit ge äußerte Talentbekundungen handelt. Außerdem wird Lewald-Stahr wiederholt unabhängig von einzelnen Familienmitgliedern ein literarisches Talent, das »Bedürfnis« literarisch tätig zu sein und eine ausgeprägte ›Standhaftigkeit‹ attestiert, damit ist das trittsichere Fundament für eine Schriftstellerlaufbahn gelegt. Als gravierende Beigabe dient ein gewisses ›Leidens potenzial‹, das die erfolgsversprechende Melange komplettiert. Diese punktuellen Hinweise, Urteile und Aussprachen verdichten sich in einem Entscheidensjahr. Wie auch in den weiteren Fallbeispielen unterscheidet Lewald-Stahr frühe, kaum zielgerichtete Versuche von ihren späteren ernsten, konzeptionellen literarischen Arbeiten und konzipiert hierfür wie auch ihre Schriftstellerkollegen und -kolleginnen in Form eines Erzählerinnenkommentars ein wegweisendes Ereignisjahr: Die Märchen und Sagen waren nicht bedeutend, erfüllten jedoch ihren Zweck, und wie sie die ersten Versuche waren, welche ich im erzählenden Dichten machte, so blieben sie auch die einzigen bis zum Jahre 1841, in welchem ich mit der bestimmten Absicht, etwas Dichterisches zu schaffen, mich wieder im Erfinden und Erzählen versuchte (MLGII, 112. Vgl. auch: MLGI, 82, 104; MLGII, 281). 63 Göhler, Einleitung, S. 14.
168
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
Bis zu diesem ›Entscheidensjahr‹ wird die autobiografische Figur – wie zuvor dargelegt – als unfähig dargestellt, omnipräsente, zukunftsweisende, prophetische Hinweise zu deuten, die den zukünftigen Beruf als Berufung ankündigen (vgl. MLGII, 149).64 Demnach wirken die Entscheidungs momente geradezu eruptiv, wenn etwa die fortwährende, scheinbar ruhige Handarbeit, die ausschließlich von Frauen ausgeführt wird, bei der autobiografischen Figur zu einer sich bahnbrechenden, verzweifelten exclamatio führt:65 Der Vater rauchte, die Mutter strickte […]. Das war ein Mal wie alle Male […]; und geradeüber in dem Hause saßen sie ebenso und daneben auch ebenso – es überfiel mich eine wahre Angst […] und [ich] brach plötzlich in den Ausruf aus: »Herr Gott! Wenn ich solch ein Dasein haben sollte, ich müßte verzweifeln!« […] Mein Vater machte mir den Vorwurf, daß ich unberechtigte Ansprüche an das Leben erhebe. […] Ich versicherte, daß ich mit meinem Ausruf in dem Augenblicke wirklich nicht an mein Los und an unser Haus gedacht hätte. Mir sei nur gegenüber dieser dumpfen Glückseligkeit das Goethe’sche Wort eingefallen: »Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an!« (MLGII, 150 f., vgl. auch: MLGIII, 62).66 Auch in dieser Situation gelingt es der autobiografischen Figur vorerst noch nicht die empfundene »Angst« zu kontextualisieren und zu deuten, dies gelingt erst mit den explizit selbstbestimmten Ehe- und Berufsentscheidungen 64 In Jacob und Wilhelm Grimms Wörterbuch findet sich der Ausdruck »Entscheidjahr, n. annus decretorius« (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Online-Version: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB& mode=Vernetzung&lemid=GE05455’XGE05455 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). 65 Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Heyses Autobiografie, denn dort vermerkt der Erzähler en passant und unaufgeregt, dass seine Mutter fortwährend stricke, während die Männer sich mit Literatur beschäftigten (vgl. JBV, 125; vgl. hierzu auch: Ebner-Eschenbach, Meine Kinderjahre, Bd. 1, S. 60). Allein in LewaldStahrs Autobiografie wird diese Rollenverteilung makrostrukturell als explizites Hindernis für Frauen erkannt und benannt. 66 Die Autobiografin lässt in entscheidenskonstitutiven Momenten die Figuren in Zitaten sprechen, die kanonischen Klassikern entstammen: So zitiert Lewald-Stahrs Bruder immer dann Schillers Wilhelm Tell, wenn er gewillt ist, eine Entscheidung zu umgehen: »Er hatte sich oftmals aus dem Staube gemacht, wenn wir uns in die Überlegungen vertieften, und sich mit den Worten des Tell entschuldigt: ›Ich kann nicht lange prüfen oder wählen, bedürft ihr meiner zu entschlossener Tat, so ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen!‹« (MLGII, 212). Entscheiden ist in Lewald-Stahrs Autobiografie fortwährend an literarische Textkenntnis und Bildung gebunden respektive durch diese erst möglich.
169
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
und in einem retrospektiven Beobachtungsmodus vollends. Hervorzuheben ist, dass auch in dieser Situation Goethe zitiert wird: Die autobiografische Figur ruft damit ihren selbsterwählten Schutzpatron auf, distanziert sich von der sie umgebenden »dumpfen Glückseligkeit« und spricht ein Gleichnis aus, das ihre spätere Berufsentscheidung vorbereitet. Diesem zufolge wird sie nicht Margaretes Schicksal, wie in Goethes Faust, teilen. Goethe wird indirekt auch zum Wächter aller intimen Pläne und Gedanken, denn: Ich fing mitten in der Familie wie ein Kind zu weinen an. Alles war gegen mich […] und ich eilte mit stürzenden Tränen auf mein Zimmer, um mir das Herz frei zu schreiben. Heinrich Simon hatte mir nämlich […] ein Buch zum Geburtstag geschenkt, mit dem Vorschlag, ein Tagebuch dar aus zu machen, und es mit einem Goethe’schen Motto eingeweiht (vgl. auch: MLGII, 229, 185). Die Erzählerin betont, dass dieses Buch ihr ermöglicht habe, sich »das Herz« – das topische Entscheidungsmedium – »frei zu schreiben« (vgl. MLGIII, 70).67 Aus ihren ehemaligen Tagebuchnotizen wählt die Erzählerin eben jene Passagen, die im Gesamtkontext entscheidenskonstitutiv fungieren. Zudem versäumt es die Erzählerin nicht, an dieser Stelle mit dem deiktischen Zeitadverb »jetzt« auf ihre gegenwärtigen, archivarischen Praktiken hinzuweisen, diese zu kommentieren, somit die szenische Schilderung als einen ›authentischen‹ Bericht zu charakterisieren, mit dem sie ihre Leidenszeit dokumentiert: Im Laufe von sechs, sieben Jahren haben sich auf diese Weise kaum hundert Seiten des kleinen Oktavbandes gefüllt, und von diesen nehmen die Gelegenheitsgedichte und die ersten Märchen, die ich erfunden, wohl mehr als die Hälfte ein. Die übrigen Blätter, nach denen ich jetzt zum Teil die Erlebnisse meiner Leidensjahre aufzeichne, sind durchweg ernst und traurig und haben mich seltsam angeschaut, als ich sie jetzt wieder einmal aus ihrem alten Schiebfache hervorgeholt habe (MLGII, 152). Wie auch bei Heyse wird ein Wissensmöbel inszeniert, in dem alle zukünftigen Archivalien verwahrt werden und mit dem die organisierte, professionalisierte Bewahrung eigener Manuskripte angezeigt wird.68 Allerdings 67 Der Ausspruch der Erzählerin »[i]ch kannte mich und das Menschenherz bereits genugsam« erinnert an Rousseaus Autobiografie, denn dort wird »je sens mon coeur« zur Maxime für das vorgelegte autobiografische Projekt. Die Befragung des Herzens ist auch in Heyses Autobiografie ein entscheidungsrelevanter Parameter. 68 Vgl. zum Prozess der ›Philologisierung‹ exemplarisch: Redl, Dichtergermanisten der Moderne, S. 10 f.
170
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
sind die Hinweise bezüglich einer professionellen Archivierung in LewaldStahrs autobiografischem Projekt deutlich dezenter formuliert als etwa bei Heyse. Dies führt unweigerlich zur Frage, ob im Falle Lewald-Stahrs Archivfiktionen vorliegen oder ein mangelndes Nachlassbewusstsein einer nicht studierten,69 autodidaktischen poeta philologa hierfür verantwortlich sein mag.70 Einer Archivfiktion widersprechen jedoch (1) Lewald-Stahrs detaillierte Buchführung, (2) ihre gewissenhafte Nachlassverwaltung für Adolf Stahr, (3) die vormalige Praxis, Drucke zu bewahren und die Manuskripte zu vernichten. Diese Verknüpfung ist für Heyses und Schnitzlers Autobiografien leichter zu ermitteln, da beide ihre Nachlassverwaltung ausführlich testierten, ihre Manuskripte teilweise bereits zu Lebzeiten einer professionellen Archivierung überantworteten und ein ausgewiesenes wissenschaftliches, editorisches und publizistisches Interesse an ihrem Nachlass bestand, das von Anna Heyse, Erich Petzet, Heinrich Spiero, Frieda Pollak und Heinrich Schnitzler organisiert wurde. Daraus folgt, dass Lewald-Stahrs Nachlass unter den hier vorgestellten Fallbeispielen den ›verstreutesten‹ bildet, was die Untersuchung, inwiefern Autobiografie und Archiv verknüpft sind, deutlich erschwert.71 Angesichts der genannten Gründe wäre es allerdings verkürzend, für Lewald-Stahrs Autobiografie von vornherein – oder für jede Textpassage – von (bloßen) Archivfiktionen auszugehen. Aussagekräftig ist Lewald-Stahrs letztgültiges Testament, das sie am 17. April 1886 in Berlin aufsetzt und dabei festhält: »Ich die verwitwete Frau Professor Fanny Mathilde Auguste Stahr geborene Lewald hebe hiermit alle früher von mir errichteten Testamente und sonstigen letzt willigen Verordnungen auf und verordne auf meinen Todesfall nunmehr«.72 Lewald-Stahr wählt für Adolf Stahr in ihrer autobiografischen Fortsetzung den Namen »Professor Stahr«. Alle Attribute, die ›Bildungsreichtum‹ markieren, werden innerhalb der Autodiegese betont (vgl. RT, 50 f., 63, 66, 69, 80 f., 90). Indem Lewald-Stahr den Titel ihres Ehemanns trägt, erfüllt sich indirekt ein früher Kindheitstraum der autobiografischen Figur (vgl. MLGI, 88-90). Die darauffolgenden Verordnungen überraschen, denn festgehalten wird dort lediglich der Teil, der explizit Großherzog Carl Alexander von 69 Vgl. hierzu: Gretz und Pethes, Archiv/Fiktionen; Sina und Spoerhase, Nachlassbewusstsein. 70 Vgl. hierzu: Dehrmann und Nebrig, Poeta philologus. 71 Vgl. zur Verstreutheit des Nachlasses: Schneider, »Meine Mutter paßt auf, daß mir Keiner was thut!«, S. 252 f. Dies wird auch in Geigers Einleitung deutlich, wenn er berichtet, wie er an Stahrs Nachlass gekommen sei (vgl. Geiger, Einleitung, S. 9 f.). 72 Lewald-Stahr, Testament der verwitweten Frau Prof. Fanny Mathilde Auguste Stahr geb. Lewald zu Berlin. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: 6.13.5001. 3666, 10 Bl.
171
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Sachsen-Weimar-Eisenach betrifft, und die zukünftige Verwahrung aus gewählter Gemälde. Unklar bleibt demnach, was mit Lewald-Stahrs literarischer Hinterlassenschaft geschehen soll.73 Bereits am 13. November 1865 teilte Stahr seinem Sohn Alwin mit, dass überlegt werde, den gemeinsamen Briefwechsel selbstbewusst einst einem prominenten Archiv zu überlassen: Unser ganzes damaliges Leben liegt so wie das spätere Leben bis zum Herbst 1852 in unsern Briefen, die herausgegeben schwerlich ihresgleichen in der intimen Literatur unseres Volkes haben dürften, in jener Literatur der leidensvollen Liebesleidenschaft, der Goethes Lottebriefe und seine Billets an Fr. v. Stein angehören. […] So aber habe ich keinen mehr auf der Welt als etwa – – – dich selbst[, den ich mit der Redaktion beauftragt haben würde] […]. Jedenfalls wirst du dafür sorgen, daß diese Briefe nicht in unrechte Hände fallen. Vielleicht übergeben wir sie auch testamentarisch irgendeiner Anstalt, z. B. dem Weimarischen Archiv, zur Aufbewahrung bis zehn oder zwanzig Jahre nach unserm Tode. – Sie vorher z u v e r n i c h t e n kann ich mich nicht entschließen. Es ist doch zu viel Schönes, zumal in Fannys Briefen, darin enthalten, woran sich noch spät nach uns viel Herzen erfreuen und stärken können.74 Jedoch wird für Lewald-Stahrs Nachlass jenes Schicksal einbrechen, das Wilhelm Dilthey als Schreckensszenario skizziert und als Hauptargument für ein Zentralarchiv anbringt, das ausschließlich literarische Vor- und Nachlässe vereint: Die Briefe bleiben nach Fanny Lewalds Tod im Familienbesitz, zunächst in den Händen der Schriftstellerin Emmi Lewald, der Ehefrau von Fannys Neffen Felix Lewald, in Berlin. Emmi Lewald schickt das ganze Konvolut 1919 nach Dresden, wo es Marta Weber, einer Doktorandin des Schweizer Germanisten Emil Ermatinger, zwei Monate für ihre Dissertation zur Verfügung steht. 13 Jahre später hat Marieluise Steinhauer, die bei Julius Petersen in Berlin promoviert, nur noch zu einem Teil von Fanny Lewalds Briefen […] Zugang, die immer noch bei Emmi Lewald liegen. Die späteren Briefe und Adolf Stahrs Anteil an der Korrespondenz findet sie nicht mehr im Nachlass, der damals auf verschiedene Zweige 73 Beachtenswert ist, dass in der beglaubigten Abschrift als Verwahrungsort der testamentarischen Kodizille ein Wissensmöbel gewählt wird, das auch später bei Heyse eine prominente, nachlasssicherende Funktion übernehmen wird, der »Documentenschrank« (ebd.). Für eine exakte Kontextualisierung müssten naturgemäß alle Kodizille verfügbar sein. 74 Zit. n.: Geiger, Einleitung [1903], S. 32 f. Vgl. auch: Schneider und Sternagel, Vorwort, S. 10, 21.
172
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
der Familie aufgeteilt gewesen zu sein scheint; Fanny Lewalds Neffe Heinrich Minden verwaltet einen weiteren Teil der Korrespondenz. […] Als Ludwig Geiger 1903 die Dokumente »Aus Adolf Stahrs Nachlaß« herausgab, galten sie als vermisst. Für die Beschäftigung mit Fanny Lewalds Tagebuch »Gefühltes und Gedachtes« war er über einen öffent lichen Aufruf mit einigen Personen in Verbindung getreten, die mit Lewald in Kontakt gestanden hatten bzw. Besitzer ihrer Briefe waren, darunter v. a. die Schwiegertochter Stahrs, Marie Stahr, Ehefrau von Alwin Stahr, belgischer Konsul in Berlin, und Theodor Lewald, Sohn von Fanny Lewalds Bruder Otto. Kurz vor dessen Tod im Juli 1947 erwarb schließlich Curt Hirschfeld aus Berlin den größten Teil des Nachlasses und übergab diesen der Staatsbibliothek zu Berlin, wo er heute verwahrt wird.75 Als entscheidenskonstitutives Dokument wird wie später auch in Heyses und Schnitzlers Autobiografie ein Brief zitiert, mit dem der autobiografischen Figur ihr schriftstellerisches Talent attestiert wird und der gegebenenfalls auf dem ereignisreichen Überlieferungsweg verloren ging, heute jedenfalls nicht mehr aufzufinden ist. Insgesamt können diese Briefe gewissermaßen als lebenslauf- und später auch werkkonstitutive ›Empfehlungsschreiben‹ bezeichnet werden. In Lewald-Stahrs Lebensgeschichte ist August Lewald eine zentrale Figur für die letztgültige Berufsentscheidung, da er bereits früh das schriftstellerische Talent seiner Nichte erkannt und zu fördern gewusst habe.76 Entscheidend ist zudem, dass August Lewald der Urheber des entscheidenden Briefs ist, der direkt nach Lewald-Stahrs erfolgreicher Erstpublikation eingetroffen sei. Zumal die erfolgreiche Publikation und das Empfehlungsschreiben das eigene, geringschätzende Urteil gegenüber der literarischen Tätigkeit relativieren, denn: Was für die autobiografische Figur lediglich eine »Skizze« ist, stellt für August Lewald einen druckfertigen Artikel dar (vgl. MLGII, 276). Daran anschließend zitiert die Erzählerin einen weg-
75 Ergänzend fügen beide hinzu: »Kleinere Konvolute des gesamten Nachlasses sind verstreut und befinden sich in Hamburg, Krakau, Weimar, Marbach, Bonn, Düsseldorf« (ebd., S. 11, 21). 76 Ward schreibt zu diesem Brief: »This letter provided all the additional affirmation Lewald required to make her move« (Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 89). Ihre Beobachtung ist folgerichtig und zugleich beschreibt Ward den Brief gerade nicht als entscheidenskonstitutives Element. So werden, statt die dargebotenen Entscheidensprozesse zu analysieren, vornehmlich Belege für Lewald Stahrs patriarchale Befangenheit angeführt.
173
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
weisenden Brief, der das berufliche Phantasma zu einer möglichen, entscheidbaren Alternative werden lässt: [E]s war noch vor Weihnachten, als mein Vater eines Tages einen Brief von Lewald erhielt, in welchem dieser meinem Vater sein Wohlgefallen an meiner kleinen Arbeit aussprach. Er lobte das Sachliche der Beschreibung, lobte den Stil und machte die Bemerkung: »Fanny hat ein so entschiedenes Talent der Darstellung, daß ich nicht begreife, wie sie nicht von selbst darauf gekommen ist, sich mehr darin zu versuchen. Sie ist ohne Frage eine dichterische Natur, und es wäre nicht zu verantworten, wenn sie eine solche Begabung nicht benutzte und ein Feld brachliegen ließe, von dem sie für ihre Zukunft gute Früchte ernten könnte.« Mir stieg, als ich diese Worte las, das Blut vom Herzen schnell und warm zu Kopfe; ich sah meinen Vater an, er mochte mir die Freude von den Augen ablesen. Ja, das war es! Das konnte mir helfen! Es war mir ein Blick aus der Wüste in das gelobte Land, es war eine Aussicht auf Befreiung, es war die Verwirklichung eines Gedankens, die Erfüllung eines Wunsches, die ich mir einzugestehen nicht getraut hatte. […] »Ich habe anfänglich Bedenken getragen, dir den Brief zu geben«, sagte er, »weil ich glaube, wenn du wirklich ein Talent zum Dichten hättest, würdest du es von selbst getan haben, und du weißt nebenher, daß ich für das Heraustreten der Frauen aus ihrer Sphäre nicht bin. Andererseits aber bist du in einem Alter, in welchem ich dir nicht verheimlichen mag, was Lewald über dich urteilt, und wenn du in der Muße, die du hast, deinen Stil ausbilden willst, so kann das in jedem Falle dir für dein ganzes Leben nur vorteilhaft sein. Nur sprich nicht darüber, denn wer über die Dinge spricht, die er tun möchte und vielleicht einmal tun wird, ist ein Narr!« […] Ich kam mir wie in einem Märchen, wie verzaubert vor, denn es dünkte mir, als sei mir die Herrschaft über die Welt geschenkt (MLGIII, 276 f.). Hervorzuheben ist, dass August Lewald der autobiografischen Figur »eine dichterische Natur« bescheinigt, demnach wird die schriftstellerische Tätigkeit – anders als die vorherrschenden kulturellen Konventionen – als unausweichliche Veranlagung, als Berufung vorgestellt, die qua Geburt vorgegeben ist. Die Autobiografin platziert ihre Ehe- und Berufsentscheidung in das semantische Feld um den Ausdruck ›Natur‹, um auf diese Weise ›kulturelle Konventionen‹ von ›natürlichen Notwendigkeiten‹ zu differenzieren. Die eigene Berufsentscheidung wird kurzerhand als alternativlose Berufung ausgelegt, für die jedoch ein externes Gutachten sowie eine selbstbestimmte Entscheidung konstitutiv sind (vgl. auch: MLGII, 70, 143). Infolgedessen kombiniert die Autobiografin für die dargestellte 174
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
entscheidung unterschiedliche Entscheidungsmodi und zwar »Aushandlung«, »Entscheiden durch Autorität« und um den Berufungsmythos für die eigene Autorfigur nicht zu vernachlässigen auch die »Externalisierung«.77 Ein technischer Kniff ist sicherlich, dass die Erzählerin just vor der Berufsentscheidung anmerkt, August Lewald habe ausdrücklich ihr Talent für das »Sachliche der Beschreibung« gelobt. Sie vergisst nicht, bevor sie die Berufsentscheidung mithilfe eines Briefs ›verbürgt‹, sich als zuverlässige Berichterstatterin zu inszenieren.78 Im Entscheidungsmoment gelingt es der autobiografischen Figur, alle prophetischen Zeichen folgerichtig zu deuten und eine etwaige Kontingenz der getroffenen Entscheidung zu verschleiern (vgl. MLGIII, 277). Hier stehen »Herz[ ]« und »Kopf[ ]« nicht im Widerstreit, sondern sind symbiotisch verbunden, wie die physiologische Reaktion zeigt: »Mir stieg […] das Blut vom Herzen schnell und warm zu Kopfe«. Das Bindeglied, das die entscheidenskonstitutiven Parameter Herz (›sensus‹) und Kopf (›ratio‹) geradezu in ein humoralpathologisches Gleich gewicht bringt,79 erinnert an Lewald-Stahrs weiter oben erläutertes (teil-) biologistisches Berufskonzept, demzufolge das »Blut« darüber entscheide, welche Berufung dem jeweiligen Menschen zuteilwerde (vgl. MLGII, 166).80 Äquivalent zu ihrem Vater zeigt Lewald-Stahr bevorzugt in Entscheidungsmomenten emotionale Reaktionen. Diese Äquivalenz zeigt sich gleichfalls in der wohlgesetzten Interpunktion. So lassen die zitierten Passagen ein Satzzeichen gehäuft auftreten, das Entscheidungen besiegelt und das bislang fast ausschließlich dem Interpunktionsset der Vaterfigur zugehörte: das Ausrufezeichen. Die Berufsentscheidung bekundet Lewald-Stahr mit einer exclamatio, um sich anschließend einer archivarischen Praxis zu widmen. Mit dieser wird die Berufsentscheidung kurzerhand an eine Werkentscheidung, eine Ehe 77 Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig nennen vier Modi des Entscheidens und zwar »formale Verfahren, Aushandlungen, Autoritätsentscheidungen und Externalisierungen« (Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 234). 78 Ähnlich verfährt Heyse, wenn er den dokumentarischen Wert seiner Neuauflage betont. 79 Dieses Gleichgewicht erhebt die Figur Stahr in Lewald-Stahrs biografischem Projekt Zwölf Bilder nach dem Leben zu ihrer Lebensmaxime (Lewald-Stahr, Zwölf Bilder nach dem Leben, S. 369). Ulrike Stamm legt dar, dass für die Autobiografin primär ein ausgeprägter Rationalismus erstrebenswert gewesen sei (vgl. Stamm, Autorschaft im Zeichen der Vernunft, S. 131). Dabei wird übersehen, dass dem entscheidenden Gefühl auch eine zentrale Funktion zugeschrieben wird. 80 Bezeichnenderweise steigt das Blut von ›Herz‹ zu ›Kopf‹, somit wird indirekt ein rationales Moment inszeniert, sodass Lewald-Stahr Stereotypisierungen, wie ›Weiblichkeit = Emotionalität‹, unterläuft.
175
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
entscheidung, ihren selbsterwählten Schutzpatron Goethe und ihr gegenwärtiges sowie auch zukünftiges autobiografisches Projekt geknüpft: [I]ch sollte ein Dichter werden können! Ich war über alles Sagen glücklich! Mit einer wahren Scheu nahm ich mein grünes Maroquinbuch aus der Schublade hervor, in welcher ich es aufbewahrte. Heinrich Simon hatte es mir im Jahre 1834 von Breslau zum Geburtstage gesendet. Mit goldenen Buchstaben stand das Wort: »Erlebtes!« darauf gedruckt. Innen als Einleitung hatte er am 15. März 1834 die Worte geschrieben: »›Was bildet den Menschen als seine Lebensgeschichte?‹« – Wahrlich eine recht ermüdende Bildung! […] »Das Höchste aber«, sagt Goethe, »wozu der Mensch gelangen kann, ist das Bewußtsein eigner Gesinnungen und Gedanken, das Erkennen seiner selbst […]« Das alte Buch mit seinen vergilbten Blättern liegt in diesem Augenblicke vor mir, ein Zeuge der Wandlungen im Menschenleben und im Sinn des Menschen. Denn unter jene Zeilen von Heinrich Simons Hand hat vierzehn Jahre später der Mann, an dessen Seite mein Leben seinen Abschluß und sein Glück gefunden, die Worte hingeschrieben: »Was bildet den Menschen als Liebe, die ihm Glauben gibt an sich selber und an die Menschheit. Leidenserfahrungen sind die scharf geschliffene Pflugschar, die das Erdreich des Herzens aufreißt, aber die Liebe ist der Samen, der hinein gestreut wird und Frucht bringt tausendfältig« (MLGII, 278).81 Vollends schließt der lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidens prozess erst, nachdem die autobiografische Figur nicht allein ihre journalistische Fähigkeit, sondern auch ihre poetische Fähigkeit unter Beweis gestellt hat und abermals ihr Talent in der sachlichen Darstellung bekundet: [S]o nahm ich denn mein grünes Buch vor und schrieb ein kleines Geschichtchen zusammen, das ich ein »Modernes Märchen« nannte und dessen vierundzwanzig Seiten ich in einem Zuge auf das Papier warf. […] [I]ch hatte es in das grüne Buch geschrieben, das damals all meine Schrei81 Das hier vorgestellte Tagebuch wird postum im Jahr 1900 unter dem Titel Gefühltes und Gedachtes (1838-1888) von Ludwig Geiger herausgegeben. Heinrich Simons und Adolf Stahrs auch hier genannte Inschriften versieht Lewald-Stahr ebendort mit einer erklärenden Fußnote: »*) Von Heinrich Simon in das mir geschenkte Tagebuch geschrieben (1834), das er mir nach Königsberg sendete. **) Von Adolf Stahr darunter geschrieben, dem Heinrichs Ausspruch mißfiel« (Lewald, Gefühltes und Gedachtes, S. 1). Das Entscheidungsdokument steht für einen werkkonstitutiven Entscheidensprozess und die dargestellte Entscheidung führt wie bei den weiteren Fallbeispielen das Lesepublikum geradewegs zum gesamten Werk und jeweiligen Nachlass.
176
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
berein in sich aufnahm. Ich las es […] eines Abends dem Vater und den Schwestern vor. Den letztern gefiel es gut, dem Vater gar nicht. […] Weil ich bei meinem Vater mit meinem Märchen kein sonderliches Glück gemacht und nebenher selbst gefunden hatte, daß die Schilderung der Wirklichkeit mir gelang, so machte ich mich bald nachher daran, eine kleine Erzählung »Der Stellvertreter« zu schreiben […]. Mein Vater und mein älterer Bruder, an deren Urteil und Zustimmung mir gelegen war, fanden die Dinge der Wirklichkeit nicht bestimmt genug ausgeprägt […] und das Endresultat blieb: »Es sind gewöhnliche Journalgeschichten, und ob du die machst oder nicht, ob von denen überhaupt ein paar mehr oder weniger gemacht werden, das ist ganz gleichgültig. Versprichst du dir etwas davon oder glaubst du uns nicht, so schicke sie dem August Lewald und höre, was der davon hält.« […] Ich änderte und korrigierte eine ganze Weile an der kleinen Erzählung herum, dann aber wollte ich mein Schicksal kennen und schickte sie mit Erlaubnis meines Vaters an August Lewald, der damals in Baden-Baden lebte. Er schrieb mir bald danach, daß er in dem Augenblicke nicht Zeit habe, das Manuskript zu lesen, fügte aber hinzu: »Dein Hang zum Schreiben ist sehr natürlich. Wer so wie Du gesunde Gedanken auf schöne Weise darzustellen weiß, hat Beruf dazu und darf ihn nicht durch bloße äußerliche Rücksichten auf gewaltsame Weise ersticken.« Und da ich ihm auch alle Ausstellungen und Einwendungen der Meinen gegen die kleinen Arbeiten selbst mitgeteilt hatte, so sagte er mir in einem zweiten Briefe vom 24. Juni 1840: »Dein Streben, Dein Geist, Deine Bildung, Dein selbständiger Sinn, das alles gefällt mir wohl, denn Du paarst damit Gemüt und Seele. […] Was ich Dir über Dein Talent gesagt habe, wiederhole ich Dir hiermit; lasse Dich von Deinem Bruder nicht beirren. Du magst Dir sein Urteil immerhin, wenn Du es aus dem rechten Standpunkte betrachtest, zu Deinem Nutzen wenden – ja es kann Dir sogar heilbringend sein, – allein über Deinen Beruf brauchst Du ihn gar nicht zu befragen. Glaube mir! – Dein Märchen ist sehr hübsch und mir lieber als Dein ›Stellvertreter‹, wenn auch dieser wieder manche Vorzüge hat. […] Du kannst gestalten. Dein ›alter Stellvertreter‹ ist eine wahrhaft originelle Figur, und die ironische Farbe, die Du über das Ganze hinzuhauchen verstehst, verrät einen Grad von Kunstbegabung, zu dem man Dir Glück wünschen kann. Wie ich Dir aber schon bemerkte, hält Plan und Anlage […] mit der Ausführung nicht gleichen Schritt. Darauf mußt Du nun Dein Augenmerk richten.« Er ermutigte mich zugleich, mich ohne weiteres an eine größere Arbeit zu machen, schrieb mir, daß er das »Moderne Märchen« gleich habe abdrucken lassen, schickte mir das Honorar dafür […]. Ich las den Brief immer aufs 177
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Neue, es war mir, als müsse ich wachsen und sichtlich größer werden. […] Mitten in meiner Erregung traf mein Vater mich. […] Ich sagte, daß ich einen Brief aus Stuttgart bekommen. […] »Was schreibt dir Lewald?« fragte er wieder. Ich las ihm den Brief vor, er lächelte dabei. »Das klingt sehr aufmunternd«, sagte er darauf, »und Lewald wird’s wohl verstehen! [… .] Und du denkst also wirklich daran, eine größere Arbeit anzufangen, du willst also Schriftstellerin werden?« »Wenn du nichts dagegen hast, lieber Vater, will ich es ganz gewiß!« Er zuckte mit den Schultern, wie er es zu tun pflegte, wenn er sieh [sic] in etwas fügte, was ihm nicht lieb war. Das tat mir wehe und leid. […] Mein Vater schwieg einen Augenblick […]. »Ich sehe nur nicht ab, was für ein Äquivalent ich dir dafür zu bieten hätte!« meinte er nach einer Weile. »Du bist dreißig Jahre, bist unverheiratet, und ich kann nicht sagen, hier ist ein Vermögen, das dich lebenslänglich unabhängig hält. Auf der anderen Seite bist du immer verständig gewesen, hast mir nie Anlaß gegeben, mit dir unzufrieden zu sein, und du versprichst dir Glück von der Ausübung deines Talentes. Also tu, was dir gut deucht, und Gott gebe, daß es zu deinem Guten sei. Nur das eine bedinge ich mir ganz ausdrücklich aus, es darf niemand, auch Rat Crelinger und Doktor Kosch […] das geringste von Deiner Schriftstellerei erfahren.« »Verlaß dich darauf!« beteuerte ich, »aber bedenke, lieber Vater, daß alle Kinder es wissen.« »Ich werde ihnen verbieten, davon zu reden!« […] Er stand auf, nahm den Brief von Lewald und betrachtete die Anweisung, welche darin lag. Sie war au porteur ausgestellt […]. Er wendete sich nach der Türe, kehrte noch einmal um, sagte mit einer unverkennbaren Bewegung: »Also eine Schriftstellerin!« Dann zog er die Augenbrauen ein wenig in die Höhe, diese Miene drückte es bei ihm aus, daß etwas ihm nicht Erwartetes und nicht eben Angenehmes geschehen sei, und meinen Kopf in seine beiden Hände nehmend und mich herzlich küssend, sprach er: »Gott gebe dir Glück dazu!« Damit ging er heraus, und ich war so gerührt, daß mir die Tränen82 über das Gesicht flossen. Feierlicher war mir nicht zumute, als ich mich meinem Manne für das ganze Leben angelobte. Denn das eine wie das andere war mir die freudige Übernahme eines aus tiefster Überzeugung und innerster Notwendigkeit übernommenen Berufs (MLGII, 282-287).83
82 Mit Tränen wird auch die Entscheidung gegen eine Versorgungsehe beschlossen. 83 Diese Erstpublikation erscheint anonym in der Zeitschrift ihres Verwandten August Lewald (vgl. Lewald, Modernes Märchen; vgl. hierzu: Schneider, »Arbeiten und nicht müde werden«, S. 191, 211; vgl. auch: MLGIII, 9).
178
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
Der Entscheidensprozess, der als intimes Zwiegespräch zwischen Vater und Tochter dargestellt wird, weist weitestgehend bis zur finalen Entscheidung kaum oder verkürzte verba dicendi, dafür jedoch eine parataktische Reihung auf. Demnach wird der entscheidungsförmige Dialog als ein rascher, akzentuierter Gesprächsakt dargeboten. Die empfangenen Briefe von August Lewald dienen als eine Entscheidungsressource, die eine Schriftstellerkarriere als entscheidbare und lebbare Alternative angesichts der – sich altersbedingt formierenden – Alternativlosigkeit darbieten. Die Berufsentscheidung skizziert der Vater als alternativlos, da seine ledige, finanziell prekär gestellte, in die Jahre gekommene Tochter ohne Entscheidungs optionen sei. Allerdings nutzt die Autobiografin besonders die scheinbar alternativlose Ausgangssituation, um diese in Entscheidungsszenarien für ihre Autorfigur umzumünzen. Beachtenswert ist diesbezüglich eine Miniaturautobiografie, in der Lewald-Stahr nochmals ihre erwirkte Schriftstellerkarriere betont, die letztlich sogar von ihrem Vater sanktioniert worden sei, auch dort wird die Berufsentscheidung als alternativlos vorgestellt, die sich für ihren Vater abermals aus ihrer prekären Lebenssituation und für sie aus ihrem schriftstellerischen Talent ergebe: Danach war es mein Vater selbst, der mir zum Druck der Arbeiten rieth, weil er sah, daß ich Freude am Schaffen hatte, u weil er – nun ich 31 Jahre u unverheirathet war – eine Art von Beruf und Thätigkeit für mich darin erblickte. So erschienen dann 1843 die Clementine und die Jenny bei Brockhaus – aber anonym.84 Indem der Vater beinahe wortgleich August Lewalds Wendung, ohne diese zu kennen, ausspricht, wird die Berufsentscheidung als einstimmige Sanktion inszeniert (vgl. »einen Grad von Kunstbegabung, zu dem man Dir Glück wünschen kann« und »herzlich küssend, sprach er: ›Gott gebe dir Glück dazu!‹« [MLGII, 284, 287]). Gewissermaßen formuliert der Vater den Glückwunsch, den August Lewald mit dem Modalverb ›kann‹ noch als eine einzulösende Option verzeichnet, zudem wird erstmalig Fanny Lewald-Stahrs berufliche Tätigkeit als Glück und nicht wie ehemals als Unglück bezeichnet.85 Das postalische Entscheidungsdokument, das als ausschlaggebende Entscheidungsressource inszeniert wird, bekundet aber84 Lewald-Stahr, Ich bin zu Königsberg i. Pr. Am 24. März 1811 in einer jüd. Familie geboren, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Autogr. I/4651, Bl. 1-3. 85 Gewissermaßen wird auch der Vaterfigur Vorbildcharakter zugeschrieben. Zumal dargelegt wird, dass eine veritable, zugestandene Entscheidungsoption nicht in einem Familienbruch enden muss, sondern primär zu einer kritischen Auseinandersetzung führt.
179
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
mals das ›natürliche Talent‹, über das die autobiografische Figur verfügt. Die stetig wiederholte Talentbekundung wird zudem repetitiv einer Re lektüre unterzogen. Das Entscheidungsdokument wird zur Erbauungslektüre, die wiederum die autobiografische Figur für den finalen Akt des Entscheidensprozesses rüstet. Wie später auch Heyse und Schnitzler zitiert Lewald-Stahr den Brief sorgsam mitsamt genauem Datum. Jedoch zeigt sich mit diesem Vergleich ein eklatanter Unterschied: Während Heyse und Schnitzler sich bereits früh um die Archivierung des prospektiven Nachlasses bemühen, diesen ordnen und ausgewählte Manuskripte bereits als Vorlass einer professionalisierten Archivierung überantworten, trifft dies auf Lewald-Stahrs Nachlass nicht zu. Ihre Hinterlassenschaft ist – wie bereits angedeutet – über mehrere Archive verstreut und der zitierte Brief konnte (noch) nicht ermittelt werden.86 Es ist möglich, dass die Erzählerin einen fingierten Brief zitiert, um die Entscheidung als eine rationale Abwägung darzustellen. Im Vergleich erscheint dies jedoch als fragwürdig, da in den weiteren Fallbeispielen die bricolage genutzt wird, um einen lebenslauf- und werkkonstitutiven Entscheidensprozess mithilfe ausgewählter Archivalien darzustellen und das autobiografische Projekt an den prospektiven Nachlass zu binden.87 Die hierfür gewählten Archivalien werden zudem nahezu unverändert übernommen und in den autobiografischen Text gesetzt. Lewald-Stahrs Nachlass bezeugt eine bibliophile sowie strukturierte Arbeitsweise. Hinzu kommt, dass ihre Tagebücher synoptisch angelegt sind, jedes Blatt ist gemäß einem Jahresweiser mit chronologischen Jahresblöcken angelegt, sodass Entwicklungen und Entwicklungslinien retro spektiv leichter erschlossen werden können.88 In diesem Kontext kann von einer autobiografischen Vorarbeit gesprochen werden. Mit dem zitierten Brief wird zugleich auf den Anfang des dritten Bandes verwiesen, denn dort wird wiederum proleptisch dieses Entscheidungs dokument ins Spiel gebracht. Die eingangs vage Angabe im Empfehlungsschreiben wird am Ende abgesichert. Mit ihrem ersten Gehalt gewinnt die autobiografische Figur ihre Gewissheit, dass sie fortan über ihre »Zu86 Für die hilfreichen Rücksprachen möchte ich an dieser Stelle nochmals Ralf Breslau (Referat Nachlässe und Autografen SBB – Preußischer Kulturbesitz), Christian Liedtke (Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Handschriftenabteilung, Archiv), Birgit Schaper (Handschriften und Rara, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn) und auch Gabriele Schneider danken. 87 Vgl. hierzu auch: MLGI, 35, 140; MLGII, 26, 30, 35, 66, 71, 104, 223, 253, 278; MLGIII, 74, 284; RT, 1-10, 17, 49, 65, 81, 91, 109, 129, 140, 145, 161, 177, 195, 200, 203, 209, 240 f., 244, 257 f., 268, 278, 284, 289. 88 Vgl. Lewald-Stahr, Privatjournal und Tagebuch, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 8.
180
i v.1 beru f en e en tsch ei der i n
kunft« entscheiden werde (MLGIII, 5). Wie auch später Heyse verdient die Autobiografin ihr erstes Geld mit einem Märchen, das ihr die notwendige Bestätigung und väterliche Sanktion einbringt. So erläutert die autobiografische Figur gegenüber ihrer Mutter: »August Lewald ermuntere mich auf das Entschiedenste zu literarischer Arbeit, der Vater sei damit einverstanden« (MLGIII, 8). Auf diese vorgebrachte Ausführung reagiert die Mutter abweisend, hierin besteht ebenfalls ein kennzeichnender Unterschied zu Heyses Autobiografie, denn dort wird der autobiografischen Figur jeder sich anbahnende Zweifel schleunigst genommen, um sie anschließend in ihrer poetischen Berufung zu bestärken. Demgegenüber haben LewaldStahrs wie auch Ebner-Eschenbachs und Schnitzlers autobiografische Figuren gegen kräftezehrende Widerstände anzukämpfen, die es entschieden zu überwinden gilt, um das Berufsziel zu erreichen. Allerdings benennt die Erzählerin nicht explizit die ihr zuerkannten Privilegien, dass etwa ihre Familie ihren schriftstellerischen Beruf akzeptiert, schließlich sanktioniert habe und dies wiederum notwendig dafür gewesen sei, dass sie über ihre eigene Berufung Gewissheit erhalten habe. Ausschlaggebend ist hier besonders die väterliche Zustimmung (vgl. MLGIII, 19 f.). Für den archivarischen Kontext ist es bezeichnend, dass Lewald-Stahr, nachdem sie sich gegenüber ihrer Mutter zu ihrem Beruf bekannt hat, sich zurückzieht und ihr nun gedrucktes Märchen hervorzieht. Die Druck ausgabe betrachtend fallen der autobiografischen Figur zwei Merkmale auf, die das Manuskript vom Druck unterscheiden: »Wärme und Leichtigkeit« (MLGIII, 9). Mit »Wärme« wählt Lewald-Stahr einen Ausdruck, der für Diltheys Archivalienklassifikation maßgebend ist, denn es sei gerade die »Wärme und Wirklichkeit«, die Manuskripte gegenüber Drucken auszeichne.89 Es ist kein Zufall, dass die Autobiografin für ihre Berufsentscheidung ein Manuskript und eben keinen gedruckten Text zitiert. Mit der Ankunft in Italien beschließt Lewald-Stahr nicht nur ihre Autobiografie, sondern auch ihre Leidensjahre mit der mühsam erarbeiteten Befreiung und dem ersehnten Wanderleben: »Ich war meiner Freiheit, meiner Verhältnisse, meiner selbst Herr geworden und damit erst recht fähig, sie zu benutzen und zu genießen. […] Ich war in Italien!«.90 89 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 363-365. 90 Mit der Italienreise verstetigt sich – wie ehemals auch für ihren selbstgewählten Schutzpatron Goethe – die Berufsentscheidung. Gerhard Sauder und Karl Richter legen dar, dass Goethes Reise nach Italien »Ausdruck einer Krise, zugleich aber auch Ermöglichung der Klärung der Lebensplanung und Kunstanschauung [war]« (Sauder und Richter, Vom Genie zum Dichter-Wissenschaftler, S. 91). Angemerkt sei an dieser Stelle, dass gemäß Hahn Goethes Italienreise eine »große Verbrennungs-
181 https://doi.org/10.5771/9783835349148
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Ihrem Schutzpatron folgend wird die Berufsentscheidung im letzten Band mit einem topischen Wetterphänomen, das etwa bei Goethe dramatisch und bei Jean Paul ironisch die Geburt eines erfolgreichen Schrift stellers ankündigt, und entscheidungsformal mit der bricolage komplet tiert:91 Große, schwere Tropfen fielen einzeln vom Himmel herab, der Wind stand auf, das Gewitter kam empor, die fliegenden Blitze zerrissen das Dunkel, der Donner hallte in langem Rollen über das Wasser. Mit dem Sturme brauste der See um die Wette, schmetternder Regen fiel hinab. […] Unwillkürlich fielen mir die Worte ein, mit denen Fouqué seinen Zauberring beginnt, und die seit meiner frühesten Kindheit einen großen, geheimnisvollen Reiz für mich gehabt hatten: Man geht durch die Nacht in Sonne, // Man geht durch Graus in Wonne, // Durch Tod zu Leben ein. Und diese Worte hatten etwas Prophetisches, etwas Symbolisches für mich in dieser Stunde. […] [I]ch [sollte] in Italien durch Nacht zu Sonne, durch Schmerz zu Wonne, durch Tod zu neuem, beglückendem Leben eingehen!92 (MLGIII, 297) aktion« vorausging, die größtenteils seine in »Quartalheften« archivierten Briefe betroffen habe (Hahn, »Weiber verstehen alles à la lettre«, S. 22). Bereits zu Beginn des dritten Bandes verweist die Autobiografin auf Goethe und ihre Berufsentscheidung, indem sie Goethes Motto zum »Dritte[n] Teil« zitiert: »Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und es gibt kaum irgendeinen Akt, der nicht sein komisches Zwischenspiel in sich erzeugte. So war denn auch der frohen Erhebung jener Stunde, in welcher ich über meine Zukunft entschied, gleich an demselben Tage eine sehr komische Niedergeschlagenheit und ein lächerlicher Vorgang gefolgt« (MLGIII, 5; vgl. Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt, Bd. 14, S. 489). 91 Feitscher erläutert, dass Goethes Italienische Reise ein »wirkmächtiges Vorbild [schaffe]«, da er ebendort »seine Flucht aus dem Weimarer Alltag in den klassischen Mußeraum Italien [beschreibt]« und Italien fortan als kulturkonstitutives Toponym rezipiert werde, das »idealtypisch« für die »Bildung des Subjekts« stehe (Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 53). Vgl. zu ›Goethe‹ und ›Italien‹ in LewaldStahrs Autobiografie auch: Lewald, Italienisches Bilderbuch; Sonkwé Tayim, Narrative der Emanzipation, S. 130; Ujma, Stadt, Kultur, Revolution, S. 174; Rapisarda, »Wenn mir einer einen versöhnenden Schluß zeigen wollte …«, S. 225; Goethe, Italienische Reise, FA. I. Abt., Bd. 15.1 u. 2; Bäumer, Reisen als Moment der Erinnerung, S. 149-155. Lewald-Stahr genießt in Italien das, was Neumann bereits für Goethes Autobiografie festhält: »Die Freiheit, die Goethe in Rom, im Land seiner Kinderträume, genießt, ist die Freiheit des aus gesellschaftlichen Zwängen erlösten, nur noch sich selbst angehörenden Individuums« (Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 29; vgl. auch: Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 11). 92 Dargeboten wird ein metaphorisches Entscheidensbild, das den Ausdruck ›Entscheiden‹ als ›Einschnitt‹ visualisiert. Vgl. zur Bedeutung des Ausdrucks: Seebold, entscheiden. Die Ankunft in Italien als berufs- und zukunftsweisendes Ereignis
182
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Während innerhalb des gesamten autobiografischen Projekts primär die selbstbestimmte Berufsentscheidung fokussiert wird, beschließt LewaldStahr zuletzt ihren autobiografischen Werdegang mit einer stürmischen Berufungserzählung, die einer drängenden Entscheidung folgt. Die philologische Praxis der Interpretation gelingt der autobiografischen Figur mühelos nach den strapaziösen Entscheidensprozessen, sodass alle wegweisenden Zeichen folgerichtig gedeutet werden und das metadiegetische Phantasma zur diegetischen Lebenswelt wird. Damit die Interpretation als eine wasserfeste und versierte vorgestellt werden kann, ist nicht ausschließlich die philologische Expertise der autobiografischen Figur verantwortlich, sondern auch ihre Entscheidenskompetenz, die, wie die folgende Analyse der Eheentscheidung zeigen wird, maßgeblich an interpretatorisches Geschick, sonach an professionalisierte Analysepraktiken und in letzter In stanz an ein prominentes Ideal der Aufklärung rückgebunden ist.
IV.2 Ehe in Eigenregie Johann Wolfgang von Goethes »Die Natürliche Tochter« als Entscheidungsressource In beiden Entscheidungsfeldern, Beruf und Ehe, gelingt es Lewald-Stahr, Optionalität zu erzeugen, Alternativen erfolgreich zu selektieren und ihre Zwecke zu erreichen, obschon der Vater Optionalität für Frauen negiert. Dadurch kann das zukünftige Lesepublikum die Autobiografie gewissermaßen als ›emanzipatorische‹ Ratgeberliteratur lesen. Indem der Vater erläutert, dass »Frauenzimmer […] weder ihren Beruf noch ihren Mann wählen können« (MLGI, 197) und zudem gemäß dem »[preußischen] Ansiedlungsrecht […] Heirat und Niederlassung eine Unmöglichkeit für die Juden waren« (MLGI, 12; vgl. MLGI, 223),93 ist das erinnert an pietistische Erweckungserzählungen. Goldmann erläutert den Ausdruck »Durchbruchserlebnis[ ]« und hält dazu fest: »Im Laufe der Geschichte verwandelt sich dieser Topos, der den Höhe- und Wendepunkt einer religiösen Krise markiert, die als religiöse Wiedergeburt beschrieben wird, zu einem metaphorischen Begriff, der das Erlebnis der eigenen philosophischen Aufklärung bezeichnet« (Goldmann, Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis, S. 249). Bezeichnend für LewaldStahrs Lebensgeschichte ist, dass nicht das religiöse Bekenntnis einen Wendepunkt darstellt, sondern das Bekenntnis zur Literatur als Beruf und Berufung. 93 Deborah Hertz legt in ihrer Einleitung zum Briefwechsel zwischen Rahel Varnhagen von Ense und Rebecca Friedländer dar, dass die Ehethematik für Frauen jüdischer Konfession aufgrund des sich sukzessive verstärkenden Antisemitismus besonders dilemmatisch und die selbstgewählte Ehe durchaus ein Privileg der
183
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
mitreißende Potenzial, das Lewald-Stahrs Eheentscheidungen zukommt, luzide angelegt.94 Zumal sich unweigerlich die Frage stellt, wie angesichts einer unverfügbaren Optionalität überhaupt entscheidbare Optionen generiert werden können. Zügig zeigt sich, dass für diesen Wendepunkt innerhalb der autobiografisch dargebotenen Entscheidenskultur eine profunde literarische Bildung und interpretatives Geschick ausschlaggebend sind, denn beide ermöglichen eine kritische, analytische Handhabung, eine strategische und entscheidenspraktische Regie des literarischen Wissens.95 Lewald-Stahr konzipiert erzähllogisch konsequent ihre Entscheidensprozesse als literarisches Mosaik, indem sie zahlreich kanonische Klassiker güterten Familien gewesen sei. Dennoch könne anhand überlieferter »Tauf vermerke[ ] in Berlin« ermittelt werden, »daß mehr jüdische Frauen als Männer sich taufen ließen und Nichtjuden heirateten« (Hertz, Einleitung, S. 43; vgl. ebd., 22; vgl. auch: Kronauer, Unendliche Liebe zur Gesellschaft, S. 13). Lewald-Stahrs dargestellte Entscheidung gegen eine Versorgungsehe ist symptomatisch für die damalige Zeit, ein Merkmal ihrer privilegierten Position und trotzdem ein exemplarisches Fallbeispiel für eine frühe, ausgeprägte und exklusive Emanzipationshaltung, besonders indem sie ›Assimilierungsehen‹ kritisiert, da diese das bestehende virulente Problem einer mangelnden Gleichberechtigung nicht lösen könnten: »[D]ie fast zur Sitte und zur Mode gestempelten Heiraten der reichen jüdischen Bankiers töchter mit armen Edelleuten sind gewiß nicht das rechte Mittel, die gesellschaftliche Gleichberechtigung und die Achtung vor der Bildung und vor dem Charakter der Juden herzustellen. Im Gegenteil!« (MLGIII, 109). 94 Vgl. auch: MLGI, 13, 23, 47 f., 95, 97, 220; MLGII, 95, 128; MLGIII, 193, 195, 201, 261 f., 264. Vgl. hierzu auch: Tromsdorf, Fanny Lewald, S. 489. Zumal wie auch bei der Berufsentscheidung alle folgenden »Grundbedingungen« angelegt sind, die gemäß Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig Entscheiden konstituieren: »[E]rstens die Konstruktion eines aktuell relevanten Entscheidungsproblems; zweitens die Annahme, dass eine Entscheidung möglich ist; sowie drittens die weitergehende Annahme, das realisierbare, einander ausschließende und in diesem Sinne alternative Optionen existieren oder im Prozess des Entscheidens hervorgebracht und expliziert werden können« (Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 230). 95 Vgl. hierzu die Etymologie der Ausdrücke ›Regie‹ und ›regieren‹: »›Leitung‹ […] (18. Jh.). Entlehnt aus frz. Régie, dem substantivierten passiven Partizip von frz. regir ›leiten‹« und »mhd. regieren. Entlehnt aus afrz. reger, dieses aus l. regere (rectum), auch: ›richten, lenken‹« (Seebold, Regie, regieren). Anke Detken erläutert, wie sich die Regie seit dem 18. Jahrhundert zu einer theaterpraktischen und -wissenschaftlichen Disziplin entwickelt habe; dabei sind zwei Aspekte für den hier vorgestellten Zusammenhang besonders erhellend: (1) »Als eigenständige Gestaltungsinstanz entwickelt sich die R. in Deutschland erst im 19. Jh. Mit der Etablierung fester Theater, so durch J. W. Goethe als Leiter des Weimarer Hoftheaters«. (2) »Bis Mitte des 19. Jh.s wird die R. fast ausschließlich von Schauspieler-Regisseuren ausgeübt, welche die Inszenierung häufig um ihre eigene Person und Rolle zentrieren« (Detken, Regie).
184
i v.2 eh e i n eigen r egi e
der Literatur und Philosophie gewissenhaft exzerpiert und in der Folge zitiert. Diese philologischen Praktiken dienen ihr dazu, anschließend zu erläutern, dass (1) eine scheinbar naturgemäße Entscheidenskultur strukturell konzipiert worden sei, somit keinesfalls eine unveränderbare Entität darstelle. (2) Deutlich werde dies, indem philosophische und literarische Texte potenzielle Alternativen vorstellten. (3) Jedoch könnten diese Texte erst mithilfe einer angewandten kritischen Analyse zu hilfreichen Lehrstücken formiert werden. (4) Das damit angelesene Wissenskompendium sei wiederum hilfreich für einen eigenen emanzipierten Lebensplan, da fortan literarische Fallbeispiele als Entscheidungsressourcen dienen (vgl. MLGI, 184 f., 199, 207; MLGII, 71, 262; RT, 129, 179). Lewald-Stahrs literarische Sozialisation beginnt in ihren frühen Kindheitstagen und die umfangreichen, angeeigneten, vorzugsweise tragischen Fallbeispiele werden retrospektiv zu zentralen Bauelementen einer gleichberechtigten Entscheidenskultur. Für diese stellt Lewald-Stahrs Auto biografie eine diegetische Entscheidungsheuristik bereit, die rezeptions ästhetisch, konativ ausgerichtet ist, indem die Erzählerin – unter dem Vorzeichen der Aufklärung – wiederholt besonders Leserinnen dazu aufruft, sich der eigenen »Vernunft zu bedienen, [statt] sich hinter die Schranken der geheiligten Gewohnheit zurückzuziehen« (MLGI, 159).96 Maßgebend hierfür sind philologische Praktiken. Mit den in diesem Kapitel vorgestellten Eheentscheidungen wird schließlich ersichtlich, weshalb eine systematische Trennung zwischen Berufs- und Eheentscheidung notwendig ist, um die Entscheidungsressourcen mit den jeweils unterschiedlichen Qualitäten analysieren zu können: Während für die Berufsentscheidung insgesamt drei bislang unpublizierte Briefe zitiert wurden, dürfen für die finale Entscheidung gegen eine Versorgungsehe etwaige postalische Entscheidungsdokumente weiterhin einer potenziellen Publikation harren. Statt einer exklusiven Erstpublikation zitiert die Erzählerin Johann Wolfgang von Goethes Die natürliche Tochter und gestaltet mit der bricolage ihre Eheentscheidung selbst als Drama. Die Prozesshaftigkeit der letztlich getroffenen Eheentscheidungen ergibt sich für LewaldStahrs autobiografisches Projekt allein durch die weite Zeitspanne von fünfundzwanzig Jahren. Demnach kann die Autobiografin rückblickend zwei Heiratsentscheidungen verbuchen, die sie zwischen ihrem fünfzehnten und vierzigsten Lebensjahr traf. Dies begründet mithin den werkkonstitutiven Charakter ebendieser Entscheidungen: Denn obschon die Erzählerin den 96 Vgl. zu Lewald-Stahrs Rezeption von Kants Werken auch: Stamm, Autorschaft im Zeichen der Vernunft, S. 132.
185
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Entscheidensprozess im zweiten Band ihrer Lebensgeschichte mit der Ablehnung einer anberaumten Versorgungsehe beschließt, endet der Entscheidensprozess mit der selbstbestimmten Eheentscheidung, für die wiederum ein weiterer autobiografischer Band notwendig wird, der explizit ihrem Ehemann Adolf Stahr gewidmet ist. Dieser erschien zunächst 1897 auszugsweise in Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart und 1927 postum, ebenfalls gekürzt, unter dem Titel Römisches Tagebuch.97 Des Weiteren ist der durchlebte und autodiegetisch aufbereitete Entscheidensprozess werkkonstitutiv, da er ausschlaggebend für die thematische Ausrichtung der Romane Jenny und Clementine ist.98 Geradezu als lebensbestimmend stellt Lewald-Stahr retrospektiv ihren Roman Eine Lebensfrage vor,99 da das dort verhandelte Scheidungsrecht innerhalb des autobiografischen Projekts maßgebend für die Liaison mit dem verheirateten Adolf Stahr gewesen sei, den sie nach dessen erfolgter Scheidung heiraten konnte. Die erzählten Entscheidensprozesse gegen eine Versorgungs- und für eine Liebesehe ermöglichen Lewald-Stahr ihr schriftlich fixiertes Leben mit ihrem edierten sowie unedierten Werk kurzzuschließen und auf diese Weise ihre Autobiografie als intertextuelle Werkbiografie vorzustellen (vgl. MLGI, 199; MLGII, 115, 167, 201; MLGIII, 35, 57, 111-113, 165, 214-217; RT, 115).100 Beachtenswert sind demnach für die Eheentscheidungen zunächst die folgenden drei Aspekte, nämlich, (1) dass die Entscheidung gegen eine Versorgungsehe dramatisch ausgestaltet wird, (2) die Entscheidung für eine Ehe mit Adolf Stahr in Form eines nekrologischen Andachtsbuchs konzipiert ist und (3) diese Entscheidungen genutzt werden, um die Romane Jenny, Clementine und Eine Lebensfrage innerhalb der Autodiegese als partiell autofiktionale Schlüsselromane vorzustellen.101 Gemeinsam ist 97 Vgl. RT; Lewald, Lebenserinnerungen 1; L ewald, Lebenserinnerungen 2; Lewald, Lebenserinnerungen 3. Vgl. zur Publikation auch: Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 18. Die werkkonstitutive Dimension der lebenslaufkonstitutiven Entscheidungen wird mit den jeweiligen Vorworten und Widmungen deutlich. 98 Vgl. Lewald, Jenny; Lewald, Clementine. 99 Vgl. Lewald, Eine Lebensfrage. 100 Ähnlich verfährt Heyse in seiner Autobiografie. Die Publikumswirksamkeit eines Schlüsselromans nutzt auch Göhler, um die Autorin topisch als ›Seherin‹ zu stilisieren, wenn er darlegt: »Es war eine Art Seherblick Fannys, daß sie in diesem Roman all’ die Leiden vorausahnend schilderte, die sie und Adolf Stahr zwei Jahre später durchkämpfen sollten« (Göhler, Einleitung, S. 16). 101 Vgl. hierzu etwa: MLGI, 228; MLGIII, 27, 50, 57 f., 65, 78, 165, 214, 215, 221; RT, 115, 139, 248, 266 f. In den angeführten Verweisen präsentiert Lewald-Stahr ihre Autobiografie explizit als Werkbiografie.
186
i v.2 eh e i n eigen r egi e
ebendiesen Aspekten Lewald-Stahrs federführende Eigenregie, für die wiederum eine soziologische Beobachtung arrangierter Ehen,102 die exemplarisch für eine nicht gleichberechtigte Entscheidenskultur stehen, und eine kritische Textanalyse literarischer Entscheidensprozesse notwendig erscheinen.103 Doch der Reihe nach: Bereits in ihrem »fünfzehnten Jahr[ ]« (MLGI, 165) trifft die autobiografische Figur die zukunftsweisende Entscheidung, dass sie sich keinesfalls in eine arrangierte Versorgungsehe fügen werde, da für sie ausschließlich eine Liebesehe (vgl. MLGII, 72, 84),104 wie sie ihre Eltern vorbildhaft leben (vgl. MLGI, 14), vorstellbar sei. Diese früh ge 102 Lewald-Stahr lässt ihre autobiografische Figur explizit als Interpretin und Be obachterin auftreten. Vgl. zudem zur Beobachtung als Erkenntnispraxis der Aufklärung exemplarisch: Zelle, Einleitung, S. 81. 103 Vgl. hierzu exemplarisch: Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 7-9; Marci-Boehncke, Fanny Lewald, S. 134 f.; Venske, Fanny Lewald, S. 300-314; Schneider, Fanny Lewald, S. 24-26; Rheinberg, Fanny Lewald, S. 25, 102-104; Venske, »Ich hätte ein Mann sein müssen oder eines großen Mannes Weib!«, S. 370. 104 Eine solche erhofft sich die autobiografische Figur lange von der Beziehung mit Leopold Bock, für diese verliert sie sogar kurzzeitig ihr emanzipiertes Berufsziel aus dem Blick, besonders nachdem dieser ihre »Freude an Heines kecken und leichtfertigen Schriften oder an französischen Romanen [tadelte]« (MLGI, 193; vgl. MLGI, 188, 191, 193 f.). Bock verkörpert jene Rollenverteilung, gegen die LewaldStahr aufbegehrt. Gleichzeitig steht die Beziehung zu Bock sinnbildlich für eine ausgeprägte Autozensur, die erst retrospektiv zutage tritt, indem damalige Tabus rückblickend erkannt werden und die Einsamkeit dargelegt wird, die ebensolche verursachen (vgl. MLGI, 247, 248; vgl. zur ›Autozensur‹ in Lewald-Stahrs Autobiografie auch: Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 91). Anders ist es um die Schwärmerei für ihren Cousin Heinrich Simon bestellt, die unglücklich für Lewald-Stahr endet, die sie jedoch bereitwillig ausgewählten Familienmitgliedern mitteilt (MLGII, 92 f., 107). Umso problematischer erscheint Brinker-Gablers Editionsentscheidung, eben diese Passagen zu kürzen, da sie der angedachten Vorbildfunktion einer emanzipierten Frau widersprechen könnten (vgl. BrinkerGabler, Einleitung, S. 30; Venske, Fanny Lewald, S. 302). Letztlich beendet der Vater die junge Beziehung (vgl. MLGI, 210 f., 225, 227). Dies mag die Hypothese zulassen, dass eine selbstbestimmte Eheentscheidung womöglich erst nach dem Tod des Vaters möglich war (vgl. RT, 274 f., 279). Auch Schnitzler gab erst nach dem Tod seines Vaters seine medizinische Tätigkeit vollends auf. Spiero erhebt in seiner Einleitung diesen lebensbegleitenden Entscheidensprozess zu einem Spezifikum für Lewald-Stahrs Römisches Tagebuch. Spiero legt zuvörderst dar, dass sie bereits vor Stahr potenzielle Partner gehabt habe und erhöht somit die Exklusivität der ›spät‹ gefällten Heiratsentscheidung: »Sie war vierunddreißig Jahre alt geworden. Zweimal hatte sie schwerlastende Herzerfahrungen machen müssen. Der junge Pfarramtskandidat Leopold Bock, dem sie sich ohne ausdrückliche Aussprache angelobt, hatte sich, wohl unter dem Einflusse ihres Vaters, von ihr zurückgezogen und war im Begriff einer zweiten Annäherung jung gestorben. Ihr Vetter Heinrich Simon aber, damals im jugendlichen Aufstieg zu glänzender politischer
187
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
setzten Entscheidensprämissen sowie die präsente, dilemmatische Ehe thematik bilden im Kontext der hier vorgestellten Autobiografien ein Alleinstellungsmerkmal.105 So wird nicht die Ehe – wie etwa in Heyses Autobiografie –, sondern die erkannte Entscheidungsmöglichkeit als »Zau berschlag[ ]« beschrieben (MLGIII, 35), mit dem die Erzählerin einmal mehr ihre Figur zur berufenen Entscheiderin erhebt, die gemäß dem Modus »Entscheiden durch Autorität« die »Entscheidungen zur rechten Zeit zu fällen« weiß.106 Indem sie zudem retrospektiv für diesen Wendepunkt ein konstitutives Entscheidensjahr deklariert (vgl. MLGI, 165), skizziert sie das verfügbare Entscheidensbewusstsein ihrer autobiografischen Figur als ein emanzipatorisches Ereignis.107 Laufbahn, hatte ihre heiße Neigung nur mit einer treuen, männlichen, bis an seinen Tod dauernden Freundschaft zu erwidern vermocht« (Spiero, Einleitung, S. 4). 105 Die erste Ehe nimmt in Heyses Autobiografie im Vergleich zur dargestellten Berufsentscheidung wenig Raum ein. Die Ehe scheint lediglich auf die bestandene Promotion als Intermezzo zu folgen, bevor es nach Italien geht: »Im Stillen war ich seit Jahr und Tag mit Kuglers Tochter, der ich das Märchen vom Glückspilzchen und dem langen Poeten erzählt hatte, heimlich verlobt. Dies öffentliche Geheimnis durfte nun ans Tageslicht kommen« (JBV, 122). Die Ehe dient dem Autobiografen zugleich dazu, eine zentrale Textgenese darzustellen. Für Heyse beginnt zwar als Witwer mit seiner zweiten Ehe ein »Neues Leben«, jedoch geht diesem Einschnitt kein langwieriger Entscheidensprozess voraus. Die Begegnung mit seiner zweiten Frau wird als »wundersames Glück« beschrieben, dass zu einem ad-hoc-Entschluss führt, denn ohne Entscheidensprozess – so resümiert der Autobiograf – »brachte ich es zur Entscheidung, mit so unbedenklichem Un gestüm, wie man ihn kaum einem jungen Hitzkopf, geschweige denn einem lebenserfahrenen Familienvater zugute halten konnte« (JBV, 315). Ebner-Eschenbach lässt ihre Eheentscheidung gänzlich unerwähnt. Fontane widmet seiner Ehe einzelne Kapitel, jedoch wirkt die Entscheidung wie ein Widerfahrnis und in keinem Fall wie ein drastischer Entscheidensprozess (vgl. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, GBA, Bd. 3, S. 350, 356-359), turbulent ist allein das Berufsleben (vgl. ebd., S. 439). Schnitzler geht vergleichsweise kurz der Frage nach, weshalb er sich nicht entschlossen habe, Helene Herz einen Heiratsantrag zu machen, um schließlich zu bilanzieren: »Der wahre Grund war der, daß es noch zu früh für mich war, um in den Ehestand zu treten« (JiW, 316; vgl. auch: ebd., 315). 106 Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 238. 107 Der Entscheidensprozess wird zu einem emanzipatorischen Ereignis, indem die autobiografische Figur ihr Entscheidensbewusstsein und ihre Entscheidenspotenz erkennt. Ihrem Vorwort zur ersten Auflage gibt Lewald-Stahr zahlreiche Zitate aus Goethes Schriften bei, die allesamt dem Ausdruck ›Individualität‹ gewidmet sind. Lewald-Stahrs Erzählung einer berufenen Entscheiderin lässt an das entwicklungsgeschichtliche Modell denken, das Jacob Burckhardt just zwei Jahre vor Lewald-Stahrs autobiografischer Erstpublikation herausgibt. Ebendort »erwacht« das Individuum, sobald eine objektive sowie subjektive Beobachtungshaltung
188
i v.2 eh e i n eigen r egi e
In diesem Zusammenhang wird das Schicksal einer Tante für die autobiografische Figur zu einer lehr- sowie hilfreichen Fallstudie: Im Alleingang besucht sie regelmäßig ihre »jüngste[ ]« Tante, die als Figur durchweg exemplarisch für das warnende Schicksal einer »unglücklich« verheirateten Frau steht.108 Ebendiese Tante besitzt »viel Empfindung für Poesie« sowie eine »hübsche Bibliothek« (MLGI, 163), für die sozialpolitisch engagierte und lesewütige autobiografische Figur, die ein »Gedächtnis der Empfindung […] [z]u den unschätzbaren Gütern« zählt (MLGI, 198), daher eine reizvolle Konstellation. Eingewendet werden muss an dieser Stelle jedoch, dass letztlich jedwede Literaturerfahrung an den Vater rückgebunden bleibt und so beginnt die den zukünftigen Entscheidensprozess vorbereitende Passage mit einem Zwiegespräch, das die autobiografische Figur mit ihrem Vater über Johann Wolfgang von Goethes Die natürliche Tochter führt:109 eingenommen werde. Lewald-Stahrs Entscheidensprozesse referenzieren Burckhardts kulturgeschichtliche Denkfigur, die der Aufklärung verpflichtet ist (vgl. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 137; vgl. auch: Gerok-Reiter, Individualität, S. 19, 23-25. Vgl. zur ›Individualität‹ in Lewald-Stahrs Autobiografie exemplarisch: Sonkwé Tayim, Narrative der Emanzipation, S. 130-139. 108 Als weiteres Fallbeispiel dient der Autobiografin später auch ihre Freundin und Kollegin Therese Bacheracht (vgl. MLGIII, 252). 109 Wie bei der Berufsentscheidung sind auch für die Eheentscheidung die Ausdrücke ›Natur‹ und ›Natürlichkeit‹ maßgebend, denn zumeist führt die Autobiografin vor, wie diese Ausdrücke ›sinnentstellend‹ verwendet und kulturpolitisch instrumentalisiert werden: »Wenn ich mich amüsierte, wenn ich an Vergnügungen, an Putz, an Menschenverkehr Freude zeigte, war die Mutter immer mit mir zufrieden. Sie fand mich dann mädchenhaft und natürlich; und ich hätte ihr und mir manche trübe Stunde sparen können, wäre ich klug oder unwahr genug gewesen, die ernstere Seite meiner Natur, welche sie als ›männlich und schroff‹ bezeichnete, vor ihr mehr zu verbergen« (MLGI, 162). So erläutert die Vaterfigur wiederholt der autobiografischen Figur, dass die Ehe »ihr naturgemäße[r] Beruf[ ]« sei, indem sie aus Goethes Iphigenie folgende Passage zitiert: »Der Frauen Zustand ist beklagenswert // Zu Haus’ und im Kriege herrscht der Mann // Und in der Fremde weiß er sich zu helfen. // Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg! // Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet. // Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück! // schon einem rauhen Gatten zu gehorchen, // Ist Pflicht und Trost; wie elend, wenn sie gar // Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt!« (MLGI, 185). Weiterführend ist hier auch eine Passage aus dem publizierten Tagebuch Gefühltes und Gedachtes: »20. Mai [1870]. Wenn man sehen will, wie die Menschen überall und in allem unter dem Bann der herkömmlichen Begriffe und Redensarten stehen, braucht man sich z. B. nur an die unvernünftige und überall gläubig nachgebetete Phrase zu halten: Der natür lic h e Be ruf der Fr au ist Gattin und Mutter zu sein! – Als ob dasjenige der Beruf eines Menschen sein könnte, was er durchaus nicht leisten kann aus eigner Machtvollkommenheit, sondern wozu ihm nur die nicht zu erzwingende freie Entschließung eines andern verhelfen kann. Wie die Jahrtausende das Verhältnis und die Lebensstellung der Geschlechter herausgebildet haben, könnte man mit
189
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Mein Vater hatte unter den Goethe’schen Dramen eine besondere Vorliebe für die »natürliche Tochter«. Es war daher auch eines der ersten, welche ich gelesen, und zwar ihm selbst zum großen Teile vorgelesen hatte. […] [E]r hatte […] mir den Charakter Eugeniens als einen solchen gerühmt, der sich zu entscheiden und zu bescheiden wisse, was für Frauen doppelt unerläßliche Eigenschaften und recht eigentlich Tugenden wären. Mich ließ das Drama gänzlich kalt. Die langen Gespräche, bei denen nach meiner Meinung alles nur darauf hinauslief, daß ein unglückliches Mädchen sich ohne seine Neigung verheiratete, zogen mich nicht an, und da die Jugend und das reife Alter sehr verschiedene Ideale haben und die Jugend sich glücklicherweise noch nicht auf sittliches Transigieren versteht, so flößte mir meines Vaters Ideal von Weiblichkeit, so flößte mir Eugenie mit ihrer Resignation eigentlich nur Widerwillen ein. Ich hätte es viel natürlicher gefunden, daß sie ihr Vaterland verließ, als daß sie sich ohne Liebe verheiratete […]. Als ich das gegen den Vater aussprach, tadelte er mich, indem er mir sagte, er bedaure es, daß er mich das Drama habe lesen lassen, ich verstände es offenbar noch nicht. Aber die Einsicht in den hohen Wert desselben werde mit den Jahren kommen, und er könne sich deshalb vorläufig die Erklärung sparen. Er hatte offenbar damit die Absicht gehabt, meine Wißbegier anzuregen und mich zu wiederholtem Lesen der Dichtung zu veranlassen. Indes sie mißfiel mir so gründlich, daß seine Absicht fehlschlug. Und der geheime Gedanke, meines Vaters Vorliebe für Eugenie rühre hauptsächlich von seiner Ansicht her, daß jede Frau sich verheiraten müsse und daß eine Frau, je gebildeter sie sei, sich auch um so würdiger in eine ihr nicht angemessene, ja unerwünschte Ehe schicken könne, machte mir die Resignation der natürlichen Tochter noch viel widerwärtiger. Eines Tages, als ich bei meiner Tante war, brachte ich das Gespräch auf Eugenie und darauf, daß der Vater sie und ihren Entschluß so erhaben fände. Die Tante […] sagte ungleich größerem Rechte den Satz aufstellen: Der natürliche Beruf des M an n e s ist Gatte und Vater zu wer de n! Das ist aber noch keinem Philosophen, noch keinem Staatsmann, noch keinem Theologen, ja noch keinem vernünftigen Menschen eingefallen« (Lewald, Gefühltes und Gedachtes, S. 136). Wie bereits erwähnt wurde, ist die gemeinsame Lektüre mit dem Vater für LewaldStahr wie auch für Heyse lebenslaufkonstitutiv. In Lewald-Stahrs Autobiografie wird die gemeinsame Lektürepraxis an die Eheentscheidung geknüpft. Diese Verbindung erinnert an die zahlreichen literarischen Lektüreduette, die innerhalb der diegetischen Welt eine beginnende Liebesbeziehung kompositorisch motivieren. Die gemeinsame Lektüre verfestigt bei der autobiografischen Figur die Entscheidung für eine ideale Liebesehe und auch die Entscheidung gegen eine Versorgungsehe.
190
i v.2 eh e i n eigen r egi e
dann ganz kurz: »Laß Dir doch nichts einreden! Das sagen sie so, weil es ihnen bequem ist!« […] »Es ist Unsinn zu behaupten, daß eine Frau sich an etwas gewöhnen könne, was ihr abstoßend ist. Habe ich mich denn an mein Los gewöhnt? Ich wußte, daß ich mein Todesurteil unterzeichnete, als ich mich verheiratete, und ich habe es ihnen gesagt. Aber sie haben mir alle zugeredet, alle – nun bedauern sie mich alle!« Sie hatte das mit einer ihr ganz fremden Bitterkeit gesprochen, und die Anklage, welche sie mit ihren Worten gegen ihre von ihr sehr geliebten Brüder, gegen den verstorbenen Onkel und gegen meinen Vater aussprach, von denen sie, wie ich wußte, mit dringenden Überredungen zu ihrer Heirat genötigt worden war, fiel mir schwer auf das Herz. Mehr noch erschreckte mich der plötzliche deutliche Blick auf das Unglück meiner Tante, das übrigens kein Geheimnis war, so geduldig sie es auch trug; und der Gedanke, daß man mir einst Ähnliches zumuten könne, bestürzte mich vollends. An jenem Tage aber, in meinem fünfzehnten Jahre, faßte ich den festen Entschluß, mich zu keiner Heirat überreden zu lassen und mich nie anders als aus voller Überzeugung und Liebe zu verheiraten. An jenem Tage entwickelte sich mir zum ersten Male ganz vollständig die Vorstellung, daß das Kind auch seinen Eltern gegenüber Rechte habe, es entwickelte sich in mir der Begriff meiner angeborenen Selbständigkeit auch meinem Vater gegenüber […] und meine Ideen richteten sich damit wie mit einem Zauberschlage über die Schranke des Hauses und der Familie, weit hinaus in eine eigene Zukunft und in eine weite Welt. Auch die Überzeugung, welche das Motiv zu manchen meiner Dichtungen geliefert hat, erwuchs in jener Stunde (MLGI, 163-165). Die autobiografische Figur wird als Wissensverwalterin und -vermittlerin vorgestellt, wenn sie das Trauerspiel, das als ein Entscheidungsdrama bezeichnet werden kann, vorliest.110 In der direkt anschließenden Interpretation kommt demgegenüber zunächst dem Vater die autoritative Deutungshoheit zu, wenn er Eugenie als eine Figur interpretiert, die sich vorbildhaft »zu entscheiden und zu bescheiden wisse«. Diese Deutung wird jedoch unmittelbar geradezu subversiv unterlaufen, wenn das lebensweltliche Schicksal der Tante die väterliche Interpretation als eine manipulative Fehl110 Anja Müller-Wood erläutert, dass es sich um »›Zieldramen‹ (auch Entscheidungsdramen)« handle, sobald die Handlung »sich auf ein einschneidendes Ereignis zu[bewegt]« (Müller-Wood, Drama, S. 144). Vgl. zur dramatischen Dimension des Entscheidens: Wagner-Egelhaaf, Trauerspiel und Autobiographie; HoffmannRehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 248; Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens, S. 633.
191
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
interpretation demaskiert. Die durchlebte Lebensrealität eines »unglück liche[n] Mädchen[s]« gibt vielmehr zu erkennen, dass Eugenies Ehe entscheidung kein positives exemplum sein kann. Demnach gelingt der autobiografischen Figur, die angesichts ihres Alters noch nicht die vorherrschende, nicht gleichberechtigte Entscheidenskultur internalisiert habe, kein »sittliches Transigieren«, dafür jedoch ein erfolgreiches »Transigie ren«,111 denn gerade die komparatistische Tätigkeit wird über die autobiografischen Bände und über die Auflagen hinweg zur Rechts- und Entscheidenspraxis. Die vermeintliche Fehlinterpretation der autobiografischen Figur wendet sich mit dem exemplarischen Unglück ihrer Tante zu einer folgerichtigen Deutung, die wiederum das unterstellte »Missverständnis« zum exegetischen Verständnis einer Konvenienzehe als eigentliche mes alliance transformiert.112 Der unmittelbare »Widerwillen« der autobiografischen Figur, Eugenies Entscheidung als vorbildhaft anzuerkennen, beweist, dass ihr die erkenntnishafte Begriffsbildung einer naturgesetzlichen Gegebenheit, nämlich die »angeboren[e] Selbständigkeit« gelungen sei. Eugenies Ehe resultiert für die autobiografische Figur nicht aus einer selbstbestimmten Entscheidung, sondern aus einer mutlosen »Resignation«. Notwendig ist für diese entscheidungsrelevante Erkenntnis eine philolo111 Hervorzuheben ist, dass die Ausdrücke ›transigieren‹, ›natürlich‹ und ›nötigen‹ jeweils eine rechtshistorische Konnotation haben. In Zedlers Universal-Lexikon steht zu ›transigieren‹: »(handeln, mit einem überein kommen, sich in der Güte vergleichen, vertragen, wenn nehmlich zwey streitige Partheyen vor oder nach dem Krieg Rechtens, da der rechtliche Ausspruch mißlich scheinet, entweder unter sich selbst, oder durch einen Drittmann, welcher daher in denen Rechten besonders Transactor genennet wird, ihre unerörterte Händel abthun und in der Güte beylegen« (Zedler, transigieren). In Goethes Drama bezieht sich das Adjektiv ›natürlich‹ dezidiert auf ebendiese semantische Dimension: »Nach dem römischen Recht, aus dem auch der Begriff (liber naturalis) entlehnt ist, ein außereheliches Kind, das in der Erbfolge nach der Mutter kommt, durch Legitimation oder Adoption war eine rechtliche Gleichstellung mit ehelichen Kindern möglich« (Borchmeyer und Huber, Die natürliche Tochter, S. 1160). Interessanterweise wird in der Autodiegese anhand des Dramas die virulente sozialpolitische und -rechtliche Ungleichstellung zwischen Frauen und Männern deutlich. 112 Lorey stellt zu Goethes Die natürliche Tochter fest, Eugenie sei »die ›typische‹ Adelige, die, wenngleich sie fürstlichen Qualitäten nacheifert, durchaus mit den für ihren Stand charakteristischen Merkmalen belastet ist: einer limitierten Weltsicht, einer realpolitischen Ahnungslosigkeit und eines überholten Traditionsbewußtseins. […] Damit stellt das Drama aber eine sinnentleerte Welt und eine vertrauensentfremdete Gesellschaft dar, die unaufhaltsam ihrem Untergang entgegengeht« (Lorey, Die Ehe im klassischen Werk Goethes, S. 120). Lorey hält fest, dass die Ehe für Eugenie zunächst das Ende »ihrer freien Selbstbestimmung und auch die Bewahrung ihrer Individualität« bedeute (ebd., S. 99). Aus ebendiesen Gründen lehnt die autobiografische Figur eine Versorgungsehe für sich ab.
192
i v.2 eh e i n eigen r egi e
gisch versierte Interpretation, die anschließend lebensweltlich abgeglichen respektive aus dem Abgleich zwischen Theorie und Praxis generiert wird. Anders gewendet: ›Autodidaktisch‹ folgt auf das Exempel die Probe.113 In der Autodiegese werden die ›Interpretation‹ und der ›Abgleich‹ zusammengebracht und rezeptionsästhetisch als aufklärerischer Akt dargeboten. Gemäß einem »[s]apere aude!« lehnt die autobiografische Figur ›entschlossen‹ und ›mutig‹ die Interpretation des Vaters – als beispielgebendes Vorbild – weiterhin ab.114 Schließlich dokumentiert Lewald-Stahr mit ihrem autobiografischen Projekt den »öffentlichen Gebrauch[ ]« der »eigenen Vernunft«, der, so Immanuel Kant, erfolgt, sobald »jemand als Gelehrter« die verfügbare Vernunft »vor dem ganzen Publikum der Leserwelt« anwende.115 Mit ihrem Entscheidensprozess demonstriert die Autobiografin eine gleich berechtigte Entscheidensbefugnis als ›natürliche‹ Gegebenheit und erklärt ihre soziale Wirklichkeit als verkehrt. Angesichts dessen vollzieht die autobiografische Figur Kants Aufklärungskonzept als Bewährungsprobe; diesem zufolge »ist es für jeden Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten«,116 die Entscheidung wird somit zur »Zumutung«.117 Für den autobiografischen Entstehungskontext sowie für die entscheidungsformale, aufklärerische Konzeption ist kennzeichnend, dass Goethe 113 Lewald-Stahr stellt ihre autobiografische Figur als Autodidaktin vor, dies erinnert an Kants praxisorientiertes Verstehenskonzept (vgl. auch: MLGI, 184). So erläutert Kant zur Schulung der »obern Verstandeskräfte«: »Die Gemütskräfte werden am besten dadurch kultiviert, wenn man das alles selbst tut, was man leisten will […]. Man versteht eine Landkarte am besten, wenn man sie selbst verfertigen kann. Das Verstehen hat zum größesten Hülfsmittel das Hervorbringen. […] Nur wenige Menschen indessen sind das im Stande. Man nennt sie (αύτοδίδαχτοι) Autodidakten« (Kant, I. Abt., Bd. 9, S. 437-499). Demgemäß wird auch Entscheiden als autodidaktischer, emanzipatorischer Lernprozess vorgestellt. 114 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, I. Abt., Bd. 8, S. 33-42. Ergänzt werden kann hier, dass Gabriele Reuter Das Probleme der Ehe anhand literarischer Beispiele erörtert und ihren Essay damit beschließt, dass viele Frauen eine gleichberechtigte Ehe als nachahmenswertes Beispiel vorleben sollten: »Darum möge sich die Frau in jedem einzelnen Falle sagen, daß ihre Ehe, wenn sie trotz aller Stürme und Gefahren geglückt ist, ein Beispiel wird für viele« (Reuter, Das Problem der Ehe, S. 67; vgl. ebd., S. 27, 35, 44). 115 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, I. Abt., Bd. 8, S. 33-42. Notwendig seien hierfür »Entschließung« und »Mut[ ]« (ebd., S. 53). Ebendiese Komponenten bestimmen jedweden Entscheidensprozess, den Lewald-Stahr zur Publikation freigibt. 116 Ebd., S. 54. 117 Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, S. 35; Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 12.
193
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
seine Fragment gebliebene Natürliche Tochter nach einer autobiogra fischen Quelle, namentlich Stephanie von Bourbon Contis Memoiren, gestaltet und sein Drama an das historische Umfeld der Französischen Revolution anlehnt sowie mit zahlreichen prominenten Entscheidensfiguren ausstaffiert.118 Dieses Dramenkonzept benennt bereits Adolf Stahr als »ab strakt symbolisch[ ]« und über einhundert Jahre später bezeichnen Dieter Borchmeyer und Peter Huber dieses unverändert schlüssig als »einen Weg symbolischer Abstraktion«.119 Die natürliche Tochter ist aufgrund ihrer »abstrakt symbolisch[en]« Entscheidensfiguren prädestiniert, als Entscheidungsressource inszeniert zu werden. Indes interpretiert die Autobiografin den Dramentext nicht schlichtweg, er dient ihr vielmehr als textuelle Vorlage, indem einzelne Wen dungen unmarkiert in den Erzähltext eingefügt werden, sodass sich in Lewald-Stahrs Erzählerinnenrede ausgewählte Ausdrücke wiederfinden lassen, die Eugenies Figurenrede zugehören. Die adaptierten Redesequenzen stellen einen intertextuellen Verweis dar und gleichermaßen bedingen 118 Lorey erläutert, dass Die natürliche Tochter nicht ausschließlich auf die Französische Revolution bezogen werden sollte, vielmehr würde Goethe mit diesem Dramentext drei unterschiedliche Ehemodelle diskutieren: »Das aristokratische Eheideal«, »[d]as bürgerlich-sentimentale Eheideal« und »[d]as überzeitlich- sakral-humanitäre Eheideal« (Lorey, Die Ehe im klassischen Werk Goethes, S. 94-108). Die Natürliche Tochter wartet etwa mit dem ›Zaudern‹ (vgl. NT, 307, 334, 347, 354, 374), dem ›Zufall‹ (vgl. NT, 317, 325 f., 361), dem ›Zeitdruck‹ und dem ›Augenblick‹ (vgl. NT, 328, 358, 368, 378), dem ›Schicksal‹ (vgl. NT, 338, 365, 378, 385), dem ›Los‹ (vgl. NT, 385), dem ›Apfel‹ (vgl. NT, 357, 362), dem ›Kreis‹ (vgl. NT, 358), der ›Seefahrt‹ (vgl. NT, 359, 370), dem ›Herz‹ (vgl. NT, 368), dem ›Zwiespalt‹ (vgl. NT, 371), dem ›Scheideweg‹ (vgl. NT, 385) und der Initialformel ›Was tun?‹ (vgl. NT, 350) auf. 119 Borchmeyer und Huber, Die natürliche Tochter, S. 1143; Stahr, Goethe’s Frauengestalten, S. 180. Geiger vermerkt zu Goethes Frauengestalten von Stahr: Dass »›Goethes Frauengestalten‹[,] das von 1865/66 an, wo es zuerst erschien, achtmal bis 1892 aufgelegt worden ist«, zeigt die Popularität ebendieser Studie an. Später bezeichnet Geiger Stahr als »Goethefeste[n] Mann« (Geiger, Einleitung [1903], S. 18, 54). Die Zuschreibung »abstrakt symbolisch« erklärt die ›verhaltene‹ Rezeption, die auch Scherer anmerkt: »›die natürliche Tochter‹, die am 2. April 1803 in Weimar gegeben ward und ebenfalls die Französische Revolution mit ihren Vorbereitungen im Auge hielt, aber die Gunst des deutschen Publicums bis heute noch nicht erlangen konnte, obgleich sie zu den vornehmsten und eigenthümlichsten Arbeiten des Dichters gehört. Es sollte den ersten Theil einer Trilogie bilden; und so als Bruchstück konnte es trotz der meisterhaften typischen Charakteristik, trotz ergreifend symbolischen Situationen […] nicht mit seinem vollen Werthe wirken. […] Ewig schade, daß wir nur den Anfang einer so großartig entworfenen Dichtung besitzen!« (Scherer, Geschichte der Deutschen Litteratur, S. 561 f.; vgl. zur Rezeption auch: Borchmeyer und Huber, Die natürliche Tochter, S. 1138-1145).
194
i v.2 eh e i n eigen r egi e
diese eine Textinterferenz zwischen Eugenies diegetischer Figurenrede und Lewald-Stahrs Erzählerinnenrede: »widerwillen« (NT, 386), »Widerwillen« (MLGI, 163); »Widerwärt’ges« (NT, 387), »widerwärtiger« (MLGI, 164); »Los« (NT, 385); »Los« (MLGI, 164), »fällt mit neuer Schwere mir auf die Brust!« (NT, 389), »fiel mir schwer auf das Herz« (MLGI, 164).120 Die gewählten Redesequenzteile sind Eugenies finaler Entscheidung entnommen, die das Drama beschließt. Folglich wird mit der zitierten diegetischen Entscheidung der autodiegetische Entscheidensprozess ausgelöst. Angelesene Entscheidungen werden gesammelt und anschließend ausgewertet, sodass einmal analysierte Entscheidungen als Ressourcen für etwaige Entscheidensprozesse dienen können. Exzerpierte, bewertete Entscheidungen eignen sich als Entscheidungsressourcen, da diese eine dezidierte Positionierung ermöglichen und gemäß einer Synthese argumentativ eingebettet werden können. Eine Parallellektüre zeigt zudem, dass die autobiografische Figur gerade die Entscheidung für sich fällt, die der Mönch Eugenie unterbreitet und die Eugenie für sich selbst ablehnt: Bist du zur Wahl genötigt, unter zwei // Verhaßten Übeln; fasse sie in’s Auge, // Und wähle was dir noch den meisten Raum // Zu heil’gem Tun und Wirken übrig läßt; // Was deinen Geist am wenigsten begrenzt, // Am wenigsten die frommen Taten fesselt […] // Wie kann der Priester segnen, wenn das Ja // Der holden Braut nicht aus dem Herzen quillt. // Er soll nicht Widerwärt’ges aneinander, // Zu immer neu erzeugten Streite, ketten (NT, 386 f.). Es ist die Entscheidung gegen eine Versorgungsehe, die der autobiografischen Figur vorerst den notwendigen »Raum« für ihr berufliches literarisches »Wirken« ermöglicht, gleichfalls ist es ebendiese lebenslaufkontitutive Entscheidung, die retrospektiv als werkentscheidende »Stunde« deklariert wird und das ›Herz‹ wird neben der ausgeprägten ratio zum zentralen Entscheidungsmedium. Erklärtermaßen ist es die entschiedene »Resignation der natürlichen Tochter«, die Lewald-Stahr für sich als »widerwärtig« bezeichnet und die sie darin bestärkt, fortan eine Liebesehe zu idealisieren.121 Daraus geht ein funktionaler Vergleich hervor: Indem Lewald-Stahr ihre mit Eugenies Entscheidung parallelisiert, inszeniert sie ihre autobiogra120 Die formulierte »Anklage« bezüglich scheinbar rationalen Versorgungsehen sowie das oktroyierte Lebenslos belasten Lewald-Stahrs »Herz« (MLGI, 164) – ein prominentes Entscheidungsmedium. Das mit der bricolage einhergehende Erzählverfahren der Textinterferenz ist auch in Heyses autobiografischen Entscheidens prozessen auffindbar. 121 Vgl. zum Ideal einer Liebesehe und zur lebenspraktischen Wirklichkeit exem
195 https://doi.org/10.5771/9783835349148
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
fische Figur als mutige Entscheiderin, die literarische Entscheidungsszenarien als hilfreiche Ressourcen zu nutzen weiß. Die argumentativ hervorgebrachten Alternativen des gesamten diegetischen Entscheidensprozesses wägt sie produktiv für sich ab. Frauenfiguren aus Goethes Werken und auch »Goethe als Literatur-Figur« bilden innerhalb des autobiografischen Projekts durchweg eine entscheidenspoetische Vergleichsfolie und Diskussionsgrundlage.122 Bemerkenswert ist abermals der faktuale Entstehungskontext, denn während Lewald-Stahr ihr autobiografisches Projekt voranbringt, befasst sich ihr Ehemann Stahr ebenfalls mit Goethe’s Frauengestalten.123 Wie auch seine Ehefrau hat er Eugenies Entscheidung im Blick und die parallele Beschäftigung mit Goethes Drama steht gewissermaßen – pars pro toto – für die kooperativen literaturwissenschaftlichen Studien des Ehepaars.124 plarisch: Huch, Romantische Ehe. Vgl. auch: Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 45. 122 Vgl. hierzu auch exemplarisch: Rheinberg, Fanny Lewald, S. 28 f.; Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 13; Honold, Kunz und Schrader, Goethe als Literatur-Figur. 123 Glaser vermerkt, dass dieses Projekt mit einem »ungewöhnlichen Erfolg« überraschte (Glaser, Adolf Stahr, S. 805 f.; vgl. auch: Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 51). Während Venske die Zusammenarbeit zwischen Stahr und LewaldStahr als asymmetrisches, patriarchal geprägtes Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis charakterisiert, betont Kittelmann mehr den dialogischen Aspekt der Zusammenarbeit, den auch Schneider sieht, zumal Lewald-Stahr mitunter die Herausgeberin des literarischen Nachlasses von Stahr war (vgl. hierzu auch: Schneider, »Meine Mutter paßt auf, daß mir Keiner was thut!«, S. 259 f.). Beide beziehen sich dabei auf Stahrs ›korrektive‹ Lesespuren in Lewald-Stahrs Briefen (vgl. Venske, Discipline and Daydreaming in the Works of a Nineteenth-Century Woman Author, S. 175, 181, 183 f.; Kittelmann, Von der Reisenotiz zum Buch, S. 157; Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 60). Kittelmann legt dar, dass Lewald-Stahrs Briefe an ihren Ehemann in jedem Fall zeigen würden, wie sie sich zunehmend an seinen »Interessengebieten und Forschungsfeldern« orientierte (Kittelmann, Von der Reisenotiz zum Buch, S. 157). Dennoch ist es problematisch, wie Venske lediglich Stahrs Einfluss auf Lewald-Stahr zu fokussieren und von einer Autorin weit mehr Autonomie zu verlangen als von Autoren. Zumal auch Lewald-Stahr die Briefe ihres Ehemanns korrigiert habe (Schneider und Sternagel, Vorwort, S. 10, 13). Auf diese Weise verfestigt sie ein problematisches Lehrer-Schülerinnen-Narrativ, das bereits Geiger unter einem anderen Aspekt anstimmt: »Sie war eine gefeierte Schriftstellerin, ihres Weges wohl bewußt und doch einer geistigen Führung bedürftig« (Geiger, Einleitung [1903], S. 41). Vgl. zu Lewald-Stahrs Buchmarktexpertisen allgemein: Rheinberg, Fanny Lewald, S. 140; Schneider, »Arbeiten und nicht müde werden«, S. 197199; Geiger, Einleitung [1903], S. 46; MLGIII, 110-112. Venske lässt dabei unerwähnt, dass Stahr bereits bei der Eheschließung mit Lewald-Stahr finanziell von ihr abhängig gewesen sei (vgl. Schneider, »Arbeiten und nicht müde werden«, S. 200 f.). 124 Mit dem verheirateten Adolf Stahr führt Lewald-Stahr neun Jahre eine Beziehung und heiratet ihn schließlich 1855 nach der Scheidung von seiner Ehefrau Marie
196
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Wissenswert ist, dass Stahr der Figur Eugenie »die Anlage […] einer Herrschernatur« zuschreibt und ihre Entscheidung dennoch als eine alternativlose Wahl interpretiert. In der natürlichen Tochter lässt Goethe Eugenie jedoch selbst ihre komplexe Entscheidungsnot dem Mönch mit dem topischen Strukturschema des Scheidewegs vorlegen: »Zu zwei verhaßten Zielen liegen mir // Zwei Wege vor den Füßen, einer dorthin, // Hierhin der andre, welchen soll ich wählen?« (NT, 385). Stahr setzt bei dieser Frage an und erläutert, weshalb Eugenies Entscheidung – trotz der vorgebrachten Bifurkation – eine alternativlose sei: [E]rst, als sie jede Aussicht auf Rettung von tyrannischer Gewalt verschwinden sieht, als keine Hand sich für sie erhebt, als sie sich durch einen Namenszug, der unter einem geheimen Befehl steht, selbst das Asyl der Kirche verweigert sieht, als Niemand für die Unschuldige nur wenige Schritte wagen mag, – als tödtliche Verbannung auf der einen und Selbstentwürdigung auf der andern sie ›einander ängstigen‹ […] – erst da entschließt sich das stolze herrliche Geschöpf, den Antrag des Geheimraths und seine Hand anzunehmen, aber – ohne ihm die Rechte des Gatten einzuräumen […]. Und was ist es, was das stolze Fürstenkind zu diesem Schritte letztlich treibt? Sie sagt es uns selbst in dem Selbstgespräche, welches der Entscheidung vorhergeht. Ihr eigenes Leben hat sie erkennen lassen, daß sie in dem Reiche, in welchem solch ein Geschick möglich ist, ein Herrscherthum, wie das dieses schwachen Königs, das nur noch zum Bösen, Gewaltthätigen, Ungerechten unumschränkte Macht besitzt, ein Herrscherthum, unter welchem die Unschuld nirgends Schutz gegen die Gewalt, das Recht keine Sicherheit gegen die Macht finden kann, verloren sein muß, daß sein noch bestehender äußerer Glanz ein hoher Schein, sein Dasein eine Lüge ist […]. Darum will sie im Vaterlande bleiben, selbst mit Aufopferung dessen, was ihr das Theuerste ist oder bisher war.125 Indem hier Eugenies Entscheidung als alternativlos und in Lewald-Stahrs Autobiografie als »Resignation« interpretiert wird, ist umfassend eine Vergleichsfolie geschaffen, vor der Lewald-Stahrs Autorfigur als berufene sowie gleichermaßen bewährte Entscheiderin – und somit als eigentliche, emanzipierte »Herrschernatur« – aufscheinen kann.126 Die interpretative Stahr (vgl. hierzu exemplarisch: Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 43-63). Vgl. zur symbiotischen Arbeitsgemeinschaft auch: RT, 256 f. 125 Stahr, Goethe’s Frauengestalten, S. 197. 126 Hier sei nochmals darauf verwiesen, dass die autobiografische Figur redundant anmerkt, »Herr [ihrer] […] Handlungen«, d. h. autonom sein zu wollen (vgl. hierzu exemplarisch: MLGI, 223; MLGIII, 44, 115, 296; RT, 44, 113, 209, 240, 287).
197
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Lektüre mit anschließender Diskussion avanciert dabei zum Schlüssel moment, denn erst diese philologischen Praktiken ermöglichen der autobiografischen Figur eine ›literatursoziologische‹ Erkenntnis respektive einen »plötzliche[n] deutliche[n] Blick auf das Unglück« einer arrangierten Versorgungsehe.127 Das Adjektiv ›plötzlich‹ gehört zum festen Rederepertoire, das die Erzählerin aufruft, sobald eine Entscheidung oder ein Entschluss dargestellt wird. Etymologisch beschreibt dieses Adjektiv einen zeitlichen Vorgang, der unerwartet eintrifft und demnach lediglich retrospektiv erfasst werden kann.128 Mit Rücksicht darauf wird eine Entscheidung als ein überraschendes Ereignis vorgestellt, für das der vorgelagerte Entscheidensprozess ausschließlich retrospektiv (re-)konstruiert werden kann. Der zeitliche Aspekt kommt auch der vorgestellten Entscheidungsnotwendigkeit zu, die unaufschiebbar bevorsteht. Weiterführend ist für die zeitliche Dimension Wagner-Egelhaafs Studie Trauerspiel und Autobiographie. Ebendort bestätigt sie anhand ausgewählter Fallbeispiele Lübbes These, dass ein zeitlicher »Zwang« notwendig für eine Entscheidung sei, weshalb sie festhält: »Es ist […] der Zeitdruck, der aus der Wahl eine Entscheidung macht«.129 In ihrer Analyse verweist Wagner-Egelhaaf zudem auf Peter-André Alts Studie Klassische Endspiele. In dieser verdeutlicht Alt ebenfalls, dass innerhalb eines dramatischen Settings Entscheiden an eine inszenierte Zeitknappheit gebunden sei, die er nach Johann Wolfgang von Goethes Über Laokoon, Lessings Laokoon und Friedrich Schillers Ueber das Erhabene als »Kategorie des Augenblicks«, »[a]ls prägnante[n] Moment« begrifflich
127 Ebendieser »Blick« schärft sich zunehmend, indem die autobiografische Figur Erfahrungswerte älterer Frauen anhört und diese sammelt (vgl. MLGI, 231 f.). Aus diesen extrahiert sie markante Merksprüche und stellt ihren Lebensweg als potenzielles Beispiel vor. Ihr autobiografisches Projekt setzt geradezu den folgenden metadiegetischen Kommentar um: »[D]ie Wirkung eines in Tätigkeit gesetzten Grundsatzes ist eine ganz andere als die der geschriebenen Doktrin […]. Ich glaube auch, daß die selbsttätige Entwicklung eines einzigen Satzes dem Menschen […] viel mehr Nutzen bringt als das massenhafte Kennenlernen des von Fremden gedachten. Mich haben systematische Lehrbücher über Theorien fast immer nur erschreckt und verwirrt denn sie waren mir meist zu mächtig; aber das einzelne lebendige Wort oder der Anblick eines bestimmten Tuns brachten mir Nutzen und förderten mich« (MLGI, 232). 128 Das Adverb ›plötzlich‹ »gehört zu Plotz ›Aufprall‹ […]. Die Bedeutungsentwicklung geht aus von der Schnelligkeit (und auch Unerwartetheit) solcher Vorgänge« (Seebold, plötzlich). Dementsprechend wird die Entscheidung als plötzlicher Einbruch innerhalb eines langwierigen Entscheidensprozesses vorgestellt. 129 Wagner-Egelhaaf, Trauerspiel und Autobiographie, S. 73.
198
i v.2 eh e i n eigen r egi e
fixiert.130 Die knapp bemessene Entscheidenszeit ist gleichermaßen für Die natürliche Tochter konstitutiv und akzeleriert dort das Tempo. Präzise spricht Juliane Vogel von einer Entscheidung »in letzter Sekunde«.131 Die strenge Zeitgestaltung gelingt Fanny Lewald-Stahr für ihre Lebens geschichte, weil die Autobiografin Eugenies Entscheidung als ›prägnanten Moment‹ präsentiert (vgl. auch: MLGIII, 57). Wenig überraschend ist es gerade Lewald-Stahrs auserkorener Schutzpatron, der in seiner Autobiografie beispielhaft vorstellt, wie ein Dra mentext kunstfertig genutzt werden kann, um einen autobiografischen Entscheidensprozess publikumswirksam in Szene zu setzen.132 Den Entscheidensprozess an eine interpretative Praxis zu binden, ist zudem kulturgeschichtlich beachtenswert, da sich gemäß Andrea Albrecht im 19. Jahrhundert eine rege Debatte zur Darstellung von Frauen- und auch Männerfiguren zwischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen etablierte. Diese wiederum förderte Debatten darüber, wie Beruf und Familie für Frauen vereinbar sein könnten. Albrecht erläutert mithilfe signifikanter Fallbeispiele, dass es […] wie bei Jean Paul und Rahel Levin auch in Hubers Essay [Ueber Weiblichkeit, in der Kunst, in der Natur und in der Gesellschaft] im Kern um die Entscheidungssouveränität der Frau, um die gesellschaftliche Anerkennung des weiblichen Willens [geht]. Da Entscheidungen über die eigene Lebensführung nur unter der Voraussetzung eines Spektrums von Handlungsoptionen getroffen werden können, streiten alle drei gegen die ausweglose Festschreibung der Frau auf ein fixiertes Rollenschema.133 Festgehalten werden können für Lewald-Stahrs autobiografisches Projekt zunächst fünf Aspekte, die darlegen, dass Eugenies Entscheidung prä destiniert dazu ist, sie als Entscheidungsressource umzudeuten: (1) Mit der Dramenanalyse werden prominente Entscheidensfiguren verfügbar, (2) diese können gemäß einer Synthese argumentativ eingesetzt werden. (3) Ferner kann eine dichte Zeitstruktur gestaltet werden, (4) die ein tertium comparationis verfügbar macht,134 (5) mit dem schließlich die eigene Ent130 Alt, Klassische Endspiele, S. 162; vgl. ebd., S. 160, 163, 165, 167. 131 Vogel, Fluchtauftritte, S. 193. Vgl. auch: Große, Die letzte Stunde. 132 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Trauerspiel und Autobiographie, S. 86. 133 Vgl. Albrecht, Bildung und Ehe »genialer Weiber«; Albrecht, »Ehe und NichtEhe ist eine individuelle Sache«, S. 286. 134 Johannes Grave führt zum tertium comparationis aus: »Indem der Vergleich seine Relata mit Hilfe des tertium comparationis, das sich seinerseits auf eine Gleich artigkeitsannahme stützt, ins Verhältnis setzt, kann er dazu beitragen, neue Erkenntnisse über die Objekte und ihre Beziehungen zueinander zu gewinnen oder
199
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
scheidung als ›mutig‹ und ›entschlossen‹, als ereignishafter Aufklärungsakt deklariert werden kann. Zentral hierfür ist das erzähltechnische Verfahren der bricolage, die nicht allein intertextuelle Verweise zulässt, sondern auch maßgeblich textinterferentielle Momente ermöglicht. Zwei weitere Aspekte, die wiederum Juliane Vogel erläutert, sind für Lewald-Stahrs autobiografische Aneignung des Dramentextes bedeutungsvoll: (1) Eugenie »misslingt […] jede Ankunft«, programmatisch hierfür stehe die Aussage: »›Doch, leider, ohne Namen tritt sie auf‹«.135 (2) Des Weiteren herrsche auch nach der Entscheidung eine »permanente Rastlosigkeit« vor.136 Mit der Entscheidung gegen eine Versorgungsehe ebnet die autobiografische Figur bereits den zielorientierten Weg zur eigenen Schriftstellerkarriere. Die ersten Texte erscheinen allerdings anonym, teilweise unter einem Pseudonym, darum erfährt auch Lewald-Stahr ihr Debüt unerkannt.137 Daraus folgt, dass ihrer Autorfigur eine Ankunft auf dem Buchmarkt und später in einem Kanon lediglich verzögert glücken kann. Jedoch wird diese mit dem autobiografischen Projekt versiert vorbereitet. Mit ihrer Entscheidung beginnt, wie für ihre diegetische Vergleichsfigur, eine »permanente Rastlosigkeit«.138 Die getroffenen Entscheidungen lösen den Konflikt nur punktuell. Der zuvor bereits angesprochene »Widerwille« stattet die autobiografische Figur mit der entscheidungsnotwendigen Diskussionsfreude aus, die sie unumwunden anstimmt: Ich selbst half mir meinen Verwandten gegenüber stets mit Trotz. […] Sagte man mir, ich sei zu vornehm, so versicherte ich, ich würde einmal noch viel vornehmer werden, wenn ich Herr meiner Handlungen wäre. Setzte man mir auseinander, daß ich für keinen Mann unseres Standes passe, so erklärte ich, daß es mir auch nie eingefallen sei, einen solchen jemals heiraten zu wollen (MLGI, 223).
135 136 137 138
200
bereits vorhandenes Wissen zu ordnen« (Grave, Vergleichen als Praxis, S. 137). Vgl. zu ›Praktiken des Vergleichens‹ ebenfalls: Epple, Doing Comparisons, S. 162 f.; Erhart, Beobachtung und Erfahrung, Sammeln und Vergleichen, S. 207, 218. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Eugenie als einzige Figur einen Namen hat, sodass mit dieser Aussage deutlich die diegetische von der nichtdiegetischen Welt getrennt wird. Vogel, Fluchtauftritte, S. 192 f. Vgl. hierzu exemplarisch: MLGIII, 77 f., 92, 97, 166 f., 212, 216, 221, 227, 237; Jacob, Fanny Lewald, S. 271. Möglich sind zumeist nur punktuelle Entlastungen und so muss eine (umfassende) Entlastung – wie sie Krischer veranschlagt – ein unerreichbares Ideal bleiben (vgl. Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, S. 35).
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Lewald-Stahr skizziert nebstdem über die einzelnen Bände hinweg, dass die Versorgungsehe zumeist damit einhergehe, die Figur der ›Kindfrau‹ zu kultivieren, demjenigen Typus also, dem ein Entscheidensbewusstsein vorenthalten werde. Die Kindfrau wird zur negativen Ikone einer reaktionären Entscheidenskultur, die die Erzählerin kommentiert: Was von den eigentlichen Kenntnissen gilt, das gilt natürlich in den meisten Fällen auch von der Lektüre der Mädchen, die wenigstens für die geistige Entwicklung und für das Heranreifen derselben etwas leisten und ihnen den Weg bahnen könnte, sehen, denken und urteilen zu können. […] [E]s gehört zu den abergläubischen Axiomen der Erziehung, daß jene Unschuld, welche im Nichtwissen besteht und welche die erste Stunde der Ehe zerstört, die eigentliche Seelenschönheit des Mädchens und seinen höchsten Reiz ausmache […]. »Meine Tochter ist noch ein völliges Kind!« das habe ich unzählige Male von Müttern als ein Lob der Tochter aussprechen hören, der man sobald als möglich einen Mann zu geben wünschte oder auf welche vielleicht eben die Wahl eines Mannes gefallen war. Auch Männer selbst haben mir rühmend gesagt: »Meine Braut, meine Frau ist noch ein völliges Kind« und es ist mir dann immer förmlich Angst geworden über eine solche Verblendung. Welche Früchte solche Unschuld und Unkenntnis tragen, davon hat wohl jeder Beispiele genug erlebt, und es wäre wirklich an der Zeit, daß man sich dazu erhöbe, von einem Weibe beim Antritt seiner Ehe, neben der Reinheit des Sinnes, die jeder Mensch, so Mann als Weib in sich zu kultivieren hat, auch einen ge sunden und gereiften Verstand und jene ernste Entwicklung zu verlangen […]. Es ist, um gar keinen Zweifel über meine Forderung Raum zu lassen, es ist die Emanzipation der Frau, die ich für uns begehre; – jene Emanzipation, die ich für mich selbst erstrebt und errungen habe (MLGII, 69). Die literarische Bildung sowie die Exzerpierkunst ermöglichen – gemäß Lewald-Stahr – der Jugend, gleichberechtigtes Selbstbewusstsein und die eigenverantwortliche, gezielte Entscheidbarkeit des Lebens zu er lernen.139 Rhetorisch geschult gibt Lewald-Stahr jeder pädagogischen Ab139 Alberto Cevolini erläutert, dass der Kunst des ›Exzerpierens‹ eine zentrale kulturund wissenschaftsgeschichtliche Funktion zukomme, insofern mit dieser systematisch und strukturiert Wissen erworben, geordnet und verwaltet werde. Dies ermögliche, dass die exzerpierten Wissensbestände zügig parat seien und situativ verwendet werden könnten (vgl. Cevolini, exzerpieren).
201
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
handlung ein Fallbeispiel bei und so auch in dieser Passage,140 wenn sie anschließend darlegt, wie Goethes Wahlverwandtschaften retrospektiv zu einem einprägsamen Lehrstück geworden sei:141 Ich denke dabei in diesem Augenblicke an die Wahlverwandtschaften. Ich war sehr jung, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, als ich in Königsberg diesen Roman einmal zufällig bei meiner jüngsten Tante aufgeschlagen fand und ihn zu lesen begann, während meine Tante schlief. Der Anfang hatte für mich etwas Erschreckendes. […] [P]lötzlich kam mir, obschon ich nur die Tante zu besuchen brauchte, um den Roman in der Stille ganz gemächlich beenden zu können, der feste Vorsatz, diese Dichtung nicht zu lesen. Das war aber nicht Gehorsam gegen meinen Vater, nicht ein Trieb meines Gewissens, es war das instinktive Zurückschrecken vor einer Welt, die zu erfassen mir noch die Kraft gebrach. Vier Jahre später […] meinte [ich] […], daß ich versuchen könne, sie mir anzueignen. Gedacht, getan! Ich machte mich ans Werk. Der Roman fesselte mich, ich las ihn wieder und wieder, und doch war es noch nicht das Element der Liebe, der Leidenschaft, das mich an ihm entzückte, denn ich hatte die Liebe und die Leidenschaft noch nicht in ihrer ganzen Kraft gekannt. Es waren ernste Bemerkungen, Aussprüche zu Gunsten der Ehe, die ich nach dem zweiten Lesen des Romans in meinem Exzerptenbuche aufgezeichnet finde. […] Es ist der Jugend jedenfalls besser, ihren Geist früh an großen Gedanken und Problemen zu üben, als leer an äußerm Tand zu hängen (MLGII, 71 f.; vgl. auch MLGIII, 215).142 140 Die Erzählerin betont mit diesem Erzählverfahren den pädagogischen Auftrag, der ihrer Autodiegese sichtlich zukommt. Die autobiografische Figur stellt dem Lesepublikum in unterschiedlichen Zusammenhängen das »Unglück« ungebildeter Frauen und einer dem Stand nach arrangierten Ehe vor (vgl. MLGI, 7). Vgl. zur ›pädagogischen Dimension‹ der Lebensgeschichte exemplarisch: MLGI, 67, 82, 134, 136, 231; MLGII, 67, 233. 141 Dies gilt sogar in zweifacher Hinsicht, denn laut Schwieren werden mit diesem Text bereits ökonomische Archivpraktiken vorgestellt (vgl. Schwieren, Gerontographien, S. 121 f.). 142 Mit der vorgestellten Lektürepraxis wird nahezu Goethes Lektüreempfehlung befolgt. So schreibt er am 15. September 1809 Christiane von Goethe, um ihr konzise Lektüreanweisungen für die noch unveröffentlichten Wahlverwandtschaften aufzuerlegen: »1.) Daß ihr es bei verschlossenen Türen leset. 2.) Daß es Niemand erfährt, daß ihrs gelesen habt. 3.) Daß ich es künftigen Mittwoch wieder erhalte. 4.) Daß mir alsdann zugleich etwas geschrieben werde von dem, was unter Euch beim Lesen vorgegangen«. Erstaunlicherweise strukturieren diese Etappen den Lektüre prozess der autobiografischen Figur: Die Lektüre vollzieht sie geheim im Privatzimmer der jüngsten Tante und ebendort liest sie die Wahlverwandtschaften, anders als Die natürliche Tochter, mehrmals. Das einprägsame, lebenlaufkonstitutive
202
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Das Fallbeispiel bindet die Erzählerin mit der deiktischen Wendung »in diesem Augenblick« und mit der kommentierten Archivierungspraxis an die gegenwärtige Erzählsituation und -perspektive der Autobiografin.143 Es ist abermals die Büchersammlung der »jüngsten Tante«, die hier in den Blick gerät und die der autobiografischen Figur einen enstcheidenskonstitutiven Literaturzugang ermöglicht. Weiterführend ist zudem Christoph Brechts und Waltraud Wiethölters Beobachtung für Die Wahlverwandtschaften, dass innerhalb der diegetischen Welt »die Lektüre über das Leben entscheidet«.144 Dies gilt offenkundig in gleicher Weise für LewaldStahrs autobiografische Figur, die literarische Texte als Entscheidungs ressourcen zu exzerpieren, zu archivieren und zu nutzen weiß. Zentral ist, dass ihr für die kontingente Lektüremöglichkeit allerdings vorerst die »Kraft« fehlte. In den hier vorgestellten Autobiografien werden jeweils ausgewählte kanonische Klassiker vorgestellt, die bei der ersten Lektüre ein »Zurückschrecken« oder Zweifel auslösen. Später jedoch werden ebendiese Lektüreerfahrungen zu Marksteinen innerhalb eines mehrjährigen, emanzipatorischen Entscheidensprozesses. Die alliterative exclamatio »Gedacht, getan!« ist interessanterweise an eine direkte Figurenrede aus den Wahlverwandtschaften angelehnt (»Gesagt, getan«),145 die die Erzählerin als intertextuelle Referenz in den Erzähltext einflicht und auf eben jene Passage verweist, in der die Figur Mittler die Ehe als »Anfang und […] Gipfel aller Kultur« bezeichnet, da diese »so vieles an Glück« bringe.146 Diese Passage erfolgt dort, kurz bevor die anvisierten Scheidungen der Baronesse und des Grafen diskutiert werden.147 Die
143 144 145 146 147
Lektüreerlebnis wird erst retrospektiv mit dem autobiografischen Projekt eingeholt. Den Aspekt der repetitiven Lektüre greift Goethe am 1.10.1809 auf, wenn er an seinen Verleger Cotta schreibt, er hoffe, dass das Lesepublikum den Wahlverwandtschaften eine »wiederholte[ ] Betrachtung« zukommen lasse. LewaldStahr erscheint geradezu als die gewünschte Leserin (Johann Wolfgang von Goethe an Christiane von Goethe, 15. September 1809, FA, Bd. I.8, S. 981; Johann Wolfgang von Goethe an Johann Friedrich Cotta, 1. Oktober 1809, FA, Bd. 2.6, S. 617619; vgl. zur ›wiederholten Lektüre‹ auch: Brecht und Wiethölter, Zur Deutung, S. 985). Gegen Ende des zweiten Bandes bereitet die Autobiografin einen berufsentscheidenden Umzug nach Berlin vor, indem sie aus den Wahlverwandtschaften zitiert und den Brief als prominentes Entscheidungsmedium bemüht, um den Vater darüber zu informieren (vgl. MLGII, 262 f.). Der ›Augenblick‹ ist bei Goethe bekanntermaßen eine zentrale Vokabel, insofern überrascht es kaum, dass Lewald-Stahr diese prominent platziert. Ebd., S. 1011. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, FA, I. Abt., Bd. 8, S. 337. Ebd., S. 338. Vgl. ebd., S. 335 f., 339.
203
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Entscheidungen für eine Ehe und Scheidung bindet Goethe an jeweils unterschiedliche Figuren, sodass diese stellvertretend für differenzierte Argumente stehen und fortan in etwaige Texte als personifizierte Argumentationsfiguren eingehen mögen. Indem die autobiografische Figur die Figurenrede des Mittlers zitiert, wird ironisch auf einen Standpunkt verwiesen, den sie zuvor akribisch widerlegt, denn die »Ehe« bringt gemäß der autobiografischen Figur ›ebenso vieles an Unglück‹. Signifikant verweist die Figur des Grafen, der für eine optionale Scheidung plädiert, demgegenüber auf die eklatante Diskrepanz zwischen Fakt und Fiktion, wenn er darlegt: Wir mögen uns die irdischen Dinge, und besonders auch die ehelichen Verbindungen gern so recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten Punkt betrifft, so verführen uns die Lustspiele, die wir immer wiederholen sehen, zu solchen Einbildungen, die mit dem Gange der Welt nicht zusammentreffen.148 Die Diskrepanz zwischen dem literarischen Beispiel und der Lebensrealität von Lewald-Stahrs Tante wird mithilfe dieser intertextuellen Referenz erneut betont. Mit Goethes Wahlverwandtschaften, Die natürliche Tochter und Lewald-Stahrs eigens angelegtem »Exzerptenbuche«, in dem die literarischen Fallbeispiele als zitierfähige Entscheidungsressourcen verwahrt werden, wird die autobiografische Figur für die Entscheidung gegen eine Konvenienzehe gerüstet und die Entscheidung wird an selbstarchivarische, philologische Praktiken rückgebunden. Um eine Entscheidungsressource handhabbar zu machen, ist die dreigliedrige Klimax »sehen, denken und urteilen« (MLGII, 69) unabdingbar. So exemplifiziert Lewald-Stahr, dass (1) eine Beobachtung respektive Lektüre (»sehen« [MLG II, 69]), (2) eine detaillierte, komparatistisch angelegte Interpretation (»denken und urteilen« [MLGII, 69]) und (3) schließlich eine entschlossene Anwendung notwendig sind, sobald sich der Entscheidensbedarf unabwendbar ankündigt. Mit der Entscheidungsnotwendigkeit für oder gegen eine Ehe wird die autobiografische Figur, wie auch bei den vorherigen Entscheidungen, »plötzlich« konfrontiert und abermals vollziehen sich die entscheidungs relevanten Diskussionen in familialen Räumen. Indes lebenslauf- sowie werkkonstitutive Entscheidensprozesse bevorzugt in intimen Räumen dargeboten werden, zeigt sich deutlich, dass nicht allein die Zeitsemantik konstitutiv für 148 Ebd., S. 340. Insgesamt zeichnet der Graf ein wenig ideales Bild von einer Ehegemeinschaft, die ausschließlich auf einer Versorgung beruht: »[D]ie Heiraten [haben überhaupt] […] etwas Tölpelhaftes; sie verderben die zartesten Verhältnisse, und es liegt doch eigentlich nur an der plumpen Sicherheit, auf die sich wenigstens ein Teil etwas zu Gute tut« (ebd., S. 344).
204
i v.2 eh e i n eigen r egi e
eine Entscheidung ist. Vielmehr sind ein gesetzter Zeitrahmen und ein intimer, kontrollierbarer Kommunikationsraum gleichermaßen entscheidenskonstitutiv. Bedeutsam für die intimen Kommunikationsräume ist, dass Beate Rössler in ihrer Monografie Der Wert des Privaten »dezisionale[ ] Privatheit« als einen »Anspruch« definiert, vor »Fremdbestimmen bei Entscheidungen und Handlungen geschützt zu sein«. Dies mag vornehmlich in einer Interaktion unter Vertrauten gegeben sein.149 Ebendiesen Anspruch erhebt die autobiografische Figur nach einem Gespräch mit ihrem »jüngste[n] Bruder« (MLGII, 129), der mit ihr die sich ankündigende Entscheidungsnotwendigkeit angesichts einer noch unbestimmten Zukunft bespricht: [E]r kam, als es schon dunkelte, in meine Stube, setzte sich zu mir an das Fenster, sprach ernst von seiner Kranken, von seiner Zukunft, und fragte dann plötzlich: »Was wird denn aus dir werden?« […] Auf seine Anrede […] war ich […] gar nicht gefaßt gewesen, und ich fragte ihn daher, was er damit wolle? Er wußte es mir anfangs selber nicht zu sagen und meinte endlich: »Ich glaube, sie wollen dich verheiraten.« – »Mich?« rief ich aus, »mit wem? Wie kommst du darauf?« – »Ich weiß nicht, ich habe so etwas gehört!« – »Aber mit wem denn?« wiederholte ich beängstigt. »Das weiß ich nicht!« versicherte er. […] »Du kannst Dir ja denken, mir sagen sie nichts, und das ist mir auch ganz lieb!« versicherte er; und mit einem Male die Stimme ändernd, sprach er sehr zärtlich: »Tu’s aber nicht, wenn du nicht willst! Ich hab’s an der N … (er nannte den Namen der Frau, die ihn beschäftigt hatte) gesehen, es ist eine elende Geschichte, wenn eine Frau sich aus ihrem Manne nichts macht; und so widerwärtig ein Leben als alte Jungfer ist, besser als eine Heirat ohne Neigung ist es doch!« […] Ich […] hatte keine Ruhe mehr seit jener Unterhaltung, und das angedrohte Unheil ließ auch nicht lange auf sich warten (MLG II, 131 f.).150 Die Erzählerin verlegt das Gespräch in die »Stube« der autobiografischen Figur, in einen privaten Raum, der eine intime, ungestörte Unterredung ermöglicht. Hervorzuheben ist, dass auch dieser Entscheidensprozess, wie bereits die vorherigen Entscheidungen bezüglich der Konfession und des Familiennamens, mit einem eklatanten Wissensdefizit einhergeht, den es fortan aufzuholen gilt. Die autobiografische Figur und ihr Bruder werden als Vertreter einer neuen Generation vorgestellt, die über ein emanzipiertes 149 Beate Rössler, Der Wert des Privaten, S. 25. 150 Eine Entscheidung rein aus Pflicht und ohne Neigung widerspricht gemäß Schiller dem Konzept einer ›schönen Seele‹ (vgl. Schiller, Über Anmut und Würde, FA, Bd. 8, S. 342, 365; vgl. ebd., S. 370).
205
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Entscheidensbewusstsein sowie selbstbewusstes Autonomieverständnis verfügen, das sich stetig entwickelt und für einen Konventionskonflikt steht. Im Falle der autobiografischen Figur wird dies mit philologischer Akribie vorbereitet. Demnach ist der eigene ›Wille‹ (»Tu’s aber nicht, wenn du nicht willst!« [MLGII, 131]) fortan ausschlaggebend für eine gelingende oder zumindest akzeptierte Entscheidung. Bezeichnend ist, dass bereits hier die »alte Jungfer« pejorativ als eine weitere negative Ikone dargestellt wird (vgl. MLGII, 148, 187; MLGIII, 218 f.), die dennoch angesichts einer unglücklichen Versorgungsehe das geringere Übel darstelle. Ein positiv konnotiertes Frauenbild verkörpert für LewaldStahr weder die Kindfrau noch die alte Jungfrau. Mehr noch: Eine vorbildhafte Referenzfigur stellt ein Desiderat dar, das Lewald-Stahr für ihre Autorfigur selbst aufgreift. Insofern entwirft sie mit ihrer Lebensgeschichte ein antagonistisches Frauenbild, das dem Lesepublikum eine Autorfigur vorlegt, die als wirkmächtige Ikone womöglich in die Literaturgeschichte eingehen mag. Unmittelbar nach dem Zwiegespräch darf die autobiografische Figur den ihr zugedachten Bräutigam kennenlernen. Die vorgeschlagene Partie kann von ihr jedoch – auch retrospektiv – ausschließlich als eine drohende Mesalliance angesehen werden: [I]ch war im tiefsten Innern empört und erbittert darüber, daß man nur daran denken konnte, mir einen Mann zum Gatten zu geben, den beide Eltern sicherlich nicht zu unserm Umgangskreise gezogen haben würden, hätte er mich nicht zur Frau zu nehmen gedacht (MLGII, 133). In der zitierten Passage legt die Erzählerin dar, dass eine nicht gleichberechtigte Entscheidenskultur auch maßgeblich den Wert stiftet, der einzelnen Personen zugeschrieben wird, so ist die vorgestellte Entscheidenskultur doppelt diskriminierend. Mit dem unabwendbaren Entscheidensbedarf ist die autobiografische Figur gezwungen etwaige Alternativen zu generieren, um den elterlichen Entschluss in einen verhandelbaren Prozess zu überführen. Die Erzählung gewinnt allmählich einen szenischen Charakter und erinnert an ein Kammerspiel, wenn sie an einem chronotopisch organisierten Scheideweg mündet: Ich fand meinen Vater allein und sehr bewegt. […] Der Assessor habe ihn um meine Hand gebeten, und er wünsche und hoffe, daß ich mich bereit finden lassen würde, sie anzunehmen. Diese Redeform, die ganz gegen meines Vaters sonstige Ausdrucksweise verstieß, gab mir deutlich kund, daß er selbst von meinem Bewerber nicht eben eingenommen war, 206
i v.2 eh e i n eigen r egi e
und ich erklärte daher unumwunden, daß es mir leid tue, meinem Vater seinen Wunsch und seine Hoffnung nicht erfüllen zu können. Er schwieg einen Augenblick und bemerkte danach: »Überlege Dir die Verhältnisse, mein Kind! Du bist nicht mehr jung, du bist fünfundzwanzig Jahre. Ich befinde mich leider nicht in der Lage, dir ein Vermögen zur Mitgift zu geben, man weiß, daß ich kein reicher Mann bin, und ich habe fünf Töchter außer dir. […] Der Assessor wählt dich um deiner selbst willen […]; ganz abgesehen davon, daß eine Frau selbst in einer nicht ganz glück lichen Ehe noch immer besser daran ist als ein altes Mädchen«. Ich fragte, ob der Vater diese letztere Erfahrung an seiner jüngsten Schwester gemacht habe, deren unglückliche Ehe uns allen stets ein Gegenstand des Kummers gewesen war […]. Mein Vater war sehr weich und äußerst gelassen. In mir wogten die verschiedensten Empfindungen auf und nieder. […] Ich mußte solchen Heiratsvorschlägen ein für allemal ein Ende machen, das fühlte ich. Ich erklärte meinem Vater also, daß nichts mich bestimmen könne, eine Heirat ohne Neigung einzugehen, und sagte, wenn er mich zu einer solchen zu überreden gewünscht, wenn er die Absicht gehabt hätte, aus mir nichts zu machen als eine der Frauen, die sich für ein gutes Auskommen einem Mann verkaufen, so hätte er mir die Erziehung nicht geben dürfen, die ich von ihm erhalten, so hätte er mich nicht selbständig werden lassen müssen. Mir sei eine Dirne, die sich für Geld verkaufe, wenn sie nichts gelernt habe und ihre Familie arm sei, nicht halb so verächtlich als ein Mädchen, das genug gelernt habe, um sich zu ernähren, und sich für Haus und Hof verkaufe. Mein Vater unterbrach mich, da ich heftig geworden war. »Ehe du weitersprichst«, sagte er, »will ich dir nur das eine noch bemerken. Ich weiß, wie du an Tante Minna hängst. Ich habe in diesem Falle nicht allein über dich entscheiden wollen. Ich habe an die Tante geschrieben und sie gefragt, was sie in solcher Lage tun und ob sie sich nicht berechtigt glauben würde, ihre Töchter zu einer Heirat zu zwingen, wenn sie eine solche ohne vernünftigen Grund von sich wiesen; und die Tante stimmt mir darin bei, daß man alle Mittel aufbieten müsse, solchen Zwang auszuüben.« Er reichte mir eine Abschrift seines Briefes an die Tante und deren Antwort hin. Ich sollte sie lesen, ich sah sie auch durch, aber ich verstand vor Zorn, vor Scham, vor Kränkung kaum, was ich las. […] Die[ ] Vorstellung, daß mein Vater, den ich so unsäglich liebte, mich zu zwingen, mich ins Unglück zu stoßen dachte […], brachte mich außer mir. »Du willst mich zwingen, wie willst du das machen, lieber Vater?« fragte ich. »Meinst du mich einzusperren oder mich hungern zu lassen? Oder was kannst du mir tun, wodurch ich mich zu einer Erniedrigung meiner selbst bewegen lassen würde? Bin ich 207
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
dir zur Last, lieber Vater, so sage es, und ich will gehen und mir mein Brot selbst verdienen, da du mir ja die Mittel hast angedeihen lassen, es zu können; und es wird vielleicht für mich und für uns alle am besten sein, wenn das geschieht!« Meinem armen Vater traten die Tränen in die Augen, er mochte darauf nicht vorbereitet gewesen sein, und es mochte ihm plötzlich der Gedanke kommen, daß ich nicht mehr glücklich in seinem Hause und überhaupt nicht glücklich sei. Er nahm mich bei der Hand und sprach mit der Stimme, die mir so unwiderstehlich war: »Fanny! Wer denkt denn daran! Aber ich bitte dich, dein Vater bittet dich darum, diese Heirat einzugehen, du würdest mich und die Mutter sehr glücklich dadurch machen.« – Ich fing zu weinen an. Den Vater mich bitten zu hören und nicht ja sagen zu können, zerriß mir das Herz. »Quäle mich nicht, lieber Vater!« flehte ich, »ich kann nicht! Ich kann nicht heiraten!« Mein Vater saß auf dem Sofa, ich stand vor ihm. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt. Mit einem Male stand er auf. »Also das ist dein letztes Wort, es bleibt bei nein!« – »Ich kann nicht anders!« wiederholte ich. »Gut denn! Also nein! Und ich will hoffen, dass du es später nicht einmal bedauerst.« Er küßte mich und ging hinaus. […] Elender als in der Stunde habe ich mich in meinem ganzen Leben nicht gefühlt (MLGII, 133-136).151 Primär werden in der zitierten Passage die Entscheidung als dialogisch organisierter Aushandlungsprozess zwischen Tochter und Vater, aber auch die Prämissen für die Emanzipation der Tochter zur unabhängigen Schriftstellerin verhandelt.152 Zugleich ist der Vater ein Mentor für die auto biografische Figur, da er ihr den Zugang zu Literatur und Bildungsgütern ermöglicht, die wiederum die autobiografische Figur fortan eigenständig verwaltet. Der hier vorgestellte Entscheidensprozess ist insofern antagonistisch organisiert, als eine rhetorisch aufgebaute Alternativlosigkeit unmittelbar, durch die autobiografische Figur, umgemünzt wird. Vorerst unterbreitet der Vater der autobiografischen Figur unumwunden, dass es sich in ihrem Fall um eine alternativlose Entscheidung respektive zwingende Fügung handle, denn eine »nicht ganz glückliche Ehe« sei einem 151 Lorey stellt fest, dass in Goethes Die natürliche Tochter »kein einziges Versprechen eingehalten« werde, wirkungslos sei demnach auch der »›heilige[ ] Vaterkuß‹ (277)« (Lorey, Die Ehe im klassischen Werk Goethes, S. 117). In der autobiografischen Parallelszene wird der Vaterkuß zum Siegel einer akzeptierten Entscheidung, sodass die Autobiografin als bewährte Entscheiderin in zukünftigen Literaturgeschichten auftreten darf. 152 Lewald-Stahr beginnt sich im Verlauf ihrer Schriftstellerkarriere von der familiären Bitte zu lösen, ihre Texte anonym zu publizieren. Vgl. hierzu exemplarisch: MLGIII, 7; Rheinberg, Fanny Lewald, S. 108.
208
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Leben als »altes Mädchen« vorzuziehen, da die finanzielle Lage sie schließlich vollends jeglicher Optionalität berauben werde (MLGII, 134).153 Die Entscheidung gegen eine Versorgungsehe legt der Vater als ungangbaren, imaginierten, nämlich unverfügbaren Scheideweg aus. Ebendort setzt die autobiografische Figur an und baut diese spärliche Verästelung zu einem alternativen Lebensweg aus. Die »unglückliche Ehe« der jüngsten Tante führt sie hierfür als bekanntes Beispiel an, um das Argument, eine »nicht ganz glückliche Ehe« sei dem Dasein als ein »altes Mädchen« vorzuziehen, zu entkräften (MLGII, 134). Den finanziellen Mangel wiegt sie kurzum mit ihrem Bildungsreichtum auf, der ihr verbiete, dass sie »sich für Haus und Hof verkaufe«. Es ist vornehmlich die literarische Bildung, die es ihr ermöglicht habe, »selbständig« ein autonomes Entscheidensbewusstsein zu kultivieren (MLGII, 135). Die erzwungene und gesellschaftlich honorierte Versorgungsehe klassifiziert Lewald-Stahr als diskriminierendes »Moralexempel«, das lediglich unglücklich mache und gesellschaftliche Stagnation begünstige (MLGII, 193). Der Vergleich einer unglücklichen Ehe mit Prostitution wird in der Autobiografie wiederaufgenommen, wenn die Erzählerin ihren Roman Clementine bespricht und ihr autobiografisches Entscheidensnarrativ zu einer Abhandlung über die Ehe im 19. Jahrhundert ausgestaltet. Indem die Autobiografin die Entstehungsgeschichte zu ihrem Roman Clementine darlegt, figuriert sie ihre eigene Ehe- und Berufsentscheidung als werkentscheidendes Ereignis, die Autobiografie wird somit zur Werkbiografie (MLGIII, 13 f.). Angesichts der skizzierten Optionalität legt der Vater unmittelbar seine Entscheidungsressourcen offen, sodass auch hier ein Brief als bevorzugtes Entscheidungsmedium präsentiert wird, mit dem eine drängende Entscheidung diskutiert, gleichermaßen externalisiert werden kann oder wie die »lettre de cachet« in Die natürliche Tochter schlichtweg Entscheidungszwang bewirkt.154 Der Vater zitiert sich selbst, wenn er darlegt, dass es sich um eine valide, alternative Fügung handle, sofern es keinen »vernünftigen Grund« gebe (MLGII, 135), der eine Entscheidung gegen eine Versorgungsehe legitimiere. Während in der Natürlichen Tochter der Mönch das »Herz« (NT, 387) zum primären Entscheidungsmedium erhebt, de 153 Hervorzuheben ist an dieser Stelle Michaela Hohkamps Feststellung, dass bereits vor dem 19. Jahrhundert »ein Leben außerhalb der Institution Ehe, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig, durchaus kein gesellschaftliches Kuriosum war« (Hohkamp, Wer ist mit wem, warum und wie verheiratet?, S. 31). 154 Vogel, Fluchtauftritte, S. 192; Vgl. Borchmeyer und Huber, Die natürliche Tochter, FA, I. Abt., Bd. 6, S. 1139.
209
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
klariert der Vater die ›Vernunft‹ zum alleinigen Kriterium, ebendiese Kluft schließt die autobiografische Figur mit dem zuvor ausgesprochenen Ausdruck »Neigung« (MLGII, 134) und gleichermaßen verweist sie mit dem metaphorischen Bild eines zerrissenen Herzens auf eine decisio.155 Mit dem Ausdruck ›Neigung‹ wird ein weiterer entscheidungsrelevanter sowie -poetischer Text in das autobiografische Projekt eingefügt, nämlich Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde. Charakteristisch stehe ebendiese für den »Versuch die Vernunft zur Anschauung zu bringen«,156 erklärtermaßen setzt Lewald-Stahr die skizzierte Versuchsanordnung mit zahlreichen fiktionalen sowie faktualen Fallbeispielen innerhalb ihrer Lebensgeschichte um. Bemerkenswert ist, dass Schiller dem »Empfinden[ ] und Wollen[ ]« lebensverändernde Kraft zuschreibt und den »Zustand des Gemüts, wo Vernunft und Sinnlichkeit – Pflicht und Neigung – zu sammenstimmen« als einen Idealzustand entwirft.157 Ein glückliches, selbstbestimmtes und entscheidensbewusstes Leben führt die Person, die ratio und sensus zu vereinen weiß. Lewald-Stahrs Autorfigur verkörpert demnach im Entscheidungsmoment das Konzept einer »schönen Seele«, denn gemäß Schiller »[ist es i]n einer schönen Seele […] also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung«.158 Ein positives Entscheidensexempel darzustellen, dürfte damit als gelungen gelten und das Schicksal der Tante wird zu einem »monumentale[n] Gleichnis«.159 155 Vgl. hierzu: Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung, S. 8, 14. 156 Schilling, »Über Anmut und Würde«, S. 388, vgl. ebd., S. 389. Schilling legt dar, dass Schiller »[f]ür die Selbstbestimmung des Menschen, für die Autonomie seines Handelns, für die Freiheit […] den Willen als zentrale Kategorie in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt« habe (ebd., S. 393). Ebendiese Funktion kommt Lewald-Stahrs Ausdruck »Widerwille[ ]« zu (MLGI, 163), sodass sie ihre autobiografische Figur als berufene Entscheiderin vorstellen kann. 157 Schiller, Über Anmut und Würde, FA, Bd. 8, S. 342, 365; vgl. ebd., S. 370. Die Schaubühne »vereinigt«, so Schiller, »die Bildung des Verstands und des Herzens« (Schiller, Was kann eine gute Schaubühne wirken?, FA, Bd. 8, S. 189). Ebendiesen Effekt evoziert die Erzählerin mit dem autobiografischen Entscheidungsdrama en miniature. 158 Schiller, Über Anmut und Würde, FA, Bd. 8, S. 371. Heyses Vater rekurriert mit dem Ausdruck der ›Ganzheit‹ ebenfalls auf Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde. 159 Muschg legt in seiner Studie Schiller. Die Tragödie der Freiheit dar, dass Schiller in seinen Dramen das Krisenpotenzial einer zu erkämpfenden Freiheit ausstelle, seine Dramen seien hierfür durchweg ein »monumentales Gleichnis« (Muschg, Schiller, S. 24, vgl. ebd., S. 16). Die Beobachtung fügt sich passgenau in die hier vorgestellte Konstellation und dennoch ist damit nicht intendiert, Schillers Gesamtwerk primär unter den Themenkomplex ›Freiheit‹ zu subsumieren. Des
210
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Dem vorgelegten ›Dokument‹ begegnet die autobiografische Figur zunächst mit drei rhetorischen Fragen, die sie mit einer entschiedenen Antwort beschließt, die sie – wie alle unumstößlichen Entschlüsse und Entscheidungen – mit einem Ausrufezeichen besiegelt. Dieses Satzzeichen setzt die Autobiografin weitere fünf Mal hinter die autobiografische Figurenrede, wodurch die getroffene Entscheidung als letztgültig inszeniert wird.160 Das Repertoire wird erneut um das temporale Adjektiv »plötzlich« ergänzt (MLGII, 135). Im Entscheidungsmoment werden – gemäß dem Konzept der Neigung – Vernunft und Gefühl liiert, sobald die Macht der Tränen einsetzt.161 Beim Ausdruck ›Alternativlosigkeit‹ handelt es sich um ein rhetorisches Manöver, mit dem potenzielle Alternativen verschleiert werden können. Die durchlebte Krise fungiert fortan als literarisches Material und Entscheidungsressource für Lewald-Stahrs anschließende Werkentscheidungen beziehungsweise rezeptionsästhetisch für das potenzielle Lesepublikum.162 Die Entscheidung finalisiert die Erzählerin mit einem der Aufklärung verpflichteten ›Glaubensbekenntnis‹ zur selbstgewählten Liebesehe (vgl. MLGII, 143), für das abermals ein emanzipiertes Entscheidensbewusstsein grundlegend ist: Es lebte in mir ein großer starker Glaube an eine hohe Liebe und an eine idealische Ehe, die mir ein Heiliges war; es lebte in mir das Gefühl von Weiteren ist für die Passage bedeutsam, dass Schiller bekanntermaßen den Versuch einer harmonischen Einheit zwischen ›Pflicht‹ und ›Neigung‹ darstellt, während bei Kant beide voneinander getrennt sind. 160 Hervorzuheben ist, dass die Erzählerin stets auf die unglückliche Zwangsehe ihrer Tante verweist, jedoch ihrem Bruder Moritz keine freie Partnerwahl zugesteht. Indirekt verdeutlicht die Autobiografin, dass die Entscheidungsfreiheit, die Männern zugeschrieben werde, lediglich eine scheinbare und stets ein emanzipatorischer Akt notwendig sei (vgl. MLGIII, 47 f.). 161 Judith Hagen legt in ihrer Studie dar, dass Tränen zum politischen Instrumentarium gehören. Entscheidend sind für diese These Gert Althoffs mediävistische Studien zum ›Ritual‹ und zur ›Emotionalität‹ (vgl. Hagen, Die Tränen der Mächtigen und die Tränen der Macht). Weiterführend für Lewald-Stahrs Entscheidensprozess ist, dass Althoff die Themenkomplexe ›Entscheiden‹ und ›Emotionen‹ zusammenführt, wenn er darlegt, dass bereits früh Tränen »zweckrational« eingesetzt wurden, denn »[j]e entschiedener man erscheinen wollte, desto extremere Reaktionen und Emotionen zeigte man offensichtlich« (Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter, S. 267; vgl. Hagen, Die Tränen der Mächtigen und die Tränen der Macht, S. 46 f.). 162 Die ›Krise‹ dient als Ressource für die folgenden Werkentscheidungen: (1) eine Autobiografie zu schreiben, also eine ›letztgültige‹ Autorfigur zu gestalten, (2) ein vernetztes Gesamtwerk zu schaffen, (3) die werkbiografische Autobiografie als literaturgeschichtlich relevanten Gegenstand zu konzipieren.
211
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
der wahren Menschenwürde, die man erniedrigt, wenn man den Menschen zwingen will, gegen sein eigenstes Wesen zu handeln; und all der Jammer, all die Kränkung, all die zornige Empörung, welche aus tausend Frauenherzen den Aufschrei nach Emanzipation hervorgebracht haben, ich habe sie von jener Stunde an zu empfinden nicht aufgehört, bis ich erreicht, was ich bedurfte, mich vor der beleidigenden Zumutung zu sichern, welche in den Worten liegt: »Was soll denn aus dir werden?« […] Wohin man sich wendet, kann man die Klage vernehmen, daß von Jahr zu Jahr die Zahl der unverheirateten Frauenzimmer zunimmt. […] Sich selbst zur Last, hört man die Frage: Wohin mit ihnen? Was soll man mit ihnen machen? Und da man sich die rechte Antwort aus Vorurteilen nicht geben mag, bescheidet man sich, die alten Mädchen in der Gesellschaft und in den Familien als unvermeidliches Übel zu ertragen. Ich habe mich erst nach meinem vierzigsten Jahre verheiratet, und wenn ich auch durch meine schriftstellerische Tätigkeit von meinem dreißigsten Jahre ab eine Ausnahmestellung und deshalb von dem Übelwollen und von der halben Lächerlichkeit nicht zu leiden gehabt habe, welche die alten Jungfern verfolgen, so hat doch auch mir die Gelegenheit nicht gefehlt, es zu beobachten, was es mit dem kläglichen Dasein eines untätigen, unnützen Mädchens auf sich hat, dem in den meisten Fällen die Überzeugung nicht erspart bleiben kann, daß es zu niemandes rechter Freude auf der Welt ist. Gegen dies Elend, das nicht wegzuleugnen ist, gibt es nur ein Mittel – die Emanzipation der Frauen zu Arbeit und Erwerb, von der ich schon einmal in diesen Aufzeichnungen gesprochen habe und auf die immer wieder anmahnend zurückzukommen der Verlauf meiner Lebensgeschichte mich zwingen wird (MLGII, 137-139; vgl. hierzu auch: MLGII, 143). Als autofiktionales »Glaubensbekenntnis[ ]« (MLGIII, 13) bezeichnet die Autobiografin auch Clementines Figurenrede über die Liebesehe. Diese taucht als Zitat innerhalb ihrer Lebensgeschichte auf, sodass sukzessiv ihr autobiografisches Leben mit ihrem Werk verknüpft wird, dessen autofiktionalen Gehalt sie offenlegt (MLGIII, 13 f.). In der zitierten Fi gurenrede wird eine pragmatische Versorgungsehe abermals mit »Pro stitution« gleichgesetzt (MLGIII, 14). Das literarische Werk dient ihr auch als ein beachtlicher Möglichkeitsraum, in dem sie die eigenen Lebens entscheidungen argumentativ ausgestalten, in strukturierte Form bringen und schließlich ihre Emanzipationsleistung als politisches, kulturkonstitutives exemplum rezipierbar machen kann. Die diegetische Welt wird mit der nichtdiegetischen Welt in Beziehung gesetzt und die Kunst wird zur 212
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Religion,163 wenn die Erzählerin ihre literarische Tätigkeit gleich einem pietistischen Erweckungserlebnis konzipiert:164 Es war mir, als hätte ich eine Tat getan, einen Freiheitskampf bestanden, einen mir nicht mehr zu entreißenden Sieg erfochten, wenn ich solche Worte vor mir auf dem Papiere hatte, wenn ich mir dachte, daß mein Vater sie lesen, sie als meine Überzeugung vor der Öffentlichkeit ausgesprochen lesen würde. Ich dachte Tag und Nacht nur an meine Arbeit, meine ganze Seele war davon entflammt (MLGIII, 14). Deutlich wird hierbei das poetische Potenzial, das lebenslaufkonstitutiven Krisen zukommt und das autodiegetisch sowie diegetisch ausgefaltet wird: Sobald ich mich bei meiner Mutter eingerichtet hatte, machte ich mich an die Arbeit. Mir hatte oftmals vorgeschwebt, welches meine Lage geworden wäre, wenn man mich zu einer sogenannten Vernunftheirat überredet und ich nachher den Geliebten wiedergesehen haben würde, und ich hatte mich dann oftmals mit der Frage beschäftigt, ob mein Pflichtgefühl stark genug gewesen sein würde, über meine Leidenschaft den Sieg davonzutragen. Ich hatte mir eine Menge von Situationen erdacht, hatte das Für und Wider nach allen Seiten hin erwogen, hatte mir bald einen verzweiflungsvollen Untergang, oft auch eine edle und sehr erhabene Entsagung ausgemalt (MLGIII, 11). Eine literarisch verhandelte Liebesehe kann sich die autobiografische Figur bis zum Römischen Tagebuch ausschließlich mit ihrem Cousin Heinrich Simon vorstellen, der allerdings ihre Liebe nicht erwidert. Dies empfindet sie als derart schmerzhaft, dass sie sich entscheidet, die Freundschaft vorerst aufzukündigen. Hervorzuheben ist diese Entscheidung, da sie, wie auch die Entscheidung gegen eine arrangierte Ehe sowie die väterlichen Entschlüsse, nach einem langwierigen Entscheidensprozess ›plötzlich‹ getroffen,165 an eine »Notwendigkeit« und letztlich an eine selbstarchiva163 Exemplarisch hierfür ist eine Passage aus Lewald-Stahrs biografischem Projekt Zwölf Bilder nach dem Leben. Dort rekapituliert sie eine Unterredung, die sie mit Stahr und Franz Liszt führte, um darauf hinzuweisen, dass sie keiner Religionsgemeinschaft angehöre und Atheistin sei (vgl. Lewald Stahr, Zwölf Bilder nach dem Leben, S. 368 f.; vgl. hierzu auch: Krueger, Fanny Lewalds Bekenntnis zur »Weltanschauung der Realität«, S. 393, 397). Entscheidend für diese Kunstreligion ist weiterhin Bildung (vgl. MLGI, 68). 164 Vgl. zu pietistischen Autobiografiemodellen exemplarisch: Goldmann, Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis, S. 247-249. 165 Der Entscheidensprozess wird auch hier als eine Krise charakterisiert, wenn die Erzählerin darlegt: »In gewissen Naturen bereiten Entschlüsse sich langsam vor,
213
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
rische Praxis gebunden wird. So bittet sie ihren Cousin postalisch, ihre Kassationsentscheidung umzusetzen und »[alle] Briefe zu verbrennen« (MLGII, 253), die sie ihm gesendet habe.166 Infolgedessen entwirft und inszeniert die autobiografische Figur weiterhin das Ideal einer Liebesheirat,167 das auch leitmotivisch für die narra tivierte Begegnung mit ihrem späteren Ehemann Adolf Stahr wird.168 Rückblickend habe der Roman Eine Lebensfrage gewissermaßen schicksalhaft ihre spätere Ehe mit Stahr vorbereitet. Symptomatisch steht für diesen Roman erneut die politische Funktion, die literarischen Werken zukommen kann, im Fokus, denn Lewald-Stahr reagiert mit diesem Roman auf das sich ändernde Eherecht: Ich hatte meinen Sinn auf die Gestaltung meines dritten Romans ge richtet, zu welchem mir die Anregung schon vor Jahren durch die »Halle’schen Jahrbücher« gekommen war. Ich hatte dort in einem Artikel über das in Preußen beabsichtigte Ehescheidungsgesetz den Ausspruch gefunden: »Es gibt Fälle, in welchen die Trennung der Ehe eine hohe sittliche Tat sein kann!« – Diese Ansicht hatte mich, weil sie mir zur Zeit, als ich den Ausspruch las, noch befremdlich gewesen war, vielfach beschäftigt, und ich hatte mir ohne Gedanken an eine bestimmte Komposition, Fälle auszumalen versucht, in welchen er zutreffend sein könnte (MLGIII, 111; vgl. ebd., 214).169 aber ihre Ausführung ist dann eine plötzliche, und man bereut sie niemals, weil sie die Folge langer Erwägungen und langer Kämpfe ist« (MLGII, 253). 166 Hahn resümiert, dass Briefen häufig der Flammentod drohe, dies betreffe vornehmlich Liebesbriefe (vgl. Hahn, »Weiber verstehen alles à la lettre«, S. 16). 167 So etwa, wenn die Erzählerin darlegt, dass sie im Moment des Abschieds »alles, seine ganze Vergangenheit, seine Ehe nichtig, eine Lüge neben […] [ihrer] Liebe [nannte]« (RT, 257). Für den Abschiedsmoment greift sie zu den Werken ihres Schutzpatrons: »Ich las ein furchtbares Wort Goethes, geschrieben in einem seiner letzten Briefe, ehe er Rom verließ, es lautet: ›In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn. Man muß sich hüten, ihn zu pflegen und auszubrüten!‹« (RT, 237). 168 Vgl. exemplarisch zum ›Ideal einer Liebesehe‹: Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet, S. 8-15, 20 f.; Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 45; Schmidt-Voges, Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820; Borscheid, Geld und Liebe. 169 Auf ebendiese verweist auch Heinrich Spiero in seiner Einleitung zu LewaldStahrs Römischem Tagebuch, wenn er sich bemüht Leben und Werk der Schriftstellerin zusammenzuführen und einzelne Romane als Schlüsselromane auszuweisen (vgl. Spiero, Einleitung, S. 7). Die Hallischen sind eine führende Zeitschrift der Jung- und Linkshegelianer. Der Chefredakteur Arnold Ruge war zudem ein Freund von Karl Marx. Lewald-Stahr politisiert und romatisiert indirekt ihr
214
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Ebendiese Passage ergänzt die Erzählerin später um einen metadiegetischen Kommentar: [I]ch habe hauptsächlich den Zusammenhang zwischen meinem Leben und meinem Dichten zu erklären, wo dieser in ungewöhnlicher Weise in meinen Arbeiten vorhanden zu sein scheint, wie das bei der Lebensfrage und meinem persönlichen Lebenswege der Fall ist. Indes als ich im Jahre vierundvierzig in der friedlichen Stille meiner kleinen Stube mit Seelenruhe und Behagen an meinem Romane arbeitete, war ich weit davon entfernt zu ahnen, daß ich die Verhältnisse erfand, Schmerzen und Leiden darstellte, welche ich in weit höherem Maße selbst zu durch leben haben sollte; daß ich die Freiheit der Selbstbestimmung vertrat, die ich einst für mich in Anspruch zu nehmen genötigt sein sollte, ja daß es mir beschieden sein würde, mich schon ein Jahr nach dem Erscheinen meines Romanes als Mitleidende in den Seelenkämpfen zu befinden, welche durch die Trennung einer nicht mehr glücklichen und darum nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Ehe veranlaßt wurden, durch deren Scheidung sich mein jetziges Dasein mit seinem Frieden und mit seinen Freuden aufgebaut hat (MLGIII, 216 f.). Insgesamt knüpft sie zahlreiche Querverbindung zwischen ihren autobiografischen und autofiktionalen Schriften. Dafür nutzt sie oftmals Ana-, Pround auch Metalepsen, wenn sie etwa im Römischen Tagebuch darlegt, dass sie bei der Romankonzeption »nicht voraussah […], wie bald […] [sie] in einer Ehestandstragödie eine der handelnden und mitleidenden Personen werden würde!« (RT, 115). Koschorke hält zu solch einem Erzählverfahren fest, dass sich [die gewohnte Zeitfolge umdreht]: Erst ist die Erzählvorlage da, oft palimpsestförmig unter fremden und zufälligen Bedingungen entstanden, dann wird aus dieser Vorlage ein Skript, an dem sich die Verhaltens weisen, Selbstdefinitionen und dadurch vermittelt auch Objektwahrnehmungen ausrichten. Wie in einer self-fulfilling prophecy kann so am Ende der Effekt als Ursache erscheinen.170 Die Heiratsentscheidung wird wie zuvor auch ihre Entscheidung gegen eine Versorgungsehe zu einem Entscheidungsdrama ausgestaltet, sodass ein literarisches Potenzial genutzt wird, das Koschorke als »Spiel mit (hypotheRomanprojekt mit dem Quellenverweis (vgl. zu Arnold Ruge und den Hallischen Jahrbüchern exemplarisch: Rojek, Zwischen Reform und Revolution). 170 Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 24.
215
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
tischen) Problemlösungsmöglichkeiten« beschreibt, »das der Lage entsprechend affektiv aufgeladen und dramatisiert werden kann«.171 Die ablehnende Haltung manövriert Lewald-Stahr jedoch vorerst in eine prekäre Außenseiterposition, die ihr das Urteil der Schwestern einbringt, dass sie »herrschsüchtig« sowie »[u]nweiblich[ ]« sei mitsamt dem Vorwurf, der Vater bevorzuge sie (MLGII, 187). Lewald-Stahr betont demgegenüber ihre »mitleidlose[ ] Entschlossenheit« (MLGIII, 123) und verurteilt diejenigen Frauen, die nicht für ihre »persönliche Freiheit« einstehen (MLGIII, 240), denn erst diese ermögliche »Sittlichkeit« und »Tugend« (MLGIII, 240). Damit sich ihre Position als Entscheiderin verfestigen möge und nicht angezweifelt werden kann, verbietet sich die autobiografische Figur ihre Sehnsucht nach einer Liebesehe sowie eigene Zweifel, Existenzängste und -nöte zu kommunizieren (MLGIII, 278 f.; vgl. RT, 122 f.). Indem sie diese in ihrem autobiografischen Projekt offenlegt, unterstreicht sie den bekenntnishaften, topischen Charakter ihrer Lebensgeschichte. Nachdem Lewald-Stahr ausschließlich Fallbeispiele nennt, in denen Frauen unter der arrangierten und letztlich erzwungenen Ehegemeinschaft leiden, kommt mit der Beziehung zu Stahr ein Mann in ihre Fallbeispielsammlung (vgl. RT, 125), der unter seiner Ehe leidet und sich erst durch die Liebe zu Lewald-Stahr aus dieser befreien kann. Diese Liaison vereint dezidiert Leben und Werk, besonders da beide fortan eine intensive Arbeitsbeziehung eingehen, sodass LewaldStahr bereits früh ihr individuelles ›Privatarchiv‹ zu einem kollektiven ›Paararchiv‹ macht, das sie in ihrem Schreibtisch deponiert:172 171 Ebd., S. 69. 172 Dem ›Schreibtisch‹ kommt später auch bei Schnitzler eine topische Funktion zu. Die Beziehung mit Adolf Stahr stilisiert die Autobiografin zum exemplarischen Vorbild, das die Bereiche ›Natur‹, ›Arbeit‹ und ›Liebe‹ harmonisch vereint: »[D]urften es je zwei Menschen von sich sagen, daß die Natur sie füreinander bestimmt zu haben schien, so waren wir sicherlich dazu berechtigt. Niemals hatte ich mich so völlig Herr über alle meine Kräfte gefühlt, als seit Adolf lebte. Ich hatte täglich neue Arbeitspläne. Gleich nach der Rückkehr wollte ich mein ›Italienisches Bilderbuch‹ schreiben und zusammenstellen, zu dem ich nur wenige einzelne Skizzen entworfen, aber mir in den Tagebüchern an meinen Vater die Materialien gesammelt hatte« (RT, 240). In der Staatsbibliothek Berlin wird ein Manuskript archiviert, das dokumentiert, dass Lewald-Stahr und Stahr gemeinsam an einer wissenschaftsgeschichtlichen Romantheorie arbeiteten. Bedeutend ist dies, weil ebendiese theoretischen Überlegungen in die Zeit ihrer autobiografischen Praxis fallen (Lewald-Stahr und Stahr, Gedanken über den Roman und seine Behandlung von mir u Adolf, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 18, Manuskripte von Fanny Lewald-Stahr und Zeitungsausschnitte mit Rezensionen zu einigen ihrer Werke, Nr. 488-522, Nr. 505, 7 Bl.); vgl. hierzu auch: Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 286. Die gemeinsame Arbeit wurde laut Gabriele Schneider täglich dokumentiert: »Eintragungen im gemeinsam geführten Privatjournal und
216
i v.2 eh e i n eigen r egi e
Ich legte mir also […] ein paar Blätter losen Papiers in mein eigenes Exzerpten- und Notizbuch und fing an, ohne daß Stahr es ahnen konnte, mir die Bemerkungen aufzuschreiben, die ich bei dem und jenem Anlasse von ihm vernahm und die mir wichtig schienen. […] [I]ch [ging] an meinen Schreibtisch, holte mein Notizbuch hervor, aus dem er sich immer gern vorlesen ließ, aber ich las nicht, was ich für mich und aus meinem Empfinden heraus geschrieben, sondern die Gedanken, die ich von ihm gehört und aufgezeichnet hatte. Nachdem sie fünf thesenartige Gleichnisse vorgelesen hat, die jeweils indirekt die ›Liebe‹ thematisieren, vermerkt die autobiografische Figur: »Das habe ich dir nachgeschrieben, ebenso wie alle die Gleichnisse und Bilder!« entgegnete ich ihm, indem ich das Blatt aus meinem Buche her ausnahm und es in seine Hände legte. Es trug die Aufschrift: »Stahrsche Gedanken und Redensarten (gelegentlich aufgeschrieben)«. […] [E]r [nahm] die Blätter in die Hand, las sie noch einmal still und langsam für sich durch und sagte darauf […]: »Sonderbar, du glaubst also wirklich, daß ich etwas kann? – Nun, wenn du’s glaubst, so will ich versuchen, das zu werden, wofür du mich in deinem Herzen ansiehst. Die Arbeit wird vielleicht zu dem Anker für mich werden, mit dem ich in meiner Heimat wieder Grund und Boden fassen und zum Stehen kommen kann. Ich werde zunächst die Briefe und die einzelnen Aufsätze zu sammeln suchen, die ich von hier nach Deutschland gesendet habe. Vielleicht wird das ein Buch.« Ich griff den Gedanken mit Lebhaftigkeit auf, denn Stahr hatte bis dahin jeden unserer Vorschläge, an eine Schilderung seiner Reise oder auch nur an eine Sammlung der erwähnten Briefe zu gehen, entschieden von sich abgewiesen. Ich eilte also, ihn beim Wort zu nehmen. »Ach! tue das« bat ich. »Bedenke nur, wie es mich glücklich machen würde, das mit dir gemeinsam Erlebte auf diese Weise immer und immer wieder erleben zu können. Bedenke, was zwischen den Zeilen für mich ganz allein zu lesen sein würde, und daß du bei mir sein, mich gegenwärtig haben wirst, sooft du bei der Arbeit sitzest. Versprich mir’s, daß du gleich an diese Arbeit gehst.« »Komm!« sagte Stahr, »es soll geschehen!« – er nahm aus meiner Sorrentiner inkrustierten Holzschale, in welcher die bei mir abgegebenen Visitenkarten lagen, eine heraus und schrieb auf deren Rückseite: Adolf Stahr verspricht, wenn er zu Hause sein wird, in den Tagebüchern des Ehepaars Stahr, die über Jahrzehnte hinweg täglich in wenigen Zeilen Wetter, Befinden, Arbeitsgegenstände, Besucher und Lektüre verzeichnen, geben Auskunft über die Regelmäßigkeit der Arbeitsführung« (Schneider, Fanny Lewald, S. 92 f.).
217
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
seine Reiseerinnerungen für seine Fanny aufzuschreiben, unter dem Titel – er besann sich einen Augenblick und schrieb dann die Worte: »Ein Jahr in Italien« auf die Karte. So entstand der Plan zu jenem Buche, das sich Tausende und Tausende von Menschen zu Freunden gemacht hat, das ihnen zu einem Führer und Freunde geworden ist (RT, 203 f.). Der archivierte Gedankenaustausch steht – pars pro toto – für ein Beziehungsmodell, das Stahr mit seiner Ehefrau nicht leben kann, da das empfundene Unglück über seine Ehe darin begründet sei, »daß […] [sie] ihn geistig nicht befriedig[en]« könne (RT, 125). Ein intellektueller Austausch sei erst in der idealisierten Liebesehe, die er vorerst als noch verheirateter Mann für sich ausschließt (vgl. RT, 219),173 mit Lewald-Stahr mög-
173 Um darzulegen, dass eine Scheidung nicht möglich sei, bietet Stahr indirekt die entscheidbare Option an, eine inoffizielle ménage à trois zu pflegen. Er zitiert für diese Entscheidungsofferte Karl Immermanns Gedicht Heut’ war ich auf der grünen Heide (vgl. RT, 252 f.) und präsentiert die Entscheidung als Formwechsel. Er findet für etwas ›Unsagbares‹ einen interpretierbaren Text. Später stilisiert LewaldStahr die Ehe mit Stahr zu einem beispielgebenden Ideal. Dies vermerkt bereits 1921 Marta Weber in ihrer Studie und resümiert: »Die Ehe mit Stahr wird als eine Art idealer Vereinigung zum Zwecke der Weltverbesserung empfunden« (Weber, Fanny Lewald, S. 75). In ihrer Studie fokussiert Weber einen Vergleich zwischen Lewald-Stahrs und Heyses Werkkonzepten und schreibt schließlich beiden etwas »epigonenhaftes« zu, um anschließend darzulegen, wie Lewald-Stahr die Novellen ihres jüngeren Kollegen zunächst unumwunden abgelehnt habe (vgl. ebd., S. 156 f.). Webers Studie ruht dabei auf ihrer eigenen biologistischen, nationalistischen, merklich antisemitischen Perspektive und so erkennt sie in Lewald-Stahrs Charakteristiken die »jüdische[ ] Vorliebe für das Pathetische, für die großen Worte« (ebd., S. 155). Besonders erstaunlich ist diese Deutung angesichts der Tatsache, dass Lewald-Stahrs Familie die jüdische Religion nicht aktiv praktizierte, frühzeitig konvertierte und Lewald-Stahr trotz Konversion keinen aktiven Glauben pflegte. Ähnliches schreibt Maync später auch Heyses Autobiografie zu, womöglich trugen ebensolche Zuschreibungen dazu bei, dass während des Nationalsozialismus die Werke beider Autoren kaum noch rezipiert wurden und stattdessen ein aktives Vergessen fokussiert wurde, das bis heute nachwirkt (vgl. hierzu: Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 19; Rheinberg, Fanny Lewald, S. 32; Schneider, »Arbeiten und nicht müde werden«, S. 210). Antisemitistische Urteile dokumentiert Lewald-Stahr bereits selbst in ihrer Autobiografie, dies greifen auch Whittle und Pinfold auf: »[P]erhaps more important even than her own ambivalent fascination is her consciousness of how other people regard this Jewishness: ›Daß wir Juden wären, und daß es schlimm sei, ein Jude zu sein, darüber war ich aber mit fünf, sechs Jahren, noch ehe ich in die Schule gebracht wurde, vollkommen im Klaren‹ (ImV, 48)« (Whittle und Pinfold, Voices of Rebellion, S. 76). Vgl. zur idealisierten Ehe mit Stahr auch exemplarisch: Schneider, »Es ist mir eine Arbeit, nach London zu gehen«, S. 175.
218
i v.2 eh e i n eigen r egi e
lich.174 In dieser Passage wird Lewald-Stahr – wie ehemals ihr Vater für sie – zu Stahrs Mentorin. Sie entscheidet nicht mehr ausschließlich über ihren individuellen Lebensweg und erwirkt sich allmählich eine umfassendere Entscheidensbefugnis. Indem die Autobiografin wiederum betont, dass es ihr auch in dieser Liebesbeziehung nicht gelungen sei, ihre emanzipierte Haltung aufzugeben (vgl. RT, 207, 213) und dezidiert ihre »menschliche Gleichberechtigung verlangt[ ]« habe,175 stilisiert sie ihre Ehe mit Stahr zu einem nachahmenswerten Fallbeispiel eines paritätischen Liebesbündnisses (RT, 215), das trotz Hindernissen und aufgrund einer ›erarbeiteten‹ Entscheidensbefugnis möglich ist.176 Konstitutiv ist hierfür ein Lernprozess, den die Figur Stahr ausspricht: »Es ist alles, wie du’s sagst. Es trifft für das Allgemeine und für mich in dem Besonderen zu. Die Ehe mit einer Frau, der ich mich in allem überlegen wußte, die ich ganz zu leiten und zu führen hatte, hat mich herrschsüchtig gemacht, und meine Glaubensartikel über das Verhältnis der Geschlechter zueinander habe ich neu von dir zu lernen«. […] In voller Freiheit, mich ihm aus Überzeugung gerne fügend, habe ich neben ihm gelebt bis heute – (und bis an seinen Tod)! – Ruhig durch Hindernisse unbeirrt habe ich für mein Teil mir die Anerkennung meiner Gleichberechtigung nicht nur von Stahr, nicht nur in meiner Liebe zu ihm und in meiner späteren so glücklichen Ehe mit ihm, sondern auch in meiner Stellung in der Welt errungen, wohl wissend, daß alles, was der einzelne in dieser Beziehung für sich selbst gewinnt, früher oder später auch andern zugute kommen muß (RT, 216 f.).177 174 Die Autorfigur Lewald-Stahr wird somit einmal mehr zum exemplarischen Vorbild, denn sie figuriert das exakte Gegenstück zu einer ›Kindfrau‹ und alten ›Jungfer‹ (vgl. RT, 71 f.). 175 Dies mag auch erklären, weshalb Lewald-Stahr sich bei der ersten Begegnung mit Stahr äußerst selbstbewusst und als durchweg selbständige Schriftstellerin behauptet (vgl. RT, 67). 176 Somit verweist sie darauf, dass ›Ehe‹ und ›Gleichberechtigung‹ sich nicht ausschließen, auch wenn gesellschaftlich ein anderes Bild vermittelt werde. 177 Lewald-Stahr verweist mit den Ausdrücken »das Allgemeine« und das »Besondere« – wie sollte es anders sein – auf Goethe. Diese beiden Ausdrücke werden wiederum in Wilhelm Meister zu Konstituenten eines Erkenntnisprozesses, da beide Ausdrücke für die Verstehenspraxis ›Isolation‹ und ›Kombination‹ stehen. Nicht zuletzt erinnert dieses Vorgehen an Lewald-Stahrs erkenntnishaften Entscheidens prozess, denn für diesen werden einzelne Fallbeispiele isoliert respektive exzerpiert und anschließend verglichen respektive kombiniert. Demnach ist Lewald-Stahrs autobiografische Figur weit davon entfernt eine »grillige[ ] Theorist[in]« zu sein (vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, FA, I. Abt., Bd. 10, S. 577).
219
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Die mit ihrem autobiografischen Projekt vorgestellte gleichberechtigte Entscheidenskultur gehört diesem »Glaubensartikel über das Verhältnis der Geschlechter« an und mit dieser Passage verdeutlicht Lewald-Stahr in direkt, dass allein diejenigen »herrschsüchtig« seien (RT, 216; vgl. MLGIII, 13; MLGIII, 27), die eine nicht gleichberechtigte Entscheidenskultur internalisiert haben, wodurch wiederum das Urteil ihrer Schwestern relativiert wird und für die erzählte Entscheidung ein literarisches Fundament besonders hilfreich ist, wenn es gilt, den Sockel einer ikonischen Entscheiderin zu etablieren und stabilisieren. Mit Stahr kann auch die Erzählerin schließlich feststellen, dass sie ihres »Lebens Ziel gefunden« (RT, 223) hatte und dennoch bietet sich der Autobiografin ihr damaliges Leben rückblickend als ein »unheimliches Doppelleben« dar (RT, 236). Die Position des Grafen wird nun diegetisch übertragen und kurzerhand zum argumentativen Standpunkt der Autobiografin, denn sie legt ein beinahe äquivalentes Eheverständnis vor: [M]eine alte, auch bis auf diese Stunde nicht erloschene Überzeugung, daß die Ehe zu einer Schmach für beide Gatten wird, wenn die Liebe ihre Vereinigung nicht zur Notwendigkeit macht, fand in meinem Leben eine furchtbare Bestätigung. Ich, er und seine Frau, wir alle wurden erniedrigt durch die Ehe, in die zurückzukehren er genötigt war – und doch, so grenzenlos war mein Schmerz bei dem Gedanken, ihn verlieren zu sollen, daß ich manchmal meinte, ich könne es ertragen, ihn an der Seite einer anderen zu wissen, wenn ich ihn nur sehen, ihn nur dann und wann noch hören, noch mit ihm sein könne (RT, 255). Die Ehe mit Stahr wird als Zielpunkt der beruflichen und ehelichen Entscheidensprozesse vorgestellt und gleichsam sei ebendiese gleichberechtigte Ehe erst mit ihrer entschiedenen Emanzipation möglich, sodass sie resümiert: »Dies ist die Seele, die Du gesucht, von Anbeginn Deines selbstbewußten Seins« (RT, 262; vgl. ebd., 79). Deutlich wird mit der Liebe zu Stahr, dass Lewald-Stahr – erstmals – nicht allein über die Situation entscheiden konnte, denn – so resümiert die Autobiografin: »Hätte ich mich frei entscheiden können, hätte ich nur für mich und den Geliebten zu sorgen gehabt« (RT, 291). Die Liebesbeziehung wird letztlich einer Entscheidung gemäß brieflich besiegelt (vgl. RT, 129) und an selbstarchivarische Praktiken gebunden, die die Erzählerin kommentiert: »Ich setze […] beide [Briefe] hierher, da ich nicht besser als eben diese Blätter, die Zeugen jener Vergangenheit unsere Zustände darzustellen und wiederzugeben vermag« (RT, 141). Die zitierten Briefe legen wiederum mit der bricolage dar, wie beide sich gegenseitig 220
i v.2 eh e i n eigen r egi e
indirekt ihre Liebe versichern, indem sie situationsbezogen ihre eigenen Gedichte zitieren (vgl. RT, 140 f.). Ihre Ehe bereitet Lewald-Stahr für ihre Autobiografie – ihrem autobiografischen Emanzipationskonzept folgend – selbstbestimmt vor, wenn sie eine proleptische Verlobungsszene darbietet: [D]urch jenen Aberglauben der Liebe, die immer noch an Zaubermittel glaubt, wenn sie ihre Kraft ohnmächtig für die Erfüllung ihrer Wünsche findet, kam mir die kindische Zuversicht, der Geliebte könnte nicht gehen, er werde und müsse mir bleiben, wenn er den Ring an seinem Finger trüge, den meine Mutter nie von ihrer Hand gelegt, den ich getragen hatte seit ihrem Todestage. »Behalte den Ring gleich heute!« bat ich. Stahr sah mich ernsthaft an. »Du hängst an dem Ringe!« sagte er, »aber freilich – nicht lange so wie ich an dir!« – Und der kleine unscheinbare Demant, auf dem damals meine Tränen heller glänzten, als er selbst, ist zehn Jahre später des teuersten Mannes Trauring geworden und uns beiden ein Pfand des reinsten, höchsten Glückes (RT, 182). In Lewald-Stahrs Autobiografie scheint für ihre Familie die Berufsentscheidung aus ihrer Entscheidung gegen eine Versorgungsehe folgerichtig als alternativlose Konsequenz zu resultieren. Obschon die Autobiografin Ehe- und Berufsstand zunächst als symbiotische Einheit formiert, löst sie diese sukzessive, indem sie scheinbar alternativlosen Lebenskonstellationen wählbare Alternativen beigibt. Der Weg, der vor mir lag, war dornenvoll; der Platz, auf dem ich stand, war eng und in keiner Weise sicher, die Zukunft dunkel, mein Herz voller Kummer, mein Kopf voller Sorgen aller Art – mein geringes Erspartes durch die Reise völlig aufgebraucht. Ich mußte vorwärts und an die Arbeit gehen! – Gleich und mit raschem Entschlusse an die Arbeit gehen! Und ich bin an die Arbeit gegangen, und von des geliebten Mannes unwandelbarer Liebe, von seiner ausharrenden Treue ermutigt, immer vorwärts, durch lange schwere Jahre, ohne Wanken, einander stützend, tragend, fördernd, gegangen bis an das Ziel, bis in den Hafen, an sein treues Herz zur beglückendsten Lebensgemeinschaft, die ein gütiges Geschick uns noch lange erhalten möge! Berlin, den 22. Dezember 1865 (RT, 297 f.). Das Datum zeigt an, dass Lewald-Stahr dieses autobiografische Projekt noch vor der zweiten Auflage ihrer Lebensgeschichte fertigstellte, aber erst nach Stahrs Tod veröffentlichte. Mit Stahr wird schließlich eine gleich berechtigte Paar- und Arbeitsbeziehung möglich, somit eine »beglückend[e] 221
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Lebensgemeinschaft«, die exemplarisch für Lewald-Stahrs zukunfts weisende Entscheidenskultur steht. Ihr ›dornenvoller‹ Lebensweg wird retrospektiv als – selbstgewählter, zugemuteter – Scheideweg kartografiert, der scheinbar alternativlose Lebenskonzepte fortan als entscheidbare und bewältigbare Lebensformen zu erkennen gibt, infolgedessen stellen auch ihre Paratexte eine entscheidende Ergänzung dar.
IV.3 Entscheidende Ergänzung Verlustereignisse als Entscheidungsmoment Mit den jüngsten kritischen Neuausgaben geraten die paratextuellen, entscheidungsrelevanten Ergänzungen aus dem Blick, wodurch gerade deren werkverknüpfende Funktion unberücksichtigt bleibt und womöglich vergessen wird,178 wie der entscheidenspoetisch bedeutende Zusammenhang zwischen Archiv,179 Autobiografie und Gesamtwerk strategisch vorbereitet wurde. Bemerkenswert ist zunächst, dass Stahrs Tod im Jahr 1876 LewaldStahr dazu veranlasste, unmittelbar danach – noch im Sterbemonat – die Einleitung für ihr letztes autobiografisches Projekt zu verfassen, das sie noch im gleichen Jahr abschloss und das dennoch erst postum erscheinen sollte. Ergänzt wird dieser Projektabschluss nur ein Jahr darauf, als sie 178 Lewald-Stahr und auch Stahr nutzen ihre Werkausgaben, um ihre werkkonstitutive Arbeits- und Lebensgemeinschaft zu profilieren. Beispielhaft hierfür steht Stahrs Gedichtband seiner Gesammelten Werke, denn in diesem finden sich Gedichte, die einer dezidierten Werkverknüpfungen dienen: Unter ein Aquarellportrait Fanny Lewald’s, Auf das Manuscript der ›Lebensgeschichte‹, Auf dasselbe nach der Vollendung, Meiner Fanny (Mit einem Pelzkragen, nachdem sie den siebten Band ihrer Lebensgeschichte für mich geschrieben.) Weihnacht 1865 (vgl. Stahr, Ein Stück Leben, S. 122, 130). 179 Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass Lewald-Stahr mit Großherzog Carl Alexander eine vierzigjährige Brieffreundschaft pflegte, mit einer zentralen Gestalt der Weimarer Archiv- und Forschungslandschaft in regem Austausch stand. Kurz vor Lewald-Stahrs Tod bereitet Carl Alexander das nächste Treffen für eine nachlassrelevante Unterredung vor: »Benachrichtigen Sie mich über Ihre Reiseentschlüsse. […] Vielleicht gelingt es mir […] auf irgendeinem thüringischen Gebirgsgipfel, unter irgend einer Tanne Ihnen zu erzählen daß man in Weimar doppelt thätig ist seitdem das großartige Geschenk des Enkel’s Schiller’s: das Archiv seines Großvaters, dies mit dem Goethe’s verbunden hat. Doppelte Pflichten treten an uns mithin heran und verdoppelte Thätigkeit ist unser Losungswort, um so mehr sich auch die Ansprüche an Weimar damit verdoppeln. Das wäre so ungefähr die Vorrede zu unsrer nächsten Unterhaltung, so Gott will« (Carl Alexander an Fanny Lewald, Belvedere den 4. July 1889, Bd. 1, S. 183 f.).
222
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
Stahrs zweiten autobiografischen Band herausgibt, den sie selbst wiederum mit einem Nachwort versieht.180 Mit dem Tod ihres Ehemanns beginnt eine intensive Nachlasspflege, aus der letztlich zwei zentrale autobiografische Projektabschlüsse hervorgehen. Ward erläutert Lewald-Stahrs gewissenhafte Nachlassformation, die wiederum zeigt, dass sich die Autorin um einen sicheren Platz in zukünftigen Literaturgeschichten bemühte: She had collected all of Stahr’s letters and notes, then organized them chronologically with her own, and carefully renumbered them all so that she had a seamless documentation for the unfolding love story between 24 December 1845 and 29 April 1846, when Stahr left Rome to rejoin his family. The first folder of these letters in the Nachlaß is labeled in Lewald’s handwriting, »Römisches Liebesleben«.181 Obschon Lewald-Stahr zuerst ihr eigenes autobiografisches Projekt fertigstellte, erschien ihr zweiter autobiografischer Band bereits 1877 auf dem Buchmarkt, insgesamt deutlich früher als Neues Leben. Neues Lieben respektive Das Buch Adolf,182 das erst verzögert im Jahr 1897 180 In diesem Nachwort stellt sich Lewald-Stahr dem Lesepublikum als gewissenhafte Nachlassverwalterin und Herausgeberin vor, die hoffe, dass Stahrs Autobiografie zur kulturellen Identität beitrage: »Er selber hatte diese zweite Abtheilung seiner Jugenderinnerungen für den Buchdruck vorbereitet. Ganz so, wie er sie hinterlassen, lege ich sie in die Hände seiner Freunde, mit dem Wunsche und der Hoffnung, daß es dem Vaterlande an Jünglingen nie fehlen möge, die mit solcher Begeisterung wie Adolf Stahr dem Wahren, dem Großen und dem Schönen nachstreben, und mit solcher Treue und Festigkeit dem deutschen Vaterlande eigen sind wie er. Berlin, November 1876. Fanny Lewald Stahr« (Lewald-Stahr, Nachwort, S. 232). 181 Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 130. In seiner Briefedition erwähnt auch Rudolf Göhler, dass Lewald-Stahrs siebter autobiografischer Band explizit ihrem Ehemann zugedacht gewesen und als »Zeugnis« konzipiert worden sei (Göhler, Ausklang, S. 185). 182 Ward erläutert, dass Lewald-Stahr lange Zeit unentschieden gezögert habe, ihre Korrespondenz sowie das autobiografische Projekt zu veröffentlichen, obschon sie alles für eine zukünftige Publikation vorbereitet habe: »The second major source for this period comes in the form of a continuation of her autobiography, which she always referred to as Das Buch Adolf […], her account of how her acquaintance that winter with Adolf Stahr, a teacher from Oldenbourg, quickly developed into friendship, then flamed into passion, despite the fact that he was a married man, and despite the presence of her chaperone. Lewald wrote this in 1865, presenting the manuscript to her husband as a surprise on the twentieth anniversary of their first exchange of letters. Stahr urged immediate publication, but Lewald held back. To her, their Roman romance was too intimate to share with a wider public. After his death 1876, however, she drew some solace from reworking it, but she confided in a close friend that she was still reluctant to publish« (Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 130). So detailliert wie der Ent-
223 https://doi.org/10.5771/9783835349148
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
f olgte.183 Ebendieser ersten Publikation wird ein erläuterndes Vorwort beigegeben, indem absatzfokussiert der werkentscheidende Exklusivitätswert des herausgegebenen Materials betont wird: Die bekannte Autobiographie Fanny Lewalds »Meine Lebensgeschichte«, welche im Jahr 1862 erschienen ist, führt die Erzählung bis zum Herbst 1845, in welchem die Verfasserin ihre erste Reise nach Italien antritt, und bricht hier ab. Fanny Lewald hat in einem völlig druckfertigen Manuskript unter dem Titel »Neues Leben, Neues Lieben, Das Buch Adolf« einen weiteren Band ihrer Lebensgeschichte hinterlassen, welcher die Schilderung ihres römischen Aufenthalts im Winter 1845/46 und den Beginn ihrer Beziehungen zu ihrem späteren Gatten, Adolf Stahr, schildert. Die Publikation des ganzen Lebens wird nicht beabsichtigt. Wir sind aber in den Stand gesetzt, nachfolgend den Beginn des Werkes unseren Lesern mitzuteilen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass späterhin noch einige ausgewählte Bruchstücke der Öffentlichkeit übergeben werden. Die Redaktion.184 Es sollten weitere dreißig Jahre vergehen, bis Heinrich Spiero diese autobiografische Ergänzung, die Ujma zufolge als »Skandalbuch« kursiert habe,185 unter dem Titel Römisches Tagebuch erneut herausgibt. Hervorzuheben ist hierbei, dass Spieros literaturhistorisches, buchhändlerisches ›Fingerspitzengefühl‹ später auch für Heyses Nachlass bedeutend sein stehungs- und Publikationsprozess vorgestellt wird, fehlt dennoch bislang die werkstrategische Funktion dieser Textgenese, die anhand lebenslauf- sowie werkkonstitutiver Entscheidensprozesse ersichtlich wird. Gemäß Ward bevorzugte Lewald-Stahr trotz ihrer intensiven Nachlasspflege »to quote from memory than from the documents she had so carefully reassembled« (ebd., S. 131). Ein Unterschied wäre dementsprechend, dass Heyse und Schnitzler exakt zitieren, um eine professionalisierte Nachlassorganisation zu präsentieren, wohingegen EbnerEschenbach ihre Nachlasspflege dramatisiert und Reuter sowie Lewald-Stahr bevorzugt aus der Erinnerung zitieren. Allerdings können Lewald-Stahrs Exzerpte sowie ihre chronologisch, synoptisch angelegten Tagebücher und Notizhefte bereits als frühe autobiografische Textstufen gelten und sind womöglich Archivierungsmöglichkeiten geschuldet. Heyse etwa muss früh und deutlich bewusst gewesen sein, dass ein dezidiertes Interesse an seinem Nachlass und an dessen Archivierung besteht. 183 Vgl. Lewald, Lebenserinnerungen 1; Lewald, Lebenserinnerungen 2; Lewald, Lebenserinnerungen 3. Dort erschienen jedoch lediglich ausgewählte Teile und nicht das gesamte autobiografische Projekt. Vgl. hierzu auch: Ujma, Life as a Journey, S. 138. 184 Lewald, Lebenserinnerungen 1, S. 440. 185 Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 18.
224
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
wird. Jedoch wird auch mit Spieros Edition ein entscheidungsrelevanter Paratext zum weißen Fleck einer zukünftigen Forschungslandschaft, denn Lewald-Stahrs Vorwort wird nicht mitherausgegeben. Folglich landet das Vorwort nicht zwischen zwei Buchdeckeln, sondern harrt vorerst unbeachtet in einer Archivkladde einer etwaigen Publikation. Den Stellenwert der entscheidungsrelevanten Vorworte sowie Widmungen deutet die Autobiografin punktuell an, wenn sie etwa die archivarische Funktion autobiografischer Projekte als »Rettungsanker« konzipiert: Die sogenannte »Ze r ri s s e n h e i t « der Menschen hat für mich nur einen Sinn: Das Streben nach Dauer, nach Unsterblichkeit mit dem Bewußtsein der Sterblichkeit und Endlichkeit. […] Das Thun um des Thuns willen ist nicht für jedermann – und selbst Goethe klammerte sich an den Glauben der persönlichen Fortdauer wie an einen Rettungsanker an.186 Eben jener »Zer r i s s e nh e i t « versucht sie mit ihrem autobiografischen Projekt beizukommen und umso erstaunlicher ist, dass gerade LewaldStahrs Nachlass und die Neuausgaben ihrer Autobiografien, herausgegeben ohne ihre Vorworte und Widmungen, sinnbildlich für ebendiese skizzierte »Zer r i ssen hei t« stehen und das Ergebnis archivarischer und editorischer Entscheidungen präsentieren, das angesichts der Vorworte geradezu widersprüchlich erscheinen muss.187 Erhellend ist die Ausgabengestaltung, der im Folgenden nachgegangen wird. Bereits in der ersten Auflage ihrer Autobiografie verrät Lewald-Stahr, dass die letztgültige Textgestalt dezidiert ihrem Autorwillen zu entsprechen habe und sie mit einer internationalen Rezeption rechne, denn, so mahnt sie auf dem Haupttitelblatt prophylaktisch an: »Die Verfasserin behält sich das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen vor«.188 Prospektiv nachruhmsichernd formuliert die Autobiografin sodann ihre Einleitung, die ausschließlich in der ersten Auflage von 1861 zu finden ist und auf die Helmer, trotz eines ansonsten exakten Nachdrucks ebendieser Ausgabe, verzichtet. Wie später auch Heyse vertraut Lewald-Stahr auf die netzwerkbildende sowie publikumswirksame Kraft Goethes und des Goethe-Kults, sodass in der Einleitung zunächst in acht Absätzen Goethes Bedeutung des In dividuellen zitiert wird, bevor die Autobiografin schließlich das daran an186 Lewald, Gefühltes und Gedachtes, S. 131. 187 Gewissermaßen ist eingetreten, was Dilthey als Schreckensszenario skizziert: »Zerstörung und Zersplitterung« (vgl. Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 371). 188 Lewald, Meine Lebensgeschichte. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle MLGI1 angegeben.
225
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
schließende, eigene autobiografische Konzept vorstellt.189 Gewährleisten soll dieses Vorgehen zunächst eine glückende Ankunft auf dem prospektiven, anvisierten Buchmarkt, denn: [w]ie der Reisende sich Empfehlungen von verehrten Personen zu verschaffen sucht, um sich einen freundlichen Empfang und gütige Teilnahme unter den Freunden zu sichern, so schicke ich dieser Arbeit eine Bemerkung Goethe’s über die Bedeutung des Individuellen voran, die mich seit lange beschäftigt und mir während des Arbeitens oft im Sinne gelegen hat (MLGI1, 1). Die Autobiografin nutzt den damaligen »Individualitätskult« und vermerkt unmittelbar,190 dass Goethes »Bemerkungen« ihren Arbeitsprozess stetig begleitet hätten. Bezeichnend ist demnach, dass just die erste »Bemerkung« dem konstanten Erinnern beziehungsweise dem gewünschten Nachruhm gewidmet ist: »Das Individuum, sagt Goethe, geht verloren; das Andenken desselben verschwindet; und doch ist ihm und andern daran gelegen, daß es erhalten werde« (MLGI1, 1). Mit der Einleitung und den intertextuellen Referenzen auf einen bereits kanonischen Klassiker setzt Lewald-Stahr ihr gesamtes autobiografisches Projekt unter das Vorzeichen einer künftigen Nachlasssicherung. Die zitierten Passagen bedingen nicht ausschließlich das autobiografische Projekt, vielmehr bedingen sie umfassender das gesamte literarische Werk, denn die Autobiografin vermerkt anschließend: An diese Aussprüche habe ich oftmals gedacht, wenn ich bei meinen dichterischen Arbeiten, im Gestalten der einzelnen Figuren, den Boden zeichnete dem sie entstammten, die Einflüsse welche zu ihrer Entwicklung beitrugen, und den Weg auf dem sie an ihr Ziel zu gelangen hatten. Dann ist mir häufig die Lust gekommen, mir einmal mein Leben und meine eigene Entwicklung in solcher Weise übersichtlich und zusammenhängend darzulegen, und seit Jahren habe ich die Neigung gehabt, meine Erinnerungen aufzuzeichnen. Meine Freunde haben mich in dem Gedanken bestärkt, mich zu dem Unternehmen angetrieben, und nun ich 189 Ebenso verfuhr gemäß Matthias Emrich Varnhagen von Ense, als er die Schriften seiner Ehefrau herausgab, indem er versucht habe, die »situationelle[ ] Individualität der versammelten Texte« sicherzustellen (Emrich, Rahel, S. 135). Bemerkenswert ist dies, weil Lewald-Stahr neben Goethe ebenso Rahel Varnhagen von Ense zu einem nachahmenswerten Vorbild erklärt (vgl. MLGII, 13, 157). 190 Dieser sei, laut Alt, leitend für das 19. Jahrhundert gewesen (Alt, Mode ohne Methode?, S. 27).
226
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
mir endlich einmal die Muße dazu geschafft, nun ich mich an den Schreibtisch setze um an das Werk zu gehen, bewegt es mir feierlich das Herz. Denn wie man in der Jugend ahnungs- und hoffnungsvoll in die ungewisse Zukunft hineinblickt, so schaue ich in diesem Augenblick ruhig und befriedigt auf den Pfad zurück, der jetzt hinter mir liegt. Es ist etwas Besonderes um das Festhalten und Aufschreiben seiner eigenen Schicksale, um das Wiedererwecken seiner eigenen Vergangenheit. Man ist Darsteller und Zuschauer, Schöpfer und Kritiker, jung und alt zugleich. Man empfindet alle seine genossenen Freuden mit der Kraft der Jugend, man blickt auf seine vergangenen Leiden mit dem Gefühle eines Ueberwinders zurück. Man durchlebt das Leben noch einmal, aber ruhig und mit unverwirrtem Bewußtsein (MLGI1, 3 f.).191 Die letzten beiden Sätze können auf die entscheidenspoetische Dimension der Lebensgeschichte gemünzt werden, denn später zeichnet innerhalb der Diegese gerade das »Gefühl[ ] eines Ueberwinders« sowie das »unverwirrte[ ] Bewußtsein« (MLG I1, 4) die Autorfigur als Entscheiderin aus. Letztlich stelle ein autobiografisches Projekt den »vernünftigen Zusammenhang« her (MLG I1, 4), der jedem Leben zukomme. Bereits mit dieser deskriptiven Wendung weist die Autobiografin auf Goethes autobiografische Konzeption und den präferierten ›Vernunftmenschen‹ hin,192 der im entscheidenden Moment Vernunft und Gefühl zu vereinen weiß. Beachtens wert ist, dass Lewald-Stahr ausgerechnet in diesem Kontext betont, dass (Auto-)Biografien für sie stets hilfreiche Lehrmaterialien gewesen seien, denn diese ließen nicht allein »Kulturverhältnisse« verständlich werden, sie seien zudem »lehrreich, tröstlich und erhebend« (MLG I1, 5). In diesem Sinne verpflichtet sie auch ihr eigenes autobiografisches Projekt der Aufklärung, darauf hoffend, dass ihre Autobiografie »einem oder dem andern Menschen hier und da aufklärend und beruhigend zu statten[kom men]« möge (MLG I1, 6). Ein Wunsch, den sie sogleich autorisiert: »Berlin, im Juni 1858« (MLG I1, 6). Während Lewald-Stahr in der ersten Auflage ihre Lebensgeschichte noch »im Gedenken an [ihre] theuren verstorbenen Eltern und an [ihr] liebes Vaterhaus beginn[t]« (MLG I1, 6), widmet sie ihre zweite Auflage und indirekt auch ihre »gesammelten Werke« de zidiert und ausschließlich einem entscheidungsrelevanten Diskussionspartner und einem werkkonstitutiven Berater, der zugleich »treue[r] Zeuge« 191 Dieses wird gerade durch die Archivalien ermöglicht, die selbst archiviert und gesammelt werden, um sie für ein erneutes ›Durchleben‹ im Schreibprozess heranziehen zu können. 192 Vgl. Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt., Bd. 14, S. 12 f.
227
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
ihrer »Arbeit« (MLGI2, 11) gewesen sei, nämlich ihrem Vater und ihrem Ehemann:193 An Adolf Stahr. Du und ich, mein geliebter Mann! haben unsere einzelnen Arbeiten, wenn wir sie der Oeffentlichkeit überantworteten, immer gern einem oder dem andern, der uns besonders werthen Menschen zugeschrieben, um Ihnen damit ein Zeichen der Liebe, oder ein Zeichen des Dankes für die Teilnahme zu geben, welche sie uns und unserm Schaffen angedeihen lassen. Nun stehe ich vor der Herausgabe meiner gesammelten Werke, eine dreißigjährige Thätigkeit überblickend, und ich kann getrosten Herzens und mit gutem Gewissen die Worte wiederholen, mit denen ich vor acht Jahren die vierte Abtheilung meiner Lebensgeschichte abschloß (MLGI2, I). Nachdem Lewald-Stahr die Schlusspassage der ersten Auflage ihrer Autobiografie zitiert, flicht sie zielgerichtet eine weitere Werkverknüpfung ein, denn dort bestimmt sie Italien zum lebenslauf- sowie werkentscheidenden Geburtsort ihres kollektiven, gleichberechtigten, symbiotischen Schriftstellerdaseins und folgt schließlich vollends – gemeinsam mit dem Goetheforscher Stahr – dem kanonweisenden Lebensweg: Ich war noch ein Neuling auf dem neuen Wege, als wir, ich und Du, geliebter Mann! uns vor fünfundzwanzig Jahren in Italien zusammenfanden. Seit dem Tage bist Du der treue Zeuge meiner Arbeit gewesen, und an Dein Urtheil, an Deine Zustimmung habe ich bei derselben seitdem stets zunächst gedacht. Seit fünfundzwanzig Jahren haben wir beide, Jeder auf seine Weise, einem gemeinsamen Ziele zugestrebt, und danach getrachtet, unser Leben und Schaffen zu einem Einklang zu gestalten: denn der Mensch kann nicht leisten und wirken, was er nicht selber ist (MLGI2, II-III).194 193 Später im Verlauf der Erzählung widmet die Autobiografin ihr Projekt Heinrich Simon und »seinem teuern Andenken« (MLGIII, 142). Implizit legt sie damit dar, dass, sollte ihr autobiografisches Projekt vergessen werden, auch weitere literaturhistorisch relevante Figuren vergessen würden. Ihre Autobiografie sei somit zugleich als Nekrolog von Relevanz. Hier wird der Wert der eigenen Autobiografie zugleich durch das Netzwerk derjenigen Figuren gestützt, die darin, neben der Erzählerin, auftreten. Man selbst wird also nicht primär durch das eigene Leben relevant, sondern auch dadurch, wen man traf. 194 Die Rede von ›Einklang‹ statt ›Einheit‹ mag zeigen, dass das Ideal nicht in einer Auflösung der je einzelnen Individualität gesehen wird, sondern in einer Lebensgemeinschaft, in der gleichberechtigte Autonomie möglich wird. Dies entspricht Lewald-Stahrs vorgestellten ›emanzipatorischen‹ Idealen. Für den Einklang ist vielmehr die Autonomie notwendige Bedingung. Die Passage erinnert überdies
228
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
Indem sie die zweite Auflage ihrer Autobiografie dezidiert Adolf Stahr widmet, dokumentiert sie, dass sie in ebendieser gleichberechtigten Arbeitsgemeinschaft nicht gezwungen ist, ihre literarischen Projekte anonym zu publizieren. Dies gerät fast in Vergessenheit, wenn primär Stahrs Text eingriffe betont werden und Lewald-Stahrs netzwerkbildende und werkverknüpfende Praktiken wie planvollen Widmungen unbemerkt bleiben.195 Zumal Stahr testierte, dass seine Ehefrau Lewald-Stahr allein dazu ermächtigt sei, seinen gesamten gedruckten u. ungedruckten literarischen Nachlaß einschließlich der eigenen und fremden Correspondenz soweit nicht wohlerworbener Rechte Dritter entgegenstehen, in jeder ihr zweckmäßig erscheinenden Weise […] nach ihrem freien Ermessen zu verwerthen […] und meinen literarischen Nachlaß ganz oder teilweise [zu] vermarkte[n].196 Deutlich zeigt sich mit Stahrs Testament, dass allein Lewald-Stahr die verantwortungsreiche Entscheidensbefugnis zukam, den Nachlass, etwaige Editionsprojekte, die Autorfigur post mortem und nachklingende Werke zu gestalten. Lewald-Stahrs Entscheidensbereich, ihre literarische Expertise und ihr praktischer Anteil an der Nachlassformation verschwinden, sobald ausschließlich fokussiert wird, wie Stahr in Lewald-Stahrs Texte eingriff. an Lewald-Stahrs biologistisch ausgerichtetes Berufungskonzept, das auch Heyse für seine Autorfigur bemüht. 195 Demgegenüber werden die Texteingriffe, die Lewald-Stahr bei Stahrs Texten vornahm, nicht erwähnt und auch nicht als unemanzipierte Haltung oder matriarchale Befangenheit interpretiert. 196 Stahr, Testament in Abschrift. Wie gewissenhaft Lewald-Stahr an der gemein samen, geteilten Prominenz arbeitet, bezeugt eine postalische Sendung an Carl Alexander: »In diesem Augenblicke, gnädigster Herr! erhalte ich das erste Exemplar von ›Göthe’s Frauengestalten‹ von Stahr – deren Text nun als Buch zusammengedruckt wird. Obschon das ganze Werk Ihnen gewidmet ist, und Sie also die Prachtausgabe besitzen, wollte ich doch, Sie läsen den Text einmal als Buch. Ich habe nämlich an mir, eben bei der Prachtausgabe, die Bemerkung gemacht, daß die Unhandlichkeit des Formates und das weite Auseinander zerren der Buchstaben, Worte, Linien, dem Genuß des Gedankens schweren Abbruch thaten. Ich kannte in diesem Formate das Manuskript gar nicht wieder, und finde erst jetzt in dem kleinen zusammenhängenden Drucke wieder die Freude an den Erklärungen, der uns allen so lieben und vertrauten Gestalten. In dem Pracht-Exemplare war es mir immer, als hörte ich einen Stotternden oder Gelähmten, die Worte auseinanderzerren« (Fanny Lewald an Carl Alexander, 28. September 1865, Bd. I, S. 184). Mit der zitierten Passage wird ersichtlich, dass Lewald-Stahr über bibliophile, philologische Expertisen respektive Akkuratesse verfügt und wie später Heyse tritt auch Lewald-Stahr als versierte Netzwerkerin in Erscheinung.
229
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Zumal in ebendiesem Archivkasten der Vertrag zur Gütertrennung archiviert wird, den Lewald-Stahr aufsetzen ließ, um ihre autoritative Entscheidensbefugnis zu sichern, sodass sie allein – auch nach der Eheschließung – die Autorenrechte für ihre literarischen Projekte besitzt. Aufbewahrt wird somit ein Dokument, das Lewald-Stahrs Autorinnenbewusstsein belegt. Hervorzuheben ist Adolf Glasers ebenfalls archivierter biografischer Essay über Adolf Stahr, denn dort deklariert er die Liaison und spätere Ehe als einen entscheidenden Wendepunkt, der primär Adolf Stahrs L eben betreffe, da dieser sich in »eine gefeierte Schriftstellerin« verliebt habe. Die Begegnung wird für Stahr als externalisierte Berufsentscheidung und für beide gleichermaßen als werkkonstitutives und werkverknüpfendes Ereignis vorgestellt: Auf dieser Reise knüpfte sich auch ein Band, welches für Stahr’s ganzes künftiges Leben entscheidend wurde, und auch hier wieder zeigte sich, daß die wichtigsten Entschlüsse seines Lebens meist durch Anregung von verehrter Seite entstanden. In Rom lernte er Fanny Lewald kennen, die am Schluß ihrer bekannten »Lebensgeschichte« vor dem Eintritt nach Italien, vom Lago-Maggiore aus, folgende Worte schreibt: »Ich trat auf den Balkon hinaus, ich konnte von der Gegend nichts erkennen. In schweigendem Sinnen schaute ich durch die Nacht. Was wird das Jahr mir bringen, das ich auf diesem Boden zu verleben denke? fragte ich mich unwillkürlich. Und was ich mir auch vorstellen mochte, ich konnte nicht ahnen, nicht hoffen, daß es mir mit der höchsten Liebe die Erfüllung aller meiner Wünsche, daß es mir das Glück meines Lebens bringen würde.« Fanny Lewald war bereits eine gefeierte Schriftstellerin und befand sich in einem Alter, wo eine so geistreiche und klar in das Leben blickende Persönlichkeit wohl wußte, und es hieß, wenn sie ihr Lebensschicksal mit demjenigen eines Mannes verband, der selbst genöthigt war, um zu diesem Ziele zu gelangen, eine Ehe zu trennen, die bereits viele Jahre bestanden hatte und aus der heranwachsende Kinder entsprossen waren. Wir besitzen Fanny Lewald’s Lebensgeschichte bis zu dem Wendepunkt, wo die Bekanntschaft mit Stahr eintrat; wir besitzen von Stahr einen Band Gedichte, »Ein Stück Leben« betitelt und erst 1869 in Berlin erschienen, worin die Gewalt oder die Innigkeit seiner Liebe zu seiner zweiten Frau fast auf jeder Seite dem Leser entgegenleu[ch]tet, aber in die eigentliche Natur und Entwicklung dieses Liebesverhältnisses, welches schließlich alle Hindernisse überwand und zu einer zwanzigjährigen glücklichen Ehe führte, ist bis jetzt aus leichtbegreiflichen Rücksichten noch kein klarer Einblick gestattet. […] Man muß hoffen, daß die Witwe Stahr’s als 230
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
setzung ihrer »Lebensgeschichte« und der »Lebenserinnerungen« ihres Gatten die Schilderung ihres Zusammenfindens und des gemeinsam zurückgelegten weitern Lebensweges folgen lassen wird.197 Diese gewünschte Fortsetzung wird mit den zuvor genannten Ergänzungen und bereits mit dem neuen Vorwort für ihre Autobiografie, das im Zuge der Gesamtausgabe entsteht, dezidiert und strukturiert folgen, sodass die Ehe mit Stahr fortan einen lebenslauf- und werkkonstitutiven Schlüsselmoment fixiert. Der in der ersten Auflage formulierte Anspruch, dass ihre Autobiografie für das prospektive Lesepublikum »aufklärend« sein möge, wird gewissermaßen rezeptionsgeschichtlich eingelöst und versichert, indem sie Stahrs Worte als direkte Figurenrede wiedergibt: »›Die Arbeit hat Dich innerlich aufgeklärt, hat Dich gefördert, hat Dich oft gefreut; sie wird auf Den und Jenen also auch die gleiche Wirkung haben. Was willst Du denn noch mehr?‹« (MLGI2, 3). Die rhetorische Frage fungiert fortan für die Autodiegese als zielführende Navigation, die Lewald-Stahr positiv ›verbucht‹ und schließlich mit einer Werkwidmung besiegelt: Nimm denn diese Gesammt-Ausgabe meiner Arbeiten, von denen der bei weitem größte Theil unter Deinen Augen entstanden ist, als Liebes-, als Dankesgabe hin, und laß uns hoffen, daß Dein Wort zur Wahrheit werde: daß Andere fördere, was während dem Schaffen mich selbst gefördert; daß sie erfreue, was mich über manche Stunde gemeinsam getragener schwerer Sorge flügelkräftig fortgehoben; und daß die Leser das Gute, das Wahre, das Schöne auch da herausfühlen mögen, wo es mir nicht gelungen ist, es klar zur Erscheinung zu bringen, wo mein Können hinter meinem Wollen, meine Leistung hinter meinem Ideale zurückgeblieben ist. Und somit in Liebe und gemeinsamen Streben hoffentlich noch eine Weile fort! Berlin, im Mai 1870. Die Deine Fanny Lewald-Stahr. Dem Andenken meines Vaters David Markus Lewald sei die Erzählung meiner Lebensgeschichte in dankbarer Liebe gewidmet (MLGI2, 3-5). 197 Glaser, Adolf Stahr, S. 804-806. In einer braunen Mappe mit der goldenen Aufschrift »Briefe an Fanny Lewald Stahr bei dem Tode von Adolf Stahr« sind alle Kondolenzschreiben und internationale (frz., ital.) Zeitungsartikel zu Stahrs Tod eingebunden. Dort ist auch der hier zitierte Essay zu Adolf Stahr aufbewahrt. Der Essay besitzt handschriftliche Angaben und kritische Kommentare, die mit Tinte notiert wurden. Nicht alle Seiten sind aufgeschnitten, der Essay wurde in diesem Belegexemplar nicht vollständig gelesen (Lewald-Stahr, Zum Tode von Adolf Stahr, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 9, Visitenkarten, Telegramme und Briefe an Fanny Lewald, dazu einige Nachrufe in Zeitungen, Nr. 130).
231
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Indem sie ihre Autobiografie Stahr »als Liebes-, als Dankesgabe« öffentlich ›überreicht‹ und ihrem Vater ebendiese »in dankbarer Liebe [ ]widmet«, eignet sie ihr autobiografisches Projekt den Personen zu, die als Figuren in ihre Autodiegese eingehen und dort benötigt werden, um ihre Autorfigur als dialektisch geschulte Entscheiderin präsentieren zu können. Die Vorworte wie auch die Widmung stellen nicht primär eine konservative Kontamination oder gar eine patriarchale Befangenheit dar, vielmehr sind diese zentrale Bausteine einer bewährten, nämlich berufssichernden und karrierefördernden Netzwerkpraxis und eines erzähllogisch konzise aufgebauten Entscheidensprozesses.198 Ebendieser Erzähllogik folgt auch ihr Vorwort für ihre autobiografische Ergänzung Neues Leben, Neues Lieben respektive Das Buch Adolf, auf das Spiero versäumt, explizit hinzuweisen. Eigenhändig setzt Spiero der Autodiegese eine Einleitung vor, die einen kulturgeschichtlich gewichtigen Rahmen setzt: Das Schicksal, dessen Knüpfung auf diesen Blättern dargestellt ist, hat einst weit über den Kreis derer, die es leben mußten, hinaus in Deutschland Anteil erweckt. Durch viele Denkwürdigkeiten des neunzehnten Jahrhunderts und durch Briefe der Zeitgenossen schreiten Fanny Lewald und Adolf Stahr vereint hindurch, bewundert und gescholten, verstanden und mißverstanden. Den letzten Ursprung und die tiefe Gründung ihrer späteren, Leben und Tod überdauernden Einheit bekennen erst diese, so lange nach beider Tode in den Druck gelangenden Aufzeichnungen. Es ist keine indiskrete Hand, die das lange Bewahrte – im Einverständnis mit den Familien Lewald und Stahr – ans Licht zieht. Vielmehr hat Fanny selbst dieses Buch zur Veröffentlichung bestimmt, und ihr Gatte hat sie in dieser Absicht bestärkt. Wohl sind es tagebuchmäßige Aufzeichnungen aus jenen italischen Monaten – aber erst zwanzig Jahre später verwob sie Fanny Lewald zu schlüssiger Darstellung und legte die Erinnerungen »dem Manne, der sie mit mir in schmerzvollen Glück durchlitten, als ein Zeichen unserer geliebtesten Erinnerung« auf den Weihnachtstisch. Damals waren Adolf und Fanny bereits zehn Jahre lang in einer Ehe verbunden […]. Und auf die von der Frau heimlich verfaßte Arbeit setzte 198 Inwiefern Netzwerke dezidiert den schriftstellerischen Erfolg beeinflussen, mag erkennbar werden, wenn Bernhard von Lepel seine erfolgreiche Netzwerkarbeit für Theodor Fontane mit einer knappen, leichtfüßigen Sentenz bedeutungsschwer beschließt: »Ja, es ist gut, wenn man heut zu Tage Freunde hat; sonst wird man nicht unsterblich« (Bernhard von Lepel an Theodor Fontane, 7. Juni 1847, Bd. 5.1, S. 53).
232
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
der Mann, als er sie tiefbewegt durchgelesen hatte, die Verse: Unseren Frühling hast du, Geliebteste, heut mir erneuert, // herrlich mit Blüten geschmückt unserer Liebe Gedicht. // Unser seliges Leid, von dir geschildert, erblüht mir, // heut in flammender Pracht neu in der Seele empor. Und er, Stahr, wünschte die Veröffentlichung, erbat sie noch wenige Tage vor seinem Tode. Fanny aber hat in ihren dreizehn überschatteten Witwenjahren die Handschrift wohl druckfertig gemacht und sie dennoch erst den Nachlebenden zur Veröffentlichung überlassen. So tritt sie heute, achtzig Jahre nach den ihr dargestellten Erlebnissen, hervor und gewährt den vollen Blick auf ein ungewöhnliches, von ungewöhnlichen Menschen mit namenlosen Glück und namenlosem Schmerz in allen Tiefen erfahrenes Schicksal.199 Die Italienreise mitsamt der zukunftsweisenden Begegnung erhebt Spiero in seiner Einleitung zu entscheidenskonstitutiven Ereignissen, die, anders als Glaser, primär Lewald-Stahrs und sekundär Stahrs Schriftstellerkarriere verstetigen sowie die Liebesehe verewigen: Immer hatte Fanny Lewald klar und mit eingrenzender Deutlichkeit zu schreiben gesucht; jetzt erst ward sie sich unausweichlicher stilistischer Anforderungen bewußt, von hier erst schreibt sich ihr auf die Kunstform gerichtetes Studium Goethes her, erst durch Stahr gewann sie ein Verhältnis zur Ästhetik des Romans und der künstlerischen Prosa. […] Für Adolf Stahr bedeuten italienische Reise und Lebensumschwung nicht weniger. Erst in Rom ward aus dem Aristoteles-Forscher und JahrbuchKritiker der Schriftsteller. […] Nach langen, zermürbenden Kämpfen war unter freundschaftlich förderndem Beistand des Großherzogs Carl Alexander von Sachsen nach der Trennung von Stahrs erster Ehe im Jahre 1855 zu Berlin die Verbindung des Fünfzigjährigen mit der Vierundvierzigjährigen vollzogen worden. […] Auf dieses Höhenweges Mitten rundeten sich Aufzeichnungen und Erinnerungen jener Tage am Tiber zu diesem Buche. Am dritten Oktober 1876 war Adolf Stahr in Wiesbaden gestorben; am zweiundzwanzigsten, seinem Geburtstage, schrieb die Witwe eine letzte Zeile und den Namen Fanny Lewald-Stahr unter diese Blätter. Alles geben die Götter, die unendlichen, // ihren Lieblingen ganz: // Alle Freuden, die unendlichen, // alle Schmerzen, die unend lichen ganz. // Aber auf daß nicht dem Leide das letzte Wort bliebe, setzte 199 Dieses Gedicht erscheint später in einer Gedichtsammlung, auch hier gehen Werkentscheidung und Werkverknüpfung miteinander her. Spiero, Einleitung, S. 1 f.
233
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Fanny Lewald Stahr noch einmal dazu: Alles geben die Götter ihren Lieblingen ganz! Daß diese Tagebücher erst nach dem siegreichen Abschluß langer, wundenschlagender Kämpfe zusammengefügt wurden, daß die alternde Hand der Schreiberin unter die wahrheitsgetreue Darstellung der Vergangenheit die Rune spät und reich erfüllten, dankbar getragenen Glückes zeichnen durfte, gibt diesen Blättern einer Geschichte gewordenen Leidenschaft den letzten Reiz. Heinrich Spiero.200 Für seine Einleitung zitiert Spiero wiederholt Lewald-Stahrs Vorwort, ohne jedoch explizit auf dieses oder auf den aktuellen Verwahrungsort hin zuweisen. Indem er Stahrs lyrische Strophe zitiert, rückt abermals eine Werkverknüpfung an den paratextuellen Anfang der darauffolgenden Autodiegese. Über die letzten drei Seiten profiliert Spiero den Erkenntniswert der vorgelegten Autobiografie: Diese sei »heimlich« verfasst, liefere einen »vollen Blick«, biete eine »wahrheitsgetreue Darstellung der Vergangenheit« und belege vornehmlich lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidensprozesse eines Autorenkollektivs. Lewald-Stahrs editions erprobte »[ ]diskrete Hand« und der ›dokumentarische‹ Wert ebendieser Lebensgeschichte werden hervorgehoben, so ergibt diese klimaktische Trias nicht nur den »letzten«, sie ergibt den aufmerksamkeitsstarken »Reiz«.201
200 Ebd., S. 8-10 Ward erläutert hierzu: »Now the friendship she had so carefully cultivated with Carl Alexander proved especially useful. An undated letter, probably from late 1853 or early 1854, appeals to him in rather strong language, calling the Stahrs’ marriage, ›nothing more, under these circumstances, than state-sanctioned prostitution‹. Lewald hopes that he will intervene and make a personal appeal to the Duke of Oldenburg for jurisdiction in the divorce proceedings, thus sparing them the necessity to prove either of these in court. As she points out, Saxony-Weimar was the only German state lenient enough to allow a kind of annulment by the grace of the ruler alone. She encloses all the necessary documents, emphasizing, ›Rescue is possible, but only through you‹« (Ward, Between Rebellion and Renunciation, S. 196; vgl. auch: Schneider, Fanny Lewald, S. 90-93). Deutlich wird hier, wie Lewald-Stahr sich persönlich einsetzt, ihr geschaffenes Netzwerk aktiviert, hiernach die Regie übernimmt, um ihre Eheentscheidung voranzubringen, indem sie die Entscheidung für eine Gnadenscheidung rhetorisch versiert externalisiert und mit ihrem Vorwort 1865 als werkentscheidendes Moment vorträgt. Schneider weist auf ein Briefkonzept von Lewald-Stahr an den Großherzog hin, in dem sie ihn um Beistand explizit bittet, jedoch sei dieser Brief niemals abgeschickt worden (vgl. Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 52 f.). Schneider erläutert später, dass dieser Brief an den »Justizminister des Groß herzogs, Oscar von Wydenbrugk,« gerichtet gewesen sei (Schneider, »Meine Mutter paßt auf, daß mir Keiner was thut!«, S. 254-256). 201 Spiero, Einleitung, S. 1 f., 8-10.
234
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
Ebenso aussagekräftig wäre womöglich Lewald-Stahrs Vorwort ge wesen. Auf dem zugehörigen, im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar archivierten Manuskript vermerkt die Autobiografin die folgende autoritative Weisung: »Dies ist das völlig fertige Druck-Exemplar. Meine Lebensgeschichte. Siebenter Band. (Neues Leben, Neues Lieben). Von Fanny Lewald. (alle Rechte vorbehalten)«.202 Anders als der von Spiero veränderte Titel Römisches Tagebuch, verweist Lewald-Stahrs intertextuell angelegter Titel Neues Lebens, Neues Lieben auf den entscheidenden Neubeginn, auf die Wiedergeburt als Schriftstellerin und des Schriftstellerpaars.203 Dies wird besonders deutlich, indem die Autorin mit dem gewählten Titel auf Goethes Gedicht Neue Liebe neues Leben referiert.204 Lewald-Stahr verfasst die Einleitung zum siebten autobiografischen Band erklärtermaßen erst nach Stahrs Tod. Einmal mehr wird deutlich, dass der Tod des geliebten Partners ausschlaggebend für die positive Werkentscheidung ist und dass das autobiografische Projekt gewissermaßen eine »persönliche[ ] Fortdauer« – trotz Verlust – garantiert.205 Die Kunst vermag diesbezüglich für Lewald-Stahr das, was die Religion für sie nicht leisten kann, namentlich ein Nachleben,206 für das selbstarchivarische sowie autobiografische Praktiken konstitutiv sind: 202 Lewald-Stahr, Einleitung, GSA: Fanny Lewald-Stahr, 96.1816, Bl. 13799-13801. Indem hervorgehoben wird, dass es sich um das druckfertige Exemplar handle, wird deutlich, dass auch das Vorwort bereits vorab an anderer Stelle konzipiert wurde, die Werkverknüpfungen und Referenzen zielgerichtet eingefügt wurden. Ihr Notizbuch zeugt überhaupt von einer geordneten und überlegten Textarbeit. Gabriele Schneider hebt hervor, dass Lewald-Stahr trotz ihrer Ehe mit Adolf Stahr weiterhin ihren Nachnamen behalten habe und deutet dies als Hinweis auf ein ausgeprägtes Autorbewusstsein. Ergänzt werden muss jedoch, dass Lewald-Stahr das Vorwort zur zweiten Auflage und auch das Vorwort für ihr Römisches Tagebuch mit Lewald-Stahr unterzeichnet. Dies ist insofern konsequent, als ihre Berufs- wie auch ihre Eheentscheidung als emanzipatorische, kulturkonstitutive Ereignisse vorgestellt werden (vgl. Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 45). 203 Auch Arthur Schnitzlers Titel wurde geändert, wodurch der erzähllogische Aufbau und die Korrespondenz zwischen Titel und Autodiegese entscheidend verändert, wenn nicht sogar eliminiert wurde. 204 Goethe, Neue Liebe neues Leben, FA, I. Abt, Bd. 1, S. 167-287.. 205 Lewald, Gefühltes und Gedachtes, S. 131. 206 Dies vermerkt Lewald-Stahr, als sie in einem Brief an Carl Alexander Stahrs Tod memoriert: »[I]ch hätte – in dem Augenblick, in welchem Stahr die Augen schloß, mein ganzes Sein hingegeben, hätte ich jene beseligende Vision haben, oder jenen Glauben in mir lebendig machen können, gegen jenes trostlose ›Wissen, das der Tod ist‹ – und dem gegenüber schließlich auch wieder Nichts übrig bleibt, als das wahrhaft fromm ergebene Wort Goethes ›in Wundern ist der arme Mensch geboren – in Wundern ist der arme Mensch verloren!‹« (Fanny Lewald an Carl Alexander, 24. April 1882, Bd. 1, S. 144). Ihr vermag Goethes Bildungsroman
235
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Einleitung Es sind jetzt ein u dreissig Jahre her, seit im Winter von 1845-1846 die Ereignisse erlebt wurden, von welchen in diesen Blättern die Rede ist, u eilf Jahre, seit ich sie aufzeichnete, um sie dem Manne, der sie mit mir in schmerzensvollem Glück durchlitten, als ein Zeichen unserer geliebtesten Erinnerung auf unsern Weihnachtstisch zu legen;207 denn er hatte immer gewünscht, auch diesen Theil meiner, unserer Lebensgeschichte noch von mir geschrieben zu sehen[.] Wir waren damals bereits zehn Jahre lang verheiratet […]. Was ich mit meiner heimlich gemachten Arbeit beabsichtigt hatte, war mir vollauf gelungen. Wir hatten Beide Freude an dem Heft. Als der geliebte Mann es durchlesen, schrieb er auf das erste Blatt desselben die Verse, die er später in die Sammlung seiner Gedichte aufgenommen hat: Unseren Frühling hast Du Geliebteste, heut mir erneuert, Herrlich mit Blüthen geschmückt, unserer Liebe Gedicht. Unser ›seeliges Leid‹ von Dir geschildert, erblüht mir Heut’ in flammender Pracht neu in der Seele empor. Welch ein Weihnachtsgeschenk! Nie hat ein Liebender jemals Wohl ein köstlicheres, nimmer ein schön’res empfahn! Frühling spendest Du mir zur Weihnacht heut, wie Du immer Meinem Leben der Lenz, Blüthe ihm warest u Frucht! Gleich damals hatte Stahr, dem das Leben in u mit der Öffentlichkeit u der persönliche Zusammenhang mit den Zeitgenossen, für die er zu schreiben liebte, ein Bedürfniß war, die Veröffentlichung dieser Blätter gewünscht. Er behauptete, sein u mein Leben, u wir selber in unserer Lebensführung würden den an uns teilnehmenden Menschen erst durch diese Erzählung völlig verständlich u klar. Er hatte das Manuskript für diesen Zweck mehr Trost zu spenden als die Bibel, beziehungsweise erhebt Lewald-Stahr die Kunst zur Religion. Diese Passage gibt Göhler auch in seiner Einleitung wieder und bemerkt treffend: »F. Lewald war ein Freigeist, der das, was in der christlichen Glaubenslehre seinem Verstande widersprach, aus innerster Notwendigkeit ablehnte« (Göhler, Einleitung, S. 25). 207 Das Personalpronomen, mit dem die Zweierbeziehung betont wird, fügte Lewald-Stahr erst nachträglich ein. Die hier vorgestellten autobiografischen Projekte wurden oftmals zu Ostern publiziert und enden zumeist mit der ›Wiedergeburt‹ als Schriftstellerin beziehungsweise Schriftsteller. Es ist bezeichnend, dass Lewald-Stahr ihrem Ehemann ihr autobiografisches Manuskript gerade zu Weihnachten schenkt. Das Manuskript steht – pars pro toto – für die festliche Geburt einer gleichberechtigten, verheirateten Autorin.
236
Abb. 3: Fanny Lewald-Stahr, Einleitung, GSA, Fanny Lewald-Stahr, 96.1816, Bl. 13799.
237
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
noch eigens durchgesehen, hatte mich angehalten, was zu thun ich sonst bei meinen Arbeiten nicht gewohnt war, aus Vorsicht eine Abschrift davon machen zu lassen, diese an drittem Orte sicher niederzulegen, u es war sehr gegen seine Ansicht, daß ich den Druck von Jahr zu Jahr hinausschob.208 Wer in der Oeffentlichkeit lebt, sagte er oftmals, wer sich einen Zusammenhang u eine Wirksamkeit mit u unter seinen Zeitgenossen geschaffen, sich ihre Anerkennung erworben hat, wie ich u Du, ist solchen Wohlgeneigten auch Rechenschaft von sich selber schuldig, soweit er sie zu geben vermag. Was hält Dich zurück, den Inhalt dieser Blätter den Menschen mitzutheilen, denen unser äusseres gemeinsames Erleben, seit wir uns gefunden hatten, unverhüllt u unverholen dargelegen hat, ohne dass sie die inneren Beweggründe ebenso deutlich übersehen konnten, welche uns,209 berechtigten und nöthigten, zu handeln, wie wir es gethan haben? – Willst Du vielleicht warten, bis zu läppische Hände uns einmal verunglimpfen, u uns als einen fertig gefundenen Romanstof, mit Eingriff in des Menschen Eigenstes,210 in sein persönliches Sein, zu verarbeiten sich gemüssigt finden? Mich dünkt es unserer ganzen Vergangenheit u unserer Lebensführung angemessener, den Menschen, denen wir Etwas geworden sind, freimüthig darzubieten, was wir von uns wissen, u was schwer genug von uns durchlebt ward. Grade die Veröffentlichung dieses Theiles deiner Lebensgeschichte, bist Du mir nicht weniger schuldig als Dir selbst. Und noch wenige Tage vor seinem Tode, als sein nur zu flüchtiges Wohlbefinden in Wiesbaden den theuren Mann u mich zu neuem Hoffen froh ermuthigte, kam er wieder auf die Herausgabe dieses siebenten Bandes meiner Lebensgeschichte zurück. [›]Das Erste was geschehen muß, sobald wir wieder in Berlin u in Ruhe sein werden, sagte er, ist der Druck des siebenten Bandes der Memoiren. Ich will auch von Dir beschrieben sein! Setzte er scherzend hinzu, will es gedruckt lesen, wie ich gewesen bin; u Du sollst nicht noch zehn Jahre thöricht damit zögern! Ich werde darauf halten, wenn wir xxxx nach Hause kommen!«
208 Schnitzler besitzt demgegenüber geradezu ein gesteigertes oder auch professionalisiertes, nachlassorientiertes Sicherungsbedürfnis. 209 Hier steht eine Marginalie, die dort eingefügt werden sollte, eigenhändig von Lewald-Stahr nachgetragen: »nach unseren Empfinden und Gewissens«. 210 Nachträgliche Einfügung am Rand, zweimal durchgestrichen. Das Durchgestrichene ist nicht lesbar. Am Rand steht: ›rauhem‹.
238
Abb. 4: Fanny Lewald-Stahr, Einleitung, GSA, Fanny Lewald-Stahr, 96.1816, Bl. 13800.
239
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Er ist nicht mit mir zurückgekehrt! – Wenige Tage nach jener guten, heitren Stunde haben wir ihn, fern von der Heimath zu seiner Ruhe bestattet. Ein u dreissig Jahre einer Zusammengehörigkeit ohne Wanken, in Leiden u in Freuden, in Sorgen u dann in friedensvollem, sorgenfreiem Glück, sind uns geworden. – Wir haben unser reiches Theil gehabt. Jetzt bin ich allein! Dem theuren Entschlafenen seinen Willen zu thun, nehme ich nach langen Jahren, heute, an seinem Geburtstage, diese Blätter einmal wieder in die Hand, xxx um sie auf sein Grab zu legen, gleich den Kränzen, mit denen Liebe, Freundschaft u Verehrung die geweihte Stätte auf dem schönen Friedhof von Wiesbaden schmückten. Und ich füge diesem Liebeszeichen noch die Worte Goethes hinzu, die Stahr zu wiederholen liebte, so oft er unseres gemeinsamen Lebenswegs gedachte: Alles geben die Götter ihren Lieblingen ganz! All die unendlichen xxx Freuden All die unendlichen Leiden, Alles geben die Götter ihren Lieblingen ganz! Berlin an Adolf Stahr’s Geburtstag d. 22t Oktober 1876
Fanny LewaldStahr.211
211 Die Varianten zu Schneiders Transkription wurden nicht vermerkt, sofern sie nicht sinnverändernd sind. Späte Lesespuren und Durchstreichungen werden auch nur dann kommentiert, wenn sie eine sinnverändernde Bedeutung haben. Nachträg liche Ergänzungen im Fließtext werden hochgestellt und durchgestrichene, unleserliche Worte werden mit xxx wiedergegeben. Insgesamt dokumentieren die Durchstreichungen, Marginalien und Ergänzungen im Fließtext, dass die Einleitung nochmals für das Imprimatur detailliert durchgesehen wurde. In ihrem Tagebuch vermerkt sie den dazugehörigen Schreibprozess und ebendiese Notizen verdeutlichen, dass die Einleitung nicht an einem Tag, nicht endgültig am 22. Oktober 1876, mit einem Wurf zu Papier kam: »Oktober 18 […] 1876 […] Nachmittag ›Das Buch Adolf‹ vorgenommen«, »Oktober 29 […] 1876 […] schreibe die Einleitung zum 7t Bande der Lebensgeschichte«, »Oktober 29 […] 1876 […] arbeite an der Lebensgeschichte. – Aber für wen schreibe ich das? Ach! Wenn Du! Jetzt von mir wüßtest! Du!«, »November 20 […] 1876 […] Ich lese Goethe u fasse es nicht, daß Adolf es nicht mit mir liest. Ich fasse es überhaupt nicht!«, »Dezember 26 […] 1876 […] ich noch immer zu hause mit der Lebensgeschichte beschäftigt, Geimma’s Goethe« (Lewald-Stahr, Privatjournal und Tagebuch, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 8, Nr. 126: Privatjournal, 1873 bis 1877, Nr. 127: Tagebuch, 1. August 1884 bis Silvester 1888, Nr. 128, Tagebuch 1. Januar 1889 bis ??? Nr. 129, Exzerptenbuch von Fanny Lewald). Es finden sich in ihrem Tagebuch in diesem Zeitraum jedoch keine – wie später bei Schnitzler – expliziten
240
Abb. 5: Fanny Lewald-Stahr, Einleitung, GSA, Fanny Lewald-Stahr, 96.1816, Bl. 13801.
241
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Dieses Vorwort findet sich vollständig in Gabriele Schneiders Aufsatz Unziemliche Verhältnisse und ebendort vermerkt sie, dass Lewald-Stahr sich intensiv mit Stahrs Nachlass beschäftigt habe und »[d]ie von ihr verfaßte handschriftliche Vorrede […] rückblickend die Beziehung zu ihrem Mann verklärt«.212 Außer Acht lässt Schneider die nachlassstrategische und werkkonstitutive Funktion dieser Vorrede und so teilt dieser Paratext das gleiche Schicksal wie das Vorwort mitsamt Widmung zur zweiten Auflage der Lebensgeschichte. Die gemeinsame Liebesgeschichte als weihnachtliche Liebesgabe wird zu einem exklusiven, »heimlich[en]« und ›reizvollen‹ Buchprojekt, da Lewald-Stahr ihrem Ehemann dieses lebensnahe Manuskript zunächst als »Heft« vorlegt. Das autobiografische Projekt ist vorerst eine private pièce de collection. Die Editionsentscheidung externalisiert Lewald-Stahr ausdrücklich an Stahr, der wiederholt – geradezu fürsorgepflichtig gegenüber der Öffentlichkeit – die »Veröffentlichung dieser Blätter gewünscht« und geflissentlich betont habe, dass Lewald-Stahr ihm und »nicht weniger als« sich selbst eine zügige, zeitnahe Veröffentlichung »schuldig« sei.213 Das Editionsprojekt erlangt oberste Priorität für Stahr, besonders in seinen letzten Lebenstagen, sodass die Autobiografin niederlegt, Stahr sei »noch wenige Tage vor seinem Tode […] wieder auf die Herausgabe dieses siebenten Bandes meiner Lebensgeschichte zurück[gekommen]«. Anschließend habe Stahr unumwunden entschieden, dass »[d]as Erste was geschehen muß, sobald« sie »wieder in Berlin u in Ruhe sein werden […,] der Druck des siebenten Bandes der Memoiren [ist]«. Drei Argumente sind ausschlag gebend für Stahrs Entscheidung: (1) Auch er wolle von Lewald-Stahr »beschrieben sein«, (2) diese Autobiografie möchte er baldigst »gedruckt lesen« und (3) schließlich möge diese Entscheidung das »thöricht[e] […] [Z]ögern« beenden, das wiederum das Übel einer stetig verschleppten Veröffent lichung verursacht habe.214
Lesespuren, die eine Relektüre dokumentieren können. Lewald-Stahr ermöglicht Stahr mit diesem Buchprojekt ein mögliches Nachleben, das Geiger für Stahr ohnehin veranschlagt: »Aber auch Adolf Stahr darf nicht zu den Toten gerechnet werden. Wer in unserer schnellebenden Zeit 27 Jahre nach seinem Tode noch nicht in die Rumpelkammer geworfen ist, der darf den Anspruch erheben, als Lebender zu gelten« (Geiger, Einleitung [1903], S. 14). Die Unterschrift ist im Manuskript so gesetzt, dass die beiden Nachnamen ineinander übergehen, somit keine Trennung besteht. Mit der Unterschrift wird – pars pro toto – das sym biotische Autorenkollektiv ›LewaldStahr‹ visualisiert. 212 Schneider, Unziemliche Verhältnisse, S. 60 f. 213 Lewald-Stahr, Einleitung, GSA: Fanny Lewald-Stahr, 96.1816, Bl. 13799-13801. 214 Ebd.
242
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
Mit diesem editorialen Entscheidensprozess betont Lewald-Stahr in direkt die Wertigkeit des autobiografischen Projekts, die diesem ohne Zweifel zugesprochen wird. Eine zentrale Schlüsselposition wird dabei autobiografischen Archivierungspraktiken eingeräumt. So legt Lewald-Stahr dar, dass Stahr ihr die folgende – für sie bislang ungewohnte – obligatorische selbstarchivarische Praxis für das noch ungedruckte Manuskript angeraten habe, der zufolge sie »aus Vorsicht eine Abschrift davon machen« und »diese an drittem Orte sicher nieder[ ]legen [lassen]« solle.215 Mit dem aufgesetzten Gedicht wird zudem eine intertextuelle Werkverknüpfung geschaffen, die womöglich vorbereitet, dass zukünftig beide Schriften, gar beide Nachlässe untersucht werden. Lewald-Stahr schreibt mit Stahrs zitierter Figurenrede ihrem autobiografischen Projekt geschickt ›Wahrheitstreue‹ zu, mit dem die symbiotische Liebes- und Arbeitsbeziehung erstmalig »völlig verständlich u klar«, gleich einer »Rechenschaft«, »unverhüllt u unverholen« und »freimüthig«, zukünftig und vor allem dauerhaft rezipiert werden könne.216 Zudem betont sie, dass Stahrs Editions vorhaben zugleich einem nachlassorientierten Anliegen entsprungen sei, nämlich ein autorisiertes Autorbild zu verbreiten. Allein hierfür habe er »das Manuskript […] noch eigens durchgesehen« und so schließt Stahrs Figurenrede mit dem imaginierten Schreckensszenario, als albernes Figurenpaar eines wenig glorreichen, fiktionalen und dennoch skandalösen Schlüsselromans in die Literaturgeschichte einzugehen. Dieses als rhetorische Frage vorgestellte Schreckensszenario stellt zuletzt die angetragene Editionsentscheidung als alternativlos sowie dringend dar, denn erst mit diesem wird die verfügbare Entscheidenszeit rhetorisch verknappt: »Willst Du vielleicht warten, bis zu läppische Hände uns einmal verunglimpfen, u uns als einen fertig gefundenen Romanstof, mit Eingriff in des Menschen Eigenstes, in sein persönliches Sein, zu verarbeiten sich gemüssigt finden?«.217 Lewald-Stahr belegt mit ihrem Vorwort, dass sie die editorische Verantwortung auf sich nimmt, die Nachlasssorge reguliert und zumindest für eine autorisierte, ›korrektive‹ Darstellung, einen »vollen Blick« sowie einen »klare[n] Einblick« sorgt,218 falls doch ›läppische Hände‹ den gemeinsamen Nachlass zu einem skandalträchtigen Roman vermengen mögen. Die Ent215 Ebd. Eine solche Mehrfachsicherung professionalisierte Schnitzler für seine Schriften und besonders auch für seine Autobiografie. 216 Ebd. 217 Ebd. 218 Glaser wünschte sich in seinem Nekrolog zu Stahr einen »klare[n] Einblick« auf das gemeinsame Leben und Spiero lobt den »vollen Blick«, den das siebte
243
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
scheidungslast hierfür wird meisterhaft externalisiert, wenn sie – einer captatio benevolentiae gleich – mit der positiven Editionsentscheidung den letzten »Willen« ihres Kompagnons und Ehemanns erfüllt und ihr Manuskript als intimes Epitaph inszeniert,219 das fortan in Buchform rezipierbar ist. Diesem Buchprojekt wird mit Goethes Alles geben die Götter das letzte, verheißunsvolle Geleit eines kanonerprobten Schutzpatrons beigegeben, sodass schließlich die individuellen Lebensgeschichten in eine gemeinsame Lebensgeschichte und darüber hinaus in den angestrebten Kanon münden (vgl. »unserer Lebensgeschichte«).220 Vielverheißend erscheint zudem, dass das prospektive Lesepublikum als intimer Rezipientenkreis stilisiert und die Autobiografie zum Medium der Nachlassordnung und -verfügung wird. Der vormals »heimlich[e]« und nunmehr öffentliche Schlüsseltext gilt zudem als Erfolg versprechend,221 denn gemäß Franzen »[existiert] ein grundsätzliches Interesse an geheimen Informationen jeder Art« und dieses bedinge mitunter den Reiz einer entschlüsselnden Lektüre.222 Stahrs Figurenrede greift nahezu die Schlüsselfunktion auf, die Goethe 1808, in zwei Briefen an Eichstädt und Zelter, seiner bei Cotta heraus gegebenen Gesamtausgabe zuschreibt und die Müller erläutert: »Das Leben des Autors wird […] als der Schlüssel zum Gesamtwerk verstanden, es schließt die literarisch vermittelten ›Bruchstücke‹ zu einem Ganzen zusammen, setzt aber den freundlichen, im Idealfall sogar ›freundschaftlichen‹ Leser als hermeneutische Prämisse voraus«, äquivalent hierzu sei das Vorwort für seine Autobiografie ausgerichtet.223 Beachtenswert ist zugleich, dass Lewald-Stahr wiedergibt, wie Stahr sie aufgefordert habe, nicht länger »thöricht« mit einer positiven Editionsentscheidung zu »zögern« und Goethe nach der »Plünderung und Brandschatzung Weimars im Oktober 1806« Cotta entschieden mitteilt: »›Die Tage des Zauderns sind vorbei‹«.224 biografische Projekt dem Lesepublikum biete (Glaser, Adolf Stahr, S. 804-806; vgl. RT, 1 f.). 219 Besonders nachdem sie ihr autobiografisches Projekt selbst als »gelungen« bezeichnet und Stahrs Zuspruch diesen Eindruck bestätigt. 220 Lewald-Stahr, Einleitung. Vorgelegt wird somit die gemeinsam geglückte Ankunft in einer sozial anerkannten Stellung (vgl. zu diesem autobiografischen Topos: Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 32). 221 Spiero, Einleitung, S. 1. 222 Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 183. 223 Müller, Goethes Weg zur Autobiographie, S. 996 f. 224 Ebd., S. 995. Johann Wolfgang von Goethe an Johann Friedrich Cotta, 24.10.1806 zit. n.: ebd. Schneider publiziert Briefe von Lewald-Stahr an ihren Neffen Memmo Gurlitt, in denen sie als Entscheidungsberaterin zur baldigen Publikation rät. Dabei betont L ewald-Stahr, dass unentschiedenes Zaudern zu einer Krankheit führen könne; Entscheiden und Krise kommen auf diese Weise wieder zueinander (vgl.
244
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
Bei Goethe wie später auch bei Lewald-Stahr ist ein krisenhaftes Ereignis ausschlaggebend für die letztgültige Entscheidung, die verfügbaren Manuskripte zu veröffentlichen. Die kurzweilige Krisenerzählung bietet einen unterhaltsamen Einschub vor der vergleichsweise langatmigen Autodiegese, parallel wird diese als nicht selbstverständliche, aber schätzenswerte Überlieferung inszeniert. Die mit der eigenhändigen Unterschrift autorisierte letztgültige Fassung dokumentiert erklärtermaßen ein nachlass- und auch buchmarktbewusstes Autorinnenverständnis sowie umfassende, urheberrechtliche Kenntnisse, die – besonders angesichts der zu Beginn anonym und auch unter Pseudonym veröffentlichten Schriften – bezeichnend sind.225 Bemerkenswert ist, dass Lewald-Stahr dem großherzoglichen Schirmherren des Goethe- und Schiller-Archivs bereits die erste Auflage ihrer Autobiografie als wahrhaftiges Lebenszeugnis, Empfehlungsschreiben und Kassenmagnet anpreist und ihre Manuskripte als archivwürdiges226 Kulturgut manifestiert: Ich weiß nicht, ob man Ihnen gesagt hat, daß ich im Laufe der letzten Jahre einen Theil meiner Lebensgeschichte*) [*) 1861/1862 bei Otto auch: MLGIII, 234): »›Du mußt durchaus zusehen, daß endlich eine Arbeit von Dir in die Oeffentlichkeit kommt, weil – das bedenkende Zaudern zu einer Art von Krankheit in dem Menschen wird, die ihn u seine Thätigkeit lähmt‹« (Lewald Stahr an Memmo Gurlitt, 23. Juni 1879 zit. n.: Schneider, »Meine Mutter paßt auf, daß mir Keiner was thut!«, S. 267 f.). 225 Sternagel führt Zitate an, die belegen, dass Stahr und ihr Bruder sie explizit darauf hinweisen, endlich unter ihrem Namen zu publizieren. Ihre Schwestern bitten sie demgegenüber dies nicht zu tun, da sie sonst niemand mehr heiraten wolle (vgl. Sternagel, Fanny Lewald und ihre jungen Männer, S. 75). In ihrer Autobiografie betont Lewald-Stahr, dass ihr Pseudonym ohnehin so gut wie nutzlos gewesen sei, da mit ihrem literarischen Erfolg auch ihr Pseudonym entschlüsselt worden sei (vgl. MLGII, 14, 23, 24 f., 27, 85, 156, 158, 241; MLGIII, 56, 65, 77-79, 82, 86, 90, 92, 97, 102, 166 f., 187, 197, 198, 200, 205, 212, 216, 221, 227, 237, 241, 246, 248, 250, 260, 265, 270, 280-282, 286; RT, 17-91, 187, 210, 213, 250, 264, 287 f.). Dies passt zu Rolf Parrs Beobachtung, dass »[a]b ca. 1885« verstärkt zu Schriftstellerinnen geforscht und die Pseudonyme entziffert worden seien (Parr, Autorschaft, S. 78). Göhler stellt in seiner Einleitung die Ehe- und Berufsentscheidung als zusammenhängendes Ereignis dar und erläutert, dass der sich rasch einstellende Erfolg, der Lewald-Stahrs Schriften zugekommen sei, es unmöglich gemacht habe, dauerhaft die Anonymität zu wahren (vgl. Göhler, Einleitung, S. 15). 226 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass ihr Archivierungsmöglichkeiten und -politik über ein Stellenangebot bekannt sein mussten: »Sie wünschte aber auch nicht, daß Stahr seine persönliche Freiheit dem Weimarschen Hofe gegenüber aufgebe. Als das Projekt, diesen zum Sekretär der geplanten Goethestiftung zu machen, in immer größere Nähe rückte […]. Und sie war froh, als wegen Mangels an Mitteln die gefaßten Pläne aufgegeben wurden« (ebd., S. 24).
245
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
Janke in Berlin erschienen] veröffentlicht habe. Ich hatte dabei den bestimmten Zweck an meinem eigenen Erleben und an meinen Erfahrungen ein Bild von der Stellung zu geben, welche die Frauen oder eigentlich das Mädchen in unserer Staatsgesellschaft und in der sogenannten ›Gesellschaft‹ einnehmen, und nebenher lag mir daran eine Erinnerung an Zeiten und Menschen festzuhalten, die nicht mehr sind oder doch zum Theil nicht mehr sind, und zum andern Theile mannichfache Wandlungen erlitten haben. Die Arbeit hat in Deutschland zu meiner großen Freude, eine ungewöhnliche Teilnahme erregt und mir in Nähe und Ferne manches Herz gewonnen. Da regte sich oft der Gedanke in mir, Ihnen, der Sie mir immer so viel Antheil bewiesen, diese sechs Bändchen zu schicken – aber ich dachte, Sie hätten vielleicht nicht Muße die Arbeit gründlich zu lesen, und flüchtig angeblickt wollte ich sie nicht von Ihnen denken – denn es liegt so sehr mein ganzes Jugendleben darin, so viel von mir selbst. Die Zustände, die Familienverhältnisse, die ich schildere, sind Ihnen nothwendig fremd – vielleicht erhöht das den Reiz, den das Lesen des Buches für Sie haben kann, wenn ich Ihnen noch im Besonderen die Versicherung gebe, daß diese Bände die entschiedene, reinste, vollkommenste Wahrheit enthalten, und daß sie Ihnen also einen ganz genauen Blick in das Leben bürgerlicher gebildeter Frauen geben.227 227 Fanny Lewald an Carl Alexander, 20. Oktober 1863, Bd. 1, S. 162 f. Klug kalkulierend nutzt sie ein stabiles Netzwerk für ihre Nachlassvorsorge, besonders nachdem sie zuvor vorträgt, dass Schriftstellerinnen unrechtmäßig, ungleich honoriert würden: »Dabei fällt mir meine alte Klage ein, wie wir Frauen, in Kunst und Litteratur doch so ganz und gar in Deutschland vernachlässigt werden, und wie es mit der Verehrung, welche die Deutschen den Frauen zollen, gar nicht so weit her ist. Sie kennen mich genugsam, um zu wissen, wie sehr fern mir die sogenannten Emancipationsgedanken, durch kurzgeschorenes Haar und Cigarrenrauchen, liegen, und wissen es, daß ich in der Unterordnung unter einen verehrten Mann und in meinem häuslichen und mütterlichen Beruf mein größtes Glück finde. Das aber hält mich gar nicht ab, dagegen zu protestiren, daß man den Frauen, die sich auszeichnen, nicht ganz dasselbe angedeihen läßt, wie den Männern. Emil Devrient ist mit Orden belohnt, die Schröder Devrient, die nun hingegangen ist, und so unendlich bedeutender war, als Emil, hätte das Gleiche und mehr verdient. Für die Männer giebt es Ehrenämter, Pensionen, Orden, Jahrgehalt, Aufmunterungen, Anerkennungen, Bevorzugungen aller Art, für uns giebt es nichts dergleichen; und so schlau weiß die Männerwelt es einzurichten, daß wir in gewissem Sinne immer erst die Erlaubniß dafür erbitten, ja um Entschuldigung dafür bitten müssen, wenn wir uns durch irgend welche Bedeutung über und aus der Masse der gewöhnlichen Frauen erheben. Seit meiner Kindheit habe ich dies als eine Un gerechtigkeit erkannt, und so lange ich lebe, werde ich nicht aufhören, dagegen zu protestiren. Es giebt eine Gleichberechtigung mit den Männern, welche die Nachwelt den Frauen einst gewiß als selbstverständlich zugestehen wird, wenn
246
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
Die zitierte Passage zeigt Lewald-Stahr als versierte Netzwerkerin, die unverhohlen ihre Lektüreerwartungen vorträgt und dem Großherzog unumwunden abverlangt, ihre bis dahin sechsbändige Autobiografie »gründlich zu lesen«. Wie auch in ihren Vorworten betont Lewald-Stahr den faktualen Gehalt ihrer Autobiografie, die gerade durch diesen als lehrreiches Erkenntnismaterial dienen könne und mit der sie nicht nur als »gebildete[ ] Frau«, sondern als gleichberechtigte Entscheiderin auftritt, deren prospektiver Nachlass indirekt als archivwürdiges Sammlungsobjekt vorgestellt wird.228 Dennoch liegen Lewald-Stahrs Manuskripte nicht in Gänze gesammelt in einem, sondern weitgehend verstreut in mehreren Archiven. Naturgemäß kann selbst eine gezielt und strukturiert vorbereitete archivalische Sammlung, wie etwa im Fall Heyses, nicht vor einer spärlichen Rezeption schützen. Brinker-Gabler weist 1980 in ihrer Neuauflage zu Lewald-Stahrs Lebensgeschichte folgerichtig auf die Diskrepanz hin, dass eine »der geachtetsten und erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen […] in Vergessenheit [geriet]« und nur achtzehn Jahre später erläutert Ulrike Helmer:229 Fanny Lewalds eigenes literarisches Schicksal belegt, daß ihr bescheidener demokratischer Traum von der Gleichberechtigung der Schriftstellerinnen nicht Wirklichkeit geworden ist. Bis heute haben Werke von Autorinnen schlechtere Aussichten auf einen Platz in der Literatur geschichte oder gar in der ruhmreichen Ahnengalerie der ›Klassiker‹, denen Neuauflage um Neuauflage wenn schon nicht lebahfte Rezeption, so doch ehrwürdiges Gedenken sichert.230 Brinker-Gablers sowie Helmers Neuauflagen leisten einen zentralen Beitrag dazu, Lewald-Stahrs Lebensgeschichte als kanonfähige Autobiografie vorzustellen und eine »lebhafte Rezeption« zu initiieren. Dennoch zeigt sich, dass mit den Neuauflagen seit 1871 die erzähllogisch ausgerichteten Vorworte und Widmungen nicht nur marginalisiert, sondern nahezu vergessen sind, indem sie als patriarchale Befangenheitsreste diskreditiert respektive als überflüssiger Ballast abgeworfen werden. Infolgedessen wird Lewald-Stahrs Netzwerkkompetenz und Marktstrategie unsichtbar.231 In auch wir, die wir jetzt leben, noch davon ausgeschlossen werden« (Fanny Lewald an Carl Alexander, 4. Februar 1860, Bd. 1, S. 153). 228 Fanny Lewald an Carl Alexander, 20. Oktober 1863, Bd. 1, S. 162 f. 229 Brinker-Gabler, Einleitung, S. 9. 230 Helmer, Nachwort, S. 271. 231 Während die zahlreichen Goethereferenzen bei Lewald-Stahr dazu dienen, die Autorin als »große Goetheverehrerin« zu stilisieren, wird es später bei Heyse vornehmlich und wesentlich anerkennender heißen: »Und tatsächlich hat Heyse sich auch selbst in die Nachfolge des großen Weimarer Klassikers gesellt und eine
247
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
ihrem Nachwort zum ersten Band der Lebensgeschichte legt Helmer noch dar, dass Brinker-Gablers Kürzungen einem idealistischen Erinnerungskonzept entsprechen sollten: 1980 erschien mit Blick auf die neue Frauenbewegung eine Neuauflage der »Lebensgeschichte«, deren Herausgeberin Gisela Brinker-Gabler in Fanny Lewald eine »konsequente Vorkämpferin der Frauenemanzipation« sah. Die »Lebensgeschichte« wurde nun – wenn auch unter Erwähnung von Zerrissenheit – zum »beispielhafte(n) Weg einer bürgerlichen Frau aus Unterdrückung und Unselbständigkeit ins Freie«. »Mit Rücksicht auf ihre hier betonte Bedeutung« wurden zumal jene Passagen gekürzt, die entschieden quer zur gewählten Interpretationsweise stehen. So kam auch Fanny Lewalds dramatisch-traumatische Liebesgeschichte mit dem Theologiestudenten Leopold Bock nur noch in einer kurzen Zusammenfassung der Herausgeberin vor. […] Fanny Lewalds Leben und Werk ist zu brüchig, um sich tatsächlich als historisches Vorbild gelungener Selbstbefreiung zu eignen, ihr Denken und Handeln liefern nicht das schattenlose Portrait einer der Frauenbewegung in Wort und Tat voranpreschenden Ahnin. Fanny Lewald war eine engagierte Liberale und eine Verfechterin bürgerlicher Frauen-Emanzipation – sie war aber auch die ewige Tochter, die dem Vater lebenslänglich bis hin zur Selbstverleugnung ergeben blieb, sie war die »Große Liebende«, die sich dem Verlobten Leopold und später dem Ehemann Adolf Stahr als VaterNachfolgern unterordnete. Die öffentliche Frauenrechtlerin Lewald beugte sich persönlich der Herrschaft der Patriarchen […]. – Selbst für ihre schriftstellerische Tätigkeit wird sie sich, wie der zweite Band der »Lebensgeschichte« zeigt, die väterliche Absegnung holen. Ihre Autobiographie hat sie »dem Andenken meines Vaters David Markus Lewald in dankbarer Liebe gewidmet«.232 vergleichbare Repräsentativität beansprucht« (ebd.; Bertazzoli, Grube und Och, Vorwort, S. 7). Gleiches gilt auch für Lewald-Stahrs Lebensgeschichte. 232 Helmer, Nachwort, S. 272-274. Ergänzt werden muss an dieser Stelle, dass dies nicht primär und ausschließlich Ausdruck einer patriarchalen Unterordnung darstellt, sondern ein Topos war. Auch Adolf Stahr widmet seinen ersten autobiografischen Band seinem Vater: »Dem Andenken meines Vaters Johann Adam Stahr (geb. 1768, gest. 1839) und meines Bruders Karl Ludwig Stahr (geb. 1812, gest. 1863) gewidmet« (vgl. Stahr, Lebenserinnerungen). Sofern er als Index des Patriarchats gesehen wird, wirkt er sich nicht allein auf Schriftstellerinnen aus. Sonkwé Tayim sieht in den zahlreichen Goethereferenzen ebenfalls keine patriarchale Befangenheit, vielmehr profiliere sich die Autobiografin »durch den Anschluss an Goethe und an die moderne Tradition der Autobiographie […] als Schriftstellerin und Intellektuelle« (Sonkwé Tayim, Narrative der Emanzipation,
248
i v.3 en tsch ei den de ergä n z u ng
Trotz dieser impliziten Kritik entscheidet sich Helmer aus ähnlichen Gründen wie zuvor Brinker-Gabler dazu, das Vorwort und die Widmung der ersten Auflage nicht mitherauszugeben. Es entsteht der Eindruck, dass eine Klassikerin keinen Vergleich mit dem wohlbekannten Klassiker Goethe benötigt, sich stattdessen ausschließlich auf die eigenen Kompetenzen berufen sollte. Steht die Suche nach genderspezifischen Unterschieden zwischen den hier vorgestellten Autobiografien im Fokus, ist die größte Differenz deutlich in der literaturwissenschaftlichen Rezeption zu finden.233 Heyse widmet seine Autobiografie explizit seinem »teuren alten« ›Gönner‹ Emanuel Geibel (vgl. JBV, Vorwort) und bindet seine Berufsentscheidung eindeutig an seinen Vater. Dies brachte ihm allenfalls den Ruf eines begünstigten Zöglings ein, in keinem Fall jedoch wurde ihm seine Netzwerkstrategie, wie im Falle Lewald-Stahrs, als patriarchale Hörigkeit ausgelegt. Überdies folgte ihm nicht der Ruf, ›der ewige Sohn‹ zu sein, und er wurde nicht wie Lewald-Stahrs Nachlass unter den eklatant verkürzenden Ausdrücken »Gender, Literatir [sic], Emanzipation« verschlagwortet.234 Erstaunlich ist dies, weil Lewald-Stahrs autobiografische Berufs- und Eheentscheidung wesentlich riskanter,235 auch selbstbestimmter verlaufen, zumal sie darlegt, S. 108). Lewald-Stahr stellt ihre Figur wie auch ihre Kollegen als netzwerkerprobt dar und präsentiert somit ihr autobiografisches Projekt als eine ›relationale Autobiografie‹. Anne Rüggemeier prägte diese Wendung und das dahinterstehende Konzept maßgebend und erläutert hierzu: »Relationale Autobiographien sind auf der einen Seite Produkte der kulturellen Kontexte, in denen sie entstanden sind. Andererseits werden sie aber auch zu aktiven Mitgestaltern gesellschaftlicher Zusammenhänge, da sie gerade in Bezug auf Identitätsmodelle alternative Wahrnehmungen und Denkweisen hervorbringen können« (Rüggemeier, Die relationale Autobiographie, S. 7). 233 Hier sei auf eine naturgemäß unvollständige Auswahl hilfreicher Studien zu Autobiografinnen verwiesen: Heidegger, Kogler, Schmitt, Schneider und Steinsiek, sichtbar unsichtbar; Hoffmann, Das Mädchen mit dem Jungenkopf, S. 30-35; Frickel, Adele Gerhard (1868-1956), S. 1-18; Wagner-Egelhaaf, Autobiografie und Geschlecht; Marszałek, »Das Leben und das Papier«, S. 30 f.; Wedel, Lehren zwischen Arbeit und Beruf; Gnüg und Möhrmann, Frauen Literatur Geschichte; Heuser, Autobiographien von Frauen; Holdenried, Geschriebenes Leben; Leigh, From Autobiographics; Goodman, Die große Kunst, nach innen zu weinen. 234 Vgl. hierzu: Online-Ansicht des Findbuchs. Nachlass Fanny Lewald-Stahr. Staatsbibliothek Berlin, http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/findingaid?fa. id=DE-611-BF-1586&fa.enum=12&lastparam=true’12 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Vgl. demgegenüber zur Vielfalt des literarischen Werks: Schneider, »Es ist mir eine Arbeit, nach London zu gehen«; Ujma, Life as a Journey, S. 144; Jacob und Jacob, Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830-1880, S. 272-283. 235 Albrecht legt dar, dass »trotz des rechtlich geschützten Handlungsraums […] alleinstehende Frauen im Allgemeinen ein großes ökonomisches und soziales
249
i v. fa n n y lewa ld - sta h r
dass ein emanzipatorisches Leben nicht zu einem Familienbruch führen muss, wie die Widmung ihrer Autobiografie zeigt. Weiterführend erscheint es, Lewald-Stahrs gesamtes autobiografisches Projekt mitsamt den netzwerk generierenden Paratexten und den archivarischen Praktiken in den Blick zu nehmen: Lewald-Stahr ist weder als idealisierte Ikone noch als patriarchatsgläubige Kindfrau darzustellen. Regula Venske warnt ausdrücklich davor, Lewald-Stahr zu idealisieren, gar zu heroisieren, wie Brinker-Gabler dies mit ihrer gekürzten Fassung der Lebensgeschichte getan habe, somit jegliche »Widersprüche« unkenntlich mache. Wenn Venske die Widersprüche sowie die patriarchale Befangenheit respektive die »Orientierung am väterlichen Prinzip« betont,236 dabei nicht zwischen abstrakter und konkreter Autorin unterscheidet, entsteht ebenfalls ein verzerrtes Bild. Deshalb wurden hier zuvörderst die Funktionen der Paratexte und die jeweiligen Äußerungskontexte fokussiert. Diese zeigen deutlich, dass die Männerfiguren dazu dienen, die abstrakte Autorin Lewald-Stahr als berufene Entscheiderin und Netzwerkerin zu profilieren.
isiko [trugen]« (Albrecht, »Ehe und Nicht-Ehe ist eine individuelle Sache«, R S. 289). 236 Venske, »Ich hätte ein Mann sein müssen oder eines großen Mannes Weib!«, S. 372, 389; Venske, Discipline and Daydreaming in the Works of a NineteenthCentury Woman Author, S. 190. Ähnliches beobachtet Ujma und hält fest: »Ihr Engagement für die fortschrittliche Sache ließ mit den Jahren nach, weist diverse Widersprüche auf und ist gelegentlich auch eher halbherzig. Andererseits war sie vor allen Dingen Schriftstellerin, die Rücksicht auf ihr Publikum zu nehmen hatte. Das hat ihr gerade in der neueren Forschung gelegentlich den Vorwurf der Laxheit und Halbherzigkeit eingebracht, was einerseits zutrifft und andererseits auch wieder nicht. […] Lewald zeigte schließlich mehr Engagement als so mancher männlichen [sic] Kollege, der ursprünglich aus liberalem Milieu kam, also z. B. Freytag, Raabe oder Fontane« (Ujma, 200 Jahre Fanny Lewald, S. 32).
250
V. Paul Heyses
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse V. Paul Heyse
V.1 Entschieden unentschieden Wirk- und werkmächtige Krisen Indem Heyse seine Familiengeschichte konsequent mit der populären Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts verstrickt, präpariert er kontinuierlich seine schriftstellerische Berufung, um diese später mit einer bewussten Entscheidung als Peripetie zu komplettieren.1 Der autodiegetische Erzähler schildert mit zahlreichen Prolepsen zunächst seinen erfolgreichen, stringenten beruflichen Werdegang, der – anders als etwa bei Lewald-Stahr – frei von Krisen oder einer dezisionalen Emanzipation aus einem paternalistischen oder anderweitig repressiven Beziehungs- und Sozialgefüge ist. Heyse stellt in seiner Autobiografie für seinen beruflichen Werdegang ein nahezu genealogisches Erklärungsmodell vor (vgl. JBV, 201 f.), das er in unterschiedliche Gattungen kleidet. Auf diese Weise erprobt und verhandelt er Formaspekte,2 die faktuales und fiktionales Erzäh1 Für die Analysen wurde vergleichend mit allen fünf Auflagen gearbeitet, da Paul Heyse Dokumente wie den zitierten Brief von Carl Heyse erst in der fünften Auflage hinzufügte. Wenn in der vorliegenden Studie Schriftsteller namentlich genannt werden, sind damit in keinem Fall die konkreten gemeint. Vielmehr wird auf die abstrakte Autorinstanz verwiesen, die gemäß Schmidt mit allen fassbaren, auktorialen Spuren im jeweiligen literarischen Text entsteht und das »Korrelat[ ] aller auf den Autor verweisenden indizialen Zeichen des Textes« ist (Schmid, Elemente der Narratologie, S. 59). 2 Heyse präsentiert auf diese Weise seinen versierten Umgang mit literarischen Formen, der ihm auch von seinem eigens autorisierten Interpreten Petzet attestiert wird (vgl. Petzet, Vorwort, S. 3). Die Bedeutung literarischer Formen für Heyse als Autobiografen zeigt sich auch in seiner ideologisch ablehnenden Haltung gegenüber dem ›Naturalismus‹: »Aber die absolute Formlosigkeit, die einige Jahrzehnte später der Naturalismus predigte, der schrankenlose Individualismus, der in der Poesie wie in den Sitten der Gesellschaft einzureißen anfing, erschien uns nur als ein Krankheitssymptom, das schon zu anderen Zeiten aufgetaucht und von der unverwüstlichen Regenerationskraft unseres Volkes überwunden worden war« (JBV, 232). Der autobiografische Erzähler betont zudem, wie er unterschiedliche literarische Formen beherrsche und wie erst eine formale Kunstfertigkeit eine erfolgreiche Schriftstellerkarriere ermögliche (JBV, 254, 65 f.). Indem auf diese Weise die Lehr- und Lernbarkeit sowie die Beherrschung von Stil- und Literaturgattungen antizipiert werden,
251
v. pau l h eyse
len bedingen. Der autobiografische Text hat die Gestalt einer wissenschaftlichen Studie, die Heyse um notizhafte Tagebuchpassagen, wissenschaftliche Abhandlungen, Forschungsüberblicke sowie romaneske Erzählpassagen ergänzt.3 Der Autobiograf verweist sorgfältig, wie es sich für eine literaturwissenschaftliche Studie gehört, auf Kontexte, Intertexte, bibliografiert eigene und weiterführende literarische Texte und Studien und fügt seinen Ausführungen erläuternde Fußnoten bei (vgl. JBV, 1 f., 12, 70, 75, 201, 203205, 232, 234, 237 f., 286, 329).4 Doch wie kann eine nahezu alternativlose Berufsentscheidung werkstrategisch vorbereitet werden? Ausgangspunkt für eine solche autobiografische Konstruktionskunst ist bei Heyse ein biologisches sowie soziales, nämlich familiales Erklärungsmodell: Wiederholt vermerkt die autobiografische Figur, wie sie von verwandtschaftlicher und ›wahlverwandtschaftlicher‹ Seite stets diejenigen bindet Heyse den Schriftstellerberuf an explizite, universitäre Ausbildungsverfahren. Demnach ist ein Geniekonzept für Heyse nicht mehr ausreichend, um auf dem Buchmarkt bestehen zu können. 3 Eine ebensolche Mixtur ergibt laut Mark-Georg Dehrmann und Alexander Nebrig einen »spannungsvollen Dialog«, der das Autorschaftsmodell eines poeta philologus auszeichne (Dehrmann und Nebrig, Einleitung, S. 11). Einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt auch Fontanes autobiografischer Erzähler (vgl. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 39, 93 f., 105, 242 f., 319). 4 Mit Fußnoten werde der »zwitterhafte Status dieses Genres zwischen Belletristik und Sachliteratur« signifikant hervorgehoben. Zugleich wird mit Fußnoten »eine[ ] Tendenz zu einem profilierenden Metadiskurs« markiert, »der die Schwierigkeiten autobiografischer Darstellung thematisiert und die Ausbreitung biografischen Materials stets durch die Reflexion auf den Prozess des eigenen Schreibens und seiner Bedingungen und Voraussetzungen begleitet« (Strätling, Anmerkungen zur Autobiographie, S. 156, 172). Heyse legt einen solchen ›Metadiskurs‹ mit seiner Autobiografie vor (vgl. JBV, 1 f., 12, 21, 23 f., 43-46, 75, 85, 94, 106, 123, 144, 167, 197, 201, 203, 205, 217 f., 223-226, 232, 234, 238, 242-244, 267, 278, 289, 292 f., 296, 299, 315). Exemplarisch sei hier auch darauf verwiesen, dass Heyse bei der Charakte risierung seines Freundes Bernays eine wissenschaftliche Definition verwendet und diese kenntlich macht: »Jacob Bernays […], einen der schärfsten und tiefsten Denker, die jemals sich der Aufgabe der Philologie, Erkanntes zu erkennen (Böckhs Definition), unterzogen haben« (JBV, 113). Heyse zitiert eine prominente Sentenz des klassischen Philologen und philologischen ›Gründungsvaters‹ geschickt in einer Charakterisierung, die Heyse nutzen kann, um sein eigenes Netzwerk vorzustellen. Vgl. zu August Boeckhs Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften und der kulturhistorischen Bedeutung, die Boeckhs Studien zukommt, das historisch-kritische Editionsprojekt unter der Leitung von Markus Asper und Thomas Poiss: August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, https://www.antikezentrum.hu-berlin.de/de/abaz/ aktivitaeten/august-boeckh-editionsprojekt (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Heyse bezieht sich dabei wiederholt auf Wilhelm Jensens Heimat-Erinnerungen (vgl. Jensen, Heimat-Erinnerungen).
252
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Elemente mitbekam, die ein erfolgreiches Schriftstellerdasein begünstigen und einen alternativlosen Werdegang versprechen beziehungsweise dis ponieren. Demnach mag es kaum verwundern, wenn der Erzähler hervorhebt, dass seine Mutter »unter den vier Schwestern die begabteste« ge wesen sei. Die Mutter des autobiografischen Bildungsbürgers lese »ihrem innersten Bildungstriebe« folgend viel und pflege eine Liebe für das Theater und für Heyses Texte (JBV, 10, 50). Für sein humanistisches, exklusives, bildungselitäres Autorschaftskonzept maßgebend ist, dass die drei Schwestern »mit den Kreisen der Rahel und Henriette von Herz in Verkehr standen« und ihnen »die zeitgenössischen Literaturen […] ebensowenig fremd [blieben], wie die Werke unserer Klassiker, deren Zeitgenossinnen sie noch eine gute Weile waren« (JBV, 5).5 Zeitgenossen kanonisierter Klassiker, insbesondere von Goethe, werden in Heyses Autobiografie als Mitglieder eines exklusiven, epochenbewussten Bildungszirkels (»unserer Klassiker«) kurzerhand zu vitalen Reliquien stilisiert, die ihm erlauben, sich mit namhaften Klassikern in ein gleichwertiges Verhältnis zu setzen. Heyse spricht in seiner Kurzautobiografie Meine Erstlingswerke ebenfalls »von unsern Klassikern«, summiert darunter primär Johann Wolfgang von Goethe sowie Friedrich Schiller und gruppiert um diese herum: »Lessing, Herder, Wieland«, daran anschließend charakterisiert er Goethes Autobiografie als »Muster hoher Selbsterkenntnis« und relationiert seinen eigenen mit Goethes Werdegang. Die umgangssprachliche Elision bei »unsern« ist eine Geste der Vertrautheit, Heyse konturiert mit diesem Stilmittel erneut seinen exklusiven Bildungszirkel.6 Mithilfe eines Vergleichs profiliert Heyse das Talent seiner Mutter und entlässt seine 5 Ebendiese ruhmversprechende Konstellation wird durch Harry Maync rezensierend weitergeführt, um den jugendlichen Heyse zieht der Rezensent adaptiv einen Kreis, auf dessen Bahnen sich eine schriftstellerische Karriere – in hermeneutischen Zirkelschlüssen – erklären lässt: »Namentlich groß war auf ihn der Einfluß der geistig sehr regen und gebildeten Mutter, die, wie sie selbst in den Kreisen der Rahel und Henriette Herz aus- und eingegangen war, so auch dem Knaben reichen und wertvollen Umgang erschloß. Nicht nur, daß dieser in einer sehr weit verzweigten Verwandtschaft meist tüchtiger Menschen heimisch wurde, wo er auch eine ganze Anzahl wunderlicher Originale […] kennen lernte« (Maync, Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, S. 710). Der autobiografische Werdegang steht im Zeichen einer topischen Nachrationalisierung. ›Rahel‹ als literarische, kanonerprobte Referenz wird bereits hier erwähnt und nochmals in der Entscheidungsszene der fünften Auflage genannt, sobald Heyse Entscheidungsressourcen und seine Netzwerke des Entscheidens offenlegt (vgl. hierzu JBV, 114-118). Vgl. zu ›Autobiografie‹ und ›Nachrationalisierung‹ exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Trauerspiel und Autobiographie, S. 89; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 107. 6 Heyse, Meine Erstlingswerke, S. 53 f. In Fontanes Autobiografie Von Zwanzig bis
253
v. pau l h eyse
Tanten aus diesem Bildungszirkel als tragische Figuren des Scheiterns,7 die er im Gegensatz zu seiner Mutter als unbegabte Autorinnen porträtiert. Seine Tante Regine habe nach einer frühen Ehe und ebenso frühen Scheidung sich als geistreiche Frau etabliert und unter dem Namen Regina Frohberg verschiedene Romane verfasst, die das Leben der höheren österreichischen Gesellschaft zu schildern suchten, ohne das geringste Talent und mit so wenig Erfindungsgabe, daß es ein Rätsel war, wie diese armseligen Produkte einen Verleger finden konnten. […] [A]uch […] [Marianne], wie die Wiener Schwester, füllte in ihrer kaum lesbaren Handschrift dicke Hefte mit romanhaften Memorabilien und freien Erfindungen […]. Von solchen literarischen Velleitäten hielt meine Mutter sich immer frei, bis auf die Übersetzung von Lieblingsgedichten ins Englische und Französische zu ihrem eigenen Vergnügen (JBV, 8, 10; vgl. ebd., 293).8 Für den autobiografischen Gesamtkontext ist entscheidend, dass Heyse den ›dicken Heften‹ ein pejoratives Urteil zukommen lässt und sie als »romanhafte[ ] Memorabilien und freie[ ] Erfindungen« abklassifiziert (JBV, 10). Heyse verhandelt wiederholt die referentiellen und ebenso fiktionalen Potenziale autobiografischer Projekte, die hier bereits angesprochen und im weiteren Verlauf mise en abyme zu einer Autobiografietheorie ausgefaltet werden, die Heyse dezidiert werkbiografisch mit Schlüsselromankonzepten parallelisiert. Das pejorative Urteil mitsamt dem asymmetrischen Vergleich bildet seitenweise ein kompositorisches Strukturelement innerhalb der Autobiografie, mit dem sich der Autobiograf kontinuierlich zu einer kanon- und archivwürdigen, »autobiographiefähigen« Autorfigur abheftet. Indem er die schriftstellerisch tätigen Tanten als fahle Gestalten figuriert,9 sticht das Bild der begabten, philologisch versierten Mutter erneut promiDreißig wird die Autorfigur Goethe zur Maßeinheit, nach der das Talent nachgeborener Schriftsteller bemessen wird (vgl. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 242). 7 ›Figuren des Scheiterns‹ sind ein topisches, kompetitives und komparatistisches Stilmittel, um den eigenen beruflichen Werdegang zu individualisieren und als außergewöhnliche Leistung zu glorifizieren. Vgl. hierzu exemplarisch die Autobiografien von Ebner-Eschenbach, Lewald-Stahr, Fontane, Schnitzler. Die autodiegetischen Erzählerinnen und Erzähler ebendieser Autobiografien stellen einen solchen topischen Vergleich mit ›Figuren des Scheiterns‹ an. 8 Bei dem Namen Regina Frohberg handelt es sich um ein Pseudonym der Autorin Rebecca Friedländer. Insgesamt wurde Rebecca Friedländer von ihren Zeitgenossen wenig anerkannt. Ebendiese wussten wie ihr »Neffe, Paul Heyse, nichts Gutes über […] [sie] zu sagen« (Hertz, Einleitung, S. 45). 9 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 113 f.
254
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
nent hervor. Der Herausgeber der Spanischen Lieder,10 des Novellenschatzes und des Neuen Münchener Dichterbuchs (vgl. JBV, 237 f., 258 f.) lässt hier bereits en passant seine verlegerische Expertise anklingen.11 Die sprachlichen Übersetzungskünste sowie die damit verbundenen komparatistischen Fertigkeiten der Mutter mahnen bereits an Heyses Studium der Komparatistik und Romanistik bei Friedrich Christian Diez und schließlich an einen Wendepunkt für seine Schriftstellerkarriere,12 zumal Diez zu jenen vitalen Reliquien zählt, die einmal Goethe trafen.13 Der autodiegetische Erzähler legt einprägsam dar, dass sein beruflicher Werdegang fast zwangsläufig aus dem sozialen, familialen Beziehungsgefüge resultiert, in dem er aufwuchs. Daran knüpft Heyse – ›im Geist der Zeit‹ – biologische und nationale Thesen, die seine außerordentliche Dichterbegabung erklären sollen (vgl. JBV, 50, 201 f.).14 Obschon Heyse primär seine kulturelle, soziale und genetische Herkunft für sein dichterisches Talent verantwortlich macht, vergisst er nicht, sich stetig direkt sowie indirekt mit Goethe zu vergleichen, der nationalen Identifikationsfigur par exellence:15 10 Vgl. Moisy, Paul Heyse, S. 26. 11 Dies macht Heyse für Stockinger zum »Archivar der Gattung« (Stockinger, Das 19. Jahrhundert, S. 115). Vgl. hierzu: Thomas Weitin, Selektion und Distinktion, S. 385. Vgl. auch: Moisy, Paul Heyse, S. 134, 138, 140. 12 Heyse fügt diese Lebenspassage auch in seinen autobiografischen Aufsatz Meine Erstlingswerke ein und verbindet seine Debütpublikation mit seinem romanistischen Studium: Gemeinsam werden sie zu konstitutiven Komponenten seiner Berufs entscheidung. Die Studienwahl hält einen literaturwissenschaftlichen neben einem schriftstellerischen Berufsweg als mögliche Alternative weiterhin präsent: »In harten inneren Kämpfen um meine eigene Entwicklung hatte ich bald nach dem Eintritt in das Sommersemester der klassischen Philologie abgesagt, mich der Kunstgeschichte zugewendet und auch diese allzulose Haut wieder abgestreift, um unter der Führung des edlen Diez endlich mit seiner Wissenschaft Ernst zu machen und als romanischer Philologe einen festen Halt für meine Studien zu gewinnen« (Heyse, Meine Erstlingswerke, S. 58). Vgl. hierzu auch: Petzet, Paul Heyse, S. 738. Äquivalente Erzählbausteine lassen sich bis zur fünften Auflage wortgleich im Kapitel Bonner Studien finden. 13 Zur Begegnung zwischen Diez und Goethe sowie zur Legende, Goethe habe Diez auf den Weg der romanistischen Studien gebracht und sei somit indirekt Gründungsvater der deutschen Romanistik vgl. exemplarisch: Bähler, Vocations de Philologues, S. 218 f. Die Bekanntschaft seiner Mutter mit Rahel taucht nochmals in seiner Berufsentscheidung als Variation auf. Diese Anekdote dient dem Erzähler abermals dazu, sich in ein Nachfolge- und Gleichwertigkeitverhältnis zu ›den Klassikern‹ zu setzen. 14 Ähnlich nationale Argumentationsmuster präsentiert der autodiegetische Erzähler, wenn er den Naturalismus disqualifiziert (vgl. JBV, 239). 15 Vgl. zu ›Nationalkult‹, ›Monumentalisierungsprozessen‹ und Goethe besonders Arin Haideris luzide Untersuchung: Haideri, Die Kunst, eine Goethe-Organisation
255
v. pau l h eyse
Im übrigen, wenn ich die Elemente prüfe, aus denen meine west-östliche Natur zusammengesetzt ist, finde ich an mir die alte Erfahrung bestätigt, daß uns die Charakteranlage vom Vater, die geistig-sinnliche von der Mutter vererbt zu werden pflegt. Wie ich dieser verdanke, was an phantastischem Vermögen und warmblütigem, sinnlichem Temperament mein eigen ist, so habe ich von meinem Vater, der aus echtestem germanischem Stamm entsprossen war, die Eigenschaften überkommen, deren ein Künstlerleben zu seiner reinen und freien Entfaltung bedarf, die Gewissenhaftigkeit und den Fleiß – ›seines Fleißes darf man sich ja rühmen‹ – und den unerschütterlichen Trieb zur inneren und äußeren Unabhängigkeit. Zugleich auch neben einer Anlage zu jäh auflodernder zu sein, S. 360 f. Vgl. auch: Dehrmann und Nebrig, Einleitung, S. 10-12; Thaler, Zur Geschichte des Literaturarchivs, S. 371; Dehrmann, Studierte Dichter, S. 68 f.; Ajouri, Einleitung, S. 2-4; Lütteken, Das Literaturarchiv, S. 80 f. Petzet erklärt Heyses beruflichen Werdegang ebenfalls mithilfe eines genealogischen und gleichfalls dynastischen Erklärungsmodells: »Paul Heyse wurde am 15. März 1830 als zweiter Sohn des außerordentlichen Professors Carl Wilhelm Ludwig Heyse in Berlin geboren. Sein Vater war in jungen Jahren im Hause Wilhelm von Humboldts und bei Felix Mendelssohn als Erzieher tätig gewesen und hatte hier, selbst nachhaltig wirkend, auch starke geistige Anregungen und mancherlei gesellige Beziehungen gewonnen. An der Universität lehrte er klassische Philologie und vergleichende Sprachwissenschaft, in seiner Sprachbetrachtung mehr der philosophischen Schule Hegels als der historischen Richtung der Brüder Grimm folgend. Seine Hauptarbeit galt daneben der dauernden Erweiterung und Verbesserung der schon von seinem Vater übernommenen deutschen Wörterbücher und Grammatiken, von denen viele Jahrzehnte hindurch eine ausgedehnte Wirkung ausgegangen ist. Von diesem Vater also und seinen um die deutsche Sprache verdienten Vorfahren erbte Paul Heyse ein untrügliches sicheres Feingefühl in der Behandlung der Sprache, das durch gründliche Schulung noch gefestigt wurde. Ganz anders als die stille, stets selbstbeherrschte, früh durch Krankheit zu Resignation gezwungene Gelehrtenpersönlichkeit des Vaters war die temperamentvolle Natur seiner Mutter, Julie Saaling, einer Verwandten des Hauses Mendelssohn. Paul Heyse hat stets dankbar des Erbteils gesunder Sinnlichkeit und Lebensfrische gedacht, das er von ihr empfangen, und den Einschlag semitischen Blutes nie verleugnet, der sich in der un ermüdlichen Beweglichkeit und Fruchtbarkeit seines Schaffens ausprägt. Wohl hat er sich stets in erster Linie dem germanischen Stamme der väterlichen Familie zugehörig gefühlt« (Petzet, Paul Heyse, S. 734). Nachdem Petzet wie auch Maync Heyses ›germanische‹ Herkunft betonen, entsteht der Eindruck, beide streben nationalistisch-apologetische Interpretationen an, die Heyses Werke womöglich, wenn nicht für ein antisemitisches – so doch, für ein germanophiles Lesepublikum zurechtlegen sollen. Deborah Hertz legt dar, dass so etwa Karl August Varnhagen von Ense verfahren sei, indem er »versuchte nicht nur, in den von ihm edierten Briefen Rebecca Friedländer weniger jüdisch erscheinen zu lassen, sondern setzte auch in der unveröffentlichten Korrespondenz bei den Namen der Brüder von beiden Frauen deren ›christliche‹ Variante ein« (Hertz, Einleitung, S. 41).
256
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Leidenschaft die Kraft, diese gefährlichen Anwandlungen zu bändigen, so daß ich fast immer denen, die mich nur oberflächlich kennen, den Eindruck eines durchaus gleichmütigen, von inneren Stürmen und Kämpfen stets verschonten Menschen gemacht habe, wovon ich weit entfernt bin (JBV, 24). Heyse bietet zukünftigen Rezensenten eine nationalorientierte Argumentationsfigur, die seinen beruflichen Werdegang erklären soll und die Harry Maync 1903 nochmals auf das literarische Feld stellt. Maync positioniert sie in seiner Rezension – besonders aus heutiger Sicht – unter äußerst bedenklich nationalem Vorzeichen und stellt eine Gleichung zwischen Heyses genetischer Disposition und signifikanten Stilmerkmalen seiner Prosa auf – zu dem Ergebnis kommend: »Von einem deutschen Vater und einer jüdischen Mutter geboren, rühmt sich Heyse seiner ›westöstlichen Natur‹, der in gewissenhaftem Schaffensernst und leichter prickelnder Sinnlichkeit sich kundgebenden Blutmischung, die in seiner Dichtung augenfällig hervor tritt«.16 Heyses autobiografischer Werdegang wird biografistisch weiter erzählt,17 die entworfene Autobiografie wird zum heuristischen Analytikum für seine literarischen Texte. Es entsteht ein Berufungsmythos, den Heyse autobiografisch vorbereitet hat und in dem er als kanonwürdige Autorfigur brilliert. Heyse schildert sein Elternhaus als Refugium eines zukünftigen Schriftstellers und so ist sein autobiografischer Werdegang ebenfalls durch die berufliche Tätigkeit des Vaters prädestiniert: »[I]ch war glücklich, wenn er meine Hilfe bei seinen Arbeiten brauchen konnte, zum Beispiel die peinlich langweilige Korrekturarbeit an den immer neu bearbeiteten Wörterbüchern sich dadurch erleichterte, daß er sich die Bogen von mir vorlesen ließ« (JBV, 24 f., vgl. ebd., 59 f.). Das gemeinsame Lesen ist wie bereits bei Lewald-Stahr eine entscheidende und zweifach lebenslaufkonstitutive Tätigkeit: Zunächst zeichnet die gemeinsame, intime Lektürepraxis das exklusive Verhältnis zwischen Kind und Vater aus und des Weiteren bildet sie das stabile Fundament des präfigurierten beruflichen Werdegangs. Eine spätere Berufsentscheidung wird prospektiv legitimiert, plausibilisiert und zu einer 16 Maync, Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, S. 710. 17 Die Darlegung einer genetischen, nationalistischen Disposition erinnert bereits an Gottfried Benns eugenisches, nationalsozialistisches Herkunftsmodell in Doppelleben. Benn legt in seiner Autobiografie ein ideologisches Karyogramm vor (vgl. das Kapitel ›Erbmasse‹: Benn, Autobiographische und vermischte Schriften, Bd. 4). Allerdings war der Rassimus-Diskurs zu Benns Zeiten wesentlich weiter vorangeschritten. Vgl. zur ›Nachlasspflege als Nationalaufgabe‹: Spoerhase, Neuzeitliches Nachlassbewusstsein, S. 41-44.
257
v. pau l h eyse
beinahe alternativlosen Entscheidung aufgebaut. Indem die frühe Lektürepraxis zudem an theatrale Tätigkeiten rückgebunden wird,18 schaltet die autobiografische Figur einen losen intertextuellen Verweis auf Wilhelm Meisters Lehrjahre und Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit ein: Die Autobiografie wird schon zu Beginn als erfolgreiche Lebensgeschichte etikettiert. Hinzu gesellt sich, dass Heyse schildert, wie er sich vorbildlich in den ›erlesenen‹ Bildungsplan seines Vaters fügt: Ich war durch den Unterricht meines Vaters und meines vortrefflichen Hauslehrers Valentin Kutscheit – er hatte einen damals sehr gelobten Atlas der Alten Welt herausgegeben – für die Sexta mehr als genügend vorbereitet, in Latein eigentlich schon für die Quinta reif. Daß ich nie im Deutschen einen besonderen grammatikalischen Unterricht erhalten hatte, mag für den Sohn und Enkel zweier Grammatiker seltsam erscheinen (JBV, 27). Das patriarchalische Verhältnis wird maßgebend für Heyses zukünftige Ausbildungs- und Berufsbeziehungen:19 Es sind stetig ›Vaterfiguren‹, die 18 Vgl. hierzu auch folgende Passage: »Unter anderem hatte ich schon damals den Trojanischen Krieg in der Beckerschen Bearbeitung für die Jugend gelesen und führte nun allerlei Szenen daraus mit meinen Kameraden auf, wobei ich […] die Rolle der Helena zuerteilte, von deren Bedeutung sie jedenfalls nicht den leisesten Begriff hatte. Ich selbst war natürlich Achill« (JBV, 26, vgl. ebd., 46). Wenig später schildert Heyse, wie er Schulbücher verkauft habe, um Theaterkarten erwerben zu können (JBV, 48). Mit dieser Anekdote verweist Heyse auf seinen internalisierten Bildungstrieb, den er sich selbst geradezu redundant zuschreibt. 19 So stellt Paul Heyse seinen Vater Carl Heyse gleichfalls als richtungsweisenden Entscheider vor, der Heyses schriftstellerischen Werdegang im Jahr seiner Berufsentscheidung mit einer selbständigen Editionsentscheidung vorbereitet habe: »Als ich um Ostern 1850 nach Bonn auf die Universität zog, war bis auf die erwähnten lyrischen Erstlinge nichts von meinen Sachen gedruckt. Geibels Warnung, nicht zu früh hinauszutreten, hatte ich dankbar beherzigt. Nun überraschte mich im Sommer mein teurer Vater mit der Nachricht, er habe meine Märchen, die er sorgfältig aufbewahrt hatte, Alexander Duncker zum Verlag angeboten, der bereitwillig darauf eingegangen sei. Ich zweifle nicht, daß meine nachträgliche Zustimmung vorbehalten war. Doch weiß ich mich zu entsinnen, daß ich in einen peinlichen Zwiespalt geriet und lange schwankte, ob ich in die Herausgabe willigen sollte«. Letztlich begründet der autodiegetische Erzähler seine Zustimmung mit seiner »Rücksicht auf den sehr geliebten Vater«. Daran schließt Heyse ein rhetorisches Verfahren an, dass ihm auch für Jugenderinnerungen und Bekenntnisse zupass kam; eine relativierende captatio benevolentiae: »Also ließ ich das Verderben seinen Gang gehen und deutete nur in einer kleinen Vorrede an, daß diese Kinderpossen mir selbst höchst unzeitgemäß erschienen« (Heyse, Meine Erstlingswerke, S. 57-59). Der Brief an seinen Vater macht hingegen deutlich, dass Heyse die zweite Auflage weniger zögerlich und selbständig angeht (vgl. hierzu: Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB,
258
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
wie Kugler als »hoher Gönner« (JBV, 207), Geibel mit der »Güte des Meisters« (JBV, 81), Grillparzer mit »väterlicher Güte« (JBV, 283) oder Maximilian II als »königliche[r] Gönner« (JBV, 259) der autobiografischen Figur den beruflichen, netzwerkbasierten Werdegang vorgeben und deren Anweisungen Heyse »[g]ewissenhaft[ ]« folgt (JBV, 27),20 indes der Erzähler punktuell den unverhohlen kritischen Wesenszug der autobiografischen Figur anmahnt (JBV, 90-92). Diese relativierende Argumentationsfigur gewährleistet ein latentes emanzipatorisches Potenzial, das der autobiografischen Figur mehrfach zugeschrieben, eine individuelle Berufsentscheidung allmählich vorbereitet. Verstärkend wirkt, dass Heyse seinen Lehrer und lebenslangen Förderer Emanuel Geibel als »Seher und Sänger« (JBV, 87, vgl. ebd., 84) bezeichnet, der einen »priesterlichen Zug« (JBV, 89) besitze und ein mittelalterliches sowie genieästhetisches Autorschaftskonzept für Geibel und relational auch für sich selbst veranschlagt (vgl. JBV, 267 f., 273, 276),21 obschon Heyse sich primär als poeta doctus inszeniert.22 Weiterführend für diese komparatistisch angelegten Autorschaftsmodelle ist, dass laut Rolf Selbmann »eine Aufspaltung des poeta Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33). Zugleich hat diese Passage ein intertextuelles Vorbild, denn auch in Goethes Aus meinem Leben sammelt und archiviert Goethes Vater die frühen Texte seines Sohnes (vgl. Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt, Bd. 14, S. 128, 156-158, 249, 376 f.). 20 Insgesamt weist Heyses autobiografischer Text eine ›Adjektivinflation‹ auf, die der autodiegetische Erzähler auf Geibels Unterricht zurückführt und die Heyse nutzt, um sich mit Heine und Goethe zu parallelisieren: »Das Geheimnis des Adjektivs wurde mir klar, das mir freilich schon beim Lesen Heinescher Lieder, der Goetheschen ganz zu geschweigen aufgedämmert war und sich vollends enthüllen sollte, als ich einige Jahre später Mörike kennen lernte« (JB, 64). Bei den vielen Zirkel- und Salonaufenthalten handelt es sich um »strukturierte Zusammenkünfte«, die netzwerkbildendes Potenzial besitzen (Baillot, Einleitung, S. 14). Papenheim erläutert, dass eine »zunehmende Professionalisierung zahlreicher Berufe« stabile, karrierefördernde Netzwerke begünstigt habe (Papenheim, Freunde oder Brüder?, S. 53). Natalie Binczek legt dar, dass »[m]it der Multiplikation von Freundschaftsbeziehungen […] das Netzwerk [wächst]« (Binczek, Einleitung, S. 13). Heyses zahlreiche Mitgliedschaften ermöglichen eine solche netzwerkerweiternde Multiplikation. Als erfolgreicher, versierter Netzwerker wird Heyse auch in Fontanes Von Zwanzig bis Dreißig vorgestellt (vgl. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 180, 189). 21 Nicht unbedeutend sind hierzu Krausnicks Beobachtungen: »Geibel, der auf nahezu allen erhaltenen Bildern und Zeichnungen die Pose des Barden, Troubadours oder Priesters einnahm, war entsprechend auch in seinem Werk auf nationale, minnesängerische und religiöse Motive spezialisiert« (Krausnick, Paul Heyse und der Münchener Dichterkreis, S. 58). 22 Vgl. zu den Ausdrücken ›poeta vates‹ und ›Genieästhetik‹ exemplarisch: Selbmann, Dichterberuf, S. 11 f.; Hoffmann und Langer, Autorschaftsmodelle, S. 141 f. Heyse veranschlagt in seiner Autobiografie unterschiedliche Autorschaftsmodelle für
259
v. pau l h eyse
vates in einen poeta doctus als dem gesellschaftlich integrierbaren Bildungsdichter und einen ausgrenzenden halluzinierenden Wahnsinnigen« dem jeweiligen Autor oder der jeweiligen Autorin ermöglicht, »wieder die absolute Entscheidungsfreiheit zurück[zu]erhalten, nach eigenem Gutdünken zugrunde zu gehen« oder wie Heyse als angesehener Schriftsteller und Wissenschaftler zu reüssieren.23 Wie Lewald-Stahr und Schnitzler betont und kultiviert auch Heyse seine individuelle Außenseiterposition, die er schon in frühen Jugendjahren eingenommen habe, sodass er »meist mit Altersgenossen verkehrte, die weniger dialektisch geschult waren« (JBV, 49, vgl. ebd., 37 f.). Dabei sei er in allen Zirkeln der jüngste Teilnehmer gewesen (vgl. JBV, 20, 126, 154, 282-284).24 Die Außenseiterposition geht topisch zumeist mit einer ausgeprägten Beobachtungsgabe einher, die von Heyse (JBV, 38, 43, 175, 267) wie sein »treffliches Gehör und Gedächtnis« (JBV, 41) nicht unerwähnt bleibt. Diese exzeptionellen Fertigkeiten komplettiert eine unbändige Lesewut (vgl. JBV, 27 f., 31, 48 f., 241 f., 245, 285 f.), die dazu führt, dass die autobiografische Figur, als Fleißige unter Faulen (vgl. JBV, 27 f., 203), während des Unterrichts »Coopers Romane oder Heines Reisebilder« (JBV, 31) liest und mit fünfzehn Jahren sich mit der »Kritik der reinen Vernunft« den Schriften einer Königsberger Prominenz widmet, die den jungen Heyse erstmalig mit Verständnisschwierigkeiten zurücklassen, die er Rat suchend ausgesprochen habe: Ich klagte meine Not nicht sowohl meinem Vater als unserm hochverehrtem Professor Yxem, bei dem wir in Oberprima wöchentlich einmal eine trockene Logikstunde hatten. Er fand dies mein heimliches Studium natürlich verfrüht, so daß ich mich denn doch endlich meinem Vater anvertraute. Von ihm erhielt ich das treffliche »Handbuch der klassischen Philosophie« von Ritter und Preller, wo ich die geschichtliche Entwicklung der Systeme in den entscheidenden Äußerungen der einzelnen Denker im Urtext zusammengestellt fand. An diesen befriedigte ich, so gut es ging, meinen neugierig grübelnden Vorwitz (JBV, 36).25 sich und verweist damit indirekt auf seine wesensverwandten und doch unterschiedlichen Professionen. 23 Selbmann, Dichterberuf, S. 12. 24 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 199. Sternagel zitiert einen Brief, den Fontane an seinen Freund Lepel richtet und in dem Fontane diese Konstellation exemplarisch aufgreift (Sternagel, Fanny Lewald und ihre jungen Männer, S. 84 f.). 25 Ebendiesen Yxem erwähnt Heyse dankend sogar in seinem Lebenslauf, der als Anhang seiner Promotionsschrift beigegeben ist (vgl. Heyse, Vita, S. 46).
260
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Heyse stilisiert sich sukzessive als »›Musterschüler‹« (JBV, 305),26 der seine Anlagen zur Vollkommenheit entfaltet und die ihm auch den Kontakt zu Charlotte von Steins Nachfahren ermöglichen: In ein adeliges Haus trat ich hier zum erstenmal, und auch die Erinnerung an jene Frau von Stein, deren Freundschaft den jungen Goethe beglückt hatte, trug dazu bei, mich diesen ihren Nachkommen gegenüber anders als sonst in einem befreundeten Hause empfinden zu lassen (JBV, 305). Dieser Begegnung fügt der Erzähler abermals das Motiv der Wahlverwandtschaft hinzu und bekundet, Felix’ Mutter habe ihm den Namen »›Goldsohn[ ]‹« gegeben (JBV, 307). Heyse schildert, wie sie ihn nur sieben Jahre später »im Auftrage des Großherzogs« gefragt habe, »ob [er] nicht vorzöge, statt in München in Weimar am Hofe zu leben« (JBV, 311).27 Beflissen reiht der Erzähler zahlreiche Reminiszenzen auf. Diese skizzieren einen Stammbaum, der ein wahlverwandtschaftliches Verhältnis zwischen ihm und Goethe symbolisiert. Der Autobiograf wirkt an seinem Prestige als »›zweiter Goethe‹« fleißig mit, sodass München mit »Goethes Weimar« verglichen werden konnte.28 Indem der Erzähler nochmals Felix von Steins Talent losigkeit bekundet, wertet er ein wahlverwandtschaftliches Verhältnis gegenüber einer genetischen Verwandtschaft auf (JBV, 311).29 Er legt eine stringente Berufungserzählung vor, fernab möglicher Entscheidungs krisen, die allerdings nach Heyses beiläufigem Bekenntnis, dass er keines26 Vgl. Petzet, Paul Heyse, S. 735. 27 Norbert Miller legt dar, dass Heyse tatsächlich als »Goethe-Ersatz« bewertet worden sei (Miller, Im Schatten Goethes, S. 12). 28 Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 197. Rückert erweckt den Eindruck, dass Heyse ein solcher Vergleich zugeschrieben worden sei; dass Heyse aktiv eine Autorfigur mit Goethe als Ahnherren gestaltete, wird bei Rückert nicht deutlich. Heyse legt einen solchen Vergleich mit seinem »Vorbild« jedoch auch in seinen Tagebüchern an (Berbig, Das gelobte Land Italien, S. 237). 29 Der asymmetrische Vergleich mit Felix von Stein ist besonders bedeutungsschwer, da sich Heyse mit einem versierten Nachlassverwalter misst. Golz notiert seine Nachlasstätigkeit folgendermaßen: »Felix von Stein hatte den wertvollstenBesitz seiner Familie, die in sieben Bänden aufbewahrten Briefe Goethes an seine Großmutter Charlotte von Stein, schon zu Lebzeiten im Weimarer Staatsarchiv deponiert und der Wissenschaft zugänglich gemacht« (Golz, Das Goethe- und Schiller-Archiv in Geschichte und Gegenwart, S. 28). Eine Relation mit Goethe, die sich Heyse mühsam autobiografisch erarbeiten muss, ist seinem Weggefährten qua Geburt gegeben. Signifikant ist, dass Heyse fortwährend Felix von Steins Talentlosigkeit betont, naturgmäß im Vergleich zu seinem eigenen Talent.
261
v. pau l h eyse
falls »von inneren Stürmen und Kämpfen stets verschont[ ]« gewesen sei, erwartet werden könn(t)en (JBV, 24). Mit solcherlei Prolepsen zieht Heyse seinen Erzählfaden zu einem Spannungsbogen und rückt allmählich den Fokus auf den ›Falken‹ der Geschichte und somit – seinem und Hermann Kurz’ novellistischem Prinzip folgend – auf »das Specifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet«.30 Stets folgt auf eine etwaige captatio benevolentiae unwillkürlich eine rühmende Episode und jeder vordergründige Misserfolg schlägt ad hoc in einen Erfolg um. So wird die erste Werkprobe exemplarisch als antithetische Klimax dargeboten, die zugleich als Prolepse funktioniert, indem diese Erzählpassage bereits implizit auf Heyses romanistische Archivstudien und seinen gemeinsam mit Kurz herausgegebenen Novellenschatz verweist (vgl. JBV, 329-331): Für den deutschen Aufsatz war uns in der Oberprima die Wahl des hemas freigegeben worden. Als dies zum erstenmal geschah, schrieb ich T ein ziemlich übermütiges romantisches Capriccio über »Das Märchen«, zu dem mich Clemens Brentano und, was den Stil betrifft, Heine angeregt hatte. Als die Hefte dann vom Professor zurückgegeben und kritisiert wurden, nahm er das meine zuerst vor und teilte zur Probe die extravagantesten Stellen mit, sie aufs Unbarmherzigste wegen ihrer logischen Mängel und stilistischen Unmanieren verdammend, so daß ich tief gedemütigt, zumal ich sonst im deutschen Aufsatz einer der besten war, mit gesenktem Kopfe dasaß und die Zensur am Schluß meiner Schreiberei gar nicht anzusehen wagte. Als ich es dann doch zu Hause über mich gewann, las ich zu meinem frohen Erstaunen: »Mit Vergnügen gelesen. Yxem« (JBV, 33).31 Perspektiviert Heyse sein Können und seine prominente Stellung ironisch, fügt er als ›objektives Korrektiv‹ Belege seiner prestigeträchtigen Stellung ein. Auf diese Weise nutzt der Erzähler ironische Autoperspektivierungen lediglich als Katalysator für eine res gestae (vgl. JBV, 49). Die erste Werkprobe nutzt Heyse zugleich für einen werkpolitischen Kniff 30 Heyse und Kurz, Einleitung, S. 20. Nach Kurz’ Tod gab Heyse dessen Gesammelte Werke mitsamt einer Biografie heraus (vgl. hierzu: Moisy, Paul Heyse, S. 134-140). 31 Wohlweislich erwähnt Heyse in Meine Erstlingswerke, dass seine berufsentscheidende Erstpublikation Märchen waren, seine Entscheidungsberaterin Ritschl liest Heyses Märchen Vincenz und Veilchen, bevor sie Heyse rät, sich für den Schriftstellerberuf zu entscheiden und die Berufung nach München schildert er in seiner Autobiografie als »märchenhafte Glückswendung« (JBV, 185; vgl. Heyse, Meine Erstlingswerke, S. 57-59).
262
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
und verbindet kurzerhand erneut seinen musterhaften schriftstellerischen Lebenslauf mit Goethe, denn just der Lehrer, der Heyses Werkprobe »›[m]it Vergnügen‹« las, sei nicht lediglich Goetheverehrer gewesen, sondern Adressat und Besitzer eines Manuskripts von ebendiesem Weimarer Klassiker: Man erzählte sich, daß er einmal ein Schulprogramm verfaßt habe unter dem Titel: »Goethes Charakter. Ein Versuch.« Der Olympier in Weimar habe ihm dafür in einem eigenhändigen Brief gedankt, den sein begeisterter Verehrer eingerahmt über seinem Schreibtisch aufgehängt habe und als seinen kostbarsten Schatz betrachtete (JBV, 33). Heyse spinnt um seine Verwandten, Bekannten, Lehrer und Förderer ein Netz, das alle Figuren mit prominenten Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern verbindet, die aufgrund kulturwissenschaftlich bedeutender, kulturkonstitutiver Werke bis heute unvergessen sind (vgl. JBV, 9, 10 f., 13 f., 37-39, 43-46, 107, 123 f., 156, 172 f., 181, 237, 250 f., 258, 274 f.).32 Ausgangspunkt, ingenieur und bricoleur des Netzwerks bleibt Heyse, der damit aktiv eine »Nähe zu den Mächtigen« aufbaut.33 Auf diese Weise positioniert er sich zugleich als Beobachter entstehender Kultur- und Literaturgeschichten und stilisiert nicht nur sich, sondern auch seine gesellschaftlichen Kontakte als erzählenswerte Zeitfiguren: Zu allen früheren freund- und verwandtschaftlichen Fäden, die mich mit diesen trefflichen Menschen verbanden, kam noch die Schulfreundschaft mit ihrem einzigen Sohn Sebastian (dem späteren Herausgeber des reichen und anziehenden Memoirenwerks »Die Familie Mendelssohn«) (JBV, 38). Heyse verweist konsequent auf Biografien und Autobiografien, die ihn als diegetische Figur des kulturellen Lebens einbinden und erwähnt – kaum unbedarft –, dass Geibel von Ernst Curtius an den Hof »des Prinzen Friedrich Wilhelm« geladen worden sei (JBV, 98); dessen Enkel Ernst Robert Curtius habilitierte sich drei Jahre, bevor Heyses fünfte Auflage erschien, in Bonn – Heyses ehemaliger Alma Mater. Dieses erfolgversprechende, nachruhmsichernde Netzwerk, das durchaus »Karriereseilschaf32 So betont der autodiegetische Erzähler, dass er in Italien von dem gleichen Arzt behandelt worden sei, der auch den Papst betreut habe (JB, 159). 33 Lütteken, Das Literaturarchiv, S. 68. »Die Nähe zu den Mächtigen« erklärt Lütteken als bewährtes Mittel »neuzeitliche[r] Ruhmgeschichten« (ebd.). Eine solche Netzwerktechnik sei konstitutiv für Archivierungsvorhaben, die verstärkt im 18. und 19. Jahrhundert artikuliert würden (vgl. ebd.).
263
v. pau l h eyse
ten« ähnelt,34 bemerkt auch der Rezensent und Philologe Maync, wenn er von Heyses »sehr weit verzweigte[r] Verwandtschaft« spricht, in der Heyse »eine ganze Anzahl wunderlicher Originale« kennengelernt habe. Daraus schlussfolgert Maync, dass »das Buch auch für andere bedeutende Männer [sehr ergiebig]« sei. Beklagenswert sei demgegenüber, dass »dem Buche ein Namensregister« fehle, weshalb er »den Fachgenossen einen kleinen Dienst« erweise und ein eigens angelegtes, bekennend unvollständiges, Register seiner Rezension beigebe. Die wiedergegebene Passage ist entscheidenstheoretisch relevant, da Heyses Berufsentscheidung abermals als eine alternativlose Fügung vorgestellt wird; sein Beruf entscheidet sich gewissermaßen interaktiv innerhalb eines Netzwerks, für das eine »sehr weit verzweigte[ ] Verwandtschaft« konstitutiv ist. Darüber hinaus wird Heyses Autobiografie als »ergiebig[e]« Quelle für biografische, literaturgeschichtliche Forschungsvorhaben etwaiger »Fachgenossen« vorgestellt, einmal mehr nachdem Heyse seinen Lebenswendepunkt mittels bislang unedierter Archivalien darbietet.35 Die nachträglich eingefügte Berufsentscheidung durch die bricolage wird als eine nachlassbewusste Werkentscheidung erkennbar, die zumindest prospektiv einen Platz in zukünftigen literaturwissenschaftlichen Studien, eine »realistische[ ] Posteritätspräzeption« versprechen kann.36 Dieser Strategie, die für einen fachkundigen Umgang mit damaligen Kulturbetriebsmechanismen steht, folgt auch ein Vergleich Franz Kuglers mit Goethe, den der Autobiograf anstellt (vgl. JBV, 83): Der »Eintritt in das 34 Papenheim, Freunde oder Brüder?, S. 41. Heyse beherrscht die »Kulturtechnik«, Netzwerke zu knüpfen. Böhmes Resümee bewahrheitet sich hier: »Konstruktionen […] erzeugen Wirklichkeit« (Böhme, Einführung, S. 34). 35 Maync, Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, S. 712. 36 Spoerhase, Postume Papiere, S. 502. Letztlich wird Heyses Autobiografie in der gesamten Rezension von Maync vielfach mit derjenigen Goethes relationiert und so verwundert es, dass Goethes Name im angelegten »Verzeichnis« lediglich mit einer einzigen Seitenangabe auftaucht. Obschon Heyse Maync zufolge »fach verständig« Biografien »bedeutende[r] Männer« liefert, wird Goethes Omnipräsenz verzerrend wiedergegeben (Maync, Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, S. 712). Bislang wird in Studien zu Heyse nicht benannt, dass Heyse nicht allein eine literarische Verwandtschaft zugeschrieben wird, sondern primär Heyse selbst seine Autorfigur mit Goethe relationiert. Miller formuliert jedoch die These, dass Heyse eine potenzielle Relationierung durchaus bewusst gewesen sei: »Paul Heyse hat vermutlich keinen Augenblick seiner langen Laufbahn vergessen, daß sein Schaffen mit dem Goethes verglichen werden konnte« (Miller, Im Schatten Goethes, S. 13). Daher kann Pottbeckers nicht zugestimmt werden, wenn er behauptet, dass von einer »Goethe-Manie […] bei Heyse erstaunlich wenig zu merken« sei (Pottbeckers, Dichter und Wahrheit, S. 24).
264
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Kuglersche Haus« wird als der Beginn einer »vita nuova« geschildert und als eine Wendung hin zur Berufung (JBV, 77). Hervorzuheben ist, dass Kugler als literarischer und literaturwissenschaftlicher Ziehvater eine Doppelberufung vorlebt, die für Heyse als positives exemplum eines poeta philologus funktioniert.37 Bis heute lässt sich in literaturwissenschaftlichen Studien die Tendenz erkennen, Heyses breites Aufgabenspektrum und vielgestaltige berufliche Tätigkeitsfelder zu benennen und ihn als Schriftsteller, als Kulturvermittler oder als Literaturwissenschaftler vorzustellen. Selten wird – wie in Maximilian Grönes oder Urszula Bonters Studien – Heyses Doppelleben als Poet und Philologe (vgl. JBV, 73 f., 333) reflektiert oder seine Berufsentscheidung analysiert. In Studien zu Heyses Jugend erinnerungen und Bekenntnisse wird zumeist erwähnt, dass der Autobiograf für dieses werkförmige Projekt sein Tagebuch konsultiert und exzerpiert habe,38 der zitierte Brief jedoch, der eine ›bewusste‹ Berufsentscheidung erst in der fünften Auflage als verbürgte Entscheidung inszeniert, bleibt, so wie insgesamt die unterschiedliche Gestaltung der einzelnen Ausgaben, unerwähnt.39 37 Mark-Georg Dehrmann und Alexander Nebrig widmen dem poeta philologus einen ganzen Sammelband und definieren ihn folgendermaßen: »Der moderne poeta philologus ist […] ein Gelehrter: Promoviert, habilitiert, wirkt er oft im Rahmen von Universitäten, Akademien oder anderen gelehrten Institutionen« (Dehrmann und Nebrig, Einleitung, S. 8). Diese Sonderstellung beklagt Heyse etwa in einem Brief an Lewald-Stahr, wenn er seiner Briefpartnerin mitteilt, dass man ihn als »einen behaglichen akademischen Destillateur verschreit« (Paul Heyse an Fanny Lewald, 29. November 1871, S. 412). 38 Pottbeckers erwähnt nur kurz, dass »das Tagebuch als Quelle immer wieder aufgerufen« werde, die Ausgabengestaltungen sowie die intertextuellen Praktiken werden nicht erwähnt und bleiben unerkannt, zugunsten eines inspirierten, rein mentalen Erinnerungsaktes (Pottbeckers, Dichter und Wahrheit, 23, 30). Rückert legt demgegenüber explizit dar: »Die detaillierte und lebhafte Rückschau Heyses auf die Zeit fußt auf der Auswertung seiner Tagebücher vom 21. September 1852 bis 15. Mai 1853 und vom 16. Mai bis 30. August 1853 (Heyse-Archiv I.39.1 und I.39.2)« (Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 209). Rückert bezieht sich hier ausschließlich auf Heyses Italienaufenthalt. Sie verdeutlicht aber, dass Heyses autobiografisches Projekt an archivarische Praktiken gebunden und Erinnerung kein (rein) mentaler Akt ist. Dennoch erwähnt auch Rückert nicht die nachlassbewusste, werkstrategische, unterschiedliche Ausgabengestaltung. 39 Selbst in Grönes Studie bleibt diese unerwähnt, obwohl er Heyses »philologische Ausbildung« und »[d]ie ›Berufung‹ nach München« als eine »überaus günstige und nachhaltige Schicksalswende« in den Blick nimmt (Gröne, Von der Philologie zur Fiktion, S. 179 f.). Obwohl Pottbeckers sich dezidiert mit Heyses Jugenderinnerungen und Bekenntnissen beschäftigt, erwähnt er keineswegs die unterschiedliche Ausgabengestaltung (vgl. Pottbeckers, Dichter und Wahrheit).
265
v. pau l h eyse
Wissenswert ist, dass Erich Petzet als Oberbibliotheksrat Heyses Nachlass aktiv mitbetreute und den Briefwechsel von Emanuel Geibel und Paul Heyse 1922 herausgab und beinahe acht Jahre später im Süddeutschen Monatsheft Heyses Antwortbrief erstmalig und (un-)vollständig ediert.40 Der berufsentscheidende, zitierte, kalkulierte Brief des Vaters scheint für Petzet in Heyses Autobiografie ausreichend ediert zu sein, obwohl Heyse ihn erst in der fünften Auflage, zudem unvollständig wiedergibt (vgl. JBV, 114-118). Warum sollte sich Petzet sonst auf Heyses Antwortschreiben beschränken und für den väterlichen Brief auf Heyses Autobiografie verweisen? Der Briefwechsel von Emanuel Geibel und Paul Heyse lässt außerdem Briefe vermissen, die in den beruflichen Entscheidungszeitraum Januar 1850 fallen. In jedem Fall gelingt Petzet als testiertem Nachlass verwalter mit der nachgereichten Teiledition ein werkstrategischer Clou, denn in einer bibliothekarisch verfügbaren und dauerhaft bewahrten Monatszeitschrift kann sich das Potenzial eines Schlüsseltextes angemessen entfalten,41 dessen Inhalt umso überraschender sein dürfte, nachdem dieser einen gradlinigen Werdegang als einen Scheideweg preisgibt und an Wilhelm Diltheys Diktum erinnert:42 »Auch Briefe haben oft bedeutsame 40 Rückert bezeichnet Petzet als »Heyse-Spezialisten« und legt dar, dass Petzet »[z]wi schen Heyses Tod 1914 und seinem eigenen 1928 […] nahezu jährlich über Heyse [publizierte] oder […] Quellen aus dem Nachlass heraus[gab]« (Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 204 f.). Vgl. Geibel und Heyse, Der Briefwechsel von Emanuel Geibel und Paul Heyse. 41 Petzet deklariert in seiner Studie Paul Heyse. Eine Einführung in sein Leben und Schaffen einzelne, ausgewählte Texte als Schlüsseltexte, so etwa, wenn er Heyses Kontakt zu Felix von Stein erläutert und darlegt: »Der vielversprechende junge Heyse wurde auch in das freiherrliche Haus gezogen, wo er seine unglückliche erste Liebe erlebte. (Vgl. die Novelle ›das Freifräulein‹)« (Petzet, Paul Heyse, S. 735; vgl. hierzu auch: Maync, Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, S. 711). Petzet erklärt einen weiteren Text zum Schlüsseltext, wenn er schreibt: »Anders das Drama ›Francesca von Rimini‹, das stofflich durch das Dantekolleg von Friedrich Diez, innerlich durch das eigene Liebeserlebnis angeregt, erst nach der Heimkehr in Berlin zu Ende geführt wurde« (Petzet, Paul Heyse, S. 738). Die Vermutung liegt nahe, dass Petzet mit dem ökonomischen Potenzial ›indiskreter Fiktionen‹ kalkuliert. Vgl. zum Potential ›indiskreter Fiktionen‹: Franzen, Indiskrete Fiktionen. 42 Indem sich Petzet an Heyses architektonischem Lebensgerüst beteiligt und gleichfalls in Heyses beruflichen Werdegang eine akzentuierte Weggabelung einbaut, kommt ihm eine Rezension zupass, die 1903 in der Zeitschrift für Literaturgeschichte erschien und in der Maync betont: »Es ist falsch, den freilich Sehr-Glücklichen als einen Nur-Glücklichen hinzustellen« (Maync, Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, S. 712). Noch sieben Jahre später, zu Heyses achtzigstem Geburtstag, hebt Spiero die durchlebten Krisen des Autors hervor, der demnach nicht ausschließlich als der ewig Glückliche gelten darf: »Demgegenüber erleben Naturen,
266
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Wirkung geübt«.43 Für die vorliegende Studie ist instruktiv, dass Petzet Heyses Berufsentscheidung hermeneutisch als konstitutives und archiviertes Schlüsselmoment interpretiert und abermals ein entscheidungsbedürftiges Szenario entwirft, das Petzet unter dem entscheidungsförmigen Titel Dichter oder Wissenschaftler? Unveröffentlichte Briefe Paul Heyses, mitgeteilt von Erich Petzet – aus dem Archivkästchen plaudernd – bewirbt:44 Das zwiespältige Leben, zu dem er sich während seines ersten Studienjahres gezwungen sah, war auf die Dauer nicht möglich. Nach wiederholter Aussprache mit Freunden, – Professor Ritschl, dessen Frau und Jacob Bernays – entschloß er sich zu einer Änderung seines Studiums. […] Der Brief, den er darüber am 13.1.1850 an seinen Vater schreibt, bedeutet einen Wendepunkt in Heyses Leben. Ein Teil der Antwort seines Vaters ist abgedruckt im I. Band der Jugenderinnerungen u. Bekenntnisse, S. 117 f.: »Ich hätte von Dir nicht fordern können ›sei ein Dichter!‹, wenn Du selbst an Deiner poetischen Sendung zweifeltest. – Wie freue ich mich nun, daß der Ausspruch Deiner inneren Stimme mit meinen Wünschen u. meiner längst gehegten Ueberzeugung von Deinem wahren Beruf so vollkommen in Einklang ist!« – Die Antwort an den Vater ist der warme Dankbrief vom 20. I. 1850. Die darin erwähnte, im Gefühl des neuen Lebens begonnene Tragödie ist »Francesca von Rimini«. Die beiden Briefe Paul Heyses an seinen Vater werden hier zum ersten Mal abgedruckt. Erich Petzet.45
die früh die Form beherrschen lernten, und deren Pfad rasch zu Erfolgen führte, deren persönliche Erlebnisse scheinbar nur Glück ohne Kampf umschließen, es immer wieder, daß ihnen jenes tiefinnere Ringen, ohne das künstlerische Größe noch nie lebendig ward, abgesprochen wird. […] Denn es ist eine fable convenue, gegen die Paul Heyse sich gelegentlich mit Eifer, öfter mit der ruhigen Gelassenheit eines Großen, der sich kennt, gewendet hat, es ist eine überkommene Weisheit ohne Wahrheit, daß dieses Glückskind kampflos rasch zu hohen Zielen gekommen sei und dann nur läßlich immer wieder die junge Meisterschaft zu bewähren brauchte« (Spiero, Paul Heyse, S. 1 f.). Ähnlich argumentieren Berbig und Hettche, um zu erläutern, weshalb es notwendig sei, Heyses Tagebücher zu erschließen (Berbig und Hettche, Die Tagebücher Paul Heyses und Julius Rodenbergs, S. 106). 43 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 363. Briefe sind gattungs- sowie genreübergreifend zentrale Entscheidungsmedien. 44 Aussagekräftig ist, dass sich wiederum im Repertorium zu Petzets Nachlass ein Vermerk findet, der dokumentiert, dass sich Petzet bemühte, Heyses Briefe vollständig zu sammeln: »Korrespondenz über Antwort auf den Aufruf zur Sammlung von Heyse-Briefen. (1914-1925)«. Dieser Vermerk belegt gleichfalls den Wert, der diesen Briefen bereits damals zukam (vgl. Petzet, Nachlass von Erich Petzet). 45 Petzet, Dichter oder Wissenschaftler?, S. 431.
267
v. pau l h eyse
Petzets interpretierender Ankündigungstext lässt drei Schlussfolgerungen zu: (1) Petzet bewirbt Heyses Autobiografie buchmarktorientiert mit der singulären, archivierten, erstmalig edierten und autodiegetisch dargebotenen Berufsentscheidung, und (2) er wertet seine nachgereichte Teiledition, die er als solche nicht zu erkennen gibt, zu einem luziden Schlüsseltext auf, der für etwaige Forschungsvorhaben eine zugängliche Hilfestellung und zumindest für Dilthey das Element für eine »wissenschaftliche Erkenntnis« darstellt.46 (3) Ferner gibt Petzet Heyses Tragödie Francesca von Rimini als Schlüsseltext aus, dessen Genese einer Entscheidung entsprungen sei. Dieser Zusammenhang verdeutlicht eine traditionelle Tendenz, die Hans-Martin Kruckis für Biografien des 19. Jahrhunderts feststellt: »Die Werke werden […] zum Beleg des Inneren des Künstlers, dem von nun an das Hauptinteresse gilt. Damit ist die Tradition der Leben-und-Werk-Biografie, wie sie für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist, […] angelegt«.47 Stellt man Petzets kleinformatiges, wirk- und werkmächtiges Editionsprogramm Diltheys Archive für Literatur zur Seite, erhält die zweite Schlussfolgerung nachlassstrategisches Gewicht, denn dem Lesepublikum wird authentizitätsstrategisch ein Beleg »wahrhaftiger innerer Erfahrung« versprochen,48 wenn Petzets Formulierung »der warme Dankbrief vom 20. I. 1850« daran er innert, wie Dilthey ein privates Archivale klassifiziert: Es »gibt die quellenmäßigen Belege, […] ergießt Farbe, Wärme und Wirklichkeit des Lebens«, macht »die[ ] wirkenden Kräfte wieder sichtbar«, ermöglicht »den intimsten Einblick in das Leben des Dichters«.49 Eigenschaften und Potenziale, die Dilthey Archivalien schwärmerisch zuspricht und die ihm zufolge Manuskripte besonders archivwürdig machen, denn mit ihnen lassen sich Zusammenhänge zwischen Werk und Biografie überhaupt erst konstruieren: Wir verstehen ein Werk aus dem Zusammenhang, in welchem es in der Seele seines Verfassers entstand, und wir verstehen diesen lebendigen seelischen Zusammenhang aus den einzelnen Werken. Diesem Zirkel in der hermeneutischen Operation entrinnen wir völlig nur da, wo Entwürfe und Briefe zwischen den vereinzelt und kühl dastehenden Druckwerken einen inneren lebensvollen Zusammenhang herstellen.50
46 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 363. 47 Kruckis, Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert, S. 556. 48 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 364. 49 Ebd., S. 363-365. 50 Ebd., S. 364.
268
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Petzet legt mit seinem nachträglich edierten Zusatzmaterial eine Spur, die vom ›kalten‹ Druckwerk zum ›warmen‹ Manuskript führt und navigiert das Lesepublikum zumindest in ein ›Archiv für Literatur‹; möglicherweise appelliert er direkt wie der Autobiograf Heyse indirekt an Geisteswissenschaftler etwaige hermeneutische Forschungsvorhaben anzugehen. Es lässt sich vermuten, dass Heyse seine fünfte Auflage bewusst um ausgewählte Erstpublikationen ergänzt, da ihm ebendieser wissenschaftliche Trend vertraut ist und er ihn zu bedienen weiß. Zentral ist, dass Petzet vornehmlich Heyses Berufsentscheidung thematisiert, weil diese innerhalb einer prä figurierten Berufsgeschichte als Berufungsgeschichte einen eklatanten und nachträglich gesetzten, ereignishaften Einschnitt markiert. Das szenische Potenzial des Briefs wird bereits Heyse kalkuliert haben, nachdem er 1894 in einem Brief an Wilhelm Bolin potenzielle autobiografische Projekt vorhaben aufgrund der »äußere[n] Ereignißlosigkeit [s]eines Lebens« verwirft.51 Der zitierte Brief relativiert erfolgreich eine »äußere Ereignißlosigkeit« und ›bezeugt‹ eine krisenhafte, »wahrhaftige[ ] innere[ ] Erfahrung«.52 Demzufolge gibt Heyse seinen Jugenderinnerungen topische und zugleich singuläre Bekenntnisse bei. Die angewandte bricolage führt in einem Entscheidungsmoment archivarische, kuratorische sowie editorische Praktiken und nicht zuletzt Literatur als »ernste Arbeit« (JBV, 204) vor. Während sich die autodiegetische Figur in der fünften Auflage innerhalb des eingeblendeten Briefes dezidiert für den Schriftstellerberuf und gegen eine Wissenschaftskarriere entscheidet, hält 51 Paul Heyse an Wilhelm Bolin, 13. November 1894, S. 238. Heyse stellt auch in Meine Erstlingswerke seine Berufsentscheidung vor, die dort ebenfalls mit seiner durch den Vater besorgten Erstpublikation zusammenfällt (vgl. Heyse, Meine Erstlingswerke, S. 58). Berbig und Hettche betonen in ihrer Studie die Diskrepanz zwischen inneren »Krisen« und scheinbar äußerer »Ereignißlosigkeit«, die in Heyses Leben vorherrschte, und begründen damit die Notwendigkeit, Heyses Tagebücher zu erschließen: »Aus Heyses Tagebüchern lassen sich seine privaten Lebens umstände rekonstruieren […]. In den kargen Tagebuchnotizen werden die Reflexe psychischer und physischer Gefährdungen und Krisen sichtbar, die man dem Werk sowohl in seiner Quantität wie in seiner formalen Qualität nicht anmerkt und die man über dem auf den ersten Blick so glücklichen Lebenslauf oft vergißt« (Berbig und Hettche, Die Tagebücher Paul Heyses und Julius Rodenbergs, S. 106). Berbig und Hettche ist hier teilweise zu widersprechen, denn zumindest in der fünften Auflage sind die »Krisen sichtbar«, und Heyse nutzt respektive beweist mit dieser die »formale[ ] Qualität« einer Krise. Wegweisende Krisen stellen Berbig und Hettche wie bereits Heyse als Kriterium dar, das die Autorfigur kulturhistorisch relevant und für ein zukünftiges Lesepublikum interessant werden lässt. Zugleich sind die durchlebten Krisen ausschlaggebend für ein Editionsvorhaben. 52 Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 364.
269
v. pau l h eyse
der autodiegetische Erzähler die Alternativen mithilfe der bricolage weiterhin präsent, denn mit dieser konturiert er synoptisch seine literarischen und literaturwissenschaftlichen Praktiken und das latente Doppelleben (vgl. JBV, 333) seiner autobiografischen Figur als Poet, Philologe und Archivar seiner Selbst. Indem die autobiografische Figur sich als Archivar und den archivarischen Wert seiner Manuskripte inszeniert, knüpft sie an ein erfolgversprechendes Konzept an. Laut Lepper »[konnte] Goethe […] im 19. Jahrhundert nicht zuletzt deshalb zum Leitgegenstand der modernen deutschen Philologie werden, weil er selbst für ein monumentales Archiv gesorgt hatte«.53 Doch zurück zu den »Pforten des Paradieses« (JBV, 84), die sich dem »siebzehnjährige[n] Student[en]« Heyse mit Franz Kuglers Bekanntschaft öffnen und die ihm Kunst zur Religion werden lassen.54 Dreierlei Referenzen fügt der Autobiograf diesem Lebensabschnitt bei: (1) Der paradiesische Garten ruft Augustins Berufungsszene auf,55 (2) mit der »vita nuova« verweist er auf Dante Alighieris Vita Nuova und auf sein philologisches Romanistikstudium sowie seine poetische Profession, die Heyses literarische und literaturwissenschaftliche ›Liebe zur Sprache‹ kennzeichnen und (3) Heyse revidiert indirekt den Sündenfall; nunmehr birgt erlerntes, verfügbares Wissen inkludierendes Potenzial. Gleichfalls wird Kugler zur wegweisenden Instanz, die den individuellen Entscheidungsspielraum merklich einschränkt. Der Verweis auf Dante referiert ebenfalls auf Heyses erste Tragödie Francesca von Rimini, für die Dantes Divina Commedia eine entscheidende Vorlage darstellt und die Heyse als Schlüsseltext für seinen Entscheidensprozess erklärt.56 Der Erzähler erhebt Kugler zum Ahnherrn seiner zukünftigen Berufs- und Eheentscheidung und das »Kuglersche[ ]
53 Lepper, Goethes Euphrat, S. 31. Lütteken betont, dass diese Pionierleistung nicht Goethe allein vollbracht habe und zugleich sei die blühende »Macht der Philologen« ausschlaggebend gewesen, damit Archivierungspraktiken institutionalisiert werden konnten (Lütteken, Das Literaturarchiv, S. 76 f.). 54 Vgl. zum Ausdruck ›Kunstreligion‹ exemplarisch: Sina, Kunst – Religion – Kunst religion. Mehrfach wird die literarische Arbeit als Therapeutikum dargestellt. 55 Patricia Oster und Karlheinz Stierle bestimmen Augustinus’ Bekehrung als »Urszene der Berufung« (Oster und Stierle, Vorwort, S. 7). Vgl. Wagner-Egelhaaf, »Du hast dich gegen Gott entschieden«; Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 23-26; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 113 f.; Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, S. 360-363. 56 Zu Dantes Divina Commedia als Vorlage vgl. Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 208.
270
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Haus[ ]« wird dem Konzept der Wahlverwandtschaft folgend zum »zwei te[n] Elternhaus« (JBV, 102): Der Hausherr selbst, 1808 in Stettin geboren, stand damals in der Vollkraft seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit und als vortragender Rat im Kultusministerium auf der Höhe seiner Wirksamkeit auf vielen Gebieten künstlerischer Kultur, da sein Chef, der Minister von Ladenberg, ihm das größte Vertrauen in seine Einsicht und Redlichkeit bewies. Neben der Vollendung und immer neuen Bearbeitung seiner bahnbrechenden kunstgeschichtlichen Werke, neben den Aktenstößen, die sich auf seinem Pulte häuften, fand aber der so vielfach Begabte noch Zeit zu dichterischen Aufgaben, und dieser unwiderstehliche Nebentrieb seiner Natur war es auch gewesen, was ihn mit dem um sieben Jahre jüngeren Geibel zu sammengeführt hatte. Mit anderen künstlerischen Gefährten, darunter vor allen dem Malerdichter Robert Reinick, dem Architekten Strack, dem Bildhauer Drake, hatte Kugler schöne Lehr- und Wanderjahre genossen und in den verschiedensten Künsten sich versucht. [….] Er sammelte seine Kräfte zu gründlichen Studien der Kunstgeschichte, einer Wissenschaft, die damals noch in den Windeln lag, und um deren rasches Aufblühen er im Wetteifer mit seinem Freunde Karl Schnaase sich ruhmvoll verdient machen sollte. […] Das Kuglersche Haus war damals der Sammelpunkt eines ganzen Schwarms aufstrebender junger Leute, die sich freudig als seine Schüler bekannten. Der bedeutendste darunter, Jakob Burkhar dt, geboren 1818, konnte schon für einen jungen Meister gelten und stand dem älteren Freunde mit eigenem Urteil und einer Fülle aus eigener Hand erworbener Kenntnisse zur Seite, so daß Kugler ihm die Bearbeitung der zweiten Auflage seiner ›Geschichte der Malerei‹ anvertrauen konnte, für die Burkhardt aus frischen eigenen Studien in Italien ein großes Material der wertvollsten Notizen gesammelt hatte (JBV, 77-80). Indirekt greift Heyse in der zitierten Passage bereits Goethes Motiv der »Lehr- und Wanderjahre« auf, das in der Autobiografie durchweg wachgehalten wird, wenn Heyse sich mit seinem ersten Pseudonym als »fahrenden Schüler« tituliert (JBV, 108, 114, 177, vgl. ebd., 188), seine die Berufsentscheidung vorbereitende Italienreise als »Wanderjahr[ ]« (JBV, 183) bezeichnet, das seine »Lehrjahre« (JBV, 119) beschließt, und sich als autobiografische Figur in Szene setzt, die romanhafte, intertextuelle Merkmale aufweist. Mit dieser Passage verdeutlicht der Erzähler zudem, dass kulturwissenschaftliche Studien an archivarische Praktiken gebunden sind und skizziert sich als einen frühen Beobachter kulturgeschichtlicher For271 https://doi.org/10.5771/9783835349148
v. pau l h eyse
schungs- und Editionsprojekte.57 In Kuglers Haus trifft Heyse erstmals auch auf Friedrich Eggers, Wilhelm Lübke, Richard Lucae, Theodor Fontane und Adolf Menzel. Wie bereits seine Mutter steht seine zukünftige Schwiegermutter als »Tochter Eduard Hitzigs« auf einem ruhmversprechend kultivierten, literarischen Sockel und wird als Patin präsenter »Erinnerungen« an ihren Vater und dessen »berühmte[ ] Freunde E. T. A. Hofmann, Zacharias Werner, vor allem den edlen Chamisso« figuriert. Der Erzähler fügt dieser Auflistung hinzu: In solcher Umgebung war Franz Kuglers Frau aufgewachsen, ein Poetenkind, an dessen Wiege Dichter gestanden hatten. Auch ihr Vater, der alte ›Ede‹, hatte sich als Dichter versucht. Sie selbst aber hatte von dem Kastalischen Quell, der durch ihr väterliches Haus rauschte, nur so viel gekostet, um ihren Sinn für alle Schönheiten der Dichtung zu läutern und den Instinkt für das Echte und Große zu befestigen (JBV, 81). Wie Heyses Mutter ist Heyses Schwiegermutter literarisch geübt,58 ohne jedoch in dem Feld beruflich tätig zu sein. Ein erprobtes und gleichermaßen konservatives Modell, das auch in seiner Ehe fortlebt, wenn der Erzähler die Arbeitsteilung skizziert und notiert, »meine Frau war durch häusliche Pflichten, ich selbst durch meine Arbeit in Anspruch genommen« (JBV, 51).59 Der Ausdruck ›häusliche Pflichten‹ lässt kaum ahnen, dass darunter Tätigkeiten des Lektorierens und Archivierens fallen. 57 Ergänzend kann hier angemerkt werden, dass Heyse nach Kuglers Tod brieflich Burckhardt bat, die Nachlassverwaltung zu übernehmen: »So liegen die Dinge und ein rascher Entschluß ist vonnöthen. Ich unterlasse jegliche Appellation an Pietät und alte Freundschaft. Du bist Du. Das aber bitte ich Dich zu erwägen, daß wirklich, wie auch Schnaase im Moment erkannte, außer Dir Niemand das volle Zeug dazu hat, für Franz einzutreten. Lübke hat es selbst entschieden ausgesprochen, daß er auch für die Baugeschichte sich durchaus unzulänglich fühle. […] Und wer ist sonst da, an den man nur von fern denken könnte? Wenn Du, was unser innigster Wunsch ist, Dich zur Uebernahme dieses Vermächtnisses entschließest, so werden Dir sofort sämtliche Manuskripte und Materialsammlungen überschickt werden« (Paul Heyse an Jacob Burckhardt, 28. März 1858, S. 44 f.). 58 Selbst seine Mutter, die eifrig lese und seinen Werdegang mit »kritiklose[r] Überschwenglichkeit« (JBV, 23) verfolge, mache sich durch störendes Verhalten und unwissenschaftliche Tätigkeiten wie etwa Stricken bemerkbar (vgl. JBV, 125). Eine nennswerte Ausnahme stellt Fontanes Autobiografie dar, denn ebendort nennt der Autor explizit Emilie Fontanes Anteil sowohl an seiner Werkproduktion als auch -organisation, somit auch an seinem Erfolg (vgl. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 360). 59 Heyse führt diese Rollenaufteilung fort, wenn er beschreibt, dass, während die Männer eigene Werke darbrächten, die »Frauen mit einer Handarbeit« beschäftigt gewesen seien (JBV, 86). In seiner Autobiografie wird Heyses »Engagement für die
272
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Auch seine zweite Ehefrau integriert Heyse in sein literaturhistorisches Familiennetz und verschweigt nicht, dass auch in Anna Schubarts Familie Dichter zu finden seien (JBV, 316). Dennoch bemängelt der Autobiograf, dass seine Ehefrau »nicht unter so vorwiegend literarischen und künstlerischen Einflüssen aufgewachsen war, wie sie in [s]einem Kreise gepflegt wurden« (JBV, 316), ausreichend waren ihre Kenntnisse jedoch für eine Grundbedingung des Eheglücks: »ein inniges Einverständnis in allen künstlerischen Dingen« (JBV, 319). Diese Charakterisierung lassen Anna Heyses archivarische und lektorierende Tätigkeiten, die sicherlich nicht erst nach dem 2. April 1914 einsetzen, fast unerwähnt. So werden sie dort kein expliziter Bestandteil der vorgelegten Werkbiografie oder gar werkkonstitutiver Fakt.60 Demgegenüber wesentlich gewissenhafter zählt Heyse all jene prominenten ›Geistesgrößen‹ auf, die »in dem einfachen Wohnzimmer der Mama Schubart« als ›Lehrmeister‹ auftreten: Ich nenne hier nur den geistvollen Historiker Dr. Thomas, den später an der Leipziger Universität glänzenden berühmten Anatomen Thiersch, den Anatomen Rüdinger, ferner Adam v. Doß, Schopenhauers frü hesten und eifrigsten Schüler, vor allem den eigenen Schwiegersohn, Dr. Herrmann, der als glänzender Anwalt und freisinniger Politiker in großem Ansehen stand, […] alle diese Männer […] hatten dafür gesorgt, dass die Kinder ein Bedürfnis nach höherer Bildung erhielten. […] Auch Mädchenbildung«, die Ingrid Rückert anführt, weder thematisiert noch annähernd ersichtlich (Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 197). Später betont Heyse, dass bei den Symposien in München keine Frauen anwesend gewesen seien (JBV, 241 f.). Seine Förderung durch Fanny Lewald-Stahr bleibt konsequent unerwähnt. 60 In der Autobiografie erwähnt der autodiegetische Erzähler einmalig, dass Kurz für ihn ein wegweisender Editionsberater gewesen sei und Texte erst ediert worden seien, wenn »[s]eine Frau und Freund Laistner, ihr Placet« ausgesprochen hätten (JBV, 331). Anna Heyses Nachlassverwaltung erwähnt demgegenüber Petzet dankend im Vorwort zu Geibels und Heyses Briefwechsel (vgl. Petzet, Vorwort, S. 7). Rückert betont die archivarische Leistung, die Anna Heyse zeitlebens erbracht habe (Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 201-203). Anna Heyses Bemühungen werden auch in einem Brief Heyses an Fontane deutlich, in dem er Fontane um Korrekturen bittet: »Wenn Du beim Lesen auf einem Blatt notieren wolltest (mit Angabe meiner Seitenzahlen), was Dir auffällt, so könnte ich in der Fahnenkorrektur bequem Deine Desiderien berücksichtigen. Daß ich das Manuskript noch nicht wieder durchgelesen, sondern nur meiner Frau und meinem Freund Laistner zur Begutachtung vorgelegt habe, mußt Du Dir immer gegenwärtig halten, um über Unebenheiten des Stils nicht zu stark den Kopf zu schütteln« (Paul Heyse an Theodor Fontane, 19. April 1886, S. 172 f.).
273
v. pau l h eyse
die Poesie kam einigermaßen zu ihrem Recht, denn mit klassischen Dichtungen hatte der Schwiegersohn früh auch die jüngeren Töchter bekannt gemacht, da er es liebte, Shakespeare und Goethe vorzulesen. Die Mutter eine eifrige Leserin, kannte manches von meinen Sachen und hatte, da sie sehr vorurteilslos war, auch die Lektüre der Tochter nicht streng überwacht […]. Von meinen Büchern aber hatte sie noch kaum eins gelesen und nicht ein einziges meiner Dramen aufführen sehen (JBV, 317 f.). Shakespeare, Goethe, Heyse – eine relationale Reihung, die sich in der Autobiografie variantenreich in Form einer kompositionellen Motivierung wiederholt. Nachdem Kugler erneut mit Goethe in ein Näheverhältnis gesetzt und Emanuel Geibel mit Friedrich Gottlieb Klopstock verglichen wurde (JBV, 89), erwähnt Heyse, wie er, Geibel und Kugler sich gegenseitig in peripatetischem Geiste auf Spaziergängen inspiriert hätten. Heyse betont bereits hier die prägende Freundschaft zu Geibel, den er ebenfalls zu einem Wahlverwandten (v)erklärt und bekundet: »fest[ ] verband mich mit ihm das Gefühl einer dankbaren, brüderlichen Liebe und Treue« (JBV, 88; vgl. ebd., 83, 241, 300).61 In seinen autobiografischen Lebensweg setzt der Erzähler konsequent Spuren, die zu Goethe führen, und stilisiert sich schrittweise als Goethes postumen Wegbegleiter und Nachfolger (JBV, 205 f., 234). Diesem Prinzip folgend bleibt nicht unerwähnt, dass die autobiografische Figur während des Italienaufenthalts Verwandte von Goethe getroffen habe (JBV, 155 f.). Einzelne Figuren und Ereignisse werden in einen lebens- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang gebracht und Heyses Autobiografie wird – pars pro toto – Teil einer typologischen, kollektiven Gesamt biografie kanonisierter Klassiker. Die Figur Geibel bedient dabei das Bild eines berufenen Poeten, für den eine akademische Ausrichtung undenkbar wäre, »wahrte doch der warme Pulsschlag seines Bluts sein Dichten vor der Erstarrung zu kühler akademischer Formschönheit« (JB, 89). Poesie und Philologie werden zugunsten einer Figurencharakterisierung binär gegenübergestellt. Diese Gegenüber61 Heyse betont unermüdlich die brüderliche Beziehung zu Geibel: »Es hatte nicht lange gewährt, so war mir von dem verehrten Freund und Meister das brüderliche ›Du‹ angetragen worden, in das ich mich trotz des Gefühls meiner Unterordnung leicht genug fand. Er hatte von Anfang an sein geistiges Übergewicht über meine grüne Primanerweisheit nie mit kühler Gönnermiene geltend gemacht, sondern nur wie der gereifte ältere Bruder gegenüber dem jüngeren« (JBV, 65). Papenheim legt in seiner historischen Untersuchung dar, dass »Brüderlichkeit […] eine gegenseitige durch Eid eingegangene Verpflichtung« gewesen sei, die aufgrund »reziproke[r] Verpflichtungen« nicht zuletzt dem beruflichen Fortkommen gedient habe (Papenheim, Freunde oder Brüder?, S. 46, 50).
274
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
stellung wird jedoch kurz darauf relativiert, wenn Geibel mit einer kritischen Konzeption seiner Gesamtwerke als beispielhafter Editionsphilologe vorgestellt wird, wodurch die Autobiografie sowie die integrierten Biografien stetig als Werkbiografien präsentiert werden: »Nicht minder erschien mir auch die strenge Selbstkritik verehrungswürdig, der er seine Dichtungen unterwarf, ehe er sie veröffentlichte. Seine ›Sämtlichen Werke‹ umfassen nur acht Bände« (JBV, 89). »[V]erehrungswürdig« erscheinen Geibels Werke besonders, nachdem Heyse »Geibels sechzigste Auflage« (JBV, 233) erwähnt und seine erfolgreiche Buchvermarktung vermerkt. Die binäre Gegenüberstellung wird im weiteren Erzählverlauf wiederholt punktuell relativiert, wenn Heyse Geibels »Professur der Literaturgeschichte und Poetik« in München nennt und unmittelbar Geibels Existenz als poeta philologus in Frage stellt: »Ob es dabei zu eigentlich wissenschaftlicher Arbeit, zumal im Gebiete der Literaturgeschichte, gekommen, weiß ich nicht zu ahezu sagen« (JBV, 198).62 Heyse beansprucht die skizzierte Doppelnatur n unbemerkt für seine eigene autobiografische Figur. Die Autobiografie gleichermaßen als Werkbiografie zu konzipieren, findet ein strukturelles Äquivalent darin, die Berufsentscheidung mit der Werkentscheidungen engzuführen. Wie eingangs bereits erwähnt, stellt Heyses Autobiografie eine Mischform aus wissenschaftlicher Studie, archivarischer Fundgrube und romanesken Erzählungen dar. So verweist Heyse auf Fontanes Autobiografie, wenn er seine Zeit im Tunnel über der Spree verkürzend schildert und für weitere Informationen dem Lesepublikum »ein anziehendes Kapitel« aus Von Zwanzig bis Dreißig nahelegt (JBV, 90). Heyse verknüpft hier nicht schlichtweg werkpolitisch zwei Autobiografien, er empfiehlt eine Autobiografie wie Maync später Heyses Autobiografie als kulturhistorisches Nachschlagewerk, in dessen ›faktualer Diegese‹ er selbst zum Figuren 62 Geibel schickt 1854 einen Brief an Heyse, in dem er seinen Freund und zukünftigen Kollegen berät. Beachtenswert ist, dass Geibel ihm primär eine konzentrierte und entschiedene Tätigkeit als Schriftsteller nahelegt, dabei allerdings keinesfalls empfiehlt, berufliche Alternativen zu verwerfen und die eigene Optionalität zu beschränken, wenn er folgendes an Heyse schreibt und ihn als poeta laureatus figuriert: »Du fragst, was man hier von Dir verlangt und erwartet. Ganz einfach: Nichts als Dich. Der König wünscht, daß Du Dich als Mensch und Dichter (der Gelehrte läuft nebenher) zu Deiner und allerdings auch zu seiner Ehre gedeihlich fortentwickeln mögest […]. Jedenfalls aber rate ich Dir als Freund, auf Deiner Honorarprofessur zu bestehen, und zwar die Sache jetzt gleich in Ordnung zu bringen […]. [G]reif zu und schmiede das Eisen, da es heiß ist. Später könnte es – aus Gründen – sehr schwierig werden, an der Universität anzukommen« (Emanuel Geibel an Paul Heyse, München, März 1854, S. 91).
275
v. pau l h eyse
repertoire, zu »besonders interessanten […] Tunnelgenossen« und potenziell zu einem Zirkel zukünftiger Klassiker gehört (JBV, 93).63 Dass es sich dabei um einen exklusiven Zirkel innerhalb eines Vereins handelt, wird durch das bewährte komparatistische Erzählverfahren betont, denn mit diesem verdeutlicht der Erzähler, dass »die wirklichen Talente natürlich in der Minderheit [waren]« (JBV, 91). Das Ergebnis einer intradiegetisch vergleichenden Lektüre lässt die autodiegetische Figur nochmals als besonders talentiert aufscheinen und einen Wettstreit im Tunnel über der Spree gewinnen. Mit dieser Anekdote stellt der Erzähler explizit sein exklusives Talent aus und schöpft aus dem reizvollen Potenzial bislang unveröffentlichter Texte, denn wer fortan wissenschaftlich sauber arbeiten und fachgerecht zitieren möchte, der ist gezwungen, Heyses Autobiografie zu konsultieren (vgl. JBV, 237 f.). Eine unwissenschaftliche Praxis, wie sie Heyse annotiert, kann nunmehr vermieden werden: »Die Verse, mit denen ich siegte, sind mehrfach ungenau zitiert worden, so daß sie hier im richtigen Wortlaut stehen mögen« (JBV, 98; vgl. auch 93 f., 324-326). Heyse ergänzt diese Anekdote um eine zweite und publiziert sogleich den erfolgreichen Text, der ihn einen Wettstreit gewinnen ließ, ebenfalls erstmalig für die »Nachwelt« in seiner Autobiografie (JBV, 221 f.). Fontanes Von Zwanzig bis Dreißig ergänzt der Erzähler nebstdem um ein nachträglich korrigierendes ›Figurenwissen‹,64 sichert sich kraft eines Vergleichs eine autoritative 63 Ähnlich verfährt Heyse später, wenn es um den literarischen Verein Krokodil in München geht: »Julius Grosse, der im Jahre 1905 als Generalsekretär der Weimarer Schillerstiftung starb, hat in seinen ›Lebenserinnerungen‹ (›Ursachen und Wirkungen‹. Braunschweig, Georg Westermann. 1896) die Lebensgeschichte des Krokodils, sein Wachsen, Blühen und endliches Absterben ausführlicher behandelt« (JBV, 231). Heyse stellt den Verein und seine Autorfigur explizit in einen archivarischen, archivhistorischen sowie literaturgeschichtlichen Kontext. 64 Heyse verweist wiederholt auf Autobiografien und Biografien, die er ergänzt und korrigiert. Auf diese Weise stellt er seine Autobiografie als gewissenhaftere Studie aus. Indem er die ›Gewissenhaftigkeit‹ seiner Darstellung betont, referiert er auf eine zentrale wissenschaftliche Tugend der Philologie. Diese Referenz ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Heyse hier den Wissenschaftscharakter des eigenen Werks hervorkehren möchte. Beispielhaft zeigt sich dies, wenn er Gaedertz’ Biografie um exklusives Wissen korrigierend ergänzt: »Daß das anmutige Stück, wie Geibels Biograph Gaedertz berichtet, 1847 in acht Tagen geschrieben worden sei, ist bei der langsamen, schwerflüssigen Art, wie Geibel arbeitete, nicht denkbar« (JBV, 70). Heyse gibt ebenfalls Hinweise, welche Werke zu konsultieren seien, um sich über den Münchener Literaturbetrieb zu informieren (JBV, 204 f.). Mit dem Figurenwissen der Autorfigur wird das »Wissen im Rezeptionsprozess [modifiziert]« und Heyse wird als ›zuverlässiger‹ Erzähler und »gewissenhafter Chronist« (JBV, 230) vorgestellt (Jappe, Krämer und Lampart, Einleitung, S. 14). Würde Petzet auch den Brief Carl Heyses, der in der Autobiografie ausschnitthaft zitiert wird, vollständig
276
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Kommentierung sowie seine literaturwissenschaftliche Expertise, die er mitunter durch genaue Belegstellen und eingespielte Rezensionen demonstriert (vgl. JBV, 90 f.): Wie hoch im Lauf der Zeit die Kraft charakterisierender Darstellung selbst des Alltäglichsten bei ihm sich entwickelte, wie er insbesondere seinen Menschenblick schärfte, zeigen, um nur ein Beispiel anzuführen, die Porträts, die er von besonders interessanten und ihm nahestehenden Tunnelgenossen entwarf (»Von Zwanzig bis Dreißig«, S. 195-378). Da mir all diese Charakterköpfe wohlbekannt sind, kann ich die Schärfe und Feinheit jedes Zuges beurteilen und neben der Richtigkeit der Auffassung die hohe Billigkeit im Urteil, die überlegene Sicherheit in der Verteilung von Licht und Schatten nicht genug bewundern. Dazu der von eigentlich literarischer Präzision vollkommen freie Stil, ein beständiges parlato, wie es auch in seinen von Witz und Ungebundenheit funkelnden Briefen so liebenswürdig erscheint, wenn auch zuweilen ein Berlinischer Bummelton durchklingt. So hat er in diesen Konfessionen, in denen er auch seine Schwächen und Menschlichkeiten schonungslos preisgibt, neben der endlosen Reihe glänzender Porträtfiguren auch sein eigenes Bild treu nach dem Leben gezeichnet, und die wachsende Popularität, die seinem Namen zuteil geworden, heftet sich meines Erachtens noch mehr als an seine Werke an den unvergleichlichen Zauber seiner Person, der durch alles, was von intimen Zeugnissen seines Lebens besonders auch in seinen Briefen nach und nach zum Vorschein kommt, an Wärme und Lebendigkeit immer noch zunimmt. Aus diesem Grunde werden auch seine Wanderbücher wohl unbestritten ihren Rang über allen ähnlichen »Reisebildern« behaupten, da die Figur des Dichters zwischen allem, was er sieht und erlebt, mit seinen hellen Augen und dem nie vordringlichen, stets aus der Sache entspringenden Humor ihren Reiz behalten wird« (JBV, 93 f.). Heyse, der laut Urszula Bonter für seinen Roman der Stiftsdame »zum wiederholten Mal Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg las«,65 vergleicht sich geradewegs mit Fontane und profiliert sich gegenüber seinem Kollegen als potenziellen Klassiker:
herausgeben, würde er damit womöglich Heyses Nachlassstrategie durchkreuzen. Mit seiner ergänzenden Teiledition fördert Petzet diese aber vielmehr wesentlich. 65 Vorzugsweise ›funkelt‹ ein Schatz und als solchen weiß Heyse seine Korrespondenz mit Fontane marktbewusst einzuschätzen. Bonter, Das Romanwerk von Paul Heyse, S. 112.
277
v. pau l h eyse
Unsere Naturen waren allzu verschieden. Für das, was mir schon früh als das Höchste in Kunst und Poesie erschien, hatte er nur eine respektvolle Hochachtung, da er im Erhabenen, ohne sich darüber klar zu werden, stets etwas wie Pose witterte. Er hatte freilich nie den Einfluss der antiken Dichtung erfahren, da er in einer Gewerbeschule für den Apothekerberuf vorgebildet worden war. Auch als er gegen das achtundzwanzigste Jahr diese Fessel abschüttelte, sich ganz auf sein schriftstellerisches Talent stürzend, fehlte unter den Bildungsstoffen, die er nach wie vor reichlich in sich aufnahm, unter anderm auch alles, was zu philosophischer Betrachtung der Weltprobleme anregen könnte (JBV, 92-94).66 Mit dieser Passage entwirft Heyse eine autobiografische Figur, die als zentraler Protagonist einer komparatistischen Literaturgeschichte angelegt ist und zum Figurenrepertoire zahlreicher Autobiografien und Biografien gehört.67 Etwa hundert Seiten später führt Heyse den Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Bernhard von Lepel als kulturhistorisch bedeutendes Beispiel an und steigert auf diese Weise indirekt den Wert des noch unveröffentlichten Briefwechsels zwischen ihm und Fontane: 66 Heyse nutzt diese Passage auch zu einem indirekten Vergleich mit Fontane. Dieser Vergleich stellt nochmals Heyses Bildungsgut und literaturwissenschaftliches Profil vor. Gemäß dem Autorschaftsmodell eines poeta doctus betont Heyse seine »enzyklopädische Bildung, kritische Urteilsfähigkeit und umfassende Kenntnis der lit. Tradition«, die ihn gegenüber Fontane auszeichnen (Löffler, poeta doctus, S. 591). Wenig später erinnert der autodiegetische Erzähler an Fontanes Vorstellungs gespräch in München und wie dieses mit einer Absage für Fontane geendet habe. Aus diesem indirekten Vergleich entlässt der autodiegetische Erzähler erneut seine autobiografische Figur als erfolgreichen respektive erfolgreicheren Schriftsteller (vgl. JBV, 249 f.). 67 Wie bereits gegenüber Felix von Stein und Theodor Fontane qualifiziert sich Heyse gegenüber Scheffel oder Dingelstedt, indem er diese und ihr literarisches Talent disqualifiziert (vgl. JBV, 168, 214). Selbst Geibel bleibt nicht verschont (vgl. JBV, 68 f., 71). Eins ist Heyses gewählten Vergleichsfiguren gemein, sie verehren Heyse und sind überzeugt von seinem Talent (JBV, 91 f., 216). So auch sein langjähriger Freund Endrulat, der Kuglers Haus nicht betreten durfte: »Der Verkehr mit Endrulat hörte zwar nicht auf, da wir uns von Herzen zugetan waren. Doch da Geibel nicht daran dachte, auch ihn bei Kugler einzuführen, blieb ihm der Kreis in dem ich nun meine reichsten Eindrücke und die unschätzbarste Förderung in aller künstlerischen Bildung empfing, verschlossen. Seine anima candida war ganz frei von Neid und Eifersucht. Sein Leben lang hat er mit brüderlicher Wärme zu mir gestanden und mir noch durch die Widmung seiner zweiten Gedichtsammlung, der ›Geschichten und Gestalten‹ (Hamburg, 1862), bewiesen, daß er der Jugendfreundschaft Treue gehalten. Im Jahre 1857 erschienen seine ›Gedichte‹, ›den deutschen Männern Ernst Moritz Arndt und Ludwig Uhland‹ gewidmet« (JBV, 74). In einer Fußnote legt Heyse abschließend Endrulats beruflichen Werdegang dar.
278
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
Wie ernst es Freunde mit gegenseitiger Kritik ihrer dichterischen Arbeiten nahmen, wie unumwunden sie sich aussprachen und selbst die völlige Verwerfung nicht als Kränkung empfanden, sieht man in einem höchst interessanten Beispiel aus den Briefen Bernh. v. Lepels an Theodor Fontane (Vierzig Jahre B. v. Lepel von Th. Fontane, Berlin, F. Fontane & Co. 1901) (JBV, 203). Den Hinweisen auf Briefspezifika sowie Reisebilder kommt eine ökonomische Komponente zu, denn zu dieser Zeit arbeiten Fontanes Kinder, die seinen Nachlass verwalten, an einer Gesamtausgabe zu dessen Werken. Für diese möchte Heyse seine Briefkorrespondenz mit Fontane nicht freigeben und sorgt für eine prominente Lücke, die er allein mit dem Inhalt seines Correspondenzschranks schließen kann. In diesem Möbel archiviert Heyse sorgsam Fontanes »von Witz und Ungebundenheit funkelnde[ ] Briefe[ ]« und lässt das Lesepublikum ahnen, dass aus seinem Correspondenzschrank bislang Unpubliziertes »nach und nach zum Vorschein kommt« (JBV, 93 f.). Hiermit mag sich auch erklären, weshalb Heyse beharrlich bislang unpublizierte Texte in seiner Autobiografie erstmalig herausgibt und diese singulären Editionsentscheidungen ebenso beharrlich als zitierfähige Ausgabe für die – möglicherweise zitierfreudige – Nachwelt ausstellt. Tatsächlich sind die erstmalig edierten Archivalien weniger kontingente, unbedachte Einsprengsel, die einer rein mentalen Erinnerungsleistung entspringen, oder topische Elemente einer bekenntnishaften Rhetorik als vielmehr gezielt gesetzte und kompetent kuratierte Erstpublikationen eines »Verkaufsstratege[n]« (JBV, 113, 118),68 die dabei helfen sollen, mit dem Reiz der bislang geheim gehaltenen, privaten und sorgsam verschlossenen Archivalien ein breites Lesepublikum neugierig zu stimmen, etwaige Forschungsvorhaben zu mobilisieren und einen autobiografischen Pakt zu festigen. Eine solche Interpretation soll jedenfalls durch die hiesigen Vorschläge gestützt werden. Die regulierten Einblicke in sein Privatarchiv, die Heyse mittels punktueller Zitationen vornimmt und die er mithilfe kulturgeschichtlicher, autobiografischer und biografischer Inter- sowie Kontexte aufwertet, zeigen schier beiläufig, dass er die Wirk- und Werkmacht privater sowie institutionalisierter Archive zu nutzen weiß:69 Während Fontane und sogar Dilthey dankend die Einladung zur Eröffnung des Goetheund Schiller-Archivs absagen, nimmt Heyse geflissentlich die Einladung an und schreibt am 24. August 1896 an Bernhard Suphan: »Ich treffe schon 68 Bonter, Das Romanwerk von Paul Heyse, S. 113, 117, 248. 69 Vgl. hierzu exemplarisch: Horstmann und Kopp, Archiv – Macht – Wissen.
279
v. pau l h eyse
Abb. 6 und 7: Paul Heyse an Bernhard L. Suphan, Bayern 24. August 1896, GSA, Zusagen zur GSA-Einweihung, 150.A 53, 179 f.
am 26sten in Weimar ein, werther Freund, und werde der Einladung, an der Weihe des Hauses Theil zu nehmen, mit Vergnügen folgen«.70 Zuversichtlich hatte Heyse das archivarische Potenzial einer sich etablierenden Kulturinstitution im Blick, die für ihn das Versprechen verkörpert, ebenfalls ein ›Klassiker‹ und somit »zum epistemischen Objekt einer Philologie erhoben zu werden« oder zumindest zukünftig seine und Goethes Manuskripte ›Nachbarskinder‹ werden zu lassen.71 Zumindest war ihm 70 Paul Heyse an Bernhard L. Suphan, 24. August 1896, GSA, Zusagen zur GSA-Einweihung, 150.A 53, 179 f. Vgl. zu Heyses ausgeprägtem Nachlassbewusstsein und zur Gründung des Heyse-Archivs: Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners. 71 Wegmann, Klassiker werden?, S. 20. Die Bedeutung Goethes für Heyse erhebt Petzet zu einem die Autorfigur Heyse charakterisierenden Spezifikum: »So ist ihm Goethe in seinem ganzen Entwicklungsgang nicht Muster und Vorbild, sondern eine lebendige Kraftquelle. Das junge Dichtergeschlecht dagegen, wenn es sich überhaupt noch auf frühere Vorkämpfer besann, dachte höchstens an den jungen Goethe – den ganzen Goethe in seiner überlegenen Größe zu erfassen, wie ihm
280
v.1 en tsch i eden u n en tsch i eden
die kulturhistorische Tragweite des Archivs als Vorstandsmitglied der Goethe-Gesellschaft nicht unbekannt.72 Das sukzessiv erklärte Potenzial bislang unpublizierter Archivalien nutzt Heyse selbstkuratorisch für das zentrale Entscheidungsmoment seiner Autobiografie, das seine Berufung mit einer autonomen Berufs entscheidung ad acta legt. Heyse ermöglicht seiner autobiografischen Figur, sich mit einem entscheidensbedürftigen Scheidewegszenario in einer Krise zu bewähren und die Berufung um eine autonome Entscheidung zu ergänzen.
Heyse bei der Erschließung des Goethehauses in Weimar mit tiefem Einfühlen gehuldigt hat, das war ihm unmöglich« (Petzet, Paul Heyse, S. 761). 72 Vgl. Haideri, Die Kunst, eine Goethe-Organisation zu sein, S. 360.
281
v. pau l h eyse
V.2 Correspondenzschrank, öffne Dich! Exklusive Entscheidungsdokumente Das verlegerische Risiko einer weiteren Neuauflage seiner Autobiografie mindert Heyse eigenhändig, indem er dieser ein Entscheidungsmoment beigibt, mittels dessen er einen vor zwölf Jahren vorgelegten, gradlinig verlaufenden Berufungsmythos korrigiert. Martin Vöhler, Bernd Seidensticker und Wolfgang Emmerich halten zu ›Mythenkorrekturen‹ fest, dass »[d]ie Berichtigungen […] jeweils an einem markanten Punkt ein[setzen], so daß der Eingriff die wohlbekannten Geschichten in ein neues Licht rückt«. Hinzu komme, dass Mythen stets im »Modus der Variation« verfügbar seien.73 Ausschlaggebend für die vorliegende Studie ist, dass mitunter eben jene Erzähltechnik für eine Mythenkorrektur ausschlaggebend ist, die auch erzählten Entscheidensprozessen zukommt: die bricolage. Vöhler, Seidensticker und Emmerich führen aus, dass »Montage, Collage oder Bricolage zu drastischen Veränderungen der Referenzmythen [führen], deren Kern gleichwohl nicht tangiert wird und unangetastet bleibt«.74 Des Weiteren würden für Mythenkorrekturen »einzelne Motive und Momente umstandslos aus den mythischen Erzählungen herausgebrochen und miteinander kombiniert, teils auch mit mythosfremden Elementen aus dem zeitgenössischen Alltag oder aus der Zeitgeschichte versetzt«.75 Dieses Verfahren greift literarisierte Entscheidensprozesse auf, denn exemplarisch hierfür werden etwa in autobiografischen Entscheidensprozessen dezidiert ausgewählte faktuale Erzählbausteine eingefügt und als solche gewissenhaft markiert. Bemerkenswerterweise nutzt Heyse versiert ein Verfahren, das Mythenkorrekturen auszeichnet, um seinen beruflichen Entscheidensprozess darzustellen. Auf diese Weise ermöglicht er ein dialogisches Strukturelement, denn »[e]in konstitutives Moment der Mythenkorrektur besteht […] in ihrem notwendigen Rückbezug auf vorgegebene Texte und Bilder, d. h. in ihrer grundsätzlichen ›Dialogizität‹«.76 Häufig werden Textpassagen aus bislang unpublizierten Archivalien oder kanonisierten, literarischen Texten gewählt, die eine dialogische Struktur auf weisen, um einen Entscheidensprozess darzustellen. Beachtlich ist, dass der autodiegetische Erzähler Heyse erstmals mit den zitierten Archivalien regulierte, limitierte und exklusive Einblicke in sein 73 Vöhler, Seidensticker und Emmerich, Zum Begriff der Mythenkorrektur, S. 2. 74 Vgl. hierzu auch exemplarisch: Stierle, Mythos als »bricolage«. 75 Vöhler, Seidensticker und Emmerich, Zum Begriff der Mythenkorrektur, S. 5. 76 Ebd., S. 7.
282
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Privatarchiv gewährt. Heyse verknüpfte – sicherlich nicht zufällig – wenige Monate nachdem er sein Testament aufgesetzt hatte und zwei Jahre vor seinem Tod die eigene Autobiografie dezidiert mit seinem Archiv. Zugleich erläutert er mit punktuellen Erzählerkommentaren explizit und durch die bricolage implizit, wie sein autobiografisches Projekt an archivarische, editorische und kuratorische Praktiken gebunden ist. Die vorausschauende Nachlassorganisation erscheint als eine willkommene werk politische Zugabe. Erklärtermaßen präsentiert der Autobiograf mithilfe ausgewählter Archivalien die Entscheidung für den Schriftstellerberuf als einen lebenslauf- sowie werkkonstitutiven Entscheidensprozess, dessen materiale, mediale, faktuale sowie fiktionale Komponenten anhand einer retrospektiv ausgerichteten Synopse detailliert vorliegen. Die fünfte Auflage von Heyses Autobiografie wird Petzet eine Vor arbeit bieten, mit der er fortfahren kann, das bereits von Heyse konzipierte Heyse-Archiv mit autobiografischen und publikumsorientierten Medien formaten,77 mit »Medien der Autorschaft«,78 zu verbinden, die einen potenziellen Nachruhm zu sichern vermögen.79 Wissenswert ist, dass laut Bonter 77 Festgehalten werden muss an dieser Stelle, dass Heyse selbst die Gründung eines Heyse-Archivs veranlasst, dessen Gründung und Organisation Anna Heyse, seine zweite Ehefrau, als Ansprechpartnerin betreute. Bedeutend ist dies, weil sich in dieser organisierten Nachlassverwaltung nicht allein ein ausgeprägtes Nachlass bewusstsein zeigt, es ist wie in den zuvor genannten Beispielen die Ehefrau, die als Nachlassverwalterin maßgeblich an der Gestaltung und Aufbereitung eines Schriftstellerarchivs für etwaige Forschungsvorhaben verantwortlich ist. Vgl. zur Gründung des Heyse-Archivs: Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners. 78 Meyer, Tagebuch, S. 9 f. 79 Der Editionsbericht der Gesamtausgabe weist auf Petzets ausgeprägten Gestaltungswillen hin, der sich in seinem gestaltenden Umgang mit der Autorfigur Heyse und Heyses Werken zeigt: »Erich Petzet, der Herausgeber der ersten drei Reihen unserer Edition, hat für seine Fassung der ›Jugenderinnerungen‹ die Kapitel 1 bis 9 dem 1. Teil ›Aus dem Leben‹ der Fassung von 1912 entnommen; das 10. Kapitel ist hingegen eine Kompilation aus verschiedenen Vorlagen; Petzet trennte den letzten Abschnitt des 9. Kapitels der Originalausgabe ab und setzte ihn an den Anfang seines 10. Kapitels; es folgen zwei Passagen aus dem zweiten, in dem vorliegenden Band enthaltenen Buch ›Aus der Werkstatt‹; über diese Kompilation setzte der Herausgeber den eigenen Titel ›Bühnenschriftsteller und Theater‹! Die beiden Teile aus dem Werkstattbericht finden sich in unserem Band auf S. 103 f. und S. 105-108 (dieser Abschnitt wurde von Petzet leicht gekürzt). […] Vorangestellt wird das von Petzet ebenfalls übergangene Vorwort zur erweiterten 5. Auflage« (Bernauer und Miller, Anhang, S. 311. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle JBVn angegeben). Petzet scheint die archivarische, somit nachlasskonstitutive Funktion des auto biografischen Projekts bewahrenswert, denn das entscheidungsrelevante Kapitel der fünften Auflage ist auch in der Edition zu finden, die Petzet verantwortet (vgl.
283
v. pau l h eyse
»der Schriftsteller […] [es] hervorragend [verstand], noch während der Niederschrift seiner Romanmanuskripte eine offensive Werbung für sie zu betreiben«.80 Anhand ausgewählter Verlagskorrespondenzen und privater Briefwechsel ermittelt Bonter, dass Heyse den Buchmarkt äußerst genau kannte, was ihm dabei geholfen habe, seine eigenen Texte publikumswirksam, ökonomisch »kühl kalkulierend« auf ebendiesem zu platzieren.81 Bonter beschreibt Heyse diesbezüglich als »Verkaufsstratege[n]« sowie »alte[n] Meister [der Vermarktung]« und zeigt anhand eines Briefs an Marie von Ebner-Eschenbach exemplarisch, wie Heyse als »richtiger Buchhalter« seine Kollegin kompetent und geschäftstüchtig berät.82 In ihrer detaillierten Studie hat sie primär Heyses Romanwerk im Blick. Die organisierte Ausgabengestaltung der Autobiografie, seine entscheidungsförmigen Nachlassstrategien und schließlich die Buchmarktplatzierungen der einzelnen Auflagen bleiben dort unerwähnt.83 Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle JBP angegeben). Diese mühsame ›Kompilation‹ mag erklären, weshalb in der vorliegenden Studie die von Heyse mitherausgegebene fünfte Auflage – im stetigen Vergleich mit den vorherigen Auflagen – zitiert wird. 80 Bonter, Das Romanwerk von Paul Heyse, S. 248. 81 Ebd., S. 114. In seiner Autobiografie schildert Heyse wiederum seinen lebenslangen Förderer Geibel als kompetenten Berater. So gibt er just im Kapitel Bonner Studien, das seiner Berufsentscheidung gewidmet ist, Geibels erfolgsstrategischen Rat wieder: »Wiederholt hatte mich Geibel davor gewarnt, zu früh mit meinem Dichten hinauszutreten; ich sollte warten, bis ich, einen Schlag damit tun könne‹« (JBV, 98). Die Neugestaltung seiner fünften Auflage könnte man als einen solchen nachlassstrategischen »Schlag« bezeichnen. 82 Ebd., 113, 114, 117, 246-248. Auch Rückert hebt hervor, dass Heyse ein »gern gesuchter Ratgeber« gewesen sei (Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 207). Es scheint, dass der »Fabius Cunctator«, wie Georg Brandes ihn nennt, ein kompetenter Entscheidungsberater gewesen ist (Brandes, Paul Heyse, S. 403). Vgl. hierzu: Bonter, Das Romanwerk von Paul Heyse, S. 14. Vgl. hierzu auch: Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 207. 83 Selbst Petzet lässt die unterschiedliche Ausgabengestaltung in seinem biografischen Projekt unerwähnt; dies fällt besonders auf, nachdem er die Berufsentscheidung nennt, an Heyses erstes Drama rückbindet, dieses als Schlüsselwerk deklariert und sich dabei auf Heyses Autobiografie beruft: »Anders das Drama ›Franceska von Rimini‹, das stofflich durch das Dantekolleg von Friedrich Diez, innerlich durch das eigene Liebeserlebnis angeregt, erst nach der Heimkehr in Berlin zu Ende geführt wurde und mit seiner energischen Gestaltungskraft und rückhaltslosen Leidenschaft, Shakespeare nacheifernd, verkündete, daß die Zeit der Schule und der Kleinmeisterei vorbei war. […] Auch er selbst fühlte sich nun – die Bonner Erlebnisse hatten ihn darin entscheidend bestärkt – seines inneren Kampfes sicher« (Petzet, Paul Heyse, S. 738 f.).
284
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Die buchmarktorientierte Erstpublikation bislang privater Archivalien verrät eine akribische Materialkunde und eine detaillierte Materialarbeit, die sich anhand autobiografischer Entscheidensprozesse beobachten lässt.84 Mit den genannten Komponenten initiiert Heyse eine autoritative Deutung seines Lebens, seiner Werke, nicht zuletzt seines Nachlasses, zumal die vielfachen testamentarischen Ergänzungen nebst den fünf Auflagen das Anliegen bekunden, die Nachlassrezeption prospektiv zu regeln. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass Heyse sein autoritatives Vorsowie Nachlasskonzept mithilfe eines nachgereichten Wendepunkts lanciert. Gerade die Berufsentscheidung, die faktual und fiktional mit zentralen Werkentscheidungen zusammenfällt, bietet Heyse zweifelsohne die Möglichkeit, die eigene Autorfigur für zukünftige Kanonisierungsprozesse, institutionelle Archivierungsprozesse sowie Editionsprojekte zu wappnen.85 Mithilfe der Berufsentscheidung gelingt es Heyse, die Stückwerke des eigenen Lebens und also der eigenen Arbeit zur Archivguteinheit zu ›objektivieren‹. Dies glückt ihm, indem er für die fünfte Auflage die bricolage als Erzähltechnik wählt und mit dieser die eigene Autorfigur als findigen poeta philologus, bedachten bricoleur sowie instruktiven ingenieur kollationiert. Unweigerlich stellt sich jedoch die Frage, ob in der fünften Auflage abermals eine Nichtentscheidung präsentiert wird, wenn der Autobiograf seine autobiografische Figur als poeta philologus, bricoleur und ingenieur seinen Vielfachberufungen nachgehen lässt. Die folgenden Passagen zeigen, dass Heyse in den ersten vier Auflagen seine eigene, ›unentschiedene‹ Berufsentscheidung geradezu beiläufig erzählt und die autobiografische Figur gleichermaßen als Wissenschaftler und Poet konzipiert. Erst in der fünften Auflage entfaltet er vollends das Potenzial einer Entscheidung als prozesshafte Krisenerzählung, sodass ein
84 Weiterführend ist, dass Bonter anhand ausgewählter Archivalien darlegt, dass Heyse für seine Romane intensiv recherchierte, um eine »Detailtreue« sowie eine »dokumentarische Genauigkeit« gewährleisten zu können (vgl. Bonter, Das Romanwerk von Paul Heyse, S. 112). Lütteken legt dar, wie Kanonisierungsprozesse an archivarische Praktiken und an eine »Auslese« gebunden seien (Lütteken, Das Literaturarchiv, S. 65). 85 Heyse führt in seinen autoritativen Archivierungspraktiken zwei Prozesse zusammen, die laut Nicolas Pethes zwei zentrale »Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses« darstellen; und zwar »Kanonisierung und Zensurierung« (Pethes, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, S. 129). Heyse gibt demnach in seiner Autobiografie ausgewählte Kassations- und Archivierungssequenzen wieder, um mit seiner Autorfigur sowie seinem literarischen Werk Teil eines prospektiven Kanons zu werden.
285
v. pau l h eyse
Entscheidensbedarf demonstrativ artikuliert wird.86 Die Doppelberufung wird erstmals in der fünften Auflage explizit als dilemmatische Konstellation benannt und der daraus erwachsende Entscheidensbedarf führt zu einer erzählten Berufsentscheidung, die den wissenschaftlichen Werdegang als Mittel zum Zweck, nämlich für die schriftstellerische Tätigkeit, de gradiert. Hiernach steigt Heyses Autorfigur faktual sowie fiktional über die Textstufen hinweg zum Entscheider empor.87 Der eigentliche Clou gelingt dem Formexperten Heyse morphogenetisch mit der bricolage, denn mit dieser wird inhaltlich die Entscheidung für den Schriftstellerberuf erzählt. Vorgeführt werden mit ihr gleichermaßen ›poetische‹ sowie ›philologische‹ Fertigkeiten und Praktiken. Auf diese Weise verknüpft sich die erzählte Entscheidung mit einer typografisch visualisierten Nichtentscheidung, ohne dabei selbst in der fünften Auflage eine der beiden Alternativen endgültig zu eliminieren. Die latente Nichtentscheidung und die daraus resultierende Doppelberufung ermöglichen Heyse, für seine Autorfigur sowie für seine literarischen Werke das stilistische Profil eines wissenschaftlichen sowie literarischen Experten zu etablieren, der gleichsam meta leptisch sein Dichter und sein Denker ist.88 Dies sichert die eigene Archivwürdigkeit ab. Erkennbar werden mit der bricolage die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft just im Moment der »Reflexion über den eigenen literarhistorischen Status« und »›Selbstinterpreta tion‹«.89 Mit der formalen Gestaltung relativiert Heyse diesmal indirekt seine Berufsentscheidung: Die Relativierung erweist sich für Heyses Autobiografie durchweg als zentrale Trope, die den gesamten Erzählverlauf strukturiert und seine Vielfachberufungen auch in Entscheidungsmomenten demonstriert. Doch wie nutzt Heyse nun konkret das Potenzial einer neuen Auflage und wie bringt er seine Autorfigur mit dieser etappenweise in nachlass gemäße Form? Das Kapitel Bonner Studien lässt Heyse in allen Auflagen mit Zweifeln beginnen, die seine Studien- und Berufswahl betreffen sowie die dem Bildnis eines makellosen Musterschülers erste Risse zufügen: 86 Erstaunlich ist zugleich, dass innerhalb eines Jahres drei Auflagen auf den Buchmarkt gebracht wurden und die vierte direkt 1901 folgte. Dies deutet zunächst dar auf hin, dass es sich bei Heyses Autobiografie um ein erfolgversprechendes und erfolgreiches Buchprojekt handelte. 87 Mit seiner autobiografischen Entscheidungserzählung konstituiert er seine Autorfigur als krisenerprobten und mit seiner Archivkonzeption als Entscheider. 88 Vgl. Behrs, Der Dichter und sein Denker. Vgl. zu Heyses ›Doppeltätigkeit‹: Gröne, Von der Philologie zur Fiktion, S. 178. 89 Behrs, Der Dichter und sein Denker, S. 14.
286
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Ich selbst schwänzte immer regelmäßiger meine Kollegien und war ein desto häufigerer Gast im Kuglerschen Hause, das mir ein zweites Elternhaus geworden war. So verging das Jahr 1848. Im Frühjahr 1849 bezog ich die Universität Bonn. Ich war, wie gesagt, nach den zwei Jahren, in denen ich in Berlin klassische Philologie studiert hatte, nur darüber klar, daß ich zu dieser Wissenschaft weder Talent noch Neigung hatte. Ob zu einer andern und zu welcher, darüber sollte ich in Bonn mit mir ins Reine kommen. Am ehesten bildete ich mir ein, das Zeug zum Studium der Kunstgeschichte zu haben. Hatte sie doch auch Kugler, ihren Mitbegründer, nicht so ganz in Beschlag genommen, daß sie ihm nicht Zeit und Kraft für allerlei novellistische und dramatische Allotria übrig gelassen hätte. Und so hoffte ich im stillen, das unumgängliche Brotstudium in dem zu finden, was meinem teuren Freunde eine so angesehene Stellung verschafft hatte und wofür ich eine entschiedene Anlage auch in mir zu erkennen glaubte (JBV, 102; vgl. JBI-JBIV, 93 f.; JBP, 94).90 Die autobiografische Figur fasst vorläufig den Entschluss, Kunstgeschichte zu studieren, da diese Wissenschaft eine »angesehene Stellung« verspreche. Auch lasse sie »Zeit und Kraft für allerlei novellistische und dramatische Allotria« (JBV, 102). All das kann jedoch keinesfalls ausreichend sein, um einen schriftstellerischen Erfolg festzumachen. Deutlich wird dies, sobald die autobiografische Figur verkündet, dass sie nach dieser ›Einbildung‹ (»bildete ich mir ein«), diesem ›Fehlglauben‹ (»zu erkennen glaubte«) »nun mit all« den »Aufgaben Ernst machen müsse« (JBI, 104; JBII, 104; JBIII, 104; JBIV, 104).91 Unterschiedliche Berufsoptionen werden durchgespielt, auf etwaige Karrieretauglichkeit geprüft und verworfen, sobald sie Heyses Be90 Für die Analyse des Entscheidensprozesses und der dafür verwendeten Darstellungstechnik ist es in Paul Heyses Fall notwendig, die unterschiedlichen Ausgaben zu vergleichen, da Heyse den entscheidenskonstitutiven Brief erst in seiner fünften Auflage zitiert und inszeniert. Alle Auflagen mitsamt Seitenzahl werden lediglich angegeben, wenn (1) ein Vergleich für den dargestellten Entscheidensprozess relevant ist und/oder (2) eine aussagekräftige Varianz oder (3) eine aussagekräftige Invarianz ermittelt werden konnte. Tritt eine der Prämissen ein, werden alle fünf Auflagen angegeben, um zu belegen, dass es sich um eine Textgestaltung handelt, die ausschließlich die fünfte, somit zuletzt autorisierte Auflage betrifft oder eine konstitutive Invarianz vorliegt. Liegen beide Prämissen nicht vor, so zitiere ich ausschließlich die von Heyse mitherausgegebene fünfte Auflage, der ich Sigle JBV zugewiesen habe. 91 Diese Passage fehlt in JBV und dort heißt es, den Entscheidensprozess mit Bernays’ Charakterisierung vorbereitend, nun: »Nach Bonn zurückgekehrt, wurde ich von den alten Freunden herzlich begrüßt. Unter diesen habe ich vor allen Jacob Bern ay s zu nennen« (JBV, 113; vgl. JBP, 104).
287
v. pau l h eyse
rufung blockieren. Sonach verwirft Heyse sein Studium der »klassische[n] Philologie«, da er »weder Talent noch Neigung« dazu habe, was wiederum eine »angesehene Stellung« aussichtlos mache, und tritt – bewährter maßen – in die Fußstapfen eines Förderers und »teuren Freunde[s]« (JBV, 102). Die Entscheidungslast, die damit einhergeht, wird ein verkaufsstrategisches Novum der fünften Auflage. Demzufolge ersetzt Heyse erst in dieser die ›Abbreviatur‹ »mit all […] [den] Aufgaben Ernst machen müsse«, durch einen privaten, bislang unpublizierten Brief, der den damaligen Entscheidensbedarf vergegenwärtigt. Mithilfe der bricolage wird auf diese Weise nachträglich der lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidensprozess vorgestellt. Der geebnete Pfad eines mustergültigen, prophezeiten Werdeganges wird im Schritttempo zu einem holprigen Lebensweg, der sich allmählich und in der fünften Auflage endgültig in einen Scheideweg verwandelt. Petzet findet für die Herausgabe des exklusiven autobiografischen Zusatzmaterials einen treffenden Titel: Dichter oder Wissenschaftler? In den Ausgaben, die der fünften Auflage vorgelagert sind, stimmt Heyse im Kapitel Bonner Studien zunächst zögerlich einen Entscheidungskonflikt an, mit punktuellen Hinweisen auf ebendiesen generiert sich dennoch ein vager Entscheidensbedarf. Mit dem bis einschließlich zur vierten Auflage vorhandenen verkürzenden Incipit »Nach Bonn zurückgekehrt, begriff ich, daß ich nun mit all meinen Aufgaben Ernst machen müsse« kündigt der autodiegetische Erzähler an, dass in diesem Jahr sein »poetisches Streben eine tiefe Wandlung erfahren« habe,92 die nicht zuletzt durch die Freundschaft mit dem Katharsisexperten »J a c ob Bernays« (JBI, 104; JBII, 104; JBIII, 104; JBIV, 104) angeregt worden sei. Bernays erläutert in seiner Studie Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, dass die Katharsis eine gewissermaßen therapeutische Funktion besitze und sich vornehmlich gemäß Aristoteles auf »aus dem Gleich gewicht gebrachte Mensch[en]« beziehe.93 Geradezu passgenau zur thera92 In Heyses Brief an seinen Vater heißt es sinngemäß: »denn ich spüre zu deutlich, wie meinem ganzen Leben eine entscheidende Wendung gegeben wird«. Mit dieser Passivkonstruktion wird die Berufsentscheidung als unbeeinflussbares Widerfahrnis dargestellt (Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33). 93 Vgl. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 11, 13. Das ›Gleichgewicht‹ erinnert an die ›Waage‹ als bekanntes Entscheidungssymbol (vgl. hierzu besonders: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 31 f. Vgl. zu Bernays Katharsiskonzept exemplarisch: Gründer, Einleitung, S. 6 f.; Linck und Vöhler, Zur Einführung, XII. Marie-Christin Wilm stellt klar, dass Bernays’ Katharsistheorie nicht auf eine »rein medizinische Bedeutung« zu beschränken sei (Wilm, Die Grenzen tragischer Katharsis, S. 24 f.). Die (Brief-)
288
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
peutischen Funktion bemühen Heyse sowie sein Vater für die Berufs entscheidung das semantische Feld eines ›Krankheitsverlaufs‹, etwa, wenn Paul Heyse für seine Berufsentscheidung die Metapher der Krisis verwendet und Heyses Vater seinen Sohn als »Reconvalescenten« bezeichnet, nachdem dessen Berufsentscheidung brieflich beschlossen und besiegelt ist.94 Relevant ist in diesem Kontext, dass der Ausdruck ›κρίσις‹ etymologisch ächst ein Fachwort der Medizin« gewesen sei, »das den entscheiden»[z]un den Punkt einer Krankheit bezeichnet[ ]« habe und zudem für »›Scheidung, Entscheidung‹« stehe.95 Koselleck erläutert, dass die meisten Lexika zuvörderst medizinische Bedeutungsdimensionen nennen. Besonders erhellend dürfte sein, dass gemäß Koselleck »[d]ie Fremdwörterbücher von heyse«, Paul Heyses Großvater und auch Vater, diesen Befund »bestätigen«.96 Des Weiteren erläutert Koselleck, dass Krise eine konfliktbereinigende Dimension benenne.97 Zusammengeführt werden Krisis und Katharsis in Heyses Autobiografie, wenn das entscheidungförmige Potenzial einer Krise in der fünften Auflage für das autobiografische Projekt genutzt und mit einer – im Sinne Bernays’ – therapeutischen Katharsis kombiniert wird. Für die folgende Analyse sei an dieser Stelle resümierend festgehalten, dass die Berufsentscheidung als krisenhafter Krankheitsverlauf gerahmt wird, aus dem die autobiografische Figur nach einer therapeutischen Katharsis als ›gesundeter Entscheider‹, also nicht allein als berufener, sondern nun auch als selbstbestimmter Autor hervorgeht.
schaft mit Bernays hat Heyse sogar in Blumenbergs Arbeit am Mythos einen Platz verschafft, ganz vergessen, wie die topische Klage stets anstimmt, ist der »immer aufs Aparte stoffhungrige[ ] Paul Heyse«, wie Blumenberg ihn ›tauft‹, also nicht (Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 240). 94 Heyse gestaltet seine Studienkrise geflissentlich so, wie er es aus der Autobiografie seines Vorbilds lernen durfte, und das Antwortschreiben seines Vaters weist weitere Analogien auf. Goethes Autobiografie wird dabei indirekt als Ratgeberliteratur konsultiert (vgl. Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt., Bd. 14, S. 393). Vgl. zur Gestaltung der ›Studienkrise‹ in Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 150-154. 95 Seebold, Krise. Vgl. Koselleck, Krise [1982], S. 621-624. 96 Vgl. ebd., S. 623. Koselleck bezieht sich auf die 15. Auflage. Bereits für die elfte Auflage trifft Kosellecks Beobachtung zu und diese erschien lediglich drei Jahre nach dem ›Entscheidensjahr‹ 1850 und zu einem Zeitpunkt, als Paul Heyse alleinverantwortlicher Herausgeber war. Zum Ausdruck Krise ist ebendort vermerkt: »Krisis oder Krise, f. gr. (v. krinein, sondern, scheiden, unterscheiden) die Scheidung, Trennung, Entscheidung oder entscheidende Wendung einer Sache; das Entscheide zeichen, der Entscheidungspunkt oder Zustand, Wendepunkt, Ausschlag, Krankheitswechsel, Bedenklichkeit der Umstände« (Heyse und Heyse, Krisis). 97 Vgl. Koselleck, Krise [1976], S. 1235.
289
v. pau l h eyse
Weiterführend für die Gestaltung des autobiografischen Krisen moments mit kathartischer Entscheidung ist, dass Marie-Christin Wilm die intensive Korrespondenz zwischen Bernays und Heyse in ihrem Forschungsbeitrag Die Grenzen tragischer Katharsis hervorhebt. Bernays und Heyse hätten ihre gemeinsame Bonner Zeit »um 1850« genutzt, um sich »regelmäßig über alte, moderne und gegenwärtige Literatur aus[zu]tausch[en]«, so »liest [Bernays] mit dem jungen Studenten […] Goethe, Herder und Shakespeare«.98 Der Philologe Jacob Bernays und der poeta philologus Heyse diskutieren die poetische, lebensweltliche Funktion wie die kulturhistorische Dimension der Katharsis in exakt jenen Jahren, die für Heyse retrospektiv entscheidend und demnach archiv- sowie auto biografiewürdig sein werden. Ähnlich entscheidungsrelevant scheint Bernays den Austausch mit Heyse zu rahmen, denn Wilm zitiert einen Brief, der belegt, dass Bernays seine Theorie 1857 dezidiert an Heyse und »[a]n einen gegenwärtigen Dichter […] richtet«.99 An jenen Dichter, der Bernays’ Katharsistheorie für sein autobiografisches Projekt erprobt, ebendort entscheidenspoetisch ausweitet und konsequenterweise die therapeutische Funktion einer Katharsis in einer neugestalteten, letztgültigen Auflage seiner Autobiografie ausstellt und an Bernays wie auch an Bernays’ Studien rückbindet – im Übrigen wird Petzet in seinem Vorwort die Begegnung zwischen Bernays und Heyse als entscheidenskonstitutiv vor98 Wilm, Die Grenzen tragischer Katharsis, S. 42. Vor der Begegnung mit Bernays schildert Heyse, wie er noch Jacob Burckhardt besucht habe, in dessen Nachlass sich später die Studie Die geschichtlichen Krisen finden sollte (vgl. Burckhardt, Die geschichtlichen Krisen). Dies ist nicht unbedeutend, da Heyses Autobiografie durchaus für das Vorhaben steht, eine kulturhistorisch relevante Autorfigur zu entwerfen, die in zukünftigen Literaturgeschichten erwähnt werden muss. Burckhardt nimmt die kulturstiftende Dimension politischer Krisen in den Blick und dennoch widmet er der Kunst und sogar dem »Denker, Dichter und Künstler« eine Passage, die abermals belegt: ein erfolgreicher, ›wahrer‹ Dichter muss krisenerprobt sein: »Ein besonderes Verhältnis haben die Krisen zu Literatur und Kunst, wofern sie nicht geradezu zerstörend wirken oder mit teilweiser bleibender Unterdrückung geistiger Einzelkräfte verbunden sind […]. Es zeigt sich, daß kräftige Denker, Dichter und Künstler deshalb, weil sie kräftige Menschen sind, eine Atmosphäre von Gefahren lieben und sich in der frischeren Luftströmung wohl befinden. Große und tragische Erlebnisse reifen den Geist und geben ihm einen andern Maßstab der Dinge, eine unabhängigere Taxation des Irdischen. Augustins de civitate dei wäre ohne den Einsturz des weströmischen Reiches kein so bedeutendes und unabhängiges Buch geworden, und Dante dichtete die divina commedia im Exil« (Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 192; Burckhardt, Die geschichtlichen Krisen, S. 494-496). 99 Wilm, Die Grenzen tragischer Katharsis, S. 43.
290
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
stellen.100 Aufschlussreich ist, dass in Heyses Autobiografie die Berufsentscheidung direkt erfolgt, nachdem der autodiegetische Erzähler Bernays charakterisiert hat und die Bedeutung Bernays’, der wie Geibel Heyse als »eine[n] jüngeren Bruder« behandelt habe (JBV, 113; JBP, 104),101 für seinen netzwerkbasierten Wendepunkt betont (JBI-JBIV, 104 f.; JBV, 113 f.; JBP, 104 f.). Diese Passage setzt Heyse in der fünften Auflage unmittelbar vor den entscheidenden Zwiegesprächen mit Sophie Ritschl und Carl Heyse und legt damit dar, wie der Austausch mit dem Katharsisexperten Bernays seine eigene Katharsis vorbereitet habe. Bernays’ erweiterte Katharsistheorie wird zur lebensgestaltenden Praxis für die autobiografische Figur (vgl. JBI-JBIV, 95; JBV, 104; JBP, 95): Doch hatte ich’s ihm zu danken, daß er mich auch im Genuß der »unvergleichlich hohen Werke« in die Tiefe führte und es dahin brachte, daß ich mich von Spinozas stillem, starkem Licht durchleuchten ließ. Jetzt erst fing ich an, auch den beiden Größten, die ich freilich stets verehrt hatte, Shakespeare und Goethe, ein eigentliches Studium zu widmen. So vollzog sich in mir eine heilsame Katharsis, nicht ohne Schmerzen. Meine eigenen bisherigen Leistungen erschienen mir höchst unbedeutend, die Dramen meines teuren Kugler konnte ich nicht mehr für voll ansehen, und Geibels Lyrik bestand nur in wenigen Stücken vor meiner schonungslos geschärften Kritik. Damals erschienen die Märchen (Der Jungbrunnen. Neue Märchen eines fahrenden Schülers. Berlin, A. Duncker), […] vielfach auf den Spuren Clemens Brentanos wandelnd und mit Berliner Mutterwitz allzu reichlich gewürzt. Ich hatte in die Herausgabe gewilligt, um durch das Honorar meinem Vater die Sorge für meinen Unterhalt auf der Universität etwas zu erleichtern. Im Herzen schämte ich mich, in der sturmbewegten Zeit, an der ich den lebhaftesten Anteil nahm, mit so unreifer leichter Ware hervorzutreten, und beschwor die Meinigen in jedem Brief, die Maske des »fahrenden Schülers« nicht zu lüften (JBV, 114; vgl. JBI-JBIV, 105; JBP, 105).102 100 Die fünfte Auflage erscheint dabei als eine ›Ausgabe letzter Hand‹. Vgl. zu diesem Ausdruck exemplarisch: Steinhagen, Ausgabe letzter Hand. Vgl. Petzet, Dichter oder Wissenschaftler?, S. 431. 101 Diese Netzwerkmetaphorik fehlt in den vorherigen Auflagen, dort wird primär Bernays’ berufliche Position fokussiert: »Er war damals schon Docent an der Bonner Universität« (JBI-JBIV, 104). 102 In der ersten bis zur vierten Auflage fokussiert Heyse in ebendieser Passage die Suche nach seiner ›natürlichen‹ Bestimmung und rekapituliert Bernays Weisungen folgendermaßen: »Doch fühlte ich, daß er Recht hatte, wenn er darauf drang, daß ich mich von der spielenden Uebung meines Talents abkehrte und mir’s zur
291
v. pau l h eyse
Die Vermutung liegt nahe, dass Bernays und Heyse gemeinsam ihren Einzug in die zukünftige, bereits anvisierte Kultur- und Geistesgeschichte organisieren. In jedem Fall ist das Motiv der Katharsis durchweg in allen Auflagen der Autobiografie präsent und verbindet diese, denn Heyse spricht bereits in der ersten Auflage wie zwölf Jahre später in der fünften Auflage von einer »heilsame[n] Katharsis, nicht ohne Schmerzen«, ausgelöst durch jene Werke, die der Autobiograf in seinen entscheidungsrelevanten Jahren mit Bernays besprach, nämlich »Shakespeare[s] und Goethe[s]« Werke (JBI-JBIV, 105; JBV, 114; JBP, 105). Obschon Heyse in dieser kanon trächtigen Konstellation berichtet, wie sein Erstlingswerk entstand, bleibt die angekündigte Berufsentscheidung bis zur fünften Auflage vage. Werksowie Berufsentscheidung erscheinen als Geschehnisse, die Heyse als passivem Protagonisten widerfahren, wenn der autodiegetische Erzähler in einem Satz resümiert: »Aus der Gährung aber, in der mein dichterisches Gemüth sich befand, rang sich dann ein Trauerspiel ›Francesca von Rimini‹ hervor, ganz im Banne der Shakespeare’schen Kunst befangen« (JBI-JBIV, 105). Indem die inneren Vorgänge personifiziert werden, wird geradezu die Umsetzung des Handlungsplans, ein Trauerspiel zu verfassen, vom Autor abgerückt. Beachtenswert ist, dass Heyses Trauerspiel im »Banne der Shakespeare’schen Kunst« ›emergiert‹ (JBI-JBIV, 105), da er zuvor darlegt, wie Kuglers und Geibels Werke, nachdem er Goethes und Shakespeares Werke gemeinsam mit Bernays gelesen habe, rapide an Wert verloren hätPflicht machte, in die Tiefen meiner Natur hinabzusteigen« (JBI-JBIV, 105). Womöglich referiert Heyse hier auf Spinozas Erkenntnistheorie und den dort formulierten Lehrsatz: »Affectus, qui passio est, desinit esse passio, simultaque ejus claram et distinctam formamus ideam«. Wolfgang Bartuschat übersetzt diese Passage folgendermaßen: »Ein Affekt, der eine Leidenschaft ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir von ihm eine klare und deutliche Idee bilden« (Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung, V, 3, S. 536 f.; vgl. auch: ebd., V, 3, 2, S. 234-237). So ist die autobiografische Figur nach dem klärenden, ideenbildenden Zwiegespräch mit Ritschl vorerst von der vorherrschenden »Aufregung […] im Innersten beruhigt und getröstet« und trotz nachträglich dargestellter Entscheidung wird der Berufungsmythos nicht aufgegeben, weshalb die Entscheidung primär dazu dient, die eigene Erkenntnisfähigkeit darzustellen (JBV, 116; JBP, 107). Spinoza gehörte seit der Rezeption im deutschen Idealismus zum gelehrten Kanon der Philosophiegeschichte und der gelehrten Kreise, in die Heyse seine Autorfigur indirekt einreiht. Den Superlativ verwendet Heyse erst in der fünften Auflage, zuvor spricht er lediglich von den »Großen« (JBI-JBIV, 105). Demzufolge spezifiziert Heyse in seiner letzten Ausgabe seine Zugehörigkeit zu einem exklusiven Zirkel der ›Größten‹. Wie bei Ebner-Eschenbach löst die Lektüre berühmter ›Klassiker‹ eine Krise aus, die jedoch eine neue Schaffenskraft hervorbringt: Die Krise steht in diesen Zusammenhängen für die Geburt des Autors beziehungsweise der Autorin.
292
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
ten. Demzufolge lässt die dargebotene Werkgenese beziehungsweise Werk emergenz die These zu, dass Heyse sich nicht schlicht als zweiten Goethe, sondern gleichfalls als zweiten Shakespeare inszeniert und damit ein internationales Andenken projektiert. Auffallend in diesem Zusammenhang ist, dass er mit Kuglers und Geibels Werken zunächst auch seine Werke disqualifiziert und dennoch ausschließlich seine Erstpublikation erst in der fünften Auflage ›gewissenhaft‹ bibliografiert (vgl. JBI-JBIV, 105; JBV, 114; JBP, 105), ihr so einen besonderen Stellenwert beimisst und noch dafür Sorge trägt, dass diese zukünftig aufgefunden werden kann.103 Ebenso unbestimmt in beruflichen Lebensfragen bleibt die autobiografische Figur; eine konzise Berufsentscheidung lässt der autodiegetische Erzähler diese in der ersten bis zur vierten Auflage nicht fällen. Vielmehr präsentiert der Autobiograf seinem Lesepublikum eine nebulöse Nichtentscheidung, indem er eine autobiografische Figur entwirft, die als poeta philologus bis zur fünften Auflage unentschieden einer Doppelberufung nachgeht und sich lediglich indirekt von Kuglers kunstgeschichtlichen Weisungen befreit: Noch einen anderen befreienden Dienst hatte ich dem Bonner Freunde zu danken. Angesichts der ungeheuren Weite seines philologischen Horizonts und der tief eindringenden Spürkraft, mit der er den feinsten historischen und philosophischen Problemen nachging, erschien es mir vollends so vermessen als hoffnungslos, auch meinerseits mich weiter zum classischen Philologen auszubilden. Dagegen war die romanische Philologie noch eine junge Wissenschaft, gleichsam eben erst aus dem Haupte eines einzigen Mannes geboren, des hochverdienten Friedrich Diez, der trotz seiner grundlegenden Werke über Leben und Dichtung der Troubadours, der romanischen Grammatik und des Wörterbuchs, wodurch er für die romanische Wissenschaft das geworden war, was die Gebrüder Grimm für die germanische, nur wenige Schüler hatte. Zu diesen gesellte ich mich nun, leider nur den einen Winter, in welchem er Dante las, nicht eben sehr anregend oder tiefgründig. Auf eigene Hand aber hatte ich mich in das uferlose Meer des spanischen Theaters gestürzt, auch angefangen, spanische Lieder und Seguidillas zu übersetzen. Wenn ich nicht hoffen konnte, auch in dieser Wissenschaft jemals es zur Meisterschaft zu bringen, so war hier doch noch so viel auch für eine geringere Kraft zu thun, daß ein redlicher Arbeiter 103 Vgl. zur kulturwissenschaftlichen Bedeutung des Ausdrucks ›Bibliografie‹ exemplarisch: Schneider, Bibliographie, S. 58.
293
v. pau l h eyse
sich auch als Handlanger und Geselle verdient machen konnte (JBIJBIV, 106).104 Der Autobiograf resümiert, wie seine autobiografische Figur vergleichend auslotet, dass eine wissenschaftliche Karriere innerhalb der »classischen Philolog[ie]« nahezu aussichtlos erscheint oder zumindest ein riskantes Unterfangen darstellt (JBI-JBIV, 106). Aussichtsreicher verspricht jene Wissenschaft zu sein, die Heyse später als erfolgreichen Herausgeber der Spanischen Liederbücher (1852),105 Italienischen Liederbücher (1860), des Novellenschatzes (1870) und schließlich mit seinem ersten Trauerspiel einen Vergleich mit den »Größten«, Johann Wolfgang von Goethe und William Shakespeare, ermöglicht. Damit wird ein Vergleich gewährt, den der Autobiograf weder als »vermessen« noch »hoffnungslos« klassifiziert, als vielmehr lebenslaufkonstitutiv. Eine Wissenschaft und wissenschaftliche Ausbildung, die ihm eine umfassende Heuristik für zukünftige Literaturprojekte bieten kann, erlaubt Heyse, seine schriftstellerische Tätigkeit zu professionalisieren und Mitglied eines exklusiven (»nur wenige Schüler« [JBI-JBIV, 106]), noch jungen, aber zukunftsweisenden Fachs zu sein. Diese Berufsoption nutzt Heyse gezielt, um sich von seinem erfolgreichen Freund und Kollegen Jacob Bernays abzuheben und das vorhandene schriftstellerische Talent als erfolgssicherndes Differenzkriterium zu konturieren. Abermals bestimmt er das schriftstellerische Talent als biologisch wie national: »Nur eins fehlte […] [Bernays], was überhaupt dem jüdischen Stamm nur selten eigen zu sein pflegt: das Organ für das eigentlich Künstlerische« (JBI-JBIV, 104; JBV, 113; JBP, 104).106 Heyse stilisiert sich als Besitzer eines solchen »Organ[s]«, daher als Goethe und Shakespeare ebenbürtig und als 104 In der fünften Auflage folgt diese Passage nach dem zitierten eingefügten Brief (vgl. JBV, 118; JBP, 109). 105 Diese Herausgabe erwähnt auch der autodiegetische Erzähler und seinen entschiedenen Doppelberufungen entsprechend erscheint das Spanische Liederbuch im Jahr seiner Promotion (vgl. JBI-JBIV, 108; JBV, 120; JBP, 110 f.). 106 Wie bereits im Kapitel Entschieden unentschieden wird auch hier deutlich, dass Heyse bewusst nationale Erklärungsmodelle anführt, um sein Talent und sich als berufenen Autor darzustellen. Indem Heyse betont, dass »dem jüdischen Stamm« zumeist »das Organ für das eigentlich Künstlerische [fehle]«, stilisiert er sich mit seiner jüdischen Mutter als ein exklusives Talent und hebt gleichermaßen hervor, dass sein »Vater […] aus echtestem germanischem Stamm entsprossen war« und »die Eigenschaften« habe, »die ein Künstlerleben zu seiner reinen und freien Entfaltung« benötige (JBV, 28 f.). Heyses Werke sind nicht frei von nationalen und auch nicht frei von antisemitischen Tendenzen. Walter Hettche ist nicht uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er Heyse als einen »Zeitgenosse[n] von unangezweifelter Integrität« beschreibt, der nicht wie Fontane »häßliche[ ] antisemitische[ ] Ausfälle[ ]« gehabt habe (Hettche, Paul Heyses Briefwechsel, S. 286).
294
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
geborener, berufener Schriftsteller, dem die romanische Philologie eine heuristische Wissenschaft für alle poetischen Projekte sein werde.107 In einer hieran anschließenden Passage schleust Heyse seine Autorfigur erneut in eine prominente, bereits bekannte Gesellschaft und stellt die Professionalisierung des Literaturbetriebs aus, wenn er berichtet, dass er erstmals selbständig einen literarischen Text auf den Buchmarkt gebracht und von Geibel sowie seinem Vater attestiert bekommen habe, dass er seine »Lehrjahre ehrenvoll beschlossen« habe (JBI-JBIV, 107), jedoch ist in der fünften Auflage diesem Attest ein Entscheidensprozess vorangestellt (vgl. JBV, 119; JBP, 110). Nach einer überstandenen Krise mitsamt einer erleichternden Katharsis entsteht jenes Trauerspiel, das Heyse über alle Auflagen hinweg dazu befähigt, sich lose mit Goethe und Shakespeare in Beziehung zu setzen und sich lose mit Goethes Romanfigur Wilhelm Meister zu vergleichen. Heyse entwirft – wie bereits im vorherigen Kapitel dargelegt wurde – eine autobiografische Figur, die intertextuelle Bezüge zu faktualen und fiktionalen Figuren aufweist. Der gemeinsame Nenner all dieser Figuren ist ihr sicherer Platz im Kreise kanonisierter Klassiker und eine passionierte theatrale Profession. Und dennoch: Das autobiografische Entscheidungsdrama versiegt unmittelbar nach der Exposition und das diegetische,108 rezeptions- sowie produktionsästhetische Potenzial eines krisenhaften Entscheidensprozesses mitsamt einer entscheidungsförmigen Katharsis liegt bis zur fünften Auflage brach. Doch von Beginn an: In der fünften Auflage angekommen, fokussiert die autobiografische Figur mit Kuglers Segen vorerst das kunstwissenschaftliche Studium und als pater professionis »muntert[ ]« Kugler den jungen Heyse »dazu auf, auch das Thema [s]einer Doktordissertation aus dem Kreise der Baugeschichte zu wählen« (JBV, 103; JBP, 95; vgl. JBI-JBIV, 94). Die ersten Vorlesungen bei Kinkel lassen jedoch die autobiografische Figur resigniert zurück, nicht zuletzt da sie durch die »ernsten Gelehrten […] Kugler, Schnaase, Böttiger, Burckhardt« eine fundierte kunstwissenschaft107 Heyse kultiviert seine eigene Ausnahmeerscheinung, wie bereits im vorherigen Kapitel dargelegt wurde, ausdauernd. Eine Strategie, die nicht ohne Lesereaktion blieb, wie eine Lesespur am rechten Seitenrand in der ersten Auflage, verwahrt von der Stadtbibliothek Aachen, verrät, denn dort notierte ein Leser oder eine Leserin mit Bleistift in Kurrentschrift: »Eigenlob stinkt!« (JBI, 295; Bibliothekssignatur: Lr6720.CPMH1052 [4]). 108 Anja Müller-Wood erläutert, dass es sich um »›Zieldramen‹ (auch Entscheidungsdramen)« handle, sobald die Handlung »sich auf ein einschneidendes Ereignis zu[bewegt]« (Müller-Wood, Drama, S. 144). Heyse stellt in der fünften Auflage seiner Autobiografie seinen beruflichen Entscheidensprozess als ein »einschneidendes Ereignis« selbstarchivarisch und typografisch dar.
295
v. pau l h eyse
liche Ausbildung besitze und Kinkel lediglich als unprofessionellen »Schönredner« wahrnehmen könne (JBV, 103; vgl. JBI-JBIV, 94; JBP, 95). Heyses autobiografische Figur bleibt ein (hoch)begabter Außenseiter und so wird sie weiterhin als kundiger Kenner der geisteswissenschaftlichen Forschungslandschaft profiliert.109 Demzufolge findet Heyse wie bei Kinkel auch bei Brandis »nicht das Rechte, das Eine, was […] not tat« (JBV, 103; vgl. JBIJBIV, 94; JBP, 95), weshalb die autobiografische Figur nicht gradlinig die Forschungslandschaft durchwandert und die Diegese sachgemäß einen ereignishaften Lebenslauf verspricht. Angemerkt sei, dass bereits zu Beginn des Entscheidensprozesses das »Eine« gesucht und nicht gefunden wird. Die polaren Gegenüberstellungen von ›Einheit‹ und ›Zerstreuung‹, ›Halbheit‹ und ›Ganzheit‹, ›Fügung‹ und ›Bruch‹ werden zu einer zentralen kompositorischen Motivierung ausgebaut,110 mit der vorbereitet wird, die autobiografische Figur vor die Alternativen ›Entscheidung‹ oder ›Nichtentscheidung‹ zu stellen. Resümierend blickt der Autobiograf in diesem Zusammenhang auf seinen bereits vollzogenen akademischen Erstversuch, das heißt auf eine bereits erprobte Berufsoption zurück und vermerkt: Mit der klassischen Philologie vollends hatte ich innerlich schon gebrochen, eh ich nach Bonn kam. Auch eine so bedeutende Persönlichkeit wie Friedrich Ritschl konnte den Abtrünnigen nicht zurückführen. Ich war dem Ritschelschen Hause aufs wärmste empfohlen worden und verehrte in dem großen Gelehrten auch den gütigen Menschen, der sich meiner aufs Freundlichste annahm. Eine ähnliche Güte bewies mir der alte Welcker […]. Gleichwohl gelang es keinem dieser beiden verehrten Lehrer, mich zur klassischen Philologie zurückzugewinnen (JBV, 103; vgl. JBP, 95).111 109 Beispielhaft zeigt sich dies anhand Heyses Schilderung, wie es ihm gelinge, mit seinen Kritiken immer wieder Aufmerksamkeit und rege Diskussion zu erwirken. Die erste Begegnung mit Karl Joseph Simrock besitzt ausschließlich die Funktion, einen solch »hochdramatischen Augenblick« darzulegen und seine kulturgeschichtliche, zeitkritische Relevanz zu inszenieren (JBV, 105; vgl. JBI-JBIV, 97; JBP, 97). 110 Dieser ›Bruch‹ wird mit der bricolage letztlich auch typografisch umgesetzt. Vgl. zum Konzept der ›Ganzheit‹ um 1900 exemplarisch: Wilm, Die Grenzen tragischer Katharsis, S. 34. 111 In den vorherigen Auflagen schildert Heyse in dieser Passage das Ehepaar Ritschl ausgiebiger, in der fünften Auflage kann er darauf verzichten, da Sophie Ritschl als entscheidenskonstitutive Figur an Profil gewinnt. Spezifisch ist, dass Heyse in den ersten vier Auflagen abermals ein wahlverwandtschaftliches Verhältnis entwirft: »Ich war im Ritschl’schen Hause aufs Wärmste empfohlen worden, verehrte
296
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Heyse relativiert hier sein zuvor selbstgefälltes Urteil, er habe zur »klassischen Philologie« »weder Talent noch Neigung« (JBV, 102), indem er schildert, wie seine »verehrten Lehrer« versucht hätten, ihn für dieses Fachgebiet zurückzugewinnen. Abermals korrigiert er mittels der Relativierung seine angeführten Abwertungen, stellt diese als Fehldiagnosen dar und sichert sich auf diesem Wege ›objektiv‹ seine vielfache Begabung. Der autodiegetische Erzähler bereitet anschließend strukturiert eine Introspektion vor, indem er wiederholt »innerlich« verworfene Alternativen rekapituliert. Auf diese Weise stellt er den prozessualen Charakter einer Entscheidung vor: Er konfrontiert eine »äußere[ ] Ereignislosigkeit« mit der inneren Ereignishaftigkeit (vgl. JBV 114; vgl. JBP, 105).112 Heyse, der von Brandes als »Fabius Cunctator« beschrieben wurde,113 befreit seine Autorfigur aus einer unentschiedenen Passivität und lässt sie als aktiver, autonomer Entscheider auftreten;114 die Autorfigur wird über die Auflagen hinweg emanzipiert. ›Innerlichkeit‹ wird dabei zur authentizitätsstrategischen, semantischen Isotopie, mit der die Berufsentscheidung als Bekenntnis und krisenhafter, intimer Prozess präsentiert wird. Der Autobiograf entwirft seine autobiografische Figur dabei als dramatis personae und stellt dieser Requisiten und erzählerische Komponenten zur Seite, die prädestiniert dazu sind, eine entscheidensbedürftige Szene zu konzipieren:115 in dem großen Meister auch den gütigen und hochherzigen Menschen und fand in seiner jungen Frau so viel Anmuth des Geistes und jener großen Gedanken, die aus dem Herzen kommen, daß ich glücklich war, hier wie ein Kind des Hauses aufgenommen zu sein« (JBI-JBIV, 95). Indem der autodiegetische Erzähler die autobiografische Figur als ›Kindmann‹ stilisiert, kann ein amouröses Verhältnis zwischen dieser und Frau Ritschl nicht einmal erahnt werden, umso publikumswirksamer, verkaufsbegünstigend dürfte die indirekte Entschlüsselung, zumindest bei vergleichender Lektüre, in der fünften Auflage anmuten (vgl. JBV, 118; JBP, 108). 112 In den ersten vier Auflagen wird jene »innere Krisis« nicht erwähnt, der Erzähler verweist lediglich auf eine unspezifische »Gährung« des »dichterische[n] Ge müth[s]« (JBI-JBIV, 105). Vgl. zur Ereignishaftigkeit prägender Entscheidungen exemplarisch: Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung, S. 11. 113 Brandes, Paul Heyse, 403. Vgl. hierzu: Bonter, Das Romanwerk von Paul Heyse, S. 14. 114 Für Rössler stehen Autonomie und Entscheidungsmöglichkeiten in einem reziproken Verhältnis zueinander: »Autonomie muss bedeuten, dass der individuellen Person noch Raum für reflektierte Entscheidungen bleibt hinsichtlich der Frage ihres eigenen guten Lebens, auch wenn sie dabei in ihrer Autonomie an eine bestimmte Bandbreite qualifizierter Optionen gebunden ist« (Rössler, Autonomie, S. 249). 115 Gustav Freytag hätte vermutlich eine vorbildliche Umsetzung seines Ideenkonzepts erkannt, denn die Dramengenese beschreibt er folgendermaßen: »In der Seele des Dichters gestaltet sich das Drama allmählich aus dem rohen Stoff, dem Bericht
297
v. pau l h eyse
Die autobiografische Figur ist sich angesichts aller verworfenen Alternativen mitsamt limitierter Optionalität »darüber klar«, dass sie entgegen externen Gutachten für die »klassische Philologie […] weder Talent noch Neigung hatte« (JBV, 102; vgl. JBI-JBIV, 93 f.; JBP, 94) und deshalb »der klassischen Philologie abtrünnig geworden war« (JBV, 114; vgl. JBP, 105).116 Der autodiegetische Erzähler spricht »von dem Dunkel, das über [s]einer Zukunft lag« (JBV, 104; vgl. JBI-JBIV, 95; JBP, 95), das durch eine »›helle[ ] Stunde‹« (JBV, 115; vgl. JBP, 106) abgelöst wird, »eine heilsame Katharsis«, die »nicht ohne Schmerzen« (JBV, 114; vgl. JBI-JBIV, 105; JBP, 105) ist, kündigt sich an, »eine innere Krisis« (JBV, 114; vgl. ebd. 105) beginnt,117 die sich »im Innersten« (JBV, 116; vgl. JBP, 107) in Form eines »›inneren Kampf[es]‹« (JBV, 117; JBP, 108) und mithilfe der »›inneren Stimme‹« (JBV, 118; vgl. JBP, 108) entscheidet, die »geistvollste Frau« (JBV, 114; vgl. JBP, 105) sowie ein »inniger und vertrauensvoller« Briefpartner, dem »jenes entscheidende Gespräch ausführlich mitgeteilt« (JBV, 116; vgl. JBP, 107) werden kann, ergänzen als entscheidungsnotwendige Parameter in der fünften Auflage das Figurenrepertoire und lassen das synthetische Entscheidungsdrama beginnen. Mit diesen beiden Figuren gelingt es dem Autobiografen, einen innerlich durchlebten Entscheidensprozess als soziales Entscheidungsdrama vorzuführen. All dies bietet bereits reichlich Erzählmaterial, um einen imposanten Entscheidensprozess aufzubauen. Doch bliebe allein mit diesen Erzählbausteinen das archivarische Potenzial eines autobiografischen Projekts weitestgehend ungenutzt. Indem Heyse seinen beruflichen Entscheidensprozess mit bislang unveröffentlichten Zusatzmaterialien anreichert, ergänzt er seine Autobiografie um faktuale Erzählbausteine und lässt s omit die Krisen- und Archivierungsereignisse eine erfolgsversprechende Symbiose eingehen. Die auf diese Weise erstmalig vorgestellten Entscheidungsressourcen versieht Heyse mit einem ›zuverlässigen‹ Erzählerkommentar:118 über irgend etwas Geschehenes. Zuerst treten einzelne Momente: innerer Kampf und Entschluß eines Menschen, eine folgenschwere That, Zusammenstoß zweier Charaktere, Gegensatz eines Helden gegen seine Umgebung, so lebhaft aus dem Zusammenhange mit andern Ereignissen heraus, daß sie Veranlassung zu Um bildung des Stoffes werden« (Freytag, Technik des Dramas, S. 9). 116 In den Auflagen zuvor fehlt diese Passage, so ist die Begegnung mit Frau Ritschl der fünften Auflage vorbehalten. Allerdings nennt der autodiegetische Erzähler in allen Auflagen die autobiografische Figur einen »Abtrünnigen« (JBV, 104; vgl. JBI-JBIV, 95; JBP, 95). 117 Die »innere Krisis« wird erst in der fünften Auflage genannt und geht mit dem Andenken an Frau Ritschl einher. 118 Vgl. zum Konzept des ›zuverlässigen und unzuverlässigen‹ Erzählens exemplarisch: Booth, The Rhetoric of Fiction, S. 169-209; Martínez und Scheffel,
298
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Die Szene, die nun folgte, darf hier nicht übergangen werden, wie in den früheren Auflagen dieses Buches, da ich selbst erst jetzt den Brief wieder aufgefunden habe, in dem ich sie meinem Vater ausführlich schilderte, so wie seine Antwort darauf. Nur in kurzem Auszug aber soll hier von beidem berichtet werden (JBV, 115; vgl. JBP, 106). In dieser Passage stellt sich der autodiegetische Erzähler als pflichtbewussten »Archivar[ ] seiner selbst« dar und mit dem erstmalig edierten Archivale ergänzt er seine Autobiografie um das singuläre »Specifische«.119 Mit dem deiktischen Zeitadverb »jetzt« und dem deiktischen Ortsadverb »hier« setzt der autodiegetische Erzähler authentizitätsstrategische Merkmale und referiert auf die »figurale Perspektive« des Autobiografen der fünften Auflage (JBV, 115),120 der den vorliegenden Erzählakt mithilfe archivarischer Praktiken konzipiert. Diese raumzeitlichen Deiktika zeichnen gleichermaßen den Scheidewegtopos aus, mit dem Heyses Vater den Entscheidens prozess verbildlichen wird und mit dem das Entscheidungsmoment konkrete Gestalt annehmen wird, denn gemäß Honold »[erzeugt] [e]rst das Zusammenspiel von räumlicher Bifurkation und zeitlicher Sequen tialität […] den Punkt der Entscheidung als markant herausgehobenen Moment einer Weichenstellung«.121 Es sind gerade diese Merkmale und Praktiken, die Heyse ermöglichen, punktuell die zurückliegende figurale Perspektive, den vergangenen Entscheidensprozess zu vergegenwärtigen und an die gegenwärtige autobiografische Tätigkeit zu binden. Fortan erfüllt der Erzähler in seinem autobiografischen Buchprojekt nicht nur das topische Muster eines Bekenntnisses, sondern beteiligt sich gleichfalls an einem innovativen Erzählkonzept, das autobiografische Projekte nicht prirung in die Erzähltheorie, S. 214; Lahn, Zuverlässigkeit des Erzählens. Heyses Erzählerkommentare zeichnet aus, dass sie autodiegetisch und tatsächlich auch faktisch weitestgehend zuverlässig sind. 119 Chartier erläutert, dass »[d]ie ausgeprägte Beziehung zwischen eigenhändig geschriebenem Manuskript und Echtheit des Werkes […] von Schriftstellern verinnerlicht [wurde], die zu Archivaren ihrer selbst wurden und […] ihre eigenen Archive anlegten« (Chartier, Die Hand des Autors, S. 507); Heyse und Kurz, Einleitung, Bd. 1, S. 20. 120 Vgl. zur Gestaltung der zeitlichen Erzählperspektive: Schmid, Elemente der Narratologie, S. 142-150. 121 Honold, Das Gottesurteil und sein Publikum, S. 111. Hans-Thies Lehmann er innert an die »Märchentradition« des ›Scheidewegtopos‹ und hält zudem treffend fest: »Der Kreuzweg ist, nicht nur in Märchentraditionen, stets ein geheimnis voller, bedrohlicher Ort geblieben: In ihm symbolisiert sich der Mensch selbst als Kreuzung gegensätzlicher Strebungen und Einflüsse. Das Subjekt ist fortwährend vor eine Wahl gestellt, die es nicht verantworten kann und dennoch treffen muß« (Lehmann, Theater und Mythos, S. 145).
299
v. pau l h eyse
mär als inspirierte, intuitive Erinnerungsleistung,122 sondern als philologische Tätigkeit, darum »ernste Arbeit« und professionelle Tätigkeit entwirft (JBV, 204). Die als Zitat markierten Passagen, die dem längeren Briefzitat voran gehen, sind in Heyses Brief, den er am 13. Januar 1850 an seinen Vater schreibt und in seiner fünften Auflage 1912 als relevantes Entscheidungsdokument inszeniert, nicht zu finden. Ebenso wenig lässt sich eine Passage finden, in der Heyse »[d]ie Szene […] ausführlich schildert[ ]« (JBV, 115), die er mit Ritschl durchlebt habe. Demgegenüber zitiert Heyse ›gewissenhaft‹ aus dem Brief seines Vaters, der den dilemmatischen Entscheidens prozess beschließt, in dem er die Entscheidung sanktioniert und der einmal archiviert fortan als faktuales Entscheidungsrelikt konsultiert werden kann. Der autodiegetische Erzähler markiert die dialogischen Redesequenzen mit Anführungszeichen als direkte figurale Benennung, kennzeichnet damit die zeitliche Differenz zwischen beiden Situationen und verdeutlicht auf diese Weise, dass das direkte und briefliche Zwiegespräch retrospektiv als entscheidend erkannt worden sind. Archivalien wird nicht allein Erkenntniswert zugeschrieben, mit dem inszenierten Archivale wird Entscheiden zugleich als (Re-)Konstruktionsarbeit erkennbar. Petzet, der Paul Heyses entscheidenskonstitutives Anschreiben nebst der Antwort auf den Brief seines Vaters 1929/30 »zum erstenmal abdruckt« und gleichfalls als Erkenntnismaterial bewirbt,123 unterlässt es, darauf hinzuweisen, dass er wie ehemals Heyse lediglich ausgewählte Passagen ediert, es sich um eine Teil edition des gesamten Briefs handelt. Petzet erscheint gegenüber Heyse gewissermaßen als unzuverlässiger Editionsphilologe. Der Brief weist entscheidungsrelevante Lesespuren auf: So finden sich an den Seitenrändern des Briefs zarte Bleistiftmarkierungen, nicht zu ermitteln ist, ob Heyse diese für seine fünfte Auflage, Carl Heyse für seinen Antwortbrief oder Petzet für seine biografischen Projekte vorgenommen hat.124
122 Wie sie etwa Augustinus konzipiert: »quamquam praeterita cum vera narrantur, ex memoria proferuntur non res ipsae, quae praeterierunt, sed verba concepta ex imaginibus earum, quae in animo velut vestigia per sensus praetereundo fixerunt«. Thimme übersetzt diese Passage folgendermaßen: »Freilich, wenn wir Vergangenes wahrheitsgemäß erzählen, holen wir aus der Erinnerung nicht die Dinge selbst hervor, die vergangen sind, sondern nur Worte, die die Bilder wiedergeben, die jene Dinge im Vorübergehen durch die Sinne dem Geiste wie Spuren eingeprägt haben« (Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, 11, 23, S. 560 f.). 123 Petzet, Dichter oder Wissenschaftler?, S. 432. 124 Vgl. hierzu die Abb. 8 und die vollständige Transkription in Kapitel IX.
300
Abb. 8: Paul Heyse an Carl Heyse, Bonn 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33.
301
v. pau l h eyse
In all diesen möglichen Fällen ist bedeutend, dass eine nachträglich gesetzte Bleistiftmarkierung die Entscheidensthematik des Briefs kennzeichnet, indem folgende Passage des achtseitigen Briefs markierungsbedürftig erschien: »Nun bin ich entschieden mit mir, so weit einer entschieden sein kann, der von so lieben Eltern abhängt, und – um es in zwei Worten zu sagen – ich will meine Kunst-Studien liegen lassen«.125 Interessant sind weiterhin Heyses und Petzets Editionsentscheidungen, insoweit diese mitsamt den für das autobiografische Projekt sowie für die nachgereichte Teiledition gewählten Passagen verraten, (1) welchen Passagen entscheidungsförmiges Potenzial zugesprochen wurde, welche Pas sagen sich für eine ›Dramaturgie des Entscheidens‹ eignen und (2) welche hilfreich sein mögen, eine vormals unentschiedene, passive, berufene Autorfigur als entschiedene, aktive, krisenerprobte Autorfigur zu (re-)inszenieren und den Berufungsmythos mithilfe einer emanzipierten Berufsentscheidung zu korrigieren. Der autodiegetische Erzähler verweist explizit auf einen faktualen, editorischen Entscheidensprozess, der erst in der fünften Auflage dargeboten wird. Mit seinem Vorwort, das er dieser Ausgabe beigibt, erhebt er den »dokumentarischen Wert« seiner letzten Ausgabe zum signifikanten Differenzkriterium gegenüber den vorherigen Ausgaben (JBV, V). Auch die überlieferte Handschrift eines frühen Entwurfs als einzig überlieferter Textzeuge der Autobiografie lässt diese Passage vermissen, wonach die Entscheidung, den Briefwechsel mit dem Vater einzublenden, eine späte editorische Entscheidung und bewusste Setzung darstellt.126 Der Entscheidensprozess zum Schriftsteller wird durch diesen editorischen Eingriff explizit thematisiert und gewinnt erst mit diesem seine prominente, werkkonstitutive Stellung innerhalb der dynamischen Textgestalt der neuaufgelegten Autobiografie. Der Erzähler rahmt Entscheiden dabei kurzerhand als ein soziales Geschehen, in dem er das Zwiegespräch sowie die dialogische Reflexion in Briefen nicht schlichtweg als entscheidenskonstitutive Komponenten nennt, sondern in seiner Autobiografie »von beide[n] berichtet« (JBV, 115). Mit dem ›Bericht‹ wählt Heyse eine Erzählform, die eine »chronikartige[ ] […] Erzählweise« auszeichnet, im Drama dafür genutzt wird, »vergangene[ ] […] oder gleichzeitige[ ] Ereignisse [einzubeziehen]« und die des Weiteren ermöglicht, ein Ereignis anhand »dokumentarisch gesicherten
125 Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33. Diese Passage tilgt Petzet auch nicht für seine Teiledition (vgl. Petzet, Dichter oder Wissenschaftler?, S. 431). 126 Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, BSB, Heyse-Archiv, Cod. Germ. 6524.
302
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Materials« darzustellen.127 Er bedient sich somit ausdrücklich eines fak tualen, autoritativen Redegestus, auf den bereits die Etymologie des Ausdrucks ›berichten‹ aufmerksam macht, denn ›berichten‹ »[b]edeutet zunächst ›richtig machen […], dann ›in Ordnung bringen‹«.128 Dies erinnert an den Zeugniswert, den Zedler einem Archivale folgendermaßen zuschreibt: »Schrifften und Brieffschafften, die aus einem öffentlichen Archiv genommen werden, […] verdienen völligen Glauben«.129 Die Bekanntheit, die für Zedlers Lexikon veranschlagt werden darf, stützt einmal mehr die hier vorgestellte These, dass gewissenhaft zitierte Archivalien im autobiografischen Text diesem einen hohen Realitätsgehalt und wissenschaft lichen Beglaubigungswert zu verleihen versprachen. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Heyse mit dem Brief nicht ausschließlich einen Berufungsmythos korrigiert respektive ›in Ordnung bringt‹, er verhandelt mit dieser Berichterstattung öffentlich seine archivarischen Praktiken und die archivarische Funktion, die sein autobiografisches Projekt konstituieren. Daraus folgt, dass Heyse mit diesem seine prospektive Nachlassorganisation, den bekenntnishaften Nachlasswert seinem gegenwärtigen sowie zukünftigen Lesepublikum darlegt. Mit der fünften Auflage berichtigt Heyse seinen zuvor skizzierten Berufungsmythos und gibt seine Berufsentscheidung als nahezu autonomes Dezisionsmoment zu erkennen. Heyse überantwortet damit vorab der Nachwelt eine berufene, begünstigte, gleichsam krisenerprobte, selbst bewusste Autorfigur. Überdies rückt er seine archivarische Tätigkeit nicht zufällig ins Zentrum der letzten Neuauflage, zumal er dieser fortan in der gesamten Autobiografie einen zentralen Stellenwert zuschreibt. Der Verweis darauf, dass er »[n]ur in kurzem Auszug« berichtet (JBV, 115), ist demnach rezeptionsästhetisch ein geschickter Zug, denn mit diesem Hinweis setzt er auf die konative, referentielle Funktion der Diegese, mit der der Autobiograf sein Lesepublikum dazu motiviert, sich den Kontext der gewählten Auszüge zu erschließen beziehungsweise sein planvoll angelegtes Heyse-Archiv zu konsultieren. Daran anschließend stellen Heyses Jugend erinnerungen und Bekenntnisse, wie eingangs erwähnt, eine archivarische Zusammensetzung aus Tagebucheinträgen, Briefen und literarischen Kleinformen dar, die neben dem realhistorischen, privaten und bereits teilweise institutionalisierten Archiv wiederum selbst ein Archiv unterschiedlicher Entscheidungsdokumente konstituieren, die nachträglich als Entschei127 Steinhoff, Bericht. 128 Seebold, berichten. 129 Zedler, Archiv. Vgl. zum handschriftlichen Authentizitätswert exemplarisch: Kammer, Reflexion der Hand, S. 131-133.
303
v. pau l h eyse
dungsressourcen ausgewiesen werden können. Die Figurenkonstellation veranschaulich in diesem Gefüge, wie Entscheidungsdokumente als Entscheidungsressourcen funktionieren. Im Verlauf des Kapitels Bonner Studien der fünften Auflage lässt der autodiegetische Erzähler die Begegnung mit Sophie Ritschl, Albrecht Ritschls junger Ehefrau, Revue passieren. In den Auflagen zuvor wird sie trotz ihrer »Anmuth des Geistes« und »großen Gedanken« vorrangig als Ritschls Ehefrau erwähnt, und so ist es primär Albrecht Ritschl, der als »bedeutende Persönlichkeit« und Professor für Klassische Philologie in Bonn den jungen Heyse berät und zugleich ein Freund seines Vaters ist (JBI-JBIV, 95; vgl. JBV, 114 f.; JBP, 105-107). Erst in der fünften Auflage wird Heyse konkret und benennt eindeutig die Gesprächskonstellationen. In den vorherigen Auflagen und auch im Brief an seinen Vater wie Freund Carl Heyse spricht er unspezifisch von den »Ritschl’s«. Gewitzt lässt er unbestimmt, ob er die Unterredung mit Herrn oder Frau Ritschl erinnert.130 In der fünften Auflage wird beinahe ›auskunftsfreudig‹ dargelegt, dass die autobiografische Figur zur jungen Frau Ritschl »ein unbedingtes Vertrauen« fasst. Heyse stilisiert Ritschl nachträglich zur versierten, befugten Entscheidungsberaterin. Dieses Vertrauen ist nicht zuletzt ausschlag gebend dafür, dass die autobiografische Figur ihr die ersten »lyrischen Versuche beichtet[ ]« (JBV, 114; vgl. JBP, 105). Wie bereits bei EbnerEschenbach und Fanny Lewald-Stahr wird die literarische Profession topisch als wagnisreiche Beichte, beinahe als ein religiöses Prozedere innerhalb eines intimen Kommunikationsraums vorgetragen. Der Beruf als Schriftsteller und noch mehr als Schriftstellerin wird indirekt als ein prekäres Lebensmodell vorgestellt und so folgt auf die Beichte unmittelbar eine intime Beratungsszene. Diese ist maßgebend für das Entscheiden in seiner prozesshaften, kommunikativen und sozialen Dimension. Erst mit dieser Interaktion wird eine Figurenkonstellation geschaffen, die eine inoffizielle Kommunikation ermöglicht. Indes der Erzähler hier die junge Ritschl ins Spiel bringt, wird die Autobiografie um ein entscheidenskonstitutives Schlüsselmoment in Form eines Zwiegesprächs ergänzt, das Heyse erst in der fünften Auflage ankündigt: Hier aber muß ich einer edlen Frau gedenken, die in jener Zeit, wo ich eine innere Krisis durchzumachen hatte, mir mit heilsamer gütiger Strenge zu Hilfe kam. 130 Vgl. hierzu: Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33; Petzet, Dichter oder Wissenschaftler?, S. 433.
304
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Ich war, wie schon oben erwähnt, durch meinen Vater an Ritschl empfohlen worden, in dessen Hause ich die herzlichste Aufnahme fand, obwohl ich schon damals der klassischen Philologie abtrünnig geworden war. Zu seiner jungen Gattin faßte ich sofort ein unbedingtes Vertrauen, so daß ich ihr bald meine lyrischen Versuche beichtete und außer den Märchen die beiden Novellen »Luise« und »Vincenz und Veilchen« zu lesen gab. Sie war ohne Frage die geistvollste Frau, die mir in meinem jungen Leben begegnet war, vom feinsten Verständnis für alles Menschliche und Dichterische und jene »großen Gedanken, die aus dem Herzen kommen«, darin, wie auch ihrem Stamme nach, eine Verwandte der Rahel, doch ohne deren unendliches Bedürfnis, sich in Briefen auszusprechen, nur im Gespräch unwiderstehlich anziehend, wie diese, und ohne eigentlich schön zu sein, durch die Anmut ihres Temperaments in jedem Kreise hervorglänzend. Gegen Weihnachten (1849) kam ich einmal wieder eines Abends zu ihr und traf sie allein, da sie eben sich mit meiner Poeterei beschäftigt hatte (JBV, 114 f.; JBP, 105 f.).131 Auf dieses exordium folgt der bereits zitierte Erzählerkommentar, mit dem Heyse beteuert: Die Szene, die nun folgte, darf hier nicht übergangen werden, wie in den früheren Auflagen dieses Buches, da ich selbst erst jetzt den Brief wieder aufgefunden habe, in dem ich sie meinem Vater ausführlich schilderte, so wie seine Antwort darauf. Nur in kurzem Auszug aber soll hier von beidem berichtet werden (JBV, 115; vgl. JBP, 106). Die Figur Ritschl besitzt zunächst fünf entscheidenskonstitutive Funktionen, die erklären mögen, weshalb »[d]ie Szene […] hier nicht übergangen werden [darf]« (JBV, 115): (1) Mit der Begegnung Ritschls als »teure Gewissensprüferin« wird ein vertrauensvolles Zwiegespräch, ein »entschei dende[s] Gespräch« innerhalb eines intimen Kommunikationsraums möglich (JBV, 116). (2) Zugleich trägt Ritschl einen Teil der Entscheidungslast und -verantwortung, indem sie der autobiografischen Figur ihren Glauben an deren Talent zusichert, nachdem die autobiografische Figur dem falschen Glauben nachhing (JBV, 102 f.; vgl. JBI-JBIV, 93 f.; JBP, 94). (3) Als »Ver131 Die Zuschreibung »große[ ] Gedanken, die aus dem Herzen kommen[,]« ist auch in den vorherigen Auflagen zu finden, allerdings wird in diesen Sophie Ritschl nicht als Entscheidungsberaterin figuriert, ihr kommt in diesen Auflagen ausschließlich die Funktion zu, das Ehepaar sowie das Haus Ritschl zu charakterisieren (JBI-JBIV, 95), und nicht wie in der fünften Auflage einen Entscheidens bedarf bei der autobiografischen Figur zu initiieren.
305
v. pau l h eyse
wandte der Rahel« ist sie vertraut mit exakt jenem Netzwerk (JBV, 115),132 das Heyse für seinen Berufungsmythos knüpft und in dem er seine Mutter und sich selbst positioniert. (4) Ritschl wird als eine fachkundige Literaturexpertin vorgestellt, die dazu befugt ist, bei der autobiografischen Figur einen Entscheidensbedarf zu initiieren, (5) der eine bekenntnishafte Aussprache beziehungsweise eine therapeutische, nämlich »heilsame[ ]« Katharsis motiviert (JBV, 114), die sich anschließend schriftgebunden in einer prominenten, entscheidensaffinen Gattung vollzieht: dem Brief. Dieser Brief kann erst durch diesen Vorspann sein ästhetisches sowie präsentisches Potenzial als Entscheidungsmedium und Entscheidungsressource entfalten. Ferner kann erstmals die archivarische Funktion des autobiografischen Projekts fokussiert werden. Zentral ist zudem, dass der Erzähler deutlich macht, wie er sich erst durch den Gebrauch von (späteren) Archivalien an ebendiese Szene erinnert habe, er sich abermals gegen eine rein mentale Erinnerungsleistung ausspricht und bekundet, wie diese Erinnerungs praxis ihm überhaupt ermöglicht habe, diese Entscheidungsdokumente als -ressourcen in seinen Text einzuweben. Doch zurück zur »Szene, die […] hier nicht übergangen werden [darf]«: Sophie Ritschl schürt mit ihren vorsichtigen Korrekturen an Heyses Novellen Luise sowie Vincenz und Veilchen Selbstzweifel, die den jungen Autor umso mehr erschüttern, da er diese bereits selbst gehegt habe, weshalb er sich für die – unter Pseudonym herausgegebenen – Märchen »im Herzen schämte«. Vermeintlich werden Heyses Selbstzweifel bestätigt, sodass sie die autobiografische Figur motivieren, sich mit einer Frage an Ritschl zu wenden, die Heyses eigene schriftstellerische Existenz betrifft, eine richtungsweisende Antwort einfordert und ein Entscheidungsmoment anspornt: Die teure Frau sprach zunächst von der größeren Novelle. »Sie hatte viel zu tadeln, was ich mir selbst vorgeworfen hatte … es sei nicht groß, sondern mit dem Geschmack gemacht, nicht mit dem vollen Herzen. In der ›Luise‹ sei mehr Macht, unbefriedigend, jugendlich, aber ergreifend … Tagelang hatt’ ich selbst schon dies Gefühl einer schwächlichen, zerfetzten Existenz mit mir geschleppt … . Nun ward ich mir klar bewußt, daß ich auf U n wegen (sic.) bin, meine Kraft vergeude im Mittelmäßigen und Kleinen« usf.133 »Glauben Sie noch an mich und meine Zukunft« fragt’ 132 Rahel Varnhagen von Ense ist wie bereits bei Fanny Lewald-Stahr eine prominente, entscheidungsrelevante Bezugsgröße für den Schriftstellerberuf. 133 Die Anmerkung »(sic.)« findet sich so in der gedruckten Quelle und stellt keine Anmerkung im Kontext dieser Studie dar.
306
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
ich endlich die herrliche Frau. Ja, sagte sie rasch, wenn Sie selbst an sich glauben. Es hat mir Schmerz gemacht, Sie in diesen Berliner Kreisen sich verzetteln zu sehn, wie Sie hier ein gleichgültiges Verhältnis weiterführen, dort einem halben Talent sich anschließen, dort wieder ein zierliches Liedchen machen müssen und über all den tausend kleinen Sorgen die größte, die um Ihre eigene Größe vergessen. Kommen Sie zu sich und setzen Sie alle ungeteilte Kraft daran, ein Dichter zu sein – und in diesem Sinne noch eine gute Weile weiter, was ich mir in mancher guten hellen Stunde halb eingestanden hatte, während ich doch so hinlebte.« »Ich gab ihr still die Hand, es war wie ein Gelöbnis. Noch ist es nicht zu spät, sich zu ermannen, sagte sie. Sie sind neunzehn Jahre alt. In dem Alter gehen andere zur Universität, und Sie haben Ihre Zeit ja nicht verloren. Aber vor allem – wenn Sie nach Berlin gehen, wird aus Ihren männlichsten Entschlüssen nicht das Geringste. Sagen Sie’s Ihren Eltern. Sie werden Sie entbehren, es wird sie hart ankommen. Aber wenn ich einen Sohn hätte, wie Sie, und er käme und sagte: Mutter, ich fühl’s, ich darf nicht um dich bleiben, höhere Güter gingen mir verloren! – so wäre ich standhaft und ließe ihn gehn.« Die Aufregung, in der wir beide uns befanden, beruhigte sich endlich, nachdem mein Entschluß feststand. Daß ich nicht von Hause aus so gestellt war, um als freier Poet leben zu können, hatte ich ihr gestanden. Ich mußte daher irgendein Studium ergreifen, ein Brotstudium, das mich auf eigene Füße stellen könnte. Mit der Fortsetzung meiner kunstwissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere zur Geschichte der Architektur, sah es übel aus, da die Forschungen zu einer Dissertation über die Bauhütte im Mittelalter ins Stocken geraten waren. Mehr hatte mich die romanische Philologie angezogen, da ich die Vorlesungen des verehrten Friedr. Diez über Dante mit größtem Eifer und Genuß besucht hatte. Zudem hatte ich hier einen Stoff gefunden, der meine dichterische Phantasie lebhaft beschäftigte und zugleich das zu leisten versprach, was meine teure Gewissensprüferin mir zur Pflicht gemacht hatte: die ernste Versenkung in eine schwere, leidenschaftliche poetische Aufgabe, die dramatische Gestaltung einer Tragödie Francesca von Rimini. So schied ich von jener Stunde im Innersten beruhigt und getröstet und ging, zu Hause angelangt, sofort daran, meinem lieben Vater Rechenschaft abzulegen. Nachdem ich ihm jenes entscheidende Gespräch ausführlich mitgeteilt hatte, fragte ich ihn, ob es ihm nicht zu schwer fallen würde, mich ein weiteres Jahr in Bonn zu unterhalten: Von seiner äußeren Lage wußte ich nur, daß seine Einnahmen eben ausreichten, ihm eine sorgenfreie Existenz zu gewähren und den einzigen Luxus, den er sich 307
v. pau l h eyse
gönnte, die Vermehrung seines großen ›Bücherschatzes‹ [war] (JBV, 115-117; JBP, 106 f.). Diese Schilderung bereitet den unmittelbar daran anschließenden Entscheidensprozess nicht mehr vage, sondern explizit vor, rahmt ihn gleichermaßen. Betont wird zudem, dass die autobiografische Figur unter ihrer »schwächlichen, zerfetzten Existenz« leidet (JBV, 115). Eine ähnliche Gemütslage schildert Heyse in zwei Briefen gegenüber seinem Vater und beide fallen jeweils in den Entscheidungszeitraum. Bereits am 27. Dezember 1849 schreibt er: »Mein Leben ist wie zerschnitten, ich muß es wieder ganz machen, koste es was es wolle«, und dem seinen Entscheidensbedarf bekun denden,134 siebzehn Tage später verfassten »Herzensgruß« droht die Kassation (JBV, 117): »Ich sende das Blatt gleich ab, um es nicht auch noch zu zerreißen«.135 Mit den Verben ›zerschneiden‹, ›zerreißen‹ und dem Adjektiv ›zerfetzen‹ verweist Heyse implizit auf die Etymologie des Ausdrucks ›Entscheiden‹ und die Semantik des Trennens.136 Die innere Zerrissenheit und die stückhafte Zusammenfügung wird mit der bricolage in der fünften Auflage typografisch, also bildlich umgesetzt. Gemäß Ritschl kann ausschließlich Heyses »ungeteilte Kraft« diese einen. Danach werde es ihm gelingen, »sich zu ermannen«. Beste Voraussetzungen also, um eine emanzipierte Entscheidung zu treffen, statt »männlichste[ ] Entschlüsse[ ]« fortwährend versiegen zu lassen. Ausschlaggebend für die Entscheidung ist jedoch nicht ratio, sondern sensum: Denn erst ein »ich fühl’s« lässt in Ritschls potenziellem Optativ die Entscheidung eine legitimierte, sanktionierte und für Heyse überhaupt erst eine lebbare werden, die den Konflikt tatsächlich befriedet (JBV, 115 f.). Gleicherweise ist Bernays’ »tief eindringende[ ] Spürkraft« (JBI-JBIV, 106) maßgebend für seinen wissenschaftlichen Erfolg,137 der Heyse dazu bewegt, nach »Unwegen (sic)« einen anderen (JBV, 115), gleichermaßen Erfolg verheißenden Karriereweg einzuschlagen. Nach der Entscheidung entsteht sein Trauerspiel. Nachdem zuvor seine Märchen 134 Paul Heyse an seinen Vater, 27. Dezember 1849. Heyse gelingt letztlich mit dem kathartischen Entscheidensprozess eine strukturierte Fügung. Bemerkenswert ist hierbei, dass gemäß Wilm in Bernays’ Katharsistheorie »der ganze Mensch« fokussiert wird (Wilm, Die Grenzen tragischer Katharsis, S. 34). 135 Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33. 136 Vgl. hierzu auch: Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung, S. 8, 14. 137 Diese Passage fehlt in den Auflagen JBV und JBP, da die Entscheidung romanische Philologie zu studieren nicht mehr an Bernays, sondern fortan an Sophie Ritschl und Carl Heyse gebunden ist (vgl. JB, 116; JBP, 107; Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VII.8).
308
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
»nicht mit dem vollen Herzen« verfasst schienen (JBV, 115), da sie, wie in den Auflagen zuvor, aus einer unspezifischen »Gährung« heraus entstanden sind (JBI-JBIV, 105). Mit der Berufsentscheidung geht nun eine zielgerichtete Textgenese einher. Er folgt dem, was seine »teure Gewissensprüferin […] [ihm] zur Pflicht gemacht hatte: die ernste Versenkung in eine schwere, leidenschaftliche poetische Aufgabe, die dramatische Gestaltung einer Tragödie Francesca von Rimini« (JBV, 116). Das sensorische Entscheidungsmedium ist ausnahmslos das Herz: Weshalb Paul Heyse Ritschls Verständnis für die »›großen Gedanken, die aus dem Herzen kommen‹« hervorhebt (JBV, 115; JBI-JBIV, 95). Gerade diese Eigenschaft, so die Argumentationslogik, befähigt sie zur Entscheidungsberaterin. Konsequent wird der Rechenschaftsbrief als »Herzensgruß« bezeichnet (JBV, 117) und ebendort wird sein Herz als Entscheidungs medium stilisiert, wenn er zu Beginn ankündigt: »Ich habe diesmal viel auf dem Herzen«,138 ihm nach der brieflichen Aussprache »nun leicht ums Herz ist« und Carl Heyse seinen entscheidenden Sanktionsbrief mit folgenden Worten beschließt: »Ich drück dich mit innigster Liebe an mein Herz«. Schließende Worte, die Paul Heyse gewissenhaft in seiner Autobiografie zitiert, nachdem er eine längere Passage auslässt, um einen karrierekonstitutiven, Nachruhm versprechenden Entscheidensprozess zu schließen und indirekt beinahe indiskret auf eine prekäre Herzens angelegenheit, nämlich auf seine Affäre mit Ritschls Ehefrau zu verweisen. Mit dem Hinweis auf das »leidenschaftliche[ ] Verhältnis« erklärt Heyse (JBV, 118), dass der Ortswechsel anders als der Studienwechsel eine alternativlose, auferlegte Entscheidung gewesen sei. Die Tragweite des vorgelegten Bekenntnisses zeigt sich an einem Brief, den Bernays an Heyse im Entscheidensjahr 1850 schreibt, um seinem Freund folgende über ihn verhängte Entscheidung darzulegen: Denn Niemandem, außer Ihren Eltern, werden Sie den wahren Grund der Sache sagen dürfen. […] Schreiben Sie, wenn es irgend geht, bis Sie meinen nächsten Brief bekommen haben, gar nicht hierher nach Bonn, und am allerwenigsten an discipulam tuam delineandi F[rau] R[itsch]l. […] Die Zumuthung besteht nun darin, daß Sie ohne auf weitere Aufklärung zu bestehen, gleich nach Empfang dieser Zeilen den festen Entschluß fassen sollen, nicht hierher zu kommen. […] Ja, ich würde mich nicht einmal damit begnügen können, das Verbrennen eines 138 Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33. Vgl. auch: Petzet, Dichter oder Wissenschaftler?, S. 431.
309
v. pau l h eyse
solchen Briefes zu verlangen, sondern ich würde mir denselben, nachdem Sie ihn gelesen, zurückerbitten müssen.139 Ersichtlich wird daraus, dass Bernays Briefe, die dieses »leidenschaftliche[ ] Verhältnis« dokumentieren (JBV, 118), keinesfalls von Heyse, einem Schriftsteller, archiviert wissen möchte. Bonn zu verlassen, wird als alternativlose Entscheidung ausgewiesen, die Heyse zu akzeptieren und nicht zu treffen hat. Den Bekenntnisgehalt seiner Autobiografie wertet Heyse mit einem offenbarten Geheimnis auf, von dem er eigentlich »Niemandem«, allenfalls seinen »Eltern« erzählen dürfe. Heyse wählt zudem die bekenntnishafte Herzmetaphorik sicherlich nicht zufällig für seinen Entscheidensprozess, denn mit dieser schafft er einen intertextuellen Verweis auf zwei kanonisierte Klassiker autobiografischer Projekte: Augustinus’ Confessiones und Jean-Jacques Rousseaus Les Confessions. Augustinus’ autodiegetischer Erzähler stilisiert sein Herz als erkenntnissicherndes Entscheidungsmedium: »luce securitatis infusa cordi meo omnes dubitationis tenebrae diffugerunt«, und Rousseaus autodiegetischer Erzähler formuliert gleich zu Beginn das Erzählkonzept seiner Autobiografie und klassifiziert das zentrale Medium für sein autobiografisches Projekt folgendermaßen:140 Je forme une entreprise qui n’eut jamais d’exemple et dont l’exécution n’aura point d’imitateur. Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature; et cet homme ce sera moi. Moi seul. Je sens mon cœur et je connais les hommes.141 139 Jacob Bernays an Paul Heyse, Bonn, 18./19. März 1850, S. 10 f. Ein Verhältnis, das Petzet dazu dient, Francesca von Rimini als Schlüsseltext auszugeben (vgl. Petzet, Paul Heyse, S. 738). Dieses Urteil besaß sicherlich besondere Schlagkraft, nachdem Heyse mehrfach als frivoler Autor beurteilt wurde. Die Publikumswirksamkeit eines Schlüsseltextes nutzen auch im Jahr 2010 die Herausgeber von Jacob Bernays Briefen an Paul Heyse, wenn sie im Nachwort schreiben: »Als diese Affäre ruchbar wurde, veranlasste dies Jacob Bernays (offenbar auf Drängen Ritschls), dem Studenten zu einer Rückkehr nach Berlin zu raten. In der Novelle Das Bild der Mutter (1858) hat Heyse Elemente dieser Affäre verarbeitet. […] Die Affäre mit Sophie Ritschl blieb offenbar nicht die einzige erotische Beziehung, die Heyse während seiner Bonner Zeit einging. Heyse war ein schöner Mann« (Günther, Biographische Einführung, S. 242 f.). Hierin kann ein letzter Versuch erkannt werden, mit ›frivolen‹ Details den Autor – wenn auch als ›Schwerenöter‹ – vollends vor einem bereits – vielfach beklagten – Vergessen zu retten. 140 Thimme übersetzt diese Passage folgendermaßen: »mein Herz [durchströmte] das Licht der Gewißheit, und alle Schatten des Zweifels waren verschwunden« (Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, 8, 29, S. 362 f.). 141 Rousseau, Les Confessions, S. 67. Alfred Semerau übersetzt diese Passage fol gendermaßen: »Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das
310
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Augustins »luce securitatis infusa cordi meo« und Rousseaus »Je sens mon cœur« können als entscheidenskonstitutive Sentenzen für Heyses Autobiografie veranschlagt werden. Pottbeckers ist demnach zu widersprechen, wenn er zwischen Augustins, Rousseaus und Heyses Autobiografien »[e]rstaunlicherweise […], trotz der Titelanalogien, kaum Parallelen zwischen den einzelnen Lebensberichten und ihren inhärenten Konzepten feststellen« kann.142 Der anschließend zitierte väterliche Brief verrät jedoch, dass die autobiografische Figur die Legitimation zur freien Berufswahl letztlich bei seinem Vater sucht, die Entscheidung netzwerkbasiert, kollektiv vollzogen wird und die autobiografische Figur nicht zurückgezogen sich selbst, einem »moi seul« folgend,143 befragt. Die Tatsache, dass die Verbindung zu Ritschl entschieden auf Paul Heyses Vater zurückgeht, zählt zu den elementaren Bausteinen des erzählten Entscheidensprozesses. Die Entscheidung zur schriftstellerischen Tätigkeit scheint primär innerhalb des durch den Vater evozierten Netzwerks sanktioniert. Der überlassene Entscheidungsspielraum in der direkten familiären Kommunikation ist durch Ritschls rahmende Vorrede bereits eingeschränkt und strategisch inszeniert. Mit diesem Kniff und mit dem zitierten Brief gelingt es Heyse, dass die entscheidende Autorität seines Lebens den jungen Heyse als selbstbewussten Entscheider und berufenen »Dichter« aufbaut (JBV, 117 f.).144 Diese strategische Ausrichtung unterbindet prophylaktisch einen Dissens, denn sollte sich der Vater wider Erwarten negativ zu den Ereignissen äußern, die eine endgültige Entscheidung vorbereiten, an deren Vorbereitung auch er teilhatte und weiterhin teilhat, liefe dies nicht nur Ritschls Prognose zuwider, der zufolge auch Heyses Eltern die Berufung zu »›höhere[n] Güter[n]‹« an erkennen und sich als »›standhaft‹« erweisen werden (JBV, 116), sondern auch den zahlreichen proleptischen Einschüben, mit welchen Heyse sich seine berufene Autorfigur mitsamt einem Entscheidungsdrama schafft. Ritschls Figurenrede, die zahlreichen Prolepsen und der durch den Vater
mand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein. Ich lese in meinem Herzen und kenne die Menschen« (Rousseau, Die Bekenntnisse, S. 9). Das Verb ›sentir‹ übersetzt Semerau mit ›lesen‹, ›sentir‹ bedeutet jedoch fühlen und dieses Verb erweist sich in autobiografischen Entscheidensprozessen als ausschlaggebende Entscheidungsressource (vgl. Auvrai, March, Hald, Kopyczinski, Meister, Sgorlon und Wirth, sentir). 142 Pottbeckers, Dichter und Wahrheit, S. 18. 143 Rousseau, Les Confessions, S. 67. 144 Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8.
311
v. pau l h eyse
vorgegebene Bildungsweg mit den offerierten Netzwerken konstituieren den Erwartungshorizont. Anders gewendet: Die Berufsentscheidung ist wie die Berufung netzwerkbasiert und netzwerkbildend: Nachdem der Figur Ritschl die Funktion zukommt, den Entscheidensbedarf beziehungsweise die Entscheidungsnotwendigkeit anzustimmen, endet der Entscheidensprozess mit einem paternalistischen, absichernden Abgesang. Die vordergründig emanzipierte Entscheidung wird dementsprechend partiell externalisiert, der Entscheidensprozess setzt sich aus aktiven Handlungen und Widerfahrnissen zusammen: Es wird ein Wechselspiel präsentiert, das Entscheiden deutlich als soziales Geschehen zu erkennen gibt, sodass die Szene mit Ritschl im Zeichen der Rückversicherung, während die mit Heyses Vater im Zeichen der »Rechenschaft« steht.145 Die getroffene Entscheidung besitzt eine kathartische, eine entlastende Funktion. Die Aufregung beider Protagonisten versiegt nach den vorerst getroffenen »Entschlüssen« (JBV, 116). Für die autobiografische Figur ist dieser Zustand jedoch lediglich von kurzer Dauer, denn der Entscheidensprozess ist – bis zur paternalistischen Sanktion – nicht beendet: So schied ich von jener Stunde im Innersten beruhigt und getröstet und ging, zu Hause angelangt, sofort daran, meinem lieben Vater von den neuen Entschlüssen zu meiner Zukunft Rechenschaft abzulegen (JBV, 116; JBP, 107). Der geweckte Entscheidensbedarf motiviert die autobiografische Figur, einen Brief zu schreiben und ein Entscheidungsmedium zu nutzen, das eine intime Kommunikation distanzüberbrückend ermöglicht sowie den weiteren Entscheidensprozess zeitlich strukturiert. Die Schreibtätigkeit, die die autobiografische Figur unmittelbar nach dem Zwiegespräch mit Ritschl beginnt, kann an Hörnings Kreativitätskonzept gebunden werden, da für dieses ein krisenhaftes Moment im Sinne scheiternder Handlungsroutinen wesentlich ist.146 Mit dem aus einem Krisenmoment heraus generierten Brief und einem motivierten Antwortschreiben entstehen gleichsam Schriftstücke respektive Entscheidungsdokumente, die archiviert und später als 145 Vgl. zur historischen, rhetorischen Dimension autobiografischer ›Rechenschaftsgesten‹ und ›Rechtfertigungsgesten‹ exemplarisch: Graevenitz, Geschichte aus dem Geist des Nekrologs, S. 163 f.; Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 131 f.; Kremer, Autobiographie als Apologie. 146 Hörning, Kultur als Praxis, S. 147. Die punktuelle Externalisierung gibt der getroffenen Entscheidung einen »legitimationsstiftenden Effekt« bei und »[minimiert] die Kontingenzerfahrung« (Hoffmann-Rehnitz, Krischer und Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, S. 239).
312
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Entscheidungsressourcen ausgestellt werden können. Demzufolge be herzigt Heyse Ritschls Rat, sich nicht unentschieden zu »verzetteln« (JBV, 115). Er nutzt jedoch die bricolage, um entschieden seine Autobiografie mit seinem prospektiven Heyse-Archiv zu ›verzetteln‹ und ein intertextuelles, kulturhistorisch relevantes Netzwerk zu etablieren, auf das der Erzählerkommentar verweist. Dieser kündigt wiederum den archivierten, erstmalig publizierten, zeugnishaften Brief an: Die Antwort auf diesen Herzenserguß, die ich Mitte Januar 1850 erhielt, habe ich nach zweiundsechzig Jahren mit tiefer Rührung wiedergelesen, da sie Zeugnis gibt von einem Verhältnis zwischen Vater und Sohn, wie es inniger und vertrauensvoller nicht zu denken ist. Von den sechs enggeschriebenen Seiten dieses Briefes soll hier nur der Anfang mitgeteilt werden. »Mein geliebter Sohn! Du stehst an einem Scheidewege, zu dem Dein Lebens- und Bildungsgang Dich früher oder später führen mußte. Du wirfst Dich aber weder blindlings auf gut Glück in eine oder die andere Bahn, noch bleibst Du unschlüssig schwankend stehen, die Bestimmung von Anderen erwartend, die Du nur in Dir selbst finden kannst. Vielmehr bist Du, wie es einem klaren und starken Geiste gebührt, ernstlich mit Dir selbst zu Rate gegangen, hast den inneren Kampf redlich durchgekämpft und einen Entschluß gefaßt, der Deiner würdig ist und dem ich meine unbedingte Zustimmung nicht versagen kann. – Und wäre Deine Entscheidung anders ausgefallen, hättest Du Deinem Dichterberufe mißtrauend, Dich ganz der kunstgeschichtlichen Forschung zu widmen beschlossen: ich würde, wenn auch mit Schmerz und innerem Widerstreben – denn mein Leben wäre um meine schönsten Hoffnungen betrogen – das Resultat Deiner ernsten Selbstprüfung billigen müssen. Ich hätte von Dir nicht fordern können, ›Sei ein Dichter!‹ wenn Du selbst an Deiner poetischen Sendung zweifeltest. – Wie freue ich mich nun, daß der Ausspruch Deiner inneren Stimme mit meinen Wünschen und meiner längst gehegten Überzeugung von Deinem wahren Beruf so vollkommen in Einklang ist!« – Und weiterhin: »Es wird uns zwar hart ankommen, Dich noch einen Sommer entbehren zu müssen; wenn es aber zu Deinem Besten ist, so fällt jede andere Rücksicht weg. … In Hinsicht der Kosten mache Dir vorläufig keine Sorgen. Ist die Sache einmal für gut befunden und beschlossen, so wer313 https://doi.org/10.5771/9783835349148
v. pau l h eyse
den sich auch die Mittel dazu finden. … Ich drücke Dich mit innigster Liebe an mein Herz. Dein treuer Vater und Freund C. H.« (Daß ich gleichwohl darauf verzichten mußte, meine romanischen Studien unter Diez fortzusetzen und daneben in der Stille mich in meine Francesca von Rimini zu versenken, hatte seinen Grund nicht etwa in einer Sinnesänderung meines teuren Vaters. Ein leidenschaftliches Verhältnis, das nicht ganz geheim geblieben war, mußte für immer abgebrochen werden, was nur geschehen konnte, wenn ich nach Bonn nicht mehr zurückkehrte.) (JBV, 117 f.; vgl. JBP, 108 [Hervorhebung durch S. N.]).147 Die Hervorhebungen zeigen an, welche Passagen wortwörtlich ohne Texteingriffe übernommen wurden. Es wird rasch erkennbar, dass es sich bei den zitierten Passagen um exakte Wiedergaben respektive direkte Zitate handelt. Heyse kürzt lediglich im ersten Satz das Adjektiv »unausbleiblich«, dies stellt jedoch keine signifikant sinnverändernde Bearbeitung dar. Indem aussagekräftige Briefpassagen zitiert werden, die zudem Anfang und Ende markieren, schlägt der Autobiograf indirekt eine umfassende Edition als rentables Zukunftsprojekt vor. Kurzum: Die Vorlassarbeit gilt der Nachwelt.148 Mit der Inszenierung ›privater Dokumente‹, die punktuell dargeboten werden, wird in der Diegese ein selbstangelegtes Archiv visualisiert, in das der autodiegetische Erzähler dem Lesepublikum exklusive Einblicke gewährt. Vormals private, intime Ereignisse werden als autorisierte Beigabe erstmals öffentlich ausgestellt, kurzerhand werden Entscheiden als sozialer Prozess und die archivarische Funktion eines autobiografischen Projekts inszeniert. Heyse betont wie bei der Passage mit Ritschl die intime, vertrauensvolle gegenseitige Zugewandtheit. Diese ist ausschlaggebend dafür, dass die autobiografische Figur ihr Entscheidungsdilemma offenbart. Entscheiden wird besonders durch sein krisenhaftes Moment als ein intimer Prozess vorgestellt, der sich vorzugsweise in privaten Kommunikationsräumen vollzieht, die kontrollierbar sind.
147 Vgl. hierzu Abb. 9 und die vollständige Transkription in Kapitel IX. 148 Zutreffend ist auch Conradis, Hoofs und Nohrs Beobachtung: »Wo immer Entscheidungen getroffen werden, sind daher auch Medien zur Stelle, um diese vorzubereiten, zu dokumentieren, zu verlautbaren, zu archivieren oder gegebenenfalls auch selbst zu treffen« (Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung, S. 10).
314
Abb. 9: Carl Heyse an Paul Heyse, Berlin 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8.
315
v. pau l h eyse
Bemerkenswert ist zudem, dass Ritschls Worte in Carl Heyses Brief fast wortgleich auftauchen (»es wird sie hart ankommen«, »Es wird uns zwar hart ankommen« [JBV, 116, 118]).149 Demzufolge verwendet Paul Heyse den Brief seines Vaters als (1) faktualen Erzählbaustein wie auch (2) deutlich fiktionalisierten Erzählbaustein in Ritschls Figurenrede. Mit den stilistischen Einsprengseln, die auf den Brief des Vaters zurückgehen, erscheint Carl Heyse als Souffleur und indem Ritschls mit Carl Heyses Aussagen mitunter wortgleich übereinstimmen, demnach in »Einklang« sind, wird die Berufsentscheidung als harmonische Fügung, als polyphone »Text interferenz« dargestellt (vgl. JBV, 118).150 Heyse orientiert sich offenkundig maßgeblich an seinen privaten Archivalien, während er den Erzähltext für sein autobiografisches Projekt gestaltet, dies zeigt sich – nebst diesen Passagen – mitunter anhand vorhandener Stilbrüche.151 Der präsentierte Entscheidensprozess oszilliert zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung: So wendet sich die autobiografische Figur zwar mit »den neuen Entschlüssen« an den Vater, jedoch präsentiert sie sich dabei noch als abhängig von der familiären Entscheidungshoheit und von ausgewählten Bezugspersonen, die an ihr poetisches Talent glauben und darin bestärken. Beachtlich ist hierbei, dass Ritschl und Heyses Vater den angehenden Schriftsteller erst als individuelle Entscheidungsinstanz etablieren, indem sie etwa seine »innere Stimme«, sein Gefühl zu primären Entscheidungsressourcen erheben. Carl Heyses Brief übernimmt dabei die Funktion der Nachrationalisierung.152 Man könnte sagen, der Vater erscheint als sekundärer nichtdiegetischer Erzähler des Entscheidensprozesses, mit der Folge, dass er abermals faktual sowie fiktional am erhofften Erfolg seines Sohnes mitwirkt. Ritschls Anteil als Beratungsinstanz wird 149 Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. 150 Schmid versteht unter ›Textinterferenz‹ ein Phänomen der Zweistimmigkeit, das eintritt, sobald sich »Erzählertext« und »Figurentext« überlagern (Schmid, Elemente der Narratologie, S. 156 f., vgl. ebd., S. 181, 184). Schmid vermerkt zur Relevanz des Erzählers für den Erzähltext, dass »allein schon die Auswahl einzelner Abschnitte aus dem Kontinuum der Reden und Gedanken der Figur und die Nicht-Auswahl anderer der Wiedergabe eine gewisse Narratorialität verleihen« (ebd., S. 155 f.). Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. 151 Eklatant etwa in einer Passage, in der er sein Tagebuch wiedergibt, bereits lange bevor mit einem Erzählerkommentar darauf hingewiesen wird, lassen eine dominante parataktische Reihung sowie temporale Strukturen ahnen, dass Heyse aus seinen Tagebüchern zitiert (vgl. hierzu exemplarisch: JBV, 161, 163). 152 Vgl. zur ›Nachrationalisierung‹ in autobiografischen Projekten exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 16.
316
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
retuschiert, wenn der Vater im Brief seinen Sohn als souveränen Entscheider inszeniert, der nicht »›die Bestimmung von anderen erwarte[t]‹« und allein mit sich selbst »›ernstlich […] zu Rate‹« geht (JBV, 117).153 Diametral gegenüber steht dieser Schilderung dabei Heyses Frage an Ritschl: »›Glauben Sie noch an mich und meine Zukunft?‹« (JBV, 115). Ebenso kontrastiert die Aussage des Vaters, dass er »nicht fordern könne[ ] ›sei ein Dichter!‹« mit Ritschls Weisung: »›setzen Sie alle ungeteilte Kraft daran, ein Dichter zu sein‹« (JBV, 115, 117). Die Entscheidung, fortan ausschließlich als Schriftsteller tätig zu sein, präsentiert sich im Erzähltext vorläufig als Kollektiventscheidung, die im Brief des Vaters wiederum zur Individualentscheidung gemünzt wird. Der Brief und die zitierte Figurenrede besitzen eine Beweisfunktion, die trotz allem bewirkt, dass die Entscheidungsverantwortung eine kollektiv geteilte ist und bleibt. Mit dem Scheideweg kommt innerhalb der gewählten Textpassage ein Topos hinzu, dessen räumliche Semantik ebenfalls ›Privates‹ mit ›Öffentlichem‹ verbindet. Gerade der Scheideweg visualisiert als ein prominentes, intersubjektives Stilmittel hier ein privates Dilemma, das in einem Text platziert ist, der veröffentlicht werden soll. Die Komplexität des Entscheidens findet vorzugsweise Ordnung und Struktur im Topos des Scheidewegs, also in einer Wegstruktur,154 die laut Friedrich bevorzugt wird, um die Komplexität des Lebens innerhalb einer Narration darstellbar zu machen, denn [d]ie Alternative, die die Wissenschaft in der dichotomischen Logik von wahr und falsch, die Moralphilosophie in der von Gut und Böse vorgibt, übersetzt das Diagramm vom Scheideweg in eine simple Entscheidungssituation in einer krisenhaften Lebenssituation. […] Der Scheideweg kann zum Kreuzweg werden, an dem sich plötzlich mehrere Alternativen stellen und den Entscheidungsprozess in eine komplexe Reflexion führen. […] Das diagrammatische Modell des Scheidewegs liefert Optionen, immer neue Konstellationen zu erfinden. So muss die Entscheidung nicht notwendig zwischen asymmetrischen oder gleichwertigen Geltungs ansprüchen getroffen werden.155 153 Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. 154 Friedrich, Erzähltes Leben, S. 66-70. Ähnlich schreibt etwa Lübbe: »Man trifft auf Scheidewege, jedoch weiß man längst, in welche Richtung zu gehen ist, und wer dennoch die falsche einschlägt, folgt wie man weiß, keiner Entscheidung, sondern gibt einer Versuchung nach« (Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 124). Vgl. hierzu auch: Schlotheuber, Der Mensch am Scheideweg, S. 71-96. 155 Friedrich, Erzähltes Leben, S. 55.
317
v. pau l h eyse
Heyses Vater nutzt den Scheideweg nicht ausschließlich, um den komplexen Entscheidensprozess zu verbildlichen, den ihm sein Sohn schildert, sondern er verwendet ihn gleichfalls, um die Alternativen, die sich Paul Heyse darbieten, zu strukturieren. Heyses Vater verwendet mit dem »Helden am Scheideweg« einen theatralen Topos, der Honold zufolge »zum topischen Grundbestand der abendländischen Kunst und Kultur zählt«.156 Hierfür sind die Passagen besonders aussagekräftig, die Paul Heyse zwar nicht in seiner Autobiografie zitiert, die er jedoch archiviert, und Heyse dient seine Autobiografie erklärtermaßen in der fünften Auflage dazu, auf sein zukünftig zugängliches Heyse-Archiv aufmerksam zu machen. Ebendort ist Carl Heyses Brief an seinen Sohn bis heute archiviert und in den für die Autobiografie ausgesparten Passagen entwickelt Carl Heyse einen entscheidungsheuristischen, krimatologischen Leitfaden.157 Für Paul Heyses »wahren Beruf« ist gemäß Carl Heyse eine Entscheidung zwingend. Dies zeigt sich besonders in einer rhetorischen Frage, die Petzet später aufgreifen wird: Nicht »Kunstwissenschaft, oder romanische Philologie?« ist die Frage – das ist Nebensache; sondern: Poesie, oder Wissenschaft? Niemand kann zweien Herren dienen. Um ein ganzer Mensch zu werden und Deine Kräfte nicht in widerstrebenden Richtungen Deiner Thätigkeit unter fortwährendem inneren Kampfe zu zersplittern, mußt Du entweder ein ganzer Dichter, oder ein ganzer Forscher zu werden suchen. Was dazwischen liegt, führt unfehlbar zu unfruchtbarer Halbheit, die weder Dich selbst innerlich befriedigen, noch für Andere befriedigende Früchte tragen würde. Es gibt nichts Unseligeres, als einen theoretisierenden Künstler oder künstlerisch dilettierenden Gelehrten. Beiderlei Thätigkeiten sind nach Maßen und Form durchaus verschiedenartig, in ihren Richtungen einander diametral entgegengesetzt. – Du weißt aber, wie ich über deine geistige Begabung denke; ich bin seit Jahren fest überzeugt, daß Du von der Natur zum Künstler, nicht zum wissenschaftlichen Forscher berufen bist. Folgst Du Deiner inneren Stimme, bleibst Du Dir selbst treu: so wirst Du ein ganzer Dichter werden; und das ist mindestens eben so viel, als ein ganzer Gelehrter irgend eines Faches, und unendlich mehr, als ein 156 Honold, Das Gottesurteil und sein Publikum, S. 110. 157 Der Ausdruck »Krimatologie, f. gr (von krinea, Entscheidung, Urtheil, von krinein, schneiden, unterscheiden, entscheiden)« bedeute übersetzt »die Lehre von den Urtheilen« (Heyse und Heyse, Krimatologie). Für Ute Frietsch, Jörg Rogge und Matthias Meinhardt gehört ›Krise‹ sogar zur Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens (Meinhardt, Krise).
318
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
halber Dichter und ein halber Gelehrter in einer Person. Bist Du aber zum Dichter berufen und fühlst die Kraft in Dir, diesem Berufe Dich ganz zu widmen: dann sei unbekümmert um den äußeren Erfolg und die zufällige Stellung im Leben. Wirst Du von Deiner Nation als Dichter anerkannt, so ist es völlig gleichgültig, ob Du nebenbei Doctor, oder Professor, oder Geheimrath, oder gar nichts bist: Ob Du Schlösser sammelst, oder in beschränkten Vermögensumständen lebst. Danach fragt kein Mensch, und Du darfst und wirst am wenigsten danach fragen, denn Dir wird in jeder Lage wohl sein und Du wirst freudig Vielem entsagen, was besonders reizt, wenn Du nur Deiner Natur getreu in Deinem wahren Elemente leben kannst. Um ein ganzer Dichter zu werden, ist es nun aber freilich nicht genug, Verse zu machen und etwas Romane zu schreiben. [Hervorhebung im Original].158 Carl Heyses Position stimmt mit Ritschls überein, schriftstellerischer Erfolg sei allein möglich, sobald eine bewusste, eine – Alternativen ausschließende – Entscheidung für den Schriftstellerberuf getroffen werde, dem zufolge hat gemäß Carl Heyse sein Sohn »keine heiligere Pflicht, als die […] [ihm] verliehenen Kräfte frei zu entwickeln«. Dem Schriftstellerberuf wird 158 Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. Womöglich wird hier auf Schillers Konzept des ›ganzen Menschen‹ verwiesen (vgl. hierzu exemplarisch: Schilling, Über Anmut und Würde, S. 390). Paul Heyse schreibt zuvor an seinen Vater: »Kaum ist mir je eine Zeit so voller Kampf vergangen« (Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33). Carl Heyse nimmt die Wendungen seines Sohns auf, Paul Heyse zitiert somit, indem er den Brief seines Vaters wiedergibt, indirekt auch seinen eigenen Brief. Eine solche fürchtet Paul Heyse und bekundet dies im Brief an seinen Vater folgendermaßen: »Eine wissenschaftliche Thätigkeit aber, ohne redliche Produktion widert mich an. Und doch ist es mir unmöglich zugleich wissenschaftlich und künstlerisch fruchtbar zu sein. […] Und doch blieb ich […] ein Halbwisser […]. Eine traurige Möglichkeit ist noch, daß ich auch nie ein ganzer Poet würde« (Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33). Paul Heyse entwirft demgemäß eine kulturhistorisch relevante Autorfigur. Erwähnenswert ist, dass Petzet und Herbig Carl Heyses literatur geschichtliche Bemühungen in ihrem biografischen Projekt festhalten: »Das systematisch geordnete Verzeichnis […] [seiner Bibliothek], das er unter dem Titel ›Bücherschatz der deutschen National-Litteratur des XVI. und XVII. Jahrhunderts‹ erscheinen ließ, konnte er mit Recht einen bibliografischen Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte nennen; denn es ist tatsächlich eine wertvolle Vorarbeit des Goedekeschen ›Grundrisses‹«. Die Biografen betonen, Carl Heyse habe dies in »Berlin 1854« herausgegeben und dieses Werk sei »heute eine Seltenheit geworden, da es nur in 50 Exemplaren gedruckt wurde« (Petzet und Herbig, Carl Wilhelm Ludwig Heyse und sein System der Sprachwissenschaft, S. 12).
319
v. pau l h eyse
erneut eine religiöse Dimension zugeschrieben. Eine solche Entscheidung zeichnet einen Schriftsteller geradezu aus. Es bedarf einer Entscheidung, um das »Eine« (JBV, 103; vgl. JBI-JBIV, 94; JBP, 95) zu finden, das Heyse sucht, unentschieden jedoch gar nicht finden kann. Gleichzeitig wird der Schriftstellerberuf als ein angeborenes Naturgesetz stilisiert, Heyses Vater begründet eine potenzielle Berufung wie sein Sohn biologisch. So ist für Carl Heyse die »poetische Natur« seines Sohnes dafür verantwortlich, dass er sein orientierungsloses Irren, seine »U nwege (sic)« (JBV, 115), seinen »Zwiespalt« erkennt, und es ist die »poetische Natur«, die ihn an seinem Scheideweg zu navigieren vermag.159 Indem Carl Heyse für einen notwendigen Entscheidensbedarf Carlo Goldonis Diener zweier Herren als Beispiel anführt,160 um zu erläutern, wie gefährlich ein unentschiedenes Doppelleben sein kann, wird wie bereits bei Fanny Lewald-Stahr ein kanonisierter Klassiker als Intertext herangezogen, mithilfe dessen potenzielle Entscheidungen exemplarisch durchgespielt werden können. Die romanische Philologie wird ihm demzufolge, nachdem die Entscheidung getroffen sei, ausschließlich »Bildungsmittel, […] Nahrungsstoff und Anregung«, kurzum ein »Brotstudium« sein.161 Entscheiden bestimmt Carl Heyse als einen kräftezehrenden Akt, der eine Bewährungsprobe darstellt. Der von Stollberg-Rilinger beschriebene Zumutungscharakter, der Entscheidensprozesse auszeichne, wird hier ersichtlich.162 Erwähnenswert ist, dass Carl Heyse Entscheiden als krisenhaftes Moment konturiert, indem er seinem Sohn zustimmt: »Du hast 159 Heyse, Meine Erstlingswerke, S. 57-59; Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. 160 Der Wortstamm ›zwei‹ korrespondiert mit der Bifurkation bei »zweifeltest« und mit der verzweigten Form des Scheidewegs, der zwei Alternativen visualisiert und im Falle Heyses mit einer Entscheidung zu einem erfolgversprechenden Karriere weg werden kann. Paul Heyse schreibt im Brief an seinen Vater: »Manchmal schrieb ich an dich noch spät in der Nacht mitten aus dem Wirbel aller zweifelnden Gedanken heraus« (Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse- Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33). Demgegenüber ist der Scheideweg geradezu ein strukturgebendes Ordnungssymbol. Vgl. zum »Y als Wegweiser«: Harms, Homo viator in bivio, S. 134-139. 161 Paul Heyse betont prozessbegleitend unermüdlich die Geldsorgen seines Vaters, der als Philologe tätig ist. Demgegenüber hebt Paul Heyse fortwährend hervor, wie er mit seinen Tantiemen bereits früh versucht habe, seinen Vater finanziell zu unterstützen (JBV, 114, 117; vgl. JBI-JBIV, 105; JBP, 105, 107; Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33). Das Philologiestudium verliert mit dieser reductio ad absurdum den Status als ab sicherndes Brotstudium und kann dem »ermann[t]en« Autor lediglich eine karrierefördernde Hilfswissenschaft sein (JBV, 116). 162 Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 12. Vgl. hierzu auch: Stollberg-Rilinger, Für
320
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
vollkommen Recht, wenn Du sagst, daß Dein unsterblich Theil in Gefahr geschwebt hat. Du hast es glücklich gerettet, Du hast Dich wieder«.163 Gleichermaßen resultiert der von Carl Heyse nachgezeichnete Entscheidensprozess aus einer gewissenhaften Übersetzungstätigkeit, also einer philologischen Praxis. Er wiederholt einen Vergleich seines Sohnes und stellt ihm ein bekanntes Vorbild zur Seite, nämlich Augustins Confessiones: Wie Augustin »[s]chwebte« Paul Heyse in Gefahr (»in was für Gefahren mein unsterblich Theil geschwebt hat«, »Dein unsterblich Theil in Gefahr geschwebt hat«, »periclitantem quidem graviter«),164 beide überwinden ein unentschiedenes Schwanken (»me interim ad illiam ancipitem fluc tuationem«,165 »noch bleibst Du unschlüssig schwankend stehen«) und Augustinus kann wie Heyse nach einer Entscheidungskrise als »Reconvalescent« bezeichnet werden (»quam transiturum me ab aegritudine ad sanitatem, intercurrente artiore periculo quasi per accessionem, quam crieine Historisierung des Entscheidens; Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens. 163 Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. 164 Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, 6, 1, S. 208 f.; Paul Heyse an Carl Heyse, 13. Janaur 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33; Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. 165 Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, VI, 2, 210 f. Vgl. zu Augustins »unschlüs sige[m] Schwanken[ ]« exemplarisch: Reil, »Confessiones« 6, S. 161 f. Vgl. zur rhetorischen Funktion der Bekehrungsszene exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 112-118; Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 2226. Interessant ist Reils Beobachtung, der zufolge Augustinus den Entscheidens prozess mithilfe einer autobiografischen Praxis beschließt: »Augustin tut hier einen Schritt, mit dem es einem Menschen in Verzweiflung gelingt, wieder mit sich selbst in Beziehung zu kommen: er mobilisiert seine Erinnerungskraft und tritt in Gedanken mit den Menschen aus seiner Biographie in Verbindung«. Diese autobiografische Technik verhelfe ihm dabei, »die Abgründe des gegenwärtigen unsicheren Daseins zu bestehen und sich auf eine offene Zukunft hin auszu strecken« (Reil, »Confessiones« 6, S. 162). Augustinus’ Confessiones wird in der vorliegenden Studie als ein Text verstanden, der autobiografische Funktionen erfüllt. Vgl. zur Genrefrage bezüglich der Confessiones exemplarisch: Greisch, Bekennen – Erzählen – Bezeugen, S. 171. Bei Heyse wird demgegenüber der Entscheidensprozess nicht als mentale, sondern als materiale Praxis vorgestellt. Gleichfalls endet Heyses Autobiografie nicht mit der bekehrenden Entscheidung, denn nach der Entscheidung erfolgt eine kulturgeschichtliche Einordnung seiner geschaffenen Autorfigur, die autobiografie- und archivwürdig ist. Wagner- Egelhaaf legt dar, dass Augustinus’ Confessiones »Wendepunkt der Bekehrung […] abbricht«, demnach »[scheint] das an sein Ziel gekommene Leben […] nicht mehr autobiographiefähig zu sein« (Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 113 f.). Heyses Zielpunkt ist, der Weisung seines Vaters entsprechend, die Nationalphilologie. Für diese gilt es, sich nach der lebenslauf- sowie werkkonstitutiven Entscheidung noch als repräsentative Autorfigur zu gestalten.
321
v. pau l h eyse
ticam medici vocant, certa praesumebat«).166 Carl Heyse knüpft somit bereits 1850 Paul Heyses Entscheidensprozess an einen autobiografischen Text an und stellt einen intertextuellen Bezug her, der »nach zweiundsechzig Jahren mit tiefer Rührung wiedergelesen« (JBV, 117), werkkonstitutive Funktion bezüglich des autobiografischen Projekts und im Sinne eines »›tolle lege‹« lebenslaufkonstitutive Funktion belegt und erfüllt.167 Riskant erscheint ein Entscheidensprozess hier zudem aufgrund eines kontingenten Ausgangs, zumal eine Entscheidungskrise ebenso tragisch verlaufen kann wie ein Trauerspiel, das womöglich mit dem Tod des Protagonisten oder der Protagonistin endet. Bettine Menke legt in ihrer vergleichenden Studie dar, dass primär der »kontingente[ ] Ausgang« einen Agon auszeichne, dies gelte naturgemäß gleichfalls für eine agonale Entscheidungsfindung.168 Weiterführend sind hierbei Honolds, Lehmanns, 166 Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. Thimme übersetzt diese Passage folgendermaßen: »es werde dies ein Übergangszustand aus Krankheit zu voller Gesundheit sein, wenn auch vielleicht erst nach Überwindung einer letzten andrängenden ernsteren Gefahr, der Krisis, wie die Ärzte es nennen« (Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, 6, 1, S. 210 f.). Paul Heyse schildert seine vorherigen Berufsentscheidungen als »U n wege (sic)« und erinnert – wie mit der angewandten Lichtmetaphorik – bereits an Augustinus’ »mihi circuire praesenti memoria praeteritos circuitus erroris mei«. Thimme übersetzt diese Passage folgendermaßen: »Laß mich […] in der lebendigen Erinnerung des heutigen Tages meinen einstigen Irrgängen nachgehen« (ebd., S. 4, 1, vgl. ebd., S. 118 f.). 167 Thimme übersetzt diese Passage folgendermaßen: »›Nimm und lies‹« (ebd., S. 8, vgl. ebd., S. 29, 360 f.). 168 Menke, Agon und Theater, S. 205, 218, 219. Menke bezieht sich hierbei auf Vismanns Studie Drama des Entscheidens (vgl. Vismann, Das Drama des Entscheidens, S. 92 f.). Nassehi zufolge zeichnet diese bedrohliche Kontingenz moderne Gesellschaft geradezu aus, denn »[s]obald das, was in der Welt geschieht, auch innerweltlich eindeutig zurechenbar wird, taucht die Möglichkeit des fundamentalen Scheiterns am Horizont auf. […] Die innerweltliche Zurechnung von Entscheidungen auf Entscheider erfordert es, die kontingenten Folgen in einer weitgehend enttraditionalisierten Kultur auch innerweltlich zu tragen. Mit anderen Worten: Handeln wird riskant« und erst mit einer Entscheidung werde »die drohende Kontingenz durch Eindeutigkeit […] ersetzt« (Nassehi, Optionssteigerung und Risikokultur, S. 82, 90). Heyses Autobiografie sowie die Briefe belegen, dass die Berufsentscheidung mit einem Berufungsmythos externalisiert, die Entscheidungslast auf Netzwerkakteure verteilt und gleichfalls ein luzider Entscheider rhetorisch aufgebaut wird. In Summe handelt es sich damit nicht um eine »riskante[ ] Entscheidung[ ]«, jedoch wird die Berufsentscheidung als eine riskante Entscheidung inszeniert, wodurch Heyse gemäß einem poeta philologus »Tradition und Gegenwart in einen spannungsvollen Dialog« setzt (Dehrmann und Nebrig, Einleitung, S. 11). Nassehi versteht »[u]nter riskanten Entscheidungen […] solche Entscheidungen […], die im Horizont, also im Bewußtsein einer offenen, unbekannten
322
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
Menkes und Vismanns Beobachtungen, denn alle halten fest, dass innerhalb einer Tragödie dem Protagonisten oder der Protagonistin ein Entscheidungsspielraum zugestanden werde, die Entscheidung jedoch bereits längst für diesen oder diese gefallen beziehungsweise verhängt sei. Die Ent scheidung des Protagonisten oder der Protagonistin diene lediglich als bestätigende »Wahrheitsprobe« und erfülle die Funktion einer Selbst erkenntnis.169 Menke bezieht sich in ihren Ausführungen auf Lehmann, der darlegt, dass der tragische Held »die Erfahrung [macht], daß die Würfel über sein Schicksal bereits gefallen sind« und »nur nachträglich wird das Subjekt lesen können, was seine Bestimmung war, wie sie sich im Labyrinth seiner Lebensgeschichte verwirklicht hat«.170 Gerade mit der bricolage wird Entscheiden als nachträgliche, nämlich retrospektive Konstruktionsarbeit erkennbar, die einen krisenhaften Prozess vor Augen führt, der im Falle autobiografischer Projekte konzentriert für eine zukünftige Rezeptionsarbeit genutzt wird. Dies mag erklären, weshalb Heyse seinen Berufungsmythos trotz nachgereichter Entscheidung in der letzten Auflage doch nicht aufgibt; vielmehr den Berufungsmythos mit seiner Entscheidung zusammenführt und auf diese Weise ein tragisches Strukturschema formgerecht erfüllt. Heyse fügt seinem prozesshaften Entscheidungsdrama alle sechs Elemente hinzu, die gemäß Aristoteles eine Tragödie auszeichnen: (1) Der »Mythos« taucht in Heyses Autobiografie als Berufungsmythos und Entscheidungsdrama auf. (2) Die »Charaktere« ergänzt Heyse in seiner fünften Auflage, indem er die Figuren Ritschl und Carl Heyse einfügt. Die (3) »Sprache« pflegt er mittels des zitierten Archivale ein, beide Figuren ermöglichen die (4) »Erkenntnisfähigkeit«, die Heyse wiederum mit dem erstmalig zitierten Archivale ›beglaubigt‹. Mit beiden glückt ihm auch (5) die notwendige »Inszenierung« und (6) »Melodik«, wenn der Figurentext des Vaters, mit dem Ritschls interferierend, entscheidungsgewiss einstimmt. In der fünften Auflage gelingt ihm »[d]er wichtigste Teil«: »die Zusammenfügung der Geschehnisse«.171 Neben der erneut anklingenden religiösen Dimension wird mit dieser Passage deutlich, was Heyse mit seiner fünften Auflage programmatisch versucht: die Rettung seiner Autorfigur für eine prospektive Nachwelt und UnsterblichZukunft getroffen werden und die das mögliche Scheitern der geplanten Handlungsfolgen antizipieren« (Nassehi, Optionssteigerung und Risikokultur, S. 96). 169 Honold, Das Gottesurteil und sein Publikum, S. 96; Vgl. hierzu: ebd., S. 96 f.; Vismann, Das Drama des Entscheidens, S. 96. 170 Lehmann, Theater und Mythos, S. 136, 145. Vgl. hierzu: Menke, Agon und Theater, S. 218 f., 239. 171 Aristoteles, Poetik, 6, S. 51 f.
323
v. pau l h eyse
keit. Carl Heyse betont in seinem Brief, dass es besonders wichtig sei, dass Paul Heyse von seiner »Nation als Dichter anerkannt« werde, trete dies ein, »so ist es völlig gleichgültig, ob Du nebenbei Doctor, oder Professor, oder Geheimrath, oder gar nichts bist: Ob Du Schlösser sammelst, oder in beschränkten Verhältnissen lebst«. Allerdings sei es, »[u]m ein ganzer Dichter« respektive erfolgreicher Autor »zu werden«, nicht »gleich gültig« unentschieden zu sein.172 Allein eine Entscheidung, die für Selbst erkenntnis steht, gewährt potenziellen Nachruhm, das weiß Heyse und nutzt diese Konstellation für seine letztgültige Ausgabe. Anders formuliert: Heyse bindet nachlassbewusste Selbsterkenntnis an philologisch geschulte Archivierungspraktiken. Die explizit dargestellten Archivierungspraktiken kommentiert der autodiegetische Erzähler geradezu zuverlässig und summiert ergeben all diese Erzählerkommentare ein Repertorium, sodass das Lesepublikum zu ahnen vermag, wie es um die Materialfülle des faktualen Heyse-Archivs bestellt ist. Mit der entscheidungsformal genutzten bricolage mitsamt den dargestellten kommentierten Archivierungspraktiken lässt Heyse biografische Entscheidungen als soziales, krisenhaftes Ereignis erkennbar werden, die weniger kontingent als vielmehr netzwerkbasiert erfolgen. Wenn Heyse dennoch mühevoll einen Berufungsmythos arrangiert und seinen beruflichen Werdegang gleichfalls als eine märchenhafte ›Künstlernovelle‹ konzipiert,173 indem er seine unter einem Pseudonym veröffentlichten (JBV, 114; vgl. JBP, 106), durchaus erfolgreichen Märchen erwähnt (vgl. JBV, 114, 117; vgl. JBIJBIV, 105; JBP, 105, 107), die Sophie Ritschl just in jenem Moment liest, 172 Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. 173 Eine ›Künstlernovelle‹ zeichne aus, dass »ein konflikthaftes Ereignis aus dem Leben eines Künstlers exemplarisch [aufgegriffen]« werde« (Mühlenberend, Künstlerroman, S. 412). Heyses und Kurz’ Novellenkonzept kommt deutlich dem autobiografischen Entscheidensprozess in der fünften Auflage zugute, denn: »Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu der Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmefall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet« (Heyse und Kurz, Einleitung, S. 14). Mit seiner Künstlernovelle gibt er seiner fünften Auflage »›eine sich ereignete unerhörte Begebenheit‹«, eine »›faktische Neuigkeit‹« bei (Eckermann, Gespräche mit Goethe, FA, II. Abt., Bd. 12, S. 221; Döhl, Novelle, S. 547). Ihren Novellenschatz bezeichnen die Herausgeber als »Mustersammlung« und eine ebensolche ist gewisser maßen mit dem erstmalig edierten Archivale auch Heyses Autobiografie (Heyse und Kurz, Novellenschatz, 24).
324
v.2 cor r e spon den z sch r a n k , öf f n e dich!
als er sich mit ihr über seine berufliche Zukunft berät und damit ein »konflikthaftes Ereignis« angekündigt wird (vgl. JBV, 113-118; JBP, 104-108),174 die Berufung nach München durch König Max als »märchenhafte Glückswendung« bezeichnet (JBV, 185; vgl. JBI-JBIV, 172; JBP, 169), für das zweite Eheglück »[d]ie guten Mächte, die [s]eines Lebens walteten« (JBV, 313; vgl. JBI-JBIV, 306; JBP, 285),175 verantwortlich macht; dann scheint Heyse nicht die Kontingenz, sondern vielmehr den Netzwerkcharakter seiner lebenslauf- und werkkonstitutiven Entscheidungen kaschieren zu wollen. Besonders da ein Berufungsmythos, ein Entscheidungsdrama sowie eine märchenhafte ›Künstlernovelle‹ weit mehr dazu beitragen können, die eigens geschaffene Autorfigur als exklusive Ausnahmeerscheinung vorzustellen. Zumal Heyse sich gemeinsam mit Kurz gerade in der Einleitung ihres Novellenschatzes mit einer »vermeintlichen Archivkatastrophe […] in die Position des Archivgründers schwingt«.176 Bedeutsam ist, dass Heyse seinem zentralen Freund und Förderer Geibel zwar seine Autobiografie widmet und Geibels berufsentscheidende Netzwerkarbeit thematisiert, sie aber gleichsam retuschierend relativiert, sobald er ein Märchen um seine netzwerkbasierte Berufsentscheidung legt. Nicht zuletzt stellt Heyse mithilfe eines exemplarischen lebenslauf- und werkkonstitutiven Entscheidensprozesses aus, dass er ein breites, poetisches Formrepertoire bedienen kann. Dies gelingt ihm in Form eines Berufungsmythos, Entscheidungsdramas, einer märchenhaften Künstlernovelle und mithilfe seiner philologischen Fertigkeiten, wenn er auf die bricolage zurückgreift. Demzufolge demonstriert Heyse, dass er das poetische sowie philologische Handwerk beherrscht,177 immerhin nutzt er die entscheidensaffinen Gattungspotenziale gewissenhaft. Die bricolage ist mit der fünften Auflage die letzte Etappe bei Heyse und erst mit dieser gibt er sein Archiv frei, dessen Materialfülle und -wert er exemplarisch anhand eines intimen Entscheidensprozesses erstmalig publik macht. Daran anschließend endet das Kapitel Bonner Studien auch nicht mit Heyses Entscheidung, sondern 174 Vgl. Mühlenberend, Künstlerroman, S. 412. 175 Jedoch setzt Heyse dieses Ereignis in den ersten vier Auflagen unter die Überschrift Bekenntnisse und in der fünften Auflage existiert ein neues Kapitel mit der Überschrift Erste Liebe. Die Passage findet sich jedoch unverändert in allen fünf Auflagen. 176 Weitin, Selektion und Distinktion, S. 387. 177 Wilm erläutert, dass Bernays »die Herstellung von Tragödien als ein durch ›Regeln‹ zu lernendes Handwerk« konzipiere und, »[i]ndem Bernays diese Regeln für seine eigene Zeit in Erinnerung zu bringen sucht, macht er das ›Geheimnis der tragischen Kunst‹ auch für zeitgenössische Dichter wie seinen Freund Heyse zugänglich« (Wilm, Die Grenzen tragischer Katharsis, S. 43 f.).
325
v. pau l h eyse
mit seiner Disputatio und der erfolgreichen Promotion, die als Ausweis seiner professionellen Fähigkeiten gelten mag.178 Rhetorisch geschickt werden die prospektiven Leserinnen zu Vertrauten und können dies werden, da Heyse auch diesen zukünftigen Kommunikationsraum selbstzensierend reguliert. Seinem Lesepublikum überantwortet er »›Manuskripte für Freunde‹«,179 einen autobiografischen Schlüsseltext und eine eigens gestaltete Autorfigur.180 Schließlich wird dem Lesepublikum in der fünften Auflage eine Entscheidung, sogar eine sanktionierte Entscheidung geboten, jedoch werden weder der Berufungsmythos noch der philologische Brotberuf vollends verworfen. Heyse entwirft ein weites Autorschaftskonzept, sodass eine anpassungsfähige Autorfigur vorgelegt wird, die in Literaturgeschichten mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung einen Platz finden kann. Die kulturgeschichtliche Relevanz der eigens geschaffenen Autorfigur nach178 In der der Promotionsschrift beigegebenen Vita mitsamt Dankeswort tummeln sich geradezu prominente Fachgrößen. Ein absicherndes, interdisziplinäres Netzwerk, zumal diesem auch sein Vater und der Mann seiner »treuen« Entscheidungsberaterin angehören: »Scholis usus sum philologicis Boeckhii, Lachmanni, Heysii, Curtii, Grimii, Huberi, Welkeri, Ritschelii, Diezii, Bernaysii, historicis Rankii, Loenbellii, Waagenii; philosophicis Trendelenburgii, Hothonis, Werderi; quibus viris clarissimis suas cuique gratias dico ex animi sententia« (Heyse, Vita, S. 47). Gröne legt dar, dass Heyses Werke verdeutlichten, dass »das literaturwissenschaftliche Wissen das literarische Schaffen schult« (Gröne, Von der Philologie zur Fiktion, S. 193). 179 Benne expliziert, dass ›Manuskripte für Freunde‹ ein »kurzlebige[s], heute kaum noch bekannte[s] Genre« sei, »[h]äufig handelte es sich dabei gar nicht um Handschriften, sondern um Exklusivdrucke für wenige Vertraute oder jene, die es werden sollten« (Benne, »kein Einfall sollte untergehen«, S. 221). Indem Heyse wiederholt darauf aufmerksam macht, wie intim sein Entscheidensprozess gewesen sei und dass er sich nur seinen innigsten Herzensmenschen anvertraut habe und erst in der fünften Auflage das zentrale, bislang private Entscheidungsdokument preisgibt, spielt Heyse mit den Konventionen dieses Genres und inszeniert für sein Lesepublikum – womöglich absatzsteigernd – seine Teiledition als einen »Exklusivdruck« für »Vertraute«. 180 Franzen legt dar, dass das rezeptionsstrategische Potenzial eines Schlüsselromans darin liege, »dass ein grundsätzliches Interesse an geheimen Informationen jeder Art existiert« und »Insiderromane-Romane versprechen zunächst einmal genau das – ein vormals geheimes Wissen, das den Lesern durch den Bericht eines Eingeweihten zugänglich gemacht wird« (Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 183). Heyse nutzt dieses Genrepotenzial für die fünfte Auflage seiner Autobiografie. Benne erläutert, dass während des 19. Jahrhunderts Briefe kontinuierlich auf gewertet wurden. Manuskripte und weitere Materialien würden aufbewahrt, da sie in unbestimmter Zukunft womöglich »als Grundlage einer Biografie oder Edition, als Sammlerobjekt« dienen könnten (Benne, »kein Einfall sollte untergehen«, S. 218).
326
v.3 von a rch i v z u a rch i v
haltig abzusichern, beruht auf einer akribischen Arbeit am Berufungs mythos und Nachlass. Prosperität verspricht nicht nur ein Papiermassen verwahrender ›Correspondenzschrank‹, denn gemäß Walter Hettche »dürfte« Heyses »Briefnachlaß einer der umfangreichsten und vielgestaltigsten in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts sein«.181 Erfolg verheißt gleichfalls eine überlegte Nachlassorganisation, die mithilfe einer autobiografischen Archivierung bereits zu Lebzeiten publik gemacht wurde. Sorgsam wird auf diese Weise das Lesepublikum von einem autobiografischen Vorlass zu einem faktischen Nachlass, zur Schatzkammer der Handschriften navigiert.182
V.3 Von Archiv zu Archiv Korrespondenzen als Wertpapiere Wie in den beiden vorangehenden Kapiteln Entschieden unentschieden und Correspondenzschrank, öffne Dich! dargelegt werden konnte, bemüht sich Heyse als Autobiograf über die Auflagen hinweg, eine kanon- sowie archivwürdige Autorfigur zu entwerfen. Dies gelingt ihm vollends in der fünften Auflage, indem er die archivarische Funktion seines autobiografischen Projekts nutzt und anhand bislang unveröffentlichter Entscheidungs dokumente, die er autodiegetisch als Entscheidungsressourcen inszeniert, exemplifiziert. In diesem abschließenden Teilkapitel, das gleichsam als Zusammen fassung der vorherigen Ergebnisse angelegt ist, soll nun gezeigt werden, inwieweit die archivarische Funktion eines autobiografischen Projekts weitere, archivarische Entscheidensprozesse motiviert respektive wie ein mithilfe der bricolage dargestellter, retrospektiver Entscheidensprozess einen präsentischen Entscheidensbedarf weckt, der zukunftsorientiert ausgerich181 Hettche, Paul Heyses Briefwechsel, S. 272. Vgl. hierzu auch: Bettelheim, Paul Heyses Briefwechsel; Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 200. Bettelheim spricht Heyses Briefen sogar rehabilitierende Wirkkraft – Goethes Gedicht Das Gött liche zitierend – zu: »[Die] wird zudem aus seinen Briefwechseln erfahren, welch ein untadeliger Mensch, wahrhaft edel, hilfreich und gut Paul Heyse gewesen, ein Charakter wie wenige – zu wenige seiner und unserer Tage« (Bettelheim, Paul Heyses Briefwechsel, S. 36). 182 Vgl. Spiero, Schatzkammer der Handschriften. Besuch in der Bayerischen Staats bibliothek, in: Neueste Nachrichten, 22.1.1925, BayHSta, GDION Bibliotheken, 789.
327
v. pau l h eyse
tet ist: Kurzum wie mithilfe autobiografischer Archivierungspraktiken ein konkreter archivarischer Entscheidensprozess evoziert wird, der Zeige finger des autodiegetischen Erzählers also bereits in Richtung eines öffent lichen Archivs deutet. Hierfür wird Heyses autobiografisches Projekt mitsamt seinen Archivierungspraktiken kontextualisiert, um ergänzend zu verdeutlichen, dass mit autobiografischen Projekten auch nachlasskonstitutive, kollektive Entscheidensprozesse einhergehen, die mithilfe archivarischer Praktiken strukturiert und letztlich testiert werden. Bemerkenswert ist, dass Heyse bis 1912 erklärtermaßen eine berufene, erfolgreiche Autorfigur mit krisenfreiem Lebensweg entwirft, jedoch mit der fünften Auflage seiner Autobiografie ebendiese von Fortuna begünstigte Autorfigur durch eine berufene, gleichermaßen entschieden selbst bestimmte wie krisenerprobte Autorfigur ersetzt.183 Die Bedeutungs dimension der neugestalteten Autorfigur wird ersichtlich, sobald die fünfte mit den vorherigen Auflagen verglichen wird. In den ersten vier Auflagen legt Heyse sein Leben, besonders im Vergleich mit den diegetischen Welten seiner Werke, noch als beinahe ereignisarm dar: Wenn es aber wohlgethan ist, sein Werk für sich sprechen zu lassen und in Betreff des äußeren, wenig bewegten Lebenslaufs den Nekrologen nicht vorzugreifen, so hat es doch auch gerade unter den künstlerisch schaffenden Menschen, die eben darum mit reizbareren Sinnen und ungestümerem Blut begabt zu sein pflegen, solche gegeben, deren äußeres Leben selbst einem leidenschaftlich bewegten Roman voll gewaltsamer Katastrophen gleicht, deren Selbstbiographie uns daher zuweilen inter183 Den Wert einer Krisenerzählung betont Heyse in seinem Vorwort zum zweiten Band der fünften Auflage, gleichzeitig profiliert er dabei die Werkbiografie, die es ermögliche auch ein krisenarmes Leben spannungsreich darzubieten: »Wer ›in unsres Lebensweges Mitte‹ angelangt ist, hat seine Werdezeit hinter sich, in der uns selbst unbedeutende Menschen anziehend sein können, während ein Begabterer nun hinlänglich sich selbst erlebt hat, um fortan zu wissen, was er will und kann. Ist er ein praktischer Charakter, ein Mann der Tat, ein Forscher oder Erfinder, so mag nun erst recht seine Wirksamkeit beginnen, und der Bericht über die Hindernisse, die er davontrug, wird vielleicht ein kleines Kapitel der Kulturgeschichte bilden, das wir nicht missen möchten. Anders beim Künstler oder Dichter. Auch einem solchen kann ein Leben reich an Abenteuern und äußeren Wechselfällen beschieden sein, das dann ein persönliches Interesse erweckt und des Erzählens wert ist. Wenn es aber daran fehlt und die Schaffenden nun ihre Lehrjahre hinter sich haben, liegt ihre fernere Lebensgeschichte in ihrer Lebensarbeit« (JBV2, Vorwort). Bezeichnend ist dies, nachdem Heyse in seinem ersten Band der fünften Auflage gezielt Autobiografie, Archiv und Werk verknüpft. Hinzu kommt, dass Heyse mit seiner fünften Auflage eine Autorfigur gestaltet, die nicht nur über ein reiches Werk, sondern auch ein (krisen)reiches Leben verfügt.
328
v.3 von a rch i v z u a rch i v
essanter ist, als ihre Schöpfungen. Zwar nicht die Italiener, wohl aber alle übrigen Leser würden, wenn sie zu wählen hätten, sämtliche Tragödien Alfieri’s gegen seine Vita hingeben […]. Auch ist es nicht bloße Neugier, die uns bedauern läßt, daß der Dichter des Childe Harold und Don Juan keine Memoiren hinterlassen hat. Immerhin hätte er auch in seinem Selbstporträt »posiren« mögen, gleich den Helden seiner Dichtungen […]. Zur vollen Erkenntniß dieses wundersamen Menschen voll innerer Widersprüche würde uns jede weitere Confession neben seinen Briefen und Dichtungen von hohem Wert gewesen sein. Mein eigenes langes Leben ist ohne dergleichen stürmische Wechselfälle verflossen, und bei den großen weltumwälzenden Ereignissen dieses Jahrhunderts habe ich nur den Zuschauer gemacht und selbst im bescheidensten Maße nie thätig mitgewirkt (JBI-JBIV, 294).184 Die zitierte Passage erinnert nochmals an Heyses postalische Auskunft gegenüber Bolin, dass sein Leben schlichtweg ereignislos sei und deshalb schwerlich einen autobiografischen Plot ergäbe.185 Geradeso spricht Heyse in der hier zitierten Passage privaten Archivalien einen Erkenntniswert zu und deutet bereits vage eine archivarische Funktion autobiografischer Projekte an, die er zugleich indirekt seiner Autobiografie in den ersten vier Auflagen – anders als in der fünften Auflage – abspricht. Es formiert sich die Frage: Ist ein »langes Leben« ohne »stürmische Wechselfälle«, ohne »gewaltsame[ ] Katastrophen«, ohne »innere Krisen« (JBV, 114), mit »Ereignißlosigkeit« gesegnet,186 ein Leben, das geradezu ruhig verflossen sei, erzählenswert, oder würde dieser romanhafte Mangel eine langatmige Lebenserzählung eines restaurativen Epigonen sein? In ihrer Studie zur Autobiographie hält Martina Wagner-Egelhaaf fest, dass autobiografische Erzählungen zumeist nach einer Krise versiegen, indem eine Krise dadurch ende, dass die autobiografische Figur eine gesellschaftliche, gar vor(her)gesehene Rollenfunktion einnehme.187 Diese Be184 Erst nach zweihundertneunundvierzig Seiten anzumerken, dass das eigene Leben eigentlich kaum »autobiographiefähig« sei, ist gleichfalls als eine captatio benevolentiae zu verstehen (vgl. zur ›Autobiografiefähigkeit‹: Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 113 f.). Nichtsdestotrotz legt Heyse seinem Lesepublikum in den ersten vier Auflagen tatsächlich eine krisenfreie Autorfigur vor. 185 Vgl. Paul Heyse an Wilhelm Bolin, 13. November 1894. 186 Zit. n.: ebd. 187 Wagner-Egelhaafs Beobachtung bezieht sich vornehmlich auf ein »Strukturschema […] der christlichen Autobiographik« (Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 113; vgl. hierzu auch: Goldmann, Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis, S. 249; Graevenitz, Geschichte aus dem Geist des Nekrologs, S. 146 f.). Dieses Strukturschema ist jedoch auch für nicht christliche Autobiografik produktiv.
329
v. pau l h eyse
obachtung veranlasst abermals, zu fragen, ob ein erzähltes Leben ohne »innere Krisen« auf dem Buchmarkt bestehen kann. Zu bedenken ist, dass bereits jedes Verlagsprojekt, auch jede Neuauflage ein riskantes Geschäft darstellt.188 Virulent ist diese Frage abermals angesichts der Tatsache, dass Wilhelm Hertz ein umsichtiger, wenig risikofreudiger Verleger gewesen sei, der auf die absatzfördernde Wirkkraft guter Rezensionen setzte und Heyse, nicht gerade verkaufsfördernd, in seiner Funktion als Autor nachgerade als konservativ gestimmter, zugleich frivoler Epigone dargestellt wurde.189 Letzteres ist omnipräsent in Heyses Autobiografie, wenn der autodiegetische Erzähler den Vorwurf, er sei ein frivoler Autor, wiederholt verhandelt (vgl. JBV, 154 f., 159, 304), bis er zuletzt ein apologetisches Schlüsselliteraturkonzept vorlegt: Ich bin oft gefragt worden, ob meinen zahlreichen Novellen, in denen es sich um leidenschaftliche Konflikte handelt, nicht eigene Erlebnisse zugrunde lägen, an denen ja auch ein äußerliches Stillleben nicht arm zu sein braucht. Man pflegte zu glauben, die Kenntnis des weiblichen Geschlechts, der Abgründe und Untiefen in Frauenherzen, die man in meiner Dichtung finden will, könne nur in der Schule des Lebens erworben und mit eigenem Herzblut bezahlt worden sein. Dies ist keineswegs der Fall gewesen. Von den nur allzu zahlreichen Novellen, in denen ich Frauencharaktere geschildert habe, wüßte ich kaum ein halb Dutzend, für welche persönliche Erinnerungen das Motiv geliefert hätten. Auch dann niemals in memoirenhafter Genauigkeit, sondern sinngebildet und künstlerisch verarbeitet, daß nur der seelische Grundton des eigenen Erlebnisses darin forttönte. Ebensowenig habe ich Schicksale guter Freunde oder Charakterbilder von Personen, mit denen das Leben mich in nahe Berührung brachte, novellistisch ›verwertet‹ oder als Modelle mit porträt mäßiger Ähnlichkeit mir angeeignet, sondern mich stets auf die Anregungen beschränkt, die eine fruchtbare Phantasie einer liebevoll beobachteten Wirklichkeit verdankt. Gegen »Schlüsselromane« vollends, die nur eine frivole Neugier befriedigen, fühlte ich stets einen tiefen Abscheu, als gegen eine schnöde Zwittergattung, die den Reiz polizeilicher Dokumente mit künstlerischen Effekten verbinden will. Und so würde die heut 188 Vgl. hierzu exemplarisch: Davidis, Der Verlag von Wilhelm Hertz, S. 1284, 1306; Hirschi und Spoerhase, Kommerzielle Bücherzerstörung als ökonomische Praxis und literarisches Motiv. 189 Vgl. exemplarisch: Alberti, Paul Heyse als Novellist, S. 974, 981. Davidis legt in seiner Studie Der Verlag von Wilhelm Hertz dar, dass »Hertz […] bei jedem einzelnen Werk bestrebt [war], das verlegerische Risiko möglichst gering zu halten« (Davidis, Der Verlag von Wilhelm Hertz, S. 1284; vgl. auch: ebd., S. 1374 f.).
330
v.3 von a rch i v z u a rch i v
so unheilvolle im Schwange gehende Methode, Dichterwerke als eine genau zu berechnende Summe biographischer Faktoren darzustellen, an meinen novellistischen Arbeiten keinen dankbaren Stoff finden (JBV, 302 f., JBP, vgl. 304). Dieser Darlegung widerspricht, dass der autodiegetische Erzähler mehrfach unterschiedliche Werke – besonders in der fünften Auflage – als Schlüsseltexte deklariert und sein ehemaliges Pseudonym entschlüsselt (vgl. JBV, 114, 118, 167, 170, 175, 181, 304-311, 319). Zugleich zeigt die zitierte Passage gegenüber der vorherigen, dass während Heyse in den ersten vier Auflagen ein werkbiografisches Konzept fokussiert, nun mit der fünften Auflage ein autobiografisches Projekt bevorzugt, ohne werkbiografische Tendenzen aufzugeben, um etwaige Schlüsselliteraturlektüren zu unterbinden oder um »Mißdeutungen vorzubeugen« (JBV, IV). Mehr noch: Er wendet sich autoritativ gegen diese.190 Heyses in den ersten vier Auflagen dargelegte Verneinung, sich selbst gleich seinen literarischen »Helden« innerhalb eines autobiografischen Projekts »posir[end]« darzubieten (JBI-JBIV, 294), muss gleichfalls relativiert werden, zumal Petzet für Heyses »Geschichtsauffassung« erläutert, dass der Autor an »dem ›Einen Mann‹, der in sich die wahre Schöpferkraft birgt« festhalte und an dem Konzept der »Heldenverehrung« mitgewirkt habe. Deutlich wird dies an den selbstgewählten diegetischen und nichtdiegetischen Wahlverwandten wie etwa Wilhelm Meister, Shakespeare oder Goethe.191 Hinzu kommt, dass Heyse seiner apologetischen Absage an eine etwaige Schlüsselliteratur eine Erzählung folgen lässt, die eine frühe Liebesbeziehung illustriert und anhand der er sein novellistisches, intertextuelles Verfahrensgeschick dokumentiert – Goethe abermals als ausgewiesenen Wahlverwandten vorstellend (JBV, 304-311).192 Doch wie ist es nun um die Wirkkraft etwaiger Rezensionen bestellt, die Heyse, der gemäß Alberti »so gern der Erbe Goethes sein will«, zukom men?193 Ebendieser Alberti resümiert bereits 1889 – elf Jahre bevor die ersten vier Auflagen in rascher Folge hintereinander erscheinen werden – seine Schmähschrift, die er explizit Heyse als Novellist widmet, mit folgendem Fazit: »Paul Heyse hat sich abgenutzt, als literarische Persönlichkeit ist er
190 Vgl. hierzu auch das Vorwort zum zweiten Band der Autobiografie (JBV2, III). 191 Petzet, Paul Heyse, S. 737. 192 Vgl. hierzu auch exemplarisch: Maync, Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, S. 711. 193 Alberti, Paul Heyse als Novellist, S. 977.
331
v. pau l h eyse
fertig, das Publikum will ihn nicht mehr«.194 Unrettbar für die Nachwelt erscheint Alberti Heyse mitsamt seinen Werken, da selbst Heyse als Novellist »immer an den rohen Äußerlichkeiten haften [bleibt], nie […] in den inneren Kern vor[dringt]«. Auch Mayncs Rezension 1903 zu Heyses Autobiografie kann kein rettender Anker im Hafen kanonischer Klassiker sein, wenn er mit dem Fazit schließt: »Um endlich Paul Heyses Buch noch als schriftstellerische Leistung mit wenigen Worten zu charakterisieren, so haben wir es mit einem autobiografischen Kunstwerk ersten Ranges nicht zu tun«.195 Selbst achtzehn Jahre später widmet Reuter den pejorativen Urteilen, die Heyses Werke sowie gleichermaßen die von ihm entworfene Autorfigur betreffen, noch 1921 in ihrer Autobiografie eine kurze, dennoch aussagekräftige Passage, die darlegt, dass Heyse ein durchaus umstrittener Autor war,196 der womöglich als poeta non grata seiner »literarischen Epoche« doch nicht »den Namen« werde geben können:197 Da Paul Heyse mir einmal sehr Freundliches über eine Novelle hatte sagen lassen, wäre es angebracht gewesen, einen Besuch bei ihm zu wagen. Mackah hatte mir doch ein feierliches Versprechen abgenommen, mich nie zu diesem alten Götzen der bürgerlichen Gesellschaft zu bekennen. So hielt ich mich fern. Heyse war das Ziel des wildesten Hasses aller Revolutionäre der Literatur. Ich hatte ihn oft bei den Goethetagen in Weimar gesehen, dort erschien er mir freilich auch als ein Repräsentant des etwas ausgeschminkten, offiziellen idealistischen Geistes, zu dem ich kein inneres Verhältnis gewinnen konnte. Viel später war eine Begegnung
194 Ebd., S. 984. 195 Ebd., S. 982; Maync, Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, S. 715. 196 Vgl. hierzu und zum ›Frivolitätsvorwurf‹ exemplarisch: Krausnick, Paul Heyse und der Münchener Dichterkreis, S. 8; Hillenbrand, Einleitung, S. 11; Häntzschel, Zum kulturgeschichtlichen Ort Paul Heyes als Literaturvermittler, S. 19; P ottbeckers, Dichter und Wahrheit, S. 16; Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staats bibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 214. Zen traler, wegweisender und durchweg bewunderter Protagonist ist Heyse in Isolde Kurz’ Aus meinem Jugendland (Kurz, Aus meinem Jugendland, S. 239). 197 Zu seinem 60. Geburtstag gratulierte Fontane seinem befreundeten Kollegen mit den vielfach zitierten Worten: »[D]aß Du Deiner literarischen Epoche sehr wahrscheinlich den Namen geben wirst, diese Tatsache kann durch keinen Radaubruder aus der Deutschen Literaturgeschichte gestrichen werden« (Theodor Fontane an Paul Heyse, 9. März 1890, S. 205). Auch in seiner Autobiografie Von Zwanzig bis Dreißig betont Fontane den kulturhistorischen Wert, der Heyse als Autorfigur zukomme: »[E]in[ ] Leben, das, wie kein zweites, über das ich hier zu berichten habe, der Literaturgeschichte angehört« (Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 200).
332
v.3 von a rch i v z u a rch i v
am Gardasee nicht mehr zu vermeiden und ich lernte einen gebildeten, freien und gütigen Menschen kennen.198 Die korrigierende Schlusswendung wurde zum Kanon der literatur geschichtlichen und -wissenschaftlichen Studien zu Heyse und seinen Werken, repetitiv wird dabei seine Vergessenheit angestimmt und oftmals beklagt.199 Bereits ein Blick in Autorenlexika, in kulturwissenschaftliche Studien zum 19. Jahrhundert oder zu literaturgeschichtlichen Forschungen verrät, ganz vergessen ist Heyse – besonders im Vergleich – nicht. Vergessen sind vielmehr diejenigen Autoren und Autorinnen, die kein archivarisches Interesse wecken konnten und einmal kassiert nimmermehr Teil einer Sammlungspolitik werden. Rückert vermerkt: »[Bis] heute stellt das Quellenmaterial eine wesentliche Grundlage für wiederholte Ansätze zur Wiederbelebung Heyses und seines Werkes dar«.200 Vergessen wurden jedoch vielmehr diejenigen, die Heyses Vorkehrungen unterstützten und ermöglichten, beispielsweise Anna Heyse als Archivberaterin und Erich Petzet als Berater.201 198 Reuter, Vom Kinde zum Menschen, S. 428. Reuters Autobiografie ist als intertextueller Referenzpunkt bedeutsam, da die Autobiografin wie der Autobiograf eine berufene Autorfigur entwirft. Ein Brief wird – wie bei Heyse – einem novellistischen Formprinzip folgend zur Entscheidungsressource stilisiert. Doch: Anders als Heyse unterlässt es die Autobiografin, ihr autobiografisches Projekt mit ihrem prospektiven Nachlass zu verknüpfen. Das Entscheidungsdokument, ein Brief ihrer Mutter, wird nicht zitiert, sondern memoriert und als unverfügbare Entscheidungsreliquie dargeboten. So bleibt Reuter – wie ihr »prophezeit war« – primär berufene Dichterin (ebd., S. 127; vgl. ebd., S. 190-193). Heyse schildert – anders als Reuter – kaum haptische und optische Merkmale, hierfür verweist er werbend auf sein Archiv. 199 Vielmehr steht die Erinnerung an Heyse in Diskrepanz zu seinem einstmaligen Ruhm und besonders zu seinen bemühten Archivierungspraktiken. Vgl. zur kanonisierten Klage exemplarisch: Miller, Im Schatten Goethes, S. 12, 14 f.; Hettche, Paul Heyses Briefwechsel, S. 271; Berbig und Hettche, Die Tagebücher Paul Heyses und Julius Rodenbergs, S. 105; Berbig und Hettche, Einleitung; Bonter, Das Romanwerk von Paul Heyse, S. 9; Grube, Warum werden Autoren vergessen?, S. 15 f.; Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 215. 200 Ebd., S. 205. 201 Die Diskrepanz zwischen mühevoller Nachlassarbeit und spärlichem Nachruhm tritt deutlich zutage. ›In Vergessenheit geraten‹ wird geradezu das Kennzeichen für die Autorfigur Paul Heyse: (1) Richter widmet Heyse ein Kapitel in ihrer Weltgeschichte, das den bezeichnenden Titel Ein unbekannter Nobelpreisträger: Paul Heyse trägt. (2) Christoph Grube nennt Heyse als exemplarisches Beispiel in seiner Studie Warum werden Autoren vergessen? und (3) Thomas O. Beebee wählt die ›sprechende‹ Überschrift From Nobel to Nothingness (vgl. Richter, Eine Welt geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 242; Grube, Warum werden
333
v. pau l h eyse
Albertis sowie Mayncs Rezensionen können kaum als Kaufempfehlung gelten, denn Albertis Kritik folgend wäre eine Autobiografie, die als Werkbiografie konzipiert ist, da das eigene Leben ohne »stürmische Wechselfälle verflossen« sei (JBI-JBIV, 294), in Heyses Fall gleichfalls nicht empfehlenswert, zumindest solange Heyse nicht »in den inneren Kern vor[dringt]«:202 Eine »heilsame Katharsis«, angeleitet durch einen wohlbekannten Katharsis experten (JBV, 114), ein entscheidendes Zwiegespräch, eine bislang geheim gehaltene Herzensangelegenheit mitsamt ausgewiesenem Schlüsseltext und zu guter Letzt ein erstmalig publiziertes Archivale, das Heyse nicht als von »Wechselfällen« verschonten Autor bekennt (JBI-JBIV, 294), sondern als krisenerprobten Autor, der ein exklusives Bekenntnis seinen Jugenderinnerungen in der fünften Auflage nicht lediglich beigibt, sondern dieses archivarisch verbürgt, lassen den mitunter ›geschmähten‹ Autor nicht gänzlich unrettbar in Vergessenheit versinken und mindern womöglich das verlegerische Risiko. Der dargebotene krisenhafte Entscheidensprozess dürfte absatzstrategisch vielversprechend gewirkt haben, sofern gemäß Burckhardt »[d]ie echten Krisen […] überhaupt s e l t e n« sind und Heyse sich durch eine offenbarte Krise selbstbestimmt als »kräftige[r] Dichter« ausweist.203 Das kulturgeschichtliche Potenzial einer Krise erkennt Heyse für seine fünfte Auflage,204 zumal die Entscheidungsdokumente einer Darstellung harren, nachdem er noch 1894 autobiografische Projekte ablehnt, begründet durch seine »Scheu, innere Erlebnisse einer fremden Neugier in Prosa preiszugeben«.205 Diese erfolgversprechenden Komponenten werden jedoch erst für die fünfte Auflage berücksichtigt. Wie sind angesichts dessen und eingedenk der Rezensionen die zügig aufeinanderfolgenden ersten vier Auflagen zu erklären, wollte »das Publikum […] ihn« doch lesen? ren vergessen?, S. 15 f.; Beebee, German Literature as World Literature). Die Wendung ›Heyse, ein zu Unrecht vergessener Autor‹ findet sich in nahezu allen Studien zu Heyses Werken. Bekannt ist Heyse bis heute – fast ausschließlich – zunächst für den Deutschen Novellenschatz. Des Weiteren kursiert die Autorfigur Heyse, weitaus weniger rühmlich, als der ›erste und vergessene Nobelpreisträger‹ für Literatur in der philologischen Forschung. Die Beispiele mögen zeigen, dass er nicht vergessen ist, sondern die ›Unbekanntheit‹ zum Markenzeichen wurde, das ihn womöglich noch lange vor einem endgültigen Vergessen schützen wird. 202 Alberti, Paul Heyse als Novellist, S. 982. 203 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 168. 204 Vgl. hierzu gleichfalls Walter Muschgs Konzept einer Tragischen Literatur geschichte (Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 15). Im Vergleich zu seinen weiteren Werken, die er mit Hertz herausgab, sind fünf Auflagen eine beachtlich hohe Zahl (vgl. Davidis, Der Verlag von Wilhelm Hertz, S. 1328). 205 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 168; Paul Heyse an Wilhelm Bolin, 13. November 1894, S. 238.
334
v.3 von a rch i v z u a rch i v
Die bereits im vorherigen Kapitel kurz angesprochene Tatsache, dass die ersten drei Auflagen alle 1900 erschienen sind und die vierte prompt 1901 folgte, lässt zunächst vermuten, dass Heyses Autobiografie trotz eines dramatischen Mangels einen erfolgreichen Absatz fand. Bedenkt man jedoch Wilhelm Hertz’ verkaufsstrategische Verlagspolitik, die Michael Davidis mit seiner hilfreichen, nämlich detailreichen Studie belegt, so dokumentiert die rasch steigende Auflagenzahl nicht direkt einen erfolgreichen Absatz als vielmehr eine verkaufsstrategische Werbemaßnahme. Mit einer innerhalb eines kurzen Zeitraums rasant steigenden Auflagenzahl wurde oftmals verkaufsstrategisch ein Umsatzerfolg fingiert, der wiederum den weiteren Verkauf ankurbeln sollte. Die über die ersten vier Auflagen unveränderte Seitenzahl,206 eine bis zur fünften Auflage fehlende Zusatzbezeichnung, die darauf aufmerksam macht, dass es sich um eine überarbeitete oder neugestaltete Auflage handelt, das rasche Erscheinen der ersten vier Auflagen und zuletzt eine von Davidis erstellte Übersicht zu Heyses Werken verraten, dass es sich bei den ersten vier Auflagen de facto um einen Nachdruck, also um unveränderte Auflagen handelt.207 Für Heyses Autobiografie wurde auf diese Weise ein zügiger und erfolgreicher Absatz behauptet; die fünfte Auflage sollte neugestaltet einen faktisch erfolgreichen Absatz versprechen. Ein krisenhafter, lebenslauf- und zudem werkkonstitutiver Wendepunkt, der anhand bislang unveröffentlichter Dokumente dargestellt wird und mit dem erste und exklusive Einblicke in das bereits teilweise an die Staatsbibliothek verkaufte Privatarchiv gewährt werden. Zuletzt senken 206 Die vierte Auflage unterscheidet sich von den ersten drei Auflagen aus dem Jahr 1900 lediglich darin, dass die zuvor angefügte ›Berichtigung‹ nun im Fließtext umgesetzt wurde. 207 Aus der Werkübersicht, die Davidis erstellt hat, geht hervor, dass 1900 Heyses Autobiografie zu 3000 Exemplaren auf einen Schlag gedruckt wurde. Das Honorar betrug 1200 Mark für je 750 Exemplare, und 750 multipliziert mit vier ergibt 3000, woraus sich eindeutig schließen lässt, dass die ersten vier Auflagen allesamt zur gleichen Zeit gedruckt wurden. Bei 750 Exemplaren handelt es sich um eine relativ kleine Auflagenzahl, da laut Davidis etwa bei einer Erstauflage 1200 und später sogar 1500 Exemplare gedruckt wurden (vgl. Davidis, Der Verlag von Wilhelm Hertz, S. 1366, 1380). 750 Exemplare lassen sich schneller unter die Leute bringen als 1500, weshalb eine kleinere Auflagenzahl einer fingierten Erfolgsgeschichte zugutekommen kann. Herzlich möchte ich mich an dieser Stelle bei Barbara Dornes (Universitäts- und Landesbibliothek Münster) bedanken, mit der ich meine Befunde nochmals besprechen konnte. Davidis legt zudem dar, dass mitunter »stets mehrere Auflagen gleichzeitig gedruckt [wurden]« und »Hertz […] ›kleine Auflagen [bevorzugte], um oft eine neue Zahl auf das Auflage Kerbholz des Titels schreiben zu können‹ [Hertz an Heyse 17.12.1876 (HA)]‹« (ebd., S. 1366 f.).
335
v. pau l h eyse
die publikumsorientierte Ankündigung »neu durchgesehen und stark vermehrt« das verlegerische Risiko einer weiteren Auflage nach elf Jahren.208 Die nun mit privaten Dokumenten angereicherte fünfte Auflage entspricht sicherlich nicht zufällig Wilhelm Hertz’ Verlagspolitik, denn gemäß Davidis hatte Hertz »eine besondere Vorliebe für alles Biogra phische«, darunter fielen besonders auch die »im 19. Jahrhundert sehr populären Lebensbeschreibungen nach dem Prinzip ›Life and Letters‹.209 In diesem verlagspolitischen Zusammenhang sticht Carl Heyses nachträglich eingefügter, erstmals herausgegebener Brief markant hervor, es ist nun ein »Letter«, der das ereignisreiche »Life« anhand eines lebenslaufund werkkonstitutiven Entscheidensprozesses erläutert und vormals intime, nämlich »stürmische Wechselfälle« (JBI-JBIV, 294), »innere Erlebnisse einer fremden Neugier in Prosa« nun ohne »Scheu«, dafür mit Nachlassbewusstsein offenlegt.210 Indem Heyse seine Autobiografie 1912 um exklusives, ›faktuales‹ Zusatzmaterial anreichert, mit dem er ausgewählte Werke als Schlüsselwerke preisgibt, kombiniert der »Verkaufsstratege« in der fünften Auflage sein um eine innere Krisis angereichertes Leben mit seinen Werken.211 Diese Kombination gelingt unter Zuhilfenahme eines ausgewählten handschriftlichen Archivales. Er legt seinem Lesepublikum eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Werkbiografie als Autobiografie vor.212 Einmal verknüpft, erscheinen fortan die autobiografischen sowie die literarischen Manuskripte gleichermaßen notwendig archivwürdig, da ihnen mit ebendieser synoptischen Verknüpfung ein gegenseitiger Erläuterungswert zugeschrieben wurde. Heyse zeigt dabei nicht allein einen bewussten Umgang mit seinen Archivalien, er zeigt zugleich bezüglich des damaligen Buch- und Wissenschaftsmarkts eine »Spürkraft« für den Kairos: Denn nur drei Jahre 208 Zumal Davidis zufolge hohe Auflagenzahlen äußerst selten vorkamen (vgl. ebd., S. 1326). Für eine weitere, neubearbeitete Auflage sprach sicherlich auch, dass Heyse 1910 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde und Neuauflagen laut Davidis als erfolgversprechend galten (vgl. ebd., S. 1368). 209 Ebd., S. 1341. 210 Paul Heyse an Wilhelm Bolin, 13. November 1894, S. 238. 211 Bonter, Das Romanwerk von Paul Heyse, S. 248. Weit weniger auszeichnend benennt Alberti Heyses Verkaufsgeschick, wenn er Heyse einen »schematisierenden Kaufmannsgeist« zuschreibt und ihn einen »geschäftsschlaue[n] Fabrikant[en]« nennt (Alberti, Paul Heyse als Novellist, S. 971, 975). 212 Der prospektive Nachlass wird durch ein unikales Archivale vorgestellt, das in der Autobiografie gerade einen ereignishaften Entscheidensprozess ›verbürgt‹. Auf diese Weise wird auch das ökonomische Potenzial der zukünftigen Hinterlassenschaft vorgestellt, zumindest für Verleger.
336
v.3 von a rch i v z u a rch i v
vor seiner fünften Auflage übergibt er der Staatsbibliothek München einen Großteil seiner Manuskripte und in dieser Vorlassmasse befindet sich bereits das eigenhändig verfasste Manuskript zu den ersten vier Auflagen seiner Autobiografie,213 das bis dahin noch ohne erzählte Lebenskrise konzipiert ist.214 In seiner Studie legt Michael Davidis dar, wie Paul Heyse seinem Verleger Wilhelm Hertz oftmals Manuskripte weniger bekannter Autoren und Autorinnen empfohlen habe, und bezeichnet Heyse als »Manuskriptvermittler«.215 Als solcher tritt Heyse gleichfalls, jedoch in eigener Sache, in seiner Autobiografie auf. Nach dem erfolgreichen Verkauf seiner (autobiografischen) Manuskripte am 27.7.1909, deren Wert sich mit dem erhaltenen Nobelpreis gesteigert haben dürfte, gilt es auf die Schatzkammer der Handschriften hinzuweisen,216 in der die bislang privaten und nun öffentlich zugänglichen Manuskriptmassen seines Correspondenzschranks einer systematischen, 213 Heyse erklärt eine ausgeprägte »Spürkraft« als beruflichen Erfolgsgarant (vgl. hierzu: JBI-JBIV, 106). 214 Vgl. hierzu Archivsignatur: Cgm 6523 und Cgm 6524 BSB München. Die erste Fassung seiner Autobiografie wurde am 27.7.1909 »mit einer ganzen Reihe weiterer Handschriften durch die Hofbibliothek von Paul Heyse angekauft«. Der Erwerb ist wiederum unter der Signatur Cgm 6471 vermerkt. Wissenswert ist, dass die lose Blattsammlung gebunden archiviert ist; herzlich möchte ich Annemarie Kaindl danken, die mir neben dem Hinweis auf den Standortkatalog auf meine Frage antwortete, ob bekannt sei, wer diese Sammlung gebunden habe: »Ob die Bände schon beim Ankauf durch die Hofbibliothek gebunden oder lose waren, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Auffällig ist, dass die gesamte Erwerbung von 1909 einheitlich gebunden ist und möglicherweise schon von Heyse so überliefert ist«. Denkbar wäre auch, dass Petzet und Heyse sich gemeinsam um eine organisierte und professionelle Archivierung bemühten und diese vorbereiteten. Beides würde in jedem Fall der hier vorgestellten Gestaltung der fünften Auflage entsprechen. Im Standortverzeichnis ist das Erwerbsdatum notiert: http://daten. digitale-sammlungen.de/0002/bsb00026274/images/index.html?fip=193.174.98. 30&id=00026274&seite=273 (zuletzt geprüft am: 30.1.2022). Vgl. hierzu auch: Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 201 f. 215 Davidis, Der Verlag von Wilhelm Hertz, S. 1328. 216 Rückert erläutert zu Heyses Nachlass: »Der Hauptnachlass […] umfasst 35,5 Regalmeter, davon 19 Regalmeter Autographen, Urkunden und sonstige Lebenszeugnisse sowie 16,5 Regalmeter Dramen, Bücher in romanischen Sprachen, vorwiegend auf italienisch, und deutscher Autoren. […] Der bis heute geschlossen verwahrte Kernbestand des Heyse-Archivs ist durch ein handschriftliches Repertorium im Umfang von über 150 Seiten auf Quartblättern mit Beilagen erschlossen. Dieses Verzeichnis wurde in akribischer Detailtreue vom Heyse-Spezialisten und Oberbibliothekar Erich Petzet (1870-1928) erstellt« (Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 204).
337
v. pau l h eyse
wissenschaftlichen Erschließung »harren«.217 Rückert legt dar, »[als] Heyse sich Ende des 19. Jahrhunderts um die Überlieferung seines Privatarchivs Gedanken zu machen begann, kannte er […] die Bedeutung der Bibliothek als Überlieferungsstätte unikaler Quellen sehr gut«.218 Heyse ist demzufolge zur Entstehungs- und Publikationszeit seiner fünften Auflage intensiv mit seinem literarischen Vorlass, Nachlass und dessen Archivierung beschäftigt. So sind es gerade die archivarische Funktion autobiografischer Projekte und die monumentale Dimension lebenslaufkonstitutiver Entscheidensprozesse, die Heyse als Philologe und Poet zu nutzen versteht. Beide sind ihm dabei behilflich, seinen prospektiven, faktualen Nachlass fragmentarisch in einem poetisch konzipierten, fiktionalen Vorlass – einer Vernissage gleich – der Öffentlichkeit zu überreichen, denn Heyse entwirft für die erwartete Nachwelt ein autorisiertes Autorporträt. An Heyses Vorlass und avisierten Nachlass knüpfen sich bereits 1909, noch zu Heyses Lebzeiten, große Hoffnungen. Diese dokumentiert ein ausführliches Anschreiben, ebendort wird dazu geraten, die »von Paul Heyse angebotene Sammlung von 72 von ihm eigenhändig geschriebenen Dichtungen [für 3500 M] anzukaufen«, da mit diesem Erwerb ein konzipiertes Heyse-Archiv tatsächlich Gestalt annehmen kann: Paul Heyse, welcher bereits früher der K. Hof-Staatsbibliothek zwei grosse Bücherschenkungen übermittelt hat, sprach bei Gelegenheit einer dritten nicht minder wichtigen Schenkung von Drucksachen unserem Bibliothekar Dr. Petzet gegenüber den Wunsch aus, er möchte, dass die von ihm eigenhändig geschriebenen Manuscripte seiner Dichtungen ihre dauernde Stätte in der K. H. StB finden. Da Heyse diese Autographen jedoch zum Verkauf bestimmt hat und den Erlös für Münchener Zweig der deutschen Schillerstiftung zuwenden will, so wünscht er, von unserer Seite ein Angebot zu erhalten, verzichtet aber von vorneherein auf den vollen Wert, der etwa bei einer Auktion zu erzielen wäre, indem er wie bei seinen Bücherschenkungen auch hier den Vorteil der K. H. StB. in Rücksicht zieht. […] Heyses Werke werden noch lange Zeit der literarhistorischen Forschung grosse und dankbare Aufgaben stellen, zu deren Lösung die Originalhandschriften wichtige Behelfe sein werden. Gerade weil bei der grossen Masse von Werke [sic] Heyses eine kritische Gesamt217 Spiero, Schatzkammer der Handschriften. Besuch in der Bayerischen Staats bibliothek, in: Neueste Nachrichten, 22.1.1925, BayHSta, GDION Bibliotheken, 789. Dies gilt gemäß Rückert bis heute (vgl. Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 215). 218 Ebd., S. 198.
338
v.3 von a rch i v z u a rch i v
ausgabe nicht bald zu erwarten ist, werden die Handschriften umso wichtiger für die Einzeluntersuchungen sein. Und wird in späterer Zeit eine Gesamtausgabe in Angriff genommen, so bedeutet es für den oder die Bearbeiter einen gewaltigen Gewinn, wenn das gesamte Material an einer Stelle vereinigt zur Verfügung steht u[nd] nicht erst mühsam aus verschiedenen Sammlungen zusammengeholt werden muss, während anderes unwiederbringlich vielleicht verloren gegangen ist. Mit Petzet wird diese Sorgfalt anderen Dichtern an anderer Stelle bereits zuteil, namentlich im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar, das neben den Handschriften Goethes und Schillers auch zahlreiche Niederschriften von anderen Dichtern z. B. Otto Ludwig, Immermann, Maler, Müller aufbewahrt. Nach Weimar seine Handschriften zu geben, hatte auch Heyse in Erwägung gezogen, doch wünscht er nunmehr, dieselben dauernd in München zu wissen […]. Die Staatsbibliothek darf sich diese Gelegenheit, Heysesche Manuskripte zu erwerben, um so weniger entgehen lassen, als sie gerade in den letzten Jahren die Aufgabe mit Nachdruck in Angriff genommen hat, handschriftliche Dokumente zur Geistesgeschichte Münchens und Bayerns von 19. Jahrhundert zu sammeln und sich für dieses Forschungsgebiet, wie es ihr zukommt, soweit irgend möglich, zur Zentralstelle des Quellenmaterials auszugestalten. […] Wenn die K. Hof- u[nd] Staatsbibliothek jetzt die Möglichkeit hat, eine bedeutende Handschriftenmasse von einem glänzenden Vertreter Münchener Geisteslebens zu gewinnen, so darf daran die Hoffnung geknüpft werden, dass in Zukunft auch noch ähnliche schöne Erwerbungen möglich sein werden. […] Dazu kommt noch die wichtigste Tatsache, dass Heyse die Verfügung getroffen hat, dass nach seinem Tode seine gesamte romanische (italienische und spanische) Büchersammlung der Staatsbibliothek zufallen soll – eine Sammlung, die in Deutschland wohl kaum ein ebenbürtiges Gegenstück haben dürfte und an unserem Institut ein jetzt dürftig bestelltes Fach in einem beneidenswerten Reichtum führen wird.219 Die kultur- sowie bildungspolitischen Potenziale für (1) etwaige Forschungsvorhaben, (2) für München als zukünftiges geisteswissenschaft liches Forschungszentrum und (3) zentrale, kapitalsteigernde respektive ›gewinnbringende‹ Sammlungsstelle präsentiert das zitierte Anschreiben vom 17. Juli 1909 und all diese erhofften Potenziale werden an Heyses Nachlass geknüpft. Hans Schnorr von Carolsfeld, der sich hinter dem 219 Hans Schnorr von Carolsfeld an das Königliche bayerische Staatsministerium, 17. Juli 1909, BayHSta, 1015. Vgl. hierzu: Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 198-201.
339
v. pau l h eyse
nterschriftskürzel »v. Schn.« verbirgt,220 gelingt mit diesem Anschreiben U ein »wissenspolitischer Akt«,221 der Paul Heyse mitsamt seinen gedruckten Werken und Manuskripten vor einem potenziellen Vergessen bewahrt. Thomas Weitin und Burkhardt Wolf halten fest, dass [s]chon mit der allerersten Auswahl dessen, was ins Archiv kommt und was nicht, […] eine Entscheidung gefallen [ist], was als nutzlos oder unwichtig verworfen werden und was welcher Sphäre des Wissens zugehören soll. Entschieden wird nicht nur darüber, welche Aspekte des status quo der Zukunft Aufschluss über deren Vergangenheit bieten werden. Verfügt man im Archiv über die ›Ordnung der Dinge‹, so betrifft dies im Falle ›kurrenter‹ Archive auch die Gegenwart.222 Angesichts der zentralen nachlasskonstitutiven Funktion archivarischer Entscheidensprozesse ist es umso erstaunlicher, dass in Leppers und Raulffs grundlegendem Handbuch Archiv eine Überschrift fehlt,223 die ›Entscheiden‹ explizit als weitreichendes Thema ausweist. Ebenso erstaunlich und zugleich aussagekräftig ist, dass Heyse sein lebenslauf- und werkkonstitutiver Entscheidensprozess dazu dient, gleichfalls seine nicht allein autobiografischen Archivierungspraktiken einem größeren Publikum vorzustellen. Archivierungsprozesse sind zumeist selektive Tätigkeiten, sie stehen für einen zukunftsorientierten Umgang mit vergangenen Ereignissen. Demnach sind sie bereits in einen sozialen Entscheidensprozess eingebunden und werden vorzugsweise in autobiografischen Entscheidensprozessen anhand hervorgeholter Entscheidungsdokumente –, die fortan als Entscheidungsressourcen gelten dürfen –, dargeboten. Mit Heyses Berufs entscheidung lässt sich exemplarisch die soziale, netzwerkkonstitutive, nachlasskonstitutive, nämlich textgenetische Dimension beobachten, die Entscheidensprozessen als voraussetzungsvolle Konstellation zukommt und Heyse dazu dient, seine Autorfigur kanon- und archivwürdig zu konzipieren.224 Diese vielversprechende Dimension stimmt Heyse in seinem der fünften Auflage beigegebenen Vorwort an:
220 Vgl. hierzu: ebd., S. 201 f. 221 Weitin und Wolf, Einleitung, S. 9 222 Ebd. 223 Vgl. Lepper und Raulff, Handbuch Archiv. 224 Gemäß Bohnenkamp werden mitunter »Entstehungsvorgänge« gezielt verwendet, um die »Vorstellungen vom Autor« gestalten zu können (Bohnenkamp, Autorschaft und Textgenese, S. 65).
340
v.3 von a rch i v z u a rch i v
Dies Buch, dessen fünfte Auflage in vielfach ergänzter und erweiterter Gestalt hier erscheint, hat gleichwohl die Mängel seiner Entstehung vor zwölf Jahren nicht von Grund auf verbessern können. Den ersten Anlaß zur Aufzeichnung meiner Jugenderinnerungen gab der Wunsch, meinem teuren alten Geibel einen Nachruf zu widmen, der unser Freundes verhältnis und den vielfachen Dank, den ich ihm schuldete, etwas ausführlicher schilderte. Hieran schlossen sich zwanglos, wie mir gerade die Stimmung kam, Rückblicke auf andere Menschen und Erlebnisse, ohne die Absicht eine regelrecht durchgeführte Selbstbiographie zu verfassen. Zu einer solchen hätte es gehört, wenigstens in kurzem Umriß ein Bild der Zeit zu geben, in der ich aufwuchs, während ich mich bloß mit meinen eigenen Schicksalen und Abenteuern beschäftigte und sie zum Besten gab, wie man etwa guten Freunden behaglich plaudernd von einer langen Reise berichtet, wobei man die Kenntnis der Landkarte voraussetzt. Nicht einmal meine seit 1852 geführten Tagebücher oder Briefe mit meinen Eltern und Freunden zog ich dabei zu Rate, um auch nur die Daten stets sicherzustellen. […] Jetzt nach so langer Zeit, alles damals Versäumte nachzuholen, konnte ich mich nicht entschließen und beschränkte mich auf das Ausfüllen wichtiger Lücken, die Hinzufügung einiger inter essanter äußerer Erlebnisse, deren ich mich später erst erinnert hatte, und Charakteristiken gewisser Personen, die auf meine Entwicklung von Einfluß gewesen waren. […] München, April 1912 Paul Heyse (JBV, III-V).225 Mit seiner neugestalteten Autobiografie stellt er seinem einstmals »improvisierten Hinwurf« eine Neuauflage zur Seite, deren »dokumentarischen Wert« (JBV, IV-V) Heyse nicht schlichtweg betont, sondern geradezu im Eigenauftrag zu bewahren und zu vermarkten sucht. Demnach erscheinen die ersten vier Ausgaben aus einem als rein mental und intuitiv inszenierten 225 Petzet druckt dieses Vorwort in der Ausgabe nicht ab, obwohl er sich an der fünften Auflage orientiert (vgl. JBP; Bernauer und Miller, Anhang, S. 312). Tatsächlich finden sich in Heyses Nachlass Tagebücher erst ab 1852, diaristische Dokumente des entscheidenskonstitutiven Jahrs haben nicht überdauert (vgl. hierzu das Findbuch der BSB; Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 209). Heyse verknüpft seine Autobiografie hier mit Goethes Autobiografie, indem er auf dessen Vorwort referiert, denn dort heißt es: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt« (Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt., Bd. 14, S. 13).
341
v. pau l h eyse
Erinnerungsakt hervorzugehen, während für die fünfte Auflage geradezu programmatisch versierte Archivierungspraktiken vorgestellt werden (vgl. JBV, 157, 183, 207, 252, 254). Relevant für die vorliegende Studie ist, dass gerade die Berufsentscheidung eine priorisierte »wichtige[ ] Lücke[ ]« ist, die Heyse nachträglich ›ausfüllt‹, ohne jedoch dabei konstitutive Bearbeitungsspuren zu tilgen, diese werden gerade zum aufmerksamkeitsstarken Differenzkriterium gegenüber den vorherigen Auflagen. Mit der nachträglichen, gewissenhaften Dokumentation ermöglicht sich Heyse, der selbst bestens vertraut ist mit archivarischen Praktiken,226 dass auch ohne »Kenntnis der Landkarte« seine Spuren nachverfolgt, der Weg vom fiktionalen zum faktualen Archiv gefunden werden kann, denn »Edelsteine, die in einer dunklen Truhe vergraben jedem Auge entrückt bleiben, haben nicht mehr Wert […] als gemeine Kiesel« (JBV, 154).227 Zugleich zeigt sich darin das Bedürfnis, einen Entscheidensprozess zu belegen, den ›Baucharakter‹ eines Entscheidensprozesses offenzulegen, der gleichermaßen netzwerkbasiert und netzwerkgenerierend ist. Nur fünf Monate bevor die fünfte Auflage seiner Autobiografie erscheint, die in dezidiert intermediale Form gebracht wurde, setzt Heyse sein Testament auf und testiert am 17. November 1911 den Verbleib seines weiteren Nachlasses, der für die Archive zu einem ertragreichen Nachlass werden soll: Für den Fall meines Todes verfüge ich letztwillig wie folgt: I Zu den Erben meines Nachlasses setze ich meine Witwe und meine drei Kinder zu gleichen Theilen ein. II Jedoch erhält meine liebe Frau als Vormundsvermächtnis: […] 3) meine gesamten Urheber-(Autoren-)Rechte, so daß 226 Das Jahr 1852 stand für Heyse unter dem Vorzeichen einer großen Archivreise, die ihm den Reiz des noch Unveröffentlichten vertraut machte und die er auch in seiner Autobiographie nicht unerwähnt lässt, da er dort seine »paläographischen Sporen […] verdient« habe (JBV, 153, vgl. 154 f., 182), und zu der Gröne vermerkt: »Das preußische Staatsministerium für Kultus und Unterricht ermöglichte das Vorhaben durch ein Stipendium, das Heyse noch im Herbst 1852 zum ersten Mal nach Italien führte, wo er in einer Mischung aus grand tour und Wissensarchäologie die wichtigsten Städte und Bibliotheken bereiste« (Gröne, Von der Philologie zur Fiktion, S. 178). Vgl. zu Heyses Archivreise in Italien exemplarisch: Rückert, Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, S. 208. Vgl. auch: Heyse, Vita. Vgl. zu Heyses archivarischer Tätigkeit für den gemeinsam mit Kurz herausgegebenen Novellenschatz: Weitin, Selektion und Distinktion. 227 Bettelheim ist zuzustimmen, wenn er zu Heyses Nachlassstrategien erläutert: »Zeitlebens hat Paul Heyse mit ruhelosem Künstlerfleiß als Dichter, Übersetzer, Kritiker gewirkt und am Ende seiner Tage, bedacht für sein Erbe vorgesorgt« (Bettelheim, Paul Heyses Briefwechsel, S. 31).
342
v.3 von a rch i v z u a rch i v
ihr allein die […] Verwehrtung meiner gesamten […] Werke, einschließlich der von mir geschriebenen oder der an mich gerichteten Briefe zusteht. […] Nach dem Tode meiner Frau sollen die sämtlichen Erträgnisse meiner Schriften, Honorare und Tantiemen, zu gleichen Theilen der Deutschen Schillerstiftung in Weimar und der Münchener ZweigSchillerstiftung überwiesen werden. […] 7) der Münchener ZweigSchillerstiftung 3000 (dreitausend) Mark. […] 9) Meine romanische Bibliothek (provenzalisch, altfranzösisch, spanisch, italienisch) so wie auch die betreffenden Legion vermache ich der Münchner Hof⸗ und Staatsbibliothek. Von meinen übrigen Büchern ist nach dem Belieben meiner Frau an die Volksbibliothek zu überweisen, was sie dafür passend findet. V Die Stiftung und etwaige Veröffentlichung meines literarischen Nachlasses zu übernehmen, haben mir meine Freunde, Prof. Richard Weltrich und Dr Erich Petzet freundlich zugesagt. Für diese Mühe wird meine Wittwe einen Jedem 1000 (eintausend) Mark übergeben. Meinem Freunde Max Kalbeck habe ich meinen Briefwechsel mit Gottfried Keller als Geschenk zur Herausgabe überlassen. Über fernere Editionen von Briefwechseln hat meine liebe Frau zu verfügen, so zwar, daß das Honorar unter die drei Betheiligten, meine Wittwe, die Wittwe oder sonstigen Erben des jeweiligen Correspondenten und des jedesmaligen Heraus gebers zu gleichen Theilen getheilt wird. […] Zur Testamentsvollstrecke rin bestelle ich meine liebe Frau. München 17. Nov 1911 Dr Paul Heyse.228 Die zeitliche Nähe, die zwischen Testament und Autobiografie besteht, zeigt abermals an, dass die letztwillige, entscheidungsförmige Verfügung, die zukünftige Entscheider und Entscheiderinnen testiert, mit einem autobiografischen Projekt hier gemeinsam entsteht. Die prospektiven, faktualen, ante mortem vorbereiteten Entscheidensprozesse erfordern einen bewussten Umgang mit der eigenen zukünftigen Hinterlassenschaft, auf die Heyse mit einem diegetisch organisierten Vorlass in Form eines autobiografischen Projekts verweist. Bedeutend sind hierfür nicht primär fiktionale Darstellungsspielräume, die autobiografische Projekte möglich machen, sondern vorerst die faktuale Referenzialität, mit deren Hilfe zitierte Archivalien wiedergefunden werden können. Daraus lässt sich schließen, dass für die archivarische Funktion autobiografischer Projekte ein Konzept der Autofaktizität entwickelt werden müsste. Ebenso akribisch wie Heyse diese vorbereitet und seine Frau wie die übrigen testierten 228 Heyse, Testament, StA, AG München NR 1914/852. Heyse ergänzt sein Testament am 17. November 1911, am 1. November 1913, am 23. Mai 1914 am 20. Januar 1919.
343
v. pau l h eyse
Entscheider diese fortführen, erweist sich die Verwahrung der letzt willigen Entscheidung, wenn er für diese die markante Signalfarbe Rot wählt.229 Als testierte Entscheiderin und Nachlassverwalterin führt Anna Heyse das ›Unternehmen‹ fort und so teilt sie am 26. Dezember 1927 den Entschluss mit, seinen »handschriftlichen Nachlaß […] der Bayerischen Staatsbibliothek zur dauernden Aufbewahrung u. Verwaltung als unveräußer liches Eigentum zu überweisen«, darunter fallen: Schätzungsweise etwa 10000 Briefe von u. an Paul Heyse, die im wesentlichen alphabetisch geordnet sind. Es befinden sich darunter außer zahlreichen einzelnen Briefen bedeutender Persönlichkeiten ganze Brief reihen von Dichtern wie Theodor Storm, Ernst Wichert, Turgeniew u. a. von Gelehrten wie Gg. Brandes, Bernays, Erich Schmidt, Farinelli u. vielen anderen. Die Briefe Paul Heyses selbst liegen zum Teil im Original vor wie z. B. seine Briefe an Geibel, Fontane, Jakob Burckhardt, an Alfred Dove u. a. […]. 2. Ich und mein […] literarischer Berater Herr Dr. E. Petzet soll[en] jederzeit benötigte Auskünfte aus dem Nachlaß erbitten u. Teile des Nachlasses auch außerhalb der Bibliothek benützen u. zu diesem Zwecke ausleihen können. Dies Recht will ich auch auf andere Persönlichkeiten meines Vertrauens übertragen dürfen. 3. Dagegen verpflichtet sich die Staatsbibliothek niemanden ohne meine ausdrückliche Genehmigung EEinblick [sic] in den Nachlaß oder seine Benützung zu gestatten. 4. Ihre Staatsbibliothek vereinigt den ihr jetzt Überwiesenen Nachlaß mit den übrigen bereits in der Staatsbibliothek vorhandenen Handschriften Paul Heyses u. stellt möglichst bald einen genauen Katalog dieser gesamten Heysesammlung her, von dem sie je eine Abschrift an mich u. an Herrn Dr. E Petzet abliefert. 5. Die für die Benutzung getroffenen Einschränkungen u. Vorbehalte sollen für die bisher übliche 30jährige Dauer der gesetzlichen Schutzfrist für Werke der Literatur, also bis zum 2. April 1944 Geltung haben. […] Herrn Dr. Petzet sollen auch im Falle meiner zeitweiligen oder dauernden Verhinderung die mir in diesem Vertrage ausbedungenen Rechte zustehen. An seine Stelle soll im Falle seines Todes der Generalsekretär der Deutschen Schillerstiftung in Weimar; Herr Dr. Heinrich Lilienfein treten. […] Ihre ganz ergebene Anna v. Heyse.230
229 Vgl. hierzu Abb. 10. 230 Anna von Heyse an Geheimrat Dr. Schnorr von Carolsfeld, 26. Dezember 1927, BayHSta, GDION Bibliotheken, Nachlass Anna von Heyse, 789.
344
Abb. 10: Paul Heyse, Testament, StA, AG München, NR 1914/852.
Ein »genaue[r] Katalog« und die exklusive »Genehmigung« etwaiger »Einblicke[e]« verschaffen Anna Heyse und Erich Petzet fortan Deutungshoheit über Paul Heyses weiterhin zensiertes Autorbild und auch, wie der inzwischen verstorbene Autor in Literaturgeschichten oder Biografien entwickelt wird und welche Archivalien diesen Erzählungen zugrunde liegen. Ein Katalog erleichtert zukünftige Forschungsvorhaben und dies könnte Heyses Nachlass zu einem priorisierten Forschungsgegenstand werden lassen. Unter den genannten Briefkorrespondenten fallen auch drei Namen, die zentral sind für Heyses erzählte Berufsentscheidung, nämlich »Bernays«, »Geibel« und »Jakob Burckhardt«.231 So vermittelt die zuletzt herausgegebene Autobiografie im besten Fall weitere biografische Projekt231 Ebd.
345
v. pau l h eyse
ideen. Mit Anna Heyses Testament zeigt sich schließlich, dass sie als Nachlassverwalterin entschieden fokussiert, dass Heyses Nachlass ein zukünftiger Forschungsgegenstand werden soll, jedoch ausschließlich für literaturwissenschaftliche Forschungsvorhaben, die einem ›litterarischen Interesse‹ entspringen. Anna Heyse testiert: Der Bayerischen Staatsbibliothek in München vermache ich die Originalbriefe an mich und ausserdem sämtliche Bändchen Tagebücher, welche mein verstorbener Mann führte. Die Vermächtnisnehmerin ist verpflichtet, diese Tagebücher dauernd bei sich aufzunehmen. […] Als Ausnahme verfüge ich jedoch ausdrücklich, dass Herr Dr. Spiero, der Biograph meines Mannes, die Tagebücher meines Mannes auch ohne Zustimmung des Testamentvollstreckers zur Einsichtnahme anfordern darf, und zwar auch in seiner jeweiligen Wohnung und dass ihm die Überlassung der Tagebücher in die Wohnung nicht verweigert werden darf. […] Als Richtlinie möchte ich beifügen, dass hinsichtlich der Tagebücher Eiblick [sic] gestattet werden soll, nur Personen, die ein ernsthaftes litterarisches Interesse hieran behaupten können. […] Bezüglich der Herausgabe eventuell Briefwechsel meines Mannes, soll Dr. Spiero nach bestem Ermessen entscheiden.232 Anna Heyse bestimmt mit dem letzten Absatz Heinrich Spiero als Nachlassverwalter und zukünftigen, ungebundenen Entscheider, ihm billigt sie einen großen Ermessensspielraum zu. Wie bereits 1921 Reuter ihr Urteil gegenüber Heyse korrigiert und den Autor ihrem Lesepublikum als »gebildeten, freien und gütigen Menschen« vorstellt,233 hebt Spiero nur vier Jahre später, in dem bereits kurz erwähnten Zeitungsartikel die Schatzkammer der Handschriften, den kulturhistorischen Wert hervor, der Heyses inzwischen institutionell archiviertem Vor- und Nachlass zukomme. Dieser Zeitungsartikel dokumentiert bereits, dass literarischen sowie wissenschaftlichen Hinterlassenschaften kultureller und besonders auch finanzieller Wert zugeschrieben wird. Ein sich etablierender Nachlasshandel zeichnet sich ab, der mit dem exklusiven Kunsthandel vergleichbar ist. Heyse lenkt mit seinem krisenhaften Entscheidensprozess und der dafür verwendeten bricolage erstmals Aufmerksamkeit auf seinen Nachlass, den Spiero in seinem Artikel einer großen Leserschaft als eine Archivguteinheit präsentiert, die zukünftige Forschungsvorhaben und damit einhergehend prospektives, 232 Heyse, Letztwillige Verfügung, BayHSta, GDION Bibliotheken, Nachlass Anna von Heyse, 789. 233 Reuter, Vom Kinde zum Menschen, S. 428.
346
v.3 von a rch i v z u a rch i v
gar dauerhaftes Wertpotenzial birgt. Dies bleibt nicht ohne Wirkung, denn nun wird den Werken des krisenerprobten Autors, seinem organisierten Vor- und Nachlass eine Dauerhaftigkeit bescheinigt. Ausschlaggebend dafür ist eine gewissenhaft vorbereitete Archivierung, die Heyse bereits in der fünften Auflage seiner Autobiografie darlegt,234 ohne dabei die zen trale Funktion Anna Heyses offenzulegen; dies holt Spiero nach, wenn er Heyses Nachlass anpreist: 10 000 Briefe, die an den Dichter Paul H ey se geschrieben wurden, sind vor kurzem aus dem Münchner Haus der Heyses an der Luisenstraße in die Staatsbibliothek überführt worden. Der Pietät der Witwe ist es zu danken, daß diese Briefe nicht längst in alle Winde zerstreut sind. […] Nachlässe, die die Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek als kostbare Schätze verwaltet […] [, harren] der Ausbeutung […]. Die letzte Erwerbung waren nun die Briefe Paul v. Heyses, des gefeiertsten unter den Dichtern der Tafelrunde Max II., des einst führenden Lyrikers, Erzählers und Übersetzers. Unter der Sammlung befinden sich auch Briefe Heyses 234 Heyse zitiert – sein Netzwerk im Blick – mehrfach Max Haushofers Zeitungsartikel Die literarische Blüthe Münchens und einen Zeitungsartikel, in dem Heyse und Geibel als das Münchener Äquivalent zu den Weimarern Goethe und Schiller dargestellt werden. Die literarische Orientierung Münchens wird geradezu als Entwicklungsgeschichte dargelegt: »Kein Goethe und kein Schiller, kein L essing und kein Wieland hatten diesen Boden mit geistiger Saat befruchtet«. Die vergleichend angelegte Namensliste erinnert an Eduard Paulus’ Lobgedicht auf BadenWürttemberg als literarisches Zentrum, denn in der zweiten Strophe heißt es: »Der Schelling und der Hegel, // der Schiller und der Hauff, // das ist bei uns die Regel, // das fällt hier gar nicht auf« (Paulus, Arabesken). Unter der zu Heyses Autorkonzept passenden Überschrift Und die Berufenen und ihre Freunde wird München zum zweiten Weimar: »Das dichterische Zeitalter Münchens begann mit der Berufung Emanuel Geibels im Jahre 1852. […] Als einige Jahre später Paul Heyse nach München gerufen ward, war Geibel einsichtsvoll genug, einzusehen, daß ein glänzendes Gestirn aufgegangen war«. Dieser superlativischen Erzähllogik folgend schaffen beide eine Kulturleistung, die München zu einem literarischen Zentrum erhebt, denn: »Das Münchener Dichterbuch war wohl das bedeutendste literarische Ereigniß jenes Zeitraums«, somit bestehe für Haushofer kein »Zweifel«, dass ein »gewaltige[r] Fortschritt im literarischen Leben Münchens sich unter der Führung von Geibel und Heyse binnen wenigen Jahren vollzogen hatte« (Haushofer, Die literarische Blüthe Münchens unter König Max II [15.2.1898], S. 1-5; Haushofer, Die literarische Blüthe Münchens unter König Max II [16.2.1898], 3 f.). Albertis Beobachtung ist richtig, »Heyse [will] so gern der Erbe Goethes sein«, und ergänzend ist hinzuzufügen, zumindest Haushofer und Petzet möchten wie das vorbildliche Weimar ein repräsentatives Dichterpaar haben und schaffen sich in Form biografischer sowie kulturgeschichtlicher Erzählungen und archivarischer Praktiken ein solches Paar für München.
347
v. pau l h eyse
selber, die die Witwe und der Biograph des Dichters, Oberbibliotheksrat a. D. Erich P e t ze t zurückgekauft haben. Frau Anna v. Heyse hat nach dem Tode ihres Gatten 1914 einen Teil der Briefe geordnet. Die Staatsbibliothek wird nun daran gehen, Brief für Brief zu katalogisieren und so der Benützung zugänglich zu machen, die von der Witwe, wie in solchen Fällen üblich, an gewisse Bedingungen geknüpft wurde. Diese Katalogisierung ist eine langwierige Arbeit, die viele Monate, ja Jahre in Anspruch nehmen kann. Den äußeren Anstoß zur Überlassung des Heyse-Nachlasses an die Staatsbibliothek, die für pietätvolle Verwaltung solcher Nachlässe und wissenschaftliche ›Mobilisierung‹ die denkbar besten Garanten bietet, bildete der Verkauf des Heyse-Hauses.235 Neben Anna Heyse wird Petzet in Spieros Artikel als zentraler Nachlassverwalter vorgestellt und es scheint, dass in kollektiver Zusammenarbeit an Heyses autobiografischem Vor- und Nachlass gearbeitet wurde. Die archivarische Funktion ist auch für Arthur Schnitzlers Autobiografie maß gebend, wie bereits bei Heyse zeigt sich diese anhand eines lebenslauf- und werkkonstitutiven Entscheidensprozesses: Indem ein zuvor privates Entscheidungsdilemma aus dem archivierten Tagebuch erstmalig ans Tageslicht befördert wird, gelingt es dem Erzähler eindrucksvoll seine Archivierungspraktiken darzulegen. 235 Spiero, Schatzkammer der Handschriften. Besuch in der Bayerischen Staats bibliothek, in: Neueste Nachrichten, 22.1.1925, BayHSta, GDION Bibliotheken, 789; vgl. auch: Bettelheim, Paul Heyses Briefwechsel, S. 31. Deutlich zeigt sich in Spieros Artikel bereits der Wert, der ›Dichterhäusern‹ zugesprochen wird, allerdings kann er noch nicht auf erprobte Bewahrungskonzepte oder gar ein gesellschaftlich virulentes Bewahrungsbedürfnis rekurrieren. Er und Petzet heben den kulturhistorischen Wert des Dichterhauses hervor und bemühen sich für Anna von Heyse um dessen Erhalt: Die Korrespondenz beginnt 1926, somit zwölf Jahre nach Heyses Tod und dokumentiert erneut seine Nachweltfokussierung. Anna von Heyse ist in derartig finanzieller Not, dass sie so gut wie gezwungen ist, ihr Haus zu verkaufen. Petzet erläutert gegenüber der Schillerstiftung ihre Notlage und erwägt eine finanzielle Unterstützung durch diese, dabei bestehen Zweifel, inwieweit dies geleistet werden kann. Weiterhin wird erwähnt, wie bedauerlich es wäre, sollte Anna Heyse das Haus verkaufen müssen, aber explizite Planungen zu einem Dichterhaus existieren nicht. Es wird erwähnt, dass die Not bestehe, da viele Einnahmen durch Tantiemen etc. an Heyses Nachkommen gingen. Anna von Heyse nehme die Hilfe nicht an, da sie bereits Unterstützung von der Stadt erhalte. 1930 sei die Not allerdings so groß gewesen, dass sie die Hilfe von 1000 RM angenommen habe (vgl. Erich Petzet an die Zweig-Schillerstiftung München, München 28. Februar 1926). Thomas Schmidt erläutert die Übersetzungsnotwendigkeit zwischen Theorie und Praxis in seinem Problemaufriss zum Dichterhaus: Schmidt, Authentische Atmosphären, S. 374 f., 377, 379, 382-386.
348
Abb. 11: Heinrich Spiero, Schatzkammer der Handschriften. Besuch in der Bayerischen Staatsbibliothek, in: Neueste Nachrichten, 22.1.1925, BayHSta, GDION Bibliotheken, 789.
349
VI. Arthur Schnitzlers
Jugend in Wien. Eine Autobiographie VI. Arthur Schnitzler
VI.1 Dilemmatisches Doppelleben Unentschiedenheit als Markenzeichen Arthur Schnitzlers gesamte Autobiografie ist die Inszenierung eines Dilem mas,1 denn während Lewald-Stahr und Heyse ihre autobiografischen Figuren bereits frühzeitig auf die Zielgerade setzen, lässt Schnitzler seine fortwährend mit einem unentschiedenen Doppelleben hadern.2 Demnach bildet das Zentrum der sieben Bücher seines autobiografischen Projekts die fast unlösbare Entscheidung zwischen dem medizinischen Beruf und der poetischen Berufung (vgl. JiW, 98, 72, 134).3 Die unentschiedene Zwischen 1 Alexander Honold exemplifiziert, dass zwei gleichwertige Alternativen lediglich in der Theorie oder in literarisierten wie theoretisierten Konstellationen zu finden sind (vgl. Honold, »Entscheide Du«, S. 524). Bernd Gräfrath definiert den Begriff ›Dilemma‹ folgendermaßen: »Ganz allgemein gefasst, bezeichnen wir ein Problem als dilemmatisch, wenn eine Entscheidung in einer Situation erforderlich ist (oder zumindest zu sein scheint), in der schwerwiegende Argumente unvereinbare Empfehlungen geben« (Gräfrath, Dilemma, S. 532). 2 Ausgewählte Thesen und Zwischenergebnisse der folgenden drei Teilkapitel wurden bereits in einem Aufsatz publiziert. Der zugrundeliegende Beitrag wurde für diese Studie deutlich erweitert, kontextualisiert und überarbeitet. Vgl. hierzu: Nienhaus, Bricolage. 3 Die sieben Bücher befinden sich gesammelt in einem Band und stellen eine interne Zähleinheit beziehungsweise Kapitelfolge dar. Mit dem Ausdruck ›Buch‹ wird bereits auf die Tagebücher verwiesen, die Schnitzler als Vorlage dienen. Vgl. exemplarisch zur Thematik der Berufsentscheidung in Schnitzlers Autobiografie: Nehring, »Kulturhistorisch interessant«, S. 86; Lederer, Arthur Schnitzlers Autobiographie, S. 8. Fliedl hält fest, dass Schnitzler mit einer siebenteiligen Kapitelstruktur kanonischen Klassikern folge (vgl. Fliedl, Arthur Schnitzler [1997], S. 306). Dies belegt, dass Schnitzlers autobiografisches Projekt als abgeschlossen gelten darf. Ergänzt werden kann, dass Schnitzlers gesammelte Werke bei Fischer in sieben Bänden erschienen. Bemerkenswert ist zudem, dass Schnitzler das erste Buch mit seiner Geburt beginnen und einer frühkindlichen Todesgewissheit enden lässt: Somit setzt er sein autobiografisches Projekt unter ein chrono- sowie nekrologisches Vorzeichen. Die vorgelegte
351
v i . a rt h u r sch n i t zler
position wird zukünftig zur wirkmächtigen Wegmarke in biografischen Erzählungen, wenn etwa Renate Wagner mit Der ›Arzt am Scheideweg‹ und Giuseppe Farese zwanzig Jahre darauf »Am Scheideweg zwischen Kunst und Wissenschaft« jene Kapitel betiteln, die Schnitzlers beruflichem Werdegang gewidmet sind.4 Der ›Scheideweg‹ als prominente Entscheidungsmetapher wird geradezu ein Markenzeichen für Schnitzlers Lebensgeschichte, die bereits der Schriftsteller auto- sowie werkbiografisch konzis konzipierte. Bemerkenswert ist, dass Schnitzler hierfür innerhalb des autobiografischen Erzähltextes abermals den Entscheidensprozess explizit und an archivarische, editorische und kuratorische Praktiken bindet, mit diesen bereits die zukünftige Hinterlassenschaft formiert und etwaige Forschungs vorhaben vorbereitet. ›Entscheiden‹ erweist sich somit, wie auch in den vorherigen Fallbeispielen, als ein rekonstruierter Prozess, dessen mühevolle Genese ausgestellt wird. Abermals werden mit der bricolage unterschiedliche Dokumente synoptisch arrangiert, sodass der Entscheidungszeitraum Autobiografie ist der Autorgeburt, Werkgenese und Nachlassverwaltung gewidmet (vgl. JiW, 11, 60, 62). 4 Vgl. JiW, 279, 280, 282, 293, 302, 305 f., 312 f.; Farese, Arthur Schnitzler, S. 7, 11-27; Wagner, Arthur Schnitzler, S. 5, 38-67. Wagner referiert mit ihrer Überschrift auf George Bernard Shaws Der Arzt am Scheideweg. Pointiert wird die theatrale und dilemmatische Dimension der Berufsentscheidung mit der geliehenen Überschrift in die Biografie gesetzt, zumal Schnitzler in seinen Tagebüchern notierte, dass er Shaws Drama gelesen und gesehen habe (vgl. TBIV, 106; Schnitzler, Tagebuch 1920/22, 369. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBVII angegeben.). Wagner formuliert zu Schnitzlers Unentschiedenheit: »Der Zwiespalt zwischen Künstler und Wissenschaftler, zwischen Dichter und Arzt, in der Seele des Siebzehnjährigen aufgerissen, soll tatsächlich zu einem Lebensproblem Arthur Schnitzlers werden, bis der Dichter, der nie aufhören kann Arzt zu sein, später die produktive Synthese zweier Berufungen findet, deren Diskrepanz ihn zuerst einmal auf Jahre hinaus belastet: Es gilt ja immerhin, die Weichen für ein ganzes Leben zu stellen« (ebd., S. 27). Oder auch für eine Autobiografie, denn dort wird dieses Doppelleben zur Figur des ›gemischten Doppels‹ gemünzt und die poetische, werktätige Kraft vorgestellt, die mit einer Entscheidungskrise einhergeht. Wagner bemüht für Schnitzlers Berufsentscheidung die Metapher der ›Waage‹ (ebd., S. 66). Auch Claudio Magris fokussiert für Schnitzlers Leben und Werk, das er für seinen literatur geschichtlichen Überblick exemplarisch anführt, seine unentschiedene Zwischenposition und bestimmt diese als ein Epochenmerkmal (vgl. Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, S. 253). Als ewig Unentschiedener wird er auch in Bayerdörfers und Weissenbergers Studien vorgestellt (vgl. Nehring, »Kulturhistorisch interessant«, S. 86; Bayerdörfer, Arthur Schnitzler, S. 519; Fliedl, Arthur Schnitzler [1997], S. 259; Weissenberger, Arthur Schnitzlers Autobiographie »Jugend in Wien«, S. 186; Lindgren, Arthur Schnitzler im Lichte seiner Briefe und Tagebücher, S. 46-51; Rey, »Werden, was ich werden sollte«, S. 136).
352
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
konturiert wird.5 Betont wird zunehmend der praxeologische Charakter, der narrativierten Entscheidensprozessen zukommt und für die eine strukturierte Materialauslese unabdingbar scheint, da nicht zuletzt mit dieser auf die prospektive Hinterlassenschaft hingewiesen wird. Hervorzuheben ist vorab, dass Schnitzler, obschon er seine Autorfigur als unstrukturierten Hasardeur inszeniert, akribisch Tagebuch führte, dieses ebenso akribisch archivierte und erst recht für sein autobiografisches Projekt konsultierte.6 Kurzum: Die autobiografischen Praktiken und Erzählerkommentare relativieren deutlich das Image eines unbesonnenen Bummelanten, das Schnitzler seiner autobiografischen Figur konsequent zuschreibt (vgl. JiW, 19, 43, 71, 124, 132, 133, 135, 150, 188, 191, 222, 255, 260, 280 f., 287). Er nutzt – wie bereits Lewald-Stahr und Heyse – bevorzugt den ›authentizitätsstrategischen‹ sowie ›korrektiven‹ Funktionswert erhaltener Brief- und Tagebuchpassagen für aufmerksamkeitssteigernde Entscheidungskrisen. Die appellative Bedeutung einer solchen Erzähltechnik zeigt sich, wenn Schnitzler kontinuierlich bislang unveröffentlichte Passagen aus seinem Tagebuch zitiert, um den langwierigen Entscheidensprozess für den Schriftstellerberuf erfahrbar und letztlich – anhand der ausgestellten Archivalien – auch ›überprüfbar‹ zu machen.7 Hierfür wechselt er gezielt von einem privaten zu einem öffentlichen Medium,8 indem er ausgewählte und 5 Dieses Verfahren wird im weiteren Verlauf der Analyse an den Textbeispielen detailliert aufgezeigt. 6 Vgl. zugleich exemplarisch JiW, 72, 86, 88 f., 94, 97, 98, 107 f., 109, 111, 122, 127 f., 160, 167, 172, 180, 181, 182, 226, 229, 258, 260, 297, 302, 311. Schnitzlers Tagebüchern kommt für sein literarisches Schaffen und seine Textgenese ein zentraler Stellenwert zu. Hubert C. Ehalt vermerkt hierzu: »Arthur Schnitzler hat von seinem 17. Lebensjahr bis zu seinem Tod penibel über sein Leben Protokoll geführt. Die Tagebücher geben eine dichte Beschreibung seiner privaten und künstlerischen Existenz« (Ehalt, Vorwort, S. 2). Vgl. hierzu exemplarisch: Jürgensen, Autobiographische Schriften, S. 278; Plener, Tagebücher, S. 280; Fliedl, Arthur Schnitzler [1997], S. 281; Weissenberger, Arthur Schnitzlers Autobiographie »Jugend in Wien«, S. 170; Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 9-15; Gutt, Emanzipation bei Arthur Schnitzler, S. 139. 7 Schnitzlers akribische Archivierung seiner Manuskripte wird später die Grundlage für seine Entscheidungsressourcen, wenn die Bearbeitung hinterlassener Fragmente diskutiert wird. Der Reiz, einen bislang unveröffentlichten oder nur für einen er lesenen Kreis publizierte Text zu lesen, wird in Olga Schnitzlers Autobiografie als Beziehungsbeginn inszeniert (vgl. Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, S. 27). Aus der Not, keinen Verlag zu finden, wird die Tugend, ein Werk als exklusiv vorzustellen. 8 Vgl. zum diaristischen Verhältnis zwischen ›Privatheit‹ und ›Öffentlichkeit‹ exemplarisch: Hagestedt, Vorwort, S. 23. Zentral ist in diesem Kontext auch Schnitzlers Umgang mit seinem Tagebuch: So liest er ausgewählten Personen daraus vor und
353
v i . a rt h u r sch n i t zler
bislang unter Verschluss gehaltene Tagebuchpassagen in den autobiografischen Erzähltext integriert und dezidiert eine anvisierte Publikation vorbereitet.9 Besonders wirkmächtig erscheint dieses Publikationsbestreben, bedenkt man, dass Schnitzler den Tagebuchzugang zeitlebens reglementierte. Darüber hinaus testierte Schnitzler die Publikation seines Tagebuchs, die allerdings erst nach einer großzügig angelegten, Persönlichkeitsrechten angemessenen Sperrfrist geschehen sollte. Konstanze Fliedl stellt fest, dass sich die Textgenese bei Schnitzler allgemein durch Diskretion auszeichne und der Schriftsteller biografische Spuren gewissenhaft tilge.10 Demzufolge besitzt die bricolage hinsichtlich des Gesamtwerks eine zentrale Bedeutung, denn der Autobiograf wird einer eigens auferlegten Diskretionsmaxime untreu, sobald er die Berufsentscheidung vorlegt und als prozessuale Krisenerzählung mitsamt in diskreten Schlüsselmomenten versiert marktgerecht vorbereitet.11 Eine Erfolg verheißende Erzähltechnik, die bereits Lewald-Stahr und Heyse buchmarktorientiert und netzwerkerprobt anzuwenden wussten. Die folgenden Analysen verdeutlichen demgegenüber, dass Schnitzler diese innerhalb einer Erfolgsgeschichte topische Krisenerzählung ergänzt und punktuell persifliert, um schließlich ein ausgeprägtes Archiv- und Medienbewusstsein vorzulegen. Hierzu lohnt sich zunächst ein Blick auf die autobiografischen Anfänge: In seinen Notizen vermerkt Schnitzler, dass mit neununddreißig Jahren die »Idee eine Autobiografie zu schreiben zuerst lebhaft« werde (JiW, 317). Elf Jahre später und drei Jahre vor der konkreten Arbeit an seiner Autobiografie hält Schnitzler am 26. September 1912 in seinem Tagebuch fest, dass er
verweigert wiederum bestimmten Personen jeglichen Zugriff auf sein Tagebuch. Vgl. hierzu exemplarisch: Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 12; Welzig, Das Tagebuch Arthur Schnitzlers, S. 79 9 Hervorzuheben ist, dass der Erzähler das Szenario aufgreift, mit dem das erste Tagebuch (1879-1892) beginnt, wenn ebendort Schnitzler am 19. März 1879 notiert, dass der Vater das Tagebuch gefunden und gelesen habe: »Ein Tagebuch wird gefunden, gerade das letzte (über Emilie). Große Scenen mit meinem Vater –« (Schnitzler, Tagebuch 1879/92, S. 9). Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBI angegeben). Vgl. auch: JiW, S. 86. 10 Vgl. Fliedl, Arthur Schnitzler [2017], S. 149. Hiervon zeugen auch seine Nachlassbestimmungen, in denen er in Bezug auf seine Autobiografie festlegt, dass keine Änderungen vorgenommen werden dürften. Jedoch formuliert Schnitzler eine Ausnahme: »Die einzige Aenderung, gegen die ich nichts einzuwenden hätte, wäre die, daß statt der vollen Namen von Fall zu Fall nur die Anfangsbuchstaben gedruckt werden« (Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen, S. 35). 11 Vgl. hierzu exemplarisch: Franzen, Indiskrete Fiktionen; Franzen, Ein ›Recht auf Rücksichtslosigkeit‹; Wagner-Egelhaaf, Autorschaft und Skandal.
354
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
die »vor Jahrzehnten« abgebrochene Lektüre der »Confessions« wiederaufnehme und während seiner autobiografischen Arbeit liest er – wie Fanny Lewald-Stahr – Rahel von Varnhagen-Enses Briefwechsel.12 Zusammengebracht werden kann diese Lektürenotiz wiederum mit seiner frühen Autobiografiekonzeption, da er wenige Tage darauf notiert: »Spaziergang; viel autobiografischen Anfängen nachgesonnen« (TBIV, 358). Wenige Monate zuvor und kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag notiert Schnitzler die Bestimmungen, die ich nach meinem Ableben zu erfüllen bitte, es ist zugleich das Jahr, in dem Samuel Fischer Schnitzlers in sieben Bänden gefasste Gesamtausgabe herausgibt.13 Nachdem Schnitzler einen bereits kanonisierten, erfolgreichen französischen ›Autobiografieklassiker‹ studiert sowie anschließend »autobiographischen Anfängen nachgesonnen« habe, folgt für das autobiografische Projekt eine Exposition, die entschieden an einen weiteren erfolgreichen Klassiker erinnert. So lässt er die eigene Autobiografie mit seiner Geburt beginnen, deren Darstellung an zwei prominente Vorbilder angelehnt ist, nämlich Johann Wolfgang von Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit und Jean Pauls ironisches Pendant Selberlebensbeschreibung.14 In diesem Kontext verrät die gewählte Einstiegsszenerie, in welche Tradition Schnitzler seine Autor figur und seinen erzählten Lebensweg stellt. Der Beginn ist gleichermaßen
12 Schnitzler, Tagebuch 1909/12, S. 356. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBIV angegeben. Vgl. TBV, 281. Auch Gottfried Kellers Der grüne Heinrich und »Karl May’s Selbstbiographie« liest Schnitzler in dieser Schaffensperiode, sodass er eine respektable Sammlung autobiografischer und auch autofiktionaler Topik verwaltet (vgl. TBV, 290, 294; TBVI, 207). Des Weiteren notiert Schnitzler am 25.5.1915: »Nm. begann ich ›systematisch‹ eine Art von Autobiographie« (TBV, 200). Die konkrete Arbeitsphase wird für die Jahre 1915 bis 1918 angesetzt (Vgl. hierzu exemplarisch: Jürgensen, Autobiographische Schriften, S. 276; Nehring, »Kulturhistorisch interessant«, S. 75). 13 Schnitzler, Tagebuch 1913/16, S. 329. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBV angegeben. Vgl. hierzu: Schnitzler, »Mein letzter Wille«, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes Autobiographisches, H.S.1985.0001.00203; Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen. Auf diese Gleichzeitigkeit verweisen auch Farese, Riedmann und Perlmann (vgl. Farese, Arthur Schnitzler, S. 9; Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 2 f.; Wagner, Arthur Schnitzler, S. 236). 14 Vgl. hierzu: Jürgensen, Autobiographische Schriften, S. 278; Nehring, »Kulturhistorisch interessant«, S. 77; Weissenberger, Arthur Schnitzlers Autobiographie »Jugend in Wien«, S. 175. Weissenberger erläutert, dass Schnitzler sich mit seiner Autobiografie bewusst von Goethes Autobiografiekonzept abgrenze (vgl. ebd., S. 164-168). Dabei übersieht er jedoch, dass gerade seine Autobiografie das Vorbild liefert, das Schnitzler für seine Archivierungs- und Kassationserzählungen zu nutzen weiß, die Haltung zu Goethes Werken also vielschichtiger ausfällt.
355
v i . a rt h u r sch n i t zler
auto- sowie werkbiografisch ausgerichtet, die Scheidewegstruktur ist hier bereits proleptisch angelegt:15 Zu Wien in der Praterstraße, damals Jägerzeile geheißen, im dritten Stockwerk des an das Hotel Europe grenzenden Hauses kam ich am 15. Mai 1862 zur Welt; und wenige Stunden später, mein Vater hat es mir oft erzählt, lag ich für eine Weile auf seinem Schreibtisch. Ob mir diesen für einen Säugling immerhin ungewöhnlichen Aufenthalt die Hebamme oder mein Vater selbst zugewiesen hatte, weiß ich nicht mehr; – jedenfalls gab die Tatsache ihm immer wieder Anlaß zu einer naheliegenden scherzhaften Prophezeiung meiner schriftstellerischen Laufbahn (JiW, 11; vgl. JiW, 17, 78, 103, 255, 275, 319). Der Entscheidensprozess für den Schriftstellerberuf steht bereits mit dem Expositionssatz sichtlich unter proleptischem Vorzeichen. Die anekdotisch aufbereitete »Tatsache« eines frühen Schreibtischintermezzos sowie die »scherzhafte Prophezeiung« präfigurieren die zukünftige Berufsentschei dung,16 münzen diese bereits auf einen Berufungsmythos. Die erzählte Geburt folgt dem Vorbild jenes erfolgreichen Weimarers, dessen autobiografische Erfolgsgeschichte Schnitzler bekannt und während der Arbeit an seinem Projekt präsent ist. So notiert er am 31. Oktober 1919 und am 1. Dezember 1919 in seinem Tagebuch: »N. d. N. begann ich Wahrheit und Dichtung wieder (zum 3. Mal) zu lesen. […] Dictirt Autob. – […] Goethe, Wahrheit und Dichtung«.17 Wissenswert ist zugleich, dass sich Schnitzler zeitlebens einen großen Überblick zu Autobiografien verschaffte, Achim 15 Vgl. exemplarisch zur Inszenierung der Autorfigur: Jürgensen und Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken; Grimm und Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen. Schnitzler schreibt in seinen autobiografischen Notizen: »Aber mein Schaffen ist nun einmal das wesentlichste Element meines Daseins und wenn auch die Geschichte mancher meiner Werke nicht in die Literaturgeschichte gehören mag, zur Geschichte meines Lebens gehört sie gewiß, und darauf kommt es hier an« (JiW, 319). Der formulierte Anspruch, ein Lebenswerk für die Nachwelt zu schaffen, erinnert an Goethes Selbsthistorisierungskonzept, auf das Welzig in seinem Editionsbericht aufmerksam macht. Beide Autoren verbinde der »dezidierte Wille, sich historisch zu machen« (Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 5; vgl. Jürgensen, Briefe, S. 287; Fliedl, Arthur Schnitzler [1997], S. 281). 16 Passend hierzu vermerkt Renate Wagner, dass sich in Schnitzlers Tagebüchern eine gewisse Schicksalsgläubigkeit verstetige: »[I]mmer wieder findet sich in seinem Tagebuch das Gefühl artikuliert, er sei neugierig, wie es mit ihm weitergehe – als läge es nicht in seiner Hand, als liefen die Dinge automatisch« (Wagner, Arthur Schnitzler, S. 36). 17 Schnitzler, Tagebuch 1917/19, S. 303, 313. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBVI angegeben.
356
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
Aurnhammer stellt bezüglich Schnitzlers Lektüre fest: »Innerhalb des erzählerischen Genres fällt zudem der relativ große Anteil an Memoiren, Biographien und Autobiographien auf«.18 Hervorzuheben ist für die Einstiegspassage das offenkundige Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion: Während dem Autobiografen naturgemäß eine detaillierte Erinnerung an seine Geburtsszenerie unverfügbar ist (»weiß ich nicht mehr«),19 wird sie besonders vermittels eingeübter, iterativer Erzählung (»immer wieder«) zu einer lebenslaufrelevanten »Tatsache« (JiW, 11), die den Vater zur »scherzhaften«, also uneigentlichen »Prophezeiung« veranlasst. Gemäß einem Berufungsmythos wird die richtungsweisende Prophezeiung der zukünftigen »schriftstellerischen Laufbahn« an eine weisungsbefugte Autorität externalisiert. Eklatant ist jedoch, dass gerade der Vater, der für die autobiografische Figur eine medizinische, lückenlose Karriere vorsieht und diese als alternativlos erachtet (vgl. JiW, 91 f., 127), hier die Rolle des Propheten einnimmt.20 Die prophetisch-ironisch ausgerichtete Exposition sowie der zufällige, äußerst frühzeitige Schreibtischaufenthalt entsprechen Merkmalen, die gleichfalls für den Schelmenroman und das Schicksalsdrama bekannt sind.21 Für den weiteren Erzählverlauf kommt dieser Einstiegspassage erklärtermaßen eine Sonderposition zu, 18 Aurnhammer, Arthur Schnitzlers Lektüren, S. 25. 19 Im weiteren Erzählverlauf konstatiert der Autobiograf wiederholt seine unzuverlässige Erinnerung, demgegenüber betont er den archivarischen, dokumentarischen und hilfreichen Wert erhaltener Tagebucheinträge, die für ein nachlassadäquates autobiografisches Projekt strukturiert ausgewertet werden (vgl. hierzu: JiW, 21, 113, 134, 139, 175, 178, 226, 229, 256, 297, 308, 316 f.). 20 Bis zuletzt resümiert Schnitzler beinahe redundant den väterlichen »Wunsch«, den Sohn »aus den mannigfachen Fährlichkeiten des Junggesellenlebens in eine bürgerliche Ehe, aus [s]einen schriftstellerischen Liebhabereien in eine geordnete ärztliche Laufbahn und aus [s]einer finanziell ungesicherten Lage in wohlhabende oder reiche Verhältnisse eingehen zu lassen« (JiW, 299). Wie bereits Lewald-Stahr und Heyse erklärt Schnitzler punktuell die Berufung gemäß einem biologistischen und auch berufungsmythischen Erklärungsmodell, wenn auch weniger strikt (vgl. JiW, 40, 45 f., 52, 70). 21 Die schelmenhaften Züge der autobiografischen Figur werden durch einen Vergleich mit Thomas Manns Felix Krull augenscheinlich: »Nicht das sein, was die Leute vermuten, nicht dort sein, wo sie einen noch wähnen, immer auch ein anderer, immer mehr sein, als man scheint […]. Antibürgerlich-romantisch im Gleichnis leben, ein Doppel- und Vielfachleben führen, das bedeutete, immer über einen Ausweg und Fluchtweg zu verfügen, immer einen Rest an Ungebundenheit und Freiheit zu sichern. […] Felix Krull ist ein Lebenskünstler – sein Werk ist sein Leben« (Sprecher und Bussmann, Thomas Mann, S. 108, 114; vgl. ebd., S. 19, 26, 106, 120; vgl. auch: Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, FA, Bd. 12.1; vgl. auch: Polt-Heinzl und Schwentner, Vorbemerkung, S. 1.
357
v i . a rt h u r sch n i t zler
denn der Wunsch des Vaters, seinen Sohn als erfolgreichen, verheirateten Arzt zu wissen (vgl. JiW, 299), ist konstitutiv für das Dilemma sowie das prekäre Doppelleben der autobiografischen Figur, deren Lebensweg nach unterschiedlichen Genremustern gestaltet ist. Infolgedessen wird bereits zu Beginn eine referentielle Komposition gewählt, die formal sowie stilistisch ein Dazwischen darstellt.22 Hervorzuheben ist zudem ein indirekter Erfolgsmarker, denn Verwandte und Lehrer erinnern den autodiegetischen Erzähler an prominente Größen des Literaturbetriebs. Der Bruder seines Urgroßvaters mahnt ihn deutlich an den »alten geheimrätlichen Goethe« und sein ehemaliger Lateinlehrer an den »alten Grillparzer« (JiW, 17, 78).23 Mit dieser wohlarrangierten Staffage setzt Schnitzler seine Autorfigur in einen Klub kanonisierter Klassiker und erfahrener Archivare, deren Werke unvergessen in der Nachwelt kursieren und auch Teil seiner Bibliothek sind.24 Mit der Exposition wird ein zukünftiges Erfolgsszenario angelegt, das Schnitzler strukturiert vorbereitet, indem er seine Autobiografie, sein Tagebuch und Testament miteinander verknüpft. Seine zukünftige Hinterlassenschaft stellt er als archivwürdigen, kanonfähigen Nachlass vor, in dem vorbereitete Editionsprojekte einer Publikation harren. Trotz angeführtem Berufungsmythos ist die zukünftige Unentschiedenheit zweifach motiviert, »lag« doch der Säugling »für eine Weile auf« dem väterlichen »Schreibtisch«, der als Wissensmöbel sowohl medizinischen als auch journalistischen und literarischen Tätigkeiten dient, überdies an die Profession des Großvaters väterlicherseits erinnert (vgl. JiW, 31, 44).25 Dieser Großvater sei »Tischler«, zwar »des Lesens und Schreibens unkundig, in seinem Handwerk aber beinahe ein Künstler gewesen« (JiW, 11). Daran 22 Vgl. hierzu exemplarisch: JiW, 106 f., 126 f., 133, 177, 274, 282, 299, 302. 23 Innerhalb des skizzierten Zusammenhangs ist es erzähllogisch konsequent, Familien ereignisse mit bedeutenden Jubiläen zu parallelisieren: »Wenige Wochen nach meinem Wiedereintritt ins Zivilistendasein, am 10. November 1883, notierte ich einige teils historische, teils höchst persönliche Tatsachen mit chronikalischer Kürze in mein Tagebuch wie folgt: ›Luthers 400. Geburtstag – Fünfzigjähriges Doktor jubiläum meines Großvaters – Kegelpartie arrangiert von Leopold Rosenberg – Animierter Abend bei Richard – Alle Vorlesungen bisher regelmäßig besucht außer Augenheilkunde‹ – und dazwischen die Bemerkung: ›Gisela F.s Lippen sind süß‹« (JiW, 175; vgl. ebd., 17, 78, 103, 255, 275). Die Fallhöhe zwischen den chronologisch festgehalten Ereignissen ironisiert das Tagesgeschehen, diese ironische Relativierung zeichnet die gesamte Autodiegese aus. 24 Vgl. hierzu: Aurnhammer, Arthur Schnitzlers Lektüren. 25 Zumal die gemeinsamen journalistischen Tätigkeiten ein zentrales Bindeglied zwischen Vater und Sohn darstellen (vgl. JiW, 194 f., 262 f., 274 f., 279, 282, 293, 394, 312-314).
358
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
anschließend wird der Schreibtisch zusätzlich als ein Möbel des Andenkens und der Trauer inszeniert; so resümiert der Erzähler, dass sein Vater, nach dem Tod der Mutter, »den Kopf in die Hände gestützt, in Tränen am Schreibtisch« gesessen habe, obschon er »ihn vorher niemals hatte weinen sehen« (JiW, 13).26 Insgesamt steht der väterliche Schreibtisch pars pro toto für die erfolgreiche Laufbahn als praktizierender Arzt, die »wissenschaftlich-schriftstellerische Tätigkeit« (JiW 198, 212) des Vaters als Vorstandsmitglied und Mitbegründer medizinischer Fachzeitschriften und die dennoch nicht ausgelebten schriftstellerischen Ambitionen. Anders formuliert: Er symbolisiert den virulenten Entscheidungskonflikt zwischen Literatur und Medizin.27 Zugleich konzentriert sich ebendort die Lebensspanne zwischen Geburt und Tod mitsamt dem postumen Andenken. Verkürzt steht der Schreibtisch für einen domestizierten Ort der Unentschiedenheit und 26 Bemerkenswert ist, dass die erste und frühe literarische Textproduktion unmittelbar an eine erstmalige Einsicht in die Verfänglichkeit des Lebens geknüpft wird (vgl. JiW, 60). Ein postumes Andenken vermag, wie in Friedrich Hölderlins Gedicht, schriftstellerische Schreibtischtätigkeit zu bewerkstelligen. 27 So resümiert die autobiografische Figur über ihren Lebensverlauf vor der Emanzipation als Schriftsteller: »ich […] schien so immer noch, und mehr denn je, verdammt, als der ›Sohn meines Vaters‹ meine Erdbahn durchlaufen zu müssen« (JiW, 264). Im 20. Jahrhundert wird die Doppelexistenz als Arzt und Schriftsteller in ihrer lebenslaufkonstitutiven Bedeutung prominent thematisiert. Vgl. hierzu exemplarisch: Benn, Doppelleben; Döblin, Arzt und Dichter. Merkwürdiger Lebenslauf eines Autors; Benn, Neben dem Schriftstellerberuf. Ob in Autobiografien von Schriftstellerinnen, die ein Medizinstudium absolviert haben, auf eine ähnliche Weise der Zwiespalt eines Doppellebens thematisiert wird, ist noch genauer zu untersuchen. Vgl. hierzu exemplarisch: Rohr, Lager; Wolff, Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit. Eine Autobiographie. Vgl. zum Motiv eines ›dilemmatischen Doppellebens‹: Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 3-5, 370. Gerhart von Graevenitz stellt eine poetische Heldenkonzeption der ›Doppelnaturen‹ für Fontanes Erzählungen fest und bestimmt dies als ein Modernekennzeichen (vgl. Graevenitz, Theodor Fontane, S. 136, 169-181). Peter Wruck legt dar, dass Fontane bis zu seinem autobiografischen Projekt Von Zwanzig bis Dreißig seinen Werdegang als geebnet dargestellt habe, erst mit in seiner Autobiografie lasse er eine Scheidewegstruktur zu, sodass sein dilemmatisches Doppelleben zwischen Beruf und Berufung erstmalig präsent werde (Wruck, Die ›wunden Punkte‹ in Fontanes Biographie und ihre autobiographische Euphemisierung, S. 65 f.). Die Bürde eines dilemmatischen, bisweilen prekären Doppellebens greift Theodor Fontane auch in einem Brief an Bernhard von Lepel auf (Theodor Fontane an den »Rütli«, 6. Februar 1856, S. 447 f.). Als Ideal imaginiert Fontane ein Dasein bar jeglicher Entscheidungs notwendigkeit, das ausschließlich mit finanzieller Unabhängigkeit zu haben sei: »Wenn man die Wahl hat zwischen Austern und Champagner, so pflegt man sich in der Regel für Beides zu entscheiden« (ebd., S. 448). Die mit diesem Gleichnis skizzierte produktive Unentschiedenheit nutzt Fontane für sein unerkanntes Doppelleben.
359
v i . a rt h u r sch n i t zler
melancholischen Trauer- wie Erinnerungsarbeit. Dieser verortete Zwiespalt dominiert durchweg die kompositorische Motivierung des gesamten Erzähltexts: Sobald der Erzähler einen literarischen Etappenerfolg verbucht, wird unmittelbar ein medizinischer gegengerechnet (vgl. JiW, 92, 126, 264). Schnitzler stellt seine Autorfigur entschieden in einen verheißungsvollen literarischen Kontext und in eine familiäre Scheidewegtradition, da der Lebenslauf des Vaters erklärtermaßen selbst durch den Entscheidens prozess zwischen Medizin und Literatur markiert ist: Während ein Gymnasiallehrer diesem »prophezeit hatte, er würde einmal der ungarische Shakespeare werden« (JiW, 30), wird der junge Arthur Schnitzler 1873 von seiner »guten Großmama mit dem Ausruf begrüßt ›Ein zweiter Schiller!‹« (JiW, 46).28 Interessant ist, dass der Autobiograf anschließend als früher Archivar und unzuverlässiger Verwalter eines handschriftlichen Beweisstücks auftritt, das durch den leicht verwundenen Verlust sowie die mittels Ellipse fingierte unbekümmerte Mündlichkeit schwerlich archivwürdig erscheint: Auch habe ich einmal ein Manuskript von ihm in den Händen gehabt, ja glaube sogar, mit seiner Zustimmung es eine Zeitlang verwahrt zu haben, das den ersten Akt eines in deutscher Sprache geschriebenen Dramas »Bar Kochba« enthielt und das später in Verlust geraten ist (JiW, 30).29 Für diesen Vergleich ist ausschlaggebend, dass die autobiografische Figur sich nicht mit theoretischen Konzeptionen zufriedengibt, sondern bereits früh die realweltliche Theaterpraxis verlangt habe. So bleibt »das Puppentheater« unbespielt, denn diesem wird »das lebendige Theaterspielen« mit den Kindern eines bereits bekannten Schauspielers vorgezogen (vgl. JiW, 179; vgl. auch: ebd., 40). Angemerkt werden muss zugleich, dass die autobiografische Figur ausgerechnet mit den Kindern gespielt habe, deren Vater später einen berufsentscheidenden Brief verfassen wird, namentlich der »berühmte[ ] Schauspieler[ ] Sonnenthal«, zugleich »ein Freund und Patient des Vaters« (JiW, 22, 26). Zukunftsweisend übernimmt die noch junge autobiografische Figur »beiläufig den Gang der Handlung« (JiW, 22). Während Lewald-Stahr und Heyse die literarische Tätigkeit akribisch als 28 Friedirch Schiller ist auch für Lewald-Stahr und Heyse eine zentrale Referenz. 29 Bemerkenswert ist, dass auch Heyse in seiner Autobiografie ein Zeugnis der literarischen, komparatistischen Befähigung seiner Mutter aufbewahrt und dies als eine autobiografiefähige Information einstuft: »Ich bewahre noch ein Gedicht Goethes (›Herz, mein Herz, was soll das geben‹) in der englischen Übersetzung meiner Mutter« (JB V, 5).
360
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
ernste Arbeit stilisieren, inszeniert Schnitzler geflissentlich ein nonchalantes Berufsethos der Beiläufigkeit. Wenig zögerlich präsentiert Schnitzler seine autobiografische Figur dabei als talentierte Ausnahmeerscheinung. Anders als Lewald-Stahr und Heyse profiliert er seine Autorfigur nicht über einen kultivierten Ehrgeiz und harte Bildungsarbeit. Vielmehr lässt er sie leichtfüßig den kanonischen Bildungskanon durchwandern, ohne zu versäumen sie mit jener diegetischen Figur zu vergleichen, die das Drama Der Jüngling am Scheideweg verfasst, Lehr- und Wanderjahre durchlebt und mit der bereits Lewald-Stahr und Heyse ihre Autorfigur verglichen haben.30 Demnach überrascht es kaum, dass sich auch für Schnitzlers autobiografische Figur eine »theatralische Sendung an[kündigt]« (JiW, 46 f.),31 die der Erzähler mit einer wohlgesetzten captatio benevolentiae vorbringt: Entschiedener und mit einer Ursprünglichkeit, die im Vergleich zu meinen, etwas gezwungenen lyrischen Bestrebungen besonders klar zutage tritt, kündigte sich meine theatralische Sendung an, wobei ich wieder die Frage der Begabung ganz außer acht lassen darf; – denn mit dem, was ich hier schreibe, maße ich mir keineswegs an, die Entwicklung eines dichterischen Genius zu schildern, sondern die einer menschlichen Seele, in der künstlerische, dilettantische und mancherlei andere Elemente einander bedingten, störten und förderten (JiW, 47).32 30 Vgl. hierzu: Riedl, Am Scheideweg. 31 Schnitzler nutzt ebenfalls Vergleiche mit fiktionalen und faktualen Figuren, um das Profil seiner Autorfigur einem kanonischen Klassiker gleich zu gestalten. Beachtenswert ist hierbei, dass er seine autobiografische Figur mit eigens entworfenen Typen vergleicht und seine Autobiografie dezidiert als eine autofiktionale Werkbiografie gestaltet (vgl. JiW, 160). Indem Schnitzler ein direktes Zitat einfügt, das auf Bahr zurückgeht, verweist er indirekt auf seinen Erfolg, sein exklusives Netzwerk und letztlich auf seine interpretatorische Deutungshoheit. Schnitzler macht mit diesem Zitat zugleich indirekt darauf aufmerksam, dass seine Autorfigur bereits in einer Epochengeschichte en miniature auftritt, denn in Bahrs Das junge Oesterreich heißt es: »Arthur Schnitzler ist anders. Er ist ein großer Virtuose, aber einer kleinen Note […]. Was er bringt, ist nichtig. Aber wie er es bringt, darf gelten. Die großen Züge der Zeit, Leidenschaften, Stürme, Erschütterungen der Menschen, die ungestüme Pracht der Welt an Farben und an Klängen ist ihm versagt. Er weiß immer nur einen einzigen Menschen, ja nur ein einziges Gefühl zu gestalten. […] Der Mensch des Schnitzler ist der österreichische Lebemann. Nicht der große Viveur, der international ist und dem Pariser Muster folgt, sondern die wienerisch bürgerliche Ausgabe zu fünfhundert Gulden monatlich, mit dem Gefolge jener gemüthlichen und lieben Weiblichkeit, die auf dem Wege von der Grisette zur Cocotte ist« (Bahr, Das junge Österreich). 32 Durch die explizite Aufnahme der Phrase ›theatralische Sendung‹ wird indirekt der Bezug hergestellt und unmittelbar ironisiert. Es gelingt dem Autobiografen seine Autorfigur in einen ›etablierten Kanon‹ einzuführen, ohne diesen bloß zu affirmieren.
361
v i . a rt h u r sch n i t zler
Dieses Image wird stetig relativiert, sodass auch ein Doppelleben dargestellt wird und die »persönlichen dichterischen Bestrebungen« mit einem ausgeprägten »allgemeine[n] literarische[n] Bildungstrieb« einhergehen (JiW, 23). Hervorzuheben ist, dass die Theaterwelt, die sich der autobiografischen Figur öffnet, zunächst an die Vaterfigur gebunden bleibt, die als Laryngologe zahlreiche Schauspielkontakte pflegt (vgl. JiW, 28): Am stärksten wurde meine Neigung zur Theaterspielerei jeder Art, bewußter und unbewußter, durch ziemlich häufigen Theaterbesuch, und dieser wieder durch die vielfachen ärztlichen und freundschaftlichen Beziehungen meines Vaters zur Theaterwelt gefördert (JiW, 27). Wieder ist es der Vater, der geradezu dialektisch die poetische Passion der autobiografischen Figur fördert, obzwar er für sie einen anderen Lebensweg vorsieht. Indem die autobiografische Figur frühzeitig Schauspieler und Schauspielerinnen auch als Patienten und Patientinnen seines Vaters wahrnimmt, werde die »Entwicklung jenes Grundmotivs vom Ineinanderfließen von Ernst und Spiel, Leben und Komödie, Wahrheit und Lüge« begünstigt, die den Autobiografen »immer wieder, auch jenseits alles Theaters und aller Theaterei, ja über alle Kunst hinaus bewegt und beschäftigt hat« (JiW, 27 f.). Spezifisch ist, dass Schnitzler seine zahlreichen Liaisons als Komödien inszeniert und zu novellistischen Liebesspielen respektive Liebeleien ausgestaltet (vgl. JiW, 25, 135, 235, 242, 247, 249, 252, 256, 264 f., 294, 305). Das Image eines Skandalautors wird nicht etwa wie bei Heyse mühevoll korrigiert, sondern kultiviert, zumal heikle Momente das Gerüst der Lebensgeschichte bilden (vgl. JiW, 176 f., 305).33 Nebstdem häufen sich Erzählerkommentare, die deutlich darauf hinweisen, dass die Rolle des Dichters früh einstudiert und fortwährend vorgeführt wurde. Der Be rufungsmythos wird um eine offenkundige Dichterperformanz erweitert, die stetig demaskiert, kommentiert und ironisiert wird. Die professiona lisierte Dichterinszenierung mitsamt den dazugehörigen topischen Gesten wird authentizitätsstrategisch als Marketingverfahren vorgelegt. Für die kompositionelle Motivierung der Diegese ist das »Ineinanderfließen« ein 33 Wagner-Egelhaaf, Autorschaft und Skandal, S. 30; Neuhaus, Wie man Skandale macht, S. 32, 39 f. Deutlich wird die mit einem Skandal einhergehende Erfolgsgarantie auch anhand der Rezeptionsgeschichte zu Schnitzlers Reigen und seiner für das Stück verhängten Sperrfrist (vgl. exemplarisch: Fliedl, Arthur Schnitzler [2017], S. 154; Bülow, »Sicherheit ist nirgends«. Das Tagebuch von Arthur Schnitzler, S. 115-134; Arnold, Der falsch gewonnene Prozeß, S. 114-117; Braunwarth, Arthur Schnitzler, S. 344). Gotthart Wunberg spricht bezüglich Schnitzlers Werken von »repräsentative[n] Skandalen« (Wunberg, Fin de siècle in Wien, S. 3; vgl. auch: Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, S. 18, 60).
362
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
zentraler Ausdruck (JiW, 27). Mehrfach betont der Erzähler, wie unterschiedliche Typenmerkmale zu ikonischen Figuren zusammenfließen und mit ebendieser Melange thematisiert Schnitzler diegetisch sowie meta diegetisch die Figur des unentschiedenen Doppels (vgl. JiW, 17, 19, 78). Die Theaterpassion führt zudem, wie bei dem selbsternannten Goethenachfolger Heyse, zu erzählenswerten Tauschaktionen. Während Heyse berichtet, seine Schulbücher verkauft zu haben, um das Theater besuchen zu können, habe Schnitzler zu Schulzeiten seine »Uhr […] versetz[t]«, um seinem Freund Adolf Weizmann »den Kauf eines Billets für eine Vorstellung des ›Götz‹ im Burgtheater zu ermöglichen«. Diese Episode wird mit dem proleptischen Erzählerkommentar geschlossen, dass die prominente Theaterinstitution »auch sein persönlicher Zukunftsraum« gewesen sei (JiW, 68). In der zitierten Passage bilden die beiden Freunde eine berufliche Schicksalsgemeinschaft, dabei ist es Schnitzler, der die Regie führt und den Eintritt in den Zukunftsraum ermöglicht, der sich ihm vollends erst nach einem krisenhaften Scheideweg öffnen wird.34 Für das Entscheidungsdilemma kommt erschwerend hinzu, dass der Vater, ebenfalls unentschieden, die schriftstellerischen Tätigkeiten des Sohnes ablehnt und gewissermaßen kontradiktorisch punktuell befürwortet (vgl. JiW, 23, 46). So motiviert er etwa die autobiografische Figur zur poetischen Produktion mit der Nachfrage »›Hast du schon lange kein Gedicht gemacht?‹« (JiW, 46) und vergütet gelungene Reisebeschreibungen mit »zehn oder zwanzig Kreuzer[n]« (JiW, 46). Während der Erzähler die Entschiedenheit der autobiografischen Figur anzweifelt, die literarische Bestrebung als wohl zu hütendes Geheimnis inszeniert, wird dennoch, geradezu paradox, die Vaterfigur als frühe Mittlerfigur ins Spiel gebracht, die gerade in Momenten des Zweifelns der autobiografischen Figur ihr literarisches Talent bestätigt: Kaum weiß ich zu sagen, ob ich selbst mich für berufen hielt, ja, ob ich damals meine gelegentlichen Bemühungen, das Urteil meiner engeren Umwelt oder gar der Öffentlichkeit anzurufen, im Innersten ernst genommen habe; ob ich nicht vielmehr auch hier, halb unbewußt, nur vor mir selbst und den anderen eine Rolle, in diesem Fall die des hoffnungsvollen jungen Dichters, weiterspielte. Meine novellistischen und dramatischen Versuche oder gar meine Liebeslyrik dem Vater mitzuteilen, erschien mir nach wie vor nicht rätlich, von dem »Tarquinius Superbus« 34 Das Drama wird zur lebenskaufkonstitutiven Konstante innerhalb der Autodiegese (vgl. JiW, 68; vgl. ebd., 31, 50, 46 f., 87, 135, 235, 242, 247, 249, 252, 256, 264, 277, 282, 294, 305).
363
v i . a rt h u r sch n i t zler
machte ich ihm erst an meinem sechzehnten Geburtstag Mitteilung, ohne ihm die Lektüre zuzumuten. Doch hatte er schon früher Gedichte von mir – kaum auf meine Veranlassung – schriftstellerischen Freunden zur Beurteilung vorgelegt, so einem Redakteur der »Neuen Freien Presse«, dem liebenswürdigen Humoristen J. Oppenheim (wie ich aus einem Brief meines Vaters ersehe, der jene Sendung offenbar einbegleitete und die, ich weiß nicht, wie, wieder in seinen Besitz gelangt ist), und dem Novellisten und Concordiapräsidenten Johannes Nordmann, der – wie ich einer Tagebuchnotiz entnehme – meine Gedichte ›reizend‹ fand, vielleicht nur, weil ihr Verfasser der Sohn des Concordiaarztes war (JiW, 72). Ausschlaggebend ist, dass die Talentbeurteilungen durch einen eingefügten Erzählerkommentar verbürgt werden, da dieser sich auf eine verfügbare Quelle zurückführen lasse. Mit dem Erzählerkommentar wird auf die archivierten Manuskripte verwiesen, mit deren Hilfe der schriftstellerische Entwicklungsprozess nachvollzogen werden könnte. In dieser Passage ist der Vater nicht schlichtweg als Mittlerfigur tätig, sondern als behutsamer Archivar der Korrespondenz, die dem literarischen Talent seines Sohnes galt. Er subventioniert bereits früh die literarische Profession des heranwachsenden Autors, der sich eigentlich zum Mediziner entwickeln sollte. Diese interreferentielle, intergenerationale Konstellation ist wiederum der tragischironische Grundstein für eine gegenseitige Anerkennung, Zuspitzung des Zwiespalts und schwelende Konkurrenz zwischen Vater und Sohn. Nicht zuletzt, da sich der Vater vordergründig konsequent für die Medizin entschieden hat. Die Entschiedenheit löst wiederum bei der autobiografischen Figur die lebenslaufbestimmende Krise aus,35 da neben den sicheren medizinischen Berufsaussichten (»eine[r] geordnete[n] ärztliche[n] Laufbahn«) der Schriftstellerberuf (eine »schriftstellerische Liebhaberei« [JiW, 299]) lediglich als prekäre und so gut wie unwählbare Alternative erscheinen kann, zumal der Berufsweg autoritativ vorbestimmt ist (vgl. JiW 21, 30, 74, 35 Während Schnitzler den beruflichen Entscheidensprozess seiner Autorfigur als langwierig und quälend schildert, kann die Berufswahl des Vaters als krisenfreier Entschluss gelten, der – gewissermaßen pietistisch – einem Lektüreerlebnis entspringt. Für den wiederum kein ganzes Buchprojekt notwendig scheint, so dass sich der Berufsentschluss in einem Satz darstellen lässt: »Nach der Lektüre der Hyrtlschen Anatomie, zu der er in den Maturitätsferien angeregt wurde, hatte er allen dichterischen Zukunftsplänen entsagt und sich mit Begeisterung für die medizinische Laufbahn entschieden« (JiW, 30). Der erzählerische Duktus verdeutlicht, dass eine reduktionistische Erfolgserzählung auf einen Satz verknappt werden kann. Zugleich wird mit diesem raschen Entschluss deutlich, dass sich vornehmlich Krisen dazu eignen, ausführlich erzählt zu werden.
364
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
90 f., 124, 126 f., 177, 187, 264, 282).36 Da der Vater zudem selbst in frühen Jahren die mögliche schriftstellerische Laufbahn aufgab und den sicheren Brotberuf befürwortete, erklärt sich die strikte väterliche Erwartungs haltung, der gemäß die autobiografische Figur ebenfalls das Medizinstudium, möglichst erfolgreich, absolvieren soll.37 Jedoch hindert dies den Vater keineswegs daran, unermüdlich sein schriftstellerisches Selbstbewusstsein gegenüber seinem Sohn offensiv auszustellen: »[B]is in seine letzten Jahre erklärte er mit Überzeugung, nicht nur mir gegenüber, daß er seinen Anlagen nach mindestens zu den gleichen poetischen Aspirationen berechtigt gewesen wäre als ich« (JiW 30). Obendrein zählt der Autobiograf seinen Vater zu seinen »mißgünstigen und gestrengen Beurteilern«, da dieser »immer dabei blieb, daß er dichterisch weit höher veranlagt gewesen wäre als ich, und daß aus mir nie was Rechtes werden würde« (JiW, 106 f.). Beiderlei Berufsrichtungen erlauben der autobiografischen Figur, so die Argumentationslogik, lediglich als Nachfolger aufzutreten. Der ›ewige Sohn‹ tritt ein bereits bestehendes Talenterbe an und darf sich einer vorgelebten Entscheidung fügen.38 Daran anschließend kommentiert der Erzähler später das resignierte Individualitätsbestreben der autobiografischen Figur: »[So] schien [ich] immer noch, und mehr denn je, verdammt, als der ›Sohn meines Vaters‹ meine Erdbahn durchlaufen zu müssen« (JiW, 264). Konfliktschürend wird der medizinische Erfolg des Vaters konsequent mit dem schriftstellerischen Erfolg der autobiografischen Figur paralle lisiert. Symbolisch schwer wiegt, dass der Erzähler das Promotions jubiläum des Vaters mit der Aufführung seines eigenen Festspiels zusammenfallen lässt, in dem wiederum er seinen eigenen Vater spielt (vgl. JiW, 212; TBI, 189 f.).39 Asymptotisch angenähert erscheinen somit die gelebte Entscheidung des Vaters, die zunächst ungelebte Entscheidung und die 36 Vgl. hierzu auch: Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 308. 37 Anfangs schildert der Autobiograf, wie der Vater ein ungebrochenes Vorbild, der eigene Berufsweg somit entschieden und dennoch ein Doppelleben unvermeidbar gewesen seien: (vgl. JiW, 91 f.). Durchweg lässt die prekäre Entscheidungslast und die Herausforderung, den vorgezeichneten Weg zu einem Scheideweg umzugestalten, die autobiografische Figur und auch den Autobiografen werktätig werden. 38 Der Vater wird kontinuierlich als Vorbild gestaltet, sodass die Entscheidung abermals dramatisiert wird (vgl. JiW, 23, 90 f., 126 f., 194). Gleichfalls wird es als Schreckensszenario skizziert, lebenslang die Rollen »Professorensohn« (JiW, 91) oder »›Sohn des Berühmten‹« (JiW, 92) einzunehmen, sodass der Erzähler befürchtet habe, »verdammt [zu sein,] […] als der ›Sohn [s]eines Vaters [s]eine Erdbahn durchlaufen zu müssen‹« (JiW, 264). Dementsprechend wählte sogar Wagner für ihre Biografie den Titel Der Sohn des Berühmten als Kapitelüberschrift (Wagner, Arthur Schnitzler, S. 5, 13-25). 39 Schnitzler liest für sein autobiografisches Projekt abermals das in die Jahre gekom-
365 https://doi.org/10.5771/9783835349148
v i . a rt h u r sch n i t zler
vordergründig gelebte Unentschiedenheit des Sohnes. Die oktroyierte Berufswahl wird insgesamt zur Bewährungsprobe für den Schriftstellerberuf und zugleich zum zuverlässigen Katalysator für die literarische Produktion und autobiografischen Werkentscheidungen. Es gilt einen vor gegebenen, vollzogenen Berufsweg für ein risikoreiches Schriftstellerdasein aufzugeben, also eine Krise durchzustehen. Der Vater ist überdies innerhalb des gesamten Erzähltexts exklusiv positioniert, sodass die Mutter, wie auch bereits in Lewald-Stahrs und Heyses Autobiografien, so gut wie absent ist (vgl. JiW, 35, 44, 306).40 Allerdings vergisst Schnitzler nicht auf die künstlerischen Ambitionen seines Großvaters mütterlicherseits hinzuweisen. Der »Doktor der Medizin und Philosophie« war ein durchaus bekannter »praktischer Arzt« und »vortrefflicher Pianist« gewesen, dessen vielversprechendes Talent jedoch aufgrund einer ausgeprägten »Leidenschaft« für »Hazardspiele« verkümmert sei (JiW, 15).41 Die Männerfiguren in Schnitzlers Verwandtenkreis zeichnen sich durch ein nicht ausgelebtes Talent aus, alle seien lediglich »beinahe […] Künstler« gewesen (JiW, 11), weshalb Schnitzlers autobiografische Figur als erste diesem dilettantischen Dunstkreis entwächst und schließlich als professioneller Autor reüssiert. Insofern ist die Entscheidung für den Schriftstellerberuf keine Abstiegs-, sondern eine Aufstiegsgeschichte. Der eigene poetische Begabungsreichtum lässt die autobiografische Figur bestimmt ohne Zaudern und Zögern die Entscheidung treffen, eine mögliche musikalische Laufbahn – rational abwägend – nicht zu verfolgen und sich auf das ausgeprägtere poetische Talent zu konzentrieren: Vor der Gefahr, mir eine schöpferische musikalische Begabung einzubilden, blieb ich damals wie später, auch in den inspiriertesten Momenten, dauernd bewahrt, da ich mir des tiefen Wesensunterschiedes zwischen Künstlertum und Dilettantismus schon dadurch im Innersten stets bewußt blieb, daß mir eben auf dem Gebiet wirklicher Kunstverstand und wirkliche Kunstbegabung (von ihrem Ausmaß ist hier nicht die Rede) geschenkt war (JiW, 71; vgl. JiW, 132). mene Festspiel: »Las […] das ›Festspiel‹ (zu Papas Jubilaeum 1886) – wegen Nachklg. durch; Notizen –« (TBVI, 130). 40 Vgl. hierzu auch: ebd., S. 18. Franz Grillparzers Autobiografie stellt eine beachtenswerte Ausnahme dar (vgl. Grillparzer, Selbstbiographie). 41 Wie auch bei Fontane wird die Glücksspielsucht männlicher Vorfahren tragischironisch inszeniert. Zugleich liefert die Spielobsession später ein Erklärungs modell für die wagemutige Berufsentscheidung (vgl. Fontane, Autobiographische Schriften).
366
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
Obschon in dieser Passage die Gefahr einer trügerischen Einbildung gebannt wird, die Gewissheit um das poetische Talent obsiegt und die schriftstellerische Berufung sich manifestiert, ist die Berufsentscheidung dennoch bei Schnitzler wie auch bei Lewald-Stahr ein konflikt- sowie risikoreicher Aushandlungsprozess, der bis zuletzt als prekäres Unter fangen charakterisiert wird. Obendrein fällt auf, dass Schnitzler für seine Dichterinszenierung ein deutlich divergierendes Strukturmodell wählt. Denn anders als Lewald-Stahr und Heyse inszeniert der Autobiograf seine Figur gerade nicht als fleißigen, ehrgeizig arbeitenden Jungpoeten, sondern primär als faulen Filou (vgl. JiW, 19, 43, 71, 124, 132-135, 150, 188, 191, 222, 255, 260, 280 f., 287), der unentschieden auf seiner Laufbahn taumelt und – wie bereits sein Großvater mütterlicherseits – unter chronischem Geldmangel leidend dem Risikospiel frönt (vgl. JiW, 13, 15, 68, 135, 160, 179, 193, 299). Die früh einsetzende konzentrierte Tagebuchführung und Organisation der eigenen Manuskripte widerspricht diesem für die Autobiografie gewählten Künstlerbild und setzt erneut das Doppelleben der Autorfigur fiktional sowie faktual bildhaft in Szene.42 Demzufolge erzähllogisch konsequent wird die dargebotene Erfolgsgeschichte eines talentierten Literaten mithilfe zahlreicher Selbstzweifel und ironischer Selbstinszenierungen irritiert (vgl. JiW, 132, 260, 302).43 Auch Schnitzler versäumt nicht, sich topisch als lesewütigen Bibliomanen vorzustellen und legt dementsprechend sorgfältig dar, welche Verwandten ihm bereits früh einen Zugang zu Bibliotheksbeständen ermöglichten (vgl. JiW, 16, 21, 23, 33, 60). Ergänzt werden muss an dieser Stelle, dass Schnitzler seine Lektüreerfahrungen nicht, wie etwa Lewald-Stahr und Heyse, primär und ausschließlich an die Vaterfigur knüpft, vielmehr bindet er diese zuvörderst an frühe Flirtphantastereien (vgl. JiW. 23).44 Frühreif habe die autobiografische Figur »um das Jahr 70«, demnach »neunjährig[ ]« und begeistert von der
42 Wichtig ist Welzigs Beobachtung zu Schnitzlers Tagebüchern: »Die Geschichte von Schnitzlers Tagebuch ist – wie sich in der ersten Etappe bereits ankündigt – nicht nur eine Geschichte des Tagebuch-Schreibens, sondern ebenso auch eine Geschichte des Umgangs mit dem Geschriebenen: vorlesend, lesend, aufbewahrend, exzerpierend und überlegend, was ›später‹ mit den Aufzeichnungen geschehen sollte« (Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 6). 43 Friedrich Torberg spricht im Nachwort zu Jugend in Wien von einer »reflektierte[n] Ironie«, die Schnitzlers Autobiografie auszeichne (vgl. Torberg, Nachwort, S. 328). 44 Diese sind nicht minder topisch (vgl. Rousseau, Les Confessions; Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt., Bd. 14).
367
v i . a rt h u r sch n i t zler
»Erzieherin«,45 begonnen »›Die Räuber‹ […,] ›Fiesko‹ […,] ›Jungfrau von Orleans‹, ›Braut von Messina‹, ›Emilia Galotti‹ und viele andere, auch Shakespeare’sche Dramen« zu lesen und nahezu das gesamte »Taschengeld[ ] für die kleinen gelbroten Büchelchen der eben erst neugegründeten Reclam’schen Universalbibliothek« zu investieren (JiW, 23). Nur vier Jahr später erhält sie zum Geburtstag jene Ausstattung, die innerhalb der hier vorgestellten autobiografischen Kontexte, notwendig für einen angehenden Schriftsteller beziehungsweise eine angehende Schriftstellerin ist: »die Klassiker in schönen Einbänden« (JiW, 60). Nunmehr kann die erste Bewährungsprobe erfolgen:46 [I]ch aber, wohl wissend, was ich meinem Dichterberuf schuldig war, ermangelte nicht, auch meinerseits mich durch ein humoristisches Heldengedicht in Hexametern, auf zehn Gesänge berechnet und »Barmitzwe« betitelt, dankbar zu erweisen; – eine um so echtere Dankbarkeit, als ich darauf verzichtete, die paar Verse, die ich zustande brachte, meinen edlen Spendern zur Kenntnis zu bringen (JiW, 60). Die schriftstellerische Tätigkeit wird bereits beizeiten wie auch bei Marie von Ebner-Eschenbach und Fanny Lewald-Stahr zu einer geheimen Tätigkeit, die hier wiederum ironisch persifliert wird. Die frühzeitige Dramenlektüre begleitet abermals die ausgeprägte theatrale Affinität. Schnitzler stilisiert sich zum krisengebeutelten Helden seines autobiografischen Entscheidungsdramas. Erneut wird das Theater geradezu zur Weissagungsstätte: So leben Schnitzlers Großeltern im »Carltheatergebäude« und an die45 Diese wiederum stammt aus einer wenig erfolgreichen ›Künstlerfamilie‹, sodass Schnitzler mit dieser eine Kontrastfolie etabliert, vor der sich das frühe Talent seiner Autorfigur deutlich abhebt. Zumal wie auch bei Heyse die erste Begegnung mit »eine[m] Dichter« primär dazu dient ein chaotisches, antibürgerliches Lebensmodell wahrzunehmen und die Irritation darüber zu fixieren respektive das eigene Autorkonzept von dem beobachteten abzugrenzen (vgl. JiW, 23 f.; JB V, 60-62, 69 f.). 46 Ähnlich wie Lewald-Stahr wird eine bibliophile, haptische Literaturerfahrung vorgestellt, die ein frühes, intuitives Verständnis des Buchgewerbes mit ironischem Habitus inszeniert: »Niedergeschrieben hatte ich mein Vorspiel in ein kleines, in rotes Leder gebundenes Notizbuch, ohne das übrigens die Farbe etwas mit der Tendenz etwas zu tun gehabt hätte; vielmehr liebte ich es, mir derartige kleine Büchlein vielfach und in verschiedensten Farben anzuschaffen. Stets aber betrat ich die Papierhandlung mit einem knappen Vorbericht über meine aktuelle Finanzlage, also etwa: ›Ich habe zwanzig Kreuzer bei mir‹, und nicht im Traum kam mir der Gedanke, daß man das Geschäft auch mit einem Rest an Barvermögen verlassen durfte. Vielleicht stand der Vollendung meines ersten Theaterstücks nur die Beschränktheit meiner Mittel entgegen, denn erst viel später kam ich auf den Einfall, mir statt der kostspieligen Notizbücher wohlfeileres Schreibpapier anzuschaffen« (JiW, 24).
368
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
sem symbolträchtigen Ort sei es dazu gekommen, dass die autobiografische Figur »als zwei- oder dreijähriges Kind aus einem Fenster der großelter lichen Wohnung einen Operngucker auf die Straße warf« (JiW, 19).47 Diese kontingente Episode wird gleich dem frühen Schreibtischintermezzo, mittels iterativer Erzählung, zur beruflichen Prophezeiung gemünzt. Indem dieses Ereignis »im engeren Familienkreise oft als ein symbolisches oder zum mindesten vorbedeutendes wiedererzählt« wurde, sei die autobiografische Figur »nahe daran« gewesen, »es recht unlogischerweise als ein solches aufzufassen« (JiW, 19). Je näher die Künstlerwelt rückt, desto rasanter wird das rationale Kalkül marginalisiert. Eine iterative Erzählung wird demnach einer kalkulierten Abwägung vorgezogen, zugleich mahnt der Opern guckerwurf an eine prekäre, womöglich erfolglose Fallgeschichte. Zumal der Erzähler anschließend von seinem ersten »Mißerfolg« berichtet, daher an seinen »undisziplinierten Ehrgeiz« erinnert (JiW, 19 f.). Die erwähnten Misserfolge und die Allusion etwaiger Szenarien des Scheiterns konfigurieren die virulente Entscheidungskrise und den späteren Erfolg als wirk- sowie werkmächtiges Ereignis (vgl. JiW, 73, 131, 277, 284).48 Verstärkt werden die rekapitulierten Misserfolge durch die nachträgliche Abwertung der 47 Der Wurf respektive Fall eines ausgewählten Objekts erinnert an eine literarisierte, schicksalsgläubige Entscheidenspraxis, die in Muschgs Tragische Literaturgeschichte einging: Goethes »Selbstbiographie ist trotz aller Dämpfung voll von Zeugnissen des Aberglaubens […]. Auf der Heimkehr von Wetzlar wollte er mit einem Orakel sogar sein Schwanken zwischen Dichtung und Malerei entscheiden: er schleuderte in einer plötzlichen ›befehlshaberischen‹ Anwandlung sein Messer in die Lahn, um aus der Art seines Fallens zu erkennen, welchen Weg er zu gehen habe« (Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 545). Die beiden proleptischen und gleichermaßen prophetischen Ereignisse greift auch Wagner für ihre Biografie auf, beide werden in der Rezeption zu einem ikonischen Entscheidungsmythos (vgl. Wagner, Arthur Schnitzler, S. 19). 48 Die anfänglichen Misserfolge büßen vollends an Tragik ein, bedenkt man Schnitzlers späteren durchschlagenden Erfolg, und zeichnen diesen gleichsam als Ergebnis steter, mühsamer Arbeit aus (vgl. zum späteren Erfolg: Farese, Arthur Schnitzler, S. 9 f.; Wagner, Arthur Schnitzler, S. 236, 316, 331 f.). In seinem Tagebuch vermerkt Schnitzler am 8. Dezember 1891: »Während mein Märchen überall gefällt, […] verhält man sich bei mir z. H. mit brutaler Verständnislosigkeit. Es war abgemacht, daß Papa die Druckkosten zahlt« (TBI, 357; vgl. auch: ebd., 352). Auch in seinem Lebenslauf notiert Schnitzler, dass die ersten Druckkosten eigenständig finanziert werden mussten, es galt eine prekäre Entscheidung zu treffen und sogleich ein verlegerisches Risiko einzugehen (vgl. Schnitzler, »Autobiographisches Allerlei«, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes, Autobiographisches, HS.1985.0001.00201; vgl. TBI, 333). Der erste Erfolg wird in allen Fallbeispielen mit einem Märchen erzielt, dies verdeutlicht einmal mehr, dass schriftstellerischer Erfolg an Glück gebunden, also kontingent ist und zudem inszenieren sich die Autobiografen und die Autobiografin einmal mehr als Auserwählte eines exklusiven Zirkels (MLG II, 281; MLG
369
v i . a rt h u r sch n i t zler
»ersten Schreibereien«, die »bestenfalls Anzeichen einer gewissen Frühreife, aber kaum solche einer wirklichen Begabung entdecken« ließen (JiW, 40).49 Obschon gemäß dem Erzähler die autobiografische Figur in der vierten Klasse dafür bekannt gewesen sei, die besten Aufsätze zu verfassen, misslingt eine Gegenprobe, denn ein neuer Lehrer bestätigt dieses Urteil nicht: Als meine ersten Arbeiten nicht zu Zitkovszkys Zufriedenheit ausfielen, bemerkte er wegwerfend, daß er an ihnen nichts Besonderes finden könne, ein Urteil, in dem ich ihm übrigens, soweit ich es an aufbewahrten Schulheften noch zu überprüfen vermag, nicht nur heute beipflichten muß, sondern dem ich mich schon damals im stillen anschloß. Denn, obzwar ich in der Schule spöttisch Poeta laureatus genannt und über mich sowie über meine gleichfalls literarisch beflissenen Freunde, Wechsel und Obendorf, das Gerücht in Umlauf gesetzt wurde, wir hätten einen Verein zur Verbesserung der Klassiker gegründet, – ich war auf meine Aufsätze und sonstigen schriftstellerischen Erzeugnisse keineswegs stolz, hatte kaum das Bedürfnis, sie in weiteren oder engeren Kreisen bekanntzumachen, sondern fand mein Genügen im rast-, aber auch planlosen Niederschreiben meiner Szenen und Stücke über die ich mich kaum mit jemand zu unterhalten und die ich nur ausnahmsweise meinen nächsten Freunden bekanntzugeben pflegte; außer Wechsel und Obendorf einem gewissen Otto Singer, dem ich den ›Tarquinius Superbus‹ einmal im Salon vorlas, nicht ohne das Manuskript, wenn mein Vater eintrat, unter den Divan verschwinden zu lassen […]. Zusammenfassend wäre nur zu sagen, daß alles, was ich innerhalb dieser frühen Epoche schrieb, kaum an irgendeiner Stelle das Vorhandensein eines wirklichen dichterischen Talents ahnen ließe, wenn man nicht schon die unbezwingliche Schreibelust, zum mindesten auf dramatischem Gebiete, als Anzeichen eines solchen Talents will gelten lassen; und selbst das früher beiläufig gebrauchte Wort Frühreife glaube ich treffender durch ›Frühbildung‹ ersetzen zu müssen (JiW, 48 f.). In dieser Passage wird die autobiografische Figur zunächst als mäßig talentiert charakterisiert, »spöttisch Poeta laureatus genannt« und dennoch finden sich zahlreiche Merkmale, die einer epochemachenden Erfolgserzählung III, 9; JB V, 114; Heyse, Meine Erstlingswerke, S. 57-59). Vgl. hierzu auch: Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 22. 49 Schnitzler stellt sich selbst als seinen ungnädigsten Kritiker dar und inszeniert en passant eine autorisierte Werkkennerschaft.
370
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
entsprechen.50 Während der Schullehrer sein »wegwerfend[es]« Urteil spricht (JiW, 48), darf dieses bereits zur Zeit der Autobiografiekonzeption als verfehlt gelten, da Schnitzlers Schriften nicht im Papierkorb landen, sondern mitsamt Kopien in renommierten Verlagen, im privaten Safe und in angesehenen Archiven. Zunächst bilden, wie in allen hier vorgestellten Autobiografien, die »Klassiker« eine Referenz (JiW, 48), an der etwaige Erfolgsaussichten gemessen werden. Allein die Vergleichsebene dient dazu, proleptisch die glückende Karriere zu konturieren. Festzuhalten ist, dass die karrierefördernden Vereinspraktiken ausschließlich in den hier vorgestellten Schriftsteller-Autobiografien präsent sind, in Schriftstellerinnen-Autobiografien fehlen diese. Die Abwesenheit verdeutlicht die erschwerten, limitierten Partizipationsbedingungen und die damit einhergehenden mangelnden Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für Frauen. Hier zeigt sich eine eklatante Differenz, denn die frühe Vereinstätigkeit ist gewissermaßen eine karrierefördernde Netzwerkschule, die einen deutlichen Wettbewerbsvorteil schaffen kann (vgl. JiW, 123).51 Das Lehrerurteil wird durch einen Vergleich, ähnlich wie in Heyses Autobiografie, korrigiert, da ausgerechnet der Lehrer, »dessen äußere Erscheinung […] mit der des alten Grillparzer zusammenfließt« und der philologisch versiert einen »Zettelkasten […] für seine sprachvergleichenden Studien« akribisch verwaltet, die kichernde Klasse mit einer prophetischen Aussage zurechtweist: »›Lachen Sie nicht, der Schnitzler, der ist ein Genie‹« (JiW, 78 f.). Schnitzler stilisiert seine autobiografische Figur geradewegs als potenziellen Musterschüler, dem es jedoch an ehrfurchtsvoller Disziplin mangelt (vgl. JiW, 78-81), die etwa Lewald-Stahrs und Heyses autobiografische Figuren auszeichnet.52 Obwohl es sich um ein Schriftstück handle, dass weder den Lehrer, den Schüler noch den Autobiografen zu überzeugen vermag, wird es als ein wegweisendes Manuskript »aufbewahrt[ ]«, da es eine »frühe[ ] Epoche« der schriftstellerischen Laufbahn dokumentiert und diese fortwährend »überprüf[bar]« macht, sodass der Autobiograf selbst die Ursachen des sich einstellenden Erfolgs nach zahlreichen Misserfolgen gemäß einer soziologischen Studie erfor50 Der Ausdruck ›Epoche‹ tritt in Schnitzlers Autobiografie gehäuft auf und dient dazu, Zeitabschnitte einzuteilen, die zugleich werkbiografisch organisiert sind. 51 Wie in Lewald-Stahrs und Heyses ist auch in Schnitzlers Autobiografie der inter textuell konnotierte Ausdruck ›Wahlverwandtschaft‹ zentral, um das eigene Netzwerk zu beschreiben (vgl. JiW, 122). 52 Schnitzler legt gleich zu Beginn einen aufsehenerregenden Kontrast an. Einen solchen konzipiert Heyse erst für die fünfte Auflage seiner bis dahin vornehmlich ›strebsamen‹ Lebenserzählung, um fortan nicht mehr als begünstigter, von Krisen verschonter Musterschüler zu gelten.
371
v i . a rt h u r sch n i t zler
schen kann. Schließlich findet sich auch in dieser Passage die Figur des dialogischen, unentschiedenen Doppels, denn während der Erzähler darlegt, dass er bei frühen Talentproben »planlos« vorgegangen sei, »über prüf[t]« er dies »an aufbewahrten Schulheften«. Amüsante Planlosigkeit und werkpolitische Planhaftigkeit werden auch in dieser Passage kombiniert. Während Lewald-Stahr, Heyse sowie Ebner-Eschenbach sich damit rühmen, dass sie misslungene Texte rigoros kassiert hätten, archiviert gerade jener Autor akribisch misslungene und gelungene Texte, der explizit das Image eines Musterschülers zugunsten eines »Allotria«-freudigen, »mondsüchtig[en]« Melancholikers ablehnt (JiW, 61, 81). Überdies ist es gerade die hazardfreudigste Figur, die stetig zaudernd das Risiko einer letztgültigen Entscheidung scheut (vgl. JiW, 126, 132, 193 f.). Obendrein schildert der Erzähler die autobiografische Figur als mäßig bemühten Medizinstudenten, der sein Studium »nur lässig«, »nicht ernsthaft«, mit »mäßigem Ehrgeiz« »minder fleißig[ ]« betrieben hatte, geflissentlich betont er seine »Nachlässigkeit im Studium« (JiW, 124, 191), als »Sekundararzt« sei er »kaum fleißiger gewesen« (JiW, 260), »von eigentlicher wissenschaftlicher Arbeit […] war keine Rede« (JiW, 260), zudem sei er »[a]uf die Visite […] öfters zu spät und meist in verschlafenem Zustand« gekommen (JiW, 280), letztlich habe ihm das gefehlt, was für die schriftstellerische Laufbahn reichlich vorhanden gewesen sei: »der redliche Wille und das wirkliche Talent« (JiW, 287). Stringent inszeniert der Autobiograf seine Figur als einen Arzt, der »nur das Nötigste [tat]«, da die ausgeprägte »Künstlernatur« primär den Werdegang bestimmt habe (JiW, 222). Die berufliche Leistungsbilanz als angehender Arzt wirkt defizitär und folgt auch hier einem biologischen Erklärungsmuster, obschon er zugleich verhindert, als »rettungslos verbummelte[r] Student[ ]« zu gelten (JiW, 135; vgl. 188).53 Mehrfach betont Schnitzler, dass es seinem Vater an »Menschenkenntnis gebrach« (JiW, 29) und somit einer Eigenschaft, die ihn selbst wiederum für den Schriftstellerberuf prädestiniert. Während in den vorherigen Autobiografien die ausgeprägte Beobachtungsgabe der autobiografischen Figuren als auszeichnendes signum der Berufung ausgestellt wurde, ist es bei Schnitzler der diagnostische Blick, der für das medizinische Tätigkeitsfeld brachliegt, jedoch für die literarischen Projekte den durchschlagenden Erfolg ermöglichen wird, und gerade diesen bescheinigt ihm der Vater (vgl. JiW, 133; vgl. auch: ebd., 25, 222, 260, 313).
53 In diesem Zusammenhang betont er, dass er trotz Desinteresse sein »Zeugnis der Reife mit Auszeichnung« bestanden habe (JiW, 88; vgl. ebd., 48, 88 f., 92).
372
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
Das erwähnte literarische Projekt »›Tarquinius Superbus‹« erinnert an den ersten Publikumserfolg und muss, wie auch bei den hier vorgestellten Schriftstellerinnen-Autobiografien vorerst als prekäres Geheimnis gehütet werden und »unter den Divan verschwinden«.54 Deutlich wird mit dieser Passage, dass Talent kein hinreichendes Kriterium mehr dafür sein kann, zukünftig erfolgreich zu werden. Es bedarf der steten Übung, sodass die literarische Berufung ohne eine »›Frühbildung‹« und daran anschließende professionalisierte literarische Berufsausbildung deutlich an Wert verliert. Wie bereits explizit bei Heyse wird bei Schnitzler en passant betont, dass eine berufliche Karriere neben dem Schriftstellerberuf nicht möglich sein könne (vgl. JiW, 188-190, 316). Der sich einstellende Erfolg kann schließlich als entscheidendes Ereignis wirken, nachdem der Autobiograf zunächst schelmisch eine werkbiografische Chronologie all seiner Miss erfolge und negativen Publikationsbescheide vorlegt: Im Juni 77 sandte ich ein paar Gedichte an einen gewissen Siegmey – den Herausgeber irgendeines Wochenblättchens – und erhielt ermunternde Antworten, die aber weiter keine Folge hatten. Dem »Salonblatt« schickte ich unter dem romantischen Pseudonym Richard Bleich etliche Verse ein, ohne auch nur einer Erwiderung gewürdigt zu werden. Ebenso erging es mir mit Gedichten, die ich an Robert Hamerling nach Graz adressierte, obwohl ich in meinem Begleitschreiben, wenig geschmackvoll, einen Appell an die vielleicht noch nicht vergessenen Träume seines eignen sechzehnjährigen Dichterherzens gewagt hatte. Eine Art Feuilleton »Zwanzig Millionen Welten« war für ein Morgenblättchen bestimmt […]; doch der Redakteur, weniger ergriffen als ich, lehnte in der offenen Korrespondenz, mit ironischem Hinweis auf mein jugendliches Gemüt, die Veröffentlichung ab. […] Ein harmlos-läppisches Gedichtchen, »Omnibusträume« betitelt wurde von einem Kollegen namens Ostersetzer, der eine Schulzeitung herausgab, »wegen seines für Klassenvorstände nicht geeigneten Inhalts« höflich zurückgewiesen (JiW, 73).55 54 Eine Parallelszene hierzu findet sich in den dargestellten frühen Kindheitstagen: »Ich verfertigte [meine dramatischen Versuche] […] insgeheim und ließ die Schulhefte, in die ich sie einzutragen pflegte, wenn mein Vater oder sonstwer ins Zimmer trat, unter den Aufgaben verschwinden« (JiW, 47). 55 Letztlich kommt es zu einer Pseudonymverschränkung, wenn der Autobiograf darlegt, dass die »Hauptfigur in der ersten Fassung Richard hieß« und später Anatol ›getauft‹ wurde. Die Hauptfigur erhält somit zweifach ein Pseudonym (vgl. JiW, 73), das der Autor jeweils als Namen für seine Veröffentlichungen nutzte.
373
v i . a rt h u r sch n i t zler
Aussagekräftig ist zunächst, dass die autobiografische Figur trotz aller »Allotria« früh darum bemüht ist (JiW, 81), die eigene, noch lose Blattsammlung auf den Markt zu bringen. Die pejorativen Diminutiva der Passage dienen dazu, eine klare Distanzierung zur damaligen ungereiften, noch unprofessionellen Fähigkeit vorzustellen. Daher disqualifiziert Schnitzler die Publikationsorgane als wenig ruhmversprechendes Sprungbrett und die »spöttisch[e]« Krönung als »Poeta laureatus« dient schließlich der ironischen Selbstbeschreibung. Zunächst erhält die autobiografische Figur ausschließlich Absagen von wenig renommierten Redaktionen, auch die Schulzeitung mag kaum als potenzielles Karrieresprungblatt gelten. Die Absagen, erteilt von schwerlich qualifizierten Figuren oder unscheinbaren Institutionen, illustrieren, wie bereits bei Lewald-Stahr, die Urteilsunfähigkeit dieser Laien. Letztlich lässt jede weitere Hürde die poetische Bestrebung konturierter hervortreten und zeichnet die Autorfigur als krisen erprobt und -robust aus. Nachdem bereits der Lehrer, der »Herausgeber irgendeines Wochenblättchens«, »Robert Harmeling« und der Redakteur einer »Schulzeitung« die »Gedichte«, »etliche Verse«, »[eine] Art Feuilleton«, »[e]in harmlosläppisches Gedichtchen« ablehnten, bringt auch ein Empfehlungsbrief keinen Hoffnungsschimmer, den der berühmte und bewunderte Schauspieler Adolf von Sonnenthal Vater und Sohn zukommen lässt. Abermals kann Schnitzlers Autorfigur in der folgenden längeren Passage nicht als poeta laureatus, dafür jedoch als amarius laureatus gelten: [N]ach wie vor lag es mir fern, meine dilettantische musikalische Veranlagung ernst zu nehmen, da ich ja selbst meiner dichterischen nur zagend vertraute. Freilich, daß mein Vater diese meine Zweifel, in die ich ihn natürlich nicht einweihte, in unbeschränktem Maße teilte, konnte ich nach Menschen- und Dichterart nicht recht verwinden. Seiner inneren und äußeren Einstellung gegenüber meinem poetischen Gebaren lagen allerdings gesunde pädagogische Erwägungen zugrunde. Und aus ähnlichen heraus liebte er es sogar, eine ausgesprochen medizinische, besonders diagnostische Begabung bei mir festzustellen, was möglicherweise kein allzu arger Irrtum war. Und am liebsten hätte er es gesehen, wenn sich mein Interesse so früh als möglich seinem eigenen Spezialfach, der Laryngologie, zugewendet hätte. Wenn er trotzdem anfallsweise immer wieder eine gewisse Teilnahme für meine literarischen Bestrebungen an den Tag legte, so war sie meistens irgendwie durch einen äußeren Anlaß angeregt worden. Aus den Künstlerkreisen, in denen er ärztlich und gesellschaftlich verkehrte, und wo er, seiner Zweifel 374
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
achtet und auch dieser Zweifel nicht ganz sicher, in der begreiflichen Eitelkeit seines Vaterherzens manchmal von seinem poesiebeflissenen Sohn erzählen mochte, brachte er gelegentlich schmeichelhafte Zeichen für das Interesse mit nach Hause, mit dem man einer möglichen Entwicklung meines Talents entgegensah. So hatte sich einmal die Wolter nach meinem Stück erkundigt (ich hatte wohl von einer meiner Komödien als einem zukünftigen Burgtheaterwerk gefaselt), und auch Sonnenthal hatte zu wiederholten Malen gewünscht, etwas aus meiner Feder zu lesen. So wurde denn der Ehrgeiz in mir entfacht, solchen schauspielerischen Größen, in deren Macht es überdies stand, dem jugendlichen Autor den Weg auf die erste Bühne Deutschlands zu bahnen, mit einer Probe meiner Kunst aufzuwarten; und da mir die Chancen der beiden Dramen, »Vor der Welt« und »Aegidius« doch allzu gering schienen, der »Peters« aber (der modernisierte »Sebaldus«, an dessen Vollendung ich wohl am ehesten dachte) die Mißbilligung meines Vaters gefunden, so entschloß ich mich, ein dreiaktiges Lustspiel »Aus der Mode«, das ich selbst als völlig unzulänglich erkannt, als Bluette in einem Akt aufzuführen und übergab es in dieser neuen Form meinem Vater, damit er es seinem Patienten und Freunde Adolf von Sonnenthal zur Begutachtung vorlege. Schon wenige Tage darauf brachte mir mein Vater das Stück mit einem Brief Sonnenthals zurück, und ich fühle heute noch den spöttisch-prüfenden, dabei so zärtlichen Blick, den mein Vater über den gedeckten Mittagstisch auf mich gerichtet hielt, während ich, statt die Suppe zu essen, den Brief las, der folgenden Wortlaut hatte: »Lieber Freund! Ich habe Deines Arthurs Stück gelesen und kann nicht leugnen, daß ich, trotz der unzähligen Mängel, die dasselbe enthält, doch mehr Talent darin gefunden habe, als ich sonst bei derlei Dilettantenarbeiten zu finden gewohnt bin. Es will allerdings nicht viel bedeuten, es zeigt nur, daß Dein Arthur mehr gelernt hat als mancher andere, der Stücke schreibt, aber von da bis zur wirklichen dramatischen Befähigung ist noch ein sehr weites Feld, und ich habe aus dem vorliegenden Probestück keine Berechtigung, ihn zu animieren, dies Feld zu bearbeiten. Dies meine ehrliche, offene Ansicht, was ja übrigens Dir gegenüber keiner Bekräftigung erst bedurfte. Sei herzlich gegrüßt samt Arthur von Deinem treu ergebenen A. Sonnenthal.« Ob ich sofort die ganze Richtigkeit dieses Urteil [sic] erfaßte, das mit Rücksicht auf die Qualitäten jenes Probestücks eher als zu mild, denn als zu streng bezeichnet werden muß, weiß ich heute nicht mehr; wahrscheinlich ist es nicht, sonst hätte ich kaum ein paar Tage vorher gewagt, dem verehrten Meister jene dramatische Nichtigkeit vorzulegen. Jedenfalls aber wirkte der Brief ganz 375
v i . a rt h u r sch n i t zler
anders auf mich, als mein Vater (der ihn wohl mit Sonnenthal verabredet hatte) erwartet und gewünscht haben dürfte. Denn kaum vom Tische aufgestanden begab ich mich ins Café Central und begann in einer Ecke bei künstlicher Beleuchtung ein neues Stück unter dem Titel »Modernes Jugendleben« zu schreiben. Es setzt gleich damit ein, daß ein junger Dichter seinem medizinisch-mephistophelischen Freund eine Novelle vorliest, die dieser verwirft. […]. Mit dieser geheimen Erwiderung auf Sonnenthals Brief hatte es vorläufig sein Bewenden; – sie hätte ihn von meiner Berufung kaum stärker zu überzeugen vermocht, als es jener harmlose Einakter getan hatte. Der Stoff selbst ging mir aber längere Zeit nach. Und wollte man sich mit literarhistorischen Späßchen vergnügen, so könnte man sowohl in den dramatischen als novellistischen Fragmenten, die von jenem »Modernen Jugendleben« noch übrig sind, immerhin gewisse Anatol’sche Züge vorgebildet finden. Nachdem ich so viel von meiner Nachlässigkeit auf medizinischem Gebiet erzählt, daß man schon glauben könnte, hier die Geschichte eines rettungslos verbummelten Studenten zu lesen, darf ich um so weniger verschweigen, daß ich im Laufe des dritten Jahrgangs immerhin wie mancher fleißigere Kollege das erste Rigorosum pflichtgemäß hinter mich gebracht hatte (JiW, 132-135; vgl. TBI, 102, 103, 106, [Hervorhebung durch S. N.]).56 Obzwar die autobiografische Figur entsprechend einer captatio benevolentiae dem eigenen Talent nur »zagend vertraute«, letztlich die gehegten »Zweifel« obsiegen, tritt sie gemäß dem bereits bekannten Strukturschema eines dialogisch-kontradiktorischen Doppels selbstbewusst als zukünfti56 Die Hervorhebungen zeigen an, welche Passage wortwörtlich ohne Texteingriffe übernommen wurde. Die Erzählbarkeit und Publikumswirksamkeit lebenslaufkonstitutiver Entscheidensprozesse zeigt sich besonders auch in der biografischen Rezeption, wenn die autobiografisch, mit der bricolage, dargebotenen Entscheidungsressourcen in Biografien wieder aufgegriffen werden. Exemplarisch zeigt sich dies, wenn Wagner in ihrer Biografie die hier analysierte ›Gutachterpassage‹ referiert (vgl. Wagner, Arthur Schnitzler, S. 32). Etwa ein Jahrzehnt später wird Sonnenthal Schnitzler eine erfolgreiche Zukunft voraussagen, dieses Urteil notiert Schnitzler als Lebens- und Werkchronist in seinem Tagebuch am 18. Januar 1893: »Bei Sonnenthal. Er bat mich zu sich, weil er das Märchen gelesen hatte.– ›Sie sind ein ganz gemeiner Kerl.‹ Technik, wie nur die Franzosen, großes Talent, gar nichts einzuwenden,– aber die dumpfe Atmosphäre! Keine Luft!– Wie in einer Cloake!– Die Leute kommen mir vor wie Strizzis! […] Schreiben Sie was vornehmes! Ich möchte in Ihnen den Bühnendichter heranwachsen sehn, den die Deutschen brauchen – das Zeug dazu haben Sie!– Glauben Sie denn wirklich, daß es eine Bühne nimmt?–« (Schnitzler, Tagebuch 1893/1902, S. 10). Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBII angegeben.
376
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
ger Bühnenautor auf, der ironisch-ernst auf seine »Dichterart« referiert.57 Die Figur des dialogischen Doppels wird auch stilistisch aufgegriffen, denn die Erzählerrede schwankt deutlich zwischen diskrepanten Stilformen, sodass beredsam virtuos ein umgangssprachlicher, fast flapsiger Jargon (»gefaselt« [JiW, 133]) mit einem elaborierten Sprachstil (»aufzuwarten« [JiW, 133]) kombiniert wird. Das umgangssprachliche Verb ›faseln‹ tritt besonders markant hervor, da es im Zusammenhang mit der renommiertesten Theaterinstitution Wiens arrangiert und der frühe Werkplan durch das Modalpartikel »wohl« (JiW, 133) als eine gewisse Vermutung deklariert wird. Der Erzähler qualifiziert die frühen Werkpläne der autobiografischen Figur retrospektiv als unbedachtes Geplauder, das sich jedoch in der autobiografischen Erzählgegenwart bereits bewahrheitet hat und keine Faselei als vielmehr eine folgerichtige Prophezeiung darstellt. Entscheidend ist dies, weil die eigene, frühe Selbsteinschätzung im Rückblick, dem erreichten Erfolg zufolge und den komparierten Kritiken, als treffende Vorahnung und gerade nicht als Überschätzung bewertet werden kann. Wohingegen die mannigfachen Missernten und pejorativen Wertungen als Fehlurteile gelten dürfen. Anders formuliert: Die Spötter sind am Ende selbst die Verspotteten (vgl. auch JiW, 40, 66, 71). Anders als Lewald-Stahr und Heyse lässt Schnitzler seine Vaterfigur lediglich punktuell mittels direkter Figurenrede zu Wort kommen, in der vorliegenden Passage fehlt sie augenscheinlich ganz. Eine Aussprache findet trotz konsequenter Parallelisierung beider Figuren insgesamt innerhalb der dargebotenen Autodiegese nicht statt. Maßgebend für die dilemmatische Gesamtkonstellation ist weiterhin, dass der medizinische Berufsweg für den Sohn auf »gesunde[n] pädagogische[n] Erwägungen« des Vaters fuße, der die poetische Bestrebung seines Sohnes allenfalls »anfallsweise« (JiW, 133), wie ein unkontrollierbares Widerfahrnis, gleich einer Krankheit, anerkennen könne. Dieses Verhältnis zwischen Gesundheit und Krankheit wird innerhalb der Autodiegese verkehrt, denn es sind gerade die »gesun de[n] pädagogische[n] Erwägungen«, die bei der autobiografischen Figur das Entscheidungsdilemma intensivieren, aus der eine chronische »Hypochondrie« erwächst (vgl. JiW, 126, 171, 189, 222, 288, 302, 305). Das Motiv der Krankheit, bei Schnitzler auch das der Kränkung, wird in allen hier vorgestellten Autobiografien bemüht. Die krisenhafte Krankheitsphase ist 57 Wie Lewald-Stahr und Heyse bemüht Schnitzler für seine Berufung gleichsam eine biologistische Denkfigur, wenn er Ausdrücke wie »Dichterart« und »Künstlernatur« wählt (vgl. JiW, 133, 222). Obschon der Erzähler betont, das charakterprägend vorwiegend das »Beispiel« sei (vgl. JiW, 35). Ein rhetorisches Wissen, das Lewald-Stahr nutzt, um gesellschaftliche Konventionen als änderbar vorzustellen.
377
v i . a rt h u r sch n i t zler
in allen Fallbeispielen erst überstanden, wenn sich der schriftstellerische Tätigkeitsbereich festigt und erste Erfolge verbucht werden können.58 Hervorzuheben ist, dass in dieser Passage nahezu beiläufig der Vater gerade nicht als souveräner Entscheider, sondern gleichfalls als unentschiedener Zweifler charakterisiert wird (»auch dieser Zweifel nicht ganz sicher«). In Schnitzlers Autobiografie scheint es kein entweder oder, dafür jedoch ein stetes, unentscheidbares sowohl als auch zu geben. Dementsprechend wird der medizinische mit dem künstlerischen Lebensbereich zusammengeführt, wenn der Vater sich in den »Künstlerkreisen« in »ärztlicher« Mission bewegt und er dort »von seinem poesiebeflissenen Sohn erzählen mochte«, dem er eigens »eine ausgesprochen medizinische, besonders diagnostische Begabung« attestiert habe (JiW, 133). Die Schwärmerei innerhalb der »Künstlerkreise« bleibt jedoch eine vage Vermutung des Autobiografen, die damalig unsichere, »mögliche[ ] Entwicklung« des schriftstellerischen »Talents« ist demgegenüber zur Tatsache geworden (JiW, 133). Angesichts der formulierten Unwägbarkeiten wiegt das postalische Faktum schwer, das gegenwärtig im Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird.59 Sonnenthals zitiertes ablehnendes Antwortschreiben folgt, nachdem der bislang mäßig ausgeprägte »Ehrgeiz« der autobiografischen Figur »entfacht [wurde]« (JiW, 133). Für den Berufungsmythos ist hier eine Passivität ausschlaggebend, sodass die Weisung, das ›entfachende‹ Moment also an die autobiografische Figur herangetragen wird. Nicht zuletzt wird dadurch die Fallhöhe für den eintreffenden Misserfolg vorab gesteigert. Während Lewald-Stahr und Heyse karrierefördernde Netzwerke als glückliche und zugleich rechtmäßig verdiente Fügung stilisieren, benennt Schnitzlers Erzähler dezidiert die entscheidende »Macht« exklusiver Zirkel (JiW, 133), den beruflichen Werdegang zu fördern oder vorzeitig zu beenden. Der berufliche Karriereweg ist demnach nicht kontingent, sondern an die nüchterne Trias Talent, Bildungsmöglichkeiten und Netzwerkförderung durch entscheidungsmächtige Mittlerfiguren gebunden, besonders Letzteres ist maßgebend. Die Wahl für den vorzeigbaren Text ist eine überwiegend rationale Kalkulation, mit der kurzerhand aufgezeigt werden kann, dass mit vier abge58 Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Heyses Vater seinem Sohn schreibt, dass er sich mit der Berufsentscheidung von der Entscheidungskrise erhole und ihn als »Reconvalescenten« anspricht. In Lewald-Stahrs Autobiografie nimmt der krisenhafte Krankheitsverlauf aufgrund der Entscheidung gleichfalls beachtenswerten Erzählraum ein (vgl. hierzu: MLG II, 207, 233; MLG III, 14, 57-62). 59 Vgl. Adolf von Sonnenthal an Arthur und Johann Schnitzler, 30. April 1881, DLA, Arthur Schnitzler, HS.1985.0001.
378
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
schlossenen Dramen eine nennenswerte Stofffülle besteht.60 Die aufgezählten Dramen sind derzeit allesamt in Schnitzlers Nachlass zu finden und belegen abermals die intensive Arbeit an einem Vor- und zukünftigen Nachlass mitsamt autobiografischer Projektverknüpfung.61 Ausschlag gebend für die letztgültige Wahl ist indirekt das vorweggenommene väterliche Urteil, denn mit dem Dramenstück »›Aus der Mode‹« soll die »Mißbilligung« des Vaters umgangen werden. Der Dramentitel kann als sprechend-ironischer Kommentar gelten, denn er referiert indirekt auf den antiquierten, unmodischen Geschmack des Vaters, der ihn als unsachverständig zu erkennen gibt. Die getroffene Wahl hat den hohen Preis, dass die autobiografische Figur einen Dramentext vorlegt, den sie »selbst als völlig unzulänglich erkannt« habe (JiW, 133). Daher erscheint sie bereits frühzeitig als versierter Kritiker.62 Die Wahl wird gemäß den väterlichen Grundsätzen gefällt und das Drama einem »Patient[ ] und Freund[ ]« des Vaters vorgelegt (JiW, 133), der dem zukunftsweisenden, entscheidungsmächtigen Künstlerkreis angehört. In dieser Passage werden offenkundig beide Berufsbereiche respektive der medizinische mit dem poetischen Bereich stetig miteinander verwoben. Nebstdem ist es erneut der Vater, der innerhalb der Entscheidungsszene als Mittler auftritt: Er überbringt nicht 60 Die bereits früh reichlich vorhandene Stofffülle wird wiederholt durch den Erzähler angemerkt, sodass die Schaffenskraft gegenüber den zahlreich vorgebrachten Zweifeln dominiert: »Obwohl ich so im Mai 1880, also bis zu meinem achtzehnten Geburtstag, in meinem Tagebuch dreiundzwanzig Dramen als beendet, dreizehn als ›begonnen‹ bezeichnen durfte, war ich fern davon, mich als ein Berufener oder gar Auserwählter zu fühlen. […] [V]iel öfter zweifelte ich, ob ich denn zu solchen hochmütigen Stimmungen im Grunde berechtigt sei« (JiW, 98). 61 Schnitzler referiert auf diese zugleich in anderen Dramentexten. Vgl. Wolf, Nachlassverzeichnis. Werke, https://www.arthur-schnitzler.de/biobibliographika/nach lassverzeichnis/ (zuletzt geprüft: 30.1.2022). 62 Hierzu passend schildert der Autobiograf, wie er sich bereits früh in dieser analytischen Praxis übte, deren Niederschrift ein Klassenkamerad kurzerhand kassiert: Er »[zerriß] mir sogar einmal zu meinem großen Ärger aus reiner Büberei einen pedantisch geführten Katalog […], in den ich die Prüfungsnoten meiner Mitschüler nach eigenem Ermessen einzutragen pflegte« (JiW, 38). Wie alle, die der autobiografischen Figur unwohl gesinnt waren, schrumpft auch ein ehemals gefürchteter »Riese« in späteren Jahren, besonders im Rückblick zu einem »böse[n] Gnom« (JiW, 38). Schnitzler präsentiert fortwährend einen humoristisch-satirischen Fi gurenkatalog. Diese Transformation trifft auch einen jungen Schriftsteller, für den die autobiografische Figur rasch die vorzeitige Bewunderung fallen gelassen habe: »[A]ber mit der Sympathie für den mir gewissermaßen schon berühmt erscheinenden Dichter war es am nächsten Tag vorbei, als er sich bewogen fand, mir ohne weiteres erklärendes Wort die Verlegerwaschzettel seiner bisher erschienenen Werke zuzusenden« (JiW, 123).
379
v i . a rt h u r sch n i t zler
nur den »Brief Sonnenthals«, er hat diesen dem Erzähler zufolge mutmaßlich in Auftrag gegeben. Die Zitation zeigt an, dass dem Autobiografen das archivierte Antwortschreiben verfügbar ist und mit diesem ist ihm der »spöttisch-prüfende[ ], dabei so zärtliche[ ] Blick« seines Vaters erneut derart präsent, dass er ihn »heute noch [fühle]« (JiW, 133). Auch Fliedl hält fest, dass für Schnitzler mit den Archivalien eine »Präsenz der Vergangenheit« einhergehe.63 Wie zuvor unter ihren Schulkameraden registriert und verbucht die autobiografische Figur dabei den ihr entgegengebrachten Spott, der durch den erreichten Erfolg nachträglich entkräftet wird und die disziplinierte Durchsetzungskraft der Autorfigur beiläufig inszeniert. Die präsentische Wirkung und auratische Erinnerungskraft, die dem Archivale hier zugeschrieben wird, referiert indirekt – wie in den anderen Fallbeispielen – auf Wilhelm Diltheys Merkmalskriterien, die er Manuskripten zuschreibt und die diese für den Literaturwissenschaftler archivwürdig machen. Erhellend ist, dass Schnitzler sich, während er sein autobiografisches Projekt konzipiert, mit einer in der Autobiografie- und Archivforschung wohlbekannten Schrift beschäftigt, dazu notiert er in seinem Tagebuch am 28. Januar 1919: »Nm. Am Nachklang. […] Dilthey (Erlebnis und Dichtung)« (TB17/19, 224). Mit dem deiktischen Zeitadverb »heute« wird der präsentische Effekt unterstützt (JiW, 133), indem ein konkreter Bezug zur gegenwärtigen Erzählzeit und Erzählerrede hergestellt wird, sodass die Auseinandersetzung mit archivierten Manuskripten als werkentscheidendes Moment dargeboten wird. Einer Entscheidensregie entsprechend wird mithilfe der bricolage ein in die Jahre gekommener Brief zitiert, nebstdem wird Einblick in das vorhandene, wohlorganisierte Privatarchiv gegeben. Das im Literaturarchiv Marbach befindliche Archivale dokumentiert Bearbeitungsspuren, die für das autobiografische Projekt, das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion sowie Schnitzlers archivarische Praktiken aufschlussreich sind.64 63 Fliedl, Arthur Schnitzler [1997], S. 282. 64 Hilfreich für das Typoskript und das fehlende Manuskript sind Gerhard Neumanns und Jutta Müllers Bemerkungen zum Nachlass: »Die maschinenschriftlichen Exemplare sind oftmals Abschriften nicht mehr vorhandener Manuskripte, die Arthur Schnitzler selbst vernichtet hatte. Andere Abschriften ließ Heinrich Schnitzler nach dem Tode seines Vaters anfertigen« (Neumann und Müller, Gestalt und Geschichte des Nachlasses, S. 12). Diese Bemühungen zeigen, dass der Nachlass für eine prospektive Nachwelt aufbereitet werden sollte, sodass diese die Hinterlassenschaft mühelos beforschen kann. Schnitzler bemühte sich bereits zu Lebzeiten um eine lesbare Transkription seiner Briefkonvolute (vgl. TBVII, 34). Mit rotem Buntstift vermerkt Schnitzler den Empfänger Johann Schnitzler und ordnet den Brief dem Dramentext Aus der Mode zu (vgl. Abb. 12).
380
Abb. 12: Adolf von Sonnenthal an Arthur und Johann Schnitzler, Wien 30. April 1881, DLA, Arthur Schnitzler, HS.1985.0001.
381
v i . a rt h u r sch n i t zler
Unmittelbar ist ersichtlich, dass das Archivale als maschinenschriftliche Transkription vorliegt, das ›Original‹ selbst ist derzeit unverfügbar. Mit der Abschrift werden zunächst fünf, keinesfalls hinreichende, Aspekte deutlich: (1) Der Brief war für Schnitzler archivwürdig, (2) er stellt ein lebenslaufkonstitutives Dokument sowie eine werkentscheidende Ressource dar, (3) mit der Abschrift wird eine umfassende Lesbarkeit garantiert, (4) die durch die Autobiografie motiviert wird und (5) die zugleich eine stark bearbeitete respektive zensierte Version darstellen kann. Ergänzt werden muss an dieser Stelle, dass Schnitzler den Briefeingang bereits am 2. Mai 1881 in seinem Tagebuch erwähnt und seine poetische Durchsetzungskraft pointiert für dieses Tagesereignis verbucht: »Mein Stück ›Aus der Mode‹ fiel bei Sonnenthal gänzlich ab. Am selben Tag, wo ich den Brief an meinen Vater las, begann ich ›Die moderne Jugend‹« (TBI, 102; vgl. 103, 106). Gegen eine zensierte Briefabschrift mag sprechen, dass die später zitierten Tagebuchpassagen, für den weiteren Entscheidensprozess, eine beinah exakte, also nicht zensierte Abschrift des jeweiligen Tagebucheintrags darstellen. Zudem notiert Schnitzler in seinem Diarium während er an seinem autobiografischen Projekt arbeitet am 13. September 1918 eine relevante Relektüre: »Las Nm. die Abschriften der Briefe von Saar, Sonnenthal und Herzl durch« (TBVI, 177; vgl. TBIV, 362). Schließlich verdeutlicht die aufbewahrte Abschrift, dass sie gefunden und auch gelesen werden sollte, demzufolge funktioniert auch hier die Autobiografie gewissermaßen als archivalisches Findbuch. Sonnenthal wählt für das rezensierte Lustspiel in seinem Brief den charakterisierenden Ausdruck »Dilettantenarbeit[ ]« (JiW, 134).65 Bemerkenswert ist dies, weil der Autobiograf bislang diesen Ausdruck ausschließlich für die ungenutzten künstlerischen Ambitionen seiner Verwandten nutzte, für sein literarisches Talent geflissentlich – mit wenigen Ausnahmen – vermied und damit lediglich seine weiteren, weniger dominanten künstlerischen Talente bezeichnet (vgl. JiW, 71, 109, 132, 314).66 Sonnenthal reiht mit diesem Ausdruck Schnitzlers Schicksal in den genealogisch vorgezeichneten Weg, rät schließlich der noch hoffnungsreichen autobiografischen 65 Adolf von Sonnenthal an Arthur und Johann Schnitzler, 30. April 1881, DLA, Bestand Arthur Schnitzler, HS1985.0001. 66 So stellt der Erzähler gleichfalls deutlich dar, wie ausgeprägt die unterschiedlichen Talente der autobiografischen Figur sind, sodass sukzessiv das literarische Talent an prominentem Profil gewinnt (vgl. JiW, 32, 42, 47, 49, 58). Deutlich wird dabei, dass eine vielfach talentierte Figur gezwungen ist, sich für eine Profession zu entscheiden, damit eine Professionalisierung und durchschlagender Erfolg wahrscheinlicher wird (vgl. JiW, 47, 49).
382
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
Figur davon ab, mühevoll eine tragfähige »dramatische[ ] Befähigung« zu erlernen. Dennoch darf der Brief als ein positiver, zukunftsweisender Bescheid gelten, bestätigt er doch die Einschätzung der autobiografischen Figur, die ebendieses Lustspiel selbst als »unzulänglich« erachtet habe, da dieses lediglich den dilettantischen Kunstverstand des Vaters zufriedenstellen könne. Die weit besseren, nicht eingereichten Entwürfe hätten demgegenüber womöglich die »Mißbilligung« des Vaters provoziert, dafür jedoch ein positives Urteil erwirkt. Selbst Sonnenthals Kunstkenntnis wird retrospektiv als mangelhaft degradiert, sei sein, das Urteil eines berühmten Künstlers, doch »als zu mild« einzustufen. Der »verehrte[ ] Meister« wird kurzerhand zum entlarvten Dilettanten (JiW, 133 f.). Unmittelbar nach der Lektüre verlässt die autobiografische Figur die bürgerliche Sphäre und betritt mit dem »Café Central« den künstlerischen Ballungsraum kanonfähiger Kaffeehausliteratur. Der archivarischen Praxis wird prompt noch ein exklusives Schlüsselmoment beigegeben, dem Lesepublikum ein »literaturhistorisches Späßchen« angeboten. Infolgedessen wird die erzählte Produktion werkbiografisch erweitert, indem über das entstandene »›Moderne[ ] Jugendleben‹« auf eine Figur referiert wird, die der Autobiograf als »Schwankhelden« bezeichnet (JiW, 294), die lange als Schnitzlers alter ego gedeutet wurde, zumal Schnitzler den Figurenamen »Anatol« als Pseudonym nutzte.67 Evelyne Polt-Heinzl und Isabella Schwentner halten diesbezüglich fest, dass [sich] im Tagebuch […] Grundkonflikte und Formulierungen finden [lassen], die beinahe wortwörtlich in die Einakter eingingen. Und Schnitzler verwendete »Anatol« nicht nur als Figurennamen, sondern auch als Pseudonym bei der Veröffentlichung seiner Gedichte. Diese Verflochtenheit zwischen literarischen Texten und Autorinszenierung am Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn führte (nicht nur bei Zeitgenossen)
67 Diesem Pseudonym kommt zugleich eine Verwechslungsepisode zu, die Schnitzler in seinem Tagebuch und in seinem Lebenslauf festhält: »Erste Aufführung: Das Abenteuer seines Lebens, ein nie veröffentlichter Anatol-Einakter in der Schauspielschule Friedrich. (Aus Missverständnis, da mein Vater von Friedrich für den Verfasser gehalten wurde)« (Schnitzler, »Autobiographisches Allerlei«, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes, Autobiographisches, HS1985.0001.00201, 30 Bl.; vgl. TBI, 333). Die erste Aufführung wird abermals durch die Figur möglich, die den schriftstellerischen Werdegang verhindern möchte, wenn auch hier nur durch ein ›Missgeschick‹. Insgesamt haben beide einmal die Rollen getauscht (vgl. TBI, 189 f.).
383
v i . a rt h u r sch n i t zler
mitunter zu einer Gleichsetzung von Autor und Figur, von der sich Schnitzler später zunehmend distanzierte.68 Ergänzt werden kann hier, dass Schnitzler diese Analogie für seine Autobiografie weiterhin geflissentlich bespielt und werkbiografische Deutungsangebote unterbreitet, die auch aufgegriffen werden.69 Im Vergleich zeigt sich schnell, dass Lewald-Stahr, Heyse und Schnitzler allesamt für ihre ersten Publikationen ein Pseudonym nutzen, und zugleich tritt ein signifikanter Unterschied markant hervor, denn ausschließlich Heyse wird nicht durch den Vater gebeten, ein Pseudonym zu wählen, um die literarische Tätigkeit als geheime Nebentätigkeit zu praktizieren. Heyses Erzähler betont ausdrücklich, gewissermaßen kokett, dass er darum gebeten habe, niemals sein Pseudonym zu lüften. In Fanny Lewald-Stahrs und auch Arthur Schnitzlers autobiografischem Projekt wird jeweils durch den Vater zunächst eine Pseudonympflicht verhängt (vgl. JiW, 279).70 Von dieser gilt es sich zu emanzipieren, eine Bewährungsprobe, die letztlich mit dem sich einstellenden Erfolg glückt. Doch vorerst scheint sich für die autobiografische Figur auch in den Folgejahren weiterhin Misserfolg an Misserfolg zu reihen (vgl. JiW, 186 f.). Demgemäß erscheint Schnitzlers Einstieg in die Berliner Literaturszene ebenso »erfolglos«, obschon er dort vielversprechenden Netzwerkern – zumal auf Empfehlung – begegnet sei: »Auch an manche Persönlich keiten der Schriftsteller- und Bühnenwelt war ich empfohlen, und so fand ich mich ein oder das andere Mal bei Julius Rodenberg, Karl Emil Fran68 Polt-Heinzl und Schwentner, Vorbemerkung, S. 2; vgl. ebd., S. 1, 6 f.; vgl. Wagner, Arthur Schnitzler, S. 48, 52, 54. In der Episode wird geschildert, wie die Figur Anatol – als sentimentaler Archivar – ein »Asyl für« ihre »Vergangenheit such[t]«, und so überreicht sie ihrem Freund Max »ein großes Packet« mit den Worten: »Hier bringe ich Dir meine Vergangenheit, mein ganzes Jugendleben: Nimm es bei Dir auf. […] Wenn ich so in diesen Blättern, Blumen, Locken wühle – Du mußt mir gestatten, manchmal zu dir zu kommen, nur um zu wühlen – dann bin ich wieder bei ihnen, dann leben sie wieder, und ich bete sie auf’s neue an« (Schnitzler, Anatol, S. 910-912). Vgl. auch: JiW, 258. 69 Vgl. hierzu: Farese, Arthur Schnitzler, S. 51 f.; Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 39. 70 Deutlich wird die auferlegte Pseudonympflicht für Schnitzler in einer Tagebuchnotiz vom 19. Oktober 1887: »Zwei Skizzen geschrieben ›Erbschaft‹ ›Der Wahnsinn meines Freundes Y.‹ Zu solchen novellistischen Skizzen noch massenhaft Ideen. Vielleicht dann als Buch. Papa will nicht, daß ich in Zeitungen mit meinem Namen novellist. veröffentliche, keiner würde mich dann als Arzt ernst nehmen. –« (TBI, 221). Heyses Vater stellt im Vergleich eine Ausnahme dar, als Einziger befürwortet er ausnahmslos die schriftstellerische Berufung und den Schriftstellerberuf seines Sohnes.
384
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
zos, Siegwart Friedmann zu Gaste«, des Weiteren sei er dort mit »Tewele« und »Josef Kainz« zusammengetroffen. Letzterer [stand] damals am Beginn seiner ruhmvollen Laufbahn und [erinnerte] sich noch zwanzig Jahre später […], daß ein junger Landsmann nach dem Mittagessen sein wienerisches Herz durch das Vorspiel von Walzern gerührt hatte, der aber keine Ahnung mehr hatte, daß dieser junge Wiener ich gewesen war (JiW, 282 f.). Schnitzlers autobiografische Figur bleibt in all diesen Episoden verkannt und unerkannt, sodass die Begegnung mit potenziellen Netzwerkpotentaten tragisch sowie auch komödienhaft anmuten muss. Mit Julius Rodenberg trifft die autobiografische Figur immerhin den Gründer der Deutschen Rundschau und zugleich ein Redaktionsmitglied des Salons, eben jener Zeitschrift, in der Schnitzlers literarische Einsendung keinen Platz bekommen sollte. Auch der Name Emil Franzos lässt aufhorchen, da dieser nur sechs Jahre nach dem Treffen in Wien den autobiografisch ausgerichteten Sammelband Die Geschichte des Erstlingswerks herausbringen wird. Dennoch wird der Berliner Aufenthalt lediglich durch einen weiteren Misserfolg gekrönt, der sogleich verbucht wird: Mit dem »Abenteuer seines Lebens« unternahm ich einige schüchterne Versuche, übersandte es zuerst an Siegwart Friedmann, der weiter keine Notiz davon nahm, dann an Tewele, der als Freund unseres Hauses sich immerhin veranlaßt fühlte, ein paar freundliche Worte darüber zu äußern. Dem Direktor Lautenburg war das Stück schon von Wien aus durch Eirich übermittelt worden. Er hatte bisher nichts darüber verlauten lassen, doch als Lothar aus Wien eintraf, wurde ein Rendezvous mit Lautenberg bei Krziwanek, in einem bekannten Wiener Restaurant, verabredet und Lothar wußte das Gespräch bald in feiner Weise auf mein Lustspiel zu bringen. Lautenburg wollte sich erst nicht recht besinnen; ich kam seinem Gedächtnis zu Hilfe; nun erinnerte er sich plötzlich, ließ einen höflich-mitleidigen Blick auf mir ruhen, schüttelte den Kopf und ließ nichts vernehmen als das eine Wort: »Schrecklich«. Nach einigen Minuten erst, wie zum Trost, fügte er hinzu: »Wohl ihr erster Versuch?« Da ich nicht einmal das zu meiner Entschuldigung anführen konnte, schien er mich als Literaten endgültig aufzugeben, und das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu (JiW, 283). Nachdem die frühen Werkproben lediglich bewirkten, dass er »in der Schule spöttisch Poeta laureatus genannt« worden sei, sein Vater die 385
v i . a rt h u r sch n i t zler
»schriftstellerische[ ] Laufbahn [scherzhaft]« prophezeit, ihn mit »spöttisch- prüfende[m], dabei so zärtliche[m] Blick« taxiert und Sonnenthal sein Lustspiel als »Dilettantenarbeit[ ]« bezeichnet habe, bringt ihm auch das ›Abenteuer seines Lebens‹ lediglich einen »höflich-mitleidigen Blick« ein. Indem der Erzähler bündig rekapituliert, wie Kainz den jungen Autor vergessen und lediglich das »Vorspielen von Walzern« erinnert habe und Lautenberg »sich zuerst nicht recht besinnen [wollte]«, dokumentiert er ein frühes Vergessen seiner Autorfigur. Tragisch-ironisch markiert ist diese Passage dadurch, dass Kainz sich an die musikalische Einlage erinnert, obzwar die autobiografische Figur gerade ihr musikalisches Geschick gegenüber ihrem literarischen Talent als dilettantisches Beiwerk marginalisiert. Diesem vorzeitigen Vergessen wirkt Schnitzler späterhin, besonders mit einsetzendem Erfolg, entgegen, indem er fortan alle Manuskripte wohlorganisiert archiviert und diese Tätigkeit in seinem autobiografischen Projekt eindrücklich vorstellt, da er diese strategisch geschickt an markante Entscheidens prozesse bindet. Szenarien des Vergessens gehen dabei mit einer intensiven Erinnerungsarbeit einher, auf die Erzählerkommentare repetitiv verweisen. Das vorgestellte Vergessen steht erklärtermaßen in deutlicher Diskrepanz zu Schnitzlers späterem Ruhm und Nachruhm. Die autobiografische Figur wird implizit als verkanntes Talent und zunächst unentdeckter Klassiker inszeniert.71 Ein erinnerungswürdiger Bühnenerfolg versammelt jenes Personal, das konstitutiv ist für den entscheidungsrelevanten Brief. Wohlarrangiert fällt dieses Ereignis mit dem Festakt für Schnitzlers Vater zusammen, die medizinische sowie schriftstellerische Laufbahn durchkreuzen sich erneut, stehen sich als paradoxes Doppel antagonistisch gegenüber: Noch hoffnungsloser als dichterisches Produkt, wenn auch nicht so kindisch-verworren, präsentiert sich ein anderes, das auch mit dem Problem der Belastung, freilich in leichterer und in ganz unbewußter Weise zusammenhängt und in dem, um den Parallelismus zu vollenden gleichfalls ein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum eine Rolle spielt: Es ist das Festspiel, das ich am 6. Januar 1886 verfaßte, an welchem Tag mein Vater den fünfundzwanzigsten Jahrestag seiner Promotion und seines Eintritts
71 Ein vorzeitiges Verkennen charakterisiert Erfolgsgeschichten, die aufgrund der skizzierten Hürden eindrucksvoller wirken mögen, denkt man etwa an die An ekdote von Friedrich Hölderlins und Johann Wolfgang von Goethes erster Begegnung in Weimar.
386
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
in die Redaktion der »Wiener Medizinischen Presse« in der etwas solennen Weise feierte, die seinem Geschmack entsprach. Um die Mittagsstunde, im Frack und mit sämtlichen Orden angetan, stand er im Salon, umgeben von Familienmitgliedern, Assistenten und Freunden, ließ sich Adressen überreichen und nahm Ansprachen entgegen, auf die er in freien, doch wohl vorbereiteten und formklaren Reden erwiderte, in denen es an Hinweisen auf die Kämpfe nicht fehlte, die er für seine geliebte Poliklinik zu bestehen gehabt hatte und die noch immer fortdauerten. Gewiß bedeutete die Feier dieses Tages nicht nur einen Triumph seiner Eitelkeit, sondern auch den eines wohlberechtigten Stolzes auf all das, was er nicht nur zu eigenem Ruhm, sondern auch zum Wohl der anderen geleistet und geschaffen; und einem Manne, der fortdauernd so vielen Angriffen und Anfeindungen von Übelwollenden und Neidern ausgesetzt war, mochte es wohl gegönnt sein, sich seine Verdienste einmal ohne jeden kritischen Mißklang laut und vor aller Welt bestätigen zu lassen. Da auch Journalisten zur Stelle waren, die die Reden stenographisch aufnahmen, war für den nötigen Widerhall in ausreichendem Maß gesorgt (JiW, 212). In dieser Passage parallelisiert der Autobiograf nicht schlicht das »fünfundzwanzigste« Promotionsjubiläum mit der ersten Inszenierung des vierundzwanzigjährigen Jungpoeten, er stellt aus, dass die Erfolgsgeschichte seines Vaters nach den gleichen Strukturprinzipien erfolgt wie seine Autobiografie. Beide lassen es nicht »an Hinweisen auf die Kämpfe« mangeln, beide bekunden den »wohlberechtigten Stolz« auf das erbrachte Lebenswerk, beide waren »fortdauernd so vielen Angriffen und Anfeindungen von Übelwollenden und Neidern ausgesetzt« und beide bekennen diese in gebundener Rede »laut vor aller Welt«. Eklatant ist demnach, dass Schnitzler diese Passage beschließt, indem er der Berufserzählung seines Vaters das verheißt, was er für seine Autobiografie sowie seine Werke beansprucht: »Widerhall«. Die Parallelisierung wird versiert fortgesetzt, indem der väterliche »Freund und Patient« Sonnenthal im Festspiel agiert, die autobiografische Figur die Regie übernimmt und seinen Vater darstellt (vgl. JiW, 22, 26, 212 f.). Erstmals trifft der erhoffte »Beifall« ein, den der Autobiograf auch retrospektiv für sein »offenbar ganz stimmungslos hingeschleuderte Werkchen« nicht gelten lassen möchte, da dieses ausschließlich den »schein bare[n] Mangel aller Anzeichen von dichterischer oder nur schriftstellerischer Begabung« dokumentiere. Der als erfolgreich gefeierte Vater spornt zu einem ebenso erfolgreichen Lebensverlauf an, doch zunächst verharrt die autobiografische Figur am Scheideweg und die letztgültige, Erfolg verheißende Berufsentscheidung lässt auf sich warten, denn »Werk und 387
v i . a rt h u r sch n i t zler
hall« sind ohne lebenslauf- sowie werkkonstitutive Krisen, auch in diesem Fallbeispiel, nicht zu haben. Demgegenüber verfügt Schnitzlers Freund Rudolf Spitzer, der für sich das Pseudonym Rudolf Lothar wählt, über einen Lebenslauf, der an die günstigen Konstellationen erinnert, die Heyses Schriftstellerkarriere ak zelerieren, den Kontrast zu einem hürdenreich verzweigten Berufsweg intensivieren und einmal mehr verdeutlichen, dass letztlich das verfügbare Netzwerk über einen etwaigen Erfolg entscheidet: Rudolf Spitzer war der einzige Sohn eines wohlhabenden, frühverwitweten Kaufmannes, der ihn von Kindheit auf verwöhnt und gewissermaßen für den Dichterberuf erzogen hatte. Als Beispiel dafür mag gelten, daß er seinen Sohn einmal zum Geburtstag mit einer gedruckten Ausgabe von dessen gesammelten deutschen Aufsätzen überraschte. […] Schon damals hatte Lothar seine Beziehungen zur Presse (es bestand eine weitläufige Verwandtschaft zwischen seinem Vater und einem der Chefredakteure) und den redlichen Willen, sie auszunützen (JiW, 277). Dies ist Lothar, der überdies gewitztes Selbstmarketing zu betreiben weiß, gewillt für Schnitzler zu tun und initiiert kurz darauf als netzwerkfester Mittelsmann die erste Drucklegung für seinen Freund: [W]eit begabter als […] [sein] Stück war der Bericht, den Lothar selbst über die begeisterte Aufnahme verfaßte und in verschiedene Wiener Blätter einrücken ließ, womit allerdings die Bühnenlaufbahn der »Tantaliden« endgültig beschlossen war. Dieser liebenswürdige, heitere und rührige Jüngling, dessen eigentliches Talent ich aber auch in jener kurzen Blütezeit unserer Freundschaft nicht sehr hoch einzuschätzen vermochte, hatte sich nun in den Kopf gesetzt, mich literarisch zu managen, wobei es ihm freilich weniger auf meine persönlichen Erfolge als auf das Vergnügen des Managens angekommen sein dürfte. Ich selbst hatte mich in der letzten Zeit wieder damit begnügt, als Poet nur im engeren Kreise zu wirken. Meine beiden Novellen »Menschenliebe« und »Gabrielens Reue« hatte ich an Olga Waissnix nach Reichenau gesandt und freundliches, ja begeistertes Lob dafür geerntet; die zweitgenannte Novelle hatte ich überdies Dora Kohnberger unter vier Augen vorgelesen; aber, von begründetem Mißtrauen gegen den Wert dieser dichterischen Produkte erfüllt, in der Öffentlichkeit nichts weiter für sie unternommen. Indes waren auch ein paar kleine novellistische Skizzen entstanden, »Die Erbschaft« und »Der Wahnsinn meines Freundes Y.« sowie ein Akt unter dem Titel »Das Abenteuer seines Lebens« […]. Lothar hielt aber nun den 388
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
Augenblick für gekommen, etwas Entscheidendes für mich zu tun. Er übergab das Stückchen dem schon damals ziemlich berüchtigten Theateragenten O. F. Eirich, dieser nahm es gegen Bezahlung der Druckkosten in Vertrieb, und das Erscheinen dieses »Lustspiels in einem Aufzug« als »Bühnenmanuskript« bildete einen Abschnitt in meinem Literatenleben, den ich als solchen stärker empfand, als ich manchen weit bedeutungsvolleren später empfunden habe; und mit einiger Selbstironie, als wollte ich das Schicksal nicht gar zu kühn versuchen, schrieb ich anläßlich dieser ersten Drucklegung eines eigenen Theaterstücks in mein Tagebuch: »Am Ende werd’ ich gar aufgeführt«. Wie sich das ein paar Jahre später wirklich, gerade mit dem »Abenteuer seines Lebens« ohne mein Dazutun und jedenfalls ohne mein Verdienst zutrug, soll an seiner Stelle erzählt werden (JiW, 278 f.). Das entscheidende Moment, das den Weg für den zukünftigen Erfolg ebnet, ist wie in allen Fallbeispielen an eine netzwerkerprobte Mittlerfigur gebunden. Hervorzuheben ist, dass Schnitzler dieses Entscheidungsmoment archivarisch und gleichfalls werkbiografisch ausrichtet (vgl. JiW, 96, 103; vgl. JiW, 123 f.). So gibt er seiner Autobiografie punktuell bündige Inhaltsangaben ausgewählter Werke bei, verknüpft diese und lotet sie autofiktional aus. Kennzeichnend hierfür ist auch die gewählte Metonymie »werd’ ich gar aufgeführt« (JiW, 279), mit der die symbiotische Beziehung zwischen Auto- und Werkbiografie vorgeführt wird. Der »[e]ntscheidende[ ]« Freund schaftsdienst bewirkt einen markanten »Abschnitt i[m] Literatenleben« (JiW, 279), der nicht lediglich wahrgenommen, sondern empfunden wird. Freimütig werden sogleich fünf entscheidende Erfolgsfaktoren benannt: (1) ein gutes, erfahrenes Management, (2) eine wohlgesinnte Mittlerfigur, (3) organisierte Leseproben respektive die Streuung ausgewählter Werkproben, (4) ein marktgerechtes Gespür für den richtigen »Augenblick« und (5) eine angemessene Investition zur rechten Zeit (JiW, 279). Keines dieser Kriterien mag auch nur entfernt an die Merkmale erinnern, die einen Berufungsmythos konstituieren. Fortan stellt sich der ersehnte Erfolg ein, ohne dass jedoch das Doppelleben aufgegeben wird, vielmehr spitzt sich mit diesem die Parallelität zu. Erzähllogisch stringent überreicht aus gerechnet die Figur einen weiteren positiven Publikationsbescheid, die bereits die schriftstellerische Laufbahn kurz nach dem frühen Schreibtisch intermezzo prophezeit. Kurios ist, dass Johann Schnitzler erneut als Bote entscheidender Nachrichten auftritt und die autobiografische Figur – in diesem wegweisenden Moment – gerade nicht am Schreibtisch, sondern in der medizinischen Abteilung seines Vaters tätig ist. Der Brief löst einen 389
v i . a rt h u r sch n i t zler
spannungsreichen Effekt aus, denn kurz zuvor schildert der Autobiograf, wie sich die medizinische Laufbahn zu ebnen begonnen habe: Obwohl ich bald nach meiner Rückkehr Assistent an der Abteilung meines Vaters geworden war, im gleichen Hause mit ihm und im selben Stockwerk eine kleine Wohnung bezogen, in bescheidenem Maße meine Praxis auszuüben begonnen hatte und mich ernstlich mit dem Studium der Larynxneurosen und mit hypnotischen Versuchen zu beschäftigen anfing, so scheute Lothar doch nicht vor der Prophezeiung zurück, daß ich die Medizin über kurz oder lang an den Nagel hängen werde, womit er gewissermaßen die Verpflichtung auf sich genommen hatte, mich in meinen literarischen Angelegenheiten zu betreuen. Übrigens war ich selbst in diesem Herbst nach dieser Richtung hin nicht ganz untätig gewesen. Den »Hochzeitsmorgen« hatte ich gefeilt und mit einem neuen Schluß versehen und einen neuen Einakter geschrieben, »Episode« betitelt, den ersten, in dem die Figur Anatol, wie hoch oder niedrig sie man menschlich-künstlerisch bewerten mag, und die eigentümliche Atmosphäre der »Anatol«-Szenen, ob man sich in ihr behage oder nicht, mit Deutlichkeit zu spüren ist. Auch ein Dialog, den ich schon ein paar Jahre vorher mit Hinblick auf Sonnenthal und Wolter entworfen, »Erinnerungen« betitelt (den Grundeinfall habe ich erst Jahrzehnte später in der »Stunde des Erkennens« dichterisch auszunützen verstanden), war neu bearbeitet worden, und ich trug mich mit der Idee, die folgenden vier Einakter »Abenteuer seines Lebens«, »Hochzeitsmorgen«, »Episode« und »Erinnerungen« unter dem Gesamttitel »Treue« herauszugeben. Ich fragte bei S. Fischer in Berlin an, der sich als Verleger der ersten Hauptmann’schen Dramen und anderer moderner Werke hervorgetan hatte, ob er sich zur Herausgabe meines Buches entschließen wollte; doch ohne den Wunsch nach näherer Kenntnisnahme zu äußern, lehnte er mit der Bemerkung ab, daß er sich von dramatischen Plaudereien kein Geschäft verspreche. Nun riet mir Lothar, meine Erzählung »Der Wahnsinn meines Freundes Y.« an die »Schöne blaue Donau« zu senden, die literarische Beilage der »Presse«, wo man sich angeblich gleichfalls für moderne Literatur interessiere, und diktierte mir, als ich mich unschlüssig zeigte, nicht nur einen Brief an den Redakteur Fedor Mamroth in die Feder, sondern gab das Manuskript sogar persönlich auf die Post. Wenige Tage später überbrachte mir mein Vater, während ich eben den Reflektor auf der Stirn, eine laryngologische Untersuchung vornahm, einen Brief auf die Poliklinik, auf dessen Umschlag als Absender die Redaktion der »Blauen Donau« verzeichnet stand; und nach Eröffnung des Kuverts 390
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
hatte ich die Genugtuung, ihm nicht nur die Annahme meiner Erzählung mitzuteilen, sondern auch einige liebenswürdige Zeilen vorweisen zu dürfen, in denen diese Annahme erfolgt und ich zu einem Besuch in der Redaktion eingeladen war. So begann ich, mich nicht nur in meinen eigentlichen Hauptinteressen hoffnungsfreudiger, sondern auch ganz im allgemeinen wohler und weniger hypochondrisch zu fühlen (JiW, 303-305; vgl. TBI, 242).72 Kaum ebnet sich die medizinische Laufbahn, macht Lothar als Mittlerfigur auf den gangbaren, potenziellen Seitenweg mitsamt Erfolgsprophezeiung aufmerksam. Die erstmalig »ernstlich« betriebenen Medizinstudien weichen erneut einem unentschiedenen Doppelleben, sodass der Entscheidens prozess durch eine prophetische Weisung und einen Brief mobilisiert wird. Der Erfolg stellt sich mit jenen Einaktern ein, deren Protagonist ausdrücklich das autofiktionale Pendant zur autobiografischen Figur darstellt. Die autobiografische Wende geht mit einer werkbiografischen einher. In der wiedergegebenen Passage wird die Entscheidung explizit externalisiert (vgl. JiW, 163), denn die autobiografische Figur tilgt nicht selbstbestimmt aufkeimende Bedenken, vielmehr befreit die Figur Lothar diese von zahlreich gehegten Zweifeln und offeriert ihr einen entscheidbaren Scheideweg als Ausgangspunkt. Der zweifache Hinweis, dass lediglich ein Verlagsprogramm als geeignet erscheine, das den Schwerpunkt »moderne Literatur« verzeichne (JiW, 304), dient letztlich dazu, indirekt alle vorherigen Negativbescheide zu erklären. Daran anschließend verkörpert Schnitzlers Autorfigur nicht allein ein neues, nämlich unentschiedenes und dilemmatisches Autorkonzept, vielmehr steht diese mitsamt ihren Werken für eine neue Epoche, namentlich für die Wiener Moderne.73 Mit dem positiven Publika72 Hierbei handelt es sich eingangs um ein indirektes Tagebuchzitat, denn ebendort notiert Schnitzler unter dem Datum 10. Dezember 1888: »Oppenheim hat ›keine Zeit‹ die Episode zu lesen. Fischer in Berlin glaubt, mit dram. Plauderein kein Geschäft zu machen, Mamroth (blaue Donau) nimmt ›Wahnsinn Y.‹ mit schmeichelhaftem Würdigungsbrief entgegen, zeigt sich im persönlichen Verkehr äußerst hochachtungsvoll.– […] Lothar manchmal bei mir, oder mit mir bei Jean. ›Poussirt‹ mich. Soll die Medizin an den Nagel hängen, prophezeit es mir. Will ›Abenteuer‹ ›Hochzeitsmorgen‹ ›Episode‹ ›Erinnerungen‹ unter dem Titel ›Treue‹ herausgeben. Im ganzen wohler; weniger hypochondrisch, hoffnungsfreudiger. Besonders literarisch« (TBI, 242). Eine ähnliche Szene findet sich in Fontanes Von Zwanzig bis Dreißig (vgl. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 431). 73 Wegweisend für den Epochenausdruck ›Wiener Moderne‹ sind mitunter Bahrs Schriften und Ernst Machs Wendung ›das unrettbare Ich‹. Letzterer ist der Ausgangspunkt für Bahrs Essay Das unrettbare Ich, der am 10. April 1903 in der Zeitung Neues Wiener Tagblatt erscheint. Dort proklamiert er die bereits frühe Ahnung
391
v i . a rt h u r sch n i t zler
tionsbescheid scheint die Berufsentscheidung sowie die Berufung gewiss, sodass die Krise sich legt, das »hypochondrisch[e]« Schwanken zwischen zwei ungleichen Alternativen einen Schwerpunkt findet, je steter sich der Schriftstellerberuf als veritables Standbein und nicht als riskantes Spielbein erweist. Mit ironischen Einsprengseln weist der Erzähler auf Fischers abwertendes Urteil hin, dass es sich bei den Einaktern um »dramatische[ ] Plaudereien«, um ein unkalkulierbares verlegerisches Risiko handle. Später wird Fischer und Schnitzler eine langjährige Verlagsbeziehung vereinen, die auch zu Zeiten kriegsbedingter omnipräsenter Papierknappheit nicht versiegt.74 über »die Unsicherheit des Ich«, die besonders in autobiografischen Retrospektiven augenscheinlich werde, denn diese verdeutlichen, dass eine ungebrochene Identität eine »Fiktion« sei. Machs Wendung »das unrettbare Ich« bestätige Bahrs Beobachtung schließlich: »Hier habe ich ausgesprochen gefunden, was mich die ganzen Jahre her quält: ›Das Ich ist unrettbar.‹ Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf«. Entscheidend für den hier vorgestellten Themenkomplex ist, dass Bahr implizit ein Netzwerkkonzept vorlegt, indem ein Subjekt aus zahlreichen Relationen bestehe. Des Weiteren ist es beachtenswert, dass Bahr in seinem Essay das Gefühl weit höher ansetzt als die Vernunft, besonders für Entscheidensprozesse (Bahr, Das unrettbare Ich, S. 1-4). Vgl. auch: Wunberg, Fin de siècle in Wien, S. 12 f. Vgl. zur Wiener Moderne exemplarisch: Scherer, Übergänge der Wiener Moderne. 74 Diese Episode hält auch Wagner in ihrer Biografie fest und zitiert dafür den Ablehnungsbescheid, der zeigt, dass ein schriftstellerischer Erfolg respektive eine Sichtbarkeit vor dem Erfolg an den jeweilig verfügbaren finanziellen Kapazitäten hing: »In plötzlichem Schaffensdrang schreibt er den früher entstandenen Dialog ›Erinnerungen‹ um und bietet nun vier fertige Einakter […] dem Verleger S. Fischer an. Dessen Antwortbrief vom 27. November 1888 lautet: ›Sehr geehrter Herr! Von ›dramatischen Plauderein‹ versprechen wir uns kein Geschäft. Sollten Sie event. geneigt sein die Herstellungs- und Vertriebskosten des Werkchens auf eigene Kosten zu übernehmen, so wären wir nicht abgeneigt, Ihrem frdl. Anerbieten näher zu treten. Hochachtungsvoll S. Fischer, Verlag‹« (Wagner, Arthur Schnitzler, S. 45, 388). Wagner zitiert hierfür Peter Mendelssohns Studie S. Fischer und sein Verlag (vgl. Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag, S. 84). Fischer habe sich später intensiv darum bemüht, dass Schnitzlers Gesammelte Werke trotz Papierknappheit gedruckt werden konnten (vgl. Wagner, Arthur Schnitzler, S. 294 f.; TBVI, 119). Bei den hier vorgenommenen Kontextanalysen zeigt sich, dass ›selfpublishing‹ kein Phänomen der jüngeren Gegenwart ist, sondern weit früher schon über Erfolg entscheidet (vgl. hierzu auch: ebd., S. 53, 59). Der zentrale Stellenwert wird sichtbar, wenn Schnitzler diese Begebenheit selbst in seinem werkbiografischen Lebenslauf berücksichtigt: »Das Buch Anatol nach Zurückweisung […] durch eine Anzahl von Verlegern auf eigene Kosten zuerst gedruckt im Bibliographischen Bureau, Leipzig. Märchen 1891 gedruckt bei Pierson, gleichfalls auf eigene Kosten. (noch vor Anatol)« (Schnitzler, »Autobiographisches Allerlei«, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes, Autobiographisches, HS.1985.0001.00201). Weiterführend ist Fischers Beobachtung, dass Schnitzler seine Tagebücher nutzte, um Werkprojekte und Werkrezeptionen akribisch zu verzeichnen (Fischer, »Mein Tagebuch enthält fast nur absolut persönliches«, S. 29).
392
v i .1 dilem m at isch e s doppelleben
Diese tritt ein, während Schnitzler an seinem autobiografischen Projekt arbeitet und sich um den Nachdruck seiner – inzwischen vergriffenen – Gesammelten Werke bemüht. In dieser Zeit ärgert er sich über Fischers unentschiedene »Laxheit« bezüglich einer Wiener Filialgründung, ohne die Schnitzler mit weiteren »finanzielle[n] Verluste[n]« rechnen müsse (TBVI, 132; vgl. TBVI, 93, 119, 123, 140, 170).75 Das autobiografische Projekt fällt mitsamt der intensiven Materialsichtung und den schriftlich fixierten Archivierungspraktiken – wie bei Lewald-Stahr und Goethe – selbst in eine Krisenzeit. Gemeinsam lassen sie Fragen zur nachhaltigen Archivierung und Vermittlung virulent werden. Bezeichnend ist, dass Schnitzler, während er das autobiografische Projekt voranbringt, mit Fischer den Nachdruck seiner Gesammelten Werke verhandelt und die drohenden Kriegsereignisse dokumentiert. In seinem Tagebuch ist am 16. August 1918 zu lesen: »Nm. genaue, wohl definitive Verfügungen über schriftlichen Nachlaß aufgeschrieben.–« (TBVI, 171). In diesem Zusammenhang erweist sich Schnitzlers Autobiografie deutlich als konservatorischer Speicher, der als Medium die Verbindungslinien zwischen Archiv, Biografie, Testament und Werk einem zukünftigen Lesepublikum vermitteln soll. Schnitzlers lebensbegleitender diaristischer Tätigkeit kommt eine entscheidende Funktion zu, die wie derum mit selbstarchivarischen Erzählerkommentaren ihren Platz innerhalb der werkbiografisch organisierten Autobiografie findet.
75 Vgl. hierzu TBVI, 119, 126, 132, 157, 163, 170, 172, 188, 231. In diesem Zusammenhang memoriert Schnitzler am 4. Juli 1918 eine Unterhaltung mit Samuel Fischer im Café Sacher, in der Schnitzlers Werke als sicherer Kassenerfolg bilanziert werden: »Ins Sacher zu Fischer. Er äußert sich etwas aegrirt über meine Briefe; ich müsse ihm Vertrauen schenken; seine schwierige Lage, Perzentualitätsprincip der zu druckenden Neuauflagen natürlich nicht absolut durchzuführen; aber ich habe sicher keinen Grund zu klagen; jeder leide unter den Kriegsumständen etc. […] Er betont dann noch, daß er die ganze Wiener Sache eigentlich nur für mich mache, da die andern oesterr. Autoren buchhändlerisch nicht sosehr in Betracht kämen. Ich nehme es einfach zur Kenntnis – denn ich hätte nur erwidern können: Sie haben eben auch die Verpflichtung es für mich zu machen,– denn nicht nur daß auch Sie damit Ihr Geschäft machen,– dürfen Sie nicht mich, einen der Autoren, an dem Sie seit 25 Jahren am meisten verdienen und der einen Ruhm Ihres Verlags bedeutet, aus Bequemlichkeit in dieser schweren Zeit um tausende Schädigen« (TBVI, 158 f.).
393
v i . a rt h u r sch n i t zler
VI.2 Vom Tagebuch ans Tageslicht Synoptische Werkschau Archivarisch tätig zentriert Schnitzler die werkbiografische Dimension seines autobiografischen Projekts, indem er mithilfe der synoptisch organisierten bricolage seinem prospektiven Lesepublikum die Parallellektüre seiner gesammelten veröffentlichten und unveröffentlichten Werke feilbietet. Notwendig erscheint hierfür zunächst ein florilegium, denn mit dieser nachlasskonstitutiven respektive werkkonstitutiven Melange kann der Scheideweg als auto- sowie werkbiografisches Emblem implementiert werden. Rasch wird deutlich, dass mit den zitierten Tagebuchpassagen lebenslaufkonstitutive Krisen gesetzt werden, die gleichermaßen eine epochale Krisenstimmung mit kulturgeschichtlicher Tragweite erfahrbar machen. Diese signifikanten Einschübe erhalten mit dem Verfahren der bricolage eine inter textuelle, typografische, praxeologische, schließlich werkverknüpfende Funktion, die unentwegt die entschiedene Unentschiedenheit der Autorfigur bildhaft werden lässt. Bevor die archivarische Funktion ausgewählter, zitierter Tagebuchpassagen innerhalb der Autodiegese vorgestellt wird, ist es vorerst notwendig, auf die prominente Bifurkationssymbolik der Lebenserzählung hinzuweisen. Obschon mit dem vom Vater überbrachten Publikationsbescheid, der Schriftstellerberuf als tragfähige Alternative aufscheint, bleibt der Lebensweg doch bis zuletzt ein Scheideweg: [E]s hatte […] fast den Anschein, als wenn ich langsam, sehr langsam freilich, bald auf diesem, bald auf jenem Wege vorwärtskommen sollte. Ich hatte begonnen, mich mit Hypnotismus zu beschäftigen […], und ich publizierte die darauf bezüglichen Krankengeschichten in der »Internationalen Klinischen Rundschau«. Da ich einige vortreffliche Medien gefunden, beschränkte ich mich nicht darauf, diese auf meinem laryngologischen Spezialgebiet zu verwenden, sondern versuchte an ihnen, nach dem Muster bekannter Hypnotiseure, allerlei psychologische Experimente, die, an sich nicht uninteressant, doch nichts wirklich Neues boten und von mir zwar aufgezeichnet, aber nicht wissenschaftlich durch gearbeitet wurden. Vom ärztlichen Standpunkt die erfreulichste Leistung war es gewiß, wenn ich zum Beispiel, ohne mein Medium in Schlaf zu versetzen, einfach durch Aufforderung partielle Anästhesie herbeizuführen vermochte, so daß schmerzlose kleine Operationen in Kehlkopf und Nase, in einem Fall sogar schmerzlose Zahnextraktionen, möglich 394
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
den. Anregender, aber ohne erhebliche Bedeutung für die Medizin war es, wenn ich mein Medium im hypnotischen Zustand allerlei Situationen und Empfindungen durchleben ließ, wie es mir eben beliebte, sie zu erfinden, oder gar von einem Tag zum anderen einen Mordversuch gegen mich selbst arrangierte, vor dem ich mich freilich, da ich auf die Minute darauf vorbereitet und er statt mit einem Dolch mit einem stumpfen Papiermesser unternommen ward, erfolgreich zu schützen vermochte. […] Aber auch diesmal fehlte mir die Konsequenz, auf dem begonnenen Wege fortzuschreiten […]. Indes hatte auch mein letzter Schritt in die literarische Öffentlichkeit, so schüchtern er an sich gewesen, mehr Folge gehabt als alle meine früheren. Ich war der Einladung des Doktor Mamroth zum Besuch in die Redaktion nachgekommen und hatte bei dieser Gelegenheit seinen Vertreter und Neffen, den Schreiber jenes freundlichen Annahmebriefes, kennengelernt, Herrn Doktor Paul Goldmann […]. [M]it dem mich durch viele Jahre eine der stärksten Beziehungen meines Lebens verbunden hat und von dem daher in diesen Blättern, wenn sie fortgesetzt werden sollten, noch öfters die Rede sein wird. »Der Wahnsinn meines Freundes Y.« erschien am 15. Mai in der »Schönen blauen Donau«, am 1. Juni ein anderer Beitrag, »Amerika« betitelt […]. Auch die »Episode« wurde bald darauf in der »Schönen blauen Donau« abgedruckt; schon vorher aber im Manuskript, hatte ich sie Sonnenthal vorgelegt, der damals das Burgtheater provisorisch leitete und das Stückchen sehr freundlich beurteilte, aber für das deutsche Publikum nicht bühnenkräftig genug fand. […] [S]chmeichelhafter als jeder andere Erfolg war für mich, daß Olga das Manuskript, das ich ihr, ebenso wie ich’s mit meinen früheren Versuchen getan, übersandt hatte, in einer Nacht eigenhändig kopierte und mir die Abschrift zum Geschenk machte (vgl. JiW, 103; vgl. ebd., 312-314). Sein autobiografisches Projekt schließt Schnitzler mit einem gemischten Doppel, da er die literarischen Schwerpunkte seiner medizinischen Tätigkeit gezielt aufzeigt und zugleich die medizinischen Akzente innerhalb seiner literarischen Werke deutlich zu erkennen gibt. In der hier wieder gegebenen Passage wird ersichtlich, dass innerhalb der medizinischen Tätigkeit poetische Praktiken obsiegen: Etwa, wenn der Autobiograf berichtet, dass er »Krankengeschichten« erfolgreich »publizierte«, seine Patienten erfindungsreich spektakuläre »Situationen und Empfindungen durchleben ließ«, die Hypnosesitzungen wohlorganisiert »arrangiert« und sie dramaturgisch passgenau »auf die Minute […] vorbereitet« gewesen seien. Entsprechend stilisiert Schnitzler seine Autorfigur im medizinischen 395
v i . a rt h u r sch n i t zler
Berufsfeld als einfallsreichen, routinierten sowie talentierten Regisseur, die Poliklinik wird dabei zum zukunftsweisenden Theaterraum. Nebstdem ist es gerade eine medizinische Fallgeschichte, die das berufsentscheidende Debüt ermöglicht. Während die autobiografische Figur dafür gesorgt habe, dass die ersten Krankengeschichten im Fachjournal beziehungsweise der ›Internationalen Klinischen Rundschau‹ publik werden, wagt sie zweigleisig zugleich eine weitere Publikation und einen »letzte[n]«, »schüchtern[en]«, entscheidenden »Schritt in die literarische Öffentlichkeit« (JiW, 279). Vorerst un entschieden werden in beiden Fachbereichen faktuale sowie fiktionale Krankengeschichten einem Publikum vorgelegt, und mit dieser Doppel publikation wird kurzerhand das entscheidende Gewicht auf die schriftstellerische Laufbahn verlagert. Für den Arztberuf fehlt noch eine wegweisende Entscheidung, da für diesen Brotberuf die autobiografische Figur beirrbar bleibt und für den medizinischen Berufszweig keine »Konsequenz«, kein »zielbewußte[s]« Fortschreiten möglich scheint (JiW, 306; vgl. ebd., 127). Ausschlaggebend dafür ist, dass fortwährend abgewogen wird, in welcher Disziplin relevantere beziehungsweise nachruhmsicherndere Erfolge erzielt werden könnten, ebenso verfährt Heyses Autorfigur bei ihrer Berufs entscheidung.76 Schließlich verheißt der Schriftstellerberuf und gerade nicht die wissenschaftliche Forschungstätigkeit distinkten Nachruhm, der Schnitzler als Schriftsteller zur ersehnten »Bedeutung« verhilft und seinem Werk internationalen Widerhall verspricht. Die papiermesserscharfe Inszenierung im Klinikgebäude erwirkt konsequenterweise nicht den Tod, sondern die Geburt des Autors.77 Diese ist innerhalb der Autodiegese wie76 Vgl. zur ›Waage‹ als heuristische Entscheidensfigur: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 31 f. 77 Wagner-Egelhaaf hebt hervor, dass es besonders »in Autobiographien von Literaten, immer (auch) um die Geburt eines Autors, d. h. den Weg zur Autorschaft [geht]« (Wagner-Egelhaaf, Einleitung, S. 14). Vgl. insgesamt ›zum Tod sowie zur Rückkehr des Autors respektive der Autorin‹: Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 198201; Spoerhase, Autorschaft und Interpretation, S. 11-55, 448; Jannidis, Lauer, Martínez und Winko, Rückkehr des Autors. Die intensive Etablierung einer nachweltfähigen Autorfigur mitsamt Werk zeigt, dass es hilfreich ist, nach Autorschaftsfunktionen und -konstruktionen, Textkontexten, Verlagspolitik und archivierten Materialien zu fragen. Besonders da in den bisher vorgestellten Fallbeispielen hierfür explizit Autobiografie, Archiv, Testament und Werk miteinander verknüpft, Vor- und Nachlasserzählungen als werkstrategisches Moment erkennbar werden. Da seit fast sechzig Jahren Barthes’ Exklamation La mort de l’auteur gewisser maßen redundant angestimmt wird, obschon bereits die Rückkehr des Autors auf dem literaturwissenschaftlichen Diskursfeld angekündigt wurde, verdeutlichen die
396
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
derum allein möglich durch die erworbenen Wissenschaftsexpertisen, die eine unikale Themenwahl mitsamt »disziplinäre[n] Spuren« bedingt,78 weshalb der Titel Mein Freund Ypsilon. Aus den Papieren eines Arztes sprechend für die Professionen und Passion des Autobiografen ist. Erfolgs entscheidend wird der literarische Text, der explizit für eine ambivalente Lebenssituation steht, und das tragische Schicksal eines Protagonisten schildert, der seinen schriftstellerischen Dilettantismus fatalerweise als Talent interpretiert und an dieser Fehlinterpretation zugrunde geht.79 Die dilemmatische, berufliche Zwischenposition, der damit einhergehende krisenhafte Entscheidensprozess und die schwelende Entscheidungslast werden mit dieser Parallelführung sowie der grotesken Erzählung signifikant demonstriert. Schnitzlers schriftstellerischer Erfolg tritt besonders mit der publizierten Groteske zutage. Während die autobiografische Figur ihre Berufung richtig erkennt, verkennt die fiktionale Figur ihre Fähigkeiten. Schnitzler rechnet für sein Werk mit Widerhall, aber der Erzähler in der Novelle Mein Freund Ypsilon kann dem Protagonisten, also der inter textuellen Parallelfigur, dies nicht bescheinigen und resümiert: »[S]eine
Fallbeispiele einmal mehr, dass autobiografische sowie archivarische Praxis- und Theoriekonzepte für vorgestellte Autorfigurgenesen und -funktionen berücksichtigt werden sollten (Barthes, La mort de l’auteur; vgl. zur ›Rückkehr der Autorin‹ als »komplexe Reflexionsfigur«: Wagner-Egelhaaf, Autorschaft und Skandal, S. 29). So sind sowohl archivarische, editorische als auch kuratorische Praktiken maß gebend dafür, ob und wie autobiografische Projekte rezipiert werden können. Letztlich bleibt ungeachtet dessen die Frage virulent, ob Barthes’ zum Diktum erhobenes La mort de l’auteur nicht die Geburt des Lesers und Schreibers, sondern vielmehr die Geburt und die prominente Position des Wissenschaftlers bewirkte. Nebstdem wird bisweilen eine Theorieexegese vorangestellt und vorzugsweise die Frage fokussiert, ›was der Text mache‹. Oftmals bleibt mit diesem Kollektivsingular unklar, wie die Instanzen der Diegese, Perspektive, Erzähler- und Figurenrede sowie Erzählräume und -zeit sowie die weiteren Kontexte gestaltet sind. Natur gemäß soll nicht ein unreflektierter Kurzschluss zwischen ›Autorin‹ und ›Werk‹ erfolgen (vgl hierzu exemplarisch: Nebrig, Disziplinäre Dichtung, S. 27). Ebenso unproduktiv wäre es unbestreitbar, den Ausdruck ›Text‹ schlicht durch den Namen der jeweiligen Schriftstellerin respektive des jeweiligen Schriftstellers zu ersetzen. 78 Nebrig bestimmt einen markierten Fachjargon in poetischen Texten als Charakteristikum für die Moderne (vgl. ebd., S. 29, 31). Vgl. hierzu auch: Boetticher, Meine Werke sind lauter Diagnosen. Insgesamt fällt auf, dass Schnitzler in die Literaturgeschichte als paradigmatischer Diagnostiker brilliert (vgl. exemplarisch: Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, S. 68; Salten, Persönliche Erinnerungen an Arthur Schnitzler; Zweig, Persönliche Erinnerungen an Arthur Schnitzler). 79 Auch in Lewald-Stahrs autobiografischem Projekt ist das interpretative Geschick ausschlaggebend dafür, ob die Entscheidung eine Krise beendet oder erst entfacht.
397
v i . a rt h u r sch n i t zler
Werke werden ihm die Unsterblichkeit nicht verleihen«.80 In allen Fallbeispielen werden die erfolgreichen autobiografischen Figuren punktuell mit fiktionalen sowie faktualen Figuren des Scheiterns verglichen, um das vorhandene, triumphverheißende Talent valide zu bekunden und den schmalen Grat zwischen Erfolg und Misserfolg zu kartografieren. Dieser weist wiederum die Entscheidung für den Schriftstellerberuf als riskantes Unterfangen sowie unerlässliche, nämlich topische Bewährungsprobe aus. Transparenter als in den vorherigen Fallbeispielen wird das notwendige Netzwerk für eine glückende Publikation und eine erfolgreiche Schriftstellerlaufbahn geschildert. Hervorzuheben ist, dass abermals Frauen die Figur der ›gewitzten Gehilfin‹ und literarisch bewanderten Beraterin einnehmen.81 Es bedarf eines erfahrenen Literaturagentens, einer kritischen Leserin, die sich zudem bereit erklärt, das Manuskript für eine Satzvorlage zu transkribieren und ebenso notwendig ist das passende Verlagsprogramm, sodass schließlich der literarische Text publik und das Pseudonym abgelegt werden kann. Augenscheinlich fällt bei der Zeitschriftenpublikation die typografische Gestaltung auf: Schnitzlers Autogramm wird direkt unter die Überschrift gesetzt. Diese authentizitätsstrategische, auratische Signatur verknüpft einmal mehr Autor und Werk und verweist gleichfalls vage auf die einzelnen Textvorstufen.82 Mit dem genannten Publikationsdatum unterläuft dem Erzähler eine ›Unzuverlässigkeit‹,83 die ihm bei seinen Tagebuchzitaten nicht widerfährt, 80 Schnitzler, Mein Freund Ypsilon, S. 28. 81 Deutlich wird die Leistung angefertigter Abschriften, die maßgeblich die Publikation vorbereiteten, in Emilie und Theodor Fontanes Arbeits- und Ehegemeinschaft. Vergleicht man Fontanes Manuskripte mit den Abschriften seiner Ehefrau, wird ersichtlich, welches Arbeitspensum sie zu bewältigen hatte. Deutlich wird dies auch in Fontanes Brief an seine Tochter Martha Fontane, wenn er schreibt: »Mama sitzt fest am Schreibtisch und packt Blatt auf Blatt; ich bewundre den Fleiß, aber nicht die Stimmung; […] Schriebe ich noch einen Roman – allerdings undenkbar – so würde ich einen Abschreiber nehmen, coute que coute«. (Theodor Fontane an Martha Fontane, Neubrandenburg Augusta-Bad, 13. Juli 1897. Vgl. hierzu exemplarisch: Anderson, Der versteckte Fontane und wie man ihn findet, S. 56). 82 Vgl. Abb. 13. Dasselbe Verfahren wird für Heyses Autobiografie angewendet, so sind beide Leineneinbände der fünften Auflage im Jahr 1912 mit Heyses Autogramm in goldener Farbgebung signiert. 83 Vgl. zum ›unzuverlässigen Erzählen‹ exemplarisch: Lahn, Zuverlässigkeit des Erzählens; Martínez und Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 103-110; Booth, The Rhetoric of Fiction. Insgesamt erweisen sich die Erzähler und Erzählerinnen in allen hier vorgestellten Fallbeispielen als ›zuverlässig‹. Dies zeigt einmal mehr, welche Relevanz der zukünftigen Auffindbarkeit der potenziellen Hinterlassenschaft beigemessen wird und dass der Nachlass gleichfalls zur fiktionalen wie fak-
398
Abb. 13: Arthur Schnitzler, Mein Freund Ypsilon. Aus den Papieren eines Arztes, in: An der schönen blauen Donau 4, 15.1.1889, 2, 25-28, ANNO/Österreichische Nationalbibliothek, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=asd&datum= 1889&page=36&size=31 (zuletzt geprüft: 30.1.2022).
399
v i . a rt h u r sch n i t zler
denn bei diesen erweist sich der Erzähler als akribisch. Schließlich eignen sich besonders krisenhafte Entscheidensprozesse dazu, das autobiografische Projekt werkbiografisch auszurichten und einem weiten Lesepublikum den etablierten Nachlass als archivwürdiges Kulturgut zu präsentieren.84 Die sorgfältige, lebensbegleitende diaristische Tätigkeit besitzt hierfür einen unverkennbaren Stellenwert, da mit diesem explizit die professionalisierten archivarischen Praktiken ans Tageslicht treten. Kurzum: Schnitzler nutzt sein autobiografisches Projekt, um erstmalig unter Verschluss gehaltene Tagebuchpassagen für eine vernetzte Publikation aufzubereiten und seinen zukünftig auffindbaren Nachlass vorzustellen. Dieser Plan wird – buchmarktstrategisch gewieft – anhand punktueller Exklusivitätserzählungen präpariert, denn mit ihnen gibt der Autobiograf zu erkennen, dass die postume Publikation eine zu Lebzeiten wohlkalkulierte Entscheidung zeigt, die zugleich der potenziellen Leserschaft ein intimes Bündnis anträgt.85 Zunächst bemisst der Autobiograf den Wert des akribisch geführten Tagebuchs mit einer exklusiven Kassationserzählung und einem entscheidenden Entdeckungsmoment, das zugleich das dilemmatische Verhältnis zwischen Vater und Sohn pointiert nachzeichnet und das wiederum innerhalb der gesamten Autodiegese eine omnipräsente Entscheidens bedürftigkeit sowie eine damit einhergehende Emanzipationsnotwendigkeit bedingt: [Mich] erwartete […] mein Vater mit strenger Miene, mein kleines rotes Tagebuch in der Hand, und es ergab sich, daß er bereits vor mehreren Tagen mit einem – ihm jedenfalls nicht von mir zur Verfügung gestellten – Schlüssel meine Schreibtischschublade geöffnet, mein Tagebuch gelesen und es wieder an seinen Platz getan hatte, um heute – ich hatte offenbar das letzte Mal meine Aufzeichnungen in einem besonders spannenden Moment unterbrochen – nachzulesen, was ich indes für neue Untualen Welt gehört. Während Kassationserzählungen sich meist nicht bewahrheiten und scheinbar kassierte Manuskripte archiviert, somit auffindbar sind, erweisen sich die Archivierungspassagen als exakte Fundstellenbeschreibung. 84 Interessanterweise schlägt Fischer vor, Schnitzlers Tagebuch als ein Beispiel für »autobiographische[ ] Materialienbücher« zu klassifizieren. Fischer bezieht sich mit dem gewählten Ausdruck auf Ralph-Rainer Wuthenows Typologie (vgl. Fischer, »Mein Tagebuch enthält fast nur absolut persönliches«, S. 32, 35; Wuthenow, Europäische Tagebücher, S. 120-142, 138). 85 Zugleich wird die Neugier des Publikums geweckt, somit die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass spätere Leser, auch nach dem Ableben des Autors, zu den postum publizierten Werken und/oder noch unpublizierten Nachlässen greifen werden. Auf diese Weise mag sich der erhoffte Nachruhm manifestieren.
400
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
taten verzeichnet haben mochte. […] [S]tumm musste ich eine furchtbare Strafpredigt über mich ergehen lassen und wagte endlich kaum schüchterne Worte des Befremdens über den an mir verübten Vertrauensbruch, der mir durch das patriarchalische Verhältnis zwischen Vater und Sohn keineswegs genügend gerechtfertigt schien. Zum Beschluß nahm mich der Vater mit sich ins Ordinationszimmer und gab mir die drei großen gelben Kaposischen Atlanten der Syphilis und der Hautkrankheiten zu durchblättern, um hier die möglichen Folgen eines lasterhaften Wandels in abschreckenden Bildern kennenzulernen. Dieser Anblick wirkte lange in mir nach (JiW, 86). Deutlich wird mit dieser Passage, dass die autobiografische Figur die selbstermächtigte Lektüre durch den Vater als einen »verübten Vertrauensbruch« verbucht, der sich auch nicht durch ein bestehendes »patriarcha lische[s] Verhältnis« entschuldigen lasse. Der Erzähler betont, der Vater habe die verschlossene »Schreibtischschublade« mit einem »Schlüssel« geöffnet, den die autobiografische Figur dieser explizit »nicht […] zur Verfügung gestellt[ ]« habe. Das gehäuft auftretende Possessivpronomen »mein« verdeutlicht einmal mehr, dass sich der Vater mit der Lektüre unbefugt geistiges Privateigentum aneignet (JiW, 86). Diese Passage besitzt durchaus eine faktuale Funktion und kann als indirekter metadiegetischer Erzählerkommentar gewertet werden. Denn während Schnitzler dem Vater geflissentlich eine Tagebuchlektüre verweigert und diese bedacht mit vorsorglichen Vorkehrungen zu verhindern versucht, überreicht Schnitzler mit seinem autobiografischen Projekt einer unkalkulierbaren zukünftigen Leserschaft eine Vorauswahl prägnanter, dezisionaler Tagebuchpassagen, die anhand exakter Datenangaben tunlichst in der zukünftigen Hinterlassenschaft gefunden werden sollen. Des Weiteren wird wiederholt der autobiografische sowie autofiktionale Gehalt ausgewählter Werke dargeboten. Letztlich wird mit diesen Hinweisen dem Lesepublikum der autorisierte Schlüssel überreicht, der notwendig ist, um einzelne Figuren und Momente zuzuordnen. Die diegetische, verschlossene Schublade wird nunmehr mit einem faktischen, zugänglichen Nachlass parallelisiert. Indirekt werden der Reiz verschlossener Geheimnisse und eine phatische Vertrauensgeste inszeniert, die eine Absicherung vorstellt, nämlich die Gunst der zukünftigen Leserschaft zu erheischen. Während vormals der Erzähler berichtet, wie die Lektüre der »Hyrtlschen Anatomie« den Vater zum raschen Entschluss geführt habe, den medizinischen Berufsweg einzuschlagen (JiW, 30), dienen die »Kaposischen Atlanten« hier vorerst dazu, die autobiografische Figur mithilfe 401
v i . a rt h u r sch n i t zler
ckender Beispielbilder zu ermahnen.86 Medizinische Fachliteratur wird somit nicht als sachliche Entscheidungshilfe vorgestellt, sondern als ein Kompendium der Strafe und des Schreckens für einen laissez-faire- Lebensstil. Dieser bleibt, wie auch das nächste Tagebuch, nicht unentdeckt, denn unmittelbar auf die erste Enthüllungspassage folgt die zweite: Nun liest jedoch der Schuldirektor das »eben neu begonnene Tagebuchheft« (JiW, 88), das unter den Schulunterlagen der autobiografischen Figur entdeckt wird. So durchforstet abermals eine erziehungsbefugte Autorität jene frischen Passagen, die die autobiografische Figur für sich »ganz allein« verfasst habe: [D]er Umstand, daß ein Unberufener Einblick in mein Tagebuch genommen, empfand ich so beschämend, daß ich einem Kollegen gegenüber […] gleich nach der Entdeckung in einem Haustor der Ringstraße verzweifelt erklärte, mir bliebe nichts anderes übrig, als mich zu erschießen (JiW, 88). Die vehemente Reaktion setzt die symbiotische Beziehung zwischen Diarium und Diaristen theatralisch in Szene, zumal beide ungewünschten Leser einen gewünschten Effekt zutage fördern. Die Lektüre erweist sich als spannend, das Tagebuch entpuppt sich als Pageturner (vgl. JiW, 86, 89), den der inzwischen erfolgreiche Autor postum, zeitgleich mit seiner Autobiografie rezipiert wissen möchte. Eine Verknüpfung, die geschickt arrangiert respektive inszeniert ist: Der erste Tagebuchband beginnt am 19. März 1879 mit diesem erzählenswerten Entdeckungsereignis: »Ein Tagebuch wird gefunden, gerade das letzte (über Emilie). Große Scenen mit meinem Vater« (TBI, 9). Infolgedessen wird nachruhmsichernd ein skandalverdächtiges Publikationsereignis vorbereitet.87 Umso markanter wirken die zahlreichen Erzählerkommentare zu archivarischen Praktiken, denn mit diesen wird die autobiografische Rekonstruktion gleichermaßen als werkbiografisches Resümee präsentiert. Dies erfolgt mitunter anhand aufbewahrter Manuskripte aus den frühsten Kindheitstagen, die in der Schreib- sowie
86 Auch für die »Anatomie von Hyrtl« kann die autobiografische Figur nicht die väterliche Begeisterung teilen, der medizinische Berufseinstieg erfolgt nicht mit einem lektürebasierten ›Erweckungserlebnis‹. Trotz ausgeprägter Lesewut bleibt diese ungelesen: »Die topographische Anatomie von Hyrtl aber, die mir der Vater pogrammgemäß gleich nach bestandener Maturitätsprüfung, mit einer zärtlichen Widmung versehen, als Geschenk überreichte, blieb vorerst ungelesen« (JiW, 91). 87 Vgl. zum Potenzial skandalöser Ereignisse exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Autorschaft und Skandal, S. 34, 36.
402
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
Erzählgegenwart des Autobiografen als auratische Dokumente vorgeführt werden:88 [B]etrachte ich das Heft, in das ich mit unbeholfener Kinderschrift meine ersten Gedichte eingetragen und um Nachsicht werbend als »Erstlinge« bezeichnet hatte, so erkenne ich nicht an den Titeln allein, daß nicht immer ein angeborener dichterischer Trieb in mir wirksam war, sondern daß ich oft gen[ug] ohne inneren Drang irgendeinen sich bietenden Anlaß ergri[ff], um mich vor den Eltern und anderweitigem Publikum oder auch vor mir selbst aufs neue als Dichter auszuweisen. »Rom in Brand« war das erste Gedicht betitelt, das ich der Aufnahme in diese Sammlung für würdig hielt; verfaßt zu Vöslau, Ende Juni 1873 (JiW, 45 f.). Anders als in den vorherigen Fallbeispielen geht es nicht nur um die Dichter- und Werkgenese, sondern um Inszenierungsstrategien für eine erfolgreiche Selbstvermarktung, die praktischer Bestandteil des angestrebten Berufsbilds sind.89 Für eine autobiografiefähige und erinnerungswürdige Autorfigur ist in allen hier vorgestellten Fallbeispielen eine geordnete, frühzeitige Sammlung aller Manuskripte notwendig, informativ ist in diesem Zusammenhang, dass autobiografische Projektkonzeptionen sowie Neuauflagen mit dem Publikationsjahr der gesammelten Werke zusammen fallen. Dies mag mitunter erklären, weshalb die autobiografischen Projekte überdeutlich werkbiografisch ausgerichtet sind. Wiederholt setzt Schnitzler prägnante Inhaltsangaben und Titelverzeichnisse veröffentlichter und unveröffentlichter Texte in die Autodiegese, die durch die bricolage als beachtenswertes Kuriositätenkabinett stilisiert wird: »So entstanden bis zum Jahre 1875, also noch im Untergymnasium, folgende Werke, deren Titel ich der Kuriosität halber hierher setzen will« (JiW, 47; vgl. ebd., 278). Nebstdem versorgt er sein Lesepublikum erklärtermaßen mit exklusiven Schlüssel figurinformationen und Hinweisen zu noch unrealisierten Werkprojekten. All dies zeigt, dass Schnitzler seine Autorfigur als produktiven Vielschreiber inszeniert. Demnach erscheinen die vorgebrachten Zweifel am eigenen Talent als selbstkritische respektive -optimierende Triebfeder, die fortwährend zu einer respektablen Blattsammlung führt. Diese reichert er mit
88 Eine lebenslange, -begleitende diaristische Tätigkeit stellt bereits eine Seltenheit dar. Einmal mehr gilt dies für akribisch aufbewahrte und erhaltene Tagebuchmanuskripte (vgl. Kamzelak, Einleitung, S. 12, 14). 89 Lewald-Stahr und Heyse legen in ihren autobiografischen Projekten eine strukturiert komponierte Dichterinszenierung vor, jedoch wird diese nicht explizit benannt oder gar kommentiert.
403
v i . a rt h u r sch n i t zler
Manuskripten von Freunden und ausgewählten Memorabilien an (vgl. JiW, 48, 50, 67, 72, 256, 258, 275, 296, 123 f., 134, 152, 236, 256). Unter der angelegten Manuskriptsammlung kommt einem handschriftlichen Tageswerk besondere Bedeutung zu, namentlich dem Tagebuch. Die Tagebucheinträge werden insgesamt als genaue Detailanalysen, lebens begleitende Chronik und Sammelbecken notierter Figurentypologien präsentiert (vgl. JiW, 110, 316). Der autobiografische Funktionswert wird erkennbar, da ein Brief aufgrund seiner »tagebuchartigen Genauigkeit« zitierwürdig ist (JiW, 236). Das Tagebuch wird durchweg als exaktes, wahrheitsgetreues Kompendium aller verzeichneten Ereignisse charakterisiert und als verlässliche, zentrale Erinnerungsstütze vorgestellt, mittels der Dichter- sowie Werkgenese nachvollzogen und die dazu notwendigen Entscheidensprozesse rekonstruiert werden.90 In diesem Medium lässt sich (bis heute) nachlesen, wie autobiografische Entscheidensprozesse nach und nach kontextualisiert und moduliert worden sind. Verstärkt wird diese zentrale Funktion durch die benannten Erinnerungsschwierigkeiten, die der Autobiograf niederlegt, sobald ihm zu berichtenswerten Ereignissen Tagebucheinträge oder äquivalente Manuskripte unverfügbar sind. Eine exakte Erinnerung scheint lediglich mithilfe der Tagebücher möglich, da ohne diese sich alle Ereignisse einem Zugriff entziehen. Vor allem können signifikante Zäsuren mit einer verfügbaren Quellenlage wirksam ins Werk gesetzt werden (JiW, 21, 113, 134, 139, 174 f., 178, 226, 229, 297, 308, 316). Der faktuale Gehalt wird sichtlich hoch veranschlagt, da Erzählerkommentare zu etwaig stilisierten Tagebucheinträgen innerhalb der Autodiegese eine Seltenheit darstellen und der Effekt einer beweiskräftigen, stichhaltigen Situationswiedergabe durch punktuelle umgangssprachliche Einsprengsel respektive mit einer fingierten Mündlichkeit intensiviert werden (vgl. JiW, 182, 55, 135, 167, 189).91 Den Tagebüchern wird abermals ein hoher Stellenwert zugeschrieben, wenn Schnitzler in seinen Autobiographischen Notizen vermerkt: »Nicht nur Wunsch, auch tiefes Bedürfnis in diesen Blättern wahr zu sein. Schwierigkeiten. Vor allem Gedächtnisfehler. Erinnerungstäuschungen« (JiW, 317). Die sorgen- und sagenumwobenen ›Gedächtnisfehler‹ und ›Erinnerungstäuschungen‹ werden innerhalb der Autodiegese nur in Passagen thematisiert, für die explizit kein Tagebucheintrag als Quelle genutzt werden kann. Das Tagebuch wird als Medium konservato90 Vgl. JiW, 97, 98, 107, 109, 111, 122, 127 f., 160, 167, 172, 175, 180-183, 226, 258, 260, 277, 279, 297 302 f., 305 f., 311. 91 Franzen und Feitscher betonen, dass Literarisierung nicht zwingend mit Fiktio nalität einhergehe (vgl. Franzen, Indiskrete Fiktionen, S. 76 f.; Feitscher, Kontemplation und Konfrontation, S. 3).
404
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
rischer Genauigkeit beworben. Kurz und bündig wird der eigenen situativen Erinnerungsleistung misstraut und der Schrift in Form von Tagebuchnotizen vertraut. Ohne das angelegte, kultivierte Archiv bleibt hier allein die Amnesie (vgl. JiW, 297). Das Tagebuch wird punktuell zum soziologischen Journal, in dem chronologische Autopsie und richtungsweisende Lebensbilanzen vereint werden (vgl. JiW, 37, 260, 287 f., 302 f.): Daß mein Vater meinem Treiben und noch mehr meinem Versäumen mit wachsender Mißbilligung zusah, läßt sich denken. Als ich ihm im Dezember meines ersten Universitätsjahres von meiner ersten mit Auszeichnung bestandenen Vorprüfung aus Mineralogie berichtete, und zwar am Eingang des Stadttheaters, das ich am Abend dieses Tags mit ihm besuchen sollte, hatte er hochgebückt ausgerufen: »Am liebsten möchte ich dir einen Kuss geben« […];– aber von nun an sollte er zu solchen Äußerungen väterlicher Zufriedenheit nur noch selten Ge legenheit erhalten […]. Trotzdem versuchte ich, wenn ich mich auch innerlich dagegen wehrte, die Mißstimmung, ja die Sorge eines Mannes zu verstehen, der selbst von unten heraufgekommen, durch eigene Kraft zu Ansehen und Bedeutung in seinem Fach und zu gesellschaftlicher Stellung gelangt, zusehen mußte, wie ein von ihm als nicht unbegabt erkannter und sehr geliebter Sohn auf einem ihm vorgezeichneten und geebneten Wege, statt mit einigem Ernst vorwärtszuschreiten, gleich zu Beginn zu schwanken, abzuirren, ja sich zu verlieren drohte. Dafür wie ich in jenen Jahren die Zeit vertrödelte, stehe als ein Beispiel für viele ein Tageslauf angeführt, wie ich ihn gelegentlich aufzuzeichnen liebte. […] Manchmal führte ich mein Tagebuch in sentimental-humoristischen, reimlosen Jamben. Und so schrieb ich am 27. Juni 80 die folgenden Zeilen nieder (JiW, 126-128; vgl. ebd., 90, 135).92 92 Die Kombination »sentimental-humoristischen« erinnert sicherlich nicht zufällig an Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung. Somit wird auf einen Methodenbeitrag ironisch referiert, zumal Schnitzler darlegt, wie seine Großmutter ihn mit den Worten »›Ein zweiter Schiller!‹« begrüßt habe (JiW, 46). Schnitzler vergleicht auf diese Weise seine Autorfigur indirekt mit einem prominenten Klassiker und weist darauf hin, dass seine Autorfigur – pars pro toto – für den Beginn einer neuen Epoche steht, die sich durch neue Künstlerfiguren und Poetiken auszeichnet. Entsprechend charakterisiert Schiller in seinem Essay Über naive und sentimentalische Dichtung im zweiten Teil den sentimentalen Dichter als einen neuen, nämlich modernen Typus, für den gleichfalls die Denkfigur eines unentscheidbaren Doppels ausschlaggebend ist. Gewissermaßen stellt die »sentimentalhumoristische« Schreibweise eine Ergänzung zur ›satirischen‹ und ›elegischen‹ dar (vgl. Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, FA, Bd. 8, S. 706-810).
405
v i . a rt h u r sch n i t zler
Bezeichnend ist zunächst, dass die väterliche Freude über den medizinischen Studienerfolg des Sohnes am Stadttheatereingang bekundet wird. Infolgedessen werden Vater und Sohn auf einer Schwelle zu jenem Raum platziert, der die »theatralische Sendung« des Jungpoeten symbolisiert und an den prophetischen Opernguckerfall erinnert (JiW, 46 f.). Des Weiteren wird dem Medizinstudium bereits eine Absage erteilt, da der »väterliche[n] Zufriedenheit« proleptisch eine Flaute versprochen wird (JiW, 126). Entscheidend für das gesamte autobiografische Projekt und besonders für die Berufsentscheidung ist, dass der berufsweisende Entschluss des Vaters eine erfolgreiche Aufstiegsgeschichte imaginiert, die dem Sohn als potenzieller Nachfolger eine Entscheidung für den Schriftstellerberuf erschwert, wenn nicht sogar als unwählbare Alternative vorliegt. Die Entscheidung für den Schriftstellerberuf ist angesichts der familialen, sozialen Hürden brisant, sodass den Erzähler das Schriftstellerdasein aus väterlicher Perspektive an die Bibelgeschichte Der verlorene Sohn mahnen muss:93 Denn die professionell ausgeübte poetische Passion würde bedeuten, einen »vorgezeichneten und geebneten Weg[ ]« zu verlassen, stattdessen »zu schwanken, abzuirren,94 ja sich zu verlieren« (JiW, 128). Anders gewendet: Der Schriftstellerberuf stellt eine virulente Bedrohung dar, die fortan die Familiengeschichte zur Abstiegsgeschichte münzen könnte. Ebendiese Konstellation wird zum lebenswegbestimmenden Charakteristikum, das auch Felix Salten in seinem Nekrolog für Schnitzler aufgreift, um zu vergegenwärtigen, welche Barrieren Schnitzler bis zum schriftstellerischen Erfolg bewältigen musste. Bemerkenswert ist, dass Salten für die Biografie en miniature die prekäre 93 Diese Referenz wird auch in der folgenden Passage bespielt, zugleich dient sie dem Autobiografen für eine ironisch-tragische Selbstdarstellung, wenn eingeübte und kritisch reflektierte Dichterposen und die Krux eines Doppellebens vorgelegt werden: »Mein Vater, manchmal erbittert, öfter gekränkt, schaute zu, wie ich mich in Leben, Beruf und Kunst nicht zurechtfand und zwischen meinem tüchtigen, unsäglich fleißigen Bruder, meinem ausgezeichneten Schwager – beide Ärzte wie ich und von Mißbilligung gegen mich durchdrungen – eine wahrhaft klägliche Rolle spielte. Und während ich mich in meinem Tagebuch weitläufig und schonungslos über den Zwiespalt und Jammer ausließ, war ich gleich wieder bereit, mich der Pose zu beschuldigen, glaubte mir in meinen inneren Kämpfen irgendwie zu gefallen, während ich sie niederschrieb, – und glich so ein wenig jenem Dichter aus der ›Beatrice‹, der zehn Jahre später ausrufen sollte: ›Und quillt aus dieser Torheit – einmal ein Lied, so ist’s der höchste Preis – Den mir das Leben hinwirft für die Schmach – Daß ich zu schwach bin, es mit Stolz zu leben.‹« (JiW, 302 f.). 94 In allen hier vorgestellten Autobiografien wird die Berufsentscheidung als potenzieller, mit Risiken verbundener Irrweg apostrophiert. In Heyses autobiografischem Projekt und den dazugehörigen Kontexten wird der Irrweg für eine kanonlastige Relation genutzt, wenn auf Augustinus’ Confessiones verwiesen wird.
406
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
Berufsentscheidung aufgreift und Sonnenthals postalisches Gutachten zitiert. Er referiert auf ein zentrales Archivale, das wiederum eine erfolgreich bestandene Bewährungsprobe vorstellt: Arthur Schnitzler befand sich in dauerndem Konflikt mit seinem Vater, der vom dichterischen Talent des Sohnes wie von einer schlimmen Verfehlung sprach. Dieser Vater, ein hervorragender Arzt, Professor, Regierungsrat, hatte seine Patienten in den Kreisen des Wiener Hofes, des Hochadels und der Künstlerschaft. Er hielt mich einmal an und wetterte: »Ihr wißt ja nicht, was für eine Sünde ihr begeht, wenn ihr Arthur in seinen Schreiberein bestärkt. Er hat alle Gaben zu einem tüchtigen Arzt und zum Dichter gar keine!« Der Vater konnte sich dabei auf das Urteil Sonnenthals berufen, der in einem Brief geschrieben hatte, Arthur Schnitzler sei »ganz talentlos«.95 Den prekären Effekt, der auch sein Andenken bestimmen wird, exemplifiziert der Erzähler mithilfe eines ehemals angelegten »Tageslauf[s]«, der die autobiografische Figur als poesiebeflissenen Schlendrian auftreten lässt, dem für die Medizin »Ernst und Sammlung« fehle, der allerdings diszipliniert literarische Formen trainiert (JiW, 98). Ebendiese Tugenden garantieren der autobiografischen Figur einen sozialen Aufstieg vom Dilettanten zum professionellen Autor. Wie bereits die Vaterfigur entwickelt sich Schnitzler »durch eigne Kraft« zum Karrieristen (JiW, 127 f.), der sich zudem mit mühsamer Netzwerkarbeit von einem verkannten Schriftsteller zum Jahrhundertwende-Workaholic aufschwingt. Die Desiderata »Ernst und Sammlung« (JiW, 98) sind nicht zufällig zwei philologische Tugenden, die mühelos für das Schriftstellerdasein aufgebracht werden und die der Erzähler pointiert hervorhebt:96 »Die vielen Manuskripte[ ], [habe] […] ich wahrlich nicht aus Stolz auf meine dichterischen Anfänge, sondern aus einer Art von autobiografischer Pedanterie aufbewahrt« (JiW, 173 f.). Die anhand der bricolage dargebotenen archivarischen sowie kuratorischen Praktiken sind eine werkkonstitutive Geste, die 95 Salten, Persönliche Erinnerungen an Arthur Schnitzler. Offensichtlich spitzt Salten Sonnenthals Urteil dramatisch zu und erhöht somit Schnitzlers Erfolg. Den virulenten Konflikt zwischen Vater und Sohn erklärt auch Olga Schnitzler in ihrer Autobiografie zu einem Zwist (Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, S. 60). 96 Unterstützt wird dieser dezisionale Effekt durch die bricolage, mit der Schnitzler der inszenierten Arbeitsscheu dialogisch ein strukturiertes Vorgehen gegenüberstellt. Zugleich versäumt er nicht hervorzuheben, dass der autobiografischen Figur in unterschiedlichsten Konstellationen eine Sonderposition respektive Außenseiterposition zukomme (vgl. JiW, 269). Die topischen Grundkonstanten einer geglückten Schriftstellerkarriere werden gemäß einer Erfolgserzählung konsequent eingeholt.
407
v i . a rt h u r sch n i t zler
für eine professionalisierte philologische Akkuratesse steht und das Lebenswerk teleologisch justiert. Der Ausdruck »autobiographische[ ] Pedanterie« setzt dem prospektiven Publikum erneut eine zuverlässige, gar gewissenhafte Erzählinstanz vor.97 Schnitzler wählt schließlich eine Tagebuchpassage für sein autobiografisches Projekt, die seine Entscheidung für den Schriftstellerberuf dezidiert als dilemmatischen Prozess zeichnet. Diese reflektierte Umgangsform erinnert an Hypomnemata, die als diaristische Vorgänger bekannt sind. Roland Kamzelak erläutert, dass Hypomnemata dazu dienten, Zitate zu bewahren, »die man als gute Beispiele im Gedächtnis behalten wollte«, zumal sie »dabei [halfen], sich zu ordnen, sich zu sammeln und zu diszipli nieren«.98 Beide Funktionen werden durch die Tagebuchpassage sichtbar, kulturhistorisch bedeutsam hierbei ist, dass aufmerksamkeitsökonomisch ein Entscheidensprozess als archivwürdig und erzählenswert vorgestellt wird. Mithilfe der bricolage wird schließlich auf die intertextuellen, konstitutiven Kontexte und archivierten Manuskripte verwiesen, die es gilt für ein Publikum buchförmig zu vermarkten. In letzter Instanz soll der Leserschaft eine nachruhmsichernde Patenschaft abgerungen werden. Die bricolage dient dazu, intime, bislang unveröffentlichte Manuskripte publik zu machen. Den Rezipientinnen gewährt sie einen exklusiven Einblick in das Privatjournal einer krisengebeutelten Autorexistenz.99 Einmal mehr werden Archivalien zur primären Entscheidungsressource und die dazu gehörigen archivarischen Praktiken figurieren als werkkonstitutives Planelement. Symptomatisch steht hierfür eine Passage aus dem vierten Buch der Autobiografie. Zwischen Juli 1882 bis Mai 1885 tritt die autobiografische Figur ihren Dienst im Garnisonsspital an und schließt ihre Promotion im Fachbereich Medizin erfolgreich ab. Der für das autobiografische Projekt gewählte Eintrag fällt in eine berufsentscheidende Abschlusszeit und bestimmt die autodiegetische Halbzeit:
97 Die Etymologie des Ausdrucks ›Pedant‹ ist zugleich mit dem semantischen Feld des ›Wissenserwerbs‹ respektive der ›Lehrtätigkeit‹ verknüpft: »Entlehnt aus frz. pédant (auch: ›Schulmeister‹), dieses aus it. pedante, vielleicht zu gr. paideúein ›erziehen, bilden, unterrichten‹« (Seebold, Pedant, S. 690). Archivarische und autobiografische Praktiken dienen demzufolge, ähnlich wie in Lewald-Stahrs Autobiografie, der Auto- sowie Heterodidaktik. 98 Kamzelak, Einleitung, S. 11. 99 Fliedl legt in ihrer Untersuchung zu Schnitzlers Autobiografie besonderen Wert darauf, dass die autobiografische Figur sich dadurch auszeichne, dass sie »mühsam verlorene Gedächtnisinhalte rekonstruiert« (Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 310).
408
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
[W]as ich […] vom Freiwilligenjahr an bis zum Doktorat und noch eine Weile später literarisch zu produzieren versuchte, scheint mir, auch nur als Begleitzeichen meiner inneren Entwicklung genommen, kaum der Rede wert. Der Stoff des »Modernen Jugendlebens« beschäftigte mich weiter, ohne daß was Rechtes dabei herauskommen wollte; eine novellistische Skizze, »Festmahl«, die einen durchgefallenen, seiner Gäste vergeblich harrenden Dramendichter sentimental und humorlos abzuschildern sucht, wurde allerdings nicht nur vollendet und sogar einigen Freunden einzelweise […] vorgelesen, sondern sogar durch Vermittlung Tausenaus, der sich irgendeiner journalistischen Beziehung rühmen durfte, der »Neuen Freien Presse« angeboten; das Beginnen blieb ebenso erfolglos als es die kurz vorher gewagte Einsendung einiger Gedichte an die »Fliegenden Blätter« gewesen war. Diese Enttäuschungen empfand ich um so weniger schmerzlich,100 als ich in dieser Epoche meiner inneren Berufung um nichts sicherer geworden war. Unsicher und schwankend war auch mein Verhältnis zur Medizin geblieben. Und gerade die aus äußeren Gründen immer dringender werdende Notwendigkeit des Studierens machte, daß ich mich bald mit besonderer Heftigkeit abgestoßen, bald angelockt und bis in die Wurzel meines Wesens angerührt fühlte. Dies glaube ich heute, nach so vielen Jahrzehnten, da meine seelische Beziehung zur Medizin, ungetrübt durch jeden äußeren Zwang und jede praktische Betätigung, sich in einer fast experimental zu nennenden Reinheit entwickeln durfte, entschiedener zu wissen, als ich es damals gewußt habe. Dabei will ich das Interesse für Nerven- und Geisteskrankheiten, das ich als das einzige in mir zweifellos vorhandene empfand, nicht einmal sonderlich hoch bewerten, da es nicht so sehr im eigentlich Medizinischen als im Poetischen oder doch Belletristischen wurzelte. Die Stimmung jener Maitage, in denen ich mich zu der letzten Prüfung vorbereitete, scheint mir in einer Tagebuchnotiz mit solcher Wahrheit festgehalten und im Ausdruck so charakteristisch, daß ich am besten zu tun glaube, wenn ich damit diesen Abschnitt beschließe. »Ich vergesse ganz, was und wer ich bin«, heißt es unter dem Datum des 7. Mai, »dadurch spüre ich, daß ich nicht auf der richtigen Bahn bin. Ich glaube nicht, daß mir meine Objektivität verlorengegangen wäre durch den leicht begreiflichen Widerwillen gegen die Examina […], aber ich habe das entschie100 Für die vorherigen Absagen wählt Schnitzler eine ähnliche Wendung: »[J]edenfalls trug ich meine Mißerfolge so wenig schwer, als ich etwa auf gelegentliche kleine Erfolge stolz war« (JiW, 73). Nachdem Misserfolge und Erfolge gleichermaßen kaum Gewicht beigemessen wird, kann das berufliche Entscheidungs dilemma als gravierendes Ereignis inszeniert werden.
409
v i . a rt h u r sch n i t zler
dene Gefühl, daß ich, abgesehen von dem wahrscheinlichen materiellen Vorteil, ethisch einen Blödsinn begangen habe, indem ich Medizin studierte. Nun gehöre ich unter die Menge. Kommt dazu noch erstens meine Faulheit, als zweiter und wohl noch ärgerer Nachteil die schändliche Hypochondrie, in die mich dies jämmerliche Studium, jämmerlich in Beziehung auf das, wo es hinweist und was es zeigt, gebracht hat. Ich fühle mich häufig ganz niedergebügelt, mein Nervensystem ist dieser Fülle deprimierender und dabei ästhetisch niedriger Affekte nicht gewachsen. Ich weiß es noch nicht, weiß es heute, wo ich wohl in der Blüte geistiger Jünglingskraft stehen sollte, noch nicht, ob in mir ein wahres Talent für die Kunst steckt, daß ich aber mit allen Fasern meines Lebens, meines höheren Denkens dahin gravitiere, daß ich etwas wie Heimweh nach jenem Gebiet empfinde, das fühl’ ich deutlich und hab’ es nie deutlicher gefühlt als jetzt, da ich bis über den Hals in der Medizin stecke. Ob ich elastisch genug bin,101 wieder aufzuschnellen über kurz oder lang? Es entwickelt sich was in mir, das so aussieht wie Melancholie, und doch, ich hab so ’ne gewisse Sympathie für den Menschen, der mein Ich repräsentiert, daß ich manchmal denken mag, es wär’ doch schad’ um ihn. Aber es ist doch auch nichts um mich, das mich irgendwie hinauf 101 Der medizinische Berufsweg wird in diaristischen Einträgen verworfen und gegenüber einer Schriftstellerlaufbahn als Sackgasse disqualifiziert. Auffallend ist, dass die Flexibilität und abermals ein entscheidendes Gefühl für eine letztgültige Berufsentscheidung dargelegt wird: »Ein paar Tage, ehe ich Berlin verließ, zog ich in meiner Art eine Bilanz meines inneren und äußeren Lebens, die wieder einmal recht übel ausfiel und in der vor allem ich selbst schlecht genug wegkam. […] So viele Leute ich in Berlin auch flüchtig kennengelernt hatte, fruchtbare Beziehungen hatten sich nach keiner Richtung hin entwickelt, und weder von Menschen noch Dingen glaubte ich nachhaltige Eindrücke empfangen zu haben. Als Hauptgrund meiner Verstimmung aber mußte ich außer einer frühen Blasiertheit, die ich mir übrigens nur einbildete, meinen Beruf ansehen, vielmehr die Überzeugung, daß zu der Ausübung dieses Berufes mir ebenso der redliche Wille als das wirkliche Talent fehlten. Da es mir überdies, wie ich zu fühlen glaubte, an der nötigen Spannkraft gebrach, unter der Last der medizinischen Eindrücke die rechte Freiheit zu dichterischer Betätigung aufzubringen, und ich mich als einen hypochondrischen, übersensiblen Menschen zu erkennen vermeinte, der ohne Funken von wahrhafter Tatkraft lächerlich an seinen kleinen und großen Gewohnheiten hing, so war ich trotz einer leisen tröstlichen Ahnung, daß doch etwas Gutes in mir vorhanden sein mochte, nahe daran, mein Leben, in dem ich innerlich keine Fortentwicklung, äußerlich kein Weiterkommen zu sehen imstande war, als ein völlig verfehltes zu beweinen und mich endgültig aufzugeben« (JiW, 287 f.). Die angesprochene ›Elastizität‹ erinnert an das ausschlaggebende »Kraftmoment«, das nach Wagner-Egelhaaf zur Entscheidung führt (vgl. Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 31 f.).
410
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
bringen könnte. Ich muß gestehen: Meine Eitelkeit sträubt sich manchmal recht intensiv dagegen, wenn ich sehe, wo so ’ne ganze Menge von Leuten, die der Zufall, mein Lebens- und Studienwandel in meine Nähe, ja an meine Seite gebracht hatte, sich ganz verwandt mit mir fühlt und gar nicht daran denkt, daß ich vielleicht doch einer anderen Klasse angehören könnte. Fiel’ einem von diesen (manchen recht lieben Leuten) durch Zufall dieses Blatt in die Hände, so dächt’ er wohl,102 der Kerl ist doch arroganter, als ich bisher glaubte.103 – Und doch, woher sollen sie denn nur wissen, daß in mir vielleicht was vorgeht, wovon sie nie und nimmer eine Ahnung haben können; – vergesse ich’s in der letzten Zeit schier selbst. – Und am End’ ist’s wirklich nichts als eine Art von Größenwahn … Ich bin heute unklarer noch, als ich seinerzeit war, denn das, als was ich heute gelte, bin ich ja doch nicht – am Ende noch weniger. Nun es kommt bald die Zeit, in welcher ich mir Gewißheit über mich selbst verschaffen werde. Warte, Kerl, ich muß dir noch auf den Grund kommen.« Gar oft seit diesen Tagen, auf der Fahrt über dunkle Lebensfluten, war ich versucht, das Senkblei oder gar den Anker auszuwerfen – ohne daß mir Gewißheit wurde, ob er auf den Grund meines Wesens gegriffen, sich in eine trügerische Sandbank eingegraben oder gar nur in rätselvolles Pflanzenschlingwerk verstrickt hatte (JiW, 186-190, TBI, 178 f. [Hervorhebung durch S. N.]).104 102 Im Tagebuch steht: »er würde denken« (TBI, 179). 103 Dagegen steht im Tagebuch »noch« (TBI, 179). Diese Abschwächung ist wohl der signifikanteste Eingriff. Insgesamt liegt eine nahezu ›originalgetreue‹ Abschrift vor. 104 Die Markierungen zeigen an, welche Passagen wortwörtlich ohne Texteingriffe übernommen wurden. Erwähnenswert ist, dass Schnitzler ein Jahr nachdem er diese Entscheidungskrise in seinem Diarium festhält einen so gut wie äquivalenten Tagebucheintrag verfasst, für den er viele entscheidenskonstitutive Schlagwörter wieder aufgreift: »Zu Hause unangenehme Auftritte. Mein Vater wirft mir meinen mangelhaften wissenschaftl. Ernst vor. Er hat im Grunde recht, und das ärgste daran ist nur, daß ich mir beim besten Willen keinen Vorwurf machen kann – durch die Hypochondrien, zu welchen mir besonders die letzten Monate reichlichen Anlass boten, ist meine Abneigung gegen die Medizin in so erschreckendem Maße gesteigert worden, daß mir vor meiner Zukunft auf dieser Bahn ernstlich Bange ist. […] Mehr als je – und beim Himmel, es ist nicht gemeine Faulheit, die mich so empfinden läßt, Jahre lang hab ich auf dies mein Innres bereits prüfen können, mehr als je fühl ich in mir eine Künstlernatur. […] Im übrigen bin ich jetzt auch literarisch viel thätiger. Es war eine Rieseneselei von mir – Mediziner zu werden, und es ist leider eine Eselei, die nicht mehr gut zu machen ist. Abgesehen von einer gewissen Schärfe des Blicks und geklärtern Anschauungen, in die mich das mediz. Studium eingeführt hat, möchte ich, daß alles mir wieder genommen wird – oh ich möchte frei, ganz einfach: ich möchte reich und ein Künstler
411
v i . a rt h u r sch n i t zler
Kennzeichnend ist auch in dieser Passage das unentschiedene Schwanken sowie das stete Ringen um eine Publikationsmöglichkeit, die womöglich den berufsentscheidenden Erfolg einbringen könnte. Zugleich lotet der Erzähler aus, dass die einzige medizinische Begabung dem literarischen Talent entsprungen sei. Die schriftstellerische Berufung, die weiterhin ein prekäres Unterfangen bleiben muss, ist unverändert von zentraler Bedeutung. Strukturgebend ist hierfür eine komparative Gegenrechnung, die Karriere potenziale beider Berufswege kartografiert (vgl. TBI, 238). Signifikant für die Entscheidensprozesse ist, dass die Berufsentscheidung primär eine Gefühlsentscheidung darstellt, die rationale Entscheidung für einen Brotberuf wird dagegen als fatale Fehlentscheidung klassifiziert (vgl. JiW, 74, 90-92, 122, 124-126, 164, 187, 189 f., 194, 222, 252, 274, 282, 287, 312, 316). Vorerst wird der sich wiederholt einstellende schriftstellerische Miss erfolg verbucht, der den medizinischen Beruf keineswegs von einem entscheidenskonstitutiven Misskredit befreit. Auch Schnitzler begründet – wie Lewald-Stahr und Heyse – seine Berufung biologistisch. Jedoch verweist er nicht auf eine genetische Disposition, sondern auf botanische Metaphern, die die naturwüchsige Entwicklung der Autorfigur erklären: Die Entscheidungsnotwendigkeit kündigt sich vehement mit dem Medizinstudium an und so ist es ausgerechnet ein naturwissenschaftliches Fach, das den Autobiografen an der »Wurzel [s]eines Wesens« getroffen und eine Krise ausgelöst habe. Die autobiografische Figur habe, ihrer »inneren Berufung« entsprechend, »zweifellos« den medizinischen Fachbereich priorisiert, der »nicht so sehr im eigentlich Medizinischen als im Poetischen oder doch Belletristischen wurzelte«.105 Nach dieser Repetitio wird die botanische sein. […] [W]enn ich heute, beinah an der Schwelle meines fünfundzwanzigsten Jahres das ausspreche, so ist es der Kern meines Wesens, meine heilige Ueber zeugung, die in diesen Worten liegt« (TBI, 196 f. [Hervorhebungen durch S. N.]). Auch 1888 wird die Zeit vor dem Geburtstag für ein ähnliches Entscheidungs dilemma genutzt und bekannte Vokabeln werden formelhaft wiederholt: »[Mein Beruf, z]u dem mir Wille, Fleiss und wirkliche Fähigkeit fehlen, und der mir doch meine beste Zeit, meine beste Kraft und all meine Laune stiehlt. Aber Brod, Brod muss man verdienen, und da mir die große Elastizität schließlich auch noch mangelt […]; da ich weiters eine hypochondrisch übersensible Natur bin, […] so wird es recht dumm und läppisch mit mir enden« (TBI, 231 f. [Hervorhebung durch S. N.]). 105 Diese Priorisierung findet sich bereits in einer früheren Lebensbilanz und lässt den Schriftstellerberuf kontinuierlich als alternativlos erscheinen: »Indes war ich fünfundzwanzig Jahre alt geworden, ein Einschnitt, der zu Rückblick und Vorschau manchen Anlaß bot. ›Was habe ich mir als Achtzehnjähriger alles eingebildet‹, schrieb ich in mein Tagebuch, ›was würde ich in diesem Alter schon geleistet haben‹ und zog flüchtig die Bilanz. ›Ruf eines gescheiten, aber arroganten
412
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
Metaphorik vollends ausgeschöpft,106 wenn die autobiografische Figur in der zitierten Tagebuchpassage betont, dass sie »in der Blüte geistiger Jünglingskraft stehen sollte«, aber dennoch zaudernd und zögernd ungewiss sei, »ob in […] [ihr] ein wahres Talent für die Kunst steckt«. Demgegenüber herrsche jedoch Gewissheit darüber, »daß […] [sie] mit allen Fasern […] [ihres] Lebens, […] [ihres] höheren Denkens« zum Schriftstellerdasein »gravitiere«. Die »Blüte geistiger Jünglingskraft« wirkt geschwächt, da die autobiografische Figur nicht ausschließlich und anerkannt auf dem für sie bestimmten Feld tätig sein kann. Für den inneren Entscheidungskonflikt wird schließlich die Dezisionsmetapher der Waage gewählt, sodass das »mit allen Fasern« empfundene Ungleichgewicht ein ausschlaggebendes Moment setzt (JiW, 188-190).107 Das Medium der entscheidenden Empfindung ist diesmal nicht primär das Herz, sondern die Faser: Ein Material, das seit dem 19. Jahrhundert Konjunktur hat in der Papierproduktion. Diese und besonders das »rätselvolle Pflanzenschlingwerk« werden als botanische Metapher für eine metonymische Beziehung zwischen Autor und Werk genutzt. Kurzum: Das autobiografische Projekt wird erneut werkbiografisch ausgerichtet.108 Wie in den vorherigen Fallbeispielen ist das Gefühl vorherrschend und gerade nicht eine rationale Kalkulation, in der wiedergegebenen Passage wird hierzu explizit eine klimaktische Reihung vorgelegt: »fühlte«, »empfand«, »spüre ich«, »entschiedene[s] Gefühl« (JiW, 188-190). Von Be deutung ist demnach, dass die autobiografische Figur, wie bereits in schen bei Fernerstehenden, eines Lebemannes bei einigen, was Papa ärgert, – bei guten Bekannten eines geistreichen, sehr veranlagten, aber sich zu nichts aufraffenden Menschen. Und doch ist’s nur die Phantasie allein‹, so schloß ich, ›die mich vielleicht noch zu etwas bringt. Gewiß nicht die Medizin, wenn ich mich zuzeiten auch merkwürdig hineinlebe.‹ Tat ich das wirklich?« (JiW, 260). 106 Die Stilmittel der Wiederholung wie Repetitio und Polyptoton sind in der zitierten Passage omnipräsent, markiert wird dabei die krisenhafte Ungewissheit und die Formeln, die einen Entscheidensbedarf ankündigen, jedoch nicht dazu dienen, eine finale Entscheidung zu setzen (»weiß es noch nicht, weiß es heute […] noch nicht«, »das fühl’ ich deutlich und hab’ es nie deutlicher gefühlt«, »Nun gehöre ich unter die Menge. […] o’ne ganze Menge von Leuten« [JiW, 188-190]). 107 Vgl. ebd. 108 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Wirth die bricolage mit der Kulturtechnik des Pfropfens zusammenbringt, um schließlich auf die botanische Metaphorik beider Ausdrücke hinzuweisen. Wirth definiert sie »als Figur des Übergangs zwischen epistemischen Kulturen des Wissens« (Wirth, Kultur als Pfropfung, S. 10, vgl. ebd., S. 14). Tatsächlich wird mit der bricolage die Autobiografie werkpolitisch mit dem Nachlass verknüpft, sodass erkennbar wird, dass das autobiografische Projekt nicht zwischen zwei Buchdeckel passt.
413
v i . a rt h u r sch n i t zler
ewald-Stahrs und auch Heyses Autobiografien, das »entschiedene GeL fühl« wie das ›deutliche Fühlen‹ notiert (»das fühl’ ich deutlich und hab’ es nie deutlicher gefühlt« [JiW, 188-190]),109 das im Schreibakt einen kommunizierten Entscheidensprozess vorantreibt, der für den autodiegetischen Erzähler wie das Lesepublikum erst in der Synopse retrospektiv als ein solcher lesbar wird (vgl. JiW, 72). Wahrnehmbar ist zudem die intertextuelle und zugleich autofiktionale Figurenrelation. Die autobiografische Figur bleibt, wie ihre diegetische Figur, auf dem Literaturmarkt »erfolglos«. Den Stil der »durchgefallenen« »novellistische[n] Skizze« beschreibt der Autobiograf rückblickend als »sentimental und humorlos«, sodass sie relational zu den explizit »sentimental-humoristischen« Tagebucheinträgen eine Kontrastfolie darstellen muss (JiW, 187). Das Diarium birgt weit höheres Erfolgspotenzial als es frühe literarische Entwürfe vermögen, konsequenterweise lässt der Autobiograf wenig zauderhaft sein anvisiertes Publikum nicht lange auf eine Kostprobe warten. Prompt folgt ein exemplarischer Ausschnitt, mit dem das autobiografie- sowie publikationsfähige Lebenswerk vorgestellt wird, das wiederum das »wahre[ ] Talent für die Kunst« überliefert (JiW, 189). Die »innere[ ] Berufung« wird prompt als exklusives Geheimnis inszeniert (JiW, 187), das, jahrzehntelang verborgen zwischen konservatorischen Tagebuchdeckeln, nun ans Tageslicht darf. Für dieses aufsehenerregende Publikationsereignis wird eine Tagebuchpassage gewählt, die einen lebenslaufkonstitutiven sowie gleichermaßen werkkonstitutiven krisenhaften Entscheidensprozess vorführt. Die mit dieser diaristischen Passage attestierte Bewährungsprobe ist besonders bedeutungsschwer, da die Autor figur nahezu durchgehend als »[u]nsicher und schwankend« vorgestellt wird (vgl. JiW, 127). Sie muss nun eine Entscheidungskrise durchleben, da »nicht[ ] sicher[ ]« ist, ob die »innere Berufung« auch ein valider Brotberuf mit veritablem Verdienst sein kann. Zugleich wird mit dieser »charakte ristisch[en]« Passage für die stetig zweifelnde Autorfigur ein neuer, ›moderner‹ Dichtertypus vorgestellt (JiW, 189). Für diesen ist eine Krise keinesfalls eine lebenslauf- oder werkkonstitutive Episode, sondern mitsamt konstanter Un sicherheit und dilemmatischem Doppelleben ein insze
109 Beide Elisionen markieren die ›authentische‹, situative Unmittelbarkeit und charakterisieren das Tagebuch einmal mehr als ein Medium, das sich für eine direkte Aussprache eignet. Insgesamt fällt auf, dass in allen hier vorgestellten Fallbeispielen Elisionen genutzt werden, um den Entscheidensprozess unmittelbar erfahrbar zu machen und die zitierten Manuskripte als zeitbeständige Dokumente auszuweisen.
414
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
nierungsbedürftiger und kultivierter Dauerzustand.110 Mit autobiogra fischer Akkuratesse werden die zahlreichen Zweifelepisoden im Tagebuch verewigt. Zunächst fällt auf, dass der Autobiograf authentizitätsstrategisch den Tatbestand der zitierten Tagebuchpassage hervorhebt, wenn er konstatiert, dass die »Stimmung« ebendort »mit solcher Wahrheit festgehalten« sei. Der Verweis auf eine valide ›Wahrhaftigkeit‹ lässt erneut an Schnitzlers autobiografische Notizen denken. In diesen formuliert er den Authentizitätsanspruch, seine »Erinnerungen völlig wahrheitsgetreu aufzuzeichnen«, dabei »kein wissentlich unwahres Wort nieder[zu]schreiben« (JiW, 317, 319). Hervorzuheben ist, dass er unmittelbar darauf die funktionale Stellung seiner Tagebücher für das geplante autobiografische Projekt benennt. Diese werden dezidiert als verlässliches epistemisches Fundament der zukünftigen auto- sowie auch werkbiografischen Textgenese vorgestellt. Obschon die Tagebücher als zuverlässige Lebensdokumente präsentiert werden, bekennt Schnitzler gegenüber seinem Projektplan virulente Zweifel an einer ungetrübten Wahrheit und notiert die rhetorische Frage, ob »die Wahrheit der Erinnerung überhaupt in unserer Macht liegt« (JiW, 317 f.). Dies gelte besonders, da nicht bestimmt werden könne, ob private Selbstzeugnisse »wissentliche Unwahrheiten« (JiW, 319), etwa im Zuge einer Selbststilisierung respektive -historisierung, aufweisen könnten. So ist es gerade der bekenntnishafte Zweifel, der an das »Goethesche Wahrheitskonzept« erinnert. Dieses setze, so Wagner-Egelhaaf, »dem Faktischen ›eine höhere Wahrheit‹ entgegen«.111 Gleichfalls referiert Schnitzler mit diesem auf einen weiteren ›Autobiografieklassiker‹, nämlich Rousseaus Les Confessions.112 Das Vorhaben einer möglichst ›wahrheitsgetreuen‹ auto- sowie 110 Lewald-Stahr nutzt den Ausdruck ›Doppelleben‹ für eine entscheidensbedürftige Lebensepisode, nämlich die uneheliche Liaison mit Stahr. Diese unentschiedene Zwischenposition bezeichnet sie retrospektiv als »unheimliches Doppelleben« (RT, 236). Was in Lewald-Stahrs autobiografischem Projekt noch als prekäre und begrenzte Lebensphase charakterisiert wird, ist für Schnitzlers Autorfigur eine Konstante. 111 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 3. Philippe Lejeune konstatiert für die Autobiografie und das Tagebuch jeweils ein unterschiedliches Verhältnis zur ›Wahrheit‹: »Mir scheint, daß die Autobiographie und das Tagebuch in dieser Hinsicht gegensätzlich sind: daß die Autobiographie immer wieder dem Charme der Fiktion erliegt, während das Tagebuch in die Wahrheit verliebt ist« (Lejeune, »Liebes Tagebuch«, S. 322). 112 Vergleicht man Rousseaus und Schnitzlers Autobiografiekonzeptionen, fällt unweigerlich auf, dass während für Rousseau das Fühlen und Kennen seines ›Herzens‹ das Fundament der Autobiografie darstellt, es für Schnitzler die Lektüre wie Archivierung seiner Manuskripte ist (vgl. Rousseau, Les Confessions, S. 67).
415
v i . a rt h u r sch n i t zler
werkbiografischen Darstellung folgt nachruhmorientiert prominenten Vorbildern und sensationellen Schlüsselerzählungen. Etwaigen Unzuverlässigkeiten setzt der Autobiograf dennoch beharrlich zuverlässige Daten- respektive Literaturhinweise entgegen: »promovierte am 30. [Mai]«,113 »jene[ ] Maitage, in denen ich mich zu der letzten Prüfung vorbereitete«, »heißt es unter dem Datum des 7. Mai« (JiW, 188-189). Auf diese Weise wird das autobiografische Projekt zum intertextuell organisierten Findbuch und der Nachlass rückt in greifbare Nähe. Die akribischen Angaben zu den ausgewählten Tagebuchzitaten gewährleisten dem Lesepublikum eine Überprüfbarkeit des Erzählten und lösen für die Rezeptionspraxis ›Faktualität‹ ein. Heyse sowie auch Schnitzler legen mit ihren autobiografischen Projekten nicht schlicht eine Synopse des diaristischen und autobiografischen Projekts vor, sie präsentieren eine potenzielle, strukturierte Überprüfbarkeit der zitierten Passagen und eine nachruhmorientierte Nachlassvorsorge. In Schnitzlers Autobiografie resultiert die autobiografische Textgenese aus einer subjektiven Auswertung einer angelegten Archivaliensammlung, schließlich auf archivarischen Selek tionsentscheidungen. Indem der autodiegetische Erzähler explizit seine Auslese kommentiert, referiert er auf die autobiografischen Praktiken, sodass in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Erzähltext der Blick über die Schulter des Autobiografen in einem ›intimen Moment‹ der Textgenese suggeriert wird. Mit dem deiktischen Adverb »heute« wird auf die Erzählgegenwart des Autobiografen und auch der autobiografischen Figur verwiesen (JiW, 187, 189). Zunächst erfüllt dieses sechs Funktionen: (1) Vorerst wird der zeitliche Abstand markiert. (2) Des Weiteren beglaubigt der Autobiograf am fingierten Erzähltag die ›Wahrhaftigkeit‹ der gewählten Passage (»charakteristisch« [JiW, 189]). (3) Diese Bewertung begründet wiederum die getroffene Selektionsentscheidung. (4) In der zitierten Figurenrede wird mit dem deiktischen Adverb ein distinkter Entscheidungszeitraum markiert, (5) sodass eine lebenslauf- und auch werkkonstitutive Epoche konstituiert wird. (6) Nebstdem wird die Verfüg barkeit des Archivales betont. Die zitierte Passage repräsentiert einen überprüfbaren Beleg. Mit den deiktischen Temporaladverbien »heute« (JiW, 187, 189), »jetzt« (JiW, 189) und »nun« (JiW, 189, 190) wird in der Figurenrede ein Entscheidungszeitraum konturiert, der verknappt wird (»es kommt bald die Zeit« [JiW, 190]). Beachtlich ist dabei, dass das Personalpronomen »ich« in dem zitierten Tagebucheintrag neunund113 Exakt dieses im Tagebuch festgehaltene Datum weist im Manuskript eine Bleistiftmarkierung als späte Lesespur auf.
416
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
dreißigmal, also erkennbar häufig auftritt. Eklatant zeigt sich, dass nicht ein entschieden einheitliches, sondern ein unentschieden zerrissenes Subjekt vorgestellt wird, das damit hadert, ein dilemmatisches Doppel leben zu führen. Ebendieses dilemmatische Doppelleben lässt die Entscheidungskrise virulent werden. Betont werden muss hier, dass während eines amnestischen, orientierungslosen Zustands das ›Gefühl‹ zum Kompass im Dilemma wird. Gleichfalls werden mit den Interrogativpronomen die Berufung und auch der Beruf identitätsstiftend vorgestellt. Das verheißt eine eindeutige Entscheidung mit identitätsbestimmenden Wirkungs potenzial. Der gewählte Brotberuf lässt die autobiografische Figur erkennen, dass sie »nicht auf der richtigen Bahn« ist, sondern an einem Scheideweg steht.114 Die gegeneinander abgewogenen Berufsalternativen führen zügig zu einem markanten Zwischenergebnis, denn der medizinische Beruf lässt die autobiografische Figur fürchten, »unter die Menge« zu gehören, bar jeglicher Auszeichnungsmöglichkeiten, die einen potenziellen Eintritt in zukünftige Literaturgeschichten vorbereiten mögen, zumal er sein Leben und Werk treffsicher als »›culturhistorisch interessant‹« einschätzt.115 Die Entscheidung für den »ethisch« lukrativeren Schriftstellerberuf erscheint als besonders prekäres Wagnis, nachdem das materielle Risiko skizziert und kon tinuierlich akute Wissensdefizite über die eigene Begabung artikuliert werden (»wirklich nichts als eine Art von Größenwahn«, »unklarer«, »trügerisch[ ]«).116 Die insgesamt dreizehn Verneinungen lassen letztlich nur eine umfassende Unsicherheit bestehen. Diese wird einmal mehr durch die Satzadverbien »wahrscheinlich« und »vielleicht« ›bestätigt‹. Die Aussage »Nun gehöre ich unter die Menge« erinnert an ein beliebtes Motiv in Schrift stellerautobiografien (JiW, 189-190). Zumeist stilisieren und präferieren 114 Der Ausdruck ›Bahn‹ ist für den autodiegetischen Entscheidensprozess insgesamt eine prominente Metapher (vgl. JiW 91, 92, 30 f., 264, 299). Eingebettet wird dieser stets in Ausführungen, die die Tendenz thematisieren, den Beruf des Schriftstellers zu ergreifen und damit den Arztberuf aufzugeben. 115 Schnitzler, Tagebuch 1903/08, S. 97. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBIII angegeben. Vgl. auch: Nehring, »Kulturhistorisch interessant«, S. 89. 116 Die autobiografische Figur formuliert erklärtermaßen wiederholt die Zweifel an ihrem »Talent für die Kunst« in Momenten der Selbstvergewisserung. Dabei überwiegen die Zweifel an einem medizinischen Talent stets die gegenüber der schriftstellerischen Kompetenz und so verortet die autobiografische Figur ihre Berufung konsequent in der Poesie und suspendiert scheinbar rationale Entscheidungsmotive, wie etwa die finanzielle Absicherung durch den Arztberuf angesichts des chronischen Geldmangels (vgl. JiW 179, 298 f.; vgl. hierzu auch: Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 134 f., 148, 362, 370, 433).
417
v i . a rt h u r sch n i t zler
autodiegetische Erzähler ihre Außenseiterposition innerhalb des familialen und gesellschaftlichen Gefüges (vgl. JiW, 14, 269). Daran anschließend erklärt sich, weshalb für die autobiografische Figur unter die »Menge« zu gehören lediglich ein defizitärer Zustand sein kann. Die b enannte Außenseiterposition geht zumeist mit einer intensiven Lektürephase und frühen Schreibszenen wie -(miss)erfolgen einher (vgl. JiW, 23, 21, 32 f., 45 f.). Gerade die lebenslange diaristische Tätigkeit zeichnet die Autor figur besonders aus, und symptomatisch dafür wird das Tagebuch – buchmarktorientiert – als intimes Journal für den Entscheidensprozess konsultiert. Der inszenierte und kommentierte Medienwechsel wirft die Frage nach etwaigen selbstzensorischen Texteingriffen auf, die vorgenommen wurden, um die ausgewählte »Tagebuchnotiz« für das autobiografische Projekt passgenau umzuarbeiten.117 Neben der nachträglichen Ergänzung beiordnender Konjunktionen und wenigen Umlautkorrekturen finden sich außer einer größeren Passagentilgung keine sinnverändernden Texteingriffe. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass die bricolage für ein synoptisches Arrangement genutzt wird und zudem ein zuverlässiges Erzählkonzept demonstrieren soll (vgl. TBI, 178 f.). Die Manuskripte bekommen mitsamt ihrer kultur geschichtlichen Wertigkeit einen hervorgehobenen Stellenwert innerhalb der Autodiegese zugewiesen. Wie bereits bei Heyse finden sich im zitierten Manuskript späte Lesespuren. Für die ausgewählten Unterstreichungen wurde – wie für die händische Abschrift – ein Bleistift verwendet; deutlich wird in diesem Fall Schnitzlers autobiografisch motivierte, selektive Re lektüre seiner Tagebücher, die besonders für sein autobiografisches Projekt konstitutiv ist.118 117 Vgl. hierzu exemplarisch: Conradi, Hoof und Nohr, Medien der Entscheidung; Plachta, Zensur und Textgenese, S. 37-39, 45. Roland Kamzelak kann explizit gestalterische Bearbeitungen für Harry Graf Kesslers Autobiografie Gesichter und Zeiten nachweisen (vgl. Kamzelak, Einleitung, S. 16-19). 118 Vgl. die Abb. 14, 15, 16 und 17. Welzig hält interessanterweise fest, dass »Schnitzlers Notizen über die Lektüre der eigenen Aufzeichnungen […] eine Spur [legen], die, sobald man sie nicht auf das rein Inhaltliche reduziert, zu unerwarteten Beobachtungen führt. Im Zusammenhang der Geschichte des Tagebuchs ist die wichtigste davon, daß Schnitzler das eigene Tagebuch systematisch und im Kontinuum liest. Einer der intensivsten Lektüregänge – er steht im Zusammenhang mit der Arbeit an der Autobiographie – erstreckt sich von 1916 bis 1919 und umfaßt die Jahrgänge bis 1910. Ein vergleichbares Leseinteresse setzt Ende der zwanziger Jahre mit dem Tod der Tochter ein« (Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 7, 17). Letzteres dokumentiert den Zusammenhang zwischen Autobiografie und Nachleben. Nicht auszuschließen ist, dass Pollak die Striche am Rand angebracht habe (vgl. ebd., S. 18). Obschon mehr dafür spricht,
418
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
In der für den autobiografischen Erzähltext getilgten Passage wird erneut die Priorität der schriftstellerischen Tätigkeit in Schnitzlers Leben erläutert.119 Er betont, dass Entscheiden als kommunikativer Prozess an einen Schreibakt rückgebunden sei und gerade nicht einem mentalistischen Konzept folge: »es ist einfach eine unbeschreibliche Hinneigung zu jenem Berufe, der mir so einzig schön dünkt – – – Da schreib ich mich wieder hinein in alles mögliche – und habe doch oft ganze Tage überhaupt nicht an dergleichen gedacht. […] Ich tappe sozusagen nach mir herum –« (TBI, 179). Während der Erzähler ankündigt, sich »Gewißheit über [s]ich selbst [zu] verschaffen« (JiW, 190), präsentiert er pointiert die Funktionen autobiografischer Schreibtechniken und archivarischer Praktiken. Mit ebendiesen wird letztlich eine pro- und retrospektive ›Selbsterkenntnis‹ möglich, eine emanzipatorische Entscheidung vorbereitet und nicht zuletzt überhaupt erst eine Krisenheuristik konzipiert.120 Der Hinweis auf eine sich entwickelnde »Melancholie« folgt promi nenten literarischen Mustern und steht in einer engen Beziehung zum gewählten Verb »gravitiere« (vgl. JiW, 162, 168); so ist die Literatur die ›Schwerkraft‹ im Leben des autodiegetischen Erzählers, indem sie den Entscheidensprozess motiviert, bestimmt und die autobiografische Figur vor einem Selbstverlust schützt (vgl. JiW, 92, 187, 222; TBI, 108 f., 160 f., 174). Bedeutsam ist, dass die prekäre Subjektposition (»Ich vergesse ganz, was und wer ich bin« [JiW, 189]), die fachliche Fehlentscheidung (»ethisch einen Blödsinn begangen habe, indem ich Medizin studirte« [JiW, 189]) und die charakteristischen Merkmale des inszenierten Dichtertypus (»Hypochondrie«, »Eitelkeit« [JiW, 189]) nachträglich mit Bleistift markiert wurden, sodass eine späte Lesespur, die im Zusammenhang mit der autobiografischen Projektarbeit entstand, für die Nachwelt sichtbar ist. Nebstdem wird mit ›Hypochondrie‹ und ›Melancholie‹ die pathologische Semantik des
dass Schnitzler für die hier genannten Lesespuren verantwortlich ist und diese während der Relektüre für das autobiografische Projekt entstanden sind. 119 Die abgebildeten Manuskripte sollen primär die nachträglichen Lesespuren und Schnitzlers detaillierte Abschrift für sein autobiografisches Projekt kenntlich machen. Die Markierungen sowie auch die Abschrift wurden jeweils mit Bleistift getätigt. Dies mag anzeigen, dass beide Teilhandlungen in einem Arbeitsschritt erfolgten. Auf eine Transkription der Tagebuchpassage wird verzichtet, da diese ohne sinnverändernde Eingriffe bereits publiziert ist: vgl. TBI, 178 f. Für die vollständige Transkription der autobiografischen Abschrift vgl. das Kapitel Transkriptionen der vorliegenden Studie. 120 Vgl. hierzu auch: Nehring, »Kulturhistorisch interessant«, S. 77.
419
Abb. 14: Arthur Schnitzler, Tagebuch, April, Mai 1885, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes Autobiographisches, Tagebuch 1879-1889, HS.NZ85.000100157.
420
421
Abb. 15: Arthur Schnitzler, Tagebuch, April, Mai 1885, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes Autobiographisches, Tagebuch 1879-1889, HS.NZ85.0001.00157.
422
423
Abb. 16 und 17: Arthur Schnitzler, Leben und Nachklang. Werk und Widerhall, DLA, Arthur Schnitzler, HS.1985.0001.00085.
424
425
v i . a rt h u r sch n i t zler
Ausdrucks ›Krise‹ bespielt.121 In ihrer Studie Die Melancholie der Literatur schreibt Wagner-Egelhaaf, die Melancholie sei »eine Ordnungsfigur der Unordnung«.122 Diese Beobachtung bestätigt sich bei der vorgelegten »Tagebuchnotiz« (JiW, 189), denn dort dienen die topischen, kulturhistorisch satten Bildkompositionen dazu, den krisenhaften Entscheidensprozess schematisch zu vereinfachen. Auf diese Weise wird eine Kontrastfolie für die vorherrschende noch ›unaufgeräumte‹ Unentschiedenheit geschaffen. Ferner erläutert Wagner-Egelhaaf, ein »Hypochondrist wird in besonderer Weise zu einem Interpreten von Zeichen«.123 Als versierter Interpret tritt augenscheinlich nicht allein die autobiografische Figur, sondern geflissentlich auch der Autobiograf auf. Wie bereits innerhalb Lewald-Stahrs Autodiegese gilt die trainierte und professionalisierte Interpretationsexpertise als Garant für ein Entscheidensbewusstsein, das notwendig ist für eine emanzipatorische Berufsentscheidung. Während Lewald-Stahrs autobiografische Figur sich noch auf ein gültiges Interpretationsergebnis verlassen konnte, plagen Schnitzlers Figur fortwährende Zweifel, die lediglich eine immerwährende Ungewissheit gewiss werden lassen (»ohne daß mir Gewißheit wurde«, »trügerische Sandbank«, »rätselvolles Pflanzenschlingwerk« [JiW, 190]). Hilfreich mag demnach sein, dass gerade die Figur des Melancholikers sich zu einem poeta doctus eignet und ebendieser wird die »Sympathie« der autobiografischen Figur zuteil.124 Das dilemmatische Doppelleben erfordert unablässig, dass Rollenentwürfe »repräsentiert« werden, sodass die »theatralische Sendung« der autobiografischen Figur zur theatralen Passion mutiert (JiW, 47). Die Wahlverwandtschaft, die »so’ne ganze Menge von Leuten« der autobiografischen Figur gegenüber bekunden, wird von dieser abgelehnt, da sie dezidiert nicht unter die Menge gehört, lediglich anteilig ein bürgerliches Leben führt (JiW, 189 f.). Diese Konstellation dient primär dazu, nochmals die geheime, bislang in Tagebüchern wohl verschlossene Doppelexistenz zu bekunden, sodass der diaristische Inhalt stetig als exklusiv und prekär stilisiert wird:
121 Vgl. hierzu exemplarisch: Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 7, 139, 145-147. Wagner beginnt ihr biografisches Kapitel zu Schnitzlers Entscheidungskrise mit einem Krankheitsbericht, Schnitzler sei unmittelbar nach erfolgreicher Promotion erkrankt, somit zu einem Zeitpunkt, als die Krise virulent geworden sei (Wagner, Arthur Schnitzler, S. 38). 122 Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 41. 123 Ebd., S. 146 f. 124 Vgl. ebd., S. 39.
426
v i .2 vom tagebuch a ns tage slich t
»Fiel’ einem von diesen […] durch Zufall dieses Blatt in die Hände, so dächt’ er wohl, der Kerl ist doch arroganter, als ich bisher glaubte. – Und doch, woher sollen sie denn nur wissen, daß in mir vielleicht was vorgeht, wovon sie nie und nimmer eine Ahnung haben können; – vergesse ich’s in der letzten Zeit schier selbst« (JiW, 189 f.). Einer misslichen Enthüllung wird ein wohlkalkuliertes autobiografisches Bekenntnis und dem unkalkulierbaren »Zufall« ein konsequent arrangiertes, geplantes Publikationsereignis gegenübergestellt. Das einstmals skizzierte Schreckensszenario wird zum Marketingclou. Deutlich wird mit dem gewählten Tagebucheintrag, dass der Arzt Schnitzler eine Rolle, figural perspektiviert, eine Mogelpackung darstellt, während die schriftstellerische, »innere Berufung« sein »Wesen« ausmache (JiW, 187-190). Mit der Autobiografie wird das Doppelleben als dilemmatisch und entscheidensbedürftig vorgestellt. Diese Doppelexistenz kommt einem permanenten Rollenspiel gleich und lässt die Profession zur Passion werden. Eine Unentschiedenheit stellt durchaus eine Zumutung dar,125 die jedoch werkkonstitutives Potenzial bietet. Hervorzuheben ist, dass die prospektive Selbsterkenntnis mit der Wendung »auf den Grund kommen« bestimmt wird. Der Ausdruck »Grund« bildet ergänzend mit den Ausdrücken »Wurzel meines Wesens«, »Grund meines Wesens« und »innere Berufung« eine semantische Iso topie. Ausschließlich der Ausdruck »innere Berufung« gehört der Erzählerrede an (JiW, 187-190), folglich wird die poetische Berufung retrospektiv als angelegter, bestimmender Wesenskern der Autorfigur präsentiert. Die Berufsentscheidung wird punktuell mithilfe eines biologistischen Erklärungsmodells externalisiert und der Berufungsmythos eingeholt. Mit dem vorgestellten Entscheidensauftakt lässt die autobiografische Figur eine neue Zeitrechnung beginnen (»seit diesen Tagen« [JiW, 190]). Es wird eine krisenfeste, dennoch entscheidensunfähige Autorfigur entworfen, wenn abschließend die topische Navigationsmetaphorik auf das Papier gesetzt wird, um den Lebensverlauf als turbulent sowie als erzählenswert zu stilisieren.126 Diese erinnert an »Ephemeriden«, zu dieser »Vorform des Tage125 Stollberg-Rilinger erläutert in ihrer Einleitung den Zumutungscharakter, den ein Entscheidensprozess mit sich bringe (vgl. Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 12). 126 Blumenberg bestimmt »zwei Voraussetzungen« für »die Bedeutungslast der Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch: einmal das Meer als naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen und zum anderen seine Dämonisierung als Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit«. Besonders die zweite Voraussetzung eignet sich dafür, den eigenen Werdegang auszuschmücken und eine Lektüreunterbrechung prophylaktisch zu verhindern. Zur Wirkungsmacht einer Katastrophe auf potenzielle ›Zuschauer‹
427
v i . a rt h u r sch n i t zler
buches« legt Kamzelak dar, dass in ebendiesen »Aufzeichnungen über Sternenkonstellationen […] bzw. aus den Bahnen vorberechnete Positionen« verzeichnet worden seien, sodass diese Notizen »für die Navigation auf See verwendet werden [konnten]«.127 Dieser Kontext erweist sich als hilfreich, weil Schnitzler mithilfe seiner diaristischen Tätigkeit ein entscheidenskonstitutives Gefühl wahrnimmt, das ihn »spüre[n]« lässt, »nicht auf der richtigen Bahn« zu sein (JiW, 189). Des Weiteren ist es der archivarische, autobiografische und kuratorische Umgang mit allen diaristischen Notizen, der es möglich macht, einen lebenslauf- und gleichermaßen werkkonstitutiven Entscheidensprozess zu rekonstruieren. Es ist wiederum dieser, der die »Fahrt über dunkle Lebensfluten« bestimmt und letztlich zur biografischen Konstante, wenn nicht sogar zum monumentalen Markenzeichen hypostasiert (JiW, 190). Inwiefern mit dem autobiografischen Projekt an einem kanonfähigen, archivwürdigen Lebenswerk gefeilt wird, zeigt sich, wenn Schnitzlers testamentarische Bestimmungen berücksichtigt werden. Diese verdeutlichen, dass er bereits zu Lebzeiten eine testierte Werkbiografie vorbereitete.
VI.3 Testierte Werkbiografie Präventive Publikationspraktiken Auch für Schnitzlers autobiografisches Projekt sind die testamentarischen Bestimmungen zentral, denn diese verdeutlichen den konstitutiven Zusammenhang zwischen Autobiografie, Nachlass und Werk.128 Schnitzler erläutert Blumenberg: »Zwar ist er nicht in das Abenteuer selbst verstrickt, wohl aber der Anziehung von Untergängen und Sensationen hilflos ausgeliefert. Seine Unbetroffenheit ist nicht die der Anschauung, sondern einer brennenden Neugierde« (Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, S. 39 f.). Es gilt, diese für das autobiografische Projekt aufzubewahren und damit für den zukünftigen Nachlass zu sichern. 127 Kamzelak, Einleitung, S. 11. 128 Mit dem Ausdruck ›Werkbiografie‹ bezeichne ich in dieser Studie die nachlassstrategische sowie -bewusste Verknüpfung von Autobiografie, Nachlass und Werk. In allen hier vorgestellten Fallbeispielen wird der prospektive Nachlass als konstitutiver Bestandteil der bereits edierten Texte und mithilfe der Autobiografie als weiterführender fiktionaler und faktualer Forschungskontext präsentiert. Bemerkenswert ist, dass die Autobiografie mithilfe unzuverlässiger Kassations- und zuverlässiger Archivierungssequenzen zur vermittelnden Instanz zwischen Nachlass und Werk wird. Kassationserzählungen erweisen sich insofern als unzuverlässig, als die kassierten Manuskripte bis heute archiviert sind. Ebendiese Erzählungen
428
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
perspektiviert ironisch die autobiografischen Kassations- und Archivierungssequenzen. Beinah schelmenhaft gibt er exklusive Schlüsselmomente preis, die unmittelbar relativiert und punktuell entkräftet werden, sodass die praktizierte professionalisierte Dichterinszenierung als nachruhm orientierte Vermarktungsstrategie ostentativ ausgestellt wird.129 Signifikant zeigt sich dies, wenn der Autobiograf das Empfehlungsschreiben präsentiert, das sein Vater bei Sonnenthal in Auftrag gegeben habe. Nachdem er dieses berufsentscheidende Manuskript zitiert und die werktätige Dramenproduktion seiner autobiografischen Figur einholt, die ebendieser postalische Negativbescheid ausgelöst habe, legt er dem Publikum einen Archivhinweis vor, mit dem er zugleich ein Entschlüsselungsmoment feilbietet: »Und wollte man sich mit literarhistorischen Späßchen vergnügen, so könnte man sowohl in den dramatischen als novellistischen Fragmenten, die von jenem ›Modernen Jugendleben‹ noch übrig sind, immerhin gewisse Anatol’sche Züge vorgebildet finden« (JiW, 135). Indem das schlüssel literarische Element kurzum als fakultatives ›literarhistorisches Späßchen‹ marginalisiert wird, lässt der Autobiograf seine Erzählerfigur als zuverlässig und gleichermaßen unzuverlässig auftreten, Fakt und Fiktion werden nunmehr als ›gemischtes Doppel‹ dargeboten.130 Vollends erkennbar wird dies, den bevorzugt anhand lebenslauf- und werkkonstitutiver Entscheidensprozesse dargeboten, sodass Leben und Werk sukzessiv als symbiotische Konstellation ausgestellt werden können. Für eine werkbiografische Ausrichtung des autobiografischen Projekts sind zudem die (1) Ausgabengestaltung, (2) Zitate aus bislang unveröffentlichten Manuskripten, (3) Sperrfristen und (4) testierte Editionspläne, -projekte und -termine zu berücksichtigen. Ergänzt werden muss des Weiteren, dass häufig das autobiografische Projekt mit der ersten Gesamtausgabe und mit diesen beiden die testamentarischen Bestimmungen angelegt werden; es handelt sich um verknüpfte Parallelprojekte. Vgl. zu Werkpraktiken exemplarisch: Kater, Das gesperrte ›Werk‹?; Martus, Werkpolitik. Vgl. Schnitzler, Tagebuch 1931, S. 122 f. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBX angegeben. 129 Zukünftig als Protagonist in Literaturgeschichten aufzutreten, bildet die teleologische Perspektive für die werkbiografisch ausgerichtete Autobiografie: »Aber mein Schaffen ist nun einmal das wesentlichste Elemente meines Daseins und wenn auch die Geschichte mancher meiner Werke nicht in die Literaturgeschichte gehören mag, zur Geschichte meines Lebens gehört sie gewiß, und darauf kommt es hier an« (JiW, 319; vgl. auch: JiW, 136, 258, 279). Als literaturgeschichtlich relevant stellt Schnitzler deshalb auch konsequent seine innovativen literarischen Leistungen vor und inszeniert sich dabei als übersehenen Vorreiter: »da [er], ehe Ibsen in Deutschland bekannt geworden war, das Problem der Belastung in rationalistischromantischer Weise« in einer Novelle entwickelt habe (JiW, 210). 130 Ebendieser Status kommt auch dem archivierten Brief zu, den Sonnenthal einst an Schnitzler schrieb. Deutlich wird die Konnexion zwischen Fakt und Fiktion sowie zwischen Autobiografie und Autofiktion auch in Tagebuchnotizen, die während seiner autobiografischen Arbeit entstehen; am 28. Januar 1919 vermerkt
429
v i . a rt h u r sch n i t zler
wenn Schnitzler das angebotene »literarhistorische Späßchen« um eine dezisionale Kassations- und Archivierungssequenz erweitert,131 die fortan alle erhaltenen Manuskripte zu archivwürdigen Relikten erhebt:132 Blickt man in vorgerückten Jahren auf sein Dasein zurück, so scheinen sich, wie Kapitel eines Romans, mit kunstgerechter Absicht voneinander geschieden, die einzelnen Abschnitte aneinanderzureihen. Aber kaum an einem anderen Punkt vermag ich diesen Scheidestrich mit solcher Entschiedenheit zu ziehen, als im Sommer des Jahres 1882, in dem ich mein zwanzigstes Lebensjahr vollendete, mein erstes Rigorosum bestand, mir meine Einjährig-Freiwilligenuniform bestellte und meine alten Tage bücher vernichtete, dies allerdings nicht, ohne mir vorher die wesentSchnitzler: »Nm. am Nachklang. […] Lese […] Dilthey (Erlebnis und Dichtung)«. Nur zwei Tage darauf geht er auf die benannten Gattungs- und Genre beziehungen ein: »Tgb. 93 weiter; wie lebendig wird alles wieder. Seltsam, wenn ich solche Dinge lese […] – Raum und Zeit werden Fiction. Werden?– ›Gefühl des unaufhaltsamen Alterns–‹ wann?– Vor – 26 Jahren!«. Um schließlich am 8. Februar 1919 festzuhalten: »Nm. Tgb. 95; mit großem Interesse. Zeitvertrödelung. Wer weiß?– Ob die Zeit von 89 an statt autobiogr. nicht lieber im Roman (Theaterroman) bearbeitet werden sollte? Im übrigen;– wozu hätte man seine Vergangenheit, wenn man nicht manchmal darin leben könnte!–« (TBVI, 224, 225, 229). 131 Wie auch bei Ebner-Eschenbach dient die Kassationserzählung einer Inszenierung. Es ist bezeichnend, dass Kassationsereignisse meist fingiert und Archivierungsprozesse nicht fingiert sind, sodass der Erhalt fokussiert wird und die Nachwelt motiviert wird, sich um diesen zu bemühen. Welzig hält zur hier vorgestellten Kassationserzählung fest: »Das Tagebuch selbst stützt diese Grenz-Hypothese nicht. Weder die Blattzählung noch die Schrift noch das handfeste Indiz, der ausdrückliche Hinweis auf die von der Überschrift des Datums abweichende Schreibzeit, lassen eine solche scharfe Zensur im Sommer 1882 erkennen« (Welzig, Zur Her ausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 5). 132 Markus Fischer stellt fest, dass Schnitzler in seine Tagebüchern wiederholt Kassationserzählungen eingefügt habe und sein diaristisches Lebenswerk kompositorisch organisiert sei (Fischer, »Mein Tagebuch enthält fast nur absolut persönliches«, S. 26). Ausschlaggebend ist für diesen Befund sicherlich Welzigs Editionsbericht, denn dort erläutert er Schnitzlers unaufhörliche kompositorische Tagebuchtätigkeit (Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 4, 26; vgl. auch: Plener, Tagebücher, S. 280). Perlmann ist zu widersprechen, wenn sie behauptet: »Das Tagebuch gibt im Kontrast zur Autobiographie das Rohmaterial des Lebens ungeordnet und unbearbeitet preis« (Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 6). Vgl. zum Verhältnis zwischen ›Fakt und Fiktion‹ in diaristischen Tage büchern exemplarisch: Wuthenow, Europäische Tagebücher, S. 10 f. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass Schnitzler für sein autobiografisches Projekt lediglich exakte Tagebuchabschriften verwendet, um diese in den Erzähltext einzufügen.
430
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
lichsten Stellen daraus sorgfältig auszuschreiben (JiW, 136; vgl. TBV, 329).133 In dieser Passage wird der retrospektiv betrachtete Lebenslauf als episodenhaftes, fragmentarisches, romanhaftes Kunstwerk und die Autobiografie als Werkbiografie deklariert. Diese symbiotische Beziehung zwischen Leben und Werk wird konsequent innerhalb der gesamten Autodiegese verstetigt, etwa wenn der Erzähler Lebensereignisse mit literaturwissenschaftlichen Kategorien ordnet, Ereignissen werkproduktive Kraft zuschreibt, Texte als Schlüsselerzählungen deklariert oder Entscheidensprozesse anhand ausgewählter Archivalien mithilfe der bricolage präsentiert (vgl. JiW, 25, 55, 125, 144, 172 f., 224, 235, 242, 247 f., 252, 258, 267 f., 271, 302-304).134 Jedoch entsteht die benannte Beziehung überhaupt erst durch den rückwärts gewandten Blick. Ebendieser ermöglicht Schnitzler, das erzählerische Potenzial seiner Tagebücher, Werkentwürfe und insgesamt seiner Manuskriptsammlung zu erkennen und zu betiteln, weshalb der autobiografische Blick auch stets ein in die Zukunft gerichteter ist, mit dem die prospektive Nachwelt fokussiert und Archivalien zu Entscheidungsressourcen werden.135 Ergänzend kommt hinzu, dass Schnitzler wiederholt den Ausdruck ›Epoche‹ für einzelne Lebensabschnitte innerhalb der Autodiegese bemüht (vgl. JiW, 47, 70, 94, 180, 157, 258, 305, 319; vgl. TBV, 329; vgl. JiW, 260).136 Da
133 Insgesamt charakterisiert Schnitzler seine Autorfigur als gewissenhaften Archivar (vgl. JiW, 70). Insoweit wiegen unvorhergesehene Kassationen besonders schwer, sodass sich diese Widerfahrnisse für eine Zuspitzung und das eignen, was Raulff unter der Wendung »Trauma eines Verlusts« summiert (Raulff, Sie nehmen sich gern von den Lebendigen, S. 230; vgl. JiW, 73 f.). 134 Deutlich wird diese symbiotische und konstitutive Beziehung auch durch ein Typoskript, das aktuell in Marbach archiviert wird. Schnitzler fixiert in diesem seine Lebensstationen und Werkprojekte konzentriert, sodass er im reduzierten Format eine Auto- und Werkbiografie konzipiert. Zentral für den hier vor gestellten Themenkomplex ist, dass Schnitzler explizit sein lebenslaufbestimmendes Doppelleben festhält: »Aerztl. Praxis noch durch lange Zeit. Eigentlich nie offiziell aufgegeben.« (Schnitzler, »Autobiographisches Allerlei«, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes, Autobiographisches, HS.1985.0001.00201). Aussagekräftig ist gleichfalls eine Tagebuchnotiz vom 31. Mai 1886: »Im November oder December bin ich ›gedruckt‹ worden« (TBI, 214; vgl. ebd., 237). 135 Dies gilt besonders, nachdem innerhalb der Autodiegese wiederholt das Tagebuch als präferiertes Medium vorgestellt wird, da es sich besonders dazu eignet, »Gerichtstag« über das Leben oder etwaige Krisen zu halten und diese zugleich zu dokumentieren (JiW, 124; vgl. auch: ebd., 287). 136 Ebenso verfährt Goethe, wenn er sein autobiografisches Vorgehen festhält (vgl.
431
v i . a rt h u r sch n i t zler
er zudem mit seinem autobiografischen Projekt dem prospektiven Lesepublikum einen neuen Dichtertypus präsentiert, der geradewegs die Wiener Moderne personifiziert und seine Manuskripte kontinuierlich als Dokumente dieser Krisenzeit stilisiert, legt er mit seinem autobiografischen Projekt exemplarisch eine ›edierte Epoche‹ vor. Etymologisch stehe der Ausdruck ›Epoche‹ für den »Zeitpunkt eines Ereignisses« sowie die Tätigkeitsfelder »›an-, festhalten, verweilen‹«. Überdies beschreibt er laut Manfred Riedel »die Zurückhaltung […] jeder definitiven Entscheidung«, zudem diene er gleichermaßen als »Zeitrechnungsbegriff[ ]«.137 Unter dem Ausdruck ›edierte Epoche‹ fasse ich hier jene epochenkonstitutiven Prozesse, die zutage treten, wenn mit autobiografischen Editionsprojekten bislang zurückgehaltene, unberücksichtigte oder vergessene Ereignisse erstmalig veröffentlicht werden, um deren kulturhistorisches Potenzial vorzustellen, das wiederum Schriftstellerinnen, Herausgeber und Rezipientinnen für eine retro- sowie prospektive Epochengenese, somit signifikante Zeitzäsuren nutzen. Lewald-Stahr, Heyse und auch Schnitzler präsentieren ausgewählte Archivalien in ihren autobiografischen Projekten als ›epochemachende‹ Artefakte, indem sie mit diesen lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidensprozesse, erzählenswerte Krisen versichern. Für diese sind Kassationserzählungen nahezu obligatorisch, denn erst sie vermögen es, eine Verlustangst und ein Archivierungsbestreben auszulösen. Schnitzler vergisst als gewissenhafter Archivar,138 der wiederholt »in alten Manuscripten [ ]kramt«,139 keinesfalls,140 seinen Autobiographischen NotiGoethe, Lebensbekenntnisse im Auszug, FA, I. Abt., Bd. 17, S. 30; vgl. auch: ebd., S. 369; 709 f.). 137 Seebold, Epoche; Riedel, Epoche, S. 596 f. Vgl. zur Epochengenese und damit verbundenen Inszenierungsstrategien exemplarisch: Riedl, Epochenbilder – Künstlertypologien, S. 14-19. Vgl zum Zusammenhang zwischen ›Epoche‹ und ›Krise‹: Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹, S. 208; Lukas, Das Selbst und das Fremde. 138 Vgl. Chartier, Die Hand des Autors, S. 507. 139 TBVII, 45. Vgl. TBI, 58, 174, 252, 376; TBV, 210, 259, 277 f.; vgl. JiW, 256, 258, 296, 304). 140 Als solchen stilisiert ihn auch seine spätere Biografin: »[D]urch die[ ] [Auto biographie] wird Schnitzler, der immer schon gelegentlich (etwa für die Arbeit am ›Weg ins Freie‹) gern alte Briefe und Tagebücher gelesen hat, für sich selbst endgültig zu einer Person von sozusagen historischem Interesse. Auf der Suche nach sich selbst kramt er in Papieren, stöbert seine Jugendwerke auf und vermag an den meisten kein Talent zu entdecken – am ehesten noch dort, wo sie Humor zeigen. Schnitzler vollendet diese Autobiographie nicht, er kommt – obwohl sie dann, aus dem Nachlaß unter dem Titel ›Jugend in Wien‹ veröffentlicht, ein umfangreiches Buch ergibt – nicht über seine Jugendjahre hinaus. Der Dichter ist in ihm stärker als der Chronist – vielleicht auch deshalb, weil da das Wissen ist,
432
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
zen eine solche beizugeben. Hierbei wird das »[O]rdnen von Briefen, Schriften, Ausschnitten« erneut der eigenen »Pedanterie« und einem »scheinbar harmlose[n]«, jedoch werktätigen »Trieb« zugeschrieben. Relevant für die werkbiografische Dimension der Autobiografie ist, dass vergangene Kassationen erstmals als bibliophiler, korrektiver Akt offensichtlich werden: »[I]ch [habe] gewisse Tagebücher aus meiner Gymnasialzeit aus keinem anderen Grunde vertilgt […], als weil sie dem Format nach durchaus nicht zu den Blättern passen wollten, die ich von einem gewissen Moment an für alle meine Aufzeichnungen gewählt habe« (JiW, 318).141 Neben dieser Kassationsnotiz liefert Schnitzler noch zwei autobiografische ›Wahrheitskonzepte‹ nach, ferner verortet er ebendort seine ausgeprägte »Pedanterie«: Innerhalb der Geständnisse, die man in seinen Denkwürdigkeiten zu machen pflegt, gibt es aber zweierlei Arten, wahr zu sein. Die eine: was man mitteilt völlig rückhaltlos und präzis auszusprechen; die andere: überhaupt alles mitzuteilen, dessen man sich zu erinnern vermag. Es ist fraglich, ob dies letztere überhaupt möglich ist. Ferner, ob es nützlich, und endlich, ob eine solche rückhaltlose Aufrichtigkeit nicht eigentlich nur eine neue Art von Eitelkeit vorzustellen anfängt. Keineswegs gehört ein besonderer Mut dazu, alle häßlichen Wallungen oder bösen Taten niederzuschreiben, deren man sich schuldig weiß, wenn man überzeugt ist, daß vor dem Tode des Schreibers keiner von diesen Aufzeichnungen einer Nachwelt, die sich dafür interessiert, schließlich die Tagebücher zu hinterlassen. Die Autobiographie, wie sie uns heute vorliegt, ist ein Produkt intensiver Tagebuchlektüre« (vgl. Wagner, Arthur Schnitzler, S. 277; vgl. ebd., S. 24). Vgl. hierzu auch: Riedmann, »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«, S. 6; Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 309. Bedeutsam sind Kristina Finks Ausführungen zu Arthur Schnitzlers Nachlass, da diese einmal mehr Schnitzlers akribische, bibliophile Nachlassarbeit belegen: »Arthur Schnitzler verwahrte das Material für seinen literarischen Nachlass größtenteils in etwa 19 × 23 cm kleinen, zumeist beschrifteten Mappen, die nicht nummeriert waren, das Format der Mappe passte also zu dem von ihm hauptsächlich verwendeten Papierformat. Durch sein Tagebuch ist belegt, dass er ein besonderes Ordnungssystem hatte, das er auch Frieda Pollak erklärte, als er sie als seine Sekretärin engagierte« (Kristina Fink, Arthur Schnitzlers Nachlass, https://www.arthur-schnitzler.de/biobibliographika/nachlass geschichte/ [zuletzt geprüft: 30.1.2022]; vgl. Friedrich, Schnitzlers Nachlass; Neumann und Müller, Gestalt und Geschichte des Nachlasses; Schnitzler, Anhang, S. 149). 141 In dieser Passage gerät eine einheitliche Werkbiografie bereits unter ästhetischen Kriterien in den Blick. Plachta stellt prägnant Kafkas bibliophile, professiona lisierte Mediengestaltung vor. Mit dieser können mitunter seine Kassationswünsche erklärt werden (vgl. Plachta, Mehr als Buchgestaltung, S. 139-141).
433
v i . a rt h u r sch n i t zler
Kenntnis erhalten wird. Ich frage mich auch, ob mein Wahrheitsbedürfnis nicht zum Teil aus einer Eigenschaft entspringt, die im pathologischen Gefühl der Zwangsvorstellungen wurzeln könnte, in der Neigung zu einer gewissen äußerlichen Pedanterie, die sich im Laufe der Jahre vielleicht als ein Corrigens innerer Schlamperei immer entschiedener entwickelt hat (JiW, 318). Der Mut eines vollumfassenden, schonungslosen Bekenntnisses wird entkräftet und indirekt Rousseaus bereits kanonisierte autodiegetische Ex position respektive die ebendort inszenierte bekenntnishafte Errungenschaft desavouiert.142 Schnitzler beschreibt sein autobiografisches Projekt dennoch als ein Ergebnis »rückhaltlose[r] Aufrichtigkeit« (JiW, 318), indem er für dieses sowie für seine Tagebücher eine Sperrfrist testiert und kurzerhand eine postume Parallellektüre offeriert. Erinnerung bindet er erklärtermaßen an einen werktätigen Umgang mit allen verfügbaren Archivalien und gerade nicht an eine spontane, mentale Gedächtnisleistung. Es ist zentral, dass Schnitzler das mühevoll aufgebaute Image eines faulen Filous mühevoll wieder dekonstruiert, schließlich eine um Akkuratesse bemühte Autor figur für sein Monument favorisiert und gleichfalls genre- sowie selbst kritisch topische Dichterposen kenntlich macht sowie diese einem prospektiven Publikum feilbietet. Für eine überprüfbare »Aufrichtigkeit« wird das konstitutive Verhältnis zwischen Autobiografie (JiW, 318), Nachlass und Werk kontinuierlich mittels expliziter Erzählerkommentare erläutert. In einem metadiegetischen Erzählerkommentar werden Archivalien als Puzzleteile vorgestellt, die einmal zusammengefügt nicht schlicht die Autorfigur plastisch werden lassen, sondern hermeneutisch den Werdegang ebendieser erfahrbar machen: Liegt das Produkt eines gebildeten und geschmackvollen Menschen vor, so gilt es, zur Lösung des Zweifels, oft von der Einzelleistung bis zu den Wurzeln der Persönlichkeit hinunterzusteigen, was nicht jedermanns Sache ist und wo auch der Berufene oftmals sein Urteil nicht mit Gründen, sondern nur aus seinem inneren Gefühl heraus rechtfertigen vermag. Einem abgeschlossenen Lebenswerk gegenüber ist die Entscheidung freilich nicht schwer (JiW, 72).143 142 Vgl. hierzu die Exposition in Les Confessions: Rousseau, Les Confessions, S. 67. 143 Erwähnenswert ist auch folgender Erzählerkommentar, mit dem Schnitzler seine Autorfigur als gewissenhaften Archivar charakterisiert: »Auch als literarischer Berater und Kritiker wurde […] [Adolf Weizmann] mir bald unentbehrlich, und noch bewahre ich ein Manuskript des ›Tarquinius Superbus, erster Teil‹ auf, in
434
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
In der hier zitierten Passage fungieren die Ausdrücke »Wurzeln«, »Be rufene«, »innere[s] Gefühl«, »Lebenswerk« und letztlich »Entscheidung« als isotopisch organisierte, sowohl komparatistische als auch kompositorische Bindeglieder. Alle genannten Ausdrücke lassen sich in den exklusiven Entscheidensprozessen finden, die mithilfe der bricolage dargeboten werden, um prophylaktisch einen archivarischen sowie kanonischen Fort bestand vorzubereiten. Grundlegend ist für diese Relation ebenso eine wohlkalkulierte Dichterinszenierung, die sich innerhalb einer unkalkulierbaren Nachwelt bewähren kann, denn an diese ist das autobiografische Projekt adressiert. Folgt man einer Tagebuchnotiz vom 25. Dezember 1917, die während der Arbeit am vierten Buch entstanden ist, kann jene Notiz gefunden werden, die exakt zur Kapiteleinheit angelegt wurde: »Der Gedanke an die Nachwelt beschäftigt mich stark – doch ohne jede Eitelkeit. Als müßt ich zu Freunden reden, die noch nicht geboren sind – Noch immer weiß keine Seele von dieser Arbeit« (TBVI, 101).144 Während das autobiografische Projekt zu Lebzeiten geheim ist, sollen ausdrücklich zukünftige »Seele[n]« vom geordneten Nachlass wissen (TBVI, 101), der punktuell autobiografisch aufbereitet ist.145 Mit der synoptisch organisierdas er recht kluge, mit klassischen Beispielen belegte Bemerkungen eingetragen hatte« (JiW, 67; vgl. hierzu auch: ebd., 70, 127, 135). 144 Riedmann zeigt anhand des Briefwechsels zwischen Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann, dass Schnitzler bereits bei seinen Briefen an die Nachwelt gedacht habe (vgl. Riedmann, »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«, S. 11; vgl. auch: ebd., S. 5; vgl. hierzu auch: Jürgensen, Briefe, S. 285; Schöttker, Adressat: Nachwelt; Braunwarth, Arthur Schnitzler, S. 345). Dies stellt auch Perlmann fest: »Wenngleich er beständig um die Dokumentation seiner Biographie bemüht war, gelang es ihm nicht immer, die eigenen Briefe nach dem Tode der jeweiligen Adressaten durch Übertragung oder Abschrift in seinen Nachlaß zu bringen« (Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 7). Jacques Le Rider beobachtet, dass Schnitzler sich gerade während einer Lebenskrise bei seinen Tagebuchnotizen um eine »Lesbarkeit für die Nachwelt« bemüht, denn er »wechselte von der (oft so schwer zu entziffernden!) deutschen Kurrentschrift in blauer Tinte zur Lateinschrift in schwarzem Bleistift« (Le Rider, Arthur Schnitzlers Identitätskrise während des Ersten Weltkrieges, S. 164; vgl. auch: Fliedl, Arthur Schnitzler. Schrift und Schrei ben, S. 141). 145 Als ›begeisterte Seele‹ erweist sich Herbert Lederer, der die unverhoffte Ver öffentlichung als kulturhistorisch bedeutsames Ereignis beschreibt: »So beginnt Arthur Schnitzlers Autobiographie, deren Existenz bis vor kurzem so gut wie völlig unbekannt war. Ausser der Originalhandschrift, die stellenweise fast un leserlich ist, existieren nur zwei maschinengeschriebene Exemplare von ungefähr 400 Seiten. Nur wenige Schnitzlerforscher wussten überhaupt von ihrer Existenz, und nur eine Handvoll hatten die Manuskripte je zu Gesicht bekommen. Ich selbst bin Heinrich Schnitzler zu grossem Dank verpflichtet, dass er mir vor einigen Jahren gestattete, einen der Texte, die sich in seinem Privatbesitz befinden, zu lesen
435
v i . a rt h u r sch n i t zler
ten bricolage kann Schnitzler ausgewählte Passagen aus dem Privatarchiv als exklusive Erstpublikationen typografisch markieren und auf den autobiografischen, archivarischen Werkkontext verweisen. Anders formuliert: »Der Gedanke an die Nachwelt« motiviert die archivarische und gleichfalls autobiografische Arbeit für ein zukünftiges Lesepublikum, dem womöglich potenzielle Biografen und Forscherinnen angehören und die wiederum bei erfolgreicher Überlieferung, unterstützt durch das autobiografische Projekt, eine einstmals lose Blattsammlung – archiviert und postum gebündelt – in einem institutionalisierten Archiv finden mögen.146 Die mithilfe der bricolage vorgelegte Synopse macht kleinformatig Sandra Richters Beobachtung nachvollziehbar: [D]as Archiv [ist] ein Brennglas der Vergleichzeitigung. Hier wird Vergangenheit gegenwärtig, und die Gegenwart historisiert sich: Autoren geben ihre Nachlässe nicht deshalb ins Archiv, weil sie hier ihre letzte Ruhe finden wollen. Vielmehr hoffen sie auf das, was einst anschaulich Nachleben hieß und heute kühl Aktualisierung getauft wird.147
und Stellen daraus zu zitieren. In der Beilage Literatur und Kunst der Neuen Züricher Zeitung vom 9. Januar 1966 erschienen nun zwei Auszüge dieses Dokumentes zum ersten Mal im Druck. […] Umso mehr ist es zu begrüssen, dass Heinrich Schnitzler das Werk seines Vaters nun für die Veröffentlichung freigegeben hat, und dass es demnächst im S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) erscheinen soll« (Lederer, Arthur Schnitzlers Autobiographie, S. 4, 6). Noch im Jahr 1969 harren Neumann und Müller der Veröffentlichung (vgl. Neumann und Müller, Gestalt und Geschichte des Nachlasses, S. 14). 146 Perlmann resümiert Schnitzlers archivarische Tätigkeit bündig: »Noch zu Lebzeiten hat Schnitzler seinen Nachlaß selbst in 270 Mappen geordnet und in verschiedenen Bestimmungen testamentarische festgelegt, wann, in welcher Form und von wem dieser nach seinem Tode veröffentlicht werden darf. […] Der Nachlaß wurde zum überwiegenden Teil in eigens dafür angefertigten Schränken in seinem Arbeitszimmer aufgehoben, von wo er 1938 nach dem sogenannten Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich von dem damaligen Untermieter, Eric C. Blackall, in Verbindung mit der britischen diplomatischen Vertretung in Wien nach Cambridge gerettet wurde. Nur wenige Papiere, vor allem Originale der Tagebücher, blieben in Wien und wurden später von Olga und Heinrich Schnitzler nach Großbritannien gebracht, von wo aus sie diese persönlichen P apiere mit ins Exil in die Vereinigten Staaten nahmen« (Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 1). 147 Richter, Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv, S. 510. Eine ähnlich symbiotische Beziehung zwischen Leben und Werk vermerkt Welzig: »Je älter er wird, um so größer wird Schnitzlers Anstrengung, der Flüchtigkeit des Lebens die Festigkeit des Geschriebenen entgegenzustellen. Die Frage nach dem eigenen Überleben wird eine Frage nach dem Schicksal des Tagebuchs« (Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 8).
436
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
Diese auch autobiografiekonstitutive Hoffnung teilen naturgemäß gleichfalls Autorinnen, obschon deren Hoffnung häufiger enttäuscht wurde und erst mit neuen Sammlungs-, Forschungs- und Kanonisierungskonzepten sowie gesellschaftspolitischen Reformen erfüllt werden konnte. Auch Richter skizziert eine symbiotische Beziehung zwischen Leben und Werk, wenn sie betont, dass Schriftsteller ein Archiv nicht für »ihre letzte Ruhe«, sondern für ein fortwährendes Nachleben wählen.148 Eine rein philologisch ausgerichtete autobiografische Studie, in der Autobiografen ihre Autorfigur als gewissenhaften Archivar vorstellen, mag jedoch Gefahr laufen, eine potenzielle Leserschaft vorzeitig zu dezimieren, zumal erinnerungsbeständig besonders außergewöhnliche Autorfiguren scheinen, die zugleich als exemplarischer Dichtertypus taugen. Indem mit erstmalig publizierten Archivalien punktuell ein limitierter Einblick in lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidensprozesse gewährt wird, schürt der Autobiograf beziehungsweise die Autobiografin die Spannung des Lesepublikums auf all das, was sich im Nachlass mutmaßlich befinden mag.149 Indem der zukünftige Nachlass bevorzugt anhand lebenslauf- und werkkonstitutiver Entscheidensprozesse erläutert wird, kann die jeweilige Autorfigur als entscheidungserprobt vorgestellt werden, die weder Krisen 148 Richter, Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv, S. 510. Ergänzt werden sollte hier, dass Schnitzler in seinem Tagebuch am 23. Januar 1916 eine Begegnung mit Stefan Zweig festhält, bei der Zweig ihm ein »dringendes Begehren nach [s]einer Autob.« bekundet. Schnitzler vermerkt des Weiteren: »Wie er viel von mir schon als historisch empfindet, insbesondere durch die Rolle der Ehrenfragen, des Antisemitismus. […] – Meine Stellung als ›Ahnherr‹ der jüdischen oesterr. Literaten« (TBV, 259 f.). Etwa ein Jahr darauf notiert er, den historischen Wert seiner Autorfigur beklagend: »Heute (in einem Feuilleton der Zeit, über Graesler) werd ich – zum ersten Mal – der ›alte Meister‹ genannt. Ojeh.–« (TBVI, 82). Wissenswert ist, dass Zweig nicht ausschließlich hofft, einmal Schnitzlers Auto biografie lesen zu können, sondern auch die kulturhistorische Dimension der Tagebücher erkennt, die er in seinem Nekrolog für Schnitzler einer prospektiven Nachwelt anempfiehlt: »[V]ielleicht wird erst eine spätere Zeit, der er seine durch fünfzig Jahre unerbittlich fortgesetzten Tagebücher hinterlassen hat, einsehen, wie ehrlich und streng dieser große Psychologe jedes Wort und jede Tat seines eigenen Lebens überwacht hat. Unserer Generation ist dieses Dokument nicht mehr zugedacht, aber wir hatten dafür das Beispiel seines Lebens noch« (Zweig, Persönliche Erinnerungen an Arthur Schnitzler). 149 Peter-André Alt hält zum Ausdruck ›Spannung‹ schlüssig für den hier vorgestellten Kontext hilfreich fest: »Spannung bildet die beste Garantie für Aufmerksamkeit, und sie sichert einem Buch, was es braucht, um zu existieren: Lektüre. Spannung resultiert aus dem Ausblick auf etwas, das bevorsteht, durch die nur unvollständige Schilderung einer vergangenen Begebenheit oder durch ein Szenario, in dem die Verhältnisse selbst unter Druck geraten sind« (Alt, Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten, S. 140).
437
v i . a rt h u r sch n i t zler
noch Brüche in der eigenen Lebenserzählung scheut und ›tatsächlich‹ exklusive, erzählenswerte Bekenntnisse preisgibt. Die Präsentation eines archivwürdigen Nachlasses anhand autobiografiefähiger Entscheidungen ermöglicht, zeitgleich professionalisierte philologische Expertisen und außergewöhnliche Lebensereignisse zu veranschaulichen sowie im Falle Schnitzlers einen virulenten, sich stetig radikalisierenden Antisemitismus zu dokumentieren, der maßgeblich die Berufs- sowie Karrieremöglichkeiten reglementiert (vgl. hierzu JiW, 93, 131, 142, 152-155, 170, 205, 208, 246, 261-263, 266, 322; vgl. TBV, 210, 241).150 Mit dieser Konstellation wird in allen hier vorgestellten Fallbeispielen auf postumen Ruhm und eine nachgereichte Dokumentation gesetzt. Die entwicklungsgeschichtliche Genese eines nachhaltigen, neuartigen Dichtertypus führt Schnitzler dementsprechend nicht schlicht vor, sondern integriert die damit einhergehende theatrale Dimension in sein vorgelegtes Autorkonzept, das fortwährend als Charakterstudie funktioniert: [I]ch [habe] allen Grund mich zu fragen, ob an meinen frühesten poetischen Versuchen das Bedürfnis, einen Dichter vorzustellen, kindlicher Nachahmungstrieb und endlich der ermutigende Beifall, auf den ich damals begreiflicherweise immer rechnen konnte, nicht mindestens ebensolchen Anteil hatten als ein eingeborener, dichterischer Drang, an dessen Vorhandensein ich freilich nicht zweifeln darf (JiW, 40).151 Bereits zu Beginn des autobiografischen Projekts thematisiert der Erzähler den schauspielerischen Anteil, der für eine Dichterinszenierung unabdingbar und die wiederum obligatorischer Bestandteil des angestrebten Berufsbilds ist. Alternativlos wird diese Inszenierungspraxis innerhalb der erzählten Welt, indem sie stetig auf einen inhärenten »Drang«, sich »als Dichter auszuweisen«, zurückgeführt wird (JiW, 46). Hierfür legt der Erzähler einen bildhaften Merkmalskatalog ausgewählter Verhaltensweisen vor, die 150 Vgl. hierzu auch: Beier, »Vor allem bin ich ich …«; Le Rider, Arthur Schnitzlers Identitätskrise während des Ersten Weltkrieges; Nehring, »Kulturhistorisch inter essant«, S. 85; Bayerdörfer, Arthur Schnitzler, S. 520 f.; Riedmann, »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«, S. 13 f., 16, 19, 24-87; Fischer, »Mein Tagebuch enthält fast nur absolut persönliches«, S. 27; Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 262; Wagner, Arthur Schnitzler, S. 63; Schnitzler, Brandstätter und Urbach, Arthur Schnitzler, S. 46. 151 Die Rolle wird Realität und das auch in Momenten des Zweifelns: »Kaum weiß ich zu sagen, ob ich selbst mich für berufen hielt, ja, ob ich damals meine gelegentlichen Bemühungen, das Urteil meiner engeren Umwelt oder gar der Öffentlichkeit anzurufen, im Innersten ernst genommen habe; ob ich nicht vielmehr auch hier, halb unbewußt, nur vor mir selbst und den anderen eine Rolle, in diesem Fall die des hoffnungsvollen jungen Dichters, weiterspielte« (JiW, 72).
438
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
den neuen Dichtertypus ikonisch werden lassen. Gleichfalls werden Handlungsverläufe rekapituliert, die wiederum die autobiografische Figur allein deshalb vollzogen habe, weil sie diese dem »Dichterberuf schuldig war« und »als Dichter schuldig zu sein glaubte«, auf eine bestimmte Weise vor zugehen, oder die gemäß einer »Poetenart« zu erbringen gewesen seien (JiW, 60, 63, 82 f., 180). Insgesamt wird die autobiografische Figur mit diesen Verhaltensweisen und Handlungen vorerst als Bonvivant stilisiert, sodass die unumgehbare, existentielle Entscheidungskrise relativ dazu einen besonderen, dezisionalen, bisweilen korrektiven Stellenwert erhalten kann. Augenscheinlich wird dies, wenn der idyllische Tagesverlauf eines Müßiggängers dargeboten wird, der noch krisenfrei durch das moderne Wien flaniert:152 »Allotria[,] […] Theater- und Konzertbesuch, Lektüre, Spazierund Plauderstunden mit Freunden, die eigene Dichterei – alles fügte sich ohne Schwierigkeit in den Lauf des Tages«, »[s]o blieb denn Zeit genug, nicht nur zur Inangriffnahme einiger ernsthaft gemeinter Dramen, zum Billardspiel […], sondern auch […] zu den üblichen Volksgartenpromenaden mit Fännchen« (JiW, 81, 87). Hinzu kommt, dass markante Merkmale konzentriert werden, um einen neuen, zunächst unikalen und zugleich für die Wiener Moderne exemplarischen Dichtertypus zu entwickeln. Eben hierfür schildert der Autobiograf bildhaft seine ehemalige ›Kostümierung‹ und entwirft nahezu en passant ein prägnantes Künstlerporträt, mit dem die »Erfolgsgeschichte des Individuums« medial erweitert sowie unterstrichen wird (vgl. auch JiW, 213, 249; vgl. TBVI, 170 f.):153 »[I]ch in meinem noch ganz knabenhaft zugeschnittenem Anzug, Strohhut und Spazierstöckchen in der Hand«, im »modischen Anzug mit Spazierstöckchen«, einigermaßen künstlerisch […]: – die Haare ziemlich lang, breitkrempiger, sogenannter Rembrandthut, flatternde Krawatte; und wenn auch als Sohn aus bürgerlichem Hause anständig gekleidet, war ich doch keines-
152 Vgl. zum ›Flanieren‹ exemplarisch: Scherer, Übergänge der Wiener Moderne, S. 23-25. Riedl weist nach, dass der konstitutive Zusammenhang zwischen »urbaner Muße« und »Flanerie« bislang ein Forschungsdesiderat darstelle, dies gelte besonders für die chronotopische Dimension. Deutlich zeigt sich, dass auch in Schnitzlers Autobiografie mußevolles Flanieren kein untätiges Streunern repräsentiert, sondern eine moderne schriftstellerische Arbeitsform, für die Riedl mitunter die hilfreiche »paradoxale Wendung[ ] […] ›produktive Unproduktivität‹« anführt (Riedl, Die Muße des Flaneurs, S. 99; vgl. ebd., S. 99-101). 153 Sandra Oster erörtert, wie die neue Porträtfotografie genutzt worden sei, um Erfolg und Zugehörigkeit zu repräsentieren (vgl. Oster, Repräsentation und Erinnerung, S. 158; Oster, Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung).
439
v i . a rt h u r sch n i t zler
wegs das, was man einen netten und soignierten jungen Herren nennen konnte (JiW, 138; vgl. auch: ebd., 130).154 Bevorzugter Aufenthaltsort ist für den Dichter der Wiener Moderne naturgemäß nicht die hermetisch abgeschlossene Schreibklause, sondern: Der neutrale Boden war meist irgendein Kaffeehaus, damals das ›Central‹, wo ich gar viele Stunden mit Zeitungslektüre, Billard, Domino, seltener mit Schachspiel […] hinzubringen pflegte, – die gemäßere Atmosphäre, in der mir leichter und wohler war, war die künstlerische oder was ich mir eben darunter vorstellte, – besonders, wenn ein etwas zigeunerlicher Hauch sie durchwehte (JiW, 85, 95, 99, 138). Die Detailanalyse des ›dichterischen Habitus‹ ist von fotografischer Qualität; so überrascht es kaum, dass Heinrich Schnitzler und Therese Nickl dieser Schilderung eine passgenaue Fotografie für die Publikation beifügen, wohingegen das Manuskript noch ohne diese fotografische Beigabe auskommt. Bemerkenswert ist jedoch, dass Schnitzler ein Medienbewusstsein vorlegt, das bei Lewald-Stahr und Heyse deutlich weniger prominent ausgeprägt war. Als einziger testiert Schnitzler ein medienbewusstes Kodizill am 23. Februar 1931 zu seinen Nachlassbestimmungen: Suzanne Clauser [bleibt] die allein autorisierte Übersetzerin meiner Werke ins Französische […]. Der materielle Erlös aus den französ. Übersetzungen meiner Werke (Zeitungshonorare, Buchhonorare, Aufführungstantiemen, Verfilmungen, Rundfunksendungen u. alle weiteren heute noch nicht zu übersehenden Möglichkeiten) fällt ausschließlich ihr zu.155 Schnitzler berücksichtigt die fortschreitenden medialen Möglichkeiten und sollte mit dieser Prognose Recht behalten. Für diese ist eine nachweltfähige Autorfigur naturgemäß ebenso zentral. 154 Diese beinahe ikonografische Schilderung ist auch in den Autobiographischen Notizen zu finden und kann zum festen Repertoire der organisierten Dichter inszenierung gezählt werden: »Zu Snobismus. Bis in die Universitätsjahre trug ich mich mit einiger nicht ungewollter Nachlässigkeit. Rembrandthut, flatternde Krawatte, lange Haare. Leise Verachtung gegen alles, was man als Eleganz bezeichnete. […] Ehrgeiz, elegant zu werden. Gebe mich im allgemeinen mit der nachlässigen Eleganz zufrieden« (JiW, 320). 155 Schnitzler, »Mein letzter Wille«, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes, Autobiographisches, HS.1985.0001.00203. Inwiefern ein Nachlassbewusstsein mit einem ausgeprägten Medienbewusstsein einhergeht, welche Synergien sich daraus er geben und wann sich ein Medienbewusstsein entwickelt, sind weiterführende Fragen, die in einem Anschlussprojekt untersucht werden müssen.
440
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
Als Flaneur imaginiert sich Schnitzler bereits am Mai 1886 in seinem Tagebuch,156 das er indirekt in seiner Autobiografie zitiert und damit erneut die Scheidewegstruktur seines Lebens kartografiert: Eine bisher völlig ungewohnte Sehnsucht nach Landleben, nach Umherstreifen im Grünen hatte mich überkommen, mehr als je zuvor empfand ich mich als Künstlernatur, und wenn ich mich auch nicht verhehlte, daß Leichtsinn, Unbeständigkeit, Lebesucht, unter der ich keineswegs eine banale Genußsucht verstanden haben wollte […], […] auch den wiederholten Tadel meines Vaters, der mir nicht mit Unrecht Mangel an wissenschaftlichem Ernst vorwarf, minder schmerzlich empfinden ließ. Nach wie vor blieb ich dem Studium dankbar dafür, daß es mir den Blick geschärft und die Anschauung erklärt hatte; – daß ich sie aber als Beruf gewählt, sah ich vor allem mit Rücksicht auf meine hypochondrischen Anlagen als eine arge und leider nicht wiedergutzumachende Dummheit an. Über die eigentliche Richtung meines Wesens glaubte ich nun klar zu sein; das Streben, das schon die Seele des Achtzehn jährigen angerührt, durchdrang sie nun bewußter und entschiedener (JiW, 222; TBI, 196-198). Ergänzt wird diese charakteristische Dichterdarstellung um zahlreiche »kleine[ ] Liebschaften« und weitere Hazardspiele (vgl. JiW, 150, 160, 164, 193), sodass der Autobiograf schließlich seine autobiografische Figur über eine Literaturkritik mit einem diegetischen Protagonisten vergleichen kann, der zum Repertoire seiner ersten Figuren gehört: Von ferne betrachtet, war ich damals mit meinem geringen Taschengeld, das immer schon im vorhinein aufgezehrt und mit Schulden überlastet war, wirklich ein wenig der »Fünfguldenlebemann«, wie Hermann Bahr später, nicht sonderlich zutreffend, den Helden meines ersten Buches genannt hat (JiW, 160). Einen ähnlichen intertextuellen Vergleich legt Schnitzler mit einer weiteren fiktionalen Figur an, die einen Dichter darstellt, der auch unter einem unentschiedenen »Zwiespalt« leidet. Es bleibt nur »schonungslos[er] […] Jammer« (JiW, 303; vgl. auch: ebd., JiW, 288):
156 Die direkten wie auch indirekten Zitate markieren die symbiotische Beziehung zwischen Tagebuch und autobiografischem Projekt, die fokussierte synoptische Lektüre, die letztlich mit dem testierten Editionsprojekt umgesetzt werden soll, wird punktuell durch die bricolage veranschaulicht.
441
v i . a rt h u r sch n i t zler
Und während ich mich in meinem Tagebuch weitläufig und schonungslos über allen Zwiespalt und Jammer ausließ, war ich gleich wieder bereit, mich der Pose zu beschuldigen, glaubte mir in meinen inneren Kämpfen irgendwie zu gefallen, während ich sie niederschrieb, – und glich so ein wenig jenem Dichter aus der »Beatrice«, der zehn Jahre später ausrufen sollte: »Und quillt aus dieser Torheit – einmal ein Lied, so ist’s der höchste Preis – Den mir das Leben hinwirft für die Schmach – Daß ich zu schwach bin, es mit Stolz zu leben« (JiW, 303).157 Der Autobiograf exemplifiziert mit dieser auto- sowie werkbiografischen Chronologie, dass seine Tagebücher bei Werkproduktionen geholfen hätten. Diese Konnexion zeigt eine immerwährende, produktive Interaktion zwischen Autobiografie, Nachlass und Werk. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass Schnitzler seine autobiografische Figur als vielfach begehrenswerte und von allerhand Frauen verehrte Autorfigur stilisiert (vgl. JiW, 256 f.). Ebenso verfährt Heyse in seiner Autobiografie, jedoch ist er anders als Schnitzler deutlich darum bemüht, etwaig frivole Akzente zu reglementieren respektive ein vorhandenes skandalöses Potenzial in Schach zu halten, sodass diese wohldosiert den ersehnten Nachruhm nicht gefährden, lediglich das Publikumsinteresse schüren mögen.158 Anders als Heyse frönt der Autobiograf ironisch »frivol[en]«, skandalösen ›Lastern‹ (vgl. JiW, 35, 73, 85, 91, 112 f., 116 f., 128-129, 162 f., 214-215, 250, 259, 279, 280, 285, 292, 157 Ebendieses Spiel erklärt Olga Schnitzler in ihrer Autobiografie zum Erfolgswerk, das Schnitzler den erhofften Ruhm einbrachte (Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, S. 40). 158 Heyse und Schnitzler geben ihrer Autodiegese jeweils eine theatralische Abschiedsszene bei: Während es bei Heyse heißt: »Als ich am andern Morgen die Augen aufschlug, sah ich sogleich in die ihren. Sie saß auf dem Rand meines Bettes und lächelte mir guten Morgen zu. Dann aber, da ich zum Bleiben nicht zu bewegen war, stürzten ihr die Tränen aus den Augen. Wenigstens wiederkommen sollt’ ich, auf alle Fälle schreiben, sie könne mich nicht verlieren. […] Dann sprang sie auf und fiel mir ans Herz unter strömenden Tränen, endlich so von Sinnen, daß sie neben dem Bett hinfiel und ich, die Verwirrung ihres Schmerzes benutzend, mich hinausschleichen konnte« (JBV, 112). Schnitzler gestaltet die Verehrung seiner Autorfigur durch eine Frau nicht weniger turbulent: »[S]ie sinkt in meine Arme, küßt mich mit Inbrunst. ›Sie müssen fort‹, sagt sie dann. ›Er will sie töten. […].‹ Ich sinke ihr zu Füßen. Ich kann mich nicht entschließen, zu gehen, vielmehr zu fliehen« (JiW, 247; vgl. ebd., 59, 218, 221, 231, 236, 246, 250, 257, 273 f.). Nicht zufällig ist es in Goethes Autobiografie eine Reiseentscheidung, die eine aufsehenerregende Abschiedsszenerie auslöst und ihn fortan zum ruhmvollen, beispielgebenden Weimarer werden lässt (vgl. Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt., Bd. 14, S. 850-852; vgl. Wagner-Egelhaaf, Trauerspiel und Autobiographie, S. 82-89).
442
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
301, 305 f., 316).159 Das ausgeprägte, als ausschweifend dargestellte Doppelleben führt bei Schnitzlers Autodiegese zu einer zentralen Gewichtung, denn während die autobiografische Figur für den medizinischen Brotberuf täglich lediglich ein »paar Stunden« aufgebracht habe, werden in der restlichen Tageszeit »fleißig Theater, Konzerte und Gesellschaften besucht[ ]« (JiW, 200, 213).160 Im Vergleich zu seinem Bruder und Schwager »spielt[ ]« die autobiografische Figur auf dem medizinischen Feld eine »klägliche Rolle« (JiW, 302; vgl. TBI, 238),161 mit der eine wissenschaftliche Karriere in weite Ferne rückt. Der sich demgegenüber einstellende literarische Erfolg lässt die Kluft zwischen Beruf und Berufung zudem kontinuierlich, markant aufklaffen, bis sie nicht mehr überbrückt, die disparaten Lebensformen nicht mehr versöhnt werden können. Der Schriftstellerberuf lockt mit dem nachruhmsichernden Versprechen, Schnitzlers Leben einen postumen Nachklang und seiner Lebenserzählung mitsamt seinen Werken dauerhaften Widerhall zu sichern.162 Besonders ein prospektiver Widerhall wird 159 Unerhört wurden mitunter auch die Werke und die Theaterinszenierungen empfunden, sodass die skandalöse Autorschaft zum Erfolgsgaranten und in der Rezeption zum biografischen Merkmal wird. So wählt Wagner für ein Kapitel den markanten Titel Vom ersten Skandal zum ersten Erfolg (vgl. hierzu: Wagner, Arthur Schnitzler, S. 5, 68-83). Vgl. zu ›Skandal‹, ›Autorschaft‹ und ›Erfolg‹ exemplarisch: Franzen, Ein ›Recht auf Rücksichtslosigkeit‹; Wagner-Egelhaaf, Autorschaft und Skandal, S. 29, 34, 36; Neuhaus, Wie man Skandale macht. Ein Dasein als skandalträchtige Autorfigur in der Nachwelt zieht Schnitzler in seinen Tagebuchnotizen deutlich einem vorzeitigen Vergessen vor: »Pfingst. der Hamb. Nachr., nach gesandt, in denen Herr C. A. P. (wer?) voreilig meinen 60. Geburtstag feiert – und u. a. mittheilt, ich sei ein recht bekannter Schriftsteller gewesen, aber jetzt halb vergessen. – Man wundert sich immer wieder. Warum nicht einfach: ›tatenlos‹ oder ›Pornograph‹; – aber so handgreiflichen Blödsinn?–« (TBVII, 215). 160 Das Doppelleben sei vereinzelt nicht unbemerkt geblieben, obschon der eigentliche Beruf mitsamt Berufung unentdeckt bleibt, sodass es zu Missverständnissen kommt: »Auf die Visite kam ich öfters zu spät und meist in verschlafenem Zustand, was den Chef veranlaßte, mich für einen Alkoholiker zu halten« (JiW, 280). 161 Mit Ausdrücken wie ›Rolle‹ und ›spielen‹ wird ein theatraler Wortschatz etabliert, der auf die schauspielerische Dimension der vorgelegten Dichterinszenierung aufmerksam macht. 162 Die Bedeutung, die einer werkschaffenden, nachlassfähigen Tätigkeit zugeschrieben wird, verdeutlicht sich, wenn der Autobiograf eine ehemalige Dramenproduktion resümiert: »Daß die Stimmung jener Plaudernacht […] so lange in mir nachklang, lag sicher nicht in der Persönlichkeitswirkung jenes jungen Dichters, sondern daran, daß mir dieser doch irgend als ein Bürger jener anderen und höheren Welt erschien, in die ich mir den Eintritt noch zu erkämpfen hatte, wenn er mir nicht gar ein für allemal versagt bleiben sollte. Aus solchen Zweifeln heraus, die niemals ruhten, schrieb ich nach Beendigung meines Mönchsdramas ›Aegidius‹ einen Prolog, der mit den Worten anhebt: ›Die letzte Hoffnung knüpf’ ich an dies
443
v i . a rt h u r sch n i t zler
innerhalb der gesamten Autodiegese zum erstrebenswerten Gut, denn Widerhall erreichte sein Vater mit seinen naturwissenschaftlichen Studien. Zugleich benennt Schnitzler mit diesem Ausdruck ein neues Berufsethos, wenn er seine Autorfigur zu jenen »Menschen« zählt, »denen das Leben nicht nur Element, sondern auch Material bedeutet, und die, mehr oder minder bewußt, ihr Dasein nicht nur auf Arbeit und Leistung,163 sondern auch auf Erfolg und Widerhall gegründet haben« (JiW, 212, 122 f.). Für den erwünschten Nachruhm sind eine organisierte Manuskriptsammlung, eine strukturierte Verknüpfung der Autobiografie mit Nachlass und Werk sowie ein Inszenierungsmodell erforderlich. Es gilt, Nachklang und Widerhall – wenig laissez-faire – zu »erkämpfen« beziehungsweise fiktionale und auch faktuale Netzwerke aufzubauen (JiW, 123; vgl. auch ebd., 133 f., 187, 276-278, 282). Das Netzwerk wird rezeptionsästhetisch und forschungsorientiert zwischen Autobiografie, Werk und Nachlass und mit gleicher Akribie zwischen Verlegern und Schriftstellerinnen sowie einem ausgewählten Freundeskreis, der sich weitestgehend aus Literaturexpertinnen und -experten zusammensetzt, geknüpft. Die explizite Verbindung zwischen Autobiografie, Nachlass und Werk sowie die hierfür prägnante Metapher Widerhall lässt eine zentrale Editionsentscheidung fragwürdig werden: Angesichts der Tatsache, dass Schnitzlers Autobiografie mit dem Jahr 1889 endet, wurde mehrfach dem autobiografischen Projekt ein fragmentarischer Status attestiert,164 zumal die autobiografische Figur in diesem Werk‹, was aus dem Munde eines Achtzehnjährigen allerdings etwas verfrüht klingen mag« (JiW, 123; vgl. auch: ebd., 132 f. [Hervorhebung durch S. N.]). Topisches Bindeglied aller hier vorgestellten Autobiografien ist, dass die autobiografischen Figuren durchweg als frühreife Figuren dargestellt werden. 163 Im Vergleich zeigt sich markant, dass während Lewald-Stahr, Fontane und Heyse Erfolg noch mit ernster Arbeit und Disziplin verbinden, Schnitzler diese Relation zugunsten eines neuen Autorkonzepts und der dazugehörigen Dichterinszenierung aufbricht, Erfolg von »Arbeit und Leistung« abkoppelt, obschon die Arbeitsweise und autodiegetische Vor- sowie Nachlassgestaltung – gemäß dem ›gemischten Doppel‹ – ein diszipliniertes Vorgehen dokumentieren. ›Fleiß‹ wird zum rhetorischen Leitausdruck, wenn Fontane seiner Ehefrau Emilie Fontane seine endgültige, durchaus prekäre Berufsentscheidung erläutert: »Die Unsicherheit bleibt; es wäre lächerlich sie fortdemonstriren zu wollen; aber sie erschreckt mich nicht, unsicher oder nicht, der Satz bleibt schließlich bestehen, daß ein Mann von Talent und Wissen, der fleißig ist und zu schreiben versteht, im Stande ist, sein täglich Brot zu verdienen« (Theodor Fontane an Emilie Fontane, 15. August 1876, GBA, Bd. 3, S. 72). 164 Vgl. hierzu exemplarisch: Jürgensen, Autobiographische Schriften, S. 276; Nickl und Schnitzler, Vorbemerkung der Herausgeber, S. 8; Torberg, Nachwort, S. 329, 331; Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 292; Weissenberger, Arthur Schnitzlers Autobiographie »Jugend in Wien«, S. 168.
444
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
Jahr gerade erst am Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn gestanden habe. Diese Beobachtung führte dazu, die editorische Entscheidung zu legitimieren, für die postume Veröffentlichung den Werktitel zu ändern. So wurde trotz der testamentarischen Anweisung, keinerlei Text eingriffe vorzunehmen, aus dem Titel Leben und Nachklang. Werk und Widerhall kurzerhand der Titel Jugend in Wien. Therese Nickl und Heinrich Schnitzler begründen ihre editorische Entscheidung der Titeländerung folgendermaßen: Die Autobiographie sollte den Titel »Leben und Nachklang – Werk und Widerhall« führen. Diesen Titel trägt sowohl die handschriftliche Fassung wie auch das spätere Diktat. Da das hier veröffentlichte Fragment nur bis zum Jahre 1889 führt, also zu einer Zeit endet, da Arthur Schnitzler kaum begonnen hatte, als Autor in Erscheinung zu treten, und man daher noch nicht von einem »Werk« und noch weniger von dessen »Widerhall« sprechen kann, mußte dieser Titel durch einen anderen ersetzt werden.165 Zumindest editionsphilologisch mag es irritieren, dass Fliedl konstatiert, der Titel wird »mittlerweile dankbar weiterverwendet[ ]«.166 Denn dem antizipierten fragmentarischen Charakter steht die kompositorische Moti165 Nickl und Schnitzler, Vorbemerkung der Herausgeber, S. 8. Diese Erläuterung wirkt überraschend, wenn Heinrich Schnitzlers Vorbemerkung zum Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials berücksichtigt wird. Ebendort betont er nochmals die testamentarischen Bestimmungen seines Vaters, die den Umgang mit allen hinterlassenen Briefen betreffe: »Ferner sei auf eine testamentarische Verfügung Arthur Schnitzlers hingewiesen, der zufolge Briefe nur dann ver öffentlicht werden dürfen, wenn dies ohne jede Kürzung oder Änderung geschieht« (Schnitzler, Anhang, S. 149). Gleiches gilt für das autobiografische Projekt, jedoch verhinderte dies nicht die Titeländerung. 166 Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 292. Weissenberger legitimiert diese editorische Entscheidung, indem er einen Handlungszwang des Herausgebers und der Herausgeberin antizipiert (vgl. Weissenberger, Arthur Schnitzlers Autobiographie »Jugend in Wien«, S. 173). Eine editorische Entscheidung ist es auch, ausgewählte Fotografien von Schnitzler in den autobiografischen Text einzufügen (vgl. Nickl und Schnitzler, Vorbemerkung der Herausgeber, S. 8 f.). Farese notiert die Titeländerung äußerst unkritisch: »Mit Recht wählten die Herausgeber der post humen Ausgabe […] den Titel Jugend in Wien«. Dabei konzentriert er sich lediglich darauf, dass die Autobiografie mit dem Jahr 1889 ende und lässt die kompositorische Motivierung und den dafür zentralen Titel komplett außer Acht (Farese, Arthur Schnitzler, S. 11). Während in der Ausgabe von 1968 die Fotografien als Bilderbündel ediert werden, trennt die zweite Auflage von 2011 die Fotografien und ordnet sie einzelnen Erzählpassagen zu: Bild und Text gewinnen so eine andere Dynamik.
445
v i . a rt h u r sch n i t zler
vierung, die offensive Vernetzung und gleichermaßen der abschließende Rückbezug auf den Anfang entgegen, sodass Exposition und Konklusion einen Kommentar zum Titelprogramm darstellen:167 Nachdem der autodiegetische Erzähler retrospektiv der Entscheidung, Helene Herz nicht zu heiraten, jegliche Drastik raubt, erhebt er die selbstbestimmte Berufsentscheidung abschließend zum Auszeichnungskriterium eines »Auserwählten« und einer nachweltfähigen Autorfigur: Ich glaube nicht an eine Vorsehung, die sich um Einzelschicksale kümmert. Aber ich glaube, es gibt »einzelne«, die um sich wissen, auch dann, wenn sie bestenfalls zu ahnen vermeinen, und die aus freier Wahl ihre Lebensentscheidungen treffen, auch dort, wo sie denken, nur vom Zufall der Ereignisse und von Stimmungen getrieben worden zu sein, und die stets auf dem rechten Weg sind, auch wo sie sich anklagen, geirrt oder irgend etwas versäumt zu haben. Mit all dem ist freilich nicht gesagt, daß gerade ich ein Recht habe, mich zu diesen einzelnen zu zählen; aber wie sollte, ja wie könnte man überhaupt leben, schaffen und sich manchmal des Lebens freuen, wenn man sich’s nicht einbildete, zu diesen Aus erwählten zu gehören? (JiW, 316). Erreicht das Lesepublikum das Ende der Autobiografie, erweist sich die zu Beginn zukunftsweisende, prophetische Positionierung des Säuglings auf den väterlichen Schreibtisch als ein prognostizierter Scheideweg, dessen Weggabelung der Erzähler zur zentralen Reflexionsfigur für sein entscheidungsbedürftiges Doppelleben erhebt.168 Hier ist es bemerkenswert, dass innerhalb der Autodiegese das Spannungsverhältnis divergierender figuraler und narratorialer Perspektiven, die den Lebensweg als »geebnet« sowie »schwankend« klassifizieren, konsequent ausgestellt wird (vgl. JiW 92, 126 f., 187).169 Das Leben wird mithilfe der Entscheidungskrise als autobiografiefähig ausgewiesen: Erst mit dieser wird das Leben, wie eben auch das Werk, fragmentarisch und schließlich vermag eine kalkulierte Un abgeschlossenheit die Nachwelt dazu zu motivieren, die Nachlassarbeit 167 Für beendet darf sie zudem gelten, nachdem Schnitzler am 28. Januar 1920 vermerkt: »Autob. soweit fertig (Sommer 1889) zu Ende dictirt.– « (TBVII, 17). Die Exzerpte, die erste Niederschrift und das Diktat sind vorerst abgeschlossen, denn Feinarbeiten unternimmt Schnitzler weiterhin: »Nm. am ›Nachklang‹. Ich feile, feile, feile« (TBVII, 21; vgl. ebd., 43). 168 Vgl. Friedrich, Erzähltes Leben, S. 66-70. Vgl. hierzu auch: Schlotheuber, Der Mensch am Scheideweg; Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, S. 124. 169 Ähnliches stellt Fliedl für die Tagebücher fest (vgl. Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 261). Allerdings geht sie weder auf die Darstellungstechnik noch auf die autodiegetische Funktion ein.
446
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
fortzusetzen, sodass letztlich dem ›Werk‹ der erwartete ›Widerhall‹ folgen mag. Demnach problematisiert das Zusammenspiel der hier vorgestellten Passagen mit dem Titel Leben und Nachklang. Werk und Widerhall die Editionsentscheidung für den Titel Jugend in Wien. In der Schlusspassage wird ersichtlich, dass die Kontingenz in Entscheidensprozessen durch den Erzähler partiell zum Verschwinden gebracht wird. Demgemäß durch laufen arrangierte Manuskripte ein erzähltechnisches Ordnungsvorhaben, das Kontingentes in einen sinnhaften narrativen Prozess überführt. Indem ›Entscheiden‹ zur Prämisse innerhalb der Autobiografie bestimmt wird, korrigiert der Erzähler mit der hier zitierten Konklusion die Exposition. Wie bereits bei Lewald-Stahr und Heyse ist eine Berufung nicht aus reichend, solange eine erfolgversprechende Entscheidung ausbleibt, die ein Leben autobiografiefähig und ein Werk archivwürdig werden lässt. Die zahlreichen Kommentare, die einer wiederholten Tagebuchlektüre, Manuskriptorganisation und Selbststudie mitsamt Archivierung gewidmet sind, erklären die erbrachte Lebensbilanz zum hermeneutischen, interpretativen Verfahren (vgl. JiW 260, 287). Als Ergebnis dieser Lebensbilanz präsentiert der Erzähler eine autobiografische Figur, die mit ihrem Doppelleben hadert, zwischen Berufung und Beruf zaudernd schwankt, bis mit der finalen Berufsentscheidung die topische Bewährungsprobe erbracht ist (vgl. JiW 260, 288). Die Tagebücher sowie die archivierten Manuskripte sind schließlich innerhalb der Autobiografie die maßgebenden Entscheidungsressourcen, sodass diesen indirekt ein archivwürdiger Status zu geschrieben wird. Zentral ist Fliedls Beobachtung, dass »Schnitzlers Lek türegänge durch das Tagebuch […] Erinnerung buchstäblich ins Werk [setzen]«.170 Er präsentiert mit der bricolage explizit die archivarische Funktion, die Autobiografien inhärent ist und die er für seine nachweltorientierte Archivierung zu nutzen weiß. Wichtig ist zudem, dass Schnitzler seine auto biografische Arbeit beendet und unmittelbar darauf sein Testament aufsetzt. Jürgensen stellt, wie bereits Heinrich Schnitzler und Therese Nickl, fest, dass er letztlich seinen Plan nicht umgesetzt habe, wonach seine Autobiografie den Zeitraum 1862 bis 1900 umfassen sollte. Stattdessen habe er am 14. August 1918 in seinem Tagebuch vermerkt, dass er mit der autobiografischen Arbeit »vorläufig pausire« (TBVI, 171). Schnitzlers Autobiografie schließt erklärtermaßen mit dem Jahr 1889, also mit jenem Jahr, das für einen »Schritt in die literarische Öffentlichkeit« steht (JiW, 313). Jürgensen vermerkt ergänzend, dass Schnitzler bereits zwei Tage darauf und dreizehn 170 Ebd., S. 281.
447
v i . a rt h u r sch n i t zler
Jahre vor seinem Tod in seinem Testament die Bestimmungen über meinen schriftlichen Nachlass festgehalten und ebendort den Umgang mit seiner Autobiografie verfügt habe (vgl. TBVI, 169, 171): Meine Autobiographie soweit sie vollendet, ist verwahrt in meinem Stehpult, ev. Manuscriptenschrank, ev. im Safe Credit-Anstalt;171 unter dem Titel »Leben und Nachklang, Werk und Widerhall«. Diese Autobiographie möge baldigst, u. zw. wenn irgend möglich von meiner Secretärin Frl. Frieda Pollak in 2 Exemplaren abgeschrieben werden […].172 Manu script und ein Exemplar verbleiben bei meiner Familie (bei meinen Haupterben) unter sicherem Verschluss […]. Veröffentlichung darf frühestens zwanzig Jahre nach meinem Tode erfolgen, zu den gleichen Bedingungen, die bei den Tagebüchern festgesetzt sind. Da sowohl die Autobiographie als die Tagebücher in keiner Weise verfälscht also nicht gemildert, gekürzt oder sonstwie verändert werden dürfen, verbietet sich ihre Popularisierung – insbesondere die der Tagebücher von selbst. […] Die einzige Aenderung, gegen die ich nichts einzuwenden hätte, wäre die, daß statt der vollen Namen von Fall zu Fall nur die Anfangsbuchstaben gedruckt werden.173 Die testamentarischen Bestimmungen widersprechen abermals dem vorgebrachten Postulat, die Autobiografie sei nicht vollendet, lediglich ein Fragment. Mit der testierten Sperrfrist wird überdies der Wert des Privaten betont,174 der besonders augenscheinlich in den weiteren Bestimmungen wird. Dort verfügt Schnitzler für seine Tagebücher, diese »ungelesen von jedermann – unverzüglich zu den übrigen in den Safe zu hinterlegen, wo 171 Aus diesem »[ ]holt« Schnitzler die »für den ›Nachklang‹ nötigen Materialien« und das bei »schönstem Frühlingswetter« (TBV, 277). Während der Arbeit an seinem autobiografischen Projekt hatte Schnitzler bereits mit der Archivierung seiner Manuskripte begonnen, sodass diese bereits als Archivalien und damit als Wertanlage gelten dürfen. 172 Schnitzler bemüht sich auch bei der Hinterlassenschaft seiner Tochter Lili Schnitzler darum, den Bestand durch Kopien zu sichern (vgl. TBV, 218). Vgl. Schnitzler, Tagebuch 1927/30, S. 177. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan mit der Sigle TBIX angegeben. 173 Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen, S. 35; vgl. Jürgensen, Autobiographische Schriften, S. 276. Welzig legt dar, dass Pollak bereits zu Lebzeiten mit dem Typoskript begonnen habe (Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 9; vgl. Riedmann, »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«, S. 8). Für eine intensive Werkorganisation und -konzeption spricht, dass Schnitzler die e rsten Abschriften bis kurz vor seinem Tod wiederholt korrigierte (vgl. TBX, 39). 174 Rössler, Der Wert des Privaten.
448
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
meine sämtlichen Tagebücher ungelesen bis zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung aufzubewahren sind«.175 Wie bereits bei Heyse wird der gehütete und für die Nachwelt aufbereitete, schließlich verfügbare Nachlass zum archivwürdigen Schatz, sodass Werner Welzig folgerichtig kommentiert: »Der Schatz der Erinnerung bedarf der Sicherheit des Banksafes«.176 Ergänzen lässt sich, dass der Nachlass erst durch den behutsamen Umgang das Image eines Schatzes erhält. Die verfügte Kopie dokumentiert, dass Schnitzler mit Verlust und Zerstreuung rechnete und im Vergleich zeigt sich deutlich, dass Heyses und Schnitzlers gewissenhafte, autobiografisch vermittelte Archivierungen aufgingen, denn ihre hinterlassenen Schriften sind bis heute bestens archiviert. Demgegenüber wird signifikant, wie zerstreut Fanny Lewald-Stahrs Nachlass immer noch ist, zumal dieser weit weniger sortiert ist als Adolf Stahrs hinterlassene Schriften, die sie selbst zu Lebzeiten – eine interessierte Nachwelt im Blick – ordnete.177 Nachträglich mag dies als Beweisstück dafür gelten, dass Archivierungsentscheidungen kontingent sind, insofern Entscheidungsträgerinnen zukünftige Forschungsinteressen und -fragen lediglich mutmaßen können. Viel sagend ist, dass Rössler von »dezisionaler Privatheit« spricht, »wenn wir den Anspruch haben, vor unerwünschtem Zutritt im Sinne von unerwünschtem Hineinreden, von Fremdbestimmen bei Entscheidungen und Handlungen geschützt zu sein«.178 Schnitzler ist sichtlich bemüht, mit seinem Testament die eigene Autorschaft und Werkherrschaft zu sichern, seine werkkonstitutiven Nachlassentscheidungen zu schützen, wenn er letztgültig verfügt, dass seine Tagebücher und Autobiografie »in keiner Weise verfälscht also nicht gemildert, gekürzt oder sonstwie ver ändert werden dürfen«, letztlich »ihre Popularisierung [verbietet]«.179 Mit diesen Bestimmungen habe Schnitzler einen aufwendigen, langwierigen 175 Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen, S. 33. 176 Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 7 f. Vgl. hierzu: Nehring, »Kulturhistorisch interessant«, S. 75. 177 Schnitzler diskutiert mit Hugo von Hofmannsthal »Verlegerfragen« und über seine »Tagebücher und autobiographischen Arbeiten« (TBVII, 71). Deutlich wird mit dieser Tagebuchnotiz und dem Testament, dass Schnitzler einen konkreten Publikationsplan und seinen Nachruhm im Blick hatte. 178 Rössler, Der Wert des Privaten, S. 25. »[A]ls privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ›etwas‹ kontrollieren kann« (vgl. ebd., S. 23). 179 Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen, S. 35. Schnitzlers achtsame Werkvorsorge kann ebenfalls mit den erlebten Zensurverfahren und dem virulenten Antisemitismus erklärt werden (vgl. TBVI, 123, 196). Diesen räumt Olga Schnitzler eine prominente Stellung in ihrer Autobiografie ein (vgl. Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, S. 40 f.). Vgl. zum ›Autor als Editor seiner eigenen Werke‹: Plachta, Goethe über das »lästige Geschäft« des Editors, S. 230-232.
449
v i . a rt h u r sch n i t zler
und kostspieligen Editionsprozess angestoßen, der die festgelegte Sperrfrist sprengen sollte.180 In Schnitzlers Aphorismen und Betrachtungen existiert ein für die Editionsbestimmungen informativer Eintrag zu jenem Ausdruck, der für das autobiografische Projekt bestimmend ist, namentlich zum ›Doppelleben‹: Wir sagen von einem, daß er ein Doppelleben führe; führt er nicht manchmal gerade erst ein ganzes, ein wirkliches, also sein eigenes Leben dadurch, daß er scheinbar zwei verschiedene Leben führt? Und wie viele führen ein halbes Leben, weil sie nicht den Mut haben, ein ganzes zu führen, das anderen wie ein Doppelleben schiene.181 Dieser Aphorismus kann mit Schnitzlers Editionsplan zusammengebracht werden. Für seine Tagebücher testiert er eine ungekürzte Ausgabe, sodass die fragmentarische Autobiografie sowie dem Doppelleben letztlich eine diaristische Werkeinheit gegenübersteht, die wiederum – gemäß einem gemischten Doppel – die Autorfigur Schnitzler als lebenslangen Zauderer stilisiert. Für den mit der bricolage dargestellten Entscheidensprozess, aber auch für das gesamte autobiografische Projekt sind die testamentarischen Bestimmungen äußerst instruktiv. Mit ihnen wird nicht schlicht der Wert des Privaten augenscheinlich, sondern es zeigt sich, dass Schnitzler seine Tagebücher behutsam unter Verschluss hielt (»ungelesen von jeder mann«).182 Werner Welzig hält zu Schnitzlers archivarischen Bemühungen fest, »[wie] für viele Tagebuchschreiber ist für ihn das Journal etwas höchst Kostbares geworden, das es vor äußeren Gefahren zu bewahren gilt«.183 Erst mit dem testamentarischen Kontext erschließt sich die exklusive und werkpolitische Dimension der ausgewählten, zitierten und im autobiografischen Projekt erstmalig publizierten Tagebuchpassagen. Erklärtes Ziel ist es, eine prophylaktische Nachlasssicherung für die Nachwelt zu garantieren, die mit dem autobiografischen Projekt überhaupt erst auf diesen aufmerksam gemacht wird. Demzufolge zeigt sich mit Schnitzlers Testament die werkkonstitutive Funktion, die seinen Tagebüchern zukommt und die 180 Vgl. hierzu: Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 9, 19; Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 5; Riedmann, »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«, S. 5. 181 Schnitzler, Aphorismen und Betrachtungen, S. 267. 182 Schnitzler, Testamentarische Bestimmungen, S. 33. Riedmann legt in ihrer Studie dar, dass Schnitzler zu Lebzeiten lediglich ausgewählten Personen aus seinem Tagebuch vorgelesen und seiner Ehefrau Olga Schnitzler dezidiert jeglichen Lektürezugang verweigert habe (Riedmann, »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«, S. 5 f.; vgl. hierzu auch: Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 5). 183 Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 7.
450
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
pars pro toto für die symbiotische Beziehung zwischen ›Leben‹ und ›Werk‹ steht, die mittels einer synoptischen Komposition in der Autobiografie augenscheinlich wird.184 Diese soll der geschaffenen Autorfigur, dem veröffentlichten sowie unveröffentlichten Werk ›Nachklang‹ und ›Widerhall‹ garantieren; umso tragischer ist, dass die postume Titeländerung ebendiese kompositorische Konstellation zu einem weißen Fleck in der Forschungslandschaft werden ließ. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die Privatisierungsentscheidungen, die das autobiografische Projekt und die Tagebücher betreffen, ein ›Verfallsdatum‹ haben. ›Entscheiden‹ steht innerhalb des hier vorgestellten Netzwerks insgesamt für eine Weggabelung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit sowie für eine archivarische Praxis, die der Autobiograf nicht unkommentiert lässt, sodass das poetische Potenzial, das einem Entscheidensprozess zukommt, zutage gefördert wird (vgl. JiW, 112, 144). Dies führt zur These, dass Entscheidensprozesse innovative, bildhafte Erzähltechniken fördern respektive sich dazu eignen, ebendiese vorzustellen.185 In den hier vorgestellten Autobiografien herrscht kein ausschließlich mentalistisches, intuitives, spontanes, sondern ein werktätiges Entscheidungskonzept mitsamt autobiografischen Archivierungspraktiken vor. Exemplarisch mag hierfür Schnitzlers Tagebuchnotiz vom 13. Juni 1883 stehen: »Was nützen oder was sollen alle theoretischen Auseinandersetzungen mit sich selbst. Ich will mich – oder besser: ich muss mich doch wieder hersetzen und schreiben« (TBI, 151). Mit diesem Plädoyer für eine heuristische Schreibpraxis geht einher, dass sich die Kulturtechnik des Entscheidens fiktional sowie faktisch werktätig vollzieht, das Leben in autobiografische Werkform bringt. Welzig formuliert schlüssig: »Das Tagebuch ist nicht der automatische Griffel, der die Geschichten des Lebens aufzeichnet. Es ist der mit größter Anstrengung unternommene Versuch, schriftstellerisch aus ganz heterogenen Erfahrungen und Begebenheiten die ›Geschichte‹ eines Lebens werden zu lassen«.186 Schnitzlers testamentarische Bestimmungen konturieren nebstdem eine für alle hier vorgestellten Autobiografien zentrale Figur: die Beraterin und auch den Berater. Eklatant zeigt sich 184 Welzig beschreibt die Tagebücher als Schnitzlers »Lebens-Werk« (ebd., S. 3). 185 Durch die bricolage wird ein typografischer sowie inhaltlicher Einschub markiert. Diese Erzähltechnik entwickelt sich weiter und gewinnt im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert fotografische Qualität (vgl. exemplarisch: Stanišić, Herkunft, S. 214; Tranströmer, Randgebiete der Arbeit; Enzensberger, Eine Handvoll Anekdoten). Vgl. zur ›Fotogeschichte‹ exemplarisch: Siegel, Fotogeschichte aus dem Geist des Fotobuchs. 186 Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 6.
451
v i . a rt h u r sch n i t zler
dies in einem Brief, den Schnitzler am 6. Juli 1930 an seinen Sohn Heinrich Schnitzler verfasst.187 Wien, 6.7.1930 Mein lieber Heini, einliegende Briefe bitte, – ev. durch Frl Frieda Pollak an ihre Adresse befördern zu lassen. Hinsichtlich alles juridischen verständige Dich sofort mit meinem Anwalt und Testamentsxxx Dr. Norbert Hoffmann Wien I Zelinkagasse 13. In Hinsicht auf den lit. u handschriftlichen Nachlass verständige dich gleich mit Frl Frieda Pollak. Für Sichtung, Ordnung, ev. Herausgabe ziehe vielleicht Schinnerer (Amerika), Aufricht, u. a. in Betracht; am liebsten wäre es mir, du nähmest die Sache selbst in die Hand, soweit dein Beruf es zulässt. Berathe Dich mit der Mutter, mit Frieda Pollak, mit Frau Cla. Katharina Pollaczek, mit Frau Suzanne Clauser – und überlege alles gut vorher. Die Briefe im Schreibtisch, links, untere Lade sofort zu versiegeln u an sichern Ort aufzubewahren; – ebenso wie die Tagebücher die ja z. Teil im Safe der Credit Anstalt sich befinden. Über Abschrift etc ist im Testament verfügt. Unter allen Cautelen wären sie sofort in Angriff zu nehmen. – Veröffentlichung erst dreißig Jahre nach meinem Tod gestattet. Näheres in einem beigeschlossenen Brief. – Finanzielles ist soweit es möglich im Testament geordnet. In strittigen Urheberrechtsfallen niemals Unternehmer, Verleger etc., sondern in jeden Falle Wohltätigkeitsinstitute zu Gunsten von Schriftstellern deutscher Sprache; in Fällen fremdsprachiger Ausgaben ev. auch Schriftsteller des betreffenden Landes zu betheilen … Verkauf von Manuscripten zwei Drittel zu Gunsten der gesetzlichen Erben, ein Drittel zu Gunsten unterstützungswerter Schriftsteller. Arthur Schnitzler [Zur xxx Rechte Inge und Clauser xxx xxx]. [Hervorhebung im Original]188 Mit dem zitierten Brief wird deutlich, dass Schnitzler seinem Sohn einen Beraterinnenstab anrät und zwar explizit für »den lit. u handschriftlichen Nachlass«.189 Zumal Frieda Pollak bereits zu Lebzeiten eine unentbehr 187 Vgl. Abb. 18 und für die vollständige Abbildung des dreiseitigen Briefs das Kapitel Transkriptionen der vorliegenden Studie. 188 Schnitzler, Arthur Schnitzler an Heinrich Schnitzler, 6. Juli 1930, DLA, Bestand Arthur Schnitzler Dokumente Testamentarische Verfügungen, HS.2009.0087. 189 Heinrich Schnitzler wird tatsächlich als kenntnisreicher Nachlassverwalter und Werkexperte in die Literaturgeschichte eingehen. Beispielhaft hierfür steht Wagners
452
Abb. 18: Arthur Schnitzler an Heinrich Schnitzler, 6. Juli 1930, DLA, Bestand Arthur Schnitzler Dokumente, Testamentarische Verfügungen, HS.2009.0087.
453
v i . a rt h u r sch n i t zler
liche wissenschaftliche Mitarbeiterin für Schnitzlers Werk war. Fliedl hält hierzu fest: »Frieda Pollak [übernahm] nach und nach die Funktionen einer Organisatorin, Redakteurin und Archivarin«.190 Die Wertigkeit der prospektiven Hinterlassenschaft lässt sich abermals erahnen angesichts der sorgfältigen und umsichtigen Nachlassvorsorge und geforderten -nachsorge (»versiegeln u an sichern Ort aufzubewahren«).191 Die zwanzigjährige Sperrfrist wird um ein Jahrzehnt verlängert. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass Schnitzler mit einem Nachruhm kalkuliert, der auch noch nach einem Generationenintervall bestehen soll. Im Vergleich zu den hier vorgestellten Fallbeispielen zeigt sich eklatant, dass Entscheiden durchweg eine Errungenschaft darstellt, wenn es für das erreichte Ziel einer beruflichen, schriftstellerischen Emanzipation steht. Die Möglichkeit, über den eigenen Lebensweg und eigenmächtig die Lebensgestaltung zu entscheiden, erweist sich als ein konfliktreicher Aushandlungsprozess, der topischer Bestandteil einer schriftstellerischen Erfolgsgeschichte ist. Besonders Lewald-Stahrs autobiografisches Projekt besitzt deutliche Parallelen zur Autobiografie Jugend in Wien respektive Leben und Nachklang. Werk und Widerhall. Während in beiden autobiografischen Projekten Entscheiden dezidiert als emanzipatorisches Gut beschrieben wird, stellt es sich in Heyses Autobiografie und dort auch erst in der fünften Auflage als Belastung dar, für die ein adäquater Umgang gesucht wird. Der Grad an effektiv verfügbarer Freiheit bestimmt, ob Entscheiden in Schriftsteller-Autobiografien als eine positive oder negative Zumutung, als Ent- oder Belastung präsentiert wird. Der abgeschlossene Entscheidensprozess als Emanzipation zur Schriftstellerin respektive zum Schriftsteller und in beiden Fallbeispielen auch vom Vater erhält jeweils lediglich eine partielle Entlastungsfunktion, da die verabschiedeten Alternativen Vorwort: »Wie nahezu alle Arbeiten, die über Arthur Schnitzler geschrieben wurden, verdankt auch dieses Buch der Hilfe seines Sohnes, Professor Heinrich Schnitzler, Unschätzbares. Der Einblick in die Tagebücher, in den unveröffentlichten Nachlaß, in schwer zugängliche Sekundärliteratur ist der Beitrag, den er seit Jahrzehnten für die Schnitzler-Forschung leistet und auch diesem Werk in reichem Maße zuteil werden ließ – ebenso wie zahlreiche Auskünfte, die nur er geben konnte, da es keinen Menschen gibt, der seinen Vater besser gekannt hat und kompetenter zu berichten weiß« (Wagner, Arthur Schnitzler, S. 12; vgl. auch: Neumann und Müller, Gestalt und Geschichte des Nachlasses, S. 20; Lederer, Arthur Schnitzlers Autobiographie, S. 4). Dies zeigt einmal mehr, dass Familienmitglieder auch maßgeblich am Nachlasserhalt beteiligt waren und Diltheys pejoratives Urteil relativiert werden muss. 190 Fliedl, Arthur Schnitzler. Schrift und Schreiben, S. 143. 191 Arthur Schnitzler an Heinrich Schnitzler, 6. Juli 1930, DLA, Arthur Schnitzler Dokumente Testamentarische Verfügungen, HS.2009.0087.
454
v i .3 t e st i ert e w er k biogr a fi e
weiterhin latent existieren.192 Eine weitere zentrale Parallele zeigt sich darin, welcher Stellenwert der eigenen Konfession zugeschrieben wird. Fanny Lewald-Stahr und auch Arthur Schnitzler benennen explizit die anti semitische Bewegung und die damit einhergehenden Restriktionen; zen tral ist dabei, dass sich beide primär als Beobachter und Beobachterin positionieren, indem sie die eigene atheistische, durch Kants Schriften geschulte rationalistische Weltanschauung betonen (vgl. JiW, 93 f.; TBI, 59). Die Berufsentscheidung wird dennoch als irrationale Gefühlsentscheidung gerahmt und erzählt, denn erst auf diese Weise wird sie als prekäres Unterfangen und die Autorfigur als Ausnahmeerscheinung darstellbar.193 Die Entscheidungsfähigkeit und -möglichkeit gilt Rössler zufolge gegenwärtig in »westlichen, liberalen Gesellschaften […] als eine Selbstverständlichkeit [wie] das Recht […] autonome Entscheidungen zu treffen und ein selbstbestimmtes Leben zu leben«.194 Demnach können die vorgestellten Autobiografien als archivalische Findbücher bezeichnet werden, die allesamt aufzeigen, wie emanzipatorische Entscheidensprozesse sich entwickelt haben und in der autobiografischen Rekonstruktion nachvollziehbar werden. Der mit autobiografischen Projekten formulierte Publikations anspruch verdeutlicht schließlich, dass Lewald-Stahr, Ebner-Eschenbach, Heyse, Fontane und auch Schnitzler der Nachwelt eine autobiografische Entscheidungsheuristik und ein reiches Archiv an Entscheidungsressourcen darreichen. Schnitzlers autobiografische Textarbeit deuten Fliedl sowie auch Jürgensen als Ausdruck einer (lebens-)geschichtlichen Krisensitua
192 Vgl. zur Thematik der ›Emanzipation‹ bei und für Schnitzler: Gutt, Emanzipation bei Arthur Schnitzler, S. 120, 131-141. So ist die freie schriftstellerische Tätigkeit für Schnitzler historischen Daten zufolge erst nach dem Tod seines Vaters möglich, da er erst dann die Poliklinik verlässt und eine Privatpraxis eröffnet (vgl. hierzu: Boetticher, Meine Werke sind lauter Diagnosen, S. 50; Wagner, Arthur Schnitzler, S. 64). 193 Vgl. ebd., S. 20. Weissenberger stellt in seiner Studie fest, dass der Erzähler innerhalb der gesamten Autodiegese keinen festen Standpunkt oder eine fixe Perspektive einnehme, »[d]adurch gelingt es ihm, die Komplexität der diversen, teilweise widersprüchlichen Emotionen in ihrem Nebeneinander darzustellen und als Deutung für einen unterbundenen Entscheidungswillen anzuführen« (Weissenberger, Arthur Schnitzlers Autobiographie »Jugend in Wien«, S. 186). Interessanterweise notiert auch Weissenberger ausschließlich die ›Emotionen‹ und eine stete ›Unentschiedenheit‹. Vgl. zur »rationalistisch-atheistischen Weltanschauung«: JiW, 80, vgl. ebd., 94. Vgl. zu ›Entscheiden und Gefühl‹: Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden, S. 32. 194 Rössler, Autonomie, S. 13. Hervorzuheben ist, dass Rössler literarische Beispiele verwendet, um ihre Thesen zu exemplifizieren (vgl. ebd., S. 15).
455
v i . a rt h u r sch n i t zler
tion.195 Die Autobiografie Leben und Nachklang. Werk und Widerhall funktioniert geradezu als ›Ausstellungsraum‹ einer dauerhaften Krisen situation, die zugleich dazu prädestiniert ist, den rekonstruktiven Charakter eines Entscheidensprozesses sichtbar werden zu lassen. Indem für autobiografische Projekte zentrale Erzählbausteine eines Entscheidensprozesses einem verfügbaren Privatarchiv enthoben und der Öffentlichkeit preis gegeben werden, erscheinen Krisen handhabbar. Schlögl formuliert passgenau, »[d]ie Krise gebiert den Entscheider« und die Entscheiderin. Ergänzt werden kann:196 Erst eine Krise macht das Leben autobiografiefähig, das Werk archivwürdig und den erreichten Erfolg erzählenswert, darin gleicht die Lebenserzählung einem zentralen kulturgeschichtlichen Narrativ.
195 Vgl. Jürgensen, Autobiographische Schriften, S. 276; Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 293. Vgl. hierzu auch: Wagner, Arthur Schnitzler, S. 25. 196 Schlögel, ›Krise‹ als historische Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, S. 9.
456
VII. Netzwerke des Entscheidens
Den Projektanfang bestimmte eine Beobachtung, die erklärungsbedürftig mit einer Frage aufwartete: Weshalb waren in Schriftstellerinnen-Autobiografien signifikant weniger Entscheidensprozesse zu finden als etwa in Politiker-Autobiografien? Unmittelbar schien der Zumutungscharakter einer Entscheidung, den Stollberg-Rilinger gemeinsam mit Krischer als topisches Merkmal bestimmt,1 eine nachvollziehbare Teilexplikation, die sich leicht tentativ ergänzen ließ: Ein Schriftstellerdasein sei mutmaßlich ereignisärmer als ein Politikerdasein.2 Schriftstellerinnen als zurückgezogene, entscheidensarme oder gar -scheue, Politiker demgegenüber als interaktive, entscheidungsfreudige Akteure vorzustellen, erscheint nach den analysierten Fallbeispielen als eine bisweilen unzutreffende Lösung. Für die gewählten Fallbeispiele dürfen als prägnanteste Ergebnisse gelten, (1) dass lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidensprozesse dazu dienen, die Autobiografie mit dem gesamten Werk, besonders auch mit dem Nachlass zu verbinden.3 Obendrein wird auf diese Weise explizit, inwiefern ›Autobiografie‹ und ›Archiv‹ in einem reziproken Verhältnis stehen. Die1 Vgl. Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 12; Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, S. 35. 2 Kruckis, Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert, S. 561. 3 Ein Verknüpfungsverfahren, für das auch in der Gegenwartsliteratur exemplarische Fälle existieren, so beginnt etwa Peter Rühmkorfs Tabu II mit einer zukunftsorientierten Nachlasserzählung: »13. April 71. Mit 41 auf einmal sein ganzes Leben aufzeichnen wollen? Ordnung in einen Haufen Sperrmüll bringen. Belege (Taxiquittungen, Liebesbriefe, Einladungen, Absagen) sinnvoll zusammenheften und aus losen Blättern sich eine Biografie einfädeln? […] Weiß genau, warum ich vor solchen Bilanzen immer einen gewissen Bammel gehabt hab: es hat nicht nur mit Biografie, es hat auch mit Zugrabetragen zu tun. […] Chronist und Tagebuchschreiber [denken] immer heimlich an die Nachwelt: eine Festschrift in eigener Sache, die sich andersherum auch als Testament lesen lässt« (Rühmkorf, Tabu II, S. 9). Augenscheinlich geraten im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts vermehrt Alltagsgegenstände in den Blick, zugleich wird eine gewisse ›Häuslichkeit‹ inszeniert. Beispielhaft steht hierfür Magnus Halldins und Wolfgang Butts Vorwort, das sie zu Tranströmers Autobiografie verfassen: »In Tomas Tranströmers Küche in der Stigbergsgatan in Stockholm gibt es eine Vorratskammer, die sich im Lauf der Jahre in das Archiv eines arbeitenden Schriftstellers verwandelt hat« (Halldin und Butt, Eine literarische Vorratskammer, S. 7). Dichterhäuser als museale Andachtsräume mögen das Vorbild sein (vgl. Plachta, Dichterhäuser; Heller, Thomas Bernhard).
457
vii . netzwerke des entscheidens
sem ist im jüngst erschienenen Handbuch noch kein Artikel zugedacht, so fehlt in Wagner-Egelhaafs Handbook of Autobiography/Autofiction ein Artikel zu den Ausdrücken ›Archiv‹ oder ›Selbstarchivierung‹.4 (2) Es sind gerade lebenslaufkonstitutive Entscheidensprozesse, die dafür genutzt werden, unikale, bislang unveröffentlichte Manuskripte erstmalig zu publizieren. (3) Die eindrucksvolle Publikation wird mit entschlussfreudigen, ›unzuverlässigen‹ Kassationserzählungen und zuverlässigen Archivierungsprozessen effektvoll in Szene gesetzt. (4) Die angewandte bricolage markiert und visualisiert dabei die faktualen, fiktionalen wie sozialen Netzwerke des Entscheidens. Mit Netzwerken des Entscheidens wird in der vorliegenden Studie das Phänomen bestimmt, dass lebenslauf- und werkkonstitutive Entscheidens prozesse mithilfe ausgewählter, unikaler Archivalien dargestellt werden.5 Mit der bricolage als Erzähltechnik wird auf die intertextuellen, inter medialen und materialen Eigenschaften der präsentierten Archivalien und zugleich auf deren Provenienz verwiesen. Daraus folgt, dass Entscheidens prozesse kontextualisiert, mitunter externalisiert sowie raumzeitlich gestaltet werden können. Letzteres bewirkt, dass liminale Zeitphasen und private Kommunikationsräume punktuell szenisch dargestellt werden und einen spannungsvollen Erzählmodus bedingen. Textgruppen werden vernetzt, Verantwortungen auf ein erweitertes Figurenrepertoire verteilt. Eine Entscheidung wird als netzwerkbasierter Prozess verstehbar.6 (5) Das damit einhergehende synoptische Arrangement lässt das potenzielle Lesepublikum ahnen, dass das autobiografische Projekt nicht mit der letzten Seite endet, sondern der Ausgangspunkt zur weiterführenden Nachlasslektüre 4 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Handbook of Autobiography/Autofiction, S. 5-11. Vgl. zum Ausdruck ›Selbstarchivierung‹: Spoerhase, Postume Papiere, S. 510. 5 Freilich wird der Ausdruck ›Netzwerk‹ inzwischen fast inflationär verwendet, es droht ein Präzisionsverlust, dennoch ist er für die vorliegende Studie heuristisch wertvoll, denn mit ihm lässt sich markieren, wie ein Entscheidensprozess ermöglicht, dass jeweilige autobiografische Werk mit anderen Werken zu vernetzen und auf diese Weise karrierefördernde Beziehungen aufzubauen. Mit dem gewählten Ausdruck möchte ich zuletzt auch dafür plädieren, jeweils die Textgenese und Publikationspolitik zu berücksichtigen, denn diese verdeutlichen den Erkenntniswert archiv basierter Forschung. Vgl. zum Ausdruck ›Netzwerk‹ exemplarisch: Spoerhase, »Manuscripte für Freunde«; Binczek, Einleitung; Broch, Rassiller und Scholl, Einleitung; Böhme, Einführung. 6 Zumal bevorzugt Briefe zitiert werden, die belegen, dass die Entscheidung dialogisch entwickelt oder rhetorisch der Briefpartnerin eine Beteiligung suggeriert wurde. Ein Entscheidensprozess dient letztlich auch dazu, ein karriereförderndes Netzwerk zu etablieren, indem explizit bereits etablierte, gut vernetzte Figuren als gewählte Berater ›hofiert‹ werden.
458
vii . netzwerke des entscheidens
ist. Auf diese Weise kann wiederum die Relevanz umfänglicher Nachlass editionen legitimiert werden. (6) Kurzum: Die synoptisch organisierte bricolage macht die produktive Beziehung zwischen Autobiografie und Archiv erfahrbar. Die punktuellen Erstpublikationen innerhalb des autobiografischen Projekts zielen auf zukünftige, philologisch versierte Editionsprojekte, verhindern jedoch, dem Trugschluss einer harmonischen Werkeinheit aufzusitzen. Biografie und Werk werden mithilfe des erzählten Entscheidensprozesses als uneinheitlich, gewissermaßen unabschließbar präsentiert, denn im besten Fall folgt ein bewegtes Nachleben in Form einer anhaltenden Rezeption.7 Während Paul Heyse als Zeitzeuge die Gründung des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar begleiten konnte,8 liegt Fanny Lewald-Stahrs Todestag zum Zeitpunkt der feierlichen Eröffnung fast ein Jahrzehnt zurück. Umso bedeutender ist, dass sie bereits als autodidaktische Vorläuferin ihr autobiografisches Projekt nutzt, um dieses mit ihrem Werk und Nachlass mittels einer Entscheidungserzählung zu verknüpfen. Die Frage nach genderspezifischen Unterschieden kann dahingehend beantwortet werden, dass diese nicht primär in der erzähltechnischen Gestaltung, Rhetorik, Nachlassstrategie oder Topik vorliegen, sondern erst durch die (literatur-) wissenschaftliche Rezeption etabliert werden. L ewald-Stahr erweist und inszeniert sich – wie ihre Kollegen – als eine nachlasspolitisch versierte Netzwerkerin. Doch während Heyse und Schnitzler als beflissene Netzwerker oder ›Netzwerkprofiteure‹ vorgestellt werden, erfährt LewaldStahrs Bündnisbestrebung eine andere Deutung, wenn etwa netzwerk 7 Erkenntnisfördernd ist Erharts Beobachtung, dass Goethe in seiner Autobiografie Lebens- und Werkpläne als fragmentarisch klassifiziert (vgl. Erhart, »Jeder soll werden wie er«, S. 201 f.). Vgl. hierzu auch: Sina, Kollektivpoetik, S. 49-55; Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt., Bd. 14, S. 727. 8 Während Heyse die Einladung zur Eröffnungsfeier dankend annimmt, begründet Fontane sein zwingendes Fernbleiben mit einem Kuraufenthalt. Jochen Golz ermittelt, dass Fontanes Doppelleben, mit dem er zeitlebens gehadert habe, ausschlag gebend gewesen sei, da dieses maßgeblich seine Position in literarischen Netzwerken beeinflusst habe (vgl. Golz, Das Goethe- und Schiller-Archiv in Geschichte und Gegenwart, S. 29-31). Erhellend ist dies, weil Heyses Vater explizit von einem beruflichen Doppelleben abrät, damit sich der erhoffte Erfolg auch einstellen kann. Ein Rat, der bereits für das 19. Jahrhundert seine umfassende Gültigkeit verlieren sollte. Auffällig ist, dass Heyses Vater die gleiche Alliteration wie Dilthey nutzt, um auf die Vorzüge und Notwendigkeit einer konzentrierten ›Einheit‹ hinzuweisen, »zerstreuende und zersplitternde« Tätigkeiten zu vermeiden (vgl. hierzu: Carl Heyse an Paul Heyse, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8; Dilthey, Archive für Literatur [1889], S. 371).
459
vii . netzwerke des entscheidens
orientierte Vorworte und Einleitungen als ›paternalistische Befangenheitsgeste‹ ausgelegt, aufgrund dessen auch getilgt werden. Dies gilt nicht ausschließlich für Forschungsbeiträge, die im Zuge der Frauenbewegung entstanden und einer Vorbildkonstruktion gewidmet sind. Äquivalente Netzwerkstrategien werden bei Heyse sowie Schnitzler entweder als selbstverständlich oder als professionelle Autor- und Werkpositionierung, dagegen bei Lewald-Stahr pejorativ als Subordination gedeutet. Aussagekräftig ist deshalb, dass sich die hier vorgestellten Autobiografien allesamt durch eine Praxis auszeichnen, die im Verlauf des 19. und auch 20. Jahrhunderts stetig professionalisiert respektive kultiviert wird. Gemäß Sina entwickelt sich mit der Gründung literarischer Archive besonders im späten 19. Jahrhundert kontinuierlich ein schriftstellerisches Nachlass bewusstsein, das archivarische Praktiken fördere: Ein Autor, der zu Lebzeiten eine gewisse Resonanzschwelle der öffentlichen Aufmerksamkeit überschritten hat, muss nun potenziell damit rechnen, dass sein Nachlass zunächst Material für das Literaturarchiv, sodann aber auch Gegenstand der Philologie werden wird. […] Die Bewahrung, Erschließung und Erforschung schriftstellerischer Nachlässe avanciert in diesen Jahren zu einer kulturellen Praxis, an der Philologen, Archivare und nicht zuletzt die Autoren selbst beteiligt sind, nämlich mit spezifischen Vorsorgemaßnahmen, die sie ihrer zukünftigen Hinterlassenschaft zuteil werden lassen, sei dies […] in Form einer akribischen Ordnung des gesammelten Materials, oder aber in Form eines Entzugs durch seine Zerstörung.9 Wird rückverfolgt, wann und unter welchen Bedingungen private an institutionalisierte Archivierungspraktiken geknüpft respektive um diese erweitert werden, kann eine charakteristische Übereinstimmung beobachtet werden: Ebner-Eschenbach provoziert Verlustängste bei ihrem Verleger Rodenberg, indem sie droht, bereits begonnene, punktuelle Kassationen in ein umfassendes Autodafé übergehen zu lassen, sofern er nicht ein autobiografisches Projekt bei ihr in Auftrag gebe. Lewald-Stahr ergänzt ihr 9 Sina, Kafkas Nachlassbewusstsein, S. 221 f. Inwiefern sich diese Entwicklung in kleinformatigen, journalistisch-autobiografischen Texten niederschlägt, verrät etwa ein Blick in die Die Literarische Welt. Vgl. etwa: Brod, Neben dem Schriftstellerberuf/Ein Zyklus Selbstbiographien; Brod, Über Franz Kafka; Haas, Meine Meinung. Brod veröffentlicht einzelne Passagen aus Kafkas Nachlass, um in den Zwischenkriegsjahren die Notwendigkeit einer Gesamtausgabe vorzustellen und einem etwaigen Verlust, einer drohenden Zerstreuung vorzubeugen. Willy Haas unterstützt dieses Vorhaben entschieden.
460
vii . netzwerke des entscheidens
a utobiografisches Projekt im Trauerjahr um einen weiteren Band, der dem Andenken ihres verstorbenen Ehemanns sowie ihrer emanzipierten Eheentscheidung gewidmet ist. Fontane setzt sein Testament auf und beginnt mit seinem autobiografischen Projekt im Zuge einer schweren Krankheit. Heyse stilisiert sich in der fünften Auflage als bewährter, nämlich krisengebeutelter Entscheider, legt sein Testament nieder und konzipiert das Heyse-Archiv. Schnitzler beschließt sein autobiografisches Projekt im Jahr 1918 und testiert im gleichen Jahr seine letzten Bestimmungen.10 Gemeinsam ist allen Fallbeispielen die triadische Verknüpfung zwischen Autobiografie, Nachlass und Werk.11 Ein weiterer zentraler Gemeinplatz ist das Entscheidungsmoment, um ebendieses Bündnis zu fokussieren: Die lebenslauf- und werkkonstitutive Nachlassentscheidung wird während einer unikalen Krisenzeit getroffen und das autobiografische Projekt an eine Krisenerzählung gebunden. Ferner wird das benannte Arrangement mit der synoptisch organisierten bricolage visualisiert. Infolgedessen implementieren Lewald-Stahr, Heyse und Schnitzler mithilfe der Krisenerzählung ein Alleinstellungsmerkmal. Burckhardt erläutert in seiner Studie Weltgeschichtliche Betrachtungen charakteristische Merkmale einer ›Krise‹, diese erklären schlüssig das nach10 Alle Biografien zu Schnitzler wählen als Exposition eine Krisenerzählung, die den erlebten Kriegsjahren und der Nachlassarbeit gewidmet sind: Farese, Arthur Schnitzler, S. 9; Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 1; Wagner, Arthur Schnitzler, S. 13; vgl. ebd., S. 268, 276 f.; Jürgensen hält hierzu fest: »Entstehungsgeschichtlich verdankt sich seine ›Selberlebensbeschreibung‹ […] einer doppelten Krise, der weltgeschichtlichen Krise einerseits, die allgemein Rückschauen auf eine untergehende Gesellschaft bzw. Lebensart provozierte, und einer privaten, namentlich durch das fortschreitende Alter hervorgerufenen Lebenskrise andererseits« (Jürgensen, Auto biographische Schriften, S. 276). Kulturgeschichten beginnen oftmals mit Kassations- und Krisenerzählungen, exemplarisch kann hierfür Thiemeyers Exposition für seine Studie Geschichte im Museum genannt werden, indem er auf eine Kassationsszene aus Siegfried Lenz’ Heimatmuseum eingeht (Thiemeyer, Geschichte im Museum, S. 1; vgl. auch: Detering, Krise und Kontinent). Vgl. zu ›Krisenbewusstsein‹ und ›Erbrecht‹ exemplarisch: Riedl, Die Zeichen der Krise, S. 50. Vgl. Zu ›Krise‹ und ›Erfolg‹: Fischer, Ein »etablierte[r] deutsche[r] Schriftsteller«?, S. 94 f. 11 Auch verlorene oder kassierte Archivalien sind dauerhaft präsent, wenn von ihnen erzählt wird, sie Lücken oder Spuren hinterlassen: Die hier vorgestellten Autobiografien resultieren allesamt aus fiktionalen sowie faktischen Archivierungspraktiken. Textgenetisch konnte gezeigt werden, dass autobiografische Projekte an Archivierungspraktiken gebunden sind, zugleich auf diese rückwirken. Erinnert sei hier auch an Aleida Assmanns ›Konzept des Vergessens‹, das zentral ist für Erinnerungsprozesse: Assmann, Formen des Vergessens; Assmann, Erinnerungsräume, S. 53-55, 349-358. Vgl. hierzu auch: Neumann, Schreiben und Edieren, S. 187 f., 190. Dilthey bestimmt für autobiografische Projekte ebenfalls einen notwendigen Vergessensakt (vgl. Dilthey, Das Erleben und Selbstbiographie, S. 200).
461
vii . netzwerke des entscheidens
haltige Potenzial einer Krisenerzählung: »Die echten Krisen sind überhaupt sel ten«.12 Den konstatierten Seltenheitswert ergänzt er dezidiert für »Literatur u n d K u n s t « um einen Auszeichnungswert: Ein besonderes Verhältnis haben die Krisen zu Li te ra t u r u nd Ku nst , wofern sie nicht geradezu zerstörend wirken oder mit teilweiser bleibender Unterdrückung geistiger Einzelkräfte verbunden sind […]. Es zeigt sich, daß kräftige Denker, Dichter und Künstler deshalb, weil sie kräftige Menschen sind, eine Atmosphäre von Gefahren lieben […]. Große und tragische Erlebnisse reifen den Geist und geben ihm einen anderen Maßstab der Dinge.13 Die Krise wird zur Bewährungsprobe und zum Kreativitätsmoment gemünzt, nebstdem trete mit ihr das ›tatsächliche Talent‹, so die Argumentationslogik, erst zutage. Die Krise stellt eine Bewährungsprobe dar, die zukünftigen Erfolg verspricht.14 Ihr werkmächtiges Potenzial erwirkt sie erklärtermaßen durch den Seltenheitswert, da erst dieser ein Alleinstellungsmerkmal garantieren kann. Nachlasspolitisch durchdacht ist Heyses Entscheidung, für seine ›neu durchgesehene und stark vermehrte‹ fünfte Auflage eine Krisenerzählung in die Autobiografie einzufügen. Es ist die dilemmatische Berufsentscheidung, die es dem Autobiografen ermöglicht, das Image eines »Sprössling[s] aus kultiviertem Berliner Professorenhaushalt mit angeborener Eintrittskarte in die Salons und die Kulturszene der Zeit«,15 »vielgeliebte[n] Glückskind[s] bürgerlicher Dichterträume« oder eines »nachgeborenen Olympiers« korrigierend zu relativieren.16 Alle Krisenerzählungen sind komplexen Berufsentscheidungen gewidmet und anhand dieser wird das inzwischen professionalisierte ›Handwerk‹ kunstvoll vorgeführt. Zumal die Entscheidung für einen risikoreichen Beruf als spannungsreiche Gefühlsentscheidung inszeniert werden kann.17 Ferner 12 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 168. 13 Ebd., S. 192. 14 In Bezug auf Essers Konzept einer ›bounded rationality‹ liegt hier der Schluss nahe, dass nicht die rationalste, sondern die prekärste Entscheidung getroffen wird und diese gilt es für eine postume Rezeption in Form zu bringen (vgl. Esser, Sinn, Kultur und »Rational Choice«, S. 258 f.). 15 Richter, Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 243. 16 Grimm, Paul Heyse, S. 322; ebd., S. 323. 17 Folgt man Parrs Feststellung, markieren ebendiese Krisenerzählungen, dass der Ausdruck ›Schriftstellerin‹ bereits eine professionalisierte Disziplin bezeichnet: Denn gemäß Parr ist »[f]ür die besondere ›Professionalisierung‹ des Schriftstellers […] die anhaltende Spannung von ›Beruf‹ und ›Berufung‹ enstcheidend« (Parr, Autorschaft, S. 18). Goethe macht retrospektiv das Gefühl für seinen Erfolg verantwortlich: »›Ich
462
vii . netzwerke des entscheidens
ermöglicht die synoptisch organisierte bricolage ebendiese Trias als vielversprechenden Forschungsgegenstand vorzustellen, der eine vita activa über den Tod hinaus optional werden lässt. Diesem postumen Plan kommt entgegen, dass Archivalien ebenso selten sind wie Krisen:18 [D]as Archivale, d. h. das Einzelstück eines Archivbestandes, [stellt den] Überrest eines bestimmten konkreten Vorgangs dar[ ], […] es [ist] normalerweise einmalig.[…]. Archivalien sind in der Regel Unikate. Daher wird jedes Archivale und jeder Archivbestand insgesamt stets nur in einem Archiv aufbewahrt sonst nirgendwo.19 Die als repräsentativ ausgewiesenen Archivalien sind bewahrenswerte und autobiografiefähige Artefakte, zumal ihnen ungebrochen eine valide »Beweiskraft« zugesprochen wird – eine Eigenschaft, die dem Bekenntnis charakter autobiografischer Projekte entgegenkommt.20 Bezeichnend ist gerade deshalb, dass die zitierten Archivalien kaum für das autobiografische Projekt verändert wurden, es liegen beinahe exakte Abschriften vor. Autobiografische Archivierungspraktiken dienen einer kalkulierten und organisierten ›Selbsthistorisierung‹. Sina und Spoerhase referieren mit dem Ausdruck ›Posteritätspräzeption‹ auf Hermann Lübbes Konzept der ›Präzeption‹ und ›Selbsthistorisierung‹. In der zitierten Studie lässt sich wiederum ein – für den hier vorgestellten Kontext – einschlägiges Kapitel finden, namentlich Kassation oder die archivarische Aktenvernichtung.21 Ebendort erläutert Lübbe, dass Archivierungs- und Kassationsentscheidungen zukünftige Geschichtsschreibungen formieren, derweil Archivaren behabe, sagte Goethe, auf meinem jetzigen Standpunkt über jene jugendlichen Produktionen eigentlich kein Urteil. Da mögt ihr Jüngeren entscheiden. Ich will indes jene Anfänge nicht schelten; ich war freilich noch dunkel und strebte in bewußtlosem Drange vor mir hin, aber ich hatte ein Gefühl des Rechten, eine Wünschelrute, die mir anzeigte wo Gold war‹« (Eckermann, Gespräche mit Goethe, FA, II. Abt., Bd. 12, S. 100). 18 Darauf macht auch die häufig angewandte ›Schatzmetapher‹ aufmerksam: vgl. hierzu: Welzig, Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, S. 7-9; Lévi-Strauss, La Pensée Sauvage, S. 28; Petzet, Vorwort, S. 6; Brod, Franz Kafkas Nachlaß, S. 107, 109; Spiero, Schatzkammer der Handschriften. Besuch in der Bayerischen Staatsbibliothek, in: Neueste Nachrichten, 22.1.1925, BayHSta, GDION Bibliotheken, 789; JBV, 36; Zedler, Archiv. 19 Reimann, Grundfragen und Organisation des Archivwesens, S. 29. 20 Ebd., S. 34. 21 Vgl. Sina und Spoerhase, Nachlassbewusstsein, S. 623; Lübbe, Im Zug der Zeit, S. 191-211, 290. Vgl. zu ›Selbsthistorisierung‹ und ›Präzeption‹ auch: Katins-Riha, Nachlassbewusstsein, Nachlasspolitik und Nachlassverwaltung bei Gerhart Hauptmann, S. 15.
463
vii . netzwerke des entscheidens
ziehungsweise Archivarinnen die Herkulesaufgabe gestellt werde, mittels professionalisierter Selbsthistorisierung zukünftige Forschungsinteressen zu antizipieren.22 Erstaunlich dabei ist, dass er sich primär auf Archivalien konzentriert, die getroffene Entscheidungen mitsamt vorgelagerten Entscheidensprozessen dokumentieren. Ausdrücklich stuft er diese als archivwürdig ein.23 Anders gewendet: Kulturkonstitutives, erzählenswertes Potenzial misst Lübbe Entscheidensprozessen und den damit verbundenen unikalen Krisen bei. Eine Einschätzung, die bereits alle hier versammelten Fallbeispiele validieren. Lübbe bestimmt die Archivierungs- und Kassationsentscheidung als Krux: »Selbstwahrnehmung der Gegenwart als zukünftiger Vergangenheit – das ist es, was den professionellen Überlieferungsbildern heute abverlangt wird«.24 Und es lässt sich ergänzen, was die hier vorgestellten Schriftsteller vormals bereits konnten. In diesem Punkt erscheinen sie geradezu als paradigmatische Archivarinnen, die um den historischen, kulturkonstitutiven und nicht zuletzt ökonomischen Wert exklusiver Entscheidensprozesse wissen. Archivalien, die ebendiese seltenen Ereignisse konservieren, erhalten den Status eines seltenen Schatzes, der gemäß einem ›Tischlein, deck dich‹-Prinzip stets auf ein Neues gehoben werden soll. Baßler argumentiert in seiner Studie Die kulturpoetische Funktion und das Archiv für ein digitales Zentralarchiv, das solche Wiederholungshandlungen obsolet machen könnte. In dieses sollten alle einmal erhobenen Archivalien eingespeist werden. Daran anschließend resümiert er: »Es reicht, wenn diese Arbeit einmal investiert wird, und diejenigen, die das tun, müßten dafür von der Scientific Community entsprechend honoriert werden«.25 Baßlers Ansatz reduziert die Komplexität von Quellen, die nicht ›einmal‹ erfasst 22 Für das Entscheidungsdilemma verwendet Lübbe die prominente Initialformel »Was tun?« (Lübbe, Im Zug der Zeit, S. 13 f.). 23 Vgl. ebd., S. 167, 170-172, 182, 184. Lübbe konzentriert sich bei seinen Ausführungen auf die ›Politik‹: »Im Zeitalter einer Kultur progressiver Selbsthistorisierung ist natürlich, zumal in der Politik, die Neigung ausgeprägt, Entscheidungen, die man getroffen hat, zum Zweck der Erhöhung ihres Aufmerksamkeitswerts als ›historische Entscheidungen‹ auszugeben. Der Prädikator ›historisch‹ repräsentiert in solchen Fällen den Anspruch, die getroffene Entscheidung sei von einer Wichtigkeit, die ihr Berichtspflichtigkeit auch noch in der Geschichtsschreibung der Zukunft garantiere« (ebd., S. 184). Die hier vorgestellten Autobiografen inszenieren mithilfe eines unikalen Entscheidensprozesses erstmals ihre bislang unveröffentlichten Archivalien, sie charakterisieren ihren zukünftigen Nachlass als archivwürdig. Die Entscheidung ist Mittel zum Zweck. 24 Ebd., S. 189 f. Vgl. hierzu auch: Weitin und Wolf, Einleitung, S. 11; Zanetti, Sich selbst historisch werden, S. 92. 25 Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 327. Überdies verwendet
464
vii . netzwerke des entscheidens
werden kann, sondern die ein stetes Reservoir für die Forschung darstellt.26 Die Autobiografie funktioniert in den vorgestellten Fallbeispielen als Repertorium, indem sie Entscheidungsressourcen präsentiert, die dazu dienen ein »Suchbild« für archivbasierte Forschungsfragen darzubieten.27 Die Kassation ist gemäß Lübbe ein »zufallsträchtiger Vorgang«. Sie leiste eine zweifache Kontingenzreduktion: Mögliche Zufallsverluste würden reduziert, etwaige Zufallsfunde kontrolliert. Daraus folge eine »Praxis des Suchens und Findens«, die Lübbe als »hochorganisiert und systematisiert und überdies technisch instrumentiert« klassifiziert.28 Archivierungs- und Kassationsentscheidung besitzen einen unbestreitbaren Zukunftsbezug, denn beide bedingen maßgeblich unsere Erinnerungsmöglichkeiten. In allen hier vorgestellten Fallbeispielen wurden diese Verfahren und Funktionen von den Autobiografinnen erkannt, sodann versiert angewandt. Die Autobiografie ist auf diese Weise keinesfalls der ruhige Endpunkt, vielmehr ist sie der unruhvolle Ausgangspunkt.
Baßler eine sehr weite Archivdefinition: »[J]eder Text ist ein kleines Archiv« (ebd., S. 328; vgl. ebd., S. 321). 26 Problematisch erscheint die Vision eines einmalig ausreichenden Zugriffs in mehrfacher Hinsicht: (1) Was würde gegebenenfalls kassiert, sollte die Entscheidungsverantwortung tatsächlich auf einzelne Digital Archivists übertragen werden, (2) was würde durch ein Digitalisat zur Unkenntlichkeit retuschiert und (3) wie steht es um die Datensicherheit, (4) nachhaltige Speicherungsmöglichkeiten und -kapazitäten, (5) Persönlichkeits- sowie Urheberrechte? (6) Erst der wiederholte Zugriff auf Archivalien beziehungsweise Nachlässe, Sammlungen und Vorlässe ermöglicht eine transparente, somit valide Wissenschaftlichkeit. 27 Lübbe legt dar, dass mit Kassationsentscheidungen ein »Suchbild« entworfen werde, das gewissermaßen eine Karte für die zu erkundende Archivlandschaft bereitstelle: »Wer aber sucht, braucht ein Suchbild, sonst findet er nichts« (Lübbe, Im Zug der Zeit, S. 196). Ein ähnliches Verfahren präsentieren die hier vorgestellten Auto biografien. 28 Ebd., S. 168, 175; vgl. ebd., S. 13, 167 f., 185.
465
VIII. Bildnachweise
Abb. 1, 2
Fanny Lewald-Stahr, Porträt mit Widmung, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 19, Manuskripte von Adolf Stahr und ein Band Gedichte, dazu zwei Porträts von Fanny LewaldStahr, Vorder- und Rückseite. Abb. 3-5 Fanny Lewald-Stahr, Einleitung, GSA, Fanny Lewald-Stahr, 96.1816, Bl. 13799-13801. Abb. 6, 7 Paul Heyse an Bernhard L. Suphan, Bayern 24. August 1896, GSA, Zusagen zur GSA-Einweihung, 150.A 53, 179 f. Abb. 8 Paul Heyse an Carl Heyse, Bonn, 13. Januar 1850, BSB, Heyse- Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33. Abb. 9 Carl Heyse an Paul Heyse, Berlin, 16. Januar 1850, BSB, HeyseArchiv, Paul Heyse, VIII.8. Abb. 10 Paul Heyse, Testament, StA, AG München, NR 1914/852. Abb. 11 Heinrich Spiero, Schatzkammer der Handschriften. Besuch in der Bayerischen Staatsbibliothek, in: Neueste Nachrichten, 22.1.1925, BayHSta, GDION Bibliotheken, 789. Abb. 12 Adolf von Sonnenthal an Arthur und Johann Schnitzler, Wien, 30. April 1881, DLA, Arthur Schnitzler, HS.1985.0001. Abb. 13 Arthur Schnitzler, Mein Freund Ypsilon. Aus den Papieren eines Arztes, in: An der schönen blauen Donau 4, 1889, 2, S. 2528, ANNO/Österreichische Nationalbibliothek, http://anno. onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=asd&datum=1889&page =36&size=31 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Abb. 14, 15 Arthur Schnitzler, Tagebuch, April, Mai 1885, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes Autobiographisches, Tagebuch 1879-1889, HS.NZ85.0001.00157. Abb. 16, 17 Arthur Schnitzler, Leben und Nachklang. Werk und Widerhall, DLA, Arthur Schnitzler, HS.1985.0001.00085. Abb. 18 Arthur Schnitzler an Heinrich Schnitzler, 6. Juli 1930, DLA, Arthur Schnitzler Dokumente, Testamentarische Verfügungen, HS.2009.0087.
467
IX. Transkriptionen
Fanny Lewald-Stahrs Meine Lebensgeschichte und Römisches Tagebuch Die gesammten Abbildungen und Transkriptionen zu Fanny LewaldStahrs autobiografischem Projekt befinden sich in den Kapiteln Berufene Entscheiderin, Ehe in Eigenregie und Entscheidende Ergänzung.
Paul Heyses Jugenderinnerungen und Bekenntnisse Die gesammten Abbildungen zu Paul Heyses autobiografischem Projekt befinden sich in den Kapiteln Entschieden unentschieden, Correspondenzschrank, öffne Dich! und Von Archiv zu Archiv. Transkription zu Abb. 8: Paul Heyse an Carl Heyse, Bonn, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33. Alle Passagen, die Petzet für seine Transkription und Publikation getilgt hat, sind hellgrau markiert [Hervorhebungen durch S. N.], so auch alle Varianten, die Petzets Text zum Manuskript aufweist. Wiedergegeben wird im Folgenden eine diplomatische Transkription. Späte Lesespuren und Durchstreichungen werden nur dann kommentiert, wenn sie eine sinnverändernde Bedeutung haben. Nachträgliche Ergänzungen im Fließtext werden hochgestellt und durchgestrichene, unleserliche Worte werden xxx mit wiedergegeben.
Bonn am 13ten Jan. 50 Geliebter Vater! Ich habe diesmal viel auf dem Herzen, darum nun einen kurzen Dank für deinen Brief zuvor, und gleich an die Sache. Kaum ist mir je eine Zeit so voller Kampf vergangen wie die Ferien um Weihnacht. Manchmal schrieb ich an dich noch spät in der Nacht mitten aus dem Wirbel aller zweifelnden Gedanken heraus, zerriß die Blätter andern Tags, kam zu keiner Arbeit und xxx hatte mich doch überarbeitet ohne Gewinn, und ließ tausend Pläne nun vorübergehen. Nun bin ich entschie468
i x . t r a nsk r i p t ion en
den mit mir, so weit einer entschieden sein kann, der von so lieben Eltern abhängt, – um es in zwei Worten zu sagen – ich will meine Kunst-Studien liegen lassen. Du musst mich nun geduldig über die Gründe anhören. Leider hab ich nie Zug und Beruf zu einer bestimmten Wissenschaft so recht eigentlich gespürt. Der Geist in allen zog mich und schien mich zu berufen, aber tiefer hinein gekommen, sah ich, wie der Geist sich nur dem erschließt[,] der ein ganzes Leben drum geworben hat, und das durft’ ich und mocht’ ich nicht. Denn noch glaub’ ich dran, daß ich ein Dichter sein werde. Als ich hierher kam, hatt’ ich die Absicht, mich in der Historie zu befestigen, um darum einen sicheren Grund für die Culturgeschichte zu haben. Ich dachte, es wäre genug gethan, wenn ich ein paar Stunden am Tag Historiker lese, daraus lernte, so gut es ginge, und hie und da mich nach den Monumenten umthäte. Ich merkte bald an einer gewissen Erschlaffung der Denkkraft, das sei kein Arbeiten, keine echte Gymnastik des Geistes. So ließ ich die Neueren, ging auf die Quellen und fing an, mit ernstlichem Schweiß den versunkenen Bauhütten nachzugraben. Mein Herz zog mich nicht eben zu alle dem. Ich hatte es ja an die Poesie gehängt. Aber der Verstand sagte mir, es sei gut so, nun einmal eine Dissertation zu machen, Miethe für eine Wohnung zu zahlen und zu thun wie geschrieben steht: Nimm du ein Weib und mach ein Kind und sei ein deutscher Biedermann. Warum hab’ ich bloß dem Verstand getraut? Freilich nährt’ ich den heimlichen Willen, von meiner Poetenschaft Zeugniß zu legen. Wenn ich aber aus Schutt und Moder der Bau⸗Urkunden heraufstieg, und wollte noch eine Weile meine lichte sonnige Dichter-Oberwelt anbauen, war mir alle Kraft erlahmt. Mit halber Kraft und halber Lust stümperte ich an dem und Jenem so weiter, in einer seltsamen Angst, daß ich’s nur nicht gar verlernte über dem unterirdischen Treiben[.] Und hinterdrein hatt’ ich an meinem Gemächt mehr Ärger, als Freude. Nicht daß es schlecht gewesen wäre, aber es war eben halb, und ich verlor bei alledem nicht die Überzeugung, daß mir das Ganze und Große nicht versagt ist. Du in deiner Klarsichtigkeit und bei der Freundschaft, die du zu mir hegst, wirst einsehen, wie ich eine lange Zeit, da ich mir all das nicht eingestand, ein unfriedliches, verlogenes, krankes Leben führte. Mitten in der Arbeit, wenn ich dachte so recht dem Kern der Dinge nach zu kommen, raunte mir mein guter wahrer Engel ins Ohr; Du hast doch kein Herz zu den Dingen! Was schiert dich die Bauhütte? Indessen schläft deine beste schaffende Kraft, und du wirst ihr und dir ungetreu. – Ich hörte das wohl, meinte aber, die Faulheit gebe mir das ein, und es war doch 469
i x . t r a nsk r i p t ion en
mein guter Genius. So schleppte ich das Joch weiter excerpierte und trug zusammen, und hätte am Ende einen stattlichen Ameisenhaufen zu Stande gebracht [.] Wenn ich denn zufällig einen Band von Goethe in die Hände bekam, fasste mich ein entsetzlicher Grimm gegen mich. Selbst. Ich hätte all meine Schmiererei ins Feuer werfen mögen, und doch sagt ich mir ein ganz keckes anch’io – aber nicht so n o , sondern sa r ò. Ich gewahrte, wenn wir bei Ritschl’s des Abends lasen, was so recht zündete, bei klugen Menschen, was anregte und sich Eingang erzwang, und von Alledem fand ich in meinen Arbeiten nur dürftige Spuren. Waren sie ja nicht mit dem ganzen vollen Herzen geschaffen, sondern in Erholungsstunden. Und wer sich nach wirklicher geistiger Arbeit an poetischen Produktionen erholen will, ja der wird entweder eine Fachkraft haben die mir fehlt – hat sie je einen gehabt –, oder er wird sich höchstens in einem Frauen⸗Almanach keine Schande machen. Eine ernste Wissenschaft wie ein Charlatan bloß als milchende Kuh zu behandeln, bin ich nicht längst fertig genug. Wen die forschenden Gedanken loslassen, sobald er die Feder ausgespritzt hat, der hat nie geforscht. Eine wissenschaftliche Thätigkeit aber ohne redliche Production widert mich an. Und doch ist es mir unmöglich zugleich wissenschaftlich und künstlerisch fruchtbar zu sein. Nun hab ich ein unglückliches Gedächtniß, das keine Unterbrechung duldet. Würde ich nicht Tag für Tag in einer Wissenschaft leben und weben, meine Studien auf Monate aussetzen etwa einer Tragödie zu Liebe, so wär’ ich ja gründlich herausgerissen, daß ich, nur um wieder das Verlorene zusammenfinden, ärgerlich viel Zeit vergeuden müsste. Und doch blieb ich ewig ein Halbwisser, was mir der unerträglichste Gedanke ist. Eine traurige Möglichkeit ist noch, daß ich auch nie ein ganzer Poet würde. Wäre das über mich verhängt, so hätt’ ich Resignation genug, sobald ich’s untrüglich erfahren hätte, mich ganz zur Wissenschaft zu wenden und der Schmerz des getäuschten Ehrgeizes würde meine Kraft verdoppeln, daß ich doch nicht ganz ruhmlos und nutzlos aus der Welt ginge. Vor der Hand hoff ich noch auf mich unerschüttert, denn ich glaube bei meiner Demuth klarer über mein Talent zu sein, als Manche, die eitle Augen haben. Ich muß indeß etwas dransetzen und wagen wenn ich mich gewinnen will. Ich darf nicht in der Zeit der Leidenschaften und energischen Gedanken meine besten Stunden über einer fremden frostigen Materie verlieren. Die geringste Leistung im Feld der Historie verlangt, wenn sie über das Mittelmäßige hinaus will, die Beherrschung des Ganzen und wie soll ich dazu kommen, dies Ungeheure zu leisten, wenn ich nicht das Ringen nach dem andern Ungeheuren völlig aufgeben will[.] 470
i x . t r a nsk r i p t ion en
Ich traue dir nicht zu, daß du nach diesen Worten von mir denkst, ich wolle fortan als Poet leben, ins Blaue hinein dies und das nebenher studieren, was mich fördern könnte, und ganz vergessen, wie die schwere Zeit, meine Lage und meine Liebe zu dir mir’s zur Pflicht machen, mich auf eigene Füße zu stellen. Ich habe viel zu sehr die Ambition der Unabhängigkeit, als daß mir der Gedanke auch nur einen Augenblick vorgeschmeichelt hätte, er sei erwünscht oder auch nur möglich. Zudem weiß ich aus Erfahrung, wie die Stunden der poetischen Ebbe fruchtlos sind, ohne ein einheitlich ernsthaftes Arbeiten, das mit Stoffen und Gedanken Seele und Geist nährt. Und das ist mir klar geworden, daß ein bloßes Aesthetisieren und Herumkosten und ⸗schlecken an Gemälden und Marmoren keine wahre Nahrung ist,1 daß aber ein gründliches geschickliches Streben nicht warten darf auf die Zeit der Ebbe. Mit Ritschl und Bernays hab’ ich vielfach darüber hin und hergesprochen. Ritschl rieth mir zum Studium der romanischen Litteraturen und Sprachen, Bernays fiel gleich bei aus voller Überzeugung, und mich hat der Vorschlag so angemuthet, daß mich nichts davon abgehalten hat, gleich an die Arbeit zu gehn, als die Erwartung deiner Zustimmung, lieber Vater. Ich bilde mir nicht ein, daß ich nun des Arbeitens überhoben wäre. Aber dies Arbeiten ist zunächst I. s. für den Anfang, mehr receptierer Art, und dazu viel enger verknüpft mit meinem eigentlichsten Beruf, als Alles, was ich bisher gethan habe. Dazu kommt, daß ich meine besten Studien nicht so durchaus nothwendig auf Reisen machen muß, daß ich überall die Grenzen des Arbeitens sehe, und nicht wie es bei der sog. Kunst geschichte der Fall sein würde, alle Zeiten und alle Welten ins Auge zu fassen habe. Überdies ist diese Disciplin als Wissenschaft anerkannt, und eben so wie sie den Geist festigt und nährt, macht sie mir Aussicht zu einer Stellung im Leben, die ich nicht entbehren möchte, auch wenn ich könnte. Bevor ich auf diesen Gedanken gebracht wurde, hatt’ ich andere den ich dir nicht ganz vorenthalten will. Ich sah mich nach einem Geschäft um, das mir in einer der fünf Stunden des Tags Brod für die übrigen schaffte. Den Einfall, Jurist zu werden, gab ich bald auf. Man soll seiner Natur nicht das Heterogene zumuthen, ungestraft. Wär ich auch ein leidlicher
1 Die gesamte Passage ist merklich parallel dazu gestaltet, wie Goethe seine ›Stu dienkrise‹ erläutert. Demnach finden sich bereits in Heyses Brief – zumindest intertextuell – autobiografische Markierungen (vgl. Goethe, Aus meinem Leben, FA, I. Abt., Bd. 14, S. 393).
471
i x . t r a nsk r i p t ion en
studiosus iuris geworden, so hätt’ ich doch nicht ein ganz erbärmlicher Assessor werden können. An andere, noch bessere sich Dinge kam ich, indem ich an Roussau’s Notenschreiben dachte. Ich wollte Portraits zeichnen, das Lob, das die hiesigen Maler meinem dilettiren reichlich gespendet hatten, ermuthigte mich dazu. Aber ich habe zu viel Sinn für die echte Kunst, um ein Stümperleben zu ertragen um des äußeren Vortheils willen. In den Stunden, die ich nicht verdichte, darf ich kein Handwerker sein ohne Gefahr für den Künstler in mir. Auch sind mir diese und ähnliche Gedanken vergangen, so bald ich auf die romanische Philologie kam. Ich brauche nun nicht ganz von vorn anzufangen; meine bisherigen Studien sind alle nützlich und nöthig, und die Zeit die man mit ernsthaften Suchen verloren hat, ist nicht verloren. Redlich aber bin ich durch mein ganzes Leben gewesen, und bin von Gewissensbissen über meine 6 Semester so fern wie es ein angehender Poet sein kann, dessen Träume und dessen durchgelebte Stunden nicht leer von Früchten sind. Du glaubst nicht, wie mir nun leicht ums Herz ist, da ich dies Scheinwesen gründlich abgethan habe und nun hoffen kann, mir selbst in aller Wahrheit zu leben. Ich sehe nun erst, wie einer der einem Abgrund in der Nacht vorbeigeritten ist und reitet denselben Weg am hellen Tage wieder, in was für Gefahren xxx mein unsterblich Theil geschwebt hat. Wenn du, wie ich nicht zweifle, meinen Vorsatz billigst, so denke ich, zunächst Diez’s Grammatik tüchtig zu studieren, dabei eine spanische Grammatik durchzunehmen, und mit der spanischen Litteratur anzufangen, die – den Dante ausgenommen –, für den ich mich noch nicht reif genug halte – kräftiger und männlicher ist, als die italienische, und deren Romantik, weil sie herber und fremdartiger erscheint, nicht so verführerisch meine eigenen Arbeiten zu sich herüberziehen wird. Dann zu den Provencalen, Italienern, Engländern und so weiter, wie mich das gute Schicksal treibt, dem wird Es auch ein bischen zu thun übrig lassen müssen. Schreibe mir, ob du Diez’ Gramm. besitzt. Ich muß sie mir wahrscheinlich anschaffen. Ich muss dir nun mit einer Sache kommen, die ich mich scheute dir zu sagen, wenn ich nicht sicher wäre, auch hier von dir verstanden zu werden. Denn daß du es mir als eine Verminderung der Liebe auslegst, daran kann kein Gedanke sein. Ich bitte aber, Mutter von dem Folgenden nichts wissen zu lassen, bis wir darüber im Reinen sind, vernünftig, so viel es geht, wenn das Herz so laut mitspricht, alles Für und Wider abwägend. Es ist mir um meine Zukunft in Berlin bange geworden und durch alle Sehnsucht nach Eurer leiblichen Nähe hindurch habe ich eine Trauer nicht bemeistern können, wenn ich daran dachte, wie mich das zerrissene 472
i x . t r a nsk r i p t ion en
eräuschvolle Treiben der großen Stadt aus meiner arbeitsamen stillen Geg wohnheit verderblich herausreißen würde. Hier bin ich den lieben langen Tag ganz allein, auf Studien und Poesie angewiesen, ohne das Geschlepp überlästiger Bekannter, denen ich in Berlin unausweichlich wieder in die Hände falle, ohne den Zwang der LogenGeselligkeit, fern von xxx Verbindungen und Verbindlichkeiten, die mich wie Charpie ausfasern werden. Und wäre es allein Widerwertiges, das mich von mir selbst abwendig machte! So viel Liebes und Schönes, so viel, das meine Lieblingsneigungen hätschelt, die besten Freunde, die anmutigsten kleinen Märchen, dann bald ein Concert, bald ein neues Gemälde, bald dies bald das, von dem zu lernen ich mir noch gern einbildete, würde meine unfertige, noch weiche Natur mir zu einer ruhigen nachdrücklichen Bildung kommen lassen. Könnte ich bei Euch leben und allem Andern, holden und unholden, die Thür schließen, so wüsste ich nichts, was mich mehr förderte, als unmittelbar unter deinen Augen zu arbeiten. So aber – wie soll ich die Zähigkeit haben, dem steten verlockenden Andringen zu widerstehen? Ja wenn es mit einem einzigen Entschluß der Entsagung gethan wäre! Ich habe die Überzeugung, wie die große Stadt mich hemmen würde, erst nach schwerem Kampf mit meinen liebsten Wünschen gewonnen. Und als ich sie gewonnen hatte – wie lange hab ich geschwankt, ob ich dir meine Furcht mittheilen sollte, da ich wohl weiß und aus all Euren Briefen mit geehrtem Herzen in und zwischen den Zeilen erfahre, wie ihr auf den Sommer hofft, und wie Mutter die Stunden zählt. Ich dachte aber, es soll Wahrheit zwischen uns sein, und darum hab ich auch dies nicht verschwiegen. Ich fühle nur zu sehr, wie ungestört ich arbeiten muß, um ein ganzer Mensch zu werden. Wollen wir uns einer fröhlichen Gegenwart mit uns bei einander, die mir doch im Stillen durch manchen Gewissensbiß verbittert werden würde, leichtsinnig mit meiner Zukunft spielen? Noch einen Sommer in Einsamkeit verbracht, und es wird Alles gut sein. Ich werde wissen, woran ich bin mit meinem Dichterberuf, und werde zu meiner Wissenschaft einen Grund gelegt haben, dem alles Aufregende der großen Stadt nichts anhaben soll. Hätte ich nicht aus deinem letzten Brief gesehen, daß du auf besserem Weg mit deiner Gesundheit bist, so hätt’ ich alle Rücksicht auf mich selbst hintangesetzt, wäre zu dir gekommen und bei dir geblieben, so lang bis du genesen wärst, und hätte dann gebeten mich wieder in irgend einen abgelegenen Winkel bergen zu dürfen. Jetzt wage ich wenigstens, dir meine Gedanken zu sagen. Hast du mich zum Leben zum glücklich ⸗ leben nöthig, und kann ich dir durch meine Mühe wahrhafte Dienste leisten, so will ich auch jetzt noch nichts gesagt haben. 473
i x . t r a nsk r i p t ion en
xxx Aber wenn du einwilligen möchtest, daß ich von Berlin noch ein Semester fernbleibe, so fragt sich’s nun, ob ich die Mittel dazu habe. Ich rechne auf eine zweite Auflage der Märchen, die im Lauf des Sommers höchstwahrscheinlich erfordert wird. Von dem Honorar will ich schon einen Monat leben, wenn ich auch meiner Liberalität die Flügel beschneiden muß und mich in Allem einschränken. Ist es hier zu thun, so geh ich auch ohne weiteres Bedenken; als daß ich Diez verliere, nach einer kleineren Universität, und wär es die allermiserabelste. Für mich kommt es doch darauf an, daß ich lerne, und schaffe, und irgend einen Menschen werd’ ich überall finden können. Am liebsten freilich blieb’ ich hier, wo ich so fort leben kann ohne mit dem Einheimisch⸗werden Zeit zu verlieren, und wo ich gerad so viel und so sinnigen Umgang habe, als zu meinem menschlichen Dasein nöthig ist. Ich bitte dich, liebster Vater, entscheide, wie es dir gut scheint für uns Alle. Nimm auf dich und Mutter nicht zu wenig Rücksicht, traue aber auch mir nicht zu viel Fertigkeit und Kraft zu, unter allen Verhältnissen was Tüchtiges zu leisten. Man soll an der frischgegossenen Statur nicht rütteln, bis sie kalt geworden. Aber ich wiederhole es, ich will jedes Opfer bringen, falls es in Wahrheit zu Eurem Glücke nöthig ist. Entscheidest du dafür, daß ich noch den Sommer hier bleiben kann, so käme ich in den Osterferien auf 6 Wochen zu Euch und versöhnte Mutter, die mir gewiß in ihrer großen Zärtlichkeit genesen wird. Aber hat sie Ernst auch so lange von sich gelassen, daß er am Leib gesunde, und wollte meinem Geist zu Liebe nicht auch ihr Herz beschwichtigen? – Überlege es erst zu Ende mit dir allein, lieber Geliebter, und schreibe mir, wenn du Bedenken oder andere Wünsche hast, bevor du Mutter davon sagst. Muß sich mein Plan zerschlagen, so hätten wir denn der guten Mutter die einstige Sorge erspart. Vielleicht könntest du bei Duncker anfragen, wie es mit einer 2ten Aufl. aussieht, wenn es auch erst in der Mitte des Februars geschieht. Denn früher braucht ja ein definitiver Entschluss nicht gefällt zu werden. Ich will auch gern Stunden geben, im Zeichnen, wozu hier Gelegenheit wäre, oder Kunst. All diese Gedanken beschäftigen mich so, daß ich für heut nichts mehr schreiben kann. Die Tage bis deine Antwort eintrifft, werden mir in Unruh vergehen, denn ich fühle zu deutlich, wie meinem ganzen Leben eine entscheidende Wendung gegeben wird. Darüber bin ich ruhig, daß du meinen Wunsch, noch nicht für länger zurückzukehren, einsiehst, wie ihn langes unnachsichtiges Bedenken meinem Herzen abgetrotzt hat. Ich sende das Blatt gleich ab, um es nicht auch noch zu zerreißen. Ich hatte einen einsamen trüben 12. Januar voller Arbeit. Zu Tisch trank ich einen halben Schoppen, goß ihn so in Trauer hinein ohne Klang und Hoch. 474
i x . t r a nsk r i p t ion en
Laß mich bald wissen, daß ihr fröhlicher gewesen seid, und daß du überzeugt bist, wie ich bei den unrühmlichsten Entschlüssen nie vergessen kann, daß ich Euer Kind bin. Tausend Grüße und Küsse Paul Heyse
Transkription zu Abb. 9: Carl Heyse an Paul Heyse, Berlin, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8.2 Berlin 16 Jan 1850 Mein geliebter Sohn! Du stehst an einem Scheidewege, zu dem Dein Lebens- und Bildungsgang Dich früher oder später unausbleiblich führen mußte. Du wirfst Dich aber weder blindlings auf gut Glück in eine oder die Andere Bahn, noch bleibst Du unschlüssig schwankend stehen, die Bestimmung von anderen erwartend, die Du nur in Dir selbst finden kannst. Vielmehr bist Du, wie es einem klaren und starken Geiste gebührt, ernstlich mit Dir selbst zu Rathe gegangen, hast den inneren Kampf redlich durchgekämpft und einen Entschluß gefaßt, der Deiner würdig ist und dem ich meine unbedingte Zustimmung nicht versagen kann. – Und wäre Deine Entscheidung anders ausgefallen, hättest Du Deinem Dichterberufe mißtrauend Dich ganz der kunstgeschichtlichen Forschung zu widmen beschlossen: ich würde, wenn auch mit Schmerz und innerem Widerstreben – denn mein Leben wäre um seine schönsten Hoffnungen betrogen – das Resultat Deiner ernsten Selbstprüfung billigen müssen. Ich hätte von Dir nicht fordern können »sei ein Dichter!« wenn Du selbst an Deiner poetischen Sendung zweifeltest. – Wie freue ich mich nun, daß der Ausspruch Deiner inneren Stimme mit meinen Wünschen und meiner längst gehegten Überzeugung von Deinem wahren Beruf so vollkommen in Einklang ist! – Nicht »Kunstwissenschaft, oder romanische Philologie?« ist die Frage – das ist Nebensache; sondern: Poesie, oder Wissenschaft? Niemand kann zweien Herren dienen. Um ein ganzer Mensch zu werden und Deine Kräfte nicht in widerstrebenden Richtungen Deiner Thätigkeit unter fortwährendem inneren Kampfe zu zersplittern, mußt Du entweder ein ganzer Dichter, oder ein ganzer Forscher zu werden suchen. Was dazwischen liegt, führt unfehlbar zu unfruchtbarer Halbheit, die weder Dich selbst inner2 Für die hilfreiche Durchsicht dieser Transkription danke ich herzlich Sabine Happ und Bodo Plachta.
475
i x . t r a nsk r i p t ion en
lich befriedigen, noch für Andere befriedigende Früchte tragen würde. Es gibt nichts Unseligeres, als einen theoretisierenden Künstler oder künst lerisch dilettierenden Gelehrten. Beiderlei Thätigkeiten sind nach Maßen und Form durchaus verschiedenartig, in ihren Richtungen einander diametral entgegengesetzt. – Du weißt aber, wie ich über deine geistige Begabung denke; ich bin seit Jahren fest überzeugt, daß Du von der Natur zum Künstler, nicht zum wissenschaftlichen Forscher berufen bist. Folgst Du Deiner inneren Stimme, bleibst Du Dir selbst treu: so wirst Du ein ganzer Dichter werden; und das ist mindestens eben so viel, als ein ganzer Gelehrter irgend eines Faches, und unendlich mehr, als ein halber Dichter und ein halber Gelehrter in einer Person. Bist Du aber zum Dichter berufen und fühlst die Kraft in Dir, diesem Berufe Dich ganz zu widmen: dann sei unbekümmert um den äußeren Erfolg und die zufällige Stellung im Leben. Wirst Du von Deiner Nation als Dichter anerkannt, so ist es völlig gleichgültig, ob Du nebenbei Doctor, oder Professor, oder Geheimrath, oder gar nichts bist: Ob Du Schlösser sammelst, oder in beschränkten Vermögensumständen lebst. Danach fragt kein Mensch, und Du darfst und wirst am wenigsten danach fragen, denn Dir wird in jeder Lage wohl sein und Du wirst freudig Vielem entsagen, was besonders reizt, wenn Du nur Deiner Natur getreu in Deinem wahren Elemente leben kannst. Um ein ganzer Dichter zu werden, ist es nun aber freilich nicht genug, Verse zu machen und etwas Romane zu schreiben. – Die Welt und das Menschenleben in allen seinen Phasen und allen geistigen Lebensäußerungen muß offen und klar vor Deinem Geiste ausgebreitet sein, und diese ganze unerschöpflich reiche Kost muß seinem realen Bestande, wie seinem idealen Gehalte nach Deiner schaffenden und gestaltenden Fähigkeit stets zu Gebote stehn. Darum mußt Du viel lernen, erfahren, erleben, darfst Dich keiner Wissenschaft verschließen, die zu dem Reinmenschlichen und eben damit zu dem Göttlichen in unserer Beziehung steht, und musst vor Allem auch den mit der Poesie verschwisterten Künsten Dich mit gründlicher Neigung zuwenden. – Ein anderes aber ist das Studium der Wissenschaften und Künste als Bildungsmittel, als Nahrungsstoff und Anregung für Deine dichterische Thätigkeit; ein Anderes die gelehrte Forschung in beiden um ihrer selbst willen, zur Förderung der Wissenschaft durch Feststellung der Thatsachen, Gewinnung unserer Prinzipien und Gestaltung von Systemen. – Die in Deinem poetischen Talent natürlich begründete Liebe zum Schönen, wie es in den Künsten sich darstellt, hat Dich bei der Wahl eines wissenschaftlichen Berufs zunächst auf das Studium der Kunstgeschichte und Kunsttheorie geführt. Ich habe Dich darin gewähren lassen, ohne Dich dazu 476
i x . t r a nsk r i p t ion en
aufzumuntern; denn ich war nie der Meinung, daß dies Studium, sofern Du in diesem Gebiete als wissenschaftlicher Forscher productiv sein wolltest, der Ausbildung und Bethätigung Deines poetischen Talentes förderlich sein könnte. Ich ließ Dich aber gehen, weil ich überzeugt war, Deine poetische Natur werde, wenn sie anders recht und gediegen, über kurz oder lang diese Schranken durchbrechen und den aufgedrungenen Zwang abwerfen; hättest Du aber auf diesem Wege ausgeharrt und den Dichter dem Kunstgelehrten aufgeopfert, so müßte ich es verschmerzen; denn Du würdest damit dargethan haben, daß deine dichterische Schöpferkraft nicht mächtig genug war, Deinen Geist ganz zu erfüllen und die Richtung und Aufgabe Deines Lebens zu bestimmen. – Was ich hoffte und erwartete, ist nun eingetroffen. Du fühlst den Zwiespalt, in den Du mit Dir selbst gerathen bist; Du wendest Dich einem anderen Studium zu, welches in ungleich näherem Zusammenhange mit Deiner Dichterthätigkeit steht: der Litteratur. Wenn Du zunächst die Litteratur der romanischen Sprachen gründlicher zu studiren beabsichtigst, so ist das ganz in der Ordnung, nachdem Du bisher die alte classische Litteratur und die deutsche mehr als oberflächlich kennen gelernt hast. Dies Studium ist zur Ergänzung Deiner Bildung nothwendig, und Du magst Dich noch erinnern, daß ich schon vor Jahren bemüht war, Dich auf diesen Weg zu lenken, der jedenfalls ungleich fruchtbringender für Dich sein wird, als das spezielle Studium der Kunstgeschichte. Du weißt aber – das sage ich Dir vorher – wenn Deine Künstlernatur die Herrschaft behauptet, auch in diesem Gebiete kein Ding werden; das Detail der sprachwissenschaftlichen und litterarhistorischen Forschung wird Dir nie zum Freunde werden, sondern Dich nur in diese eigenthümliche Geisteswelt einzuführen dienen, die Dir Stoff und Anregung in Fülle zu eigener poetischen Production geben wird. Und so ist es recht. – Wie freue ich mich, Dich wieder einig mit dir selbst, Dich Dir selbst wiedergegeben zu wissen! Deine verhältnismäßig geringe Productivität in der letzten Zeit war mir schon aufgefallen und ließ mich vermuthen, daß der trockene Ernst wissenschaftlicher Detailstudien Dich für den Augenblick Dir selbst entfremdet und Deinem Genius untreu gemacht hatte. Wohl Dir, daß Du diesen Kampf siegreich bestanden, und durch diesen Sieg Deiner selbst nur um so gewisser geworden bist! Du hast vollkommen Recht, wenn Du sagst, daß Dein unsterblich Theil in Gefahr geschwebt hat. Du hast es glücklich gerettet, hast Dich selbst wieder, und wirst nun ferner nicht »in der Zeit der Leidenschaften und energischen Gedanken Deine besten Stunden über einer Dir fremden frostigen Materie verlieren.« – Halte Deine Jugend zu Rathe und laß sie Dei477 https://doi.org/10.5771/9783835349148
i x . t r a nsk r i p t ion en
nem Talente wuchern! so kommt auch Dein Genie nicht wieder, und keine Erfahrung und Reife des Alters kann ersetzen, was mit ihr verloren geht! d 17ten. Genug, um Dir zu zeigen, daß ich mit Dir zufrieden bin, mein Geliebter, und mich über Deinen Entschluß herzlich freue, wodurch Du auch mir und meinen wissenschaftlichen Bestrebungen beträchtlich näher rückst, als das mir fremde Studium der Kunstgeschichte Dich mir bringen konnte. – Was nun Deinen Wunsch betrifft, den nächsten Sommer noch in Bonn zuzubringen, so finde ich ihn durch die Gründe, die Du dazu anführst, vollkommen gerechtfertigt. Es wird uns zwar hart ankommen, Dich noch einen Sommer entbehren zu müssen; wenn es aber zu Deinem Besten ist, so fällt jede andere Rücksicht weg. Ich habe auch diesen Teil Deiner Briefe Deiner guten Mutter nicht vorenthalten; sie ist Gottlob! So gesund, daß von einer Gemüthsbewegung solcher Art für sie nicht zu fürchten ist, und ich habe oft die Erfahrung gemacht, daß das Verhalten oder halbe Aussprechen unangenehmer Dinge für erregbare Gemüther viel peinigender ist, als die offenen Mittheilung. Freilich hat sie beim Lesen Deiner Worte Thränen vergossen, die aber bald zu Thränen freudiger Rührung wurden, daß sie einen solchen Sohn hat. – Richte Dich nur so ein, daß Du ein zwei Tage vor Deinem Geburtstage bei uns eintriffst; dann haben wir sechs lange Wochen vor uns, uns recht gründlich auszusprechen und zu genießen. Lässt es sich denn irgend thun, treten nicht unüberwindliche Hindernisse in den Weg: so mußt Du immerhin in die stille Einsamkeit Deines dortigen Lebens zurückkehren, die allerdings für Deine Thätigkeit weit förderlicher sein wird, als das vielfach zerstreuende und zersplitternde Treiben, dem Du Dich in Berlin unmöglich ganz entziehen könntest. Auch hast Du dort Diez, der Deine romanischen Studien besser leiten kann, als irgend ein hiesiger Gelehrter. Die vier Sommermonate werden ja auch vergehen, und im Herbst steht uns dann ein zweites fröhliches Wiedersehn bevor. – Auf meine Gesundheit rechne nicht allzu sehr! Habe ich aber in der kaum überstandenen schweren Leidenszeit Deine erheiternde und ermuthigende Gegenwart entbehrt, so werde ich auch bei hoffentlich leidlicherem Befinden im Sommer Deine Abwesenheit ertragen können, die Du gewiß auch dann, wie bisher, durch fleißige briefliche Mittheilungen mir versüßen wirst. – In Hinsicht der Kosten mache Dir vorläufig keine Sorgen. Ist die Sache einmal für gut befunden und beschlossen, so werden sich auch die Mittel dazu finden. Eine zweite Auflage Deiner Mährchen steht schwerlich so nahe bevor, daß Du darauf rechnen könntest. Wie wäre es aber, wenn Du Vincenz und Veilchen noch einmal durcharbeitetest und für den Druck redigirtest? Du hast Dich dieser Arbeit wahrlich nicht zu schämen 478
i x . t r a nsk r i p t ion en
und könntest sie ja auch anonym, etwa unter der Firma des fahrenden Schülers erscheinen lassen. Diez’ romanische Grammatik besitze ich wohl, kann sie aber selbst nicht entbehren; wenn Du sie doch brauchst, so werde ich gern noch ein Exemplar für Dich anschaffen. Schreibe mir doch einmal etwas über seine Persönlichkeit, davon Du noch in keinem deiner Briefe erwähnt hast. – Neulich besuchte mich der bei der kaiserl. Bibliothek in Wien angestellte Dr. Wolf, einer der gründlichsten Kenner der romanischen Litteraturen, besonders des Mittelalters. Er war erstaunt über den Reichthum meiner deutschen Bibliothek, die ich ihm nur flüchtig zeigen konnte, und machte mir viel Complimente über meine deutsche Grammatik. Aber – wie die Leute gewöhnlich mehr das vermissen und nach dem verlangen, was noch fehlt, als sich des Vorhandenen erfreuen – er äußerte den lebhaften Wunsch, daß ich die versprochene Verslehre bald nachfolgen lassen möchte, und hat mir durch sein Interesse für die Sache ordentlich Lust zu der Arbeit gemacht, die ich noch in unbestimmte Zeitferne hinausgeschoben hatte. Das wäre denn ein Unternehmen, wobei du, lieber Paul, mir als Mitarbeiter wesentliche Dienste leisten könntest, was auch deiner Neigung und Geistes richtung nicht widerstreben würde. – Für jetzt beschäftigt mich die Umarbeitung der Schulgrammatik auf der Grundlage des größeren Lehrbuchs, behufs einer neuen Auflage, die wohl im Laufe dieses Jahres nöthig werden wird. Das ist zwar eine trockene Arbeit, die aber keine große geistige Anstrengung erfordert und daher für einen Reconvalescenten ganz geeignet ist. Daß du an Tante Bertha geschrieben hast, ist mir sehr lieb; sie äußert die lebhafteste Freude über Deinen Brief und wird Dir gewiß bald wieder schreiben. Genug für diesmal. Sei guten Muths, mein geliebter Paul, und lebe nun wieder ganz Dir selbst und Deinem Genius! – Du hast keine heiligere Pflicht, als die Dir verliehenen Kräfte frei zu entwickeln und unverkümmert walten zu lassen. – Ich drück dich mit innigster Liebe an mein Herz. Dein treuer Vater und Freund C. H. Arthur Schnitzlers Jugend in Wien Fast die gesammten Abbildungen und Transkriptionen zu Arthur Schnitzlers autobiografischem Projekt befinden sich in den Kapiteln Dilemmatisches Doppelleben, Vom Tagebuch ans Tageslicht und Testierte Werkbiografie. Da Werner Welzigs Tagebuchedition keine signifikanten Unterschiede zum zitierten Manuskript aufweist, wurden die 479
i x . t r a nsk r i p t ion en
abbildungen hier nicht ein weiteres Mal transkribiert. Die Abbildungen dienen im Kapitel primär dazu, die nachträglichen Lesespuren zu belegen, da diese sehr wahrscheinlich während der autobiografischen Projektarbeit entstanden sind. Das Typoskript zu Adolf von Sonnenthals Brief wird aufgrund der guten Lesbarkeit nicht transkribiert. Signifikante Unterschiede zu Therese Nickls und Heinrich Schnitzlers Transkription sind in den Analysekapiteln vermerkt. Die autobiografische Abschrift wurde allein deshalb transkribiert, da minimale Unterschiede zur postumen Publikation feststellbar sind, diese ändern jedoch nicht maßgeblich den Sinngehalt, sodass eine weitere Erläuterung nicht notwendig scheint. Ebendort ist auch Arthur Schnitzlers Brief an seinen Sohn Heinrich Schnitzler vollständig transkribiert.
Transkription zu Abb. 16 und 17: Arthur Schnitzler. Leben und Nachklang. Werk und Widerhall, DLA, Arthur Schnitzler, HS.1985.0001.00085. und promovierte am 30. mit Louis Mandl, Armin Petschek u zehn anderen zum Doctor der gesamten Heilkunde. Die Stimmung jener Maitage scheint mir in einer Tagebuchnotiz mit solcher Wahrheit beibehalten und im Ausdruck so charakteristisch, daß ich am besten thue, mit ihr diesen Abschnitt zu beschließen. »Ich vergesse ganz was und wer ich bin« heißt es unter dem Datum des 7. Mai – »Dadurch spüre ich, daß ich nicht auf der richtigen Bahn bin. Ich glaube nicht, daß mir meine Objektivität verloren gegangen wäre durch den leicht begreiflichen Widerwillen gegen die Examina (übermorgen hab ich wieder eins zur Abwechslung u 2, 3 Wochen später – hoffentlich – mein letztes) aber ich habe das entschiedene Gefühl, daß ich, abgesehen von dem wahrscheinlichen materiellen Vortheil, ethisch einen Blödsinn begangen zu haben in dem ich Medizin studierte. Nun gehör ich unter die Menge ……. xxx aber meine Faulheit und meine schändlich Hypochondrie Kommt dazu noch erstens meine Faulheit; als zweiter u wohl noch ärgere Nachtheil die schändliche Hypochondrie, in die mich dies jammerlich Studium, jämmerlich in Beziehung auf das, wo es hinweist u was es zeigt gebracht hat. Ich fühle mich häufig ganz niedergebügelt. Mein Nerven system ist dieser Fülle deprimierender u dabei aesthetisch niedriger Affekte nicht gewachsen. Ich weiß es noch nicht, weiß es heute, wo ich wohl in der Blühte«
480
X. Siglen1
X.1 Archive BayHSta BSB DLA GSA SBB StA
Bayerisches Hauptstaatsarchiv Bayerische Staatsbibliothek Deutsches Literaturarchiv Marbach Goethe- und Schiller-Archiv Weimar Staatsbibliothek zu Berlin Staatliche Archive Bayerns
X.2 Quellen JBI
Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Berlin: Wilhelm Hertz 1900. JBII –: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Berlin: Wilhelm Hertz 21900. JBIII –: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Berlin: Wilhelm Hertz 31900. JBIV –: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Berlin: Wilhelm Hertz 41901. JBV –: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, neu durchgesehen und stark vermehrt, Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung 51912 (Bd. 1). JBV2 –: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, neu durchgesehen und stark vermehrt, Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung 51912 (Bd. 2). JBP –: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, hg. von Erich Petzet, Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung 1924 (Paul Heyse. Gesammelte Werke, Bd. 3.1). JBVn –: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Nachdruck der Ausgabe Stuttgart und Berlin 1912, hg. von Bernauer Markus und Norbert Miller. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 1995 (Paul Heyse. Gesammelte Werke, Bd. 4.6.2). JiW Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. M.: Fischer 22011. JiWa –: Jugend in Wien. Eine Autobiographie, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Wien, München, Zürich: Fritz Molden 1968. JiWa2 –: Jugend in Wien. Eine Autobiographie, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Wien, München, Zürich: Fritz Molden 21968. MLGI Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte. Im Vaterhause, hg. von Ulrike Helmer, Königstein/Ts.: Helmer 21998 (Edition Klassikerinnen, Bd. 1).
1 Die Verlage und die Auflage werden nur bei den Siglen genannt, da für die Analysen mitunter auch die Verlagsgeschichte berücksichtigt wird. Das weitere Literaturverzeichnis gibt diese Information nicht mit an.
481
x . siglen
MLGII –: Meine Lebensgeschichte. Leidensjahre, hg. von Ulrike Helmer, König-
stein/Ts.: Helmer 21998 (Edition Klassikerinnen, Bd. 2). MLGIII –: Meine Lebensgeschichte. Befreiung und Wanderleben, hg. von Ulrike Helmer, Königstein/Ts.: Helmer 21998 (Edition Klassikerinnen, Bd. 3). MLGa –: Meine Lebensgeschichte, hg. von Gisela Brinker-Gabler, Frankfurt a. M.: Fischer 1980 (Die Frau in der Gesellschaft. Lebensgeschichten). MLGI1 –: Meine Lebensgeschichte. Im Vaterhause, Berlin: Otto Janke 1861 (Bd. 1). MLGII1 –: Meine Lebensgeschichte. Leidensjahre, Berlin: Otto Janke 1861 (Bd. 2). MLGIII1 –: Meine Lebensgeschichte. Im Vaterhause. Neue, von der Verfasserin veranstaltete, revidirte Ausgabe, Berlin: Otto Janke 1871 (Bd. 1). NT Johann Wolfgang von Goethe: Die natürliche Tochter, hg. von Dieter Borchmeyer und Peter Huber, Frankfurt a. M. 1996 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt., Bd. 6), 301-393. RT Fanny Lewald: Römisches Tagebuch 1845/46, hg. von Heinrich Spiero, Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1927. TBI Arthur Schnitzler: Tagebuch 1879/92, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 1). TBII –: Tagebuch 1893/1902, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1989 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 2). TBIII –: Tagebuch 1903/08, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1991 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 3). TBIV –: Tagebuch 1909/12, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1981 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 4). TBV –: Tagebuch 1913/16, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1983 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 5). TBVI –: Tagebuch1917/19, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1985 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 6). TBVII –: Tagebuch 1920/22, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1993 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 7). TBVIII –: Tagebuch 1923/26, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1995 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 8). TBIX –: Tagebuch 1927/30, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1997 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 9). TBX –: Tagebuch 1931, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2000 (Arthur Schnitzler – Tagebuch, Bd. 10).
482
XI. Literatur
XI.1 Ungedruckte Quellen Ebner-Eschenbach, Marie von: Postkarte mit Autogramm, April 1912, GSA, 96.585d., 2 Bl. Heyse, Anna von: Anna von Heyse an Geheimrat Dr. Schnorr von Carolsfeld, München 26. Dezember 1927, BayHSta, GDION Bibliotheken, Nachlass Anna von Heyse 789. –: Letztwillige Verfügung, BayHSta, GDION Bibliotheken, Nachlass Anna von Heyse, 789. Heyse, Carl: Carl Heyse an Paul Heyse, Berlin, 16. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Paul Heyse, VIII.8. Heyse, Paul: Paul Heyse an Bernhard L. Suphan, Bayern 24. August 1896, GSA, Zu sagen zur GSA-Einweihung, 150.A 53, 179 f. –: Paul Heyse an Carl Heyse, Bonn, 13. Januar 1850, BSB, Heyse-Archiv, Carl und Julie Heyse, I.33. –: Paul Heyse an Martha Fontane, München 8. November 1907, GSA, Theodor Fontane, 96/4230. –: Testament, StA, AG München NR 1914/852. –: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, BSB, Heyse-Archiv, Cod. Germ. 6524. Höch, Hannah: Das Lebensbild 1972/73, in: https://www.artinside.ch/hannah-hoechdie-collage-lebensbild/ (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Lewald-Stahr, Fanny: Einleitung, GSA, Fanny Lewald-Stahr, 96.1816, Bl. 13799-13801. –: Ich bin zu Königsberg i. Pr. am 24. März 1811 in einer jüd. Familie geboren, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Autogr. I/4651, Bl. 1-3. –: Porträt mit Widmung, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 19, Manuskripte von Adolf Stahr und ein Band Gedichte, dazu zwei Porträts von Fanny Lewald-Stahr, Vorder- und Rückseite. –: Privatjournal und Tagebuch, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 8, Nr. 126, Privatjournal, 1873 bis 1877, Nr. 127, Tagebuch, 1. August 1884 bis Silvester 1888, Nr. 128, Tagebuch, 1.1.1889 bis ??? Nr. 129, Exzerptenbuch von Fanny Lewald. –: »Sitten-Censurbuch« 1854/55, 1858, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 3, Kor respondenz, Briefe von Fanny Lewald an Adolf Stahr, 1851-1852 und 1855-1864, Nr. 49-62, Nr. 63, 10 Bl. –: Testament der verwitweten Frau Prof. Fanny Mathilde Auguste Stahr geb. Lewald zu Berlin, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, 6.13.5001.3666, 10 Bl. –: Vertrag über Gütertrennung zwischen Fanny Lewald und Adolf Stahr, 25. Mai 1854, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 1, Nr. 1.-4, Personalia, Adolf Stahrs Testament in Abschrift, Vertrag über das Vermögen der Fanny Lewald, Taufbescheinigung der Fanny Lewald, Silhouette v. Adolf Stahr 1853, 4 Mappen, 2 Bl. –: Zum Tode von Adolf Stahr, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 9, Visitenkarten, Telegramme und Briefe an Fanny Lewald, dazu einige Nachrufe in Zeitungen, Nr. 130. – und Adolf Stahr: Gedanken über den Roman und seine Behandlung von mir u Adolf,
483
x i . li t er at u r
SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 18, Manuskripte von Fanny Lewald-Stahr und Zeitungsausschnitte mit Rezensionen zu einigen ihrer Werke, Nr. 488-522, Nr. 505, 7 Bl. Mann, Klaus: Turning Point 1945. Forword to the Italian Edition, Monacensia Digital: https://www.monacensia-digital.de/mann/content/pageview/124199 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Petzet, Erich: Erich Petzet an die Zweig-Schillerstiftung München, München 28. Februar 1926, GSA, Deutsche Schillerstiftung, Akten betreffend: Frau Anna von Heyse, Witwe Paul von Heyses, 1926, 134/32,14. –: Nachlass von Erich Petzet. BSB, E. Petzetiana, Repertorium des Nachlasses von Erich Petzet 1870-1928, http://daten.digitale-sammlungen.de/0007/bsb00076322/ images/index.html?id=00076322&groesser=&fip=193.174.98.30&no=&seite=5 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Schnitzler, Arthur: »Autobiographisches Allerlei«. DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes, Autobiographisches, HS.1985.0001.00201. –: »Mein letzter Wille«, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes, Autobiographisches, auch u. d. Titeln »Bestimmungen über meinen schriftlichen Nachlaß«, HS.1985. 0001.00203. –: Arthur Schnitzler an Heinrich Schnitzler, 6. Juli 1930, DLA, Bestand Arthur Schnitzler, Dokumente, Testamentarische Verfügungen, HS.2009.0087. –: Leben und Nachklang. Werk und Widerhall, DLA, Arthur Schnitzler, HS.1985. 0001.00085. –: Tagebuch, April, Mai 1885, DLA, Arthur Schnitzler, Verschiedenes Autobiographisches, Tagebuch 1879-1889, HS.NZ85.0001.00157. Schnorr von Carolsfeld, Hans: Hans Schnorr von Carolsfeld an das Königliche bayerische Staatsministerium, 17. Juli 1909, BayHSta, 1015. Sonnenthal, Adolf von: Adolf von Sonnenthal an Arthur und Johann Schnitzler, Wien, 30. April 1881, DLA, Arthur Schnitzler, HS.1985.0001. Stahr, Adolf: Testament in Abschrift, SBB, Nachlass Lewald-Stahr, Kasten 1, Nr. 1.-4, Personalia, Vertrag über das Vermögen der Fanny Lewald, Taufbescheinigung der Fanny Lewald, Silhouette von Adolf Stahr 1853, 4 Mappen.
XI.2 Gedruckte Quellen Alberti, Conrad: Paul Heyse als Novellist, in: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst, 1889, S. 967-984. Aristoteles: Poetik, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Manfred Fuhrmann, München 1976. Augustinus, Aurelius: Confessiones/Bekenntnisse, übers. von Wilhelm Thimme, mit einer Einführung von Norbert Fischer, Düsseldorf, Zürich 2004. Bahr, Hermann: Das junge Österreich, 27.9.1893, in: https://bahrschnitzler.acdh. oeaw.ac.at/index.html?id=T030009 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). –: Das unrettbare Ich, in: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ 37, 10.4.1903, S. 1-4. –: Selbstbildnis, hg. von Gottfried Schnödl, Weimar 2011 (Hermann Bahr: Kritische Schriften in Einzelausgaben, Bd. 18).
484
x i .2 gedruckt e qu ellen
Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, hg. von von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982. Benn, Gottfried: Neben dem Schriftstellerberuf, in: Die Literarische Welt 3, 1927, S. 3 f. –: Autobiographische und vermischte Schriften, Wiesbaden 21966 (Benn Gottfried: Gesammelte Werke, Bd. 4). –: Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen. Der Textfassung liegt die Stuttgarter Ausgabe der Sämtlichen Werke von Gottfried Benn zugrunde, Stuttgart 2011. Bernays, Jacob: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, eingeleitet von Karlfried Gründer, Die Erstausgabe erschien 1857 bei Eduard Trewendt in Breslau, Hildesheim, New York 1970. –: Jacob Bernays an Paul Heyse, Bonn, 18./19. März 1850, in: »Du, von dem ich lebe«, Briefe an Paul Heyse, hg. von William M. Calder und Timo Günther, Göttingen 2010, S. 9-13. Bettelheim, Anton: Paul Heyses Briefwechsel, in: Österreichische Rundschau 58, 1919, S. 31-36. Boeckh, August: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, in: https://www.antikezentrum.hu-berlin.de/de/abaz/aktivitaeten/august-boeckheditionsprojekt (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Böll, Heinrich: »Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind«. Die Kriegstagebücher 1943-1945, hg. von René Böll, Köln 22017. Brod, Max: Franz Kafkas Nachlaß, in: Die Weltbühne 20, 1924, S. 106-109. –: Über Franz Kafka. Notizen von Max Brod, in: Die Literarische Welt 2, 1926, S. 1. –: Neben dem Schriftstellerberuf/Ein Zyklus Selbstbiographien. Max Brod und Franz Kafka in ihren Doppelberufen, in: Die Literarische Welt 4, 1928, S. 3 f. –: Streitbares Leben 1884-1968, vom Autor überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, München, Berlin, Wien 1969. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. von Jakob Oeri, Stuttgart 1905. –: Die Kultur der Renaissance in Italien, hg. von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1989 (Bibliothek der Geschichte und Politik, Bd. 8). –: Die geschichtlichen Krisen, erstmals 1905 aus dem Nachlass, hg. von Jacob Burckhardt-Stiftung, München, Basel 2000 (Jacob Burckhardt: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10), S. 463-496. Curtius, Ernst Robert: Goethes Aktenführung, in: Die Neue Rundschau 62, 1951, S. 110-121. Dilthey, Wilhelm: Archive für Literatur, hg. von Ulrich Hermann, Göttingen 1970 (Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Portraits und biographische Skizzen, Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert, Bd. 15), S. 1-16. –: Archive für Literatur, in: Deutsche Rundschau 58, 1889, S. 360-375. Döblin, Alfred: Arzt und Dichter. Merkwürdiger Lebenslauf eines Autors, in: Die Literarische Welt 3, 1927, S. 1 f. –: Epilog, hg. von Anthony W. Riley, Olten, Freiburg 1980 (Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen, Bd. 23), S. 439-451. Domin, Hilde: Fast ein Lebenslauf, München 1992. Ebner-Eschenbach, Marie von: Marie von Ebner-Eschenbach an Julius Rodenberg am 8. August 1903, BrWei1, GSA Weimar, in: Meine Kinderjahre. Aus meinen
485
x i . li t er at u r
und Lehrjahren, hg. von Christa-Maria Schmidt, Tübingen 1989 (Marie von EbnerEschenbach: Autobiographische Schriften, Bd. 1), S. 171, 312. –: Meine Kinderjahre. Aus meinen Kinder- und Lehrjahren, Tübingen 1989 (Marie von Ebner-Eschenbach: Autobiographische Schriften, Bd. 1). Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe. In den letzten Jahren seines Lebens 1823-1832, hg. von Christoph Michel, Frankfurt a. M. 1999 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., II. Abt., Bd. 12). Enzensberger, Hans Magnus: Eine Handvoll Anekdoten. Auch Opus Incertum, Berlin 2018. Fontane, Theodor: Theodor Fontane an Paul Heyse, Berlin, 9. März 1890, in: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse, hg. von Gotthard Erler, Berlin, Weimar 1972, S. 205-207. –: Autobiographische Schriften, hg. von Gotthard Erler, Peter Goldammer und Joachim Krueger, Weimar 1982. –: Theodor Fontane an Martha Fontane, Neubrandenburg Augusta-Bad, 13. Juli 1897, hg. von Otto Drude und Helmuth Nurnberger, München 1982 (Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe, Bd. 4), S. 656 f. –: Theodor an Emilie Fontane, Berlin, 15. August 1876, in: »Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles«. Der Ehebriefwechsel 1873-1898, hg. von Gotthard Erler, Berlin 1998 (Theodor Fontane: Große Brandenburger Ausgabe. Der Ehebriefwechsel, Bd. 3), S. 69-72. –: Fontane an den »Rütli«, London, 6. Februar 1856, hg. von Gabriele Radecke, Berlin, New York 2006 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 5.1), S. 446448. –: Von Zwanzig bis Dreißig, hg. von Gabriele Radecke und Heinrich Detering, Berlin 2014 (Theodor Fontane: Große Brandenburger Ausgabe. Das autobiographische Werk, Bd. 3). Franzos, Karl Emil (Hg.): Die Geschichte des Erstlingswerks. Selbstbiographische Aufsätze, Leipzig 1894. Frenzel, Karl: Erinnerungen und Strömungen, Leipzig 1890. Freytag, Gustav: Technik des Dramas, Leipzig 91901. Friedrich, Sabine: Wer wir sind. Werkstattbericht, München 2012. Frisch, Max: Biografie. Ein Spiel. Neue Fassung 1984, Frankfurt a. M. 2014. –: Montauk. Eine Erzählung, Frankfurt a. M. 302017. Geibel, Emanuel: Emanuel Geibel an Paul Heyse, München, März 1854, in: Der Briefwechsel von Emanuel Geibel und Paul Heyse, hg. von Erich Petzet, München 1922, S. 91-93. – und Paul Heyse: Der Briefwechsel von Emanuel Geibel und Paul Heyse, hg. von Erich Petzet, München 1922. Geiger, Ludwig: Einleitung, in: Gefühltes und Gedachtes 1838-1888, hg. von Ludwig Geiger, Dresden, Leipzig 1900, S. 5-25. –: Einleitung, in: Aus Adolf Stahrs Nachlaß. Briefe von Stahr, hg. von Ludwig Geiger, Oldenburg 1903, S. 9-69. Goethe, Johann Wolfgang von: Claudine von Villa Bella. Zweite Fassung, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1996 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 5), S. 661-719.
486
x i .2 gedruckt e qu ellen
–: Johann Wolfgang von Goethe an Johann Friedrich Cotta, 16. November 1810, hg. von Rose Unterberger, Frankfurt a. M. 1993 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämt liche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., II. Abt, Bd. 6), S. 617-619. –: Goethes Tagebuch. Mi. 10. / Do. 11. November 1830, hg. von Horst Fleig, Frankfurt a. M. 1993 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., II. Abt., Bd. 11), S. 334. –: Iphigenie auf Tauris, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1996 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 5), S. 553-619. –: Torquato Tasso, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1996 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 5), S. 731-834. –: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt a. M. 1992 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 9), S. 355-992. –: Archiv des Dichters und Schriftstellers, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Fotomechanischer Nachdruck, München 1987 (Goethes Werke, Bd. 41.2), S. 25-28. –: Johann Wolfgang von Goethe an C. L. F. Schulz, 3. Juli 1824, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Fotomechanischer Nachdruck, München 1987 (Goethes Werke, Bd. 4.38), S. 177-182. –: Lebensbekenntnisse im Auszug, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Fotomechanischer Nachdruck, München 1987 (Goethes Werke, Bd. 41.2), S. 29-31. –: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1985 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 4), S. 279-389. –: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1986 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 14). –: Äußerungen Goethes zur Autobiographie und zu »Dichtung und Wahrheit«, in: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1986 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 14), S. 1005-1040. –: Neue Liebe, neues Leben, hg. von Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 1), S. 167, 287. –: Wilhelm Meisters Wanderjahre, hg. von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt a. M. 1989 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 10). –: Italienische Reise, hg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt a. M. 1993 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 15.1). –: Italienische Reise, hg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt a. M. 1993 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 15.2). –: Archiv des Dichters und Schriftstellers, hg. von Irmtraut Schmid, Frankfurt a. M.
487
x i . li t er at u r
1994 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 17), S. 366-368. –: Die Leiden des jungen Werthers. 1. und 2. Fassung, hg. von Waltraud Wiet hölter, Frankfurt a. M. 1994 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 8), S. 10-267. –: Die Wahlverwandtschaften, hg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt a. M. 1994 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 8), S. 269-555. –: Johann Wolfgang von Goethe an Christiane von Goethe, 15. September 1809, in: Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, hg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt a. M. 1994 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 8), S. 981. –: Johann Wolfgang von Goethe an Johann Friedrich Cotta, 1. Oktober 1809, in: Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, hg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt a. M. 1994 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 8), S. 981. –: Lebensbekenntnisse im Auszug, hg. von Irmtraut Schmid, Frankfurt a. M. 1994 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 17), S. 368-370. Göhler, Rudolf: Ausklang, in: Großherzog Carl Alexander und Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848-1889, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1932 (Bd. 1), S. 185-187. –: Einleitung, in: Großherzog Carl Alexander und Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848-1889, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1932 (Bd. 1), S. 11-26. Grabbe, Christian Dietrich: Etwas über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hg. von Hans-Georg Werner, Berlin, Weimar 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 2), S. 387-410. Grillparzer, Franz: Selbstbiographie [1903], hg. von Arno Dusini, Kira Kaufmann und Felix Reinstadler, Salzburg 2017. Großherzog Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl Alexander: Carl Alexander an Fanny Lewald, Belvedere den 4. Juli, 1889, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1932 (Groß herzog Carl Alexander und Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848-1889, Bd. 1), S. 183 f. Gundolf, Friedrich (Hg.): Goethe, unveränderter fotomechansicher Nachdruck [1930], Darmstadt 1963. Gutzkow, Karl: Rückblicke auf mein Leben, Berlin 1875. Haas, Willy: Meine Meinung, in: Die Literarische Welt 2, 1926, S. 1 f. Haushofer, Max: Die literarische Blüthe Münchens unter König Max II, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1898, 15.2.1898, S. 1-5. –: Die literarische Blüthe Münchens unter König Max II. Schluß, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1898, 16.2.1898, S. 1-6. Heine, Heinrich: Die Nordsee 1825-1826. Erster Zyklus und zweiter Zyklus, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1975 (Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Düsseldorfer Ausgabe, 16 Bde., I. Abt, Bd. 1), S. 356-427. Heyse, Johann Christian August und Karl Wilhelm Ludwig Heyse: Krimatologie, in: Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung der Wörter und genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung, neu bearbeitet von Dr. Karl Wilhelm Ludwig Heyse, durchaus
488
x i .2 gedruckt e qu ellen
verbessert und sehr bereichert, hg. von Johann Christian August Heyse und Karl Wilhelm Ludwig Heyse, Hannover 1853, S. 485. –: Krisis, in: Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung der Wörter und genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung, neu bearbeitet von Dr. Karl Wilhelm Ludwig Heyse, durchaus verbessert und sehr bereichert, hg. von Johann Christian August Heyse und Karl Wilhelm Ludwig Heyse, Hannover 1853, S. 485. Heyse, Paul: Meine Erstlingswerke, in: Die Geschichte des Erstlingswerks. Selbst biographische Aufsätze, hg. von Karl Emil Franzos, Leipzig 1894, S. 53-63. –: Paul Heyse an Jacob Burckhardt, Berlin 28. März 1858, in: Briefwechsel von Jacob Burckhardt und Paul Heyse, hg. von Erich Petzet, München 1916, S. 42-45. –: Paul Heyse an Fanny Lewald, München 29. November 1871, in: Der Briefwechsel von Paul Heyse und Fanny Lewald, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1920 (Deutsche Rundschau, Bd. 183), S. 411 f. –: Paul Heyse an Theodor Fontane, München, 19. April 1886, in: Der Briefwechsel von Theodor Fontane und Paul Heyse 1850-1897, hg. von Erich Petzet, Berlin 1929, S. 172 f. –: Heyse an seinen Vater. Eigenh. Brief, Bonn 27. Dezember 1849, in: Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter. Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek 23.1.1981 bis 11.4.1981, hg. von Sigrid von Moisy, München 1981, S. 41. –: Heyse an Wilhelm Bolin 13. November 1894, in: Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter. Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek 23.1.1981 bis 11.4.1981, hg. von Sigrid von Moisy, München 1981, S. 238. – und Marie von Ebner-Eschenbach: Briefwechsel, in: Die Lebens- und Weltanschauung der Freifrau Marie von Ebner-Eschenbach. Mit sechs Tafelbeilagen und dem Briefwechsel Heyse und Ebner-Eschenbach, hg. von Mechtild Alkemade, Graz, Würzburg 1935, S. 260-398. – und Theodor Fontane: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse, hg. von Gotthard Erler, Berlin, Weimar 1972. – und Hermann Kurz: Einleitung, in: Novellenschatz, hg. von Paul Heyse und Hermann Kurz, München 1870, S. 5-24. – und Hermann Kurz (Hg.): Novellenschatz, München 1870 (Bd. 1). – und Fanny Lewald: Der Briefwechsel von Paul Heyse und Fanny Lewald, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1920 (Deutsche Rundschau, Bd. 183). –: Vita, in: Studia Romanensia. Particula I. Dissertatio Inauguralis, Berlin 1852, S. 46 f. Jean Paul: Briefe und bevorstehender Lebenslauf, hg. von Norbert Miller, München 1962 (Jean Paul: Werke, 6 Bde., Bd. 4), S. 925-1080. –: Selberlebensbeschreibung, hg. von Norbert Miller, München 1963 (Jean Paul: Werke, 6 Bde., Bd. 6), S. 1037-1103. Jensen, Wilhelm: Heimat-Erinnerungen, in: Velhagen und Klasings Monatshefte 14, 1899/1900, S. 501-512. Kafka, Franz: Franz Kafka an Max Brod. Prag [Zettel, vermutlich Herbst/Winter 1921. Zusammengefaltet], in: Eine Freundschaft. Briefwechsel, hg. von Malcom Pasley, Frankfurt a. M. 1989 (Max Brod. Franz Kafka. Eine Freundschaft, Bd. 2), S. 365. –: Franz Kafka an Max Brod. Prag. 29. November [1922], in: Eine Freundschaft. Briefwechsel, hg. von Malcom Pasley, Frankfurt a. M. 1989 (Max Brod. Franz Kafka. Eine Freundschaft, Bd. 2), S. 421 f.
489
x i . li t er at u r
Kant, Immanuel: Der Charakter des Geschlechts, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1917 (Kant’s gesammelte Schriften, I. Abt., Bd. 7), S. 303-311. –: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1923 (Kant’s gesammelte Schriften, I. Abt., Bd. 8), S. 33-42. –: Über Pädagogik, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1923 (Kant’s gesammelte Schriften, I. Abt., Bd. 9), S. 437-499. Kruse, Käthe: Ich und meine Puppen, Freiburg 41984. Kurz, Isolde: Aus meinem Jugendland, Stuttgart, Berlin 1918. Lachmann, Karl: Zum Lessing, hg. von Karl Müllenhoff, Berlin 1876 (Karl Lachmann: Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie, Bd. 1), S. 548-576. Lepel, Bernhard v.: Bernhard von Lepel an Theodor Fontane, 7. Juni 1847, hg. von Gabriele Radecke, Berlin, New York 2006 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 5.1), S. 51-54. Lessing, Gotthold Ephraim: Leben und leben lassen. Ein Projekt für Schriftsteller und Buchhändler, hg. von Helmut G. Göpfert u. a., München 1973 (Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Literaturkritik. Poetik und Philologie, Bd. 5), S. 781-787. Lewald, Fanny: Modernes Märchen, in: Europa. Chronik der gebildeten Welt, 1841, S. 193-201. –: Clementine, neue, von der Verfasserin veranstaltete, revidirte Ausgabe, Berlin 1872 (Fanny Lewald: Gesammelte Werke, Bd. 8). –: Eine Lebensfrage, Berlin 1872 (Fanny Lewald: Gesammelte Werke, Bd. 10). –: Lebenserinnerungen 1, in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart 41, 1897, S. 440-454. –: Lebenserinnerungen 2. (Fortsetzung), in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart 41, 1897, S. 616-631. –: Lebenserinnerungen 3. (Schluß), in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart 41, 1897, S. 702-726. –: Gefühltes und Gedachtes 1838-1888, hg. von Ludwig Geiger, Dresden, Leipzig 1900. –: Fanny Lewald an Carl Alexander, Berlin, 24. April 1882, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1932 (Großherzog Carl Alexander und Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848-1889, Bd. 1), S. 143-145. –: Fanny Lewald an Carl Alexander, Berlin d. 20. Oktober 1863 Mathäi Kirchstr. 18, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1932 (Großherzog Carl Alexander und Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848-1889, Bd. 1), S. 162 f. –: Fanny Lewald an Carl Alexander, Berlin d. 4. Februar 1860, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1932 (Großherzog Carl Alexander und Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848-1889, Bd. 1), S. 152-155. –: Fanny Lewald an Carl Alexander, Haus Caldenhoff bei Hamm in Westphalen, 28. September 1865, hg. von Rudolf Göhler, Berlin 1932 (Großherzog Carl Alexander und Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848-1889, Bd. 1), S. 183 f. –: Italienisches Bilderbuch, ungekürzte Neuausgabe der Originalfassung aus dem Jahre 1847, hg. von Ulrike Helmer, Frankfurt a. M. 1992 (Edition Klassikerinnen). –: Jenny, hg. von Ulkrike Helmer, Frankfurt a. M. 21993 (Edition Klassikerinnen). –: Die Tante, hg. v. Paul Heyse und Hermann Kurz (Der Deutsche Novellenschatz, Bd. 14. 2), Berlin 21910, S. 69-193.
490
x i .2 gedruckt e qu ellen
–: Nachwort, in: Adolf Stahr: Lebenserinnerungen. Aus der Jugendzeit, Schwerin i. M. 1877 (Bd. 2), S. 231 f. –: Zwölf Bilder nach dem Leben. Erinnerungen, Berlin 1888. Lindgren, Astrid und Leonie Hartung: »Ich habe auch gelebt!«. Briefe einer Freundschaft, hg. von Jens Andersen und Jette Glargaard, Berlin 2016. Mann, Klaus: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, diese Autobiographie erschien zuerst 1942 in englischer Sprache unter dem Titel »The Turning Point« im Verlag L. B. Fischer Inc., New York. Das vorliegende Buch ist eine erweiterte Fassung, die der Autor selbst in deutscher Sprache schrieb, München 1976. Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil, hg. von Thomas Sprecher und Monica Bussmann, Frankfurt a. M. 2012 (Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 12.1). Mehring, Walter: Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur, hg. von Christoph Buchwald, Düsseldorf 1978. Müller, F. von: 19. November 1830, hg. von Horst Fleig, Frankfurt a. M. 1993 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., II. Abt., Bd. 11), S. 334-338. Negt, Oskar: Überlebensglück. Eine autobiographische Spurensuche, München 2016. Online-Ansicht des Findbuchs. Nachlass Fanny Lewald-Stahr. Staatsbibliothek Berlin, http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/findingaid?fa.id=DE-611-BF-1586&fa. enum=12&lastparam=true’12, (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Paulus, Eduard: Arabesken, Stuttgart 1897. Petzet, Erich: Dichter oder Wissenschaftler? Unveröffentlichte Briefe Paul Heyses, mitgeteilt von Erich Petzet†, in: Süddeutsche Monatshefte 27, 1929/30, S. 431-434. –: Vorwort, in: Der Briefwechsel von Emanuel Geibel und Paul Heyse, hg. von Erich Petzet, München 1922, S. 3-7. –: Paul Heyse. Eine Einführung in sein Leben und Schaffen, Stuttgart 1924. –: Vorwort, in: Der Briefwechsel von Theodor Fontane und Paul Heyse 1850-1897, hg. von Erich Petzet, Berlin 1929, S. 5-9. – und Gustav Herbig: Carl Wilhelm Ludwig Heyse und sein System der Sprachwissenschaft. Vorgetragen am 15. Juli 1913, in: Sitzungsberichte der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1913, S. 1-47. Pietsch, Ludwig: Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens, hg. von Peter Goldammer, Berlin 2000. Raddatz, Fritz J.: Tagebücher. Jahre 1982-2001, Hamburg 32010. Reuter, Gabriele: Das Problem der Ehe, Berlin 1907 (Veröffentlichung der LessingGesellschaft für Kunst und Wissenschaft E. V.). –: Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend, Berlin 1921. Rieß, Anneliese: Exil wird Heimat. Erinnerungen, mit einem Nachwort von Barbara Hahn, Hamburg 2000. Rohr, Angela: Lager. Autobiographischer Roman, hg. von Gesine Bey, Berlin 2015. Rousseau, Jean-Jacques: Die Bekenntnisse, übers. von Alfred Semerau, durchgesehen von Dietrich Leube, mit einem Nachwort und Anmerkungen von Christoph Kunze, mit 15 Kupferstichen, München 2012. –: Les Confessions. Livres 1-8, hg. von Raymond Trousson und Frédéric S. Eigeldinger, Genève 2012 (Œvres Complètes. Édition Thèmatique du Tricentenaire, Bd. 2). Rühmkorf, Peter: Tabu II. Tagebücher 1971-1972, Reinbek 2004.
491
x i . li t er at u r
Salten, Felix: Persönliche Erinnerungen an Arthur Schnitzler, in: Die Literarische Welt 7, 1931, S. 2. Schalansky, Judith: Verzeichnis einiger Verluste, Berlin 2018. Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung, hg. Rolf Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992 (Friedrich Schiller: Werke und Briefe, 12 Bde., Bd. 8, S. 706-810). –: Über Anmut und Würde, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992 (Friedrich Schiller: Werke und Briefe, 12 Bde., Bd. 8), S. 330-394. –: Was kann eine gute Schaubühne wirken?, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992 (Friedrich Schiller: Werke und Briefe, 12 Bde., Bd. 8), S. 185-200. Schnitzler, Arthur: Mein Freund Ypsilon. Aus den Papieren eines Arztes, in: An der schönen blauen Donau 4, 15.1.1889, S. 25-28. –: Aphorismen und Betrachtungen, hg. von Robert O. Weiss, Frankfurt a. M. 1967 (Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke, Bd. 5). –: Testamentarische Bestimmungen, in: Der Nachlass Arthur Schnitzlers. Verzeichnis des im Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg i. Br. befindlichen Materials, mit einem Vorwort von Gerhart Baumann und einem Anhang von Heinrich Schnitzler, Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials, hg. von Gerhard Neumann und Jutta Müller, München 1969, S. 21-38. –: Anatol, hg. von Evelyne Polt-Heinzl und Isabella Schwentner, Berlin, Boston 2012 (Werke in historisch-kritischen Ausgaben, Bd. 2). Schnitzler, Olga: Spiegelbild der Freundschaft, Salzburg 1962. Spiero, Heinrich: Schatzkammer der Handschriften. Besuch in der Bayerischen Staats bibliothek, in: Neueste Nachrichten, 22.1.1925, BayHSta, GDION Bibliotheken, 789. Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung, hg. von Wolfgang Bartuschat, neu übers., Hamburg 2015 (Spinoza: Sämtliche Werke, Bd. 2). Stahr, Adolf: Ein Stück Leben. Gedichte, Berlin 1869 (Adolf Stahr: Gesammelte Werke, Bd. 16). –: Lebenserinnerungen. Aus der Jugendzeit, Schwerin in M. 1870 (Bd. 1). –: Goethe’s Frauengestalten, Berlin 51875 (Bd. 1). Stanišić, Saša: Herkunft, München 2019. Tranströmer, Tomas: Randgebiete der Arbeit, hg. von Magnus Halldin und Wolfgang Butt, aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt, München 2018. Tschernyschewskij, Nikolai Gawrilowitsch: Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen, aus dem Russischen übertragen von M. Hellmann, Berlin 1947. Wodin, Natascha: Sie kam aus Mariupol, Hamburg 92018. Wolff, Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit. Eine Autobiographie, aus dem Englischen von Michaela Huber, Weinheim, Basel 1982. Zuckmayer, Carl: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Frankfurt a. M. 1966. Zweig, Stefan: Persönliche Erinnerungen an Arthur Schnitzler, in: Die Literarische Welt 7, 1931, S. 2.
492
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
XI.3 Forschungsliteratur Abbt, Christine und Tim Kammasch (Hg.): Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung, Bielefeld 2009. Achermann, Eric: Von Fakten und Pakten. Referieren in fiktionalen und autobiographischen Texten, in: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2013, S. 23-53. Ajouri, Philip: Chronologische Werkausgaben im 19. Jahrhundert. Die Genese einer ›werkpolitischen‹ Praxis im Spannungsfeld von Autorwillen, Archivordnung und Publikumserwartung, in: Archiv/Fiktionen. Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts, hg. von Daniela Gretz und Nicolas Pethes, Freiburg 2016, S. 85-105. –: Einleitung, in: Die Präsentation kanonischer Werke um 1900. Semantiken, Praktiken, Materialität, hg. von Philip Ajouri, Berlin, Boston 2017, S. 1-15. Albrecht, Andrea: Bildung und Ehe »genialer Weiber«. Jean Pauls »Diesjährige Nachlesung an die Dichtinnen« als Erwiderung auf Esther Gad und Rahel Levin Varnhagen, in: DVjs 80, 2006, S. 377-406. –: »Ehe und Nicht-Ehe ist eine individuelle Sache«. Ledige Frauen in der literarischen Imagination Therese Hubers, in: Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750-1850, hg. von Inken Schmidt-Voges, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 285-314. Alt, Peter-André: Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik, in: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, hg. von Christian Klein, Stuttgart, Weimar 2002, S. 23-39. –: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers, München 2008. –: Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten, München 2020. Althoff, Gerd: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997. Anderson, Paul Irving: Der versteckte Fontane und wie man ihn findet, Stuttgart 2006. Arend, Stefanie: Glückseligkeit. Geschichte einer Faszination der Aufklärung. Von Aristoteles bis Lessing, Göttingen 2019. Arnold, Antje: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin, Boston 2012. Arnold, Heinz Ludwig: Der falsch gewonnene Prozeß. Das Verfahren gegen Arthur Schnitzlers »Reigen«, in: Text+Kritik 4, 1998, S. 114-122. Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen?, in: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, hg. von Harald Welzer, Hamburg 2001, S. 103-122. –: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2009. –: Formen des Vergessens, Göttingen 2016. Atze, Marcel: »… und kaum blieb etwas verschont.«. Reale und fiktive Autoren als Zerstörer eigener Texte, in: Verbergen – Überschreiben – Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion, hg. von Mona Körte und Cornelia Ortlieb, Berlin 2007, S. 91-105. Aurnhammer, Achim: Arthur Schnitzlers Lektüren. Leseliste und virtuelle Bibliothek, Würzburg 2013. Auvrai, Frédéric, Béatrice de March, Katja Hald, Monika Kopyczinski, Katja Meister, Audrey Sgorlon und Christiane Wirth: bricoler, in: Kompaktwörterbuch Franzö-
493
x i . li t er at u r
sisch, hg. von Frédéric Auvrai, Béatrice de March, Katja Hald, Monika Kopyczinski, Katja Meister, Audrey Sgorlon und Christiane Wirth, Stuttgart 2009, S. 120. –: sentir, in: Kompaktwörterbuch Französisch, hg. von Frédéric Auvrai, Béatrice de March, Katja Hald, Monika Kopyczinski, Katja Meister, Audrey Sgorlon und Christiane Wirth, Stuttgart 2009, 764, 1159. Bähler, Ursula: Vocations de Philologues (Friedrich Diez et Gaston Paris). Fleur de l’enfer ou fruit du paradis?, in: Legenden der Berufung, hg. von Patricia Oster und Karlheinz Stierle, Heidelberg 2012, S. 217-230. Bäumer, Konstanze: Reisen als Moment der Erinnerung. Fanny Lewalds (1811-1889) »Lehr- und Wanderjahre«, in: Out of Line/Ausgefallen. The Paradox of Marginality in the Writings of Nineteenth-Century German Women. A Social and Literary History, hg. von Ruth-Ellen Boetcher Joeres und Marianne Burkhard, Amsterdam 1989, S. 137-157. Baillot, Anne: Einleitung, in: Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, hg. von Anne Baillot, Berlin 2011, S. 11-23. Balke, Friedrich, Gregor Schwering und Urs Stäheli (Hg.): Paradoxien der Entscheidung. Wahl/Selektion in Kunst, Literatur und Medien, Bielefeld 2004. Barthes, Roland: La mort de l’auteur, in: Œuvres complètes, hg. von Éric Marty, Paris 1994, S. 491-495. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005. Bayerdörfer, Hans Peter: Arthur Schnitzler, in: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von Andreas B. Kilcher, Stuttgart, Weimar 2000, S. 519-523. Beckert, Jens: Was tun? Die emotionale Konstruktion von Zuversicht bei Entscheidungen unter Ungewissheit, in: Kluges Entscheiden. Disziplinäre Grundlagen und interdiziplinäre Verknüpfungen, hg. von Arno Scherzberg, Tübingen 2006, S. 123-141. Beebee, Oliver Thomas (Hg.): German Literature as World Literature, New York, London 2014. Behrs, Jan: Der Dichter und sein Denker. Wechselwirkungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in Realismus und Expressionismus, Stuttgart 2013. Beier, Nikolaj: »Vor allem bin ich ich …«. Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk, Göttingen 2008. Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit, Berlin 2015. –: »kein Einfall sollte untergehen«. Nachlassbewusstsein und Nachlass-Selbstbewusstsein bei Jean Paul, in: Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000, hg. von Kai Sina und Carlos Spoerhase, Göttingen 2017, S. 217-246. Berbig, Roland: Das gelobte Land Italien. Paul Heyses italienische Tagebuchnotizen 1852/1853 im Kontext der Italien-Aufzeichnungen von Franz Kugler, Friedrich Eggers und Theodor Fontane, in: Paul Heyse. Ein Schriftsteller zwischen Deutschland und Italien, hg. von Roland Berbig und Walter Hettche, Frankfurt a. M. 2001, S. 219-241. Berbig, Roland und Walter Hettche: Die Tagebücher Paul Heyses und Julius Rodenbergs. Möglichkeiten ihrer Erschließung und Dokumentation, in: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.-5.3.1994, autor- und problembezogene Referate, hg. von Jochen Golz, Tübingen 1995, S. 105-118.
494
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
–: Einleitung, in: Paul Heyse. Ein Schriftsteller zwischen Deutschland und Italien, hg. von Roland Berbig und Walter Hettche, Frankfurt a. M. 2001, S. 7 f. Bernauer, Markus und Norbert Miller: Anhang. Aus der ersten Fassung »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, in: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse. Teil 2. Aus der Werkstatt. Im Anhang: Aus der ersten Fassung der »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart und Berlin 1912, hg. von Markus Bernauer und Norbert Miller, Hildesheim, New York, Zürich 1995, S. 311-341. Berndt, Frauke: Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz – Keller – Raabe), Tübingen 1999. Bertazzoli, Raffaella, Christoph Grube und Gunnar Och: Vorwort, in: Kulturelle Mittlerschaft. Paul Heyse und Italien, hg. von Raffaella Bertazzoli, Christoph Grube und Gunnar Och, Würzburg 2016, S. 7-9. Bez, Martin: Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. Aggregat, Archiv, Archiv roman, Berlin, Boston 2013. Binczek, Natalie: Einleitung, in: Strong ties/Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie, hg. von Natalie Binczek und Georg Stanitzek, Heidelberg 2010, S. 7-14. Bischoff, Doerte und Martina Wagner-Egelhaaf: Einleitung, in: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, hg. von Doerte Bischoff und Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. B. 2003, S. 9-40. –: Einleitung, in: Rhetorik und Gender, hg. von Doerte Bischoff und Martina WagnerEgelhaaf, Berlin, New York 2010, S. 7-15. Blänsdorf, Jürgen: Montage, Intertextualität, Gattungsmischung, Kontamination? Beschreibungsmodelle für produktions- und rezeptionsästhetische Phänomene des antiken Dramas, in: Montage in Theater und Film, hg. von Horst Fritz, Tübingen, Basel 1993, S. 1-23. Blasberg, Cornelia: Biografie als Projekt. Harry Graf Kessler und Walter Rathenau, in: Grenzenlose Moderne. Begegnung der Kulturen im Tagebuch von Harry Graf Kessler, hg. von Roland S. Kamzelak, Alexandre Kostka, Ulrich Ott und Luca Renzi, Münster 2015, S. 59-74. Blechschmidt, Stefan: Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte, Heidelberg 2009. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 2006. –: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 2018. Boehm, Gottfried: Augenblicksgötter. Das Original: Ein Anfang, in: Der Wert des Originals, hg. von Deutsches Literaturarchiv Marbach 2014, S. 11-22. Böhme, Hartmut: Einführung. Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Kon struktion, in: Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, hg. von Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 17-36. Böhn, Andreas: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie, Berlin 2001. Boetticher, Dirk von: Meine Werke sind lauter Diagnosen. Über die ärztliche Dimension im Werk Arthur Schnitzlers, Heidelberg 1999. Bohnenkamp, Anne: Autorschaft und Textgenese, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering, Stuttgart, Weimar 2002, S. 62-79. Bonter, Urszula: Das Romanwerk von Paul Heyse, Würzburg 2008. Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction, Chicago, London 1961. Borchmeyer, Dieter und Peter Huber: Die natürliche Tochter. Textgrundlage und
495
x i . li t er at u r
Überlieferung, in: Johann Wolfgang von Goethe: Die natürliche Tochter, hg. von Dieter Borchmeyer und Peter Huber, Frankfurt a. M. 1996 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 6), S. 1116-1175. Borscheid, Peter: Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, hg. von Peter Borscheid und Hans Jürgen Teuteberg, Münster 1983, S. 112-134. Boshammer, Susanne: Von schmutzigen Händen und reinen Gewissen. Konflikte und Dilemmata als Problem der Ethik, in: Grundkurs Ethik, hg. von Kurt Bayertz, Ludwig Siep und Johann Ach, Paderborn 2008, S. 143-161. Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 2014. Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion, in: 3 Bios 1, 1990, S. 75-81. Brandes, Georg: Paul Heyse, in: Deutsche Rundschau 6, 1876, S. 258-275; 393-408. Braunwarth, Peter Michael: Arthur Schnitzler, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. von Walther Killy, Gütersloh, München 1990, S. 343346. Brecht, Christoph und Waltraud Wiethölter: Zur Deutung, in: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen, hg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt a. M. 1994 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt., Bd. 8), S. 984-1017. Breuer, Ulrich und Beatrice Sandberg: Einleitung, in: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Ulrich Breuer und Beatrice Sandberg, München 2006, S. 9-16. Brinker-Gabler, Gisela: Einleitung, in: Meine Lebensgeschichte, hg. von Gisela BrinkerGabler, Frankfurt a. M. 1980, S. 9-30. –: Fanny Lewald (1811-1889). »Meine Selbständigkeit war nächst meiner Liebe mein größtes Glück«, in: Frauen. Porträts aus zwei Jahrhunderten, hg. von Hans Jürgen Schultz, Stuttgart 1982, S. 72-86. Broch, Jan, Markus Rassiller und Daniel Scholl: Einleitung, in: Netzwerke der Moderne. Erkundungen und Strategien, hg. von Jan Broch, Markus Rassiller und Daniel Scholl, Würzburg 2007, S. 7-10. Brockmeier, Jens: Beyond the Archive. Memory, Narrative, and the Autobiographical Process, Oxford 2015. Bülow, Ulrich von (Hg.): »Sicherheit ist nirgends«. Das Tagebuch von Arthur Schnitzler, Marbach 2001. –: Nachlässe, in: Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, hg. von Marcel Lepper und Ulrich Raulff, Stuttgart 2016, S. 143-152. –: Papierarbeiter. Autoren und ihre Archive, Göttingen 2018. Buschmeier, Matthias: Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft, Tübingen 2008. Calabrese, Rita: »Wie gerne möchte ich einen neuen Ausdruck dazu erschaffen«. Tagebuchliteratur von Frauen, in: Deutsche Literatur von Frauen. 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Gisela Brinker-Gabler, München 1988, S. 129-143. Cevolini, Alberto: exzerpieren, in: Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, hg. von Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann, Köln, Weimar, Wien 2018, S. 149-166.
496
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Chartier, Roger: Die Hand des Autors. Literaturarchive, Kritik und Edition, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 54, 2010, S. 496-511. Childress, Clayton: Under the Cover. The creation, production, and reception of a novel, Princeton, Oxford 2017. Cohen, Margaret: Narratology in the Archive of Literature, in: Representations 108, 2009, S. 51-75. Conradi, Tobias, Florian Hoof und Rolf F. Nohr: Medien der Entscheidung, in: Medien der Entscheidung, hg. von Tobias Conradi, Florian Hoof und Rolf F. Nohr, Münster, Hamburg, Berlin, London 2016, S. 7-22. – (Hg.): Medien der Entscheidung, Münster, Hamburg, Berlin, London 2016. Dallinger, Petra-Maria, Georg Hofer und Bernhard Judex (Hg.): Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen, Berlin, Boston 2018. Dauzat, Albert: bricole, in: Dictionnaire Étymologique de la Langue Française, hg. von Albert Dauzat, Paris 1938, S. 113. Davidis, Michael: Der Verlag von Wilhelm Hertz. Beiträge zu einer Geschichte der Literaturvermittlung im 19. Jahrhundert, insbesondere zur Verlagsgeschichte der Werke von Paul Heyse, Theodor Fontane und Gottfried Keller. Sonderdruck, 1982 Frankfurt a. M. Dehrmann, Mark-Georg: Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Berlin 2015. Dehrmann, Mark-Georg und Alexander Nebrig: Einleitung, in: Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, hg. von Mark-Georg Dehrmann und Alexander Nebrig, Bern 2010, S. 7-19. – (Hg.): Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, Bern 2010. Depkat, Volker: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung, in: »Quelle«. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, hg. von Thomas Rathmann und Nikolaus Wegmann, Berlin 2004, S. 102-117. –: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007. Detering, Nicolas: Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa- Literatur in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2017. Detken, Anke: Regie, in: Metzler Lexikon Literatur, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart 2007, S. 636. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, http://woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GE05455# XGE05455., 1854-1961 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Dilthey, Wilhelm: Das Erleben und die Selbstbiographie, hg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart 1973 (Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, 26 Bde., Bd. 7), S. 191-204. –: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen, hg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart 1973 (Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, 26 Bde., Bd. 7), S. 205-227. Dittrich, Eckhard und Juliane Dittrich-Jacobi: Die Autobiographie als Quelle zur Sozialgeschichte der Erziehung, in: Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens, hg. von Dieter Baacke und Theodor Schulze, Weinheim, München 1993, S. 256-277. Döhl, Reinhard: Novelle, in: Metzler Lexikon Literatur, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart 2007, S. 547 f.
497
x i . li t er at u r
Dubois, Jean, Henri Mitterand und Albert Dauzat: bricole, in: Dictionnaire étymologique & historique du français, hg. von Jean Dubois, Henri Mitterand und Albert Dauzat, Paris 2007, S. 108. Dücker, Burckhard: Einleitung, in: Machen – Erhalten – Verwalten. Aspekte einer performativen Literaturgeschichte, hg. von Burckhard Dücker, Göttingen 2016, S. 7-14. Dünne, Jörg und Christian Moser: Allgemeine Einleitung, in: Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, hg. von Jörg Dünne und Christian Moser, München 2008, S. 7-16. Edschmid, Ulrike: Diesseits des Schreibtischs. Lebensgeschichten von Frauen schreibender Männer. Mit einem Vorwort von Barbara Hahn, Frankfurt a. M. 1990. Ehalt, Hubert C.: Vorwort, in: »Sicherheit ist nirgends«. Das Tagebuch von Arthur Schnitzler, hg. von Ulrich von Bülow, Marbach 2001, S. I-IV. Elias, Friederike, Albrecht Franz, Henning Murmann und Ulrich Wilhelm Weiser: Hinführung zum Thema und Zusammenfassung der Beiträge, in: Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von Friederike Elias, Franz Albrecht, Henning Murmann und Ulrich Wilhelm Weiser, Berlin, Boston 2014, S. 3-12. Emrich, Matthias: Rahel. Selbstbekenntnisse zwischen Brief und Buch, in: Ichtexte. Beiträge zur Philologie des Individuellen, hg. von Christopher Busch, Till Dembeck und Maren Jäger, Paderborn 2019, S. 133-147. Enenkel, Karl A. E.: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin, New York 2008. Epple, Angelika: Doing Comparisons. Ein praxeologischer Zugang zur Geschichte der Globalisierung/en, in: Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, hg. von Angelika Epple und Walter Erhart, Frankfurt a. M., New York 2015, S. 161-199. Erben, Dietrich und Tobias Zervosen: Berufsautobiographien und Professions geschichte. Zur Einführung, in: Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Autobiographie und Professionsgeschichte, hg. von Dietrich Erben und Tobias Zervosen, Bielefeld 2018, S. 11-19. Erhart, Walter: Beobachtung und Erfahrung, Sammeln und Vergleichen. Adelbert von Chamisso und die Poetik der Weltreise im 18. und 19. Jahrhundert, in: Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, hg. von Angelika Epple und Walter Erhart, Frankfurt a. M., New York 2015, S. 203-233. –: »Jeder soll werden wie er«. Auf der Suche nach Individualität im 19. Jahrhundert, in: Sich selbst vergleichen. Zur Relationalität autobiographischen Schreibens vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Franz-Josef Arlinghaus, Walter Erhart, Lena Gumpert und Simon Siemanowski, Bielefeld 2020, S. 191-258. Esser, Hartmut: Sinn, Kultur und »Rational Choice«, in: Handbuch der Kulturwissenschaften. Paradigmen und Disziplinen, hg. von Friedrich Jaeger und Jürgen Straub, Stuttgart, Weimar 2011, S. 249-265. Falk, Christine: Die archivalische (Auto-)Biographie als geschichts- und kulturpoetisches Metagenre. Wilhelm Raabes »Die Akten des Vogelsangs« (1896), in: Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft, hg. von Sonja Arnold, Stephanie Catani, Anita Gröger, Christoph Jürgensen, Klaus Schenk und Martina Wagner-Egelhaaf, Kiel 2018, S. 191-216. Farese, Giuseppe: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862-1931. Aus dem Italienischen von Karin Krieger, München 1999.
498
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Favre, Robert: La Mort-Caution. L’Écriture Testamentaire, in: La mort dans le texte, hg. von Gilles Ernst, Lyon 1988, S. 103-110. Feitscher, Georg: Kontemplation und Konfrontation. Die Topik autobiographischer Erzählungen der Gegenwart, Tübingen 2018. Fetz, Bernhard: Schreiben wie die Götter. Über Wahrheit und Lüge im Biographischen, in: Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit, hg. von Bernhard Fetz und Hannes Schweiger, Wien 2006, S. 7-20. Fink, Kristina: Arthur Schnitzlers Nachlass, in: https://www.arthur-schnitzler.de/ biobibliographika/nachlassgeschichte/ (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Fischer, Alexander M.: Posierende Poeten. Autorinszenierungen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Heidelberg 2015. Fischer, Hubertus: Ein »etablierte[r] deutsche[r] Schriftsteller«? Fontane in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Theodorus Victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen, hg. von Roland Berbig, Frankfurt a. M. 1999, S. 67-97. Fischer, Markus: »Mein Tagebuch enthält fast nur absolut persönliches«. Zur Lektüre von Arthur Schnitzlers Tagebüchern, in: Text+Kritik 4, 1998, S. 24-35. Flach, Willy: Goethes literarisches Archiv, in: Archivar und Historiker, hg. von Staatlichen Archivverwaltung im Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten, Berlin 1956, S. 45-71. Fliedl, Konstanze: Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung, Wien, Köln, Weimar 1997. –: Arthur Schnitzler. Schrift und Schreiben, in: Die Werkstatt des Dichters. Imagina tionsräume literarischer Produktion, hg. von Petra-Maria Dallinger und Klaus Kastberger, Berlin, Boston 2017, S. 139-161. Fludernik, Monika: Narratologische Probleme des faktualen Erzählens, in: Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Monika Fludernik, Nicole Falkenhayner und Julia Steiner, Würzburg 2015, S. 115-137. –, Nicole Falkenhayner und Julia Steiner: Einleitung, in: Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Monika Fludernik, Nicole Falkenhayner und Julia Steiner, Würzburg 2015, S. 7-22. Fohrmann, Jürgen und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994. Foucault, Michel: L’»a priori« historique et l’archive, in: L’Archéologie du savoir, hg. von Frederic Gros u. a., Paris 2015, S. 135-141. Franzen, Johannes: Ein »Recht auf Rücksichtslosigkeit«. Die moralische Lizenz der Fiktionalität, in: Non-Fiktion 12, 2017, S. 31-48. –: Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960-2015, Göttingen 2018. Frickel, Daniela Anna: Adele Gerhard (1868-1956). Spuren einer Schriftstellerin, Köln, Weimar, Wien 2007. Friedrich, Markus: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013. Friedrich, Udo: Erzähltes Leben. Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 44, 2014, S. 51-76. Friedrich, Vivien: Schnitzlers Nachlass, in: Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel, Stuttgart, Weimar 2014, S. 413-415. Fuchs, Thomas: Was heißt »sich entscheiden«? Die Phänomenologie von
499
x i . li t er at u r
dungsprozessen und die Debatte um die Willensfreiheit, in: Freiheit auf Basis von Natur?, hg. von Thomas Buchheim und Torsten Pietrek, Paderborn 2007, S. 101-118. Gastell, Daniela: Verlagsgeschichtsschreibung ohne Verlagsarchiv, in: Verlagsgeschichtsschreibung. Modelle und Archivfunde. Stephan Füssel zum 60. Geburtstag gewidmet, hg. von Corinna Norrick und Ute Schneider, Wiesbaden 2012, S. 46-59. Gerok-Reiter, Annette: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Tübingen, Basel 2006. Gethmann, Carl Friedrich und Thorsten Sander: Anti-Mentalismus, in: Vom Bewusstsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, hg. von Carl Friedrich Gethmann, München 2007, S. 203-216. Geulen, Eva: Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, in: Urteilen/Entscheiden, hg. von Cornelia Vismann und Thomas Weitin, München 2006, S. 51-55. Gfrereis, Heike: Arbeit am unscheinbaren Exponat. Deutsches Literaturarchiv Marbach 2006-2009, in: Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, hg. von Anne Bohnenkamp und Sonja Vandenrath, Göttingen 2011, S. 265-282. –: Ausstellung, in: Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, hg. von Marcel Lepper und Ulrich Raulff, Stuttgart 2016, S. 225-235. –: Immaterialität/Materialität. Über ein Gegensatzpaar, bei dem im Fall der Literaturausstellung die Lage klar scheint, in: Das Immaterielle ausstellen. Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst, hg. von Lis Hansen, Janneke Schoene und Levke Teßmann, Bielefeld 2017, S. 35-64. Gieseke, Ludwig: Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland 1845, Göttingen 1995. Gilbert, Annette: Vom Rand ins Zentrum. Vom Buch zum Publizieren. Tendenzen künstlerischer Publikationspraxis, in: Kunstforum International 256, 2018, S. 66-77. Giuriato, Davide, Martin Stingelin und Sandro Zanetti: Einleitung, in: »Schreiben heißt: sich selber lesen«. Schreibszenen als Selbstlektüren, hg. von Davide Giuratio, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2008, S. 9-17. Glaser, Adolf: Adolf Stahr. Ein biographischer Essay, in: Unsere Zeit. Neue Folge 12, 1876, S. 801-816. Glatzmeier, Armin: Entscheidungen. Eine Annäherung, in: Entscheidungen. Geistesund sozialwissenschaftliche Beiträge zu Theorie und Praxis, hg. von Armin Glatzmeier und Hendrik Hilgert, Wiesbaden 2015, S. 9-20. Gnüg, Hiltrud und Möhrmann, Renate (Hg.): Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart, Weimar 1999. Goeing, Anja-Silvia, Anthony T. Grafton und Paul Michel (Hg.): Collectors’ Knowledge. What Is Kept, What Is Discarded. Aufbewahren oder wegwerfen – Wie Sammler entscheiden, Leiden, Boston 2013. Görbert, Johannes: Selbsterzählungen in Gedichtform. Einige Prolegomena zu Theorie und Praxis autobiographischer Lyrik – mit zwei Beispielanalysen, in: Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft, hg. von Sonja Arnold, Stephanie Catani, Anita Gröger, Christoph Jürgensen, Klaus Schenk und Martina Wagner-Egelhaaf, Kiel 2018, S. 37-57. Goldmann, Stefan: Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis. Eine psychoanaly tische Studie zur Autobiographie und ihrer Topik, Stuttgart 1993. –: Topos und Erinnerung. Rahmenbildungen der Autobiographie, in: Der ganze Mensch.
500
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG Symposium 1992, hg. von Hans-Jürgen Schings, Stuttgart 1994, S. 660-675. Golz, Jochen: Das Goethe- und Schiller-Archiv in Geschichte und Gegenwart, in: Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896-1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv, hg. von Jochen Golz, Weimar, Köln, Wien 1996, S. 13-70. Goodman, Kay: Die große Kunst, nach innen zu weinen. Autobiographien deutscher Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Die Frau als Heldin und Autorin. Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur, hg. von Wolfgang Paulsen, Bern 1979, S. 125-135. Gräfrath, Bernd: Dilemma, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. von Petra Kolmer und Armin G. Wildfeuer, Freiburg 2011, S. 532-539. Graevenitz, Gerhart von: Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. Zur Bedeutung der Biographie im 19. Jahrhundert, in: DVjs 54, 1980, S. 105-170. –: Theodor Fontane. Ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, Konstanz 2014. Grave, Johannes: Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen, in: Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, hg. von Angelika Epple und Walter Erhart, Frankfurt a. M., New York 2015, S. 135-159. Greisch, Jean: Bekennen – Erzählen – Bezeugen. Diesseits und Jenseits der narrativen Identität, in: Irrwege des Lebens. Augustinus: Confessiones 1-6, hg. von Norbert Fischer und Dieter Hattrup, Paderborn 2004, S. 167-180. Grésillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique, aus dem Französischen übers. von Frauke Rother und Wolfgang Günther, Bern u. a. 1999. –: Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Berlin 2015, S. 152-186. Gretz, Daniela und Pethes, Nicolas (Hg.): Archiv/Fiktionen. Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg 2016. Grieser, Dietmar: Glückliche Erben. Der Dichter und sein Testament, München, Wien 1983. Grimm, Gunter E.: Einleitung. Zwischen Beruf und Berufung – Aspekte und Aporien des modernen Dichterbildes, in: Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteller von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1992, S. 7-15. –: Paul Heyse, in: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing, Stuttgart, Weimar 2004, S. 322-324. – und Christian Schärf: Einleitung, in: Schriftsteller-Inszenierungen, hg. von Gunter E. Grimm und Christian Schärf, Bielefeld 2008, S. 7-11. – (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008. Gröne, Maximilian: Von der Philologie zur Fiktion. Paul Heyses Strategien der Literarisierung am Beispiel von Adam de la Halle und Raimon de Miraval, in: Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, hg. von Mark-Georg Dehrmann und Alexander Nebrig, Bern 2010, S. 177-193. Gross, Peter: Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1994. Große, Jürgen: Die letzte Stunde. Über eine Lebens- und Weltgeschichtsmetapher bei Jacob Burckhardt und Wilhelm Dilthey, in: DVjs 74, 2000, S. 654-684. Grube, Christoph: Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe, Bielefeld 2014.
501
x i . li t er at u r
Gründer, Karlfried: Einleitung, in: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie. Eingeleitet von Karlfried Gründer. Die Erstausgabe erschien 1857 bei Eduard Trewendt in Breslau., Hildesheim, New York 1970, S. 5-11. Günther, Hartmut und Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin, New York 1994. – (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin, New York 1996. Günther, Timo: Biographische Einführung, in: »Du, von dem ich lebe«. Briefe an Paul Heyse, hg. von William M. Calder und Timo Günther, Göttingen 2010, S. 231-248. Gutt, Barbara: Emanzipation bei Arthur Schnitzler, Berlin 1978. Hämmerle, Christa: Nebenpfade? Populare Selbstzeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in geschlechtervergleichender Perspektive, in: Vom Lebenslauf zur B iographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Referate der Tagung »Vom Lebenslauf zur Biographie« am 26. Oktober 1997 in Horn, hg. von Thomas Winkelbauer, Waidhofen, Thaya 2000, S. 135-167. Häntzschel, Günter: Zum kulturgeschichtlichen Ort Paul Heyes als Literaturvermittler, in: Paul Heyse. Ein Schriftsteller zwischen Deutschland und Italien, hg. von Roland Berbig und Walter Hettche, Frankfurt a. M. 2001, S. 19-29. –: Sammel(l)ei(denschaft). Literarisches Sammeln im 19. Jahrhundert, Würzburg 2014. Hage, Volker: Collagen in der deutschen Literatur. Zur Praxis und Theorie eines Schreibverfahrens, Frankfurt a. M., Bern, New York, Nancy 1984. Hagen, Judith: Die Tränen der Mächtigen und die Tränen der Macht. Eine emotionsgeschichtliche Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie, Stuttgart 2017. Hagestedt, Lutz: Vorwort, in: »Liebes Tagebuch«. Zur Theorie und Praxis des Journals, hg. von Philippe Lejeune, München 2014, S. 7-32. Hahn, Barbara: »Weiber verstehen alles à la lettre«. Briefkultur im beginnenden 19. Jahrhundert, in: Deutsche Literatur von Frauen. 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Gisela Brinker-Gabler, München 1988, S. 13-27. –: Wer schreibt, wer spricht? Geschichten zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Diesseits des Schreibtischs. Lebensgeschichten von Frauen schreibender Männer, hg. von Ulrike Edschmid, Frankfurt a. M. 1990, S. 7-11. –: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a. M. 1991. Haideri, Arin: Die Kunst, eine Goethe-Organisation zu sein, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 170, 2018, S. 347-363. Halldin, Magnus und Wolfgang Butt: Eine literarische Vorratskammer, in: Randgebiete der Arbeit. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt, hg. von Magnus Halldin und Wolfgang Butt, München 2018, S. 7-10. Hantelmann, Dorothea von: Affluence and Choice. The Social Significance of the Curatorial, in: Cultures of the Curatorial, hg. von Beatrice von Bismarck, Jörn Schafaff und Thomas Weski, Berlin 2012, S. 41-51. Harbach, Andrea: Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur, Heidelberg 2010. Harms, Wolfgang: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970. Heesen, Anke te: Das Archiv. Die Inventarisierung des Menschen, in: Der neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, hg. von Nicola Lepp, Martin Roth und Klaus Vogel, Ostfildern-Ruit 1999, S. 115-141.
502
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
–: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt a. M. 2006. –: Vom Einräumen der Erkenntnis, in: auf \ zu. Der Schrank in den Wissenschaften, hg. von Anke te Heesen und Anette Michels, Berlin 2007, S. 90-97. Heidegger, Maria, Nina Kogler, Mathilde Schmitt, Ursula A. Schneider und Annette Steinsiek (Hg.): sichtbar unsichtbar. Geschlechterwissen in (auto-)biographischen Texten, Bielefeld 2015. Heller, André (Hg.): Thomas Bernhard. Hab & Gut. Das Refugium des Dichters, Wien 2019. Helmer, Ulrike: Nachwort, in: Fanny Lewald »Meine Lebensgeschichte. Im Vaterhause«, hg. von Ulrike Helmer, Königstein/Ts. 1998 (Edition Klassikerinnen, Bd. 1), S. 270-287. Helmstetter, Rudolf: Guter Rat ist (un)modern. Die Ratlosigkeit der Moderne und ihre Ratgeber, in: Konzepte der Moderne, hg. von Gerhart von Graevenitz, Stuttgart, Weimar 1999, S. 147-172. Henn, Marianne: »Richelieu-Fragmente«. Text- und Entstehungsgeschichte, in: Maria von Ebner-Eschenbach: Die historischen Tragödien. »Maria Stuart in Schottland«, »Marie Roland«, »Richelieu«, »Jacobäa«, hg. von Marianne Henn, Tübingen 2012, S. 717-724. Henrich, Dieter: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten, München 2011. Hertz, Deborah: Einleitung, in: Briefe an eine Freundin. Rahel Varnhagen an Rebecca Friedländer, hg. von Deborah Hertz, Köln 2018, S. 17-55. Herzog, Stephanie: Der digitale Nachlass in der Vorsorge- und Erbrechtspraxis, Bonn 2018. Hettche, Walter: Paul Heyses Briefwechsel. Möglichkeiten der Edition, dargestellt am Beispiel der Korrespondenz mit Berthold Auerbach, in: Euphorion 89, 1995, S. 271321. Heuser, Magdalene (Hg.): Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen 1996. Hilgert, Markus: Praxeologisch perspektivierte Artefaktanalysen des Geschriebenen. Zum heuristischen Potential der materialen Textkulturforschung, in: Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von Friederike Elias, Franz Albrecht, Henning Murmann und Ulrich Wilhelm Weiser, Berlin, Boston 2014, S. 149-164. Hillenbrand, Rainer: Einleitung, in: Paul Heyses Briefe an Wilhelm Petersen. Mit Heyses Briefen an Anna Petersen, vier Briefen Petersens an Heyse und einigen ergänzenden Schreiben aus dem Familienkreise, hg. von Rainer Hillenbrand, Frankfurt a. M. 1998, S. 7-13. Hillebrandt, Claudia, Sonja Klimek, Ralph Müller und Rüdiger Zymner: Wer spricht das Gedicht? Adressatenmarkierung in Lyrik, in: Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher?, hg. von Claudia Hillebrandt, Sonja Klimek, Ralph Müller und Rüdiger Zymner, Berlin, Boston 2019, S. 1-21. Hirschi, Caspar und Carlos Spoerhase: Kommerzielle Bücherzerstörung als ökonomische Praxis und literarisches Motiv. Ein vergleichender Blick auf das vorindustrielle und digitale Zeitalter, in: Kodex. Buchzerstörung und Buchvernichtung, hg. von Christine Haug und Vincent Kaufmann, Wiesbaden 2013, S. 1-23. Höppner, Stefan: Bücher sammeln und schreiben. Eine Einleitung, in: Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren, hg. von Stefan Höppner,
503
x i . li t er at u r
Caroline Jessen, Jörn Münkner und Ulrike Trenkmann, Göttingen 2018, S. 1422. Hörning, Karl H.: Kultur als Praxis, in: Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, hg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch, Stuttgart, Weimar 2011, S. 139-151. Hoffmann, Roswitha: Das Mädchen mit dem Jungenkopf. Kindheit und Jugend der Schriftstellerin Fanny Lewald, Sulzbach/Taunus 2011. Hoffmann, Torsten und Daniela Langer: Autorschaftsmodelle, in: Handbuch Literatur wissenschaft. Methoden und Theorien, hg. von Thomas Anz, Stuttgart, Weimar 2013, S. 139-149. Hoffmann, Volker: Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890-1923 (Originalbeitrag 1980), in: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hg. von Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 482-519. Hoffmann-Rehnitz, Philip, André Krischer und Matthias Pohlig: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45, 2018, S. 217-281. –, Philip, Ulrich Pfister, Michael Quante und Tim Rojek: Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus. Auf dem Weg zu einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Konzeption des Entscheidens. Reflexionen der Dialektik einer interdisziplinären Problemkonstellation, in: Zeitschrift für angewandte Philosophie 1, 2019, S. 133-152. Hohkamp, Michaela: Wer ist mit wem, warum und wie verheiratet? Überlegungen zu Ehe, Haus und Familie als gesellschaftliche Schlüsselbeziehungen am Beginn des 19. Jahrhunderts – samt einem Beispiel aus der Feder eines Mörders, in: Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750-1850, hg. von Inken Schmidt-Voges, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 31-47. Holdenried, Michaela: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, Heidelberg 1991. – (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin 1995. Holm, Christiane und Günter Oesterle: Andacht und Andenken. Zum Verhältnis zweier Kulturpraktiken um 1800, in: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, hg. von Günter Oesterle, Göttingen 2005, S. 433-448. Honold, Alexander: Das Gottesurteil und sein Publikum. Kleists dramatischer Dezisionismus in »Der Zweikampf«, in: Kleist. Vom Schreiben in der Moderne. Mit Zeichnungen von Klaus Maßem, hg. von Dieter Heimböckl, Bielefeld 2013, S. 95-126. –: »Entscheide Du«. Kleists Komödie der Dezision, in: DVjs 87, 2013, S. 502-532. –, Edith Anna Kunz und Hans-Jürgen Schrader: Goethe als Literatur-Figur. Einleitung, in: Goethe als Literatur-Figur, hg. von Alexander Honold, Edith Anna Kunz und Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2016, S. 7-14. Horstmann, Anja und Vanina Kopp: Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, in: Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, hg. von Anja Horstmann und Vanina Kopp, Frankfurt, New York 2010, S. 9-22. Huch, Ricarda: Romantische Ehe, in: Das Ehe-Buch. Eine neue Sinngebung im Zusammenklang der Stimmen führender Zeitgenossen, hg. von Graf Hermann Keyserling, Celle 1925, S. 147-169. Hughes, Peter, Thomas Fries und Tan Wälchli (Hg.): Schreibprozesse, München 2008.
504
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Jacob, Herbert: Fanny Lewald, in: Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830-1880, hg. von Herbert Jacob und Marianne Jacob, Berlin 2009, S. 271-283. – und Marianne Jacob (Hg.): Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830-1880, Berlin 2009. Jacob, Katharina: Linguistik des Entscheidens. Eine kommunikative Praxis in funktional pragmatischer und diskurslinguistischer Perspektive, Berlin, Boston 2017. Jannidis, Fotis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Hisrorische Modelle und systematische Perspektiven, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko 1999, S. 3-35. – (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs 1999. Jappe, Lilith, Olav Krämer und Fabian Lampart: Einleitung. Figuren, Wissen, Figurenwissen, in: Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figuren darstellung, hg. von Lilith Jappe, Olav Krämer und Fabian Lampart, Berlin, Boston 2012, S. 1-35. Jürgensen, Christoph: Autobiographische Schriften, in: Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel, Stuttgart, Weimar 2014, S. 276-279. –: Briefe, in: Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel, Stuttgart, Weimar 2014, S. 285-290. – und Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Heuristische Typologie und Genese, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, hg. von Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser, Heidelberg 2011, S. 9-29. Kammer, Stephan: Reflexion der Hand. Zur Poetologie der Differenz zwischen Schreiben und Schrift, in: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, hg. von Davide Giuratio und Stephan Kammer, Frankfurt a. M., Basel 2006, S. 131-161. Kamzelak, Roland S.: Einleitung. »I often think what a fool I am for keeping this Diary«. Harry Graf Kesslers Bildungsweg, in: Das Tagebuch Erster Band 1880-1891, hg. von Roland S. Kamzelak, Stuttgart 2018, S. 11-48. Kastberger, Klaus: Nachlassbewusstsein, Vorlass-Chaos und die Gesetze des Archivs. Am Beispiel von Friederike Mayröcker, in: Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000, hg. von Kai Sina und Carlos Spoerhase, Göttingen 2017, S. 409-427. Kater, Thomas: Das gesperrte »Werk«? Veröffentlichung und Werkwerdung am Beispiel von Max Frischs »Berliner Journal«, in: Autor und Werk. Wechselwirkungen und Perspektiven, hg. von Svetlana Efimova 2018. Katins-Riha, Janine: Nachlassbewusstsein, Nachlasspolitik und Nachlassverwaltung bei Gerhart Hauptmann, Berlin 2017. Kauppert, Michael und Dorett Funcke (Hg.): Wirkungen des wilden Denkens. Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Berlin 2008. Kern, Lucian und Julian Nida-Rümelin: Logik kollektiver Entscheidungen, München, Wien 1994. Kimmich, Dorothee: Literaturwissenschaft. Einführung und Problematik, in: Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, hg. von Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert und Hans Peter Hahn, Stuttgart, Weimar 2014, S. 305-308. Kittelmann, Jana: Von der Reisenotiz zum Buch. Zur Literarisierung und Publikation privater Reisebriefe Hermann von Pückler-Muskaus und Fanny Lewalds. Mit unveröffentlichten Nachlassdokumenten, Dresden 2010.
505
x i . li t er at u r
Kittner, Alma-Elisa: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009. –: Das Lebensbild von Hannah Höch. Eine visuelle Autobiografie, in: Lebensbild. Eine collagierte Autobiografie, mit einem einleitenden Essay und 38 Kurztexten von Alma-Elisa Kittner, hg. von The Green Box Berlin, Berlin 2016, S. 1-3. Klinger, Florian: Urteilen, Zürich, Berlin 2011. Knape, Joachim: Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000. Knickmann, Hanne: »Ich weiß nicht, bin ich zum Dichter, zum öffentlichen Kritiker, oder zum Wissenschaftler bestimmt?«. Der Wissenschaftler Kurt Pinthus (18861975), in: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933, hg. von Wilfried Barner und Christoph König, Göttingen 2001, S. 53-63. Köhler, Sigrid G., Hania Siebenpfeiffer und Martina Wagner-Egelhaaf: Einleitung, in: Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte, hg. von Sigrid G. Köhler, Hania Siebenpfeiffer und Martina Wagner-Egelhaaf, Berlin 2013, S. 11-24. König, Christoph und Siegfried Seifert (Hg.): Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit, München, New Providence, London, Paris 1996. Körte, Mona und Cornelia Ortlieb (Hg.): Verbergen – Überschreiben – Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion, Berlin 2007. Kopp-Oberstebrink: Das Literaturarchiv als Laboratorium der Kulturforschung. Wilhelm Diltheys Beitrag zu einer Epistemologie des Archivs, in: Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen, hg. von Petra-Maria Dallinger, Georg Hofer und Bernhard Judex, Berlin, Boston 2018, S. 121-138. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012. Koselleck, Reinhart: Krise, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel, Stuttgart 1976, S. 1235-1240. –: Krise, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1982, S. 617-650. –: Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹, in: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2006, S. 203-217. –: Grenzverschiebungen der Emanzipation. Eine begriffsgeschichtliche Skizze, in: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2006, S. 182-202. Kraft, Herbert: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff, Frankfurt a. M. u. a. 2001. Krajewski, Markus: Denkmöbel. Die Tische der Schreiber zwischen analog und digital, in: Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen, hg. von Petra-Maria Dallinger, Georg Hofer und Bernhard Judex, Berlin, Boston 2018, S. 193-213. Krankenhagen, Stefan: Geschichte kuratieren, in: Geschichte kuratieren. Kultur- und kunstwissenschaftliche An-Ordnungen der Vergangenheit, hg. von Stefan Krankenhagen und Viola Vahrson, Köln, Weimar, Wien 2017, S. 9-14. Krausnick, Michail: Paul Heyse und der Münchener Dichterkreis, Bonn 1974. Kreknin, Innokentij: Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion. Am
506
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst, Berlin, Boston 2014. Kremer, Roman B.: Autobiographie als Apologie. Rhetorik der Rechtfertigung bei Baldur von Schirach, Albert Speer, Karl Dönitz und Erich Raeder, Göttingen 2017. Krings, Hans P.: Schwarze Spuren auf weißem Grund. Fragen, Methoden und Ergebnisse der empirischen Schreibprozeßforschung im Überblick, in: Textproduktion. Neue Wege der Forschung, hg. von Hans P. Krings und Gerd Antos, Trier 1992, S. 45-110. Krischer, André: Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, in: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger und André Krischer, Berlin 2010, S. 35-64. Krogh Hansen, Per: Figuren, aus dem Englischen übers. von Marie Isabel Schlinzig, in: Einführung in die Erzähltextanalyse, hg. von Silke Lahn und Jan Christoph Meister, Stuttgart 2013, S. 232-247. Kronauer, Brigitte: Unendliche Liebe zur Gesellschaft, in: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Mit einem Essay von Brigitte Kronauer, hg. von Barbara Hahn, Göttingen 2011, S. 7-16. Kruckis, Hans-Martin: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart, Weimar 1994, S. 550-575. Krueger, Joachim: Fanny Lewalds Bekenntnis zur »Weltanschauung der Realität«. Zu einem Brief Fanny Lewalds an Bernhard von Lepel, in: Fontane Blätter 4, 1979, S. 392399. Laferl, Christopher F. und Anja Tippner: Vorwort, in: Künstlerinszenierungen. Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Christopher F. Laferl und Anja Tippner, Bielefeld 2014, S. 7-14. –: Zwischen Authentizität und Inszenierung. Künstlerische Selbstdarstellung im 20. und 21. Jahrhundert, in: Künstlerinszenierungen. Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Christopher F. Laferl und Anja Tippner, Bielefeld 2014, S. 15-36. Lahn, Silke: Zuverlässigkeit des Erzählens, in: Einführung in die Erzähltextanalyse, hg. von Silke Lahn und Jan Christoph Meister, Stuttgart 2013, S. 182-187. Langer, Daniela: Autobiografie, in: Handbuch Literaturwissenschaft. Methoden und Thorien, hg. von Thomas Anz, Stuttgart, Weimar 2013, S. 179-187. Lawall, Christiane: Verlagswahl, Verlagswechsel und Korrespondenzen von Autoren als Quellen für die Verlagsgeschichtsschreibung, in: Verlagsgeschichtsschreibung. Modelle und Archivfunde. Stephan Füssel zum 60. Geburtstag gewidmet, hg. von Corinna Norrick und Ute Schneider, Wiesbaden 2012, S. 30-45. Le Rider, Jacques: Arthur Schnitzlers Identitätskrise während des Ersten Weltkrieges, in: Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert, hg. von Konstanze Fliedl, Wien 2003, S. 158-193. Lederer, Herbert: Arthur Schnitzlers Autobiographie. Spiegel des Ichs und Spiegel der Welt, in: Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association 5, 1966, S. 4-10. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991. Leigh, Gilmore: From Autobiographics. A Feminist Theory of Women’s Self-Representation, Ithaca, London 1994.
507
x i . li t er at u r
Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique, Paris 1975. –: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Le pacte autobiographique, Frankfurt a. M. 1994. – (Hg.): »Liebes Tagebuch«. Zur Theorie und Praxis des Journals, München 2014. Lepenies, Wolf und Hanns Henning Ritter (Hg.): Orte des wilden Denkens. Zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt a. M. 1970. Lepper, Marcel: Philologie zur Einführung, Hamburg 2012. –: Goethes Euphrat. Philologie und Politik im ›West-östlichen Divan‹, Göttingen 2016. – und Raulff, Ulrich (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016. Lévi-Strauss, Claude: La Pensée Sauvage, Paris 1962. –: Das wilde Denken. Im Original La pensée sauvage [1962]. Aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt a. M. 2016. Linck, Dirck und Martin Vöhler: Zur Einführung, in: Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin, New York 2009, S. IX-XIV. Lindgren, Irène: Arthur Schnitzler im Lichte seiner Briefe und Tagebücher, Heidelberg 1993. Löffler, Jörg: poeta doctus, in: Metzler Lexikon Literatur, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart 2007, S. 591. Lewis, Hanna Ballin: Introduction, in: The Education of Fanny Lewald. An Autobiography, hg. und übers. von Hanna Ballin Lewis, New York 1992, S. 13-20. Lorey, Christoph: Die Ehe im klassischen Werk Goethes, Amsterdam 1995. Lubkoll, Christine und Claudia Öhlschläger: Einleitung, in: Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität, hg. von Christine Lubkoll und Claudia Öhlschläger, Freiburg, Berlin, Wien 2015, S. 9-21. Lübbe, Hermann: Zur Theorie der Entscheidung, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1965, S. 118-140. –: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin, Heidelberg 32003. Lütteken, Anett: Das Literaturarchiv. Vorgeschichte(n) eines Spätlings, in: Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen, hg. von Petra-Maria Dallinger, Georg Hofer und Bernhard Judex, Berlin, Boston 2018, S. 63-88. Luhmann, Niklas: Die Paradoxie des Entscheidens, in: Verwaltungsarchiv. Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik 84, 1993, S. 287-310. –: Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 22006. –: Schriften zur Organisation 2. Theorie organisierter Sozialsysteme, hg. von Ernst Lukas und Veronika Tacke, Wiesbaden 2019. Lukas, Wolfgang: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers, München 1996. –, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski: Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation. Eine Einführung, in: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation, hg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski, Berlin, Boston 2014, S. 1-22. Lutz, Bernd: Autodafé, in: Metzler Goethe Lexikon. Personen – Sachen – Begriffe, hg. von Benedikt Jeßing, Bernd Lutz und Inge Wild, Stuttgart 2004, S. 30.
508
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, übers. von Madeleine von Pásztory, Wien 2000. Man, Paul de: Autobiography as De-Facement, in: Comparative Literature 94, 1979, S. 919-930. Marci-Boehncke, Gudrun: Fanny Lewald. Jüdin, Preußin, Schriftstellerin. Studien zu autobiographischem Werk und Kontext, Stuttgart 1998. Marszałek, Magdalena: »Das Leben und das Papier«. Das autobiographische Projekt Zofia Nałkowskas »Dzienniki« 1899-1954, Heidelberg 2003. Martínez, Matías und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 2012. Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007. Maync, Harry: Paul Heyse »Jugenderinnerungen und Bekenntnisse«, in: Euphorion 10, 1903, S. 709-715. Mazza, Ethel Matala de und Clemens Pornschlegel: Einleitung, in: Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, hg. von Ethel Matala de Mazza und Clemens Pornschlegel, Freiburg 2003, S. 9-23. Meinhardt, Matthias: Krise, in: Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch, hg. von Ute Frietsch und Jörg Rogge, Bielefeld 2013, S. 230-235. Mellmann, Katja: Vom »Andenken für Freunde« zur autobiografischen Auskunft über »Dichtung und Wahrheit«. Vier Stichproben zur Nachlasspraxis bei Romanschriftstellerinnen des Realismus, in: Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000, hg. von Kai Sina und Carlos Spoerhase, Göttingen 2017, S. 270-293. Mendelssohn, Peter de: S. Fischer und sein Verlag, Frankfurt a. M. 1970. Menke, Bettine: Agon und Theater. Fluchtwege, die Sch(n)eidung und die Szene – nach den aitiologischen Fiktionen F. C. Rangs und W. Benjamins, in: Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden, hg. von Bettine Menke und Juliane Vogel, Berlin 2018, S. 203-241. Metken, Sigrid: Geschnittenes Papier. Eine Geschichte des Ausschneidens in Europa von 1500 bis heute, München 1978. Meyer, Urs: Tagebuch, Brief, Journal, Interview, Autobiografie, Fotografie und Inszenierung. Medien der Selbstdarstellung von Autorschaft, in: Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview, hg. von Lucas Marco Gisi, Urs Meyer und Reto Sorg, München 2013, S. 9-15. Miller, Norbert: Anmerkungen zur Selberlebensbeschreibung, in: Jean Paul: Werke, hg. von Norbert Miller, München 1963, S. 1312-1319. –: Im Schatten Goethes. Zu Paul Heyses Stellung in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter. Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek 23. Januar bis 11. April 1981, hg. von Sigrid von Moisy, München 1981, S. 11-16. Minor, Jakob: Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen Hilfsarbeiten, in: Euphorion, 1894, S. 17-26. Misch, Georg: Geschichte der Autobiographie. Das Altertum, Leipzig, Berlin 1907. Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933, München 2000. Möller, Klaus-Peter: Preußisches Panoptikum mit Pfefferkuchen. Fontane-Porträts und -Bildnisse, in: Fontane Blätter 78, 2004, S. 52-73.
509
x i . li t er at u r
Moisy, Sigrid von (Hg.): Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter. Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek 23. Januar bis 11. April 1981, München 1981. Moser, Christian: Einleitung. Automedialität und Schrift, in: Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, hg. von Jörg Dünne und Christian Moser, München 2008, S. 19-25. –: Erinnerung als Sammlung. Zum Zusammenhang von Mnemographie und Ding kultur. (Augustinus, Rousseau, Benjamin, Clavino), in: Comparatio. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 1, 2009, S. 87-111. – und Jürgen Nelles: Einleitung. Konstruierte Identitäten, in: AutoBioFiktion. Kon struierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie, hg. von Christian Moser und Jürgen Nelles, Bielefeld 2006, S. 7-19. Mühlenberend, Sandra: Künstlerroman, in: Metzler Lexikon Literatur, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart 2007, S. 412 f. Müller, Klaus-Detlef: Goethes Weg zur Autobiographie, in: Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1986 (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, 40 Bde., I. Abt, Bd. 14), S. 995-1005. Müller, Lothar: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers, München 2014. Müller-Wood, Anja: Drama, in: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. von Dieter Lamping, Stuttgart 2009, S. 143-157. Muschg, Walter: Schiller. Die Tragödie der Freiheit. Zur zweihundertsten Wiederkehr von Schillers Geburtstag 10. November 1959, Bern, München 1959. –: Tragische Literaturgeschichte, München, Bern 1983. N. N.: Appendix. Authors and their Papers. A Guidance Sheet for Authors and Writers, in: The Future of Literary Archives. Diasporic and Dispersed Collections at Risk, hg. von David C. Sutton und Ann Livingstone, Leeds 2018, S. 153-158. Nassehi, Armin: Optionssteigerung und Risikokultur, in: Konzepte der Moderne, hg. von Gerhart von Graevenitz, Stuttgart, Weimar 1999, S. 82-101. Nebrig, Alexander: Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin, Boston 2013. – und Carlos Spoerhase: Für eine Stilistik der Interpunktion, in: Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion, hg. von Alexander Nebrig und Carlos Spoerhase 2012, S. 11-31. Nehring, Wolfgang: »Kulturhistorisch interessant«. Zur Autobiographie Arthur Schnitzlers, in: Autobiographien als Zeitzeugen, hg. von Manfred Misch 2001, S. 75-90. Neuhaus, Stefan: Wie man Skandale macht. Akteure, Profiteure und Verlierer im Literaturbetrieb, in: Wertung und Kanon, hg. von Matthias Freise und Claudia Stockinger, Heidelberg 2010, S. 29-41. Neumann, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1970. Neumann, Gerhard: Die Schreibszene. Im Leben und in der Literatur. Ein Aperçu, in: Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität, hg. von Christine Lubkoll und Claudia Öhlschläger, Freiburg, Berlin, Wien 2015, S. 25-29. –: Schreiben und Edieren, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Berlin 2015, S. 187-213. – und Jutta Müller: Gestalt und Geschichte des Nachlasses. Einleitende Bemerkungen, in: Der Nachlass Arthur Schnitzlers. Verzeichnis des im Schnitzler-Archiv der
510
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
versität Freiburg i. Br. befindlichen Materials. Mit einem Vorwort von Gerhart Baumann und einem Anhang von Heinrich Schnitzler: Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials, hg. von Gerhard Neumann und Jutta Müller, München 1969, S. 12-20. Nickl, Therese und Heinrich Schnitzler: Vorbemerkung der Herausgeber, in: Jugend in Wien. Eine Autobiographie, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. M. 2011, S. 7-9. Niehaus, Michael: Die Entscheidung vorbereiten, in: Urteilen/Entscheiden, hg. von Cornelia Vismann und Thomas Weitin, München 2006, S. 17-36. Nienhaus, Sarah: Bricolage. Praktiken des Entscheidens in Arthur Schnitzlers »Jugend in Wien«, in: Privates Erzählen. Formen und Funktionen von Privatheit in der Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts., hg. von Steffen Burk, Tatiana Klepikova und Miriam Piegsa, Berlin 2018, S. 273-295. Niethammer, Ortrun: Das Testament im Spannungsfeld von juristischen Vorgaben und individueller Gestaltung. Probleme der Edition, in: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeits gemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik. 2.-5.3. 1994. Autor- und problembezogene Referate, hg. von Jochen Golz, Tübingen 1995, S. 233-240. Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1998. –: Zur Theorie der Autobiographie, in: Studien zur Autobiographie, hg. von Günter Niggl, Berlin 2012, S. 39-51. Nutt-Kofoth, Rüdiger: Einleitung, in: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Tübingen 2005, S. 9-29. –: Zum Verhältnis von Nachlasspolitik und Editionskonzeption, in: Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000, hg. von Kai Sina und Carlos Spoerhase, Göttingen 2017, S. 92-111. –, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina (Hg.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven, Berlin 2000. Ortlieb, Cornelia und Tobias Fuchs: Schreiben, Büchermachen, Publizieren. Zur Einführung, in: Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, hg. von Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs, Hannover 2017, S. 9-20. – (Hg.): Schreibkunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, Hannover 2017. Ortmann, Günther: Kür und Willkür. Jenseits der Unentscheidbarkeit, in: Kluges Entscheiden. Disziplinäre Grundlagen und interdisziplinäre Verknüpfungen, hg. von Arno Scherzberg, Tübingen 2006, S. 167-194. Oster, Patricia und Karlheinz Stierle: Vorwort. Legenden der Berufung, in: Legenden der Berufung, hg. von Patricia Oster und Karlheinz Stierle, Heidelberg 2012, S. 7-12. Oster, Sandra: Repräsentation und Erinnerung. Funktionen des Verlegerporträts im Kaierreich 68, 2013, S. 155-171. –: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung. Autorinszenierung und Kanonisierung mit Bildern, Berlin, Boston 2014. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Papenheim, Martin: Freunde oder Brüder? Die Semantik sozialer Netze im 18.
511
x i . li t er at u r
hundert, in: Strong ties/Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie, hg. von Natalie Binczek und Georg Stanitzek, Heidelberg 2010, S. 38-53. Parr, Rolf: Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930, Heidelberg 2008. Pelz, Annegret: Der Schreibtisch. Ausgrabungsort und Depot der Erinnerung, in: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, hg. von Magdalene Heuser, Tübingen 1996, S. 233-246. –: Von Album bis Zettelkasten. Museums-Effekte im Text, in: Sammeln – Ausstellen – Wegwerfen, hg. von Gisela Ecker, Martina Stange und Ulrike Vedder, Königstein/ Ts. 2001, S. 17-30. Perlmann, Michaela L.: Arthur Schnitzler, Stuttgart, Weimar 1987. Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Zur Einführung, Hamburg 2008. Pfister, Ulrich: Einleitung, in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, hg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2019, S. 11-34. Plachta, Bodo: Zensur und Textgenese, in: editio 13, 1999, S. 35-52. –: Goethe über das »lästige Geschäft« des Editors, in: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für ger manistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23.2.2002, hg. von Thomas Bein, Rüdiger NuttKofoth und Bodo Plachta, Tübingen 2004, S. 229-238. –: Mehr als Buchgestaltung. Editorische Anmerkungen zu Ausstattungselementen des Buches, in: editio 21, 2007, S. 133-150. –: Literaturbetrieb, Paderborn 2008. –: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte, Stuttgart 2013. –: Dichterhäuser. Mit Fotografien von Achim Bednorz, Darmstadt 2019. – und H. T. M. van Vliet: Überlieferung, Philologie und Repräsentation. Zum Verhältnis von Edition und Institutionen, in: Text und Edition. Positionen und Perspek tiven, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina, Berlin 2000, S. 11-35. Plener, Peter: Tagebücher, in: Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel, Stuttgart, Weimar 2014, S. 279-284. Pörksen, Uwe: Politische Rede oder Wie wir entscheiden, Göttingen 2016. Polt-Heinzl, Evelyne und Isabella Schwentner: Vorbemerkung, in: Arthur Schnitzler: Anatol, hg. von Evelyne Polt-Heinzl und Isabella Schwentner, Berlin, Boston 2012, S. 1-14. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Aus dem Französischen von Gustav Roßler, Berlin 1988. Potsch, Sandra: Literaturvermittlung an den Resten der Literatur, in: Das Immaterielle ausstellen. Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst, hg. von Lis Hansen, Janneke Schoene und Levke Teßmann, Bielefeld 2017, S. 163-180. Pottbeckers, Jörg: Dichter und Wahrheit. Überlegungen zum postmodernen Italienbild in Heyses Jugenderinnerungen und Bekenntnissen, in: Kulturelle Mittlerschaft. Paul Heyse und Italien, hg. von Raffaella Bertazzoli, Christoph Grube und Gunnar Och, Würzburg 2016, S. 13-33.
512
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Probst, Rudolf: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich Dürrenmatts »Stoffe« als Quadatur des Zirkels, Padborn 2008. Quante, Michael und Tim Rojek: Entscheidungen als Vollzug und im Bericht. Innenund Außenansichten praktischer Vernunft, in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, hg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2019, S. 37-51. Radecke, Gabriele: Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes »L’Adultera«, Würzburg 2002. Raible, Wolfgang (Hg.): Kulturelle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse. Elf Aufsätze zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1995. Rapisarda, Cettina: »Wenn mir einer einen versöhnenden Schluß zeigen wollte …«. Romberichte von Fanny Lewald, in: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, hg. von Michaela Holdenried, Berlin 1995, S. 211-225. Raulff, Ulrich: Sie nehmen sich gern von den Lebendigen. Ökonomien des literarischen Archivs, in: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, hg. von Knut Ebeling und Stephan Güzel, Berlin 2009, S. 223-232. –: Nachlass und Nachleben. Literatur aus dem Archiv, in: Literaturarchiv – Literarisches Archiv. Zur Poetik literarischer Archive, hg. von Stéphanie Cudré-Mauroux und Irmgard M. Wirtz, Göttingen, Zürich 2013, S. 17-34. Redl, Philipp: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft, Köln, Weimar, Wien 2016. Reil, Elisabeth: »Confessiones« 6. Der Glaubensweg als Denkerfahrung, in: Irrwege des Lebens. Augustinus: »Confessiones« 1-6, hg. von Norbert Fischer und Dieter Hattrup, Paderborn 2004, S. 149-166. Reimann, Norbert: Grundfragen und Organisation des Archivwesens, in: Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste. Fachrichtung Archiv. Im Auftrag des LWL-Archivamtes für Westfalen, hg. von Norbert Reimann, Münster 2014, S. 25-52. Reuß, Roland: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches, Göttingen 2014. Rey, Wiliam H.: »Werden, was ich werden sollte«. Arthur Schnitzlers Jugend als Prozeß der Selbstverwirklichung, in: Modern Austrian Literature 10, 1977, S. 129-142. Rheinberg, Brigitta von: Fanny Lewald. Geschichte einer Emanzipation, Frankfurt a. M., New York 1990. Richter, Michael: Das narrative Urteil. Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant, Berlin, New York 2008. Richter, Sandra: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur, München 2017. –: Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv. Rede zur Amtseinführung am 14. Februar 2019, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 63, 2019, S. 503511. Riedel, Manfred: Epoche, Epochenbewußtsein, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Basel 1972, S. 596-599. Rieder, Bernadette: Unter Beweis. Das Leben. Sechs Autobiographien deutschsprachiger SchriftstellerInnen aus Israel, Göttingen 2008. Riedl, Peter Philipp: Die Zeichen der Krise. Erbe und Eigentum in Achim von Arnims »Die Majoratsherren« und E. T. A. Hoffmanns »Das Majorat«, in: Aurora 52, 1993, S. 17-50. –: Epochenbilder – Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930, Frankfurt a. M. 2005.
513
x i . li t er at u r
–: Die Muße des Flaneurs. Raum und Zeit in Franz Hessels »Spazieren in Berlin«, in: Muße und Moderne, hg. von Tobias Keiling, Robert Krause und Heidi Liedke 2018, S. 99-119. –: Am Scheideweg. Entscheidungsnarrative in Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: Mythen und Narrative des Entscheidens, hg. von Martina WagnerEgelhaaf, Bruno Quast und Helene Basu 2020, S. 171-187. Riedmann, Bettina: »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen, Tübingen 2002. Rieger, Monika: Anarchie im Archiv. Vom Künstler als Sammler, in: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, hg. von Knut Ebeling und Stephan Güzel, Berlin 2009, S. 253-269. Rippl, Gabriele: Life and Work, in: Handbook of Autobiography/Autofiction, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Berlin, Boston 2019, S. 327-335. Rocks, Carolin und Martina Wagner-Egelhaaf: Entscheiden oder nicht entscheiden. Zu einer Ästhetik des Dezisionismus in der Literatur, in: Entscheidungen. Geistes- und sozialwissenschaftliche Beiträge zu Theorie und Praxis, hg. von Armin Glatzmeier und Hendrik Hilgert, Wiesbaden 2015, S. 115-142. Röcken, Per: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung, in: editio 22, 2008, S. 22-46. Rössler, Beate: Der Wert des Privaten, Frankfurt a. M. 2001. –: Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben, Berlin 2017. Rojek, Tim: Zwischen Reform und Revolution. Arnold Ruges Geschichtsphilosophie, in: Die linken Hegelianer. Studien zum Verhältnis von Religion und Politik im Vormärz, hg. von Michael Quante und Amir Mohseni, Paderborn 2015, S. 141-159. –: Hegels Begriff der Weltgeschichte. Eine Wissenschaftstheoretische Studie, Berlin, Boston 2017. Rückert, Ingrid: Paul Heyse und die Bayerische Staatsbibliothek: der Nachlass des Nobelpreisträgers und Italienkenners, in: Kulturelle Mittlerschaft. Paul Heyse und Italien, hg. von Raffaella Bertazzoli, Christoph Grube und Gunnar Och, Würzburg 2016, S. 197-217. Rüggemeier, Anne: Die relationale Autobiographie. Ein Beitrag zur Theorie, Poetik und Gattungsgeschichte eines neuen Genres in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 2014. Samida, Stefanie: ›Inszenierte Wissenschaft‹. Einführung in die Thematik, in: Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, hg. von Stefanie Samida, Bielefeld 2011, S. 11-23. Sander, Gabriele: Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«. Ein multimediales Schreibprojekt, in: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation, hg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski, Berlin, Boston 2014, S. 123-133. Sauder, Gerhard und Karl Richter: Vom Genie zum Dichter-Wissenschaftler. Goethes Auffassungen vom Dichter, in: Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteller von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1992, S. 84-104. Scherer, Stefan: Übergänge der Wiener Moderne. Schnitzlers Prosa der 1880er Jahre, in: Textschicksale. Das Werk Arthur Schnitzlers im Kontext der Moderne, hg. von Wolfgang Lukas und Michael Scheffel, Berlin, Boston 2017, S. 9-25. Scherer, Wilhelm: Geschichte der Deutschen Litteratur, Berlin 1883.
514
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Scherzberg, Arno: Ausblick, in: Kluges Entscheiden. Disziplinäre Grundlagen und interdisziplinäre Verknüpfungen, hg. von Arno Scherzberg, Tübingen 2006, S. 325-329. – (Hg.): Kluges Entscheiden. Disziplinäre Grundlagen und interdiziplinäre Verknüpfungen, Tübingen 2006. Schicker, R.: Entscheidung, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1994, S. 1222-1231. Schilling, Diana: »Über Anmut und Würde«, in: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Grit Dommes, hg. von Matthias Luserke-Jaqui, Stuttgart, Weimar 2005, S. 388-398. Schimank, Uwe: Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005. –: Kulturelles am Entscheiden. Ein Kommentar aus soziologischer Perspektive, in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, hg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2019, S. 387-404. Schindel von, Carl Wilhelm Otto August: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1823. Schlögel, Rudolf: ›Krise‹ als historische Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, in: Die Krise in der Frühen Neuzeit, hg. von Rudolf Schlögel, Philip R. Hoffmann-Rehnitz und Eva Wiebel, Göttingen 2016, S. 9-31. Schlotheuber, Eva: Der Mensch am Scheideweg. Personenkonzeptionen des Mittelalters, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, hg. von Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich, Berlin 2005, S. 71-96. Schmid, Irmtraut: Goethes Briefregistratur. Eine Quelle zu den Tag- und Jahresheften, in: Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte, hg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1991, S. 108-117. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2008. Schmidt, Thomas: Authentische Atmosphären. Zur Theorie und Praxis des Dichterhauses, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 63, 2019, S. 373-393. Schmidt-Voges, Inken: Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820, in: Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750-1850, hg. von Inken Schmidt-Voges, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 9-27. Schneider, Gabriele: Fanny Lewald, Reinbek bei Hamburg 1996. –: »Arbeiten und nicht müde werden«. Ein Leben durch und für die Arbeit. Fanny Lewald (1811-1889), in: Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Karin Tebben, Göttingen 1998, S. 189-214. –: »Meine Mutter paßt auf, daß mir Keiner was thut!« – Fanny Lewald privat. Familienbriefe aus Privatbesitz im Heinrich-Heine-Institut (Stiftung Gurlitt), in: HeineJahrbuch 37, 1998, S. 252-271. –: Unziemliche Verhältnisse. Fanny Lewald und Adolf Stahr. »das vierbeinige zwei geschlechtige Tintentier«, in: Fanny Lewald. Studien zu einer großen europäischen Schriftstellerin und Intellektuellen, hg. von Christina Ujma, Bielefeld 2011, S. 4363. –: »Es ist mir eine Arbeit, nach London zu gehen«. Fanny Lewalds Reise nach England und Schottland im Sommer 1850. Mit unveröffentlichten Dokumenten aus dem Nachlass Lewald-Stahr 55, 2016, S. 161-186. Schneider, Gabriele und Renate Sternagel: Vorwort, in: Fanny Lewald und Adolf Stahr.
515
x i . li t er at u r
Der Briefwechsel 1846 bis 1852, hg. von Gabriele Schneider und Renate Sternagel, Bielefeld 2014, S. 9-22. Schneider, Ulrich Johannes: Bibliographie, in: Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch, hg. von Ute Frietsch und Jörg Rogge, Bielefeld 2013, S. 58-62. Schnitzler, Heinrich: Anhang. Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials, in: Der Nachlass Arthur Schnitzlers. Verzeichnis des im Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg i. Br. befindlichen Materials. Mit einem Vorwort von Gerhart Baumann und einem Anhang von Heinrich Schnitzler: Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials, hg. von Gerhard Neumann und Jutta Müller, München 1969, S. 147-188. –, Christian Brandstätter und Reinhard Urbach (Hg.): Arthur Schnitzler. Sein Leben. Sein Werk. Seine Zeit. Mit 324 Abbildungen, Frankfurt a. M. 1981. Schöttker, Detlev (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung, München 2008. –: Posthume Präsenz. Zur Ideengeschichte des literarischen Archivs, in: Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, hg. von Marcel Lepper und Ulrich Raulff, Stuttgart 2016, S. 237-246. Schubert, Martin (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft, Berlin, New York 2010. Schuster, Jörg: Der Autobiograph als Herausgeber. Harry Graf Kesslers »Gesichter und Zeiten« [1935] – Plädoyer für eine Neuedition, in: Autoren und Redaktoren als Editoren. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition und des Sonderforschungsbereichs 482 ›Ereignis Weimar – Jena: Kultur um 1800‹ der Friedrich-Schiller-Universität Jena, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar, hg. von Jochen Golz und Manfred Koltes, Tübingen 2008, S. 315-324. Schwieren, Alexander: Gerontographien. Eine Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs, Berlin 2014. Seebold, Elmar: berichten, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, Berlin, Boston 2011, S. 111. –: entscheiden, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, Berlin, Boston 2011, S. 249. –: Epoche, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, Berlin, Boston 2011, S. 251. –: Krise, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, Berlin, Boston 2011, S. 542. –: Pedant, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, Berlin, Boston 2011. –: plötzlich, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, Berlin, Boston 2011, S. 712. –: Regie, regieren, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, Berlin, Boston 2011, S. 754. Seidler, Katharina: Digitaler Nachlass. Das postmortale Schicksal elektronischer Kommunikation, Frankfurt a. M. 2016. Seitz, Stephan: Geschichte als bricolage. W. G. Sebald und die Poetik des Bastelns, Göttingen 2011. Selbmann, Rolf: Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Darmstadt 1994.
516
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Sennefelder, Anna Karina: Rückzugsorte des Erzählens. Muße als Modus autobiographischer Selbstreflexion, Tübingen 2018. Siegel, Steffen: Fotogeschichte aus dem Geist des Fotobuchs, Göttingen 2019. Sina, Kai: Kunst – Religion – Kunstreligion. Ein Forschungsüberblick, in: Zeitschrift für Germanistik 21, 2011, S. 337-344. –: Kafkas Nachlassbewusstsein. Über Autorschaft im Zeitalter des Literaturarchivs, in: KulturPoetik 13, 2013, S. 218-235. –: Die vergangene Zukunft der Literatur. Zeitstrukturen und Nachlassbewusstsein in der Moderne, in: Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000, hg. von Kai Sina und Carlos Spoerhase, Göttingen 2017, S. 49-74. –: Kollektivpoetik. Zu einer Literatur der offenen Gesellschaft in der Moderne mit Studien zu Goethe, Emerson, Whitman und Thomas Mann, Berlin, Boston 2019. – und Carlos Spoerhase: Nachlassbewusstsein. Zur literaturwissenschaftlichen Er forschung seiner Entstehung und Entwicklung, in: Zeitschrift für Germanistik 3, 2013a, S. 607-623. – (Hg.): Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000, Göttingen 2017b. Smith, Sidonie und Julia Watson: The Afterlives of Those Who Write Themselves. Rethinking Autobiographical Archives, in: The European Journal of Life Writing 9, 2020, S. 9-32. Snell, Bruno: Aischiylos und das Handeln im Drama, Leipzig 1928. Sonkwé Tayim, Constantin: Narrative der Emanzipation. Autobiographische Identitätsentwürfe deutschsprachiger Juden aus der Emanzipationszeit, Berlin, Boston 2013. Spiero, Heinrich: Paul Heyse. Der Dichter und seine Werke. Dem Dichter zum 15. März 1910 in alter Verehrung und Liebe zu eigen, Stuttgart, Berlin 1910. –: Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800, Leipzig 1913. –: Einleitung, in: Römisches Tagebuch 1845/46, hg. von Heinrich Spiero, Leipzig 1927, S. 1-10. Spoerhase, Carlos: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin, New York 2007. –: »Manuscripte für Freunde«. Die materielle Textualität literarischer Netzwerke, 1760-1830 (Gleim, Klopstock, Lavater, Fichte, Reinhold, Goethe), in: DVjs 88, 2014, S. 172-205. –: Postume Papiere. Nachlass und Vorlass in der Moderne, in: Merkur 68, 2014, S. 502511. –: Das ›Laboratorium‹ der Philologie? Das philologische Seminar als Raum der Vermittlung von Praxiswissen, in: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, hg. von Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer und Carlos Spoerhase, München, Boston 2015, S. 53-80. –: Neuzeitliches Nachlassbewusstsein. Über die Entstehung eines schriftstellerischen, archivarischen und philologischen Interesses an postumen Papieren, in: Nachlass bewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000, hg. von Kai Sina und Carlos Spoerhase, Göttingen 2017, S. 21-48. –: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018. Sprecher, Thomas und Monica Bussmann: Thomas Mann. Bekenntnisse des Hoch staplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. Kommentar, Frankfurt a. M. 2012. Stamm, Ulrike: Autorschaft im Zeichen der Vernunft, in: Zeitschrift für Germanistik 22, 2012, S. 129-141.
517
x i . li t er at u r
Stapelfeldt, Johanna, Ulrike Vedder und Klaus Wiehl (Hg.): Museales Erzählen. Dinge, Räume, Narrative, München 2020. Steinfeld, Thomas: Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform, München, Wien 2004. Steinhagen, Harald: Ausgabe letzter Hand, in: Metzler Lexikon Literatur, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart 2007, S. 57. Steinhoff, Hans-Hugo: Bericht, in: Metzler Lexikon Literatur, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart 2007, S. 75. Sternagel, Renate: Fanny Lewald und ihre jungen Männer. Johann Jacoby, Heinrich Simon, Theodor Fontane, Gottfried Keller, Paul Heyse, in: Fanny Lewald. Studien zu einer großen europäischen Schriftstellerin und Intellektuellen, hg. von Christina Ujma, Bielefeld 2011, S. 67-92. Stierle, Karlheinz: Mythos als »bricolage«. Und zwei Endstufen des Prometheus mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hg. von Manfred Fuhrmann, Paderborn 2016, S. 455-472. Stingelin, Martin: »Unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«. Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Berlin 2015, S. 283-304. Stockinger, Claudia: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus, Berlin 2010. Stöver, Kriemhild: Leben und Wirken der Fanny Lewald. Grenzen und Möglichkeiten einer Schriftstellerin im gesellschaftlichen Kontext des 19. Jahrhunderts, Hamburg 2013. Stollberg-Rilinger, Barbara: Einleitung, in: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger und André Krischer, Berlin 2010, S. 9-31. –: Für eine Historisierung des Entscheidens, in: EWE 25, 2014, S. 487-489. –: Praktiken des Entscheidens. Zur Einführung, in: Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, hg. von Arndt Brendecke, Köln, Weimar, Wien 2015, S. 630-634. – und Krischer, André (Hg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, Berlin 2010. Strätling, Regine: Anmerkungen zur Autbiographie, in: Den Rahmen sprengen. Anmerkungspraktiken in Literatur, Kunst und Film, hg. von Bernhard Metz und Sabine Zubarik, Berlin 2012, S. 153-172. Strobel, Jochen: Von der Zettelwirtschaft zum Archivroman. Goethe ediert Briefe, in: Autoren und Redaktoren als Editoren. Internationale Fachtagung der Arbeits gemeinschaft für germanistische Edition und des Sonderforschungsbereichs 482 »Ereignis Weimar – Jena: Kultur um 1800« der Friedrich-Schiller-Universität Jena, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar, hg. von Jochen Golz und Manfred Koltes, Tübingen 2008, S. 299-314. Stüssel, Kerstin: Autorschaft und Autobiographik im kultur- und mediengeschichtlichen Wandel, in: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwarts literatur, hg. von Ulrich Breuer und Beatrice Sandberg, München 2006, S. 19-33. Sutton, David C.: Introduction. Literary Papers as the Most ›Diasporic‹ of all Archives, in: The Future of Literary Archives. Diasporic and Dispersed Collections at Risk, hg. von David C. Sutton und Ann Livingstone, Leeds 2018, S. 1-12.
518
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Tanzer, Ulrike: Kein Ort nirgends. Zur »Dichterinnen-Werkstatt« Marie von EbnerEschenbachs, in: Die Werkstatt des Dichters. Imaginationsräume literarischer Produktion, hg. von Petra-Maria Dallinger und Klaus Kastberger, Berlin, Boston 2017, S. 125-138. Tatlock, Lynne: Introduction. The Book Trade and »Reading Nation« in the Long Nineteenth Century, in: Publishing Culture and »Reading Nation«. German Book History in the Long Nineteenth Century, hg. von Lynne Tatlock, Rochester, New York 2010, S. 1-21. Thaler, Jürgen: Zur Geschichte des Literaturarchivs. Wilhelm Diltheys »Archive für Literatur« im Kontext, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 55, 2011, S. 361-374. –: Vom Rohen zum Gekochten: zur Ordnung des Nachlasses, in: Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen, hg. von Petra-Maria Dallinger, Georg Hofer und Bernhard Judex, Berlin, Boston 2018, S. 89-101. Thalmair, Franz: publish! Publizieren als künstlerische Praxis, in: Kunstforum International 256, 2018, S. 44. Theile, Gert: Die Akten des Goethesangs. Selbstverwaltung und Individualität im Zeichen des Archivs, in: Das Archiv der Goethezeit. Ordnung – Macht – Matrix, hg. von Gert Theile, München 2001, S. 11-30. Thiemeyer, Thomas: Museumsdinge, in: Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, hg. von Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert und Hans Peter Hahn, Stuttgart, Weimar 2014, S. 230-233. –: Geschichte im Museum. Theorie – Praxis – Berufsfelder, Tübingen 2018. Thomae, Hans: Der Mensch in der Entscheidung, München 1960. Till, Dietmar: Normentheoretische Problemkonstellationen, in: Handbuch Gattungstheorie, hg. von Rüdiger Zymner, Stuttgart, Weimar 2010, S. 59-61. Tippner, Anja und Christopher F. Laferl: Einleitung, in: Texte zur Theorie der Bio graphie und Autobiographie, hg. von Anja Tippner und Christopher F. Laferl, Stuttgart 2016, S. 9-41. Tonger-Erk, Lily: Actio. Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre, Berlin, Boston 2012. –: Exempla. Zur Figur der Rednerin in der Frühaufklärung, in: Die Sachen der Auf klärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale, hg. von Frauke Berndt und Daniel Fulda, Hamburg 2012, S. 147-154. Torberg, Friedrich: Nachwort, in: »Jugend in Wien. Eine Autobiographie«, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. M. 2011, S. 324-332. Tromsdorf, Kristine: Fanny Lewald, in: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing, Stuttgart, Weimar 2004, S. 488 f. Ujma, Christina: Life as a Journey. Fanny Lewald’s Autobiographical Travel Writing, in: Autobiography by women in German, hg. von Mererid Puw Davies, Bern 2000, S. 131-147. –: 200 Jahre Fanny Lewald. Leben, Werk und Forschung, in: Fanny Lewald. Studien zu einer großen europäischen Schriftstellerin und Intellektuellen, hg. von Christina Ujma, Bielefeld 2011, S. 7-35. –: Stadt, Kultur, Revolution. Italienansichten deutschsprachiger Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. Aus dem Nachlass herausgegeben von Rotraut Fischer und Ruth Ujma, Bielefeld 2017.
519
x i . li t er at u r
Vedder, Ulrike: Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2011. Vely, Emma: Fanny Lewald, in: Bahnbrechende Frauen, hg. aus Anlaß der Ausstellung ›Die Frau in Haus und Beruf‹ vom Deutschen Lyceum-Club, Berlin-Charlottenburg 1912, S. 71-79. Venske, Regula: »Disciplinierung des unregelmäßig spekulierenden Verstandes«. Zur Fanny Lewald-Rezeption 25, 1982, S. 66-70. –: »Ich hätte ein Mann sein müssen oder eines großen Mannes Weib!«. Widersprüche im Emanzipationsverständnis der Fanny Lewald, in: Frauen in der Geschichte IV. »Wissen heißt leben …«. Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Ilse Brehmer, Juliane Jacobi-Dittrich, Elke Kleinau und Annette Kuhn, Düsseldorf 1983, S. 368-395. –: Discipline and Daydreaming in the Works of a Nineteenth-Century Woman Author. Fanny Lewald, in: Out of Line/Ausgefallen. The Paradox of Marginality in the Writings of Nineteenth-Century German Women. A Social and Literary History, hg. von Ruth-Ellen Boetcher Joeres und Marianne Burkhard, Amsterdam 1989, S. 175191. –: Fanny Lewald. Jüdische Preußin, preußische Feministin, die deutsche George Sand?, in: Meine Lebensgeschichte. Befreiung und Wanderleben, hg. von Ulrike Helmer, Königstein/Ts. 1998, S. 300-314. Vinçon, Hartmut: »Jahrhundertwende«. Status und Funktion autobiographischer Schriften für die Edition kritischer Ausgaben der Literarischen Moderne, in: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.-5. März 1994, autor- und problembezogene Referate, hg. von Jochen Golz, Tübingen 1995, S. 249-263. Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M. 2000. –: Das Drama des Entscheidens, in: Urteilen/Entscheiden, hg. von Cornelia Vismann und Thomas Weitin, München 2006, S. 91-100. – und Thomas Weitin: Einleitung, in: Urteilen/Entscheiden, hg. von Cornelia Vismann und Thomas Weitin, München 2006, S. 7-16. Vöhler, Martin, Bernd Seidensticker und Bernd Emmerich: Zum Begriff der Mythenkorrektur, in: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, hg. von Martin Vöhler und Bernd Seidensticker, Berlin, New York 2005, S. 1-18. Vogel, Juliane: Kampfplatz spitzer Gegenstände. Schneiden und Schreiben nach 1900, in: Konstellationen. Versuchsanordnungen des Schreibens. In Zusammenarbeit mit Anna-Maria König und Jeannie Moser, hg. von Helmuth Lethen, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser, Göttingen 2013, S. 67-81. –: Die Kürze des Faktums. Einleitende Bemerkungen zum Schwerpunktheft der DVjs, in: DVjs 3, 2015a, 297-306. –: Die Kürze des Faktums. Textökonomien des Wirklichen um 1800, in: Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, hg. von Helmut Lethen, Ludwig Jäger und Albrecht Koschorke, Frankfurt a. M., New York 2015b, S. 137-152. –: Fluchtauftritte. Goethes Theater des Asyls, in: Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden, hg. von Bettine Menke und Juliane Vogel, Berlin 2018, S. 188-202.
520
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Vogl, Joseph: Über das Zaudern, Zürich, Berlin 2008. Volkening, Heide: Am Rand der Autobiographie. Ghostwriting – Signatur – Geschlecht, Bielefeld 2006. Wagner, Renate: Arthur Schnitzler. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1984. Wagner-Egelhaaf, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfigurationen, Stuttgart, Weimar 1997. –: Autobiographie – Rhetorik – Schrift. Zum Beispiel Marie Luise Kaschnitz, in: »Für eine aufmerksamere und nachdenklichere Welt«. Beiträge zu Marie Luise Kaschnitz, hg. von Dirk Göttsche, Stuttgart, Weimar 2001, S. 7-26. –: Einführung, in: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, hg. von Doerte Bischoff und Martina Wagner-Egelhaaf, Rombach 2003, S. 43-50. – (Hg.): Weibliche Rede. Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, Freiburg 2003. –: Autobiographie, Stuttgart 2005. –: Autobiografie und Geschlecht, in: Erinnern und Geschlecht, hg. von Meike Penkwitt, Freiburg 2006, S. 49-64. – (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld 2013. –: Was ist Auto(r)fiktion?, in: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkon struktion, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2013, S. 7-21. –: Autorschaft und Skandal. Eine Verhältnisbestimmung, in: Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung, hg. von Andrea Bartl und Martin Kraus, Würzburg 2014, S. 27-46. –: »Du hast dich gegen Gott entschieden«. Literarische Figurationen religiösen Entscheidens (Augustinus und Goethe), in: Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektive, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Wolfram Drews und Ulrich Pfister, Würzburg 2018, S. 99-118. –: Ein Leben für die Wissenschaft. Forschung und Selbsterforschung. Zu Werner Heisenbergs »Der Teil und das Ganze«, in: Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Autobiographie und Professionsgeschichte, hg. von Dietrich Erben und Tobias Zervosen, Bielefeld 2018, S. 301-320. – (Hg.): Handbook of Autobiography/Autofiction, Berlin, Boston 2019. –: The Alibis of the Autobiographer. The Case of Goethe, in: Competing Perspectives. Figures of Image Control, hg. von Günter Blamberger und Dietrich Boschung, Paderborn 2019, S. 193-214. –: Trauerspiel und Autobiographie. Handeln und Entscheiden bei Goethe, in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, hg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2019, S. 71-89. –: Brecht & Co. Kreidekreise des Entscheidens, in: Mythen und Narrative des Entscheidens, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bruno Quast und Helene Basu 2020, S. 218-236. –: Sich entscheiden. Momente der Autobiographie bei Goethe, Göttingen 2020. Ward, Margaret E.: Between Rebellion and Renunciation, New York 2007. –: »Ich bin jetzt Ihr treues Tagebuch«. Lewald as Mentee and Mentor, in: Fanny Lewald. Studien zu einer großen europäischen Schriftstellerin und Intellektuellen, hg. von Christina Ujma, Bielefeld 2011, S. 131-151. Wartburg, Walther von: bricole, in: Dictionnaire Étymologique de la langue Française, hg. von Walther von Wartburg, Paris 1968, S. 88.
521
x i . li t er at u r
Weber, Marta: Fanny Lewald. Ihre Leben und ihre Werke, Erlenbach-Zürich, Leipzig 1921. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, hg. von Klaus H. Fischer, Schutterwald, Baden 1994. Wedel, Gudrun: Rekonstruktionen des eigenen Lebens. Autobiographien von Frauen im 19. Jahrhundert, in: Deutsche Literatur von Frauen. 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Gisela Brinker-Gabler, München 1988, S. 154-165. –: Lehren zwischen Arbeit und Beruf. Einblicke in das Leben von Autobiographinnen aus dem 19. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2000. Wegmann, Thomas: Klassiker werden? Kanonisierung als Teil von Werk- und Autorschaftspolitik in der literarischen Moderne: Benjamin, George, Hofmannsthal, in: Die Präsentation kanonischer Werke um 1900. Semantiken, Praktiken, Materialität, hg. von Philip Ajouri, Berlin, Boston 2017, S. 19-30. Weigel, Harald: »Nur was du nie gesehn wird ewig dauern«. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition, Freiburg 1989. Weigel, Sigrid: Hinterlassenschaften, Archiv, Biographie. Am Beispiel von Susan Taubes, in: Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit, hg. von Bernhard Fetz und Hannes Schweiger, Wien 2006, S. 33-48. Weissenberger, Klaus: Arthur Schnitzlers Autobiographie »Jugend in Wien«. Die Entmythisierung einer literarischen Gattung, in: »Die Seele … ist ein weites Land«. Kritische Beiträge zum Werk Arthur Schnitzlers, hg. von Joseph P. Strelka, Bern 1996, S. 163-192. Weitin, Thomas: Selektion und Distinktion. Paul Heyses und Hermann Kurz’ »Deutscher Novellenschatz« als Archiv, Literaturgeschichte und Korpus, in: Archiv/ Fiktionen. Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts, hg. von Daniela Gretz und Nicolas Pethes, Freiburg 2016, S. 385-408. – und Burkhardt Wolf: Einleitung, in: Gewalt der Archive. Studien zur Kultur geschichte der Wissensspeicherung, hg. von Thomas Weitin und Burkhardt Wolf, Konstanz 2012, S. 9-19. Welzig, Werner: Das Tagebuch Arthur Schnitzlers. 1879-1931, in: IASL 6, 1981, S. 78111. –: Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch, Wien 1981. Werle, Dirk: Nachlass, Nachwelt und Nachruhm um 1800. Am Beispiel Johann Wolfgang Goethes, in: Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 17502000, hg. von Kai Sina und Carlos Spoerhase, Göttingen 2017, S. 115-131. Westphal, Siegrid: Von der Gelehrten zur Hausmutter. Aufklärung als geschlechts spezifischer Bildungsprozess?, in: Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750-1850, hg. von Inken Schmidt-Voges, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 49-69. Whittle, Ruth und Debbie Pinfold: Voices of Rebellion. Political Writing by Malwida von Meysenburg, Fanny Lewald, Johanna Kinkel and Louise Aston, Bern 2005. Wieland, Magnus: Einleitung, in: Literatur – Verlag – Archiv, hg. von Irmgard M. Wirtz, Ulrich Weber und Magnus Wieland, Göttingen 2015, S. 9-19. –: Paper works! Von der Arbeit mit Papier zur Mitarbeit von Papier. Eine Art Arbeitspapier zur Einleitung, in: Paperworks. Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier, hg. von Irmgard M. Wirtz und Magnus Wieland, Göttingen 2017, S. 11-40. Wienfort, Monika: Verliebt, verlobt, verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München 2014.
522
x i .3 for sch u ngsli t er at u r
Willer, Stefan: Die Schreibszene des Nachlasses bei Goethe und Musil, in: Schreiben heißt: sich selber lesen. Schreibszenen als Selbstlektüren, hg. von Davide Giuratio, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2008, S. 67-82. Willke, Helmut: Zur Komplexität der Entscheidungstheorie, in: Soziale Systeme 15, 2009, S. 62-72. Wilm, Marie-Christin: Die Grenzen tragischer Katharsis. Jacob Bernays’ »Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles« im Kontext zeitgenössischer Tragödientheorie, in: Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin, New York 2009, S. 21-50. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A Hoffmann, München 2008. –: Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell. Prolegomena zu einer Allgemeinen Greffologie (2.0), in: Impfen, Pfropfen, Transplantieren, hg. von Uwe Wirth, Berlin 2011, S. 9-27. –: (Papier-)Müll und Literatur. Makulatur als Ressource, in: ZfdPh 133, 2014, S. 19-32. Wirtz, Irmgard M. und Magnus Wieland (Hg.): Paperworks. Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier, Göttingen 2017. Wizisla, Erdmut: Archive als Editionen? Zum Beispiel Bertolt Brecht, in: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina, Berlin 2000, S. 407-417. Wolf, Gerhard: Nachwort, in: Freiheit des Herzens. Lebensgeschichte – Briefe – Erinnerungen, hg. von Günter de Bruyn und Gerhard Wolf, Berlin 1992, S. 310-337. Wolf, Jonas: Nachlassverzeichnis. Werke, https://www.arthur-schnitzler.de/biobib liographika/nachlassverzeichnis/ (zuletzt geprüft: 26.7.2020). Wollkopf, Roswitha: Nachlaß, in: Goethe Handbuch. Personen, Sachen, Begriffe, L-Z, hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart, Weimar 1998, S. 743-745. Wruck, Peter: Die ›wunden Punkte‹ in Fontanes Biographie und ihre autobiographische Euphemisierung, in: Fontane Blätter 65/66, 1998, S. 61-71. Wunberg, Gotthart: Fin de siècle in Wien. Zum bewußtseinsgeschichtlichen Horizont von Schnitzlers Zeitgenossenschaft, in: Text+Kritik 4, 1998, S. 3-23. Wuthenow, Ralph-Rainer: Europäische Tagebücher. Eigenart – Formen – Entwicklung, Darmstadt 1990. Zanetti, Sandro: Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur, in: Logiken und Praktiken der Kulturforschung, hg. von Uwe Wirth, Berlin 2008, S. 75-88. –: Selbstherausgaben. Autoren als Editoren ihres Lebenswerkes, in: Autoren und Redaktoren als Editoren. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition und des Sonderforschungsbereichs 482 ›Ereignis Weimar – Jena: Kultur um 1800‹ der Friedrich-Schiller-Universität Jena, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar, hg. von Jochen Golz und Manfred Koltes, Tübingen 2008, S. 368-376. –: Sich selbst historisch werden: Goethe – Faust, in: »Schreiben heißt: sich selber lesen«. Schreibszenen als Selbstlektüren, hg. von Davide Giuratio, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2008, S. 85-113. –: Sich selbst studieren. Die Bekenntnisse des Jean-Jacques Rousseau, in: Weltliteratur II. Vom Mittelalter zur Aufklärung, hg. von Hanns-Josef Ortheil, Paul Brodowsky und Thomas Klupp 2009, S. 242-266.
523
x i . li t er at u r
–: Avantgardismus der Greise? Spätwerke und ihre Poetik, München 2012. –: Einleitung, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Berlin 2015, S. 7-34. – (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2015. Zedler, Johann Heinrich: Archiv. An-Az, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert wurden. Digitalisat d. Ausg. Halle, Leipzig 1734-1961. https://www.zedler-lexikon.de/, hg. von Johann Heinrich Zedler, Halle, Leipzig 1732, S. 1241-1244 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). –: Archivarius, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Digitalisat d. Ausg. Halle, Leipzig 1734-1961. https://www.zedlerlexikon.de/, hg. von Johann Heinrich Zedler, Halle, Leipzig 1732, S. 1244 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). –: transigieren. Ti-Trao, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Digitalisat d. Ausg. Halle, Leipzig 1734-1961. https:// www.zedler-lexikon.de/, hg. von Johann Heinrich Zedler, Halle, Leipzig 1732, S. 1066 (zuletzt geprüft: 30.1.2022). Zelle, Carsten: Einleitung. Redesachen – Gegenstände der Rhetorik, in: Die Sachen der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale, hg. von Frauke Berndt und Daniel Fulda, Hamburg 2012, S. 81-84. Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Fiktionalität, Faktualität und Literarität, in: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomenen des Literarischen, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer und Simone Winko, Berlin, New York 2009, S. 285-314.
524
XII. Dank
Diese Studie wurde im Sommersemester 2019 an der WWU Münster als Dissertation angenommen und im Wintersemester 2019/2020 verteidigt. Martina Wagner-Egelhaaf und Peter Philipp Riedl danke ich für die außerordentlich lehrreiche Forschungszeit und die Begutachtung der Studie. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft gilt mein dauerhafter Dank für die großzügige Übernahme der Druckkosten und Finanzierung aller Archivaufenthalte, obschon für das Teilprojekt keine Archivreisen vor gesehen waren: Es sind die Archivfunde, die den Studienschwerpunkt maßgeblich bestimmen und die Forschungsergebnisse überhaupt erst ermöglichten. Philip Hoffmann-Rehnitz’ weitsichtige Finanzierungsberatung sicherte die letzten Schritte Richtung Publikation ab. Carlos Spoerhase danke ich für die Möglichkeit, eine ungemein kollegiale und inspirierende Lehrstuhlkultur kennenlernen zu dürfen: Für die zielführenden sowie nachhaltigen Diskussionen zu neuen Forschungsprojekten sei an dieser Stelle ihm als auch Helene Kraus, Max Richter, Fabienne Steeger, Jørgen Sneis, Karena Weduwen und Tilman Venzl herzlich gedankt. Kai Sina danke ich ausdrücklich für die wegweisenden Impulse, die Kunst des buchförmigen Denkens und die beispielhafte Gesprächskultur, die mit Tanita Kraaz und Roman Seebeck in Höchstform ist. 2019 nahm ich erstmals an Rolf Parrs Kolloquium teil und bin seither dankbar für den durchweg konstruktiven Austausch, der die fachwissenschaftliche Freude vitalisiert. Thomas Schmidt danke ich für seine kuratorische Perspektive auf Literatur, die Praxis und Theorie sinnvoll vereint. Wertvolle Einblicke in (digitale) Editionsprozesse ermöglichten mir Vera Hildenbrandt und Roland S. Kamzelak. Bodo Plachta erklärte sich bereit, meine Transkriptionen zu prüfen und mögliche Anschlussideen zu diskutieren. Hierfür sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt. Grund legende Hinweise für den Publikationsprozess erhielt ich von Anke Bosse, der ich für einen ermutigenden Dialog danke. Die Gespräche mit Walter Erhart gaben den ersten Thesen Rückhalt. Burkhard Hasebrink und Balázs Nemes danke ich für die aufschlussreiche Hinführung zur archivbasierten Forschung. Achim Aurnhammer sei für die umsichtige Ver mittlung philologischer Expertisen gedankt. Danken möchte ich Klaus Ridder und Christiane Ackermann, die meine Studienschwerpunkte entschieden prägten. Dankbar bin ich Hans-Jochen und Regina 525
x ii . da n k
Schiewer, deren Begeisterung für die Forschung wegweisend für mich war und ist. Die anregenden Diskussionen und schwungvollen Plaudereien mit SonaLisa Arasteh-Roodsary, Constanze Bartsch, Christina Becher, Antonius Baehr, Manuel Förderer, Elena Göbel, Thomas Kater und Laura Reiling ließen mich den Münsteraner Dauerregen vergessen und kamen meiner Studie zugute. Durch Diane Coleman Brandts (Wallstein Verlag) wohlüberlegte Beratung verwandelte sich das Manuskript in ein Buch. Für das Korrektorat danke ich Nadia Nitsche und für die Umschlaggestaltung Susanne Gerhards. Tim Rojek, der die Studie von Beginn an mit aufmerksamer Zuversicht und präziser Urteilskraft begleitete, sorgte für das unerlässliche Durchhalte vermögen. Seine Freundschaft und ›Lektürezirkelei‹ waren eine Oase inmitten der Münsteraner Backsteinwüste. Für eine erfrischende Gemeinschaft und belebende Spaziergänge durch die Forschungslandschaft sei Lena Marie Brinkmann herzlich gedankt. Arin Haideris Freundschaft ebnete alle Hürden: Ihre versierte Durchsicht und literatursoziologischen Expertisen brachten das Manuskript wie die Verfasserin ›enorm in Form‹. Robert Bolz und Julia Trost bin ich nicht nur für die fröhliche Freiburger Wohngemeinschaftszeit dankbar, sondern für eine allumfassende Freundschaft. Das erste gemeinsame Tübinger Studentenbierchen mit Sophie Reinlaßöder besiegelte den Auftakt zu einer rundum stärkenden Freundinnenzeit: Danke, liebe Sophie, für die unvergesslichen Stunden, die auf das erste ›Klick, Zisch, Kling‹ folgen sollten und werden. Die kunterbunte Stärkung durch meine Familie war mehr als hilfreich. Johanna Runggaldier danke ich für den innigen Zuspruch und die vorbildhafte Traute, das Unbekannte freudig zu begrüßen. Mit Katharina Nienhaus kann es kein Grau geben: Für Deine unendliche Geduld, Deinen klugen Witz und Deine unübertroffene Großherzigkeit danke ich Dir. Unsere Schwesternschaft ist mein Anker. Ohne Bettina v. Gizycki-Nienhaus und Heinrich Nienhaus, ihren liebevollen Rückhalt, unerschütterlichen Mut und Enthusiasmus gäbe es dieses Buch nicht. Für die einfühlsame Unterstützung danke ich Markus Stepath, der tatkräftig die Zauberformel wiederholte: Die Frage lautet nicht, ob etwas geschafft werden kann, sondern wie die Bedingungen für ein Gelingen sein müssen. Beniamino Enrico Cocco und Jacob Paul Bolz zeigen mir, wie zauberhaft gemeinsames Lesen ist und zwar zu jeder Tageszeit. Ihre Lebensfreude ist geteiltes, also schönstes Glück. All meinen Lieben ist dieses Buch gewidmet. Essen, 22. Februar 2022 526
XIII. Register
Das Register erfasst alle Personen, deren Texte Gegenstand dieser Untersuchung oder für den jeweiligen Kontext zentral sind (vgl. »Quellen« und »Siglen«). Nicht mehr lebende Autorinnen und Autoren der Forschungsliteratur, die wichtige Debatten angestoßen haben, werden ebenfalls berücksichtigt.
Alberti, Conrad 330-332, 334, 336, 347 Aristoteles 233, 288, 323 Augustinus 83, 91, 100, 148, 165, 270, 300, 310, 321 f., 406 Bahr, Hermann 16, 361, 391 f., 441 Barthes, Roland 396 f. Benn, Gottfried 79, 257, 359 Bernays, Jacob 252, 267, 287-291, 294, 308-310, 325, 344, 471 Boeckh, August 252 Böll, Heinrich 40 Bourdieu, Pierre 41, 46 Brod, Max 28, 80 Burkhardt, Jacob 188 f., 271, 334 Carl Alexander, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 132, 171, 222, 229, 233-235, 246 f. Curtius, Ernst Robert 98 f., 101, 263 Dante Alighieri 270, 284, 290, 293, 307 Diez, Friedrich Christian 255, 266, 284, 293, 307, 314, 326, 472, 474, 478 f. Dilthey, Wilhelm 28, 64 f., 93-98, 101, 109, 112, 172, 181, 225, 266, 268, 279, 380, 430, 454, 459, 461 Döblin, Alfred 9, 48, 70, 112, 359 Domin, Hilde 9, 76 Ebner-Eschenbach, Marie v. 8 f., 12-18, 27, 66 f., 102, 141, 145, 169, 181, 188,
224, 254, 284, 292, 304, 368, 372, 430, 455, 460 Eckermann, Johann Peter 324, 463 Enzensberger, Hans Magnus 8, 451 Flach, Willy 10 Fontane, Emilie 48, 70, 272, 44 Fontane, Friedrich 89 f., 82, 100 Fontane, Martha 80, 398 Fontane, Theodor 66, 78, 80-82, 97, 100, 232, 272 f., 332, 359, 398, 444 Foucault, Michel 11, 24, 113 Franzos, Karl Emil 145 Frenzel, Karl 138 f. Freytag, Gustav 297 f. Friedländer, Rebecca 183 Friedrich, Sabine 16 Frisch, Max 16, 37 Geibel, Emanuel 249, 263, 266, 271, 273, 275 f., 278, 284, 291, -293, 295, 325, 341, 344 f., 347 Glaser, Adolf 230 Goethe, Johann Wolfgang v. 10, 11, 15, 18-20, 27, 33, 47, 52, 58, 65, 80-84, 9092, 95-103, 110, 121, 132 f., 138, 140, 148, 155, 163-165, 167, 169 f., 176, 181-185, 188 f., 190, 192-194, 196-198, 202-204, 208, 213 f., 219, 222, 223-228, 233, 235, 240, 244 f., 249, 253-255, 259, 261, 263 f., 270 f., 274, 279-281, 289-295, 324, 327, 331, 341, 347, 355, 358, 360, 369, 386, 393, 415, 431, 442, 459, 462 f., 470 f.
x iii . r egist er
Göhler, Rudolf 167 f., 186, 223, 236, 245 Grabbe, Christian Dietrich 81 Grillparzer, Franz 259, 358, 366, 371 Grimm, Jacob Ludwig Karl 169, 256, 293 Grimm, Wilhelm Carl 169, 256, 293 Gundolf, Friedrich 167 Gutzkow, Karl 47, 69 Haas, Willy 460 Hartung, Leonie 40 Hauff, Wilhelm 347 Haushofer, Max 347 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 256, 347 Heine, Heinrich 161 Hertz, Wilhelm 330, 334-336 Heyse, Anna v. 82, 344, 346, 348 Heyse, Carl 16, 84, 251, 258, 276, 288, 291, 300-302, 304, 308 f., 311, 315 f., 324, 336, 459, 468-479 Heyse, Johann Christian August 318 Heyse, Julie 253-256 Heyse, Karl Wilhelm Ludwig 318 Heyse, Paul v. 8, 12, 16 f., 27, 31, 56, 66 f., 80-84, 92, 100, 102, 127, 130-142, 145 f., 148, 155 f., 159, 161 f., 165, 169-173, 175, 180 f., 186, 188, 190, 195, 210, 218, 224 f., 229, 247, 249, 251-349, 351, 353 f., 357, 360-363, 366-368, 370-373, 377 f., 384, 388, 396, 398, 403, 406, 412, 414, 416, 418, 432, 440, 442, 444, 447, 449, 454 f., 459-461, 468-479 Höch, Hannah 117 f. Huch, Ricarda 196 Humboldt, Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand v. 256 Humboldt, Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander v. 131 Jean Paul 19, 53, 75, 80 f., 182, 199, 355 Jensen, Wilhelm 252 Jünger, Liselotte 70 Kafka, Franz 28, 80, 433, 460, 463 Kant, Immanuel 156, 193
528
Kessler, Harry Graf 23, 92, 418 Klemperer, Hadwig 70 Klopstock, Friedrich Gottlieb 166, 274 Koselleck, Reinhart 12, 44-46, 54, 56, 289, 432 Kruse, Käthe 22 Kugler, Franz 188, 259, 264 f., 270-272, 274, 278, 287, 291-293, 295 Kurz, Hermann 83, 146, 262 Kurz, Isolde 332 Lachmann, Karl 96 f., 326 Lepel, Bernhard v. 131, 232, 260, 278 f., 359 Lessing, Gotthold Ephraim 19, 96, 198, 253, 347 Lévi-Strauss, Claude 107-111, 463 Lewald, August 146 f., 173-175, 177-179, 181 Lewald-Stahr, Fanny 7-13, 17, 27, 30 f., 48, 55 f., 66-68, 78, 85, 92, 100, 127, 129-251, 254, 257, 260, 265, 273, 304, 306, 320, 351, 353 f., 355, 357, 360 f., 366-368, 371 f., 374, 377 f., 384, 393, 397, 403, 408, 412, 414 f., 426, 432, 440, 444, 447, 449, 454 f., 459 f., 461 Lindgren, Astrid 40 Luhmann, Niklas 43 f., 46, 51, 54, 105 Man, Paul de 75, 106 Mann, Klaus 4, 19, 79, 119 Mann, Thomas 357 Mehring, Walter 9, 68 Mendelssohn, Felix 256 Minor, Jakob 97 f., 101 Misch, Georg 89 Muschg, Walter 121, 145, 210, 334, 369 Negt, Oskar 8 Petzet, Erich 66, 82, 97, 171, 251, 255 f., 261, 266 f., 269, 273, 276 f., 280 f., 283 f., 288, 290 f., 300, 302, 304, 309 f., 318 f., 331, 333, 333, 337 f., 463, 468 Pietsch, Ludwig 37 Pollak, Frieda 171, 418, 433, 448, 452, 454 Paulus, Eduard 347
x iii . r egist er
Raddatz, Fritz J. 105 Reuter, Gabriele 95, 193, 224, 332 f., 346 Rieß, Anneliese 9 Ritschl, Friedrich 296, 305, 470 f. Ritschl, Sophie 262, 267, 291 f., 296-298, 300, 304, 305 f., 308-314, 316 f., 319, 323 f., 470 f. Rodenberg, Julius 14, 267, 269, 333, 384, 460 Rohr, Angela 359 Rousseau, Jean-Jacques 79, 83, 91, 100, 170, 310 f., 367, 415, 434 Rühmkorf, Peter 457 Salten, Felix 397, 406 f. Sand, George 152 Schalansky, Judith 4, 15, 21 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 347 Schiller, Friedrich 10, 18, 65, 80-82, 103, 155, 169, 198, 205, 210 f., 222, 253, 319, 347, 360, 405, 459 Schnitzler, Arthur 8, 12, 17 f., 23, 27, 38, 56, 66, 84-86, 92, 97, 100, 102, 127, 142 f., 145, 161, 171, 173, 180 f., 187 f., 216, 224, 235, 238, 240, 243, 254, 260, 348, 351-456, 459, 460 f., 463, 479 f. Schnitzler, Heinrich 18, 171, 380, 435 f., 440, 445, 447, 452-454, 480 Schnitzler, Johann 378, 380-382, 389 Schnitzler, Olga 353, 407, 442, 449 Schnorr v. Carolsfeld, Hans 339, 344
Shakespeare, William 224, 284, 290-294, 331, 360, 368 Sonnenthal, Adolf v. 360, 374 f., 376, 378, 380 f., 382 f., 386 f., 390, 395, 407, 429, 467 Spiero, Heinrich 71, 94, 148, 171, 187 f., 214, 224 f., 232-235, 243 f., 266 f., 327, 338, 346-349, 463 Spinoza, Baruch de 291 f. Stahr, Adolf 230-235, 240, 242 f., 244, 248, 467, 449 Stanišić, Saša 40, 451 Stein, Felix v. 261, 266, 278 Suphan, Bernhard Ludwig 279 f. Tranströmer, Tomas 8, 14, 40, 74, 87, 451, 457 Tschernyschewskij, Nikolai Gawrilo witsch 37 Varnhagen v. Ense, Karl August 15, 94, 164, 183, 226, 306 Varnhagen v. Ense, Rahel 183 Wilhelmina Sophie Marie Luise von Oranien-Nassau 94 Wodin, Natascha 8 Wolff, Charlotte 359 Zedler, Johann Heinrich 32 f., 192, 303, 463 Zweig, Stefan 119, 437
529
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 252080619 – SFB 1150 D6
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf SG-Image unter Verwendung von Archivalien aus dem DLA, Arthur Schnitzler, Manuskripte, Leben und Nachklang, HS.1985.0001.00085; Tagebuch 1879-1889, HS.NZ85.0001.00157. ISBN (Print) 978-3-8353-5243-8 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4914-8