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German Pages 280 Year 2014
Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen?
Lettre
Christoph Grube (Dr. phil.) lehrt Neuere und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Literatur und Ästhetik des 18. bis 20 Jahrhunderts.
Christoph Grube
Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des DFG-Projekts »Mechanismen literarischer Kanonisierungsprozesse« Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/Europäische Literaturen (Prof. Dr. Günter Butzer), Universität Augsburg.
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Inhalt
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Einleitung
1.1 Kanon überall 1.2 Ziele 1.3 Forschungsstand 2
3.1 Im Fahrwasser der Entelechie 3.2 Die anthropologische Wende 3.3 Neue Konzepte der Synthese und die geistesgeschichtliche Reaktion 3.4 Die ‚gebildeten‘ Literaturgeschichten Zur Kanonisierung in den Literaturgeschichten
4.1 4.2 4.3 4.4 5
19 23 30 45
Wege und Programme der Literaturgeschichte(n) bis 1914
4
13
Der literarische Kanon in Abgrenzung
2.1 Der Begriff des Kanons im Wandel 2.2 (Literatur-)Geschichte als nationales Identitätsprogramm 2.3 Literarische Kommunikation als Instrument bürgerlicher Selbstdefinition 2.4 Modifikation und Neustrukturierung der Literaturgeschichte 3
7 10
Paul Heyse Wilhelm Raabe Auswertung Autorenporträts als kanonisierende Schnittstelle
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
63 67 76 114 137 159 161 175 193 238 243 245
1. Einleitung
1.1 K ANON
ÜBERALL
Ob es nur dem für das Thema sensibilisierten Doktoranden so geht, dass er überall um sich herum Kanonisierungsprozesse wahrnimmt? In der Benennung der Straßen, in den Lehr- und Lerninhalten, die den Kindern in der Schule1 und den Studenten an der Universität vermittelt werden, in den Fragen der Quizshows und den Nachrichten, die am Abend im Fernsehen laufen, in der Auswahl der Lebensmittel in den Supermarktregalen, in der Verordnung von Medikamenten – hinter allem stehen Kanonisierungsprozesse, wenn man als solche Vorgänge bezeichnet, die die Aktivierung oder das Vergessen eines Inhaltes im Bewusstsein oder Gedächtnis eines Kollektivs oder eines Individuums betreffen.2 Immer wird über einen kommunikativen Akt (welcher Form auch immer) entschieden,3 welche Informationen präsent sind und bleiben sollen und welche zurückgestellt bzw. gelöscht werden sollen. Dies geschieht sowohl auf der kollektiven als auch auf der individuellen Ebene. Letztere ist natürlich in unterschiedlichen Graden durch die Sozialisation und Enkulturation von der ersten abhängig.4 Diese bestimmen auch die jeweilige Halbwertzeit der Information in Bewusstsein und
1
Vgl. hierzu etwa Evelyn Finger: Vergiss es! Aber was? In: Die Zeit 33, 11. August 2011, 31.
2
Dieser Gedanke leitet sich aus den Überlegungen Aleida Assmanns zu Funktion- und Speichergedächtnis her: vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, 137ff.
3
Die Kommunikation prägt auch in den Überlegungen von Halbwachs das sog. kollektive Gedächtnis. Vgl. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1991; vorgeprägt bereits in: Ders.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M. 1985, 21ff.
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Vgl. ebd., 23.
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Gedächtnis. In der Regel funktioniert dieser Prozess über ein Ranking und ist damit eigentlich nichts anderes als ein Wertungsprozess.5 Man sieht allerdings oft nur dessen Ergebnis, ist also letztlich hauptsächlich mit den „Kanones“ selbst konfrontiert. In den wenigsten Fällen kennt man die genauen Mechanismen und die zugrunde gelegten Kriterien der Auswahl. Zwar findet man auch hier je nach Bereich kanonisierte Antworten, die ebenso wie die Kanones selbst durch Absichten motiviert sind und vermutlich keiner empirischen Studie standhalten. Die nachfolgende Untersuchung hat sich zur Aufgabe gestellt, den literarischen Kanon genauer ins Visier zu nehmen und auf in der Rekonstruktion (noch) zugängliche Mechanismen im Entstehungs- bzw. Entscheidungsprozess zu hinterfragen. Dies soll und kann nur exemplarisch geschehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Ergebnisse dieser Untersuchung weder auf die zu untersuchenden Werke und deren Autoren noch auf den literarischen Kanon an sich beschränkt bleiben. Vielmehr wird der Anspruch erhoben, dass die Ergebnisse auch für andere Kanones Geltung haben, selbst wenn sie im Speziellen darauf hin noch einmal zu hinterfragen wären. Wie Odysseus bei der Abfahrt von der Insel Kirkes um die Gefahren weiß, die ihm auf seinem Weg begegnen werden, kennt auch der Verfasser dieser Arbeit noch vor dem Ablegen seines Schiffchens die Klippen, die sich seinem Vorhaben entgegenstellen werden. Ihm ist bewusst, dass er sie letztlich nicht ganz gefahrlos umschiffen kann und er einige Gefährten, in diesem Fall kritische Leser, verlieren wird. Vor allem ist dies der charybdische Sog der Spekulation, der gerade mit dem Wunsch einhergeht, verallgemeinerbare Prinzipien herauszufinden. Daran haben schon so viele Kanonforscher zuvor Schiffbruch erlitten. Entweder machten sie Aussagen, die zu theoretisch und nicht durch eigene empirische Studien belegt wurden, oder sie trafen Feststellungen, die zwar auf konkrete Fälle zutrafen, in ihrer genauen Analyse aber häufig zu kleinteilig waren und auf nicht immer exemplarische Einzelaspekte beschränkt blieben. Oft auch hielten ihre verallgemeinerbaren Ergebnisse einer genaueren Analyse nicht stand, weil sie nur Argumente, aber keine Beweise lieferten.6 Um diesem allzu
5
Als solchen betrachten ihn auch Renate von Heydebrand/Simone Winko: vgl. Dies.: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn, München u.a. 1996, 307ff.
6
Zu denken ist hier etwa an die mentalitätsgeschichtlichen Begründungsversuche, die auf den ersten Blick ergiebig scheinen, auf den zweiten Blick aber die Frage aufwerfen, ob sie wirklich zur Kanonisierung des jeweiligen Werkes beigetragen haben oder ob sie nicht auch auf jedes andere Werk, wäre es im Kanon geblieben, angewandt worden wären. Vgl. etwa Herrmann Korte: Taugenichts-Lektüren. Eichendorff im literarischen Kanon. In:
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verführerischen Sog zu entgehen,7 versucht der Verfasser dieser Arbeit, allein aus den Rezeptionszeugnissen heraus, die Mechanismen zu rekonstruieren, die zur jeweiligen Kanonisierung bzw. Dekanonisierung beigetragen haben. Dabei begibt er sich allerdings in die vielköpfige Gefahr seiner literaturwissenschaftlichen Kollegen, einer Skylla, deren gefräßige Münder etwa auf dem nur schwer zu tilgenden Argument der literarischen bzw. ästhetischen Qualität des Werkes herumkauen8 oder darauf, dass man sich wiederum selbst bei diesem Thema nur
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (1999) 2, 17-70. Korte entfaltet den mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund und bettet die jeweilige „Lektüre“ des Taugenichts hinein. Anhand der Rezeptionszeugnisse entwirft er den mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund. Fraglich bleibt jedoch, ob die „einsame Lektüre“ (ebd., 27) u.ä. wirklich der Grund sind, warum das Werk in den Kanon kommt oder bleibt oder es nicht vielmehr als Indikator dafür zu lesen ist, dass sich das Werk im literarischen Kernkanon befindet und deshalb eine entsprechende Umdeutung erfährt. Es erscheint mir nicht gewagt zu behaupten, dass ein Werk, befindet es sich erst einmal im literarischen, zeitlich sehr trägen Kernkanon, immer einer entsprechenden mentalitätsgeschichtlichen Umdeutung unterzogen wird, die noch kein Garant dafür ist, dass, und kein Grund dafür ist, warum es sich im Kanon hält. Jedes andere Werk in diesem Status würde eine ebensolche Umdeutung erfahren. 7
Man darf nie vergessen (um dieses Metaphernfeld noch etwas zu strapazieren), dass der Verfasser nahezu auf einem uferlosen Meer von Antworten treibt, da er es mit einem – wie Simone Winko konstatierte – „invisible hand-Phänomen“, also einem komplexen Zusammenspiel soziokultureller, diskursiver und institutioneller Faktoren ohne eindeutig fixierbare Intentionalität zu tun hat (vgl. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible handPhänomen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, 924).
8
Wie Simone Winko schreibt (und meine eigene Erfahrung bestätigt ihre Aussage), gibt es diesen unausrottbaren Gedanken selbst noch bei eingefleischten Kanonforschern, die ihn auch bei Konferenzen a parte sprechen (vgl. Winko: Literatur-Kanon als invisible handPhänomen, 9) und auch sonst in ihren Gedanken sehr wendigen Kollegen ist es nur schwer erklärbar zu machen, dass es letztlich keine wirklich festzumachenden Merkmale literarischer Qualität in der Literatur gibt. Forschungspositionen, die davon ausgehen, dass bestimmte Merkmale von Texten deren Kanonisierung provozieren würden, sind schon für einzelne Autoren schwer zu halten; eine Verallgemeinerung dieser auf einem „literarischen Darwinismus“ (Gottlieb Gaiser: Literaturgeschichte und literarische Institutionen. Zu einer Pragmatik der Literatur. Meitingen 1993, 24) basierenden Annahme ist allein schon deshalb nicht möglich, weil dies Konstanz der kanonbildenden Wertungskriterien voraussetzt, die in der Realität nicht gegeben ist. Vielmehr haben wir es mit einer historischen Variabi-
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in einem kanonisierten Diskurs bewegt bzw. Begründungen verwendet, die auf Kanonisierungsprozessen aufbauen. Natürlich zittern dem Verfasser angesichts solcher Gefahren wie dem Helden von Troja die Knie, auch wenn er wie er in eine glänzende Rüstung – nämlich die der Ermutigung seiner wohlwollenden Kollegen, Freunde und Familienmitglieder schlüpfen kann. Um sein Ziel zu erreichen, wird er seine Segel vor dem Ablegen nicht gleich streichen.
1.2 Z IELE Das Ziel ist – um es nach diesen einführenden Überlegungen an dieser Stelle noch einmal konkreter und ausführlicher zu formulieren, wenn auch dadurch bereits Einiges vorweggenommen wird, was erst später in ausführlicherer Darstellung zu verstehen sein wird – verallgemeinerbare Mechanismen von (literarischen) Kanonisierungsprozessen zu gewinnen. Dazu werden in dieser Arbeit die konkreten Mechanismen literarischer Kanonisierungsprozesse über einen längeren Zeitraum empirisch betrachtet. Ausgehend von der Arbeitshypothese, dass es keine intrinsischen Eigenschaften von Texten gibt,9 die zu ihrer Kanonisierung führen, sollen hierzu für den literarischen Kanon und dessen nachzuverfolgende Entstehung repräsentative Textkorpora ausgewertet werden. Als Untersuchungsgegenstand kommen hierzu folgende Diskursfelder in Betracht:
lität der Wertmaßstäbe – also dessen, was für wertvoll gehalten wird – zu tun. Darüber hinaus sind aber auch die Kriterien der Zuordnung von Wertmaßstäben zu konkreten Texteigenschaften durchaus variabel, so dass sich auch hier ein hochgradig kontingentes Feld eröffnet. Wenn den Texten überhaupt eine Qualität zukommt, ist es die (aber auch hierüber ließe sich streiten, da diese wahrscheinlich auch wiederum eher dem gewieften Denken ihrer Interpreten zuzuschreiben ist), dass sie so offen sind, dass sie sich in die Zeiten und Diskurse übersetzen lassen. Im Grunde enthält man diesem Skyllakopf, indem man auf rein diskursiver Ebene vorgeht und dadurch jede Zielgerichtetheit von Kanonisierungsprozessen – nach dem Motto: Das Gute setzt sich ‚in the long run‘ durch – methodisch einklammert, jede Nahrung vor. Es werden nämlich gar keine Aussagen über den Einfluss solcher Faktoren gemacht, sondern allein die diskursiven Operationen analysiert, die selbstverständlich auch Aussagen über die ästhetische Qualität von Texten beinhalten können und dies in der Regel auch tun. 9
Vgl. Anm. 8.
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1. die von den bürgerlichen Bildungsinstitutionen u.a. für Erziehungszwecke ausgearbeiteten Literaturgeschichten bilden Ausgangspunkt und Kernbestand. Sie sind im Wechselspiel von Rekonstruktion und Konstruktion entscheidender Bestandteil und unmittelbarer Ausdruck von Kanonisierungsprozessen. 2. die den Autoren und ihren Werken zeitgenössische Literaturkritik, die durch unterschiedliche publizistische Genres, wie die Einzelwerkrezension oder Werkrezension, eine kanonanaloge Struktur erzeugt und anschlussfähig ist für weitere Kanonsisierungshandlungen.10 3. Die Autorenporträts, die in Zeitschriften und Zeitungen (teilweise auch als kleinere Monographien bzw. Studien) anlässlich verschiedener Jubiläen erschienen und Bindeglied dieser beiden Gattungen bilden. Sie sind gewissermaßen erster Grad der ‚Petrifizierung‘ hin zur Kanonisierung im Werturteil und Image eines Autors. Als Zeitraum bietet sich aus Gründen, die im Zusammenhang der Geschichte des literarischen Kanons (vgl. Kap. 1.3) dargestellt werden, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur historisch markanten Zäsur des Jahres 1918 (mit Ausblick bis zur auch für die Kanongeschichte relevanten Zäsur11 1945) an. Was die Auswahl der zu untersuchenden Autoren betrifft, so scheint es angesichts des gewählten Zeitraums sinnvoll, gerade solche heranzuziehen, die einen unterschiedlichen Kanonisierungsprozess durchlaufen haben, d.h. auch innerhalb ihrer Rezeptionsgeschichte unterschiedliche Phasen der Kanonisierung erlebt haben, da nur so die Mechanismen literarischer Kanonisierungsprozesse im Detail studiert werden können. Hierzu bietet sich für den gewählten Zeitraum eine vergleichende Untersuchung an. Auf der einen Seite betrachten wir den bis heute in den Schul- und Universitätskanones präsenten Autor Wilhelm Raabe, auf der anderen Seite den einstigen Literaturnobelpreisträger, inzwischen aber nahezu vergessenen Dichter Paul Heyse. Gerade an diesen beiden annähernd zeitgenössischen Autoren können die vielfältigen und oftmals kontingenten Operationen, die zur Kanonisierung- bzw. Dekanonisierung eines Autors führen, detailliert in den Blick genommen werden können. Darüber hinaus bietet sich auch die Mög-
10
Vgl. hierzu die Überlegungen bei Günter Butzer, Manuela Günter und Renate von Heydebrand: Strategien zur Kanonisierung des ‚Realismus‘ am Beispiel der Deutschen Rundschau. Zum Problem der Integration österreichischer und schweizer Autoren in die deutsche Nationalliteratur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (1999) 1, 55-81, 60.
11
Vgl. Korte: Taugenichts-Lektüren, 57.
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lichkeit, die vielfältigen Vorgänge der ‚Umkanonisierung‘ innerhalb des Kernkanons entsprechend dem jeweiligen Wandel der Wertungsmaßstäbe nachzuvollziehen. Folgende Untersuchungsziele sollen bei der Auswertung der genannten Textkorpora in den Blick genommen werden: a) Erforschung der literarischen Kanonisierungshandlungen in Bezug auf die beiden ausgewählten Autoren (vor allem auch im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Differenzen); b) Untersuchung der Interferenzen und Hierarchien zwischen den Diskursfeldern; c) Beschreibung der Beziehung zwischen intendierten Kanonisierungsakten (von Autoren, Rezensenten, Literarhistorikern u.a.) und realen Kanonisierungsprozessen; d) Analyse der konkreten Wechselwirkungen zwischen Deutungskanones (also den als gültig anerkannten Theorien und Methoden, mit deren Hilfe die kanonischen Texte interpretiert werden und selbst zu kanonischen Interpretationen führen können) und materialen Kanones (den Korpora von Texten und Autoren); e) Analyse des Einflusses ‚äußerer‘ Faktoren (z.B. Kulturpolitik) auf die Kanonbildung; f) Untersuchung der Netzwerke und Netzwerkbildungen innerhalb und zwischen den verschiedenen Kanoninstanzen (Schule, Universität, Literaturkritik, literarische Gesellschaften und Vereine etc.), soweit sie die beiden untersuchten Autoren betreffen; g) Beschreibung des Einflusses von Narrativen auf literarische Kanonisierungsprozesse; h) Reflexion der Verallgemeinerbarkeit der anhand der beiden Autoren gewonnenen Ergebnisse; i) Validierung der vorliegenden Kanontheorien und Entwurf einer durch weitere Forschung zu überprüfenden Theorie literarischer Kanonisierungsprozesse.
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Hierzu sind folgende Fragen leitend: 1. Existieren bestimmte Schwellen der Kanonisierung, wie z.B. die der Literaturkritik immer wieder zugeschriebene „gate-keeper-Funktion“12 oder der Übergang von den publizistischen Autorenporträts hin zu den Literaturgeschichten, nach denen sich die Kanonisierungsprozesse der beiden Autoren differenzieren lassen? 2. Gibt es konkrete Images der beiden Autoren (ggf. differenziert nach Schaffensphasen), die innerhalb dieser diskursiven Felder (etwa bei verschiedenen Auflagen von Literaturgeschichten) sowie über die Grenzen dieser Felder hinweg prägend werden und zirkulieren und die Kanonisierung befördern bzw. erschweren? 3. Inwieweit haben literarhistorische Narrative Anteil an der Überwindung von Schwellen der Kanonisierung der beiden Autoren gemäß der Frage 1? 4. Wie verhalten sich die einzelnen Felder zueinander im Sinne linearer bzw. vernetzter Kanonisierung und wie lässt sich von hier aus der literarische Kanonisierungsprozess der beiden Autoren als Zusammenwirken der verschiedenen diskursiven Felder verstehen? 5. Zusammenfassend: Auf welchen Feldern und in welcher Reihenfolge fanden diejenigen Kanontransformationen statt, die zur Dekanonisierung Heyses und zur Kanonisierung Raabes führten?
1.3 F ORSCHUNGSSTAND Die Forschungslage stellt sich dabei nach Bereichen geordnet wie folgt dar: 1.3.1 Zur historischen Kanonforschung Die Kanonforschung, wenn sie auch innerhalb des Faches noch nicht vollständig den Status eines eigenständigen Wissenschaftsbereichs erlangt hat, ist eine verhältnismäßig junge Teildisziplin der Literaturwissenschaft, die sich aus dem Ende der 1960er Jahre namentlich durch Hans Georg Herrlitz angeregten Problembewusstsein um den bildungsbürgerlichen Literaturkanon entwickelte.13 Vor al-
12
Vgl. etwa Korte: Taugenichts-Lektüren, 26.
13
Vgl. Hans-Georg Herrlitz: Der Lektüre-Kanon und literarische Wertung: Bemerkungen zu einer didaktischen Leitvorstellung und deren wissenschaftlicher Begründung. In: Deutschunterricht 19 (1967) 1, 79-92.
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lem durch die entscheidenden Impulse der Arbeiten Renate von Heydebrands14 wurden seit Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Ansätze zur Kanon-Theorie entwickelt, die jedoch häufig nicht durch eigene empirische Untersuchungen belegt wurden. Die Geschichte literarischer Kanones blieb dadurch bislang nur wenig erforscht. Ziel ist es, im Gegensatz zu konkurrierenden Ansätzen der Rezeptionsforschung, deren Interesse auf der theoretischen und empirischen Analyse von (meist individuellen) Rezeptionsvorgängen liegt, überindividuelle literarische Selektionsvorgänge, also Genese, Funktion, Habitualisierung und Ritualisierung literarischer Wertmechanismen, in ihrem jeweiligen kultur- und sozialgeschichtlichen Handlungsfeld zu untersuchen.15 Die meisten Publikationen, die sich mit der Untersuchung dieser historischen Dimension des „invisible handPhänomen[s]“ Kanon bislang beschäftigten,16 blieben, wie bereits angedeutet, häufig zu kleinteilig und in ihrer Analyse nur auf nicht immer exemplarische Einzelaspekte beschränkt.17 Einen wesentlich größeren Beitrag leistete das Siegener DFG-Projekt „Der deutschsprachige Literaturkanon in den höheren Schulen Westfalens“ unter der Leitung Hermann Kortes mit seiner exemplarischen
14
Vgl. Renate von Heydebrand: Probleme des ‚Kanons‘ – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In: Johannes Janota (Hg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, IV, Tübingen 1993, 3-22; Dies.: (Hg.): KANON MACHT KULTUR. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart/Weimar 1998; Dies./Simone Winko: Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19 (1994) 2, 206-261 sowie Dies.: Einführung in die Wertung von Literatur: Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn/München u.a. 1996.
15
Vgl. Hermann Korte: Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl. In: Ders./Klaus-Michael Bogdal (Hgg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2002, 6177.
16
Vgl. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Ar-
17
Vgl. etwa die Aufsätze in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Literarische Kanonbildung. Mün-
nold (Hg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, 9-24. chen 2002; Peter Wiesinger (Hg.): Kanon und Kanonisierung als Probleme der Literaturgeschichtsschreibung. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Bern 2003; Hermann Korte und Marja Rauch (Hgg.): Literaturvermittlung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Vorträge des 1. Siegener Symposiums zur literaturdidaktischen Forschung. Frankfurt a. M. 2005.
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Auswertung von 22 Schulprogrammabhandlungen,18 die einen tiefen Einblick in die Kanoninstanz Schule und deren Beitrag für das Sozialsystem Literatur gewähren. Hier ist vor allem auch an die Arbeit Ilonka Zimmers Uhland im Kanon anzuknüpfen,19 die allerdings – wenn auch mit Ausblicken auf die wissenschaftliche Literaturgeschichtsschreibung – ihren Schwerpunkt bei der Schulkanonisierung setzt. Hinzu kommen die vorbildlichen kleineren Beiträge Hermann Kortes, wie etwa der (teilweise jedoch noch auf Spekulationen und auf zu heterogenen Quellen beruhende) zu Eichendorff im literarischen Kanon20 oder die schulische Literaturgeschichten heranziehende Studie zur Dekanonisierung Klopstocks.21 1.3.2 Zu Paul Heyse In der Forschung wird Paul Heyse häufig als Paradebeispiel für Dekanonisierung angeführt, die in seinem Fall weder durch den im Jahr 1910 verliehenen Literaturnobelpreis noch durch das kaiserliche Dekret Wilhelms II., das ihn als Pflichtautor an den Schulen zu etablieren versuchte, aufgehalten werden konnte.22 Es verwundert daher, dass trotz solcher Erwähnungen bislang in dieser Hinsicht nicht eingehend über ihn geforscht wurde. In der im Vergleich zu anderen nichtkanonisierten Dichtern der Zeit umfangarmen Heyse-Forschung, die bis auf den heutigen Tag nur von punktuellen Studien geprägt ist (zuletzt etwa der 2001 von Berbig und Hettche herausgegebene Sammelband23, der die Rolle Heyses als deutsch-italienischer Literatur- und Kulturvermittler untersucht), gibt es nur zwei größere Arbeiten sowie eine Spezialstudie, die sich mit der Rezeption von Werk und Person befassen. Die beiden größeren Arbeiten wählen als zeitlichen Rah-
18
Hermann Korte/Ilonka Zimmer/Hans-Joachim Jakob (Hgg.): „Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten“ Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2005.
19
Ilonka Zimmer: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2009.
20
Korte: Taugenichts-Lektüren; vgl. zu den Vorbehalten Anm. 6.
21
Hermann Korte: Aus dem Kanon aus dem Sinn? Dekanonisierung am Beispiel prominen-
22
Vgl. etwa Hermann Korte: Neue Blicke auf den Pantheon? Paradigmen und Perspektiven
ter ‚vergessener‘ Dichter. In: Der Deutschunterricht 6 (2005), 6-21. der historischen Kanonforschung. In: Der Deutschunterricht 50 (1998) 6, 15-28; Ders.: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichwörtern. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, 25-38. 23
Roland Berbig/Walter Hettche (Hgg.): Paul Heyse. Ein Schriftsteller zwischen Deutschland und Italien. Frankfurt a. M./Berlin/Bern u.a. 2001.
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men 1850 bis 1914, also die Zeit zwischen den ersten Veröffentlichungen bis zum Tod des Dichters. Die 1965 vorgelegte Dissertation Annemarie Ians bemühte sich erstmals um eine Erschließung des umfangreichen Quellenmaterials.24 Hierin liegt auch das große Verdienst der Arbeit, auf deren im Anhang befindliche Zusammenstellung der zu Lebzeiten erschienenen Rezensionen noch die dreizehn Jahre später von Werner Martin herausgegebene Bibliographie zu Paul Heyse rekurrierte.25 Was die Quellenauswertung angeht, so kann sie heute allerdings nur noch wenig überzeugen, da sie weder der Heterogenität des von Bühnenstatistiken bis zu privaten Äußerungen zeitgenössischer Berühmtheiten reichenden Materials gerecht wird, noch ihre daraus vorschnell gezogenen Generalisierungen glaubhaft zu vertreten weiß und auch keine diachrone Rekonstruktion der Entwicklungstendenzen in der Kritik an Heyse ermöglicht. Weitaus ergiebiger, weil differenzierter zeigt sich die im Jahr 2000 vorgelegte Dissertation von Kristina Koebe,26 die exemplarisch anhand signifikanter Rezeptionsereignisse (wie das Erscheinen der Hermen, jenen Band Versnovellen, den Heyse anlässlich seiner Berufung nach München zusammenstellte, oder die Verleihung des Literaturnobelpreises) konkrete Blickwinkel, wechselnde Perspektiven und spezifische Positionen der zeitgenössischen Rezeption nachzuzeichnen versucht. Durch die Beschränkung auf einzelne, wenn auch zentrale Rezeptionsereignisse ebenso wie durch den allein auf die Literaturkritik begrenzten Fokus kann an diese Arbeit jedoch nur bedingt angeknüpft werden. Ähnlich verhält es sich auch mit der sich hauptsächlich auf Rezeptionszeugnisse stützenden Dissertation über den Zensurprozess um Paul Heyses Drama Maria Magdalena von Andreas Pöllinger,27 der es über den konkreten Fall hinaus zwar gelingt, spezifische Probleme und Mechanismen der Zeit herauszuarbeiten, die sich themenbedingt aber nicht auf alle Bereiche des literarischen Lebens der Zeit beziehen lassen.
24
Annemarie Ian: Die zeitgenössische Kritik an Paul Heyse 1850-1914. Diss. München
25
Werner Martin (Hg.): Paul Heyse. Eine Bibliographie seiner Werke. Hildesheim/New
26
Kristina Koebe: Die Paul-Heyse-Rezeption zwischen 1850 und 1914. Kritische Würdigung
27
Andreas Pöllinger: Der Zensurprozeß um Paul Heyses Drama „Maria von Magdala“
1965. York 1978. und dichterisches Selbstbewusstsein im Wechselspiel. Diss. Rostock 2000. (1901-1903). Ein Beispiel für die Theaterzensur im Wilhelminischen Preußen. Frankfurt a.M., Bern u.a. 1989.
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1.3.3 Zu Wilhelm Raabe Auch wenn die Literatur zu Raabe nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass es sich bei ihm um einen kanonisierten Autor handelt, ungleich größer ist als die zu Heyse, so ist die Forschung zur Rezeption seines Werkes (wenn auch stärker von kleineren Einzelstudien geprägt) ebenso schmal wie die zur Rezeption Heyses. Bislang erschien nur eine einzige größere Monographie zu diesem Thema. Darin beschreibt der ausgewiesene Raabe-Kenner Jeffrey Sammons in Grundzügen die Entwicklung der Raabe-Rezeption in Deutschland von ihren Anfängen bis in seine Gegenwart, wobei sein Hauptaugenmerk auf dem mehr als die Hälfte der Arbeit einnehmenden Zeitraum zwischen 1945 und 1990 liegt.28 In seinem die Rezeption zu Lebzeiten untersuchenden ersten Kapitel, das für diese Arbeit natürlich von besonderem Interesse ist, stützt sich Sammons ausschließlich auf das in den Kommentaren der Braunschweiger Werkausgabe von Raabe selbst aus Zeitschriften und Zeitungen gesammelte Material, das er im Hinblick auf die damals noch einschlägige, heute allerdings gerade die Aussagen zur Literaturkritik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in manchem zu revidierende Epochenstudie Peter Uwe Hohendahls auswertet.29 Für sein zweites Kapitel, das die Rezeptionsgeschichte bis 1945 und hierbei vor allem die ideologische Vereinnahmung des Dichters durch die kurz nach seinem Tod gegründete „Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes“ zur Zeit des Nationalsozialismus fokussiert, konnte sich Sammons bereits auf wichtige Vorarbeiten beziehen.30 Er erweitert diese zwar in entscheidenden Punkten, bleibt aber in seinen Betrachtungen (wie diese Vorarbeiten) auf die Raabe-Pflege im Umkreis der frühen Raabe-Gesellschaft beschränkt. Trotz aller Einwände kann an diese Arbeit angeknüpft werden, wenn auch das Quellenmaterial (ähnlich wie bei den Arbeiten zu Heyse) erweitert werden kann. Darüber hinaus kann auch noch auf weitere kleinere (nur zum Teil von Sammons berücksichtigte) Einzelstudien rekurriert werden, die zusätzliche,
28
Jeffrey L. Sammons: The Shifting Fortunes of Wilhelm Raabe. A History of Criticism as a Cautionary Tale. Colombia, SC. 1992.
29
Peter Uwe Hohendahl: A History of German Literary Criticism 1730-1980, Lincoln and
30
Michael Töteberg und Jürgen Zander: Die Rezeption Raabes durch die “Gesellschaft der
London 1988. Freunde Wilhelm Raabe” 1911 bis 1945. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1973, 178193; Eugen Rüter: Die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes. Rezeptionssteuerung als Programm. Darmstadt 1977; Horst Denkler: Panier auswerfen für Raabe. Zur Geschichte der ‚Raabe-Pflege‘ im Bannkreis der Raabe-Gesellschaft. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1987, 139-152.
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allerdings nur punktuelle Einblicke in die Rezeptiongeschichte Raabes ermöglichen, wie etwa die Untersuchungen Jörg Thuneckes, in denen er die anlässlich verschiedener Jubiläen in den Feuilletons erschienenen Beiträge untersucht und hierzu jeweils eine für weitere Untersuchungen überaus wertvolle Bibliographie zusammenstellt.31 Eine entscheidende Vorarbeit, an die sowohl in ihrer Herangehensweise als auch in ihren Ergebnissen unbedingt anzuknüpfen ist, stellt der 2007 publizierte Aufsatz „Mit Kanones auf Raabe schießen – Zur Vorgeschichte der Kanonisierung Wilhelm Raabes“ von Günter Butzer dar,32 in der anhand der frühen Rezeption Wilhelm Raabes in der zeitgenössischen Literaturkritik der Einfluss massenmedialer Mechanismen wie der Erregung von Aufmerksamkeit und der Zuschreibung bestimmter Images zur schnellen Wiedererkennung verfolgt und bereits auch in Ansätzen die Transformation dieser Bilder in das Feld der Literaturgeschichtsschreibung beschrieben wird.
31
Jörg Thunecke: Bemerkungen zur Rezeption Wilhelm Raabes anläßlich seines 70. Geburtstages am 8. September 1901. In: Leo A. Lensing/Hans-Werner Peter (Hgg.): Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Aus Anlaß seines 150. Geburtstages (18311981). Braunschweig 1981, 434-459; Ders.: Ephemeres Gedenken. Wilhelm Raabes 150. Geburtstag im Spiegel der Zeitungspresse. In: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft 69 (1982) 2, 53-61; Ders.: Rezeption als Regression. Feuilletons zu Wilhelm Raabes 100. Geburtstag am 8. September 1931. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1986, 129-149.
32
Günter Butzer: Mit Kanones auf Raabe schießen. Zur Vorgeschichte der Kanonisierung Wilhelm Raabes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2007, 23–47.
2. Der literarische Kanon in Abgrenzung
In der Erklärung des Vorhabens wurde bereits zu voraussetzungsreich und zu selbstverständlich über die Thematik bzw. den „literarischer Kanon“ gesprochen. Es wurde fast so getan, als wüssten wir, worum es sich beim literarischen Kanon handelt, als wäre er ein greifbares Phänomen. Er ist es jedoch nicht. Aus diesem Grund muss vor allem anderen erst einmal klar definiert werden, was der literarische Kanon ist und was ihn von anderen Kanones unterscheidet. Hierzu gilt es zunächst allgemein zu erläutern, was man unter ‚Kanon‘ versteht und in einem zweiten Schritt den literarischen Kanon durch Abgrenzung zu spezifizieren und in seinem entstehungsgeschichtlichen Kontext darzustellen.1 Dadurch wird sich zum einen auch die für die spätere Untersuchung zugrunde gelegte kanonrepräsentative Textauswahl erklären, zum anderen der in dieser Arbeit behandelte Zeitraum.
2.1 D ER B EGRIFF DES K ANONS
IM
W ANDEL
Das Wort Kanon2 ist ein Lehnwort aus dem Semitischen, wo es ein Rohr benannte, aus dem Körbe und Messruten hergestellt wurden.3 Durch die Übernah-
1
Ich beziehe mich hierbei ausschließlich auf die Genese und Etablierung des literarischen Kanons in Deutschland. - Das nachfolgende Kapitel habe ich bereits 2011 in gekürzter Fassung unter dem Titel „Die Entstehung des Literaturkanons aus dem Zeitgeist der Nationalliteratur-Geschichtsschreibung“ publiziert (Christoph Grube: Die Entstehung des Literaturkanons aus dem Zeitgeist der Nationalliteratur-Geschichtsschreibung. In: Eve-Marie Becker/Stefan Scholz (Hgg.): Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Ein Handbuch. Berlin/New York 2011, 69-106).
2
Vgl. Herbert Oppel: ȀĮȞȦȞ. Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes und seiner lateinischen Entsprechungen (regula, norma). In: Philologus Suppl. 30 (1937) 4.
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me dieses Wortes ins Griechische kam es zu „jener so folgenreichen Übertragung vom Konkreten ins Abstrakte“4, durch die der Begriff nun nicht mehr nur das Material, sondern auch die Form und in der weiteren Übertragung auch jede Norm, jede vollendete Gestalt und jedes erstrebenswerte Ziel bezeichnete. In dieser Verwendung als Maßstab des Schönen, Harmonischen und Guten, etablierte es sich sowohl auf dem Gebiet der antiken Kunst- und Musiktheorie als auch auf dem der philosophischen Ethik.5 Dort war der țĮȞȫȞ jedoch jeweils keine „abstrakt-fixe Größe, gar eine Substanz“, sondern stellte vielmehr eine „Idee“ dar, die es nach der jeweiligen Maßgabe des vermeintlich Richtigen zu realisieren galt.6 Es sind folglich die „Anschauungsformen und Reflexionen“, die den Kanon überhaupt erst formieren und es ist die „Vorstellung eines Kanonischen“, die die stets variierende Theorie hervorruft.7 In dieser Wechselbeziehung liegt die „ungebrochene Lebendigkeit“ des Kanons begründet.8 Dieser dynamische, prinzipiell offene und reversible Charakter ist dem Kanon jedoch nicht zwingend zu Eigen, sondern wird erst in einem späteren Zeit- und weiteren Prozessverlauf möglich. Diesem geht meist der gegenteilige Versuch voraus, den offenen Kanonisierungsprozess einzudämmen, dem Kanon also die Attribute der Geschlossenheit und Irreversibilität zu verleihen. Deutlich wird diese jedem Kanon zu jedem Zeitpunkt anhängige Janusköpfigkeit in der Anwendung des Begriffs im jüdisch-christlichen Kontext auf das Corpus der durch göttliche Inspiration legitimierten biblischen Schriften und auf die kanonischen Gesetzestexte des Kirchenrechts in der Spätantike. Der țĮȞȫȞ ਥțțȜȘıIJȚțȩࢫ nämlich bezeichnete in der Kirchengeschichte des Eusebius (um 320) jenes Textkorpus, das von der Kirche zur Institutionalisierung verbindlich religiöser Praxis zugelassen wurde.9 Durch die Normierung der liturgischen Praxis, die Auswahl und Gewichtung der Lektüre, die feste Formulierung eines Glaubens, die Kongruenz von Ritus und Lesung erhielt am Ende des 2. Jahrhunderts die römische Messe erst eine feste
3
Vgl. A[rpad] Szabó: s.v. „Kanon“. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hgg.): Histori-
4
Maria Moog-Grünewald: Vorbemerkung. In: Dies. (Hg.): Kanon und Theorie. Heidelberg
5
Vgl. Szabó: Kanon, 688.
sches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1976, Bd. 4: I-K, 688-689, hier: 688. 1997, vii-xii, hier: vii. 6
Vgl. Moog-Grünewald: Vorbemerkung, vii.
7
Vgl. ebd.
8
Vgl. ebd.
9
Hubert Cancik: Kanon, Ritus, Ritual. Religionsgeschichtliche Anmerkungen zu seinem literaturwissenschaftlichen Diskurs. In: Moog-Gründewald: Kanon und Theorie. 1-19, hier: S. 2.
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Struktur.10 Wer sie nicht nach diesem ordo abhielt, wer Texte außerhalb des Lektionars vortrug und die Glaubensregel nicht so weitergab, wie er sie empfangen hatte, war Anathema und kein Mitglied der Gemeinde.11 Hier also diente der Kanon ganz offensichtlich der „Sicherung einer Tradition“12, indem er die fortwirkende Tradition durch rigorose Trennung von kanonischen und apokryphen Texten stilllegte und die Produktivität inspirierter Schriften abbrach, um mit der Kundgabe einer „umzäunten Wahrheit“, welche „alles erklärt und eine umfassende Orientierung für die Zukunft garantiert“13, aus dem Chaos die Ordnung der Kirche im Sinne eines „religiösen Funktionssystem[s]“14 entstehen zu lassen. Sowohl Stagnation als auch Dynamik sind dem Kanon also inhärent und hängen jeweils davon ab, wie stark der jeweilige Kanon von der ihn bildenden Instanz sanktioniert wird und dauerhaft werden kann. Der Kanon hatte also sowohl Normierungs- als auch Erinnerungs-, Stabilisierungs- und Orientierungsfunktion. Die Übertragung des Kanonbegriffs auf literarische Texte wurde, auch wenn das Phänomen literarischer Kanonisierung natürlich wesentlich älter ist,15 erstmals im 18. Jahrhundert durch den Philologen David Ruhnken vorgenommen,16 der aus Mangel an einem entsprechenden lateinischen oder griechischen Wort die von den alexandrinischen Grammatikern Aristarch und Aristophanes von Byzanz aufgestellte Auswahlliste, in der diese zehn attische Redner mit „Autoritätsprädikat“17 versahen, mit diesem Ausdruck belegte18. Die Prägung des Be-
10
Vgl. ebd., 3
11
Vgl. ebd.
12
Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern u.a. 41963, 261; zitiert nach: Ulrich Schulz-Buschhaus: Kanonbildung in Europa. In: Hans-Joachim Simm (Hg.): Literarische Klassik. Frankfurt a.M. 1988, 45-68, hier: 50.
13
Jan Assmann: Viel Stil am Nil? Altägypten und das Problem des Kulturstils. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hgg.): Stil, Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M. 1986, 530; vgl. Schulz-Buschhaus: Kanonbildung in Europa, 50.
14
Ebd. – in Anlehnung an: Ernst Renan: L’Eglise chrétienne, Paris 17o.J., 495-540.
15
Vgl. Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwi-
16
Jan Gorak: The Making oft the Modern Canon. Genesis and Crisis of a Literary Idea. Lon-
17
Jaumann: Critica, 84.
18
Vgl. Rudolf Pfeiffer: Geschichte der klassischen Philologie von den Anfängen bis zum
schen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995, 84-85. don 1991, 51.
Ende des Hellenismus. Hamburg 1970, 255; zitiert nach: Johannes Kramer: Antike Kanon-
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griffs, den bereits Ruhnken im Anschluss daran für alle Auswahllisten verwendete,19 führte fortan zu der Bezeichnung für jede zu tradierende Auswahl von Autoren und Texten, die als die vollkommensten anerkannt und mit Argumenten verteidigt wurden.20 Obwohl sich Ruhnken an den patristischen Begriff anlehnte,21 war weder der von ihm bezeichnete noch der in der Folge entstandene literarische Kanon mit der gleichen Ausschließlichkeit behaftet wie dieser. Die benannte Auswahlliste diente, wie nicht anders in der Rhetorik zu erwarten, lediglich der aemulatio, also dem Nacheifern des genannten Vorbilds mit dem Ziel, dieses noch zu überbieten,22 war also im Grunde wiederum nichts anderes als ein Maßstab, der die Tradition zwar einschränkte und in bestimmte Bahnen lenkte, aber weder sie noch die weitere Entwicklung gänzlich zum Stillstand brachte. Abgesehen davon wäre auch die Etablierung eines ‚geschlossenen Kanons‘, d.h. einer festumrissenen Anzahl von Texten, die wie der biblische Kanon in der „Kopräsenz ewiger Gegenwart“23 nebeneinander stehen, einerseits aufgrund der geringen Sanktionsmächtigkeit eines Einzelnen,24 andererseits aufgrund der nicht einzuschränkenden Produktivität innerhalb der Rhetorik und der Literatur unmöglich gewesen. Dies gilt auch für den literarischen Kanon bzw. das, was wir
bildung. In: Wolfgang Dahmen/Günter Holtus u.a. (Hgg.): Kanonbildung in der Romanistik und in den Nachbardisziplinen. Tübingen 2000, 3-36, hier: 6. 19
Vgl. Pfeiffer: Geschichte der klassischen Philologie, 255.
20
Vgl. Renate von Heydebrand: Probleme des ‚Kanons’. Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In: Johannes Janota (Hg.): Methodenkonkurenz in der germanistischen Praxis. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, IV, Tübingen 1993, 3-22, hier: 5.
21
Vgl. ebd., sowie Jaumann: Critica, 86.
22
Vgl. Oppel: ȀĮȞȦȞ, 47.
23
Aleida und Jan Assmann: Kanon und Zensur als kultursoziologische Kategorien. In: Dies. (Hg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. München 1987, 7-28, hier: 8; zitiert nach Hermann Korte: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichwörtern. In: Arnold (Hg.): Literarische Kanonbildung. 25-38, hier: 28.
24
Vgl. zu diesem Grundgedanken: Ulrich Schulz-Buschhaus: Kanon der Restriktion und Kanon der Expansion – Zu Tendenzen der literarischen Kanonbildung im 19. und 20. Jahrhundert. In: Moog-Grünewald: Kanon und Theorie, 227-244, hier 228. Schulz-Buschhaus weist darauf hin, dass es sich beim literarischen Kanon aufgrund der niemals erfolgten institutionellen Fixierung um ein gegenüber dem religiösen und juristischen Kanon „vergleichsweise labiles System kultureller Verpflichtungen“ handelt, das somit nur über „schwache Sanktionsmöglichkeiten“ verfügt und folglich prinzipiell „dem historischen Wandel“ ausgesetzt ist, der „je nach den Umständen präzipitieren oder stagnieren kann“.
D ER LITERARISCHE K ANON IN A BGRENZUNG
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heute unter diesem Begriff zu fassen versuchen, zumal es ihn im Sinne einer Liste nie gegeben hat,25 sondern wiederum nur in einem „System sich gegenseitig stabilisierender, teils auch miteinander konkurrierender Selektionslisten eines offenen, veränderbaren, dynamischen Kanonisierungsprozesses“26. Darüber hinaus lässt sich für ihn kein alleiniger Verursacher fixieren, es handelt sich vielmehr um ein sogenanntes „Phänomen der invisible hand“27, d.h. ein komplexes Zusammenspiel soziokultureller, diskursiver und institutioneller Faktoren ohne eindeutig fixierbare Intentionalität.28
2.2 (L ITERATUR -)G ESCHICHTE I DENTITÄTSPROGRAMM
ALS NATIONALES
Wenngleich das Wort „Kanon“ in seiner Anwendung auf die Literatur seine erste Prägung bereits im 18. Jahrhundert erfuhr, gelangte das dahinterstehende Phänomen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu seiner eigentlichen Bedeutung.29 Hand in Hand ging es mit ineinandergreifenden Entwicklungen aus den Nachwehen der Aufklärung einher, die großen Einfluss auf die Literaturgeschichtsschreibung nahmen, in der der Kanon zuallererst zum Ausdruck kam.30 Zu nennen ist hier ein neues Geschichtsbewusstsein, das seinen Anfang im aufklärerischen Kulminationspunkt der Französischen Revolution nahm und das diese überhaupt erst zu jenem epochemachenden Ereignis hat werden lassen, als das wir sie heute noch begreifen. Epochemachend wurde sie dadurch, dass sie nicht nur den König köpfte, eine Klasse auszulöschen und die Religion zu zerstören suchte, sondern vielmehr auch deshalb, weil sie – dies fast im wörtlichsten Sinne
25
Hierzu auch: Moog-Grünewald: Vorbemerkung, xi.
26
Korte: Kleines Kanonglossar, 28.
27
Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen, 11.
28
Vgl. ebd.
29
Vgl. zum Folgenden auch meine bisherigen Überlegungen: Christoph Grube: Die Grenzen der Kanonisierung. Zur Nationalkanonisierung im 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung. In: Michael Hofmann/Christof Hamann (Hgg.): Kanon heute. Literaturwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Hohengehren 2009, 57-70.
30
Vgl. Herbert Grabes/Margit Sichert: Literaturgeschichten als Instrumente literarischer Kanonbildung und nationaler Identitätsbildung. In: Günter Oesterle (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen 2005, 377-404, hier: 380ff.
24 | W ARUM WERDEN AUTOREN VERGESSEN?
– die Vergangenheit vernichten wollte.31 Ihre Triebkraft war „die Unbedingtheit des Eindeutigen, Einheitlichen“32: die Einheiten von Maßen und Gewichten gegen das Durcheinander unterschiedlichster Maßeinheiten, die Einheit der neuen Zeit gegen die unterschiedlichen Ortszeiten und die alte Zeitrechnung, und die Einheit der Nation, unteilbar in Provinzen, Sprachen und Traditionen.33 Die Vergangenheit musste also zerstört werden. Wo die Geschichte schließlich offiziell in die kollektive Erinnerung zurückkehrte, legitimierte sie die neue Herrschaft. Im Empire gipfelte nun also alles Gute, während vor ihm alles Schlechte zu historischem Schutt zerfiel.34 Die Geschichte des aus der Fatalität befreiten und für seine eigene Historie die volle Verantwortung übernehmenden Menschen wurde zum „weltanschaulichen Mittel der Rechtfertigung“35, durch die letztlich auch der Bruch, den die Revolution in der historischen Kontinuität verursacht hatte, bewältigt werden konnte.36 Dies wirkte auch auf Deutschland, wo die Französische Revolution und ihre Folgen wie letztlich im gesamten, in seinen politischen Fundamenten erschütterten Europa dazu nötigten, die dominierenden Voraussetzungen und Prioritäten des vergangenen Jahrhunderts einer kritischen Prüfung zu unterziehen.37 Auch in Deutschland galt Geschichte nun nicht mehr als „jener amorphe Bereich, der ganz einer sammelnden memoria anheimfiel, deren Aufgabe es war, das kulturelle Kapitel der Menschheit vor einem barbarischen Gedächtnisverlust zu bewahren“38. Vielmehr wurde Geschichte fortan ebenfalls als einheitlicher und zu-
31
Vgl. Karl Heinz Metz: Geschichtsschreibung und öffentliches Bewusstsein. Abgrenzung, Überschreitung, Tabuisierung. In: Helmut Fleischer/Pierluca Azzaro (Hgg.): Das 20. Jahrhundert. Zeitalter der tragischen Verkehrungen. Forum zum 80. Geburtstag von Ernst Nolte. München 2003, 442-480; hier: 445.
32
Ebd.
33
Vgl. ebd.
34
Vgl. ebd. 445-446.
35
Ebd., 446.
36
Vgl. ebd.
37
Vgl. Theodore Ziolkowski: Zur Politik der Kanonbildung. Prolegomena zum Begriff einer literarischen „Klassik“ in Deutschland (1800-1835). In: Robert Charlier/Günther Lottes (Hgg.): Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität. o.O. 2009, 33-50, hier: 36. – grundsätzlich hierzu auch: Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a. M. 1998, 77-91.
38
Jürgen Fohrmann: Deutsche Literaturgeschichte und historisches Projekt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Ders./Wilhelm Voßkamp (Hgg.): Wissenschaft und Nation.
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gleich sinnhaft verlaufender Prozess verstanden – als eine Ordnung, die es zu finden und darzustellen galt. Sie wurde damit zu einem „Feld von Sinnbeziehungen“39, das letztlich entschlüsselte, wer man war und wohin man sich zu richten hatte.40 Geprägt war diese Geschichtsperspektive durch „Entelechie“, indem ihr kontingent erscheinender Verlauf als Weg von und zu einem Zentrum verstanden wurde.41 In dieser Umwandlung des Unausweichlichen in Kontinuität und des Kontingenten in Sinn sind, wie der Politikwissenschaftler Benedict Andersen nahelegt, nur wenige Dinge zur Erklärung geeigneter als die Idee der Nation42, weshalb ja diese Geschichtsperspektive gerade im neu entstandenen Nationalstaat Frankreich so wirkungsmächtig werden konnte. Nun war Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts bekanntlich kein Nationalstaat, so sehr der liberale Wunsch nach nationaler Einheit auch existierte und seine Anhänger darum kämpften – trotzdem und gerade aus diesem Grund übernahm man auch hier diese Geschichtsvorstellung. Die um 1800 vielbeschworene geschichtliche Deprivation43 nämlich diente als fruchtbarer Nährboden, der den Samen dieser Idee schnell gedeihen ließ, der daraus erwachsenden Pflanze aber zugleich eine nationalspezifische Ausprägung gab. Indem die „Nation“ auch hier als Subjekt der Entelechie fungierte, d.h. „Ordnungskategorie“ und „Sinnmetapher“ in einem wurde,44 avancierte die daraus hervorgehende Historie zum nationalen „Identitätsprogramm“45: Das „taxonomische Ordnungsprinzip“46 formulierte nämlich zugleich die „Projektion einer Identität“47, die wiederum erst aus der Geschichte „als Verlaufsprozeß eines schon bei-sich-seienden, aber noch nicht ans Ziel ge-
Studien zur Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft. München 1991, 205-215, hier: 205. 39
Ebd., 206.
40
Vgl. ebd.
41
Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989, 114.
42 43
Vgl. Anderson: Die Erfindung der Nation, 20. Ich beziehe ihn hier auf die nationale Selbstzuschreibung der „verspäteten Nation“ (Plessner).
44
Vgl. ebd. 94.
45
Ebd. 78.
46
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 84.
47
Ebd., 96.
26 | W ARUM WERDEN AUTOREN VERGESSEN?
kommenen Kollektivsubjekts“48 zu gewinnen war. Man entwickelte die Vorstellung des ‚deutschen Sonderwegs‘, der darin bestand, dass die Sprachbevölkerungen in den zahlreichen deutschsprachigen Territorien – im Unterschied zu Franzosen, Niederländern, Spanien usw. – zur Zeit der Wirkung der Französischen Revolution ihren Nationalstaat noch nicht besaßen, wohl aber eine literarisch konsolidierte potentielle Nationalsprache mit wachsendem gesellschaftlichen und internationalen Prestige, mit funktional berechtigtem Anspruch auf Ablösung der internationalen Kultur- und Herrschaftssprachen Latein und Französisch.49
Dieser Gedanke eines ‚kulturellen Irredentismus‘50, der beispielsweise von Herder schon im Vorfeld der eigentlichen Bewegung, sie gleichsam anstoßend propagiert wurde,51 wuchs in der Folge zu einem kulturpolitischen Sophismus aus, der die schwächere Sache zur stärkeren zu erklären versuchte.52 Dadurch nämlich, dass sich daraus die Vorstellung etablierte, dass „nicht die Politik die Kul-
48
Ebd. 94.
49
Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. III, 19. und 20. Jahrhundert. Berlin u.a. 1999, 109 (zitiert nach: Günter Schäfer-Hartmann: Literaturgeschichte als wahre Geschichte. Mittelalterrezeption in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und politische Instrumentalisierung des Mittelalters durch Preußen. Frankfurt a. M. 2009, 47). Polenz spricht hierbei von einer „objektiven historischen Tatsache“, übersieht dabei aber (abgesehen davon, ob es eine solche überhaupt gibt und geben kann), dass es hierbei selbst wiederum nur um eine Konzeption der zu dieser Zeit sich etablierenden Germanistik handelt (vgl. zu dieser Thematik: Rainer Rosenberg: Der Übergang der Literaturgeschichtsschreibung in die Kompetenz der Nationalphilologie. In: Ders.: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981, 41-60, hier insbes.: 41f.).
50
In Anlehnung an den von Willems geprägten Begriff des „Poetischen Irredentismus“ (vgl. Gottfried Willems: „Ihr habt jetzt eigentlich keine Norm, die müßt ihr euch selbst geben“. Zur Geschichte der Kanonisierung Goethes als „klassischer deutscher Nationalautor“. In: Gerhard Kaiser/Heinrich Macher (Hgg.): Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Heidelberg 2003, 103134, hier 109).
51
Vgl. hierzu ausführlich: Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 95ff. Auch Schlegel antizipierte dieses Kulturmodell, das später durch Gervinus fest in der Literarhistoriographie etabliert wurde (vgl. ebd, 109).
52
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 120.
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tur, sondern die Kultur die Politik nach sich zu ziehen habe“53. Demnach versuchte man durch die eigene Kultur das konstitutive Ereignis der westlich des Rheins stattgefundenen Revolution zu substituieren54 und darüber hinaus sogar einen kulturellen sowie in dessen Folge politischen Hegemonieanspruch abzuleiten.55 Hierzu knüpfte man an einen seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts existierenden, die gesamteuropäische Kulturtradition bestimmenden Wertediskurs an, nämlich den der querelle des nations.56 Diese leitete sich von der im Frankreich des 17. Jahrhunderts erstmals durch ein Gedicht Perraults angestoßenen Debatte der Querelle des anciens et des modernes ab,57 deren AntikeModerne-Kontrastierung der querelle des nations in nationaler Varianz als instrumentalisierbare Folie diente.58 Die allmählich aufkommende deutschnationale Literarhistoriographie nutzte diesen Diskurs für sich auf zwei Weisen, die beide bald zu „Topo[i] deutscher Selbstinterpretation“59 avancierten. Zum einen beanspruchte und konstatierte bzw. konstituierte60 sie entsprechend dem Vorbild der in den meisten anderen europäischen Ländern existierenden nationalen Literaturund Kulturblütezeiten eine „Klassik“ als aetas aurea der deutschen Literatur, das wie in diesen Ländern die durch den Renaissancehumanismus restaurierte Geistes- und Formwelt in einem „vitalen Anwandlungsprozess“ in eine „eigenwertige
53
Fohrmann: Deutsche Literaturgeschichte, 212.
54
Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart ²1959, 47 (zitiert nach Günter Schäfer-Hartmann: Literaturgeschichte als wahre Geschichte, 48). Zur Kompensatorik dieser Substitution vgl. Klaus L. Berghahn: Von Weimar nach Versailles. Zur Entstehung der Klassik-Legende im 19. Jahrhundert. In: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hgg.): Die Klassik-Legende. Second Wisconsin Workshop. Frankfurt a.M. 1971, 50-78; sowie: Conrad Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität. Stuttgart 1993, 541-569, hier: 542.
55
Vgl. Fohrmann: Deutsche Literaturgeschichte, 212.
56
Vgl. hierzu ausführlich: Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 69 ff.
57
Vgl. hierzu Manfred Fuhrmann: Die Querelle des Anciens et des Modernes, der Nationalismus und die deutsche Klassik. In: Ders.: Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition. Stuttgart 1982, 129-149, hier 129-136.
58
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 99.
59
Ulrich J. Beil: Die ‚verspätete Nation‘ und ihre ‚Weltliteratur‘: Deutsche Kanonbildung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: von Heydebrand (Hg.): KANON MACHT KULTUR, 323-340; insbes.: 328.
60
Vgl. auch hierzu den kompletten Band Grimm/Hermand (Hgg.): Die Klassik-Legende. Second Wisconsin Workshop. Frankfurt a.M. 1971.
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nationalsprachliche Literatur [..]“61 überführte. Zum anderen legte sie den Akzent auf die Akkulturation des antiken Griechenlands, dessen Ideen – wie etwa explizit der „Patriarch der deutschen Literaturgeschichtsschreibung“62 Gervinus schrieb – „allein die Deutschen in ihrer Reinheit zu verwirklichen geschaffen [seien]“63 und damit zur einzig wahren Nachfolge berufen seien.64 Die Betonung dieses „geistigen Stammbaum[s]“65 diente in erster Linie dazu, den dem Querelle-Diskurs inhärenten aemulatio-Gedanken in mehrfacher Beziehung zu nutzen und vor allem in Kontrast zum Antike-Muster der französischen Nation zu stellen.66 Als historische Legitimation fungierte nicht zuletzt aufgrund ihrer imperialen Orientierung und politischen Gesinnung die römische Klassik.67 Indem man diese jedoch zu einer lediglich nachahmenden Epoche abwertete, die griechische dagegen zur wahren stilisierte,68 versuchte man eine Überlegenheit der deutschen Kultur zu demonstrieren, die in der Folge auch als eine politische zu denken war.69 Zugleich intendierte man damit, das bereits seit langem in Deutschland vorhandene, vor allem der „französischen Dominanz“70 geschuldete „Fremd-
61
Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität, 550f.
62
Beil: Die ‚verspätete Nation‘ und ihre ‚Weltliteratur‘, 328
63
Georg Gottfried Gervinus: Prinzipien einer deutschen Literaturgeschichtsschreibung [1833]. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin 1962, 9-48, hier: 48; zitiert nach Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. ²1970, 144-207, hier 149.
64
Vgl. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, 149.
65
Fuhrmann: Die Querelle des Anciens et des Modernes, 142. – Diese Akzentsetzung führt zwangsläufig zu einer Verkürzung: vgl. hierzu: ebd, 136; sowie Gottfried Willems: Zur Geschichte der Kanonisierung Goethes, 104f.
66
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 79.
67
Vgl. Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität, 551.
68
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 79; vorgeprägt auch in den literarhistorischen Arbeiten der Brüder Schlegel, ebd., 103; vgl. Fuhrmann, Die Querelle des Ancien et des Modernes, 135. Um dies herauszustellen griff man etwa auch auf die Schriften Winckelmanns zurück.
69
Vgl. hierzu ausführlich auch meine Belege in: Die Grenzen der Kanonisierung, 68ff. – Auch wenn dies nicht explizit nachgewiesen werden kann, spielt hier die Kohärenz von Kultur und Politik im antiken Griechenland eine Rolle.
70
Beil: Die ‚verspätete Nation‘ und ihre ‚Weltliteratur‘, 329.
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orientierungstrauma“71 zu überwinden.72 Das gleiche Ziel verfolgte man auch, indem man darüber hinaus den „Kosmopolitismus des klassischen Programms“73 hervorhob,74 insbesondere die darin zum Ziel erklärte Erfassung der ‚Weltliteratur‘ in Form von „Reflexion und Synthese“.75 Der „radikalpatriotische Subtext“76 dieser Idee war, dass die deutsche Literatur, insbesondere ihr goldenes Zeitalter, ihre Klassik, „alle Literaturen der Welt“77 in sich aufnahm, bündelte78 und sich dadurch gleichsam (wiederum lesbar im Sinne einer aemulatio innerhalb der querelle des nations) über die anderen Nationen erhob. Auch bei dieser Idee ist die Absicht mehr als deutlich, handelt es sich hier im Grunde doch um nichts anderes als um den Versuch, die verspätete politische Emanzipation Deutschlands als notwendig zu rechtfertigen und zugleich Kulturüberlegenheit zu demonstrieren.79
71
Ebd. 325. Beil führt zu diesem Diskurs mehrere Belegstellen etwa aus den Schriften Lessings und Herders an (vgl. ebd.).
72
Dieser Diskurs wurde vor allem durch die 1780 anonym veröffentlichte Schrift De la littprature allemande des preußischen Königs Friedrich des Großen akut, in der er „Gericht über die [seiner]zeitige deutsche Literatur“ (Friedrich Gundolf: Friedrich des Großen Schrift über die deutsche Literatur. Hg. v. Elisabeth Gundolf, Zürich 1985, 37 [zitiert nach: Eberhard Lämmert: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. In: Brunhilde Wehinger: Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte. Berlin 2005, 13-22; hier 15]) hält und das Urteil fällt, dass Deutschland gegenüber der „Ausgewogenheit und Verfeinerung älterer Kulturen in Europa noch schmerzlich im Rückstand“ sei (Lämmert: Friedrich der Große, 15).
73
Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität, 543; zitiert auch bei: Beil: Die ‚ver-
74
Vgl. Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität, 543, sowie Fohrmann: Das
75
Beil: Die ‚verspätete Nation‘ und ihre ‚Weltliteratur‘, 327.
76
Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität, 543; zitiert auch bei: Beil: Die ‚ver-
spätete Nation‘ und ihre ‚Weltliteratur‘, 325. Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 108ff.
spätete Nation‘ und ihre ‚Weltliteratur‘, 325. 77
Beil: Die ‚verspätete Nation‘ und ihre ‚Weltliteratur‘, 330.
78
Wie Beil darstellt, geschah dies wiederum über den Rekurs auf die griechischen Antike.
79
Mit großer Wahrscheinlichkeit spielte diese Position auch der deutschen Imago des Landes
Vgl. ebd. 330ff. der „Dichter und Denker“ zu, das in Frankreich zur gleichen Zeit vor allem durch Mme de Staël propagiert wurde (vgl. Manfred Beller: s.v. Germans. In: Ders./Joep Leerssen (Hgg.): Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey. Amsterdam/New York 2007, 159-166; hier 161f.)
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2.3 L ITERARISCHE K OMMUNIKATION ALS I NSTRUMENT BÜRGERLICHER S ELBSTDEFINITION Der Grund, warum dieser Versuch, das „Stigma einer versäumten Selbstfindung und Selbstbestimmung“80 zu kompensieren, über den Weg der Literatur unternommen wurde, liegt vor allem darin, dass die Literatur im Kontext der „Transformation der Gesamtgesellschaft“81 von einer „stratifizierten“ zu einer „funktional differenzierten“ Gesellschaft als „Netzwerk aus sozialen Systemen“82 innerhalb der Gesellschaft einen völlig neuen Stellenwert erhielt.83 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts nämlich autonomisierte sie sich zu einem konstitutiven „Subsystem der Gesellschaft“84. Diese Autonomisierung der Literatur bedeutete nun keineswegs eine „Verselbstständigung der Gesellschaft gegenüber“ bzw. eine „Gegenposition zur Gesellschaft“85. Ebenso wenig stellte sie einen „Verdrängungsprozess“ dar, durch den versucht wurde, die „negativen Seiten der Wirklichkeit“ wegzuschieben, um die aufgrund der Entfremdungserfahrung in der Arbeitsteilung und zweckrationalisierten Alltagswelt verlorene Totalität des Menschen nach dem Verlust der universalen Gültigkeit der Religion als neues „Versöhnungsparadigma“ wiederherzustellen.86 Gerade so nämlich darf die
80
Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität, 543; zitiert auch bei: Beil: Die ‚ver-
81
Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhun-
spätete Nation‘ und ihre ‚Weltliteratur‘, 324f. dert, Frankfurt a. M. 1989, 15. 82
Ebd., 9. – Zu den einzelnen sozialen Differenzierungen vgl. Kap. 3-9, 65ff.
83
Nach Max Weber geschieht diese Ausdifferenzierung im Zuge der Entwicklung des okzidentalen Rationalismus (vgl. Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte. Tübingen 1979).
84
Georg Jäger in Anlehung an Luhmann: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, 221-244, hier 222.
85
Vgl. Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstproduktion der Kunst. In: Ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. v. Niels Werber. Frankfurt a. M. 2008, 139- 188, hier 142. Luhmann richtet sich hier gegen eine Auffassungen Theodor W. Adornos (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, 334f.).
86
Vgl. hierzu ausführlich: Christa Bürger: Einleitung: Die Dichotomie von hoher und niederer Literatur. Eine Problemskizze. In: Dies./Peter Bürger/Jochen Schulte-Sasse (Hgg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt a.M. 1982, 9-39; hier 21. – Auch Bürger nimmt hierbei Bezug auf Adorno, wenn auch meiner Ansicht nach verkür-
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Autonomie des Literatursystems nicht verstanden werden,87 ganz im Gegenteil: Als Möglichkeit der Freisetzung einer spezifischen Funktion bedeutete sie vielmehr einen „Vollzug von Gesellschaft“88. Die Literatur avancierte zu einem eigenen „Kommunikationssystem“89, wobei die literarische Kommunikation, wie zu zeigen sein wird, dezidiert als „Instrument einer deutschen ‚bürgerlichen‘ Aufklärung“90 funktionalisiert wurde und eine „Ausdifferenzierung [der Literatur] aus der Obhut anderer, vor allem religiöser und politischer Interessen“91 bewirkte. Mit anderen verdeutlicherenden Worten: der literarische Diskurs befreite sich aus seiner „repräsentative[n] und utilitaristische[n] Funktionalisierung“92, der politischen und theologischen Bevormundung93 und wurde so für das Bürgertum vakant, das seine Chance nutzte, diesen Diskurs für sich zu instrumentalisieren, indem es dessen Autonomisierung vorantrieb und in einem sozialkommunikativen Akt mit eigenen Vorstellungen belegte94, so dass sie zum „Instrument individueller wie kollektiver Sinnstiftung“ und damit zum „Leitmedium individueller und gesellschaftlicher Selbstvergewisserung, Selbsterkenntnis und
zend (vgl. ebd. 14f.). Gegen die Position Bürgers exemplarisch vgl. auch: Dieter Borchmeyer: Ästhetische und politische Autonomie: Schillers ‚Ästhetische Briefe‘ im Gegenlicht der Französischen Revolution. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Tübingen 1990, 277-296, hier 284f. – Das soll jedoch nicht heißen, dass vermehrte Identitätsprobleme nicht vorhanden gewesen wären (vgl. hierzu die sehr sinnvollen Ausführungen von Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, 44). 87
Vgl. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems, 409.
88
Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstproduktion der Kunst, 142.
89
Vgl. Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems, 222.
90
Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems, 410.
91
Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstproduktion der Kunst, 149.
92
Klaus L. Berghahn: Mit dem Rücken zum Publikum: Autonomie der Kunst und literarische Öffentlichkeit Weimarer Klassik. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Tübingen 1990, 207-233, 218.
93
Vgl. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems, 413.
94
In diesem Sinne entsprach die Autonomie ganz dem Begriff, den Kants von ihr geprägt hatte (vgl. Bernd Bräutigam: Konstitution und Destruktion ästhetischer Autonomie im Zeichen des Kompensationsverdachts. In: Wittkowski (Hg.): Revolution und Autonomie, 244-263; hier 247).
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Selbstreproduktion“ avancieren konnte.95 Als „Reflexionstheorie“ und zugleich als Referenzpunkt für die Programmierung der Leitdifferenzen, nach denen fortan die Selektion in das neue Funktionssystem ‚Literatur‘ erfolgen sollte, diente hierbei die Ästhetik.96 Um zu begründen, weshalb dabei gerade auf die Ästhetik zurückgegriffen wurde, soll die Entwicklung der Ästhetik im Folgenden knapp skizziert werden. Als „scientia cognitionis sensitivae“97 hatte die Ästhetik im 18. Jahrhundert namentlich durch Alexander Gottlieb Baumgarten und seinen Entwurf einer „ästhetische[n] Theorie“98 eine deutliche Aufwertung erhalten.99 Diese reichte in ihrem
95
Vgl. Korte: Taugenichts-Lektüren, 25.
96
Vgl. Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems, 226. – Plumpe, der dies entschieden ablehnt (vgl. Plumpe: Epochen moderner Literatur, 52f.) ist in mehrfacher Weise nicht überzeugend. Abgesehen davon, dass in seinem Entwurf Codierung und Programmierung nicht genau genug voneinander differenziert werden, entbehrt seine Argumentation ihrer Grundlage, wenn er schreibt, dass die Ästhetik „eine Fremdbeschreibung und keine Selbstbeschreibung des Kunstsystems“ (ebd.) sei und als philosophische Disziplin nicht von der Kunst beansprucht werden darf, da die Philosophie nicht Subsystem der Kunst, sondern der Wissenschaft sei. Schiller jedoch, der m.W. nicht in erster Linie Philosoph, sondern Schriftsteller war, hat diesen Diskurs sich und damit der Kunst zu Eigen gemacht hat. Darüber hinaus belegt die Fachgeschichte, dass die Ästhetik aufs Engste mit der deutschen Literatur verknüpft war, wie allein schon die häufig anzutreffende Kombination in der Bezeichnung der Professuren zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigt (vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, 336ff.). Zum anderen schlägt Plumpe seinerseits als Leitdifferenzen „interessant und uninteressant“ vor (vgl. Plumpe: Epochen moderner Literatur, 53) und befindet sich damit, wie seine Interessensbegrifflichkeit nahelegt, die sich vom Kantischen Begriff des „Interesses“ unterscheidet, ebenfalls im ästhetischen Diskurs, denn was sind diese Leitdifferenzen hier anderes als die als Maßstab der Ästhetik geltende Unterscheidung Kants von „Lust“ und „Unlust“ (vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Ernst Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke. Bd. V.: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Benzion Kellermann/Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft; Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Otto Buek. Hildesheim 1973 [Reprint Berlin 1914], 271f. Hierzu auch: Brigitte Scheer: Einführung in die Philosophische Ästhetik. Darmstadt 1997, 79).
97
Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Äesthetica“ (1859). Übers. und hg. von Rudolf Schweizer. Lateinisch-Deutsch. Hamburg 1983, 2.
98
Peter V. Zima: Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Tübingen 1991, 17.
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Frühstadium sogar soweit, dass sie als „gnoseologia inferior“100 und damit als „Schwester‘ der Logik“ oder „weibliche Entsprechung der Vernunft auf einem niedrigeren Niveau“101, neben die logische Erkenntnis trat („ars analogi rationis“)102 und im Sinne einer „praktisch gewordenen Logik“, d.h. einer „Logik der Erfahrung“ bzw. „Logik der unteren Vermögen“ angesehen wurde.103 Baumgarten selbst schwächte dies in seinen späteren Ausführungen ab, hielt aber innerhalb seiner Überlegungen daran fest, dass „das Schöne der begrifflichen Erkenntnis zugänglich ist und zum Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses gemacht werden kann“104. In seiner Kritik der reinen Vernunft bezweifelte Immanuel Kant diese Position und führte hierzu aus: Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftsprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Denn gedachte Regeln, oder Kriterien, sind ihren vornehmsten Quellen nach bloß empirisch, und können also niemals zu bestimmten Gesetzen a priori dienen, wonach sich unser Geschmacksurteil richten müßte, vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probierstein der Richtigkeit der ersteren aus.105
Da die Regeln des Geschmacks folglich bloß empirisch allgemein sind, scheint eine philosophische Geschmackskritik nach Kant undurchführbar.106 Zwar hebt alle Erkenntnis mit der durch die Sinne zugänglichen Erfahrung an, wobei die
99
Die Aufwertung wurde in der Nachfolge Kants sogar so stark, dass Jean Paul bereits davon sprach, dass es von nichts so sehr in seiner Zeit wimmle als von Ästhetikern (vgl. Joachim Ritter: s.v. Ästhetik, ästhetisch. In: Ders. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1971, Bd. 1, 555-580, hier 556.
100 Baumgarten: Theoretische Ästhetik, 2. 101 Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Aus dem Englischen von Klaus Laermann. Stuttgart/Weimar 1994, 16. 102 Baumgarten: Theoretische Ästhetik, 2. 103 Alfred Bäumler: Kants Kritik der Urteilskraft. Bd. 1: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts. Halle 1923, 191 (zitiert nach: Zima: Literarische Ästhetik, 17). 104 Zima: Literarische Ästhetik, 18. 105 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. Albert Görland, Ernst Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke. Bd. III, Hildesheim 1973 [Reprint Berlin 1913], 56. 106 Zu diesen und den folgenden Ausführungen vgl. ausführlich: Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik. München 1995, 70ff.
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Wahrheit des Erkennens durch diesen Zugang zu den Gegenständen mitbedingt ist. Doch kann die Ästhetik die empirische Basis der Erfahrung nicht überwinden, da sie es mit den spezifischen Urteilen über jene Sinneserfahrung zu tun hat, die von den Gegenständen ausgelöst werden. Die Erfahrungen können somit nur solipsistisch und individuell gültig sein. Bereits hier weist Kant allerdings auf ein im Geschmacksurteil liegendes Problem hin, das schließlich Motivation107 und Ausgangspunkt seiner erneuten Analyse der ästhetischen Urteile in der Kritik der Urteilskraft wird.108 Dieses Problem betrifft die im ästhetischen Werturteil liegende Antinomie: obwohl es nämlich einerseits mit dem partikularen Geschmack verquickt ist, beansprucht das Geschmacksurteil andererseits immer auch transsubjektiv zu sein.109 Wäre es jedoch transsubjektiv, würde es sich auf Begriffe gründen und wäre somit jederzeit beweis- oder widerlegbar. Da Geschmacksurteile aber gerade nicht objektiv und logisch zwingend sind, könnten sie wiederum keinen Anspruch auf Allgemeingültig erheben.110 Der einzige Ausweg aus dem Dilemma ist, diese Antinomie als nur scheinbaren Widerspruch zu entlarven. Kant tut dies, indem er die These aufstellt, dass die Begrifflichkeit des Geschmacksurteils eine unbestimmte Begrifflichkeit ist, das ästhetische Urteil also nicht die Form einer spezifischen Begrifflichkeit (i.S. einer Definition) annehmen kann, trotzdem jedoch begrifflichen Charakter hat.111 Im Gegensatz zur logisch-begrifflichen Darstellung mit ihrem denotativen Charakter jedoch evoziert bzw. konnotiert die ästhetische Darstellung im freien Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand „verwandte[] Begriffe […], die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann“112. Dadurch findet nun keine Bestimmung der anschaulichen Synthesis durch den Begriff statt, trotzdem werden die gleichen Erkenntnisvermögen aktiviert.113 Das Ästhetische ist daher in keiner Weise kognitiv, hat jedoch seiner Form und Struktur nach etwas Rationales an sich.114 Als „Einheit des anschaulichen Mannigfaltigen“ nämlich scheint das ästhetische Urteil durch seine Form
107 Vgl. hierzu die brieflichen Äußerungen Kants gegenüber Carl Leonhard Reinhold in: Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, 80f. 108 Vgl. Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, 81. 109 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, 281ff. 110 Vgl. Zima: Literarische Ästhetik, 19. 111 Vgl. ebd., 20. 112 Kant: Kritik der Urteilskraft, 390; vgl. Zima: Literarische Ästhetik, 21, sowie Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, 83. 113 Vgl. Scheer: Einführung in die Philosophische Ästhetik, 83. 114 Vgl. Eagleton: Ästhetik, 79.
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auf begriffliche Fassung bereits hinzuzielen und befindet sich dadurch im „Vorfeld einer möglichen Erkenntnis“.115 Entsprechend definiert Kant den Geschmack als „Vermögen sinnlich und allgemeingültig zu wählen“ und bestimmt ihn daher auch als das „Vernunftähnliche der sinnlichen Urteilskraft“.116 Das Ästhetische vereinigt also durchaus „mit der Autorität eines Gesetzes, aber auf einem eher affektiven und intuitiven Niveau.“117 Aus eben diesem Grund kommt ästhetischen Urteilen „die Funktion eines Jokers im Kartenspiel seines [Kants; C.G.] theoretischen Systems“118 zu. Es avanciert zu einer „Pseudo-Erkenntnis“119 zum „Symbol des Sittlichguten“120, weshalb wiederum (nach Abwägung von Natur- und Kunstschönheit)121 die „Cultur des Geschmacks“ zu einer „Vorübung zur Moral“ werden kann,122 da die Vernunftidee nur erfasst werden kann, wenn man ihr zuvor in einer Anschauung vorbegrifflich bewusst geworden ist.123 Genau dieser Gedanke Kants und die darin implizite Andeutung, dass die Kunst zum Organ wird, das in der „Versinnlichung der Idee die Einheit des Übersinnlichen vermittelt“124, waren für Schiller Anlass und Möglichkeit seiner Reflexionen über die Ästhetik.125 Schiller übertrug diesen Diskurs in seinen theoretischen Arbeiten erstmals in toto in und damit auch (im Sinne einer Aufgabe)126 auf die Literatur. Hierbei anthropologisierte und historisierte er die theore-
115 Scheer: Einführung in die Philosophische Ästhetik, 83. 116 Immanuel Kant: Kant’s gesammelte Werke. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XV, 1: Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlass. Bd. 2, Erste Hälfte. Berlin/Leipzig 1923, 378 (zitiert nach: Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, 74). 117 Eagleton: Ästhetik, 79. 118 Ebd., 98. 119 Ebd., 79. 120 Kant: Kritik der Urteilskraft, 428ff. 121 Vgl. Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, 92ff. 122 Immanuel Kant: Kant’s gesammelte Werke. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XVI: Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlass. Bd. 3. Berlin/Leipzig 1924, 438 (zitiert nach: Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, 93). 123 Vgl. Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, 94. 124 Ritter: Ästhetik, ästhetisch, 567. 125 Eagleton: Ästhetik, 108; vgl. auch: Carsten Zelle: Art. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): SchillerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2005, 409-445, hier 423. 126 Wobei die Ausführungen über die ästhetischen Werkzeuge der Erziehung unausgeführt bleiben (vgl. Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 423).
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tischen Überlegungen Kants. Auch für ihn war die Ästhetik „‘Werkzeug‘ der Charakterveredelung“127. Er bestimmt sie, hierbei auf Kants Bestimmung des Schönen rekurrierend,128 „als das Gelenk oder den Übergang zwischen dem grob Sinnlichen und dem erhaben Rationalen“129. Das Ästhetische fungiert (deutlicher als bei Kant) als „Durchgangsstufe zu den unsinnlichen Imperativen der praktischen Vernunft“130, indem [d]urch die ästhetische Gemüthsstimmung […] die Selbstthätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröffnet, die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen, und der physische Mensch so weit veredelt [wird], daß nunmehr der geistige sich nach den Gesetzen der Freyheit aus demselben bloß zu entwickeln braucht.131
Auf diese Weise wird die Ästhetik zum „sinnliche[n] Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit“132 auf dem Weg zur „wahren Kultur“133. Dieser Weg weist die Struktur eines triadischen Geschichtsmodells auf, dessen „Naturstand in der Idee“134 urbildlich durch die „griechische[] Polisgemeinschaft“135 repräsentiert wird, die als Gegenbild zur „heutigen Form der Menschheit“136 mit ihrer Entfremdung durch die „Vernünftelei“137 gesetzt wird,138 und als dessen „Telos“139
127 Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 411. 128 Vgl. ausführlich: Friedrich Schiller: Vollständiges Verzeichnis der Randbemerkungen in seinem Handexemplar der „Kritik der Urteilskraft“. In: Jens Kulenkampff: Materialien zu Kants „Kritik der Urteilskraft“. Frankfurt a. M. 1974, 126-144, hier: 130). Hierzu auch: Zeller: Über die ästhetische Erziehung, 425. 129 Eagleton: Ästhetik, 108. 130 Ebd., 109. 131 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd.8: Theortische Schriften. Hg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M. 1992, 556-676; hier: 644; vgl. auch Eagleton: Ästhetik, 109. 132 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 563. 133 Ebd., 591. 134 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 561; hierzu: Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 418. 135 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 570. 136 Ebd., 570. 137 Ebd., 570. 138 Vgl. hierzu auch: Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 420ff. 139 Ebd., 421.
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die „Totalität“140 des Charakters bzw. die daraus resultierende „höhere Stufe staatlicher Organisation, die Selbstbestimmung und Freiheit ermöglicht“141, formuliert wird. Die Ästhetik hat dabei eine Doppelaufgabe inne: zum einen kommt ihr eine „propädeutische Rolle“142 zu in der „Menschenbildung, d.h. in der Emanzipation des Menschen, in der vollen Menschwerdung des Menschen“143, wobei diese Propädeutik vor allem als „politische Propädeutik“144 zu verstehen ist. Zum anderen erfüllt sie aber auch die Funktion einer „Statthalterin der ‚Totalität in unserer Natur‘“145, wodurch die Gefahr, das geschichtliche Handeln des ‚verstümmelten‘ Gegenwartsmenschen zum Mittel eines zukünftigen Gattungszwecks zu erniedrigen, aufgehoben wird.146 Auch wenn er die explizite Bezugnahme in der Horen-Fassung seiner „Ästhetischen Briefe“ dämpfte,147 indem er mit zeitlosen Werten von den „politisch akuten Sorgen“ ablenkte,148 so war doch die (aus seiner Sicht gescheiterte)149 Französische Revolution der eigentliche „Impuls [s]einer ästhetischen Theorie“150. Besonders die Vorstufe der Briefe, die sog. Augustenburger Briefe weisen seine ästhetischen Überlegungen als eine „direkte Antwort“151 auf die Ereignisse jenseits des Rheins aus. Der Verlauf der Pariser Staatsumwälzungen, insbesondere die Septembermorde 1792 und die Hinrichtung Ludwig XVI. am 21. Januar 1793, lösten bei Schiller ein regelrechtes „Ochlokratietrauma“152 aus, dessen Nachwirkung noch in den die „dionysische Entgrenzung der Volksmas-
140 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 578. 141 Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 422. 142 Eagleton: Ästhetik, 110. 143 Elmar Waibl: Ästhetik und Kunst von Pythagoras bis Freud. Wien 2009, 152. 144 Borchmeyer: Ästhetische und politische Autonomie, 280. 145 Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 422. – Zitat Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 568. 146 Vgl. Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 577; hierzu auch Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, 162f. 147 Dies geschah ganz bewusst vgl. hierzu ausführlich Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 418f. 148 Vgl. Berghahn: Mit dem Rücken zum Publikum, 217. 149 Vgl. Borchmeyer: Ästhetische und politische Autonomie, 279ff. 150 Berghahn: Mit dem Rücken zum Publikum, 209. 151 Ebd., 209. 152 Carsten Zelle: Von der Geschmacks- zur Schönheitsästhetik… und zurück zum Gefühl des Erhabenen. Kleines Plädoyer zur Dualisierung der Ästhetikgeschichte zwischen Aufklärung und Romantik. In: Neohelicon 19 (1992) 2, 113-133, hier: 127.
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sen“153 beschwörenden berühmten Versen des 1799 veröffentlichen Lieds von der Glocke: „Da werden Weiber zu Hyänen/ und treiben mit Entsetzen Scherz“ sichtbar wird.154 Seiner Ansicht nach war es „der wilde Despotismus der Triebe“, der durch den „Nachlaß der äußern Unterdrückung“155 sichtbar wurde und somit letztlich offenbarte, dass das Menschengeschlecht der vormundschaftlichen Gewalt noch nicht entwachsen ist, daß das liberale Regiment der Vernunft da noch zu frühe kommt, wo man kaum damit fertig wird, sich der brutalen Gewalt der Tierheit zu erwehren, und daß derjenige nicht reif ist zur bürgerlichen Freiheit, dem noch so vieles zur menschlichen fehlt.156
Die Revolution als der „Versuch des französischen Volkes, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen“157, also ein Versuch, der Vernunft die Gesetzgebung zu übertragen und die Menschen in Freiheit zu setzen,158 scheiterte folglich nicht politisch, sondern menschlich.159 „Der Moment war“, wie Schiller schrieb „der günstigste, aber er fand eine verderbte Generation, die ihn nicht wert war, und weder zu würdigen noch zu benutzen wusste.“160 Er zog daher den Schluss, dass man, bevor man dem Bürger eine Verfassung geben könne, vielmehr für die Verfassung den Bürger erschaffen müsse.161 Hierzu bedarf es der „Veredelung der Denkungsart“162, die einerseits durch die von der philosophischen Aufklärung bereits geleistete „Berichtigung der Begriffe“ und andererseits durch die „Reinigung der Gefühle“, i.S. einer „Veredelung der Gefühle“ und „sittliche[n] Reinigung des Willens“ erzielt werden soll.163 Die Handlung wird über die Empfindung bestimmt und daher ist die „ästhetische Kultur“ als „wirksamstes Instrument der Charakterbildung“ un-
153 Ebd., 127 154 Vgl. ebd., 127. 155 Friedrich Schiller: Briefe an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd.8, 491-555, hier: 502. 156 Ebd., 501. 157 Ebd. 158 Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 415. 159 Vgl. Zelle: Von der Geschmacks- zur Schönheitsästhetik, 127. 160 Schiller: Briefe an den Herzog von Augustenburg, 501. 161 Vgl. ebd., 504; hierzu auch Zelle: Von der Geschmacks- zur Schönheitsästhetik, 128; sowie ders.: Über die ästhetische Erziehung, 417. 162 Schiller: Briefe an den Herzog von Augustenburg, 505. 163 Ebd.
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abdingbar.164 Da nach Schillers Ansicht ästhetisches, moralphilosophisches und politisches Autonomieprinzip in einer Wechselwirkung zueinander stehen, soll somit nun die ästhetische Autonomie, die zugleich eine moralphilosophische ist, ein Vorbild der politischen werden (reziprok zu der Tatsache, dass sich der ästhetische vom politischen Autonomiebegriff herschreibt).165 Er positioniert also den „‘ästhetischen Staat‘ als Transitraum zwischen Natur- und Vernunftstaat“166. Die Ästhetik gewinnt, indem die ästhetische Autonomie dazu helfen soll, die durch die Revolution verfehlte politische zu realisieren,167 dadurch eine „nationalpädagogische Absicht“, dass sie zum „politischen Glaubensbekenntnis: ‚Durch die Schönheit zur Freiheit‘“168 avanciert. Es ist offensichtlich, dass sich dahinter der Versuch einer „Mängelplausibilisierung“169 verbirgt. Die Literatur soll über gesellschaftliche Sinndefizite hinwegtrösten und „Kompensation eines sonst Ermangelten“170 werden.171 Obwohl es schwer zu beweisen ist,172 darf doch davon ausgegangen werden, dass diesem Versuch seiner Intention nach bereits der nationalgeprägte Gedanke immanent ist, durch die „ästhetische Utopie“ eine Perspektive zu geben, um eine Revolution in Deutschland überflüssig zu ma-
164 Ebd. 165 Vgl. Borchmeyer: Ästhetische und politische Autonomie, 277 u. 281. 166 Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 419, 422 – zum Begriff des „ästhetischen Staates“ vgl. auch: Hans Robert Jauß: Kunst als Anti-Natur. Zur ästhetischen Wende nach 1789. In: Henning Krauß (Hg.): Folgen der Französischen Revolution. Frankfurt a. M. 1989, 162195; hier 163, sowie natürlich Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 673f. 167 Vgl. Borchmeyer: Ästhetische und politische Autonomie, 280 168 Berghahn: Mit dem Rücken zum Publikum, 217. 169 Christian Enzensberger: Literatur und Interesse. Eine politische Ästhetik. Mit zwei Beispielen aus der englischen Literatur. München/Wien 1977, Bd. 1, 53 (zitiert nach: Bräutigam: Konstitution und Destruktion ästhetischer Autonomie, 245). 170 Ebd. 171 Vgl. hierzu ausführlich Bräutigam: Konstitution und Destruktion ästhetischer Autonomie, 245ff. 172 Vgl. hierzu aber auch die Diskussion des diese These noch einmal aufgreifenden Berghahnschen Vortrags: Berghahn: Mit dem Rücken zum Publikum, 230f.
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chen.173 Er lag also nicht erst aufgrund der späteren, bereits skizzierten literarhistorischen Interpretation nahe.174 Die Ästhetik wird also als Mittel zum politischen Zweck situiert.175 Sie dient, indem das Ästhetische als „Übergang“176 fungiert, „als Stellvertretung“177, als „Mittel zum Zweck der Republik, die in der Französischen Revolution verspielt wurde“178. Die Ästhetik stellt auch in dieser Beziehung das „sinnliche[] Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit“179 dar. Entscheidende Bedeutung kommt in dieser Konzeption dem Geschmack zu. Schiller rehabilitiert die Kategorie des Geschmacks,180 indem er vorhergehende gesellschaftsästhetische Positionen aufgreift und jenseits der zu erfüllenden autonomieästhetischen Anforderungen an einer moralischen, „praktischen Rückwirkung“ auf den Einzelnen festhält.181 Er zielt auf eine „Wiedergewinnung der moralisch-praktischen Dimension und auf eine normative Anbindung des Geschmacks“182. Dabei umgeht er auf der Suche
173 Vgl. hierzu Klaus L. Berghahn: Ästhetische Reflexion als Utopie des Ästhetischen. In: Ders.: Schiller. Ansichten eines Idealisten. Frankfurt a. M. 1986, 125-155, insbes.: 149f.; nahe legen dies auch die Ausführungen Jauß: Kunst als Anti-Natur, 163ff. 174 Hierfür spricht z.B. auch die zwischen 1782 und 1784 von Schiller formulierte Nationaltheateridee zu der die ästhetischen Briefe im Vergleich große Parallelen aufweisen. 175 Vgl. Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 422. 176 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 563. 177 Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 422. 178 Ebd. 179 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 563; vgl. Zelle: Über die ästhetische Erziehung, 422. 180 Nach Brückner handelt es sich dabei nicht um ein Zurückgreifen auf vorkantische (geschmacksdidaktische) Traditionen, wie Amann es vorführt, sondern vielmehr um ein „vollkommen selbstverständliches Weiterführen“ der auch durch Kant nie unter- oder abgebrochenen Diskussion, angeregt durch neue Überlegungen von außerhalb dieser Diskussion (vgl. ausführlich Dominik Brückner: Geschmack. Untersuchungen zur Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert. Gleichzeitig ein Beitrag zur Lexikographie von Begriffswörtern. Berlin, New York 2003, 48ff.). 181 Wilhelm Amann: „Die stille Arbeit des Geschmacks“. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999, 170. – Ich beziehe mich bei meinen folgenden Ausführungen fast ausschließlich auf diese meiner Ansicht nach einzigartige Pionierarbeit zu diesem Thema. 182 Ebd., 97.
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nach einem „objectiven Princip des Geschmacks“183 das sich daraus ergebende erkenntniskritische Problem184. Zu diesem Zweck aktualisiert er Positionen der vorkritischen Geschmacksdebatte und wendet seine Geschmackskonzeption ins Anthropologische.185 Dadurch gelingt es ihm, Moralphilosophie und Gesellschaftsästhetik zusammenzuführen.186 Seine ästhetische Erziehung als „eine Erziehung zum Geschmack und zur Schönheit“187 begreift auch das Phänomen des gesellschaftlichen Umgangs als ästhetischen Gegenstand und erweitert somit die Vorstellung von schöner Kunst über den engen kunstästhetischen Bereich hinaus.188 Es gehört zu seinen erklärten Absichten, den „Umgang als ein Objekt der schönen Kunst zu betrachten“, um den „Grundsatz der Schönheit auf die Gesellschaft anzuwenden“189. „Der Umgang mit der Kunst soll“, so resümiert Amann treffend, „in eine Kunst des Umgangs übergehen“190. Geschmacks- bzw. Verhaltensideal bildet die Anmut „mit ihren fließenden, leichten Bewegungen und der darin zu entdeckenden Verbindung von Äußerem und Innerem“191. Zugleich avanciert sie aber auch zum „Kunstideal“.192 Hier wie dort beruhen ihr Verhalten und ihre Handlungen nur auf einer „erspürbaren moralischen Motivation, die sich selbst gar nicht mehr bewusst halten muss, sondern bereits völlig internalisiert ist“193. Dem Geschmack auf der Rezeptionsseite entspricht wiederum – hier greift Schiller auf einen gängigen poetologischen Topos der Aufklärung zurück194 – das Genie auf der Produktionsseite195 sowie der Stil als „produktionsäs-
183 Friedrich Schiller: An Bartholomäus Ludwig Fischenich, Jena 11. 2. 1793 (zitiert nach: Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, 38, 62, 97). 184 Die normative Instanz des guten Geschmacks ist nach Kant ja nur als ein untaugliches Prinzip nach Begriffen möglich (vgl. Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, 170). 185 Vgl. ausführlich Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, 97ff. 186 Vgl. ebd., 171. 187 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 634; vgl. Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, 99 (das hier verwendete Schiller Zitat gehört zu einer Anmerkung Schillers zum zwanzigsten und nicht – wie Amann angibt – zum einundzwanzigsten Brief). 188 Vgl. Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, 170. 189 Friedrich Schiller: An Christian Garve, Jena 1.1. 1794 (zitiert nach Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, 99). 190 Amann: Die stille Arbeit des Geschmacks, 100. 191 Ebd., 100; ausführlich 64ff. 192 Vgl. ebd., 100. 193 Ebd., 174. 194 Vgl. ebd., 172. 195 Vgl. ebd., 101f.; 172ff.
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thetische[r] Komplementärbegriff“196. Indem das Genie ein am Anmutsideal orientiertes Kunstwerk produziert, kann dessen Rezeption zur Geschmacksbildung beitragen. Diese wiederum kommt im gesellschaftlichen Umgang zur weiteren Entfaltung, weil sie in den „sozialen Habitus“ übergeht.197 Der Geschmack wird damit „zur Moralität in der äußeren Erscheinung“198, weshalb Geschmacksbildung den Menschen wiederum „für seine gesellschaftliche Position gesittet [macht]“199. In der Betonung der Intersubjektivität, durch die Kant die erneute Aufwertung der Ästhetik gelingt, offenbart sich der Geschmack als „sensus communis“200. Hierin liegt auch für Schiller, der sich gerade in diesem Punkt an Kant anlehnt, die enorme Wirkungsmacht des Geschmacks begründet. Er ist „sozialer Sinn“, da ohne die Gesellschaft Geschmack nicht möglich ist.201 Genau dieser „gesellige Charakter“ ist es, der nach Schiller „die Harmonie in die Gesellschaft“ bringt:202 „Nur die schöne Mitteilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht.“203 In der über den Geschmack verlaufenden Kommunikation wird die angestrebte Utopie also bereits vorweggenommen, da hierin nämlich die „menschliche Solidarität, die sich jedem gesellschaftlich entzweienden Elitedenken und Privileg widersetzt“204, deutlich zutage tritt: „Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, so weit der Geschmack regiert, und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet.“205 Hier nun wird endgültig verständlich, weshalb zur „Kompensation eines sonst Ermangelten“206, in diesem Fall der gescheiterten bzw. im Falle Deutschlands ausgebliebenen politischen Revolution, der Weg über die Kommunikation bzw. die Literatur als eigenes Kommunikationssystem geht. Im Vollzug des ästhetisch-utopischen Diskur-
196 Ebd., 173. 197 Ebd., 100, 174. 198 Brückner: Geschmack, 54f. – hier allerdings nicht auf Schiller bezogen. 199 Ebd. 55. 200 Ebd., 53. 201 Ebd.; in Anlehnung an Georg Kohler: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Auslegung von Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“. Berlin/New York, 261ff., 268. 202 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 674. 203 Ebd. 204 Eagleton: Ästhetik, 115. 205 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 675. 206 Christian Enzensberger: Literatur und Interesse, 53 (zitiert nach: Bräutigam: Konstitution und Destruktion ästhetischer Autonomie, 245).
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ses nämlich vollziehen sich bereits die angestrebten Ideale der französischen Revolution:207 die Liberté durch die Autonomisierung des Diskurses aus früheren Bevormundungen, die Egalité als explizit angesprochenes „Ideal der Gleichheit“208 durch den im Geschmack zutage tretenden „Gemeinsinn“209, sowie die Fraternité, indem die Menschen das Schöne „als Individuum und als Gattung zugleich, d.h. als Repräsentanten der Gattung“210 genießen und dadurch die Harmonie der Gesellschaft hergestellt wird. Kehren wir nach diesem Exkurs über die Ästhetik zurück zu den bereits zuvor skizzierten Überlegungen zum Literatursystem. Wir hatten dort zuletzt festgehalten, dass die Ästhetik als Reflexionstheorie und als Referenz für die Programmierung der Leitdifferenz diente. Diese – so können wir nun anschließen – bildete der Geschmack, der zum symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium bzw. Interaktionsmedium im bürgerlichen Sozialsystem Literatur arrivierte.211 Über den binären Schematismus „mit/ohne Geschmack“212 wurden alle Kommunikatbasen, also alle materiellen Kommunikationsmittel, in diesem Fall die literarischen Werke, ausselegiert, die „den systemspezifischen Bedingungen des Handelns und Kommunizierens adäquat waren“213, d.h. in diesem Fall mit ästhetischen Wertmaßstäben im o.g. sittlich-moralischen Sinn vereinbar waren.214 Diese Selektion geschah über Kommunikationssysteme, deren Aufgabe es war, innerhalb des autonomen Systems die kontingente Selektion in eine plausible zu verwandeln und zu motivieren. Hierbei wurde also auch – und dies stellt gleichsam die Rückführung zu bereits Gesagtem her – Kontingenz in Kontinuität und sogar in Entelechie verwandelt. Selbstverständlich werden in der Autonomisierung des Systems die Werte erst ausdifferenziert, was wiederum bedeutet, dass innerhalb der Kommunikationssysteme bzw. des jeweiligen Kommunikations-
207 Auf die Verwirklichung der Ideale der Französischen Revolution im ästhetischen Staat scheint, wenn auch nicht explizit, auch Eagleton anzuspielen: vgl. Eagleton: Ästhetik, 115f. 208 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, 676. 209 Ebd., 675. 210 Ebd. 211 Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems, 226. 212 Ebd., 226. – Jäger übernimmt diese Position direkt von Luhmann: vgl. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, 160f. 213 Schmidt: Die Selbstorganisation des Literatursystems, 428. 214 Vgl. ähnlich auch Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems, 226.
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systems Widersprüche auftreten können und dürfen – ja sogar müssen, um Relationierungen überhaupt erst bewirken und Identitäten (in unserem Fall vor allem auch die der Trägergruppe, also des Bürgertums) konturieren zu können.215 Die Ausdifferenzierung erst stabilisiert das System. Um die Identität und die jeweils selektierten Sinnvarianten zu legitimieren, wird jener für uns so wichtige folgenreiche Prozess in Gang gesetzt: die Kanonisierung. Die Werte, die zur Ausdifferenzierung und Stabilisierung des Systems gewonnen werden, wurden in die Geschichte verlängert, d.h. es wurden „zielbestimmte Geschichtsverlaufserzählungen“216 als nachträgliche Selbstbegründungen vorgenommen. Hierbei geschieht das, was bereits Maurice Halbwachs für die kollektive Gedächtnisarbeit einer Gruppe mehrfach konstatierte: „die Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten“217. Die ‚Gegebenheit‘ ist in diesem Fall, es sei noch einmal wiederholt, der sich in der Autonomisierung des Subsystems und Ausbildung der Leitdifferenzen ausdrückende Wunsch der bürgerlichen Trägerschicht nach nationaler Einheit bzw. der erhofften daraus resultierenden Machtpartizipation218, vor allem die sich über die Leitdifferenzen motivierenden, für die Gruppe identitätsbildenden und -stabilisierenden Werte. Bei dieser Legitimierung der (sich erst ausdifferenzierenden) Selbstdefinition kommt es nun zu jenem Phänomen, das eingangs bereits beschrieben wurde: Stagnation und Dynamik gehen Hand in Hand. Die Tradition wird wie im patristischen Kanon stillgelegt, um die weitere
215 Dieser Vorgang entspricht dem der gedanklichen Grenzziehung, worauf ich an anderer Stelle mit Hinweis auf Überlegungen des Historikers Karl-Heinz Metz bereits hingewiesen habe (vgl. Grube: Die Grenzen der Kanonisierung, 57f.), der u.a. schrieb: „Grenzen bestimmen Identität durch Abgrenzung. Aber Grenzen sind selbst Definitionen. Wer definiert besitzt Macht.“ (Metz: Geschichtsschreibung und öffentliches Bewusstsein, 442) Aus der Geschichte (um kein Beispiel für die Geschichte, i.S. der Geschichtsschreibung zu nehmen) ließe sich etwa das Konzil von Trient anführen, bei dem die katholische Kirche sich, über die Abgrenzung zu den ‚Protestanten‘zum ersten Mal selbst definierte. 216 Plumpe: Epochen moderner Literatur, 42. 217 Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, 55. 218 Schließt dies nicht den Gedanken der Kontingenz zum Bestehenden ein und erfüllt nicht gerade damit Literatur für die Trägerschicht des Systems die soziale Funktion, einen Kontingenzerweis für die Gesellschaft zu erbringen? Wenn ja, so wäre Luhmann trotz aller Einwände (vgl. etwa Plumpe: Epochen moderner Literatur, 54f.) doch insofern wieder zuzustimmen, dass die „Funktion der Kunst in der Konfrontation der (jedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Version derselben Realität“ liegt (Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, 144f.)
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Produktion, wie beim rhetorischen Kanon, in bestimmte Bahnen zu lenken (und sie schließlich wieder durch die Leitdifferenz zu selegieren). Dies wiederum bereitet die Rekonstruktion der Geschichte für eine spätere Zeit vor,219 durch die es letztlich nach der Ausdifferenzierung zu einer Verfestigung des Kanons kommt, indem die Selektion „als Ausgangspunkt einer weiteren [Selektion] zugrunde gelegt“220 wird.
2.4 M ODIFIKATION UND N EUSTRUKTURIERUNG L ITERATURGESCHICHTE
DER
Sehen wir uns diese beschriebene Entwicklung noch einmal etwas konkreter an und zeichnen sie am Beispiel der Literaturgeschichtsschreibung nach. Wie Klaus Weimar in einer vergleichenden Studie nachgewiesen hat, lässt sich in der Programmatik und Charakteristik von Poesie in Gottscheds Versuch einer kritischen Dichtkunst (1730), Breitingers Critische Dichtkunst (1740) und Baumgartens Aesthetika (1750) eine Verschiebung vom produktiven Rezipienten zum ‚reinen‘ Rezipienten beobachten.221 Seinen Ausführungen nach „verwandelte“ sich von Gottsched zu Breitinger, „[d]er ‘Blick‘ auf ein und dasselbe Ding ‚Text‘“ dahingehend, dass sich die Auffassung vom Wesen der Poesie vom produktionsorientierten Postulat der „Nachahmung der Natur“222 zum rezeptionsorientierten Postulat des „Ergetzen[s]“ verschob.223 Der poetische Text, in Gottscheds Definition noch ganz dem rhetorischen Zweck verpflichtet, wurde bei Breitinger erstmals in seiner „Doppelnatur, sowohl [als] Produkt des Schreibers als auch zugleich [als] Objekt des Lesers“ erkannt.224 Diese implizite grundsätzliche Unterscheidung zwischen „Text des Lesers“ und „Produkt des Schreibers“ führte in der Folge zu einer Radikalisierung und damit zu einer „Trennung des Lesers vom Schreiber“.225 In Baumgartens Aesthetika, einer „Dichtungslehre (Poetik) für nicht
219 Halbwachs bereits zitierter Satz „[Die] Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten“ setzt sich nämlich wie folgt fort: „und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist“ (vgl. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, 55). 220 Plumpe: Epochen moderner Literatur, 40. 221 Vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 56ff. 222 Ebd., 59. 223 Ebd., 66. 224 Ebd. 225 Ebd.
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mehr dichtende Leser“226, in der „die Gleichsetzung ‚Poesie = Schönheit‘“227 bzw. „‚Poesie = Erkenntnis‘“228 erfolgte, löste sich schließlich der poetische Text deutlich „aus der immerwährenden Zirkulation von Poet zu Poet heraus“ und avancierte „zum Gebrauchsgegenstand für einen neuen Nur-Leser“229. Er wurde folglich nicht mehr „als Gegenstand der Bearbeitung und Nacheiferung“230 thematisiert, sondern als „Gegenstand der theoretischen Erkenntnis und der Kritik“231 und änderte so auch seinen „Exempelcharakter: aus einem nacheifernd zu erreichenden Muster [wurde] er zum definitiv Erreichten“232. Diese ebenfalls in Zusammenhang mit der bereits beschriebenen Autonomisierung des Literatursystems zu stellende Entwicklung schlug sich auch auf die Literarhistoriographie nieder: Die „Litterärgeschichten“ mit ihrer meist noch aufklärerisch kompendiösen, das Material lediglich aggregierenden und ihrer gattungssystematischen bzw. oft nur chronologischen Darstellung233 hatten noch ganz im kanonischrhetorischen Sinn (also mit der Zielvorgabe einer imitatio bzw. aemulatio) die Funktion, „eine Gemäldegalerie derjenigen gelehrten Könner zu sein, an deren Kunst man sich bei eigenem poetischen Tun nacheifernd zu orientieren hatte“234. Wie in den Lehrbüchern der Poetik, so verzeichneten die Litterärhistorien üblicherweise nur die als vorbildlich anerkannten Meister ohne jeden Anspruch auf literaturgeschichtliche Information oder gar Vollständigkeit.235 Der Exempelcharakter der zitierten poetischen Texte lag lediglich im „nacheifernd zu erreichenden Muster“236. Durch die nun erfolgende „Umschaltung der Thematisierungsweise (‚Text als Objekt des Lesers‘ statt ‚Text als Produkt des Schreibers‘)“237 waren diese chrestomatisch thesaurierten Dichterkataloge, die die faktische Ordnung der Disziplinen zu propädeutischen Zwecken abbildeten und daher die Po-
226 Ebd., 73. 227 Ebd., 72. 228 Ebd., 69. 229 Ebd., 74. 230 Ebd., 66. 231 Ebd., 67. 232 Ebd., 102. 233 Vgl. hierzu ebd., 107f. sowie Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 83ff. 234 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 117. 235 Ebd., 117f. 236 Ebd., 102. 237 Ebd., 126.
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esie an ihrem angestammten Ort neben der Rhetorik ließen,238 „am Ende ihrer Karriere angelangt“239. Baumgarten hatte mit seiner Ästhetik aber nicht nur eine endgültige Verschiebung auf der Diskursebene bewirkt – nämlich die Verschiebung von der autor- zur leserorientierten Auffassung von Text –, sondern gleichsam auch die Kriterien und Kategorien an die Hand gegeben, die diese im Folgenden bestimmten. Wie bereits angedeutet, versuchte er der sinnlichen Erkenntnis gegenüber der intellektuellen ein Eigenrecht einzuräumen und zu sichern (s.o.). Ziel dieser neuen Wissenschaft war die „Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher.“240 Als Vollkommenheit galt ihm die Schönheit241 im Sinne „einer die Einheit eines Ganzen konstituierenden Übereinstimmung einer Mannigfaltigkeit“242. Als „sinnliche[s] Beurteilungsvermögen“243 fungierte der Geschmack, dessen Gegenstand das Schöne wurde. Die Bestimmung des Schönen orientierte sich an der Vollkommenheit sinnlicher Vergegenwärtigung, über die der Geschmack entschied.244 In der Nachfolge Baumgartens und im selben Atemzug, in dem die Ästhetik unter dem Namen „Theorie der schönen Wissenschaften“ die Nachfolge der Deutschen Rhetorik und der Poetikkurse an den Universitäten antrat,245 wirkte das Konzept des Geschmacks, im Sinne des „gute[n] und reine[n] Geschmack[s]“246 auch auf die Literaturgeschichtsschreibung und ermöglichte hier erstmals eine Modifikation und daraus resultierend eine Neustrukturierung, die das einlöste, was schon von den Zeitgenossen (hier in der Stimme Gervinus‘) an den Litterärhistorien kritisiert worden war:
238 Vgl. ebd., 117f. 239 Ebd., 319. 240 „Aesthetices fines est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis, haec autem est pulchritudo“ (Baumgarten: Theoretische Ästhetik, 10). 241 In der Etablierung des Schönen als eigenständiger Erkenntnisweise im Gegensatz zu aller vorherigen Schultradition, die das Schöne als Sache des Intellekts begriff, (vgl. Günther Pöltner: Philosophische Ästhetik, Stuttgart 2008, 85) liegt die eigentliche Innovation Baumgartens. 242 Ebd., 82. 243 Ebd., 85. 244 Vgl. ebd., 82. 245 Vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 77ff. 246 Ebd., 128.
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Diese Bücher mögen allerhand Verdienste haben, allein geschichtliche haben sie fast gar keine. Sie verfolgen chronologisch die verschiedenen Dichtungsarten, sie setzen in chronologischer Reihe die Schriftsteller hintereinander, wie andere die Buchtitel, und charakterisieren dann, wie es auch sei, Dichter und Dichtung. Das aber ist keine Geschichte; es ist kaum das Gerippe zu einer Geschichte.247
Die Einführung des Konzepts ‚guter Geschmack‘ ermöglichte nun erstmals die Transformation des bisherigen Titel- und Namenskatalogs der Litterärhistorie in ein „Erzählkontinuum“248. Wie Klaus Weimar mit Blick auf die Kurze Geschichte der deutschen Dichtkunst von Christoph Daniel Ebeling darstellt, stiftete [d]er gute Geschmack [..] Zusammenhang, indem er im Erzählen der Geschichte wie in der erzählten Geschichte eine Rolle spielt[e]. Auf der Handlungsebene (bei den Schreibern) [kam] er vor als das beständige Streitsubjekt über die Lebenszeit der wechselnden Akteure hinaus und als das Telos der Geschichte; auf der Erzählebene (bei den Lesern) [war] er der Standpunkt des Erzählers und das Kriterium zur Beurteilung und Plazierung [sic!] der Werke und Taten innerhalb der Geschichte.249
Indem der gute Geschmack zum „unsichtbare[n] eigentliche[n] Held[en]“250 und damit zum eigentlichen Subjekt der Literaturgeschichte erhoben wurde, wurde also erstmals ein Arrangement möglich, durch das der Diskurs über Literatur eine narrative Struktur annehmen und sich somit in eine zusammenhängende Geschichte wandeln konnte. Erst die Einführung des Subjekts ‚Geschmack‘ nämlich ermöglichte es, die zuvor noch „unverbundene[n] Aggregate“251 in eine(r) „Ordnung“ zu denken,252 die die beliebigen Teile, in diesem Fall die literarischen Texte, als Teile der Geschichte dieses Subjekts erkennen ließ und sie als „Ereignisse“253 dieser Geschichte miteinander verband.254 Literaturgeschichte bzw. Literaturgeschichtsschreibung im späteren Sinne als ‚Ordnung‘, ‚Herstel-
247 Gervinus: Prinzipien einer deutschen, 4. 248 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 128. 249 Ebd. 250 Ebd. 251 Jürgen Fohrmann: Literaturgeschichtsschreibung als Darstellung von Zusammenhang. In: DVjs Sonderheft 1987, 174-187, 182. 252 Ebd. 253 Begriff auch bei Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 275. 254 Vgl. hierzu auch die Überlegungen Weimars: Ebd., 128.
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lung‘ und ‚Nachweis‘ von „Zusammenhang“255 wurde dadurch im eigentlichen Sinne erst möglich.256 Indem, wie im o.g. von Weimar beschriebenen Falle, in der Literaturgeschichte Eblings, das gewählte Geschichtssubjekt zudem eine „zirkulär-äquivoke Gleichsetzung von Geschichtstelos und Urteilsnorm“257 vollzieht, erhält die Geschichte zugleich eine Bewegung und Richtung, die ‚von hinten motiviert‘258 ist. Indem der Erzähler nämlich bereits am Ziel der Bewegung steht, [..] kann er die Geschichte teleologisch (oder fast genealogisch) erzählen, er kann sie als einen zielgerichteten Zusammenhang organisieren, in dem die einzelnen, einander ablösenden Autoren fast nur Funktionsträger sind.259
Wie Weimar weiter schreibt ist die Reihenfolge von deren Auftreten [sc. die Autoren; C.G.] innerhalb der Erzählung demzufolge […] nicht allein durch die Chronologie bestimmt, sondern außerdem noch durch ihren Rang. In jedem Abschnitt erscheinen zuerst die bedeutenden Autoren, denen dann irgendwann die poetae minores angeschlossen werden; doch beide Gruppen haben sich einer doppelten Platzanweisung zu fügen. Einerseits und zuerst wird der Abstand einer poetischen oder kritischen Tat von der jeweils herrschenden Mode gemessen (d.h. ihr Fortschritt in Richtung auf den guten Geschmack), andererseits als Ergänzung dazu ihr immer noch verbleibender Abstand vom guten Geschmack (d.h. ihre Distanz von der allzeit gültigen Norm und vom Ziel der Geschichte bzw. vom Standpunkt des Erzählers).260
Das hier unter dem Gesichtspunkt des guten Geschmacks vorgenommene Ranking der Autoren bzw. ihrer Werke entspricht in seinem Grundzug erstmals dem, was uns fortan als literaturgeschichtliche Kanonisierung begegnen wird. Im Gegensatz zu dem zuvor in der Litterärhistorie entwickelten Kanon, der mit sei-
255 Vgl. Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur. Bd. 4, Leipzig ²1840, zitiert bei Fohrmann: Literaturgeschichtsschreibung, 184. 256 Weshalb Klaus Weimar im Zusammenhang mit der „Geschichte des Geschmacks“ von der „Literaturgeschichte neuen Stils“ spricht (vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 125). 257 Ebd., 290 – die Aussage bezieht sich dort allerdings auf die Literaturgeschichte Ludwig Wachlers. Zu seinen Ausführungen vgl. ebd., 129. 258 Vgl. ebd., 323. 259 Ebd.,129. 260 Ebd.
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nem Katalog von Autoren und Werken lediglich der Rhetorik und dem Zwecke der aemulatio verpflichtet war, handelt es sich hier um eine über ein qualitatives (Rezeptions-)Kriterium, das zugleich als Kommunikationsmedium (im Sinne Luhmanns) dient,261 getroffene Auswahl poetischer Texte und ihrer Verfasser, die unter dem spezifischen Blickwinkel als die vollkommensten anerkannt (bzw. hierarchisch nachgeordnet) und durch die aus der Geschichte teleologisch und damit als evolutionär262 herausgelesene Entwicklung a posteriori historisch legitimiert werden. Wie Klaus Weimar nachweist, setzte sich diese neue, kontinuierlich erzählende Literaturgeschichte allerdings vorderhand an den Universitäten zunächst nicht durch.263 Der erzählerische Zusammenhang wurde noch einmal zugunsten anderer Strukturprinzipien aufgegeben.264 Der Grund lag wohl darin, dass man einen „bestimmten Geschmack [Kursivierung C.G.]“265 als „archimedischen Punkt“266 einer kritischen Literaturgeschichte in Frage stellte. Ein Bewusstsein für dieses Problem hatte u.a. bereits Johann Gottfried Herder entwickelt, dessen Einsicht, dass jede Zeit ihren eigenen Geschmack habe, schließlich zum Postulat für die Literaturgeschichtsschreibung wurde. Deren Aufgabe wurde nun immer stärker darin erkannt, sich in den Geist eines Zeitalters zu versetzen, in eine Denkart einzufühlen, in einer fremden Welt einheimisch zu werden etc.267 So fordert etwa auch Leonhard Meister in seinen Beyträgen zur Geschichte der teutschen Sprache und National-Litteratur: Der litterarische Geschichtsschreiber sollte nicht nur eigentliche Historie und Kritik, sondern von Jahrhundert zu Jahrhundert, die Bücher eines Zeitraums selber zu rath ziehn, um so vermittelst Beobachtung des Innhaltes, des Styls, der Lehrart den jedmaligen Genius der Zeiten gleichsam aus der Gruft zu erwecken.268
261 Vgl. hierzu auch Fohrmann: Literaturgeschichtsschreibung, 182. 262 Der Begriff sei an dieser Stelle erlaubt, auch wenn er in Bezug auf die dargestellte Zeit anachronistisch anmuten sollte. 263 Vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 131. 264 Vgl. ebd. 265 Ebd., 132. 266 Ebd., 133. – Weimar bezieht sich mit diesem Begriff auf Ausführungen Herders. 267 Vgl. hierzu ausführlich ebd., 132f. 268 [Leonhard Meister:] Beyträge zur Geschichte der teutschen Sprache und NationalLitteratur. Erster Theil. London 1777, IV (zitiert nach: Hinrich C. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist. Zur Nationalisierung der Epochentendenz um 1800. In: DVjs 1987 SH, 188-215, 197).
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Es ist das „Prinzip historischer Individualität“269, das – in Ansätzen die Bewegung des ‚Historismus‘ hierbei vorwegnehmend – 270 erstmals bei Meister zum Tragen kommt, und ein Konzept wie das der Ebelingschen Literaturgeschichte sowie das für diese maßgebliche Prinzip – die teleologische Vorstellung von ‚Fortschritt und Vervollkommnung‘ – gleichsam verbietet und stattdessen ein Denken in den Dimensionen ‚Veränderung und Entwicklung‘ fordert.271 Nun hatte sich, wie gezeigt, durch die Erfahrung der Französischen Revolution und des damit einhergehenden Bruchs mit der Tradition ein neues Bewusstsein und damit ein neues historisches Denken,272 nämlich das in Epochen, etabliert,273 das dem o.g. Denken in den Dimensionen ‚Veränderungen und Entwicklung‘ Vorschub leistete. Der Epochenbegriff nämlich, der bisher – entsprechend seiner Etymologie – einen Fixpunkt in der Zeit bezeichnete, der deren „Bewegung stillstellt und von dem aus sie berechnet werden kann“274, wurde nun „aus der mit seinem bisherigen Gebrauch verbundenen Statik herausgerissen“ und „vom Anfang seines geschichtlichen Geschehens in dieses selbst verlegt“275, wodurch die Zeit gleichsam verräumlicht wurde.276 Diese Verräumlichung der Zeit kam dem o.g. ‚Prinzip historischer Individualität‘ wesentlich entgegen, indem die durch die das epochale Ereignis bewirkte Zäsur, die durch sie entstehenden Zeiträume als Differenz denken, erkennen, spezifizieren und definieren half. Erkennbar wird dies am allmählich zum Modebegriff277 werdenden Begriff des „Zeitgeists“ bzw. „Geists der Zeit“. Ihn hatte Johann Gottfried Herder eingeführt und etabliert, wobei es sich bei diesem Begriff um eine Übersetzung von
269 Seeba: Zeitgeist, 197. 270 Vgl. hierzu auch Emil Staiger: Geist und Zeitgeist. Drei Betrachtungen der kulturellen Lage der Gegenwart. Zürich/Freiburg i. Br. ²1964, 12. 271 Vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 134. 272 Vgl. hierzu Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Hamburg 71978, 220. 273 Vgl. Justus Fetscher: s.v. „Zeitalter/Epoche“. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 6, Stuttgart 2005, 774-810, hier: 798, 802. 274 Manfred Riedel: s.v. „Epoche, Epochenbewußtsein“ In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2, Darmstadt 2004, 596-599, hier 596f. 275 Ebd., 597. 276 Vgl. hierzu auch die Wortgeschichte von Epoche: Michael Titzmann: s.v. „Epoche“. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin/New York 1997, Bd.1, 476-480, hier 478. 277 Vgl. Fetscher: Zeitalter/Epoche, 798.
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Christian Adolf Klotz‘ „genius seculi“ handelt278 und zunächst genau das bezeichnete, was Klotz darunter verstanden wissen wollte: nämlich die „Eigenart einer bestimmten Epoche“.279 Er diente fortan „als zeitbedingte Metapher historiographischer Konstitution“280 dazu, die „Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit“ der Epoche hervorzuheben und damit ihre „Identität“ zu charakterisieren.281 Zugleich avancierte der Begriff des ‚Zeitgeistes‘ zur Diagnostik des Zeitgemäßen,282 wurde also zum (kultur-)kritischen Begriff.283 Indem der Geist der Gegenwart befragt wurde, eröffnete er zugleich „der historischen Perspektive einen Handlungsspielraum für die Zukunft“284. Dies führte ab den 1830er Jah-
278 Vgl. hierzu Hermann Joseph Hiery: Zur Einleitung: Der Historiker und der Zeitgeist. In: Ders.: Der Zeitgeist und die Historie. Dettelbach 2001, 1-6, hier 1. 279 Hiery: Der Historiker und der Zeitgeist, 1. – Es sei darauf verwiesen, dass gelegentlich auch auf Voltaire und dessen Begriff des „génie d’un Siècle“ als Vorläufer des „Geist der Zeit“-Begriffs bei Herder verwiesen wird (vgl. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 207f.; sowie die dort ebenfalls angegebenen Aufsätze: Ders.: Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung. In: Storia della Storiografia. Rivista Internazionale 8 (1985), 50-72 sowie Erich Hassinger: Zur Genesis von Herders Historismus. In: DVjs 53 (1979), 251-274). Es muss letztlich unentscheidbar bleiben, welchen Begriff Herder mit dem „Geist der Zeit“ ins Deutsche übertragen hat. Zeitlich wäre als Vorprägung beides möglich: die Verwendung im Journal meiner Reise im Jahre 1769 spräche eher für Voltaire, die Auseinandersetzung mit Klotz in seinen „Kritischen Wäldern“ im gleichen Jahr könnte auch auf Klotz 1760 geprägten Begriff verweisen. – Übrigens ist es auch hier kein Zufall, dass Herder das Phänomen, obwohl es ihn schon vorher beschäftigt, erst nach der Französischen Revolution auf den Begriff bringt (vgl. hierzu auch: Thomas Würtenberger: Zeitgeist und Recht. Tübingen ²1991, 20). 280 Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 190. 281 Ralf Konersmann: s.v. „Zeitgeist“. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12: W-Z, Darmstadt 2004, 1266-1270, hier 1266; sowie Hans-Joachim Schoeps: Was ist und was will die Geistesgeschichte. Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung. Göttingen 1959, 13. 282 Vgl. Fetscher: Zeitalter/Epoche, 798; sowie Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 191. – Als solcher Begriff ist er allerdings auch schon bei Herder angelegt: Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. 7: Briefe zu Beförderung der Humanität. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a. M. 1991, 85-89. Vgl. hierzu auch: Karl Löwiths, wie Seeba beweist, noch immer aktuelle Ausführungen: Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, 221. 283 Konersmann: Zeitgeist, 1267. 284 Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 191.
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ren285, durch die progressive und i.S. einer „‘Ver-Weltlichung‘ des geistigen Prinzips“286 vorgenommenen Auslegung der geschichtsphilosophischen Überlegungen Hegels durch dessen Schüler, dazu, den Begriff als „Parole des Fortschritts“287 zu verwenden und darunter vor allem auch jene ‚Tendenzen‘ zu fassen, die den epochalen Transformationsprozess mit bewirken und durch ihn zur Ausprägung kommen (sollen).288 In seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen hatte Hegel von Herder den Gedanken des Zeitgeistes i.S. eines individuellen Interieurs eines Zeitraums bzw. der Signatur einer Epoche übernommen.289 In seiner Bemühung, in der Natur die Objektivität der Vernunft zu erkennen290 und somit wieder eine „Versöhnung mit der Wirklichkeit“291 zu erwirken, versuchte Hegel auch hier nun den Nachweis zu erbringen, „daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“292. Seiner Einschätzung nach ließ die lineare Fortschreibung sich
285 Diese bewirkten aufgrund der Julirevolution und aufgrund des Ablebens der den „Geist der Zeiten“ so lange bestimmenden Repräsentanten dieses Geistes (Hegel, Goethe, Schleiermacher, Humboldt) ein neues Bewusstsein des Zeitenwechsels (vgl. hierzu Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart ²2010, 501; sowie Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 191). 286 Jaeschke: Hegel-Handbuch, 502. 287 Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, 220. 288 Vgl. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 195. – Der Doppelcharakter ist dem Begriff bereits in Ansätzen bei Herder immanent: vgl. etwa: Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. 7: Briefe zu Beförderung der Humanität. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am. M. 1991, 85-89. Vgl. hierzu auch: Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, 221. 289 Vgl. Schoeps: Was ist und was will die Geistesgeschichte, 16; Friedrich Kreppel: Das Problem Zeitgeist. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 20 (1968), 97-112, hier: 102. 290 Vgl. Herbert Schnädelbach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung. Hamburg ³2007, 152. 291 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, 27. 292 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, 20. – hierzu auch Wolfgang Bialas: Das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie: Hegels Geschichtsphilosophie zwischen historischem Erfahrungsraum und utopischem Erwartungs-
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gleichförmig tradierender historischer Zustände historische Erinnerung ins Leere laufen.293 Ihm aber ging es gerade darum, den Zusammenhang294 in der Geschichte zu suchen und das „innere[] Gesetz [auszumachen], das geschichtliche Notwendigkeit bildet und bestimmt“295. Er wollte hierdurch gleichsam ein sich „Offenbaren des Geistes“, der die ursprüngliche Einheit und damit die „Wahrheit“296 bildete nachweisen. 297 Deshalb griff er den Gedanken Herders auf,298 erweiterte ihn aber um seine eigenen Vorstellungen. Er interpretierte nun seinerseits Geschichte als sich entäußernden Geist, als „Auslegung des Geistes in der Zeit“299. Dadurch bezeichnete das, was für Herder noch „Geist der Zeit“ war, bei Hegel nun nur noch die einzelnen „Zweige eines Hauptstammes“300, den „Geist einer Zeit [Kursivierung C.G.]“301, während die „wesentliche Kategorie […] die Einheit, der innere Zusammenhang aller dieser verschiedenen Gestaltungen“302, der von ihm auszumachende eigentliche „Geist der Zeit“ war. Diese Einheit galt es über das allein zugängliche Besondere, eben jenen „substantielle[n] Geist“ und seinen jeweils „bestimmten weltlichen Inhalt“303, also den „Geist einer Zeit“
horizont. In: Wolfgang Küttler u.a. (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 3: Die Epoche der Historisierung. Frankfurt a. M. 1997, 29-44, hier: 31. 293 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 84. – hierzu ebenfalls: Bialas: Das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie, 38. 294 Im Sinne eines logischen Auseinanderentwickelns, vgl. hierzu Bialas: Das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie, 35. 295 Kreppel: Das Problem Zeitgeist, 101. 296 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke Bd. 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, 29; vgl. hierzu auch: Schnädelbach: Hegel, 114. 297 Vgl. Kreppel: Das Problem Zeitgeist, 107. 298 Vgl. hierzu nochmals Kreppel: Das Problem Zeitgeist, 101. 299 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, 96f. 300 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg ³1959, 148. 301 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 18: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, 74. 302 Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie, 148. 303 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 74.
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zu erkennen,304 und von dort aus darüber hinaus die „Entwicklung des Geistes“ als „ein[en] Fortgang, – ein Prinzip, eine Idee, ein[en] Charakter, der sich in den verschiedensten Gestaltungen ausspricht“305 zu entdecken. Geschichte war also für Hegel „das wissende, sich vermittelnde Werden des Geistes“306, hatte folglich durch die Vorstellung des zu sich selbst kommenden Geistes eine Gerichtetheit und unterlief damit (ähnlich wie jetzt die ewige Tiefendimension die zeitliche Oberfläche des erweiterten „Geist der Zeit“-Begriffs unterlief) in gewisser Weise die im Begriff des Zeitgeists von Herder entwickelte Eigenwertslehre, mit der dieser im Beweis der Eigenständigkeit einer unbegrenzten Zahl von Geschichtskreisen die Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärung kritisiert hatte.307 Zugleich waren die sich im Gedanken des Zeitgeists zum Ausdruck kommenden historischen Kräfte und Tendenzen, die über die Brüche und Zäsuren, die die Kontinuität historisch gleichförmiger Entwicklung unterbrachen, auszumachen waren, und die das „Wissen des Substantiellen“ 308 der zwischen ihnen liegenden Zeitabschnitte bündeln halfen, notwendige Voraussetzung, um die sich im Fluss befindende Zeit in Gedanken zu fassen309 und „aus der Distanz welthistorischer Draufsicht die auseinanderstrebenden Entwicklungen wieder in einen einheitlichen Sinn- und Interpretationszusammenhang einzubinden“310. Dieser stellte sich als ein auseinander hervorgehender dar; in ihm ließ sich über die Vorstellung der Stufung der Epochen der darin selbst durchsetzende Geist als „allgemeine[r] Endzweck der Welt“ erkennen.311 Genau in diesem Sinn definierte Hegel schließlich auch den „Geist der Zeit“ als „die bestimmte Stufe der Bildung des Geistes in einer Zeit, welche die nächste Ursache (ihren Grund) in der vorhergehenden Stufe, überhaupt aber in einer Form der Idee hat“312. Am Ende seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie forderte Hegel dazu auf, „den Geist der Zeit, der in uns natürlich ist, zu ergreifen und aus seiner Natürlichkeit die Verschlossenheit, Leblosigkeit hervor an den Tag zu
304 Vgl. Kreppel: Das Problem Zeitgeist, 107. 305 Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie, 148. 306 Kreppel: Das Problem Zeitgeist, 106. 307 Zu Herders Intention vgl. Kreppel: Das Problem Zeitgeist, 99. 308 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 74. 309 Vgl. Erhard Wiersing: Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte. Paderborn u.a. 2007, 323. 310 Bialas: Das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie, 32. 311 Wiersing: Geschichte des historischen Denkens, 323. 312 Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie, 154f.
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ziehen und – jeder an seinem Ort – mit Bewusstsein an den Tag zu bringen.“313 Hegel selbst analysierte seine Zeit als die eines gesellschaftlichen Umbruchs und des Übergangs. So bekannte er in einem Hauptwerk Phänomenologie des Geistes: Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriff, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. […] [S]o reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Bauens seiner vorhergehenden Welt nach dem anderen auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.314
Diese Erfahrung des Zeitenwechsels verstärkte sich ab 1830 noch einmal insbesondere durch die Julirevolution315 und führte bei Hegels Schülern zur erwähnten Radikalisierung. „Während aber Hegel“, wie Karl Löwith schreibt aus dem Umstand, daß keine Theorie ihre Zeit überschreite, eine radikale Folgerung gegen das vermeintliche „Sollen“ zog und es ablehnte, im „weichen Element“ des Meinens eine Welt zu erbauen, die nicht ist, aber sein soll, haben sich seine Schüler auf Grund derselben Identität von Geist und Zeit, aber im Blick auf die Zukunft, umgekehrt auf das Seinsollen versteift […]316
Sich auf der Schwelle zwischen alter und neuer Zeit glaubend, versuchten sie also durch die Reflexion auf die Vergangenheit die Tendenzen der Zukunft herbei-
313 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 19: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, 692 (zitiert auch bei Kreppel: Das Problem Zeitgeist, 112). 314 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, 18f. (zitiert nach: Bialas: Das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie, 32). 315 Vgl. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 195. 316 Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, 98.
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zuzwingen,317 indem sie über das geschichtsdeutende Entwicklungsmodell Hegels und dessen Zeitgeistbegriff beurteilten, welche Epochentendenzen zeitgemäß, d.h. im Rahmen ihres progressiven Geschichtsbild zukunftsträchtig seien.318 Nun stellte sich historische Erinnerung als Aufgabe bei Hegel überhaupt erst durch die Institutionalisierung und Verrechtlichung von Gemeinwesen und der damit einhergehenden Verunsicherung ein, die das kulturelle Bedürfnis nach historischer Absicherung, nach Einbindung in ein Kontinuum von Traditionen hervorrief.319 Geschichtsschreibung war also von Anfang an „identitätsbildende Mobilisierung“320 eines Staates, der überhaupt erst „einen Inhalt herbei[führte], der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, sondern sie selbst mit erzeugt“321. Und da bei Hegel, ebenso wie bei Herder, der Zeitgeist mit dem Volksgeist nahezu identisch war,322 verwundert es nicht, dass die Junghegelianer die Zukunft, die sie geradezu herbeischreiben zu können glaubten, wiederum in der nationalen Idee sahen.323 Die Literaturgeschichte war für diese Art der Geschichtsschreibung natürlich in besonderer Weise prädestiniert, da man hier, wie bereits an anderer Stelle gezeigt, eine „geistige Revolution“324 konstruieren konnte, die man zur politischen Revolution Frankreichs in Konkurrenz setzen325 und gleichzeitig in ihrer Zeitgeisttendenz als geschichtliche Vorstufe zur politischen Vereinigung darstellen konnte. Bestes und prominentestes Beispiel ist zunächst auch hier wieder Gervinus‘ 1835 erstmals erschienene Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, in der er den von Karl Rosenkranz in seiner Geschichte der Deut-
317 Vgl. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 195. 318 Vgl. ebd., 194. 319 Vgl. Bialas: Das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie, 38. 320 Ebd., 39 321 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 83. 322 Bei Herder schließt der Begriff des Zeitgeistes den des Volksgeistes mit ein bzw. es vollzieht sich eine Begriffsverschiebung vom einen zum andern, während sie bei Hegel nahezu synonym sind und der Begriff des Zeitgeistes vor allem die philosophiegeschichtlichen Vorlesungen prägt (vgl. hierzu ausführlich: Schoeps: Was ist und was will die Geistesgeschichte, 18). 323 Vgl. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 193ff. 324 Ebd., 196. 325 Vgl. ebd.
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schen Poesie im Mittelalter „angewandte[n] Hegelianismus“326 und dessen Programm der „inneren Geschichtsschreibung“327 aufgegriffen und zum Durchbruch verholfen hat.328 Dieses Programm bestand darin, „das Werden und den Gehalt solcher hervorragender Gebilde [sc. die literarischen Werke] zu enthüllen und so sie selbst zu begreifen“329 und über die Erschließung des Ganzen, das Wesen und die „Entfaltung der geistigen Idee in der Poesie aufzuzeigen“330 und zu erkennen. Auch Gervinus ging es zunächst darum, die Entstehung literarischer Werke „aus der Zeit, aus deren Ideen, Bestrebungen und Schicksalen“331 aufzuzeigen, also dem Zeitgeistgedanken gerecht zu werden, zugleich aber darum, auch die „eine Grundidee“ ausfindig zu machen, „die gerade diese Reihe von Begebenheiten […] durchdringt“ und „in ihnen zur Erscheinung kommt“332. Darüber hinaus werden hierbei das Bewusstsein von der Zeitenwende und die Zukunftsorientierung ganz offensichtlich miteinander enggeführt:333 Die geistige Revolution der klassischen Periode, „deren sichtbarste Frucht für uns die Rückkehr aus der häßlichsten Barbarei zu wahrem, gesundem Geschmack in Kunst und Leben war“334, gilt es als Epochentendenz, als „Winke der Zeit“ zu verstehen, die „die Zersplitterung unserer Thätigkeit aufheben und unser Wirken nach dem Punkt richten wollen, nach dem die ungestümsten Wünsche am lautesten geworden sind“, denn – so Gervinus‘ wohl berühmtester Satz – „[d]er Wettkampf ist vollendet; jetzt sollten wir uns das andere Ziel stecken, das noch kein Schütze bei uns getroffen hat“335.
326 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 303. Vgl. zu Rosenkranzૃ Hegelianismus ausführlich: ebd, 303ff. 327 Karl Rosenkranz: Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter. Halle 1830, IV. 328 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 309. 329 Rosenkranz: Geschichte der Deutschen Poesie, IV (zitiert auch bei: Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 301). 330 Rosenkranz: Geschichte der Deutschen Poesie, VIII. 331 Gervinus: Prinzipien einer deutschen Literaturgeschichtsschreibung. In: Ders.: Schriften zur Literatur, 3-48, hier 5. 332 Vgl. Gervinus: Prinzipien einer deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 47. Vgl. ebenso: Ders.: Aus der Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen: Einleitung, 153. 333 Vgl. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 195. 334 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Erster Theil: Von den ersten Spuren der deutschen Dichtung bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Leipzig ²1844, 7; zitiert auch bei Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 196. 335 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Fünfter Theil: Von Goethe’s Jugend bis zur Zeit der Befreiungskriege. Leipzig ²1844, 735.
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Wie Hinrich C. Seeba nachgewiesen hat, gab es aber bereits vor 1830 eine Entsprechung zu dieser „politischen ‚Verzeitlichung des Geistes‘“ und zwar in Form einer „nationalistische[n] ‚Vergeistigung der Zeit‘“.336 Dies legt nahe, dass die Saat der Hegelschen Ideen (zumindest in Bezug auf die Literarhistoriographie) auf einen durch diesen vorangegangenen Diskurs fruchtbar gemachten Boden fiel. Bestes Beispiel hierfür sind die 1818 erstmals erschienenen Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationallitteratur des Breslauer Literarhistorikers Ludwig Wachler. Wachler, vermutlich durch die Herderschen Gedanken zu Zeit- und Volksgeist geprägt, orientierte sich darin seinerseits bereits – ganz analog zu den späteren sich am „Geist der Zeit“ Hegelscher Prägung orientierenden Literaturgeschichten – an den „Richtungen und Veränderungen des Zeit- und Volksgeistes“337, wobei hier wie dort die Tiefendimension dieses Geistes unter der organischen Oberfläche liegt und ahnbar wird. So heißt es etwa: Des teutschen Volkes Eigenthümlichkeit darf nicht nach dem bestimmt werden, was einem einzelnen Zeitalter, Stamme oder Verhältniße ausschließlich angehöret; vielmehr liegt sie darin, was überall durchscheint und hervortritt, immer bleibt und vorherrscht, wenn auch Anderes der Denkart beigemischt und in das Leben aufgenommen wird.338
Und genau wie später knüpft sich auch hier an diese historiographische Lesart ein Ziel, das wie dort letztlich ein politisches ist. Da nämlich die „Betrachtung über teutsches Kunstleben in Sprache und Schrift […], erzeugt aus dem eigenthümlichen inneren Leben des teutschen Gemüths, […] mehr als alles Andere geeignet ist, vaterländischen Geist zu erwecken und zu erkräftigen“339, so ist der Blick in [die] Welt der Gedanken und Gefühle, der Bilder und Vorstellungen, die dem Volke einwohnen, die es umgeben, berühren und ergreifen, den fruchtbarsten Bildungsstoff für geistiges und sittliches Daseyn, das unfehlbarste Einigungsmittel für alle einzelnen Be-
336 Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 197. 337 Ludwig Wachler: Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationallitteratur. ²1834, IV; zitiert auch bei: Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 200. 338 Wachler: Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationallitteratur, 12. Ebenfalls, wenn auch in anderem Zusammenhang, zitiert bei Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 287. 339 Wachler: Vorlesungen, 1; gekürzt zitiert auch bei Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 200.
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standtheile, aus welchen der teutsche Volkscörper zusammengesetzt ist und die leider so lange getrennt und oft feindselig einander entfremdet blieben.340
Die Beschwörung des deutschen Geistes hatte also ebenso wie die des späteren ‚Zeitgeistes‘ sowohl kompensatorischen als auch antizipatorischen Charakter, indem sie in der nationalen Einheit münden sollte.341 Dieses nationalpädagogische Konzept hatte, wie Klaus Weimar aufzeigt und unsere Überlegungen verdeutlichen sollten, u.a. zur Folge, dass nun das Objekt Literaturgeschichte als „ein proleptisches Spielen von Gesellschaft“342 diente, das wesentlich mehr als „einfach nur Surrogat für ‚wirkliches‘ gesellschaftliches Handeln“343 war: Die literarischen Texte samt ihrem Inhalt und ihren meist nicht mehr lebenden Autoren sind zum Spielmaterial geworden, an dem man die praktische Auswirkung bestimmter Normen ausprobieren kann, ohne mit dem sonst unvermeidlichen Widerstand der Beurteilten rechnen und sich auseinandersetzen zu müssen – Literaturgeschichte als Manövergelände für eine vorbereitende oder vorwegnehmende Simulation des gesellschaftlichen Ernstfalls.344
Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, vor allem nach der bereits bei Schiller aufgezeigten und diese Entwicklung letztlich vorprägenden345 Kohärenz zwischen Ästhetik und politischem Zweck bzw. Geschmack und gesellschaftlicher Entwicklung, dass die nun vorgenommenen Werturteile (der Geschmack erlebt hier wiederum eine Restitution)346 nur „scheinbar ästhetische [sind], die indessen voller politisch-moralischer Implikationen stecken“347. Dabei werden diese diagnostischen Urteile als historische-faktische ausgewiesen.348
340 Wachler: Vorlesungen, 7; gekürzt zitiert auch bei Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 200. 341 Vgl. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist, 200f. 342 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 318. 343 Ebd. 344 Ebd. 345 Vgl. hierzu auch die Überlegungen Seebas: Zeitgeist und deutscher Geist, 204ff., sowie grundsätzlich Jürgen Habermas: Hegels Begriff der Moderne. Exkurs zu Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen. In: Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985, 34-64; insb. 59ff. 346 Vgl. hierzu grundsätzlich: Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 273ff. 347 Ebd., 332. 348 Vgl. hierzu: ebd., 332.
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War – wie bereits an früherer Stelle vermerkt – nach der Infragestellung eines bestimmten Geschmacks als ‚archimedischer Punkt‘ einer kritischen Literaturgeschichte und dem damit Hand in Hand aufkommenden Bewusstsein des Zeitgeistes der erzählerische Zusammenhang der Literaturgeschichte(n) noch einmal zugunsten anderer Strukturprinzipien aufgegeben worden, so wurde nun aufgrund der beschriebenen Entwicklung der „Geist“349 zum vornehmlichen „Subjekt der Geschichte der deutschen Dichtung“,350 was wiederum jenen zunächst aufgegebenen narrativen Zusammenhang ermöglichte. Die Literaturgeschichte wurde nun erneut erzählbar und erhielt eine narrative Struktur. Der „Geschmack“ als zuvor sinngebendes Prinzip blieb dabei jedoch erhalten, indem er entsprechend den verschiedenen Perioden der geistesgeschichtlichen Entwicklung, die durch den Geist der Zeit markiert waren,351 die jeweiligen Stationen auf dem nachzeichnenden Weg dieser Entwicklung bestimmte. Das bedeutet in unserem Fall nichts anderes als den literarischen Kanon selbst, der sich nun nach und nach sowohl horizontal als Weg der Bildung als auch vertikal, in der Etablierung der Epochen (wie am Beispiel der Klassik gezeigt) bzw. deren Selektion innerhalb derselben manifestierte. Letztlich avancierte hierbei die Literaturgeschichte nicht mehr nur zur „Bildungsgeschichte der deutschen Nation“352, sondern wurde zur gleichen Zeit, in der nicht zufällig der Bildungsroman seine Blüte erlebte, auch zum „Bildungsroman des deutschen Volkes“353. Sowohl die Literaturgeschichte als auch der Bildungsroman begleiteten „[a]ls Instrumentarium bürgerlicher Moralvermittlung“354, indem sie diese bürgerliche Moral fiktiv erprobten und dabei gleichsam legitimierten, jenen von Jürgen Habermas und Reinhart Kosselleck beschriebenen Prozeß der langsamen Formierung einer aus der Privatssphäre der Untertanen herausgetretenen bürgerlichen Öffentlichkeit, deren moralischer Anspruch sich innerhalb der von der staatlichabsolutistischen Politik eingeräumten Freiräume zunächst als ‚Arcanum‘, bald darauf als politische Forderung meldete.355
349 Zum Geist als Subjekt der Literaturgeschichte vgl. ebd., 310ff. 350 Ebd., 310. 351 Vgl. Seeba: Zeitgeist, 198. 352 Ebd. 197f. 353 Vgl. hierzu auch Fohrmann, Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 120. 354 Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands AgathonProjekt. Tübingen 1991, 168. 355 Ebd.
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Hier wie dort bot sich, wie Erhart für den Bildungsroman ausführt: dieser Gegengesellschaft die Möglichkeit […], sich anhand imaginärer Geschichten der Erfolgsaussichten und praktischen Zwecke einer Moral zu versichern, die in der öffentlichen Praxis weiterhin auf den Kommunikationsbereich eines kulturellen Innenraums beschränkt bleibt.356
So entsteht also, in mehrfacher Weise geprägt durch das epochemachende Ereignis der Französischen Revolution, zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland der literarische Kanon und damit das, was wir bis heute unter diesem Begriff verstehen, wenn auch das Phänomen selbst durch die Pluralisierung der Gesellschaft und ihrer einzelnen Gruppen bzw. durch den damit in Zusammenhang stehenden asynchronen Verlauf der Kanonbildung in den einzelnen Kanoninstanzen komplexer geworden ist.357 Es handelt sich um eine strenge Auswahl von Autoren und deren Texten, die eine Gesellschaft oder Gruppe aufgrund bestimmter Selbstzuschreibungen und Definitionen als sie selbst legitimierende und als historisch verbürgt ausgewiesene Tradition etabliert und mit Argumenten verteidigt.358 Diese Argumente mögen sich vordergründig zwar als ästhetische Qualitäten der selektierten Literatur manifestieren, wurzeln aber letztlich in den beschriebenen Mechanismen sozialer Selbstdefinition.
356 Ebd. 357 Korte: Taugenichts-Lektüren, 55, 66f. 358 Damit erfährt die bereits zitierte Kanondefinition Renate von Heydebrands („Unter ‚Kanon’ will ich eine strenge Auswahl von Autoren und Werken der Literatur verstehen, die eine Gemeinschaft für sich als die vollkommensten anerkennt und mit Argumenten verteidigt.“ Heydebrand: Probleme des ‚Kanons‘, 5) eine Erweiterung um die dargestellten Aspekte.
3. Wege und Programme der Literaturgeschichte(n) bis 1914
Nachdem wir nun also die Entstehung des literarischen Kanons aus dem Zeitgeist der Literaturgeschichtsschreibung nachgezeichnet und dabei zuletzt das Phänomen „literarischer Kanon“ selbst definiert haben, wollen wir noch einen Augenblick bei der Literarhistoriographie verweilen und uns ihren weiteren Verlauf bis zum Ende des von uns behandelten Zeitraums ansehen. Uns interessiert dabei vor allem das jeweilige Profil der Literaturgeschichten, das den Kanon bestimmt bzw. in das dieser eingepasst wird – im Grunde also die „Kanonisierungspraxis“1, d.h. die „(philologische, kulturwissenschaftliche) Arbeit am Kanon“ bzw. die „Formen und Stile des literarischen Selektionsprozesses“2 sowie der in der „Kanonbildung“3 aufscheinende „Horizont“ des durch den Kanon „repräsentierten gesellschaftlichen Wert- und Sinnkontexts“4. Besondere Berücksichtigung sollen dabei die vierunddreißig Literaturgeschichten finden, die unserer späteren, an den beiden Autoren Heyse und Raabe ausgerichteten exemplarischen Analyse der Kanonisierungsprozesse zu Grunde liegen. Diese seien hier kurz chronologisch aufgelistet: 1.
Joseph Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur im XVIII. und XIX. Jahrhundert. Historisch und ästhetisch-kritisch dargestellt. Dritte Auflage durchgesehen und vervollständigt vom Sohne des Verfassers. Gotha 1875.
1
Korte: K wie Kanon und Kultur, 32.
2
Ebd..
3
Vgl. dazu ausführlich ebd., 28f.
4
Ebd.
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17. 18. 19.
20.
Edmund Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte für Frauen und Jungfrauen. Stuttgart 1876. Franz Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit. Leipzig 1883-1885. Ludwig Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Stuttgart ²1887. Robert König: Deutsche Litteraturgeschichte. 23. Umgearbeitete und vermehrte Auflage. Bielefeld/ Leipzig 1893. Max Koch: Geschichte der deutschen Litteratur. Stuttgart 1893. Friedrich Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Heidelberg 1894. Eugen Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur in der Gegenwart. Leipzig 1896. Friedrich Vogt/ Max Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig/ Wien 1897. Karl Storck: Deutsche Litteraturgeschichte für das deutsche Haus. Stuttgart 1898. Samuel Lublinski: Litteratur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert. Berlin 1900. Richard M. Meyer: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts. ²1900. Carl Busse: Geschichte der deutschen Dichtung im 19. Jahrhundert. Berlin 1901. Rudolf von Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur. Breslau 71901. Carl Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Leipzig 1902. Paul Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur von Goethes Tode bis zur Gegenwart. Mit einer Einleitung über die deutsche Literatur von 18001832.Vollständig umgearbeitete, unter besonderer Berücksichtigung der jüngsten Vergangenheit ergänzte und bedeutend vermehrte zweite Auflage. Leipzig 1903. Karl A. Krüger: Geschichte der deutschen Literatur in Einzelbildern und Begriffen. Zweite erweiterte Auflage. Leipzig 1905. Otto von Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur. Sechste, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1903. August F.C. Vilmar [/ Karl Macke]: Geschichte der Deutschen NationalLiteratur. Neubearbeitet und fortgesetzt von Goethe bis zur Gegenwart von Prof. Dr. K. Macke. Berlin 1907. E. Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte. Berlin 1908.
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21. Adolf Stern: Die Deutsche Nationallitteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart. Sechste, neu bearbeitete und vermehrte Auflage. Marburg in Hessen 1908. 22. Eduard Engel: Geschichte der Deutschen Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts und der Gegenwart. Sonderdruck aus dem Gesamtwerk Engels „Geschichte der deutschen Literatur“. Wien/ Leipzig 1908. 23. Adolf Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur. Leipzig 5/61909. 24. Friedrich Kummer: Deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Dargestellt nach Generationen. Dresden 1909. 25. Julie Schilling: Deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts. Riga 1910. 26. August F.C. Vilmar [/ Adolf Stern/ Heinrich Löbner u. Karl Reuschel]: Geschichte der Deutschen National-Literatur. Mit einer Fortsetzung „Die Deutsche Nationalliteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart“ von Adolf Stern. Siebenundzwanzigste Auflage bearbeitet von Heinrich Löbner und Karl Reuschel. Marburg in Hessen 1911. 27. Anselm Salzer: Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. München 1912. 28. Carl Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur von Goethes Tode bis zur Gegenwart. Berlin 1912. 29. Josef Nadler: Literaturgeschichte der Deutschen Stämme und Landschaften. Regensburg 1912.5 30. Ferdinand Schultz [/ Karl Reuschel]: Geschichte der Deutschen Literatur. Völlig neu bearbeitet von Karl Reuschel [1912]. ³1914. 31. Hans Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung. Leipzig/ Berlin 1914. 32. L. Pott: Geschichte der Deutschen Literatur in Grundzügen mit ausgewählten Texten. Genf 1914. 33. Wilhelm Lindeman [/ Max Ettlinger]: Geschichte der deutschen Literatur. Herausgegeben und teilweise neu bearbeitet von Dr. Max Ettlinger. Freiburg im Breisgau 9/101915. 34. Wilhelm Scherer/Oskar Walzel: Geschichte der deutschen Literatur mit einem Anhang: Die deutsche Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart. ²1918.
5
Nadlers Literaturgeschichte wird hier aufgenommen, obwohl der vierte Band, in dem die in dieser Arbeit untersuchten Autoren behandelt werden, erst in den zwanziger Jahren erschien, da aber sein Konzept ein unmittelbarer Teil des sogenannten „Methodenpluralismus“ war, findet sie hier trotzdem Eingang.
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Wie zu sehen ist, umfasst diese Auswahl Literaturgeschichten aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des von uns untersuchten Zeitraums, also bis 1918, wobei hier auch ältere Literaturgeschichten in späterer Neuauflage (meist in einer von einem anderen Literaturhistoriker im Geiste des ursprünglichen Verfassers überarbeiteten und den Zeitraum bis zur Gegenwart erweiterten Form) aufgenommen wurden. Diese Sammlung ist insofern repräsentativ, als es sich hierbei um die bedeutendsten und einflussreichsten Literaturgeschichten dieser Zeit handelt, ja wagen wir es ruhig zu sagen: um einen „Kanon“ an Literaturgeschichten, der sich vor allem durch die zeit- und wirkungsgeschichtliche Bedeutung der Werke selbst sowie die seiner Verfasser auszeichnet.6 Diese Selektion umfasst einerseits die sogenannten ‚gelehrten‘ Literaturgeschichten, also jene Literaturgeschichten, die in erster Linie von Gelehrten vom Fach für Gelehrte vom Fach geschrieben wurden. Daneben treten andererseits die sich ab den 1840er Jahren entwickelnden sogenannten ‚gebildeten‘ Literaturgeschichten. Sie orientieren sich an Gervinus, der bereits eine Mittelstellung zwischen beiden einnahm, und koppeln sich teilweise von der Wissenschaft ab, da sie von Gebildeten für Gebildete verfasst wurden und einem, wie etwa dem von Thomas
6
Um einer evtl. Kritik vorzugreifen: Natürlich argumentiere auch ich mit einem „Kanon“. Dies ist anders gar nicht möglich. Auch ich musste eine Auswahl treffen. Kriterium war in diesem Fall die zeit- und wirkungsgeschichtliche Bedeutung der Werke. Es wurden nur Werke ausgewählt, durch die wir einen bestmöglichen Einblick in die Mechanismen literarischer Kanonisierungsprozesse der Zeit erhalten würden. Unsere Selektion ist eine wohlüberlegte, letzlich im Grunde aber rein pragmatische, denn wir behaupten, dass das Ergebnis kein anderes gewesen wäre, wenn wir andere Literaturgeschichten der Zeit herangezogen bzw. alle berücksichtigt hätten. Damit liegt der Fall anders als beim literarischen Kanon. Die Einwände, die wir gegen die dortige Kanonisierung nannten, treffen somit auf unseren Kanon nicht zu. Gerade an den Autor Heyse und Raabe wird dies deutlich. Käme es dort etwa auf die historische Bedeutung an, müsste Heyse auch heute noch in den Literaturgeschichten auftauchen, während Raabe, der zu seiner Zeit bekanntlich wesentlich weniger Leser hatte und auch keine gleichbedeutende Rolle im damaligen Kulturbetrieb spielte, nicht unbedingt genannt werden würde. Damit möchte ich nicht sagen, dass Raabe kein wirkungsmächtiger Autor war. Seine produktive Rezeption ist jedoch nicht zeitgeschichtlich, sondern kanongeschichtlich zu verstehen. Hat es nämlich ein Autor/Text erst einmal in den Kanon geschafft, wird er fester Bestandteil des intertextuellen Rekurses. Dies bedeutet allerdings nicht, dass er für seine Zeit prägende Wirkung hatte oder dass er stellvertretend für die damalige Literatur stehen kann. Der literarische Kanon ist daher in seiner kontingenten Nachgeschichte weit entfernt von unserem pragmatischen Kanon.
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Scherr formulierten, Programm einer „Mittelbildung“ verpflichtet sind.7 Dieses Konzept wollte ähnlich wie auch beim einflussreichen Robert Prutz dazu beitragen, die Kluft zwischen Gelehrten und dem Volk zu überbrücken und so das bisher häufig privat geltende Interesse an Literatur endlich öffentlich machen.8
3.1 I M F AHRWASSER
DER
E NTELECHIE
Wie wir gesehen haben, gruppierte die sich verändernde Literaturgeschichtsdarstellung das Material um eine (sie und es) ordnende historische Idee,9 um ein „als immerwährende Präsenz gedachtes Zentrum“10, das die sich ausdifferenzierenden Partialgeschichten immer wieder zurückband,11 dadurch die „Identität des sich zeitlich Wandelnden“12 sicherte, und sich schließlich eingebettet in der Vorstellung eines historischen Phasenmodells13 (ganz wortwörtlich) ent-wickelte und zum Vorschein kam. Ziel- und Endpunkt bildete dabei bisher – wie in mehr oder weniger verdeckten Variationen deutlich wurde – die vom aufstrebenden und sich im „translativen Abfolgeschema“14 an der Reihe sehenden Bürgertum getragene Idee der Nation.15 Entsprechend wurde das Material in scheinbar historischer Rekonstruktion, in Wirklichkeit aber in „parteinehmender Selektion und Konstruktion“16 ausgewählt. Unter dem Deckmantel ästhetischer Qualitäten verbarg sich dabei eine sich allmählich formierende und ausdifferenzierende Selbstdefinition der Trägergruppe. Innerhalb der historischen Rekonstruktion kam es zu einer aufgrund der Leitdifferenz vorgenommenen Oppositionierung
7
Vgl. Jürgen Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Kaiserreich. In: Ders./Wilhelm Voßkamp: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1994, 576-604, hier: 595.
8
Vgl. Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek bei Hamburg, 1994, 45. – Im
9
Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 584.
Einzelnen dazu auch Kap. 3.4. 10
Ebd.
11
Vgl. ebd., 585.
12
Ebd., 584.
13
Vgl. hierzu ebd., 587.
14
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 148. Fohrmann bezieht sich
15
Vgl. hierzu auch Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 585.
16
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 142.
damit auf das von Gervinus entwickelte Konzept der jeweiligen Trägerschichten.
68 | W ARUM WERDEN AUTOREN VERGESSEN?
von ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Tradition.17 Die Selektion der Kommunikatbasen (s.o.) gliederte sich also in eine sich in das entelechische Modell fügende Traditionslinie auf der einen und eine sich ex negativo davon bestimmende oppositive Traditionsreihe auf der anderen Seite. So entstanden der Kanon und ein „Negativkanon“18. Letzterer erhielt entweder von vornherein keinen Eingang in die literarhistorische Darstellung oder wurde innerhalb der Literaturgeschichte explizit aus ihr ausgeschlossen. Häufig geschah dies (besonders bei den Junghegelianern), indem er als Gegner stilisiert wurde, gegen den sich die „wahre“ Tradition im Kampfe erst durchzusetzen hatte.19 Allerdings bestand keineswegs immer Einheitlichkeit in der Beurteilung der einzelnen Elemente. Die historische Selbstdefinition differenzierte sich ja erst allmählich aus und legte die Traditionslinien fest. So konnten bestimmte Bestandteile daher als Varianten der gleichen Struktur anders, im Extremfall invers, akzentuiert werden.20 Eine solche letztgenannte in der „Makrostruktur“ nahezu identische, lediglich auf einer „internen Akzentverschiebung“ beruhende Differenz bestimmte die Literaturgeschichtsschreibung der 1830er bis 1850er Jahre,21 bei der zwei Gruppen prägend waren.22 Nahezu identisch waren diese zwei Gruppen in Bezug auf die „Stadien nationalliterarischer Entelechie“ und die „Konfiguration der Autoren“. Auch das erhoffte „Ziel des Auswicklungsvorgangs“ war nicht so unterschiedlich, wie die Autoren selbst voneinander glaubten.23 Auf der einen Seite stand die dem Modell der Gervinusschen Literaturgeschichte verpflichtete Gruppe mit Autoren wie Wilhelm Zimmermann, Johannes Scherr, Joseph Hillebrand, Herrmann Hettner und Robert Prutz. Sie setzten das Begonnene fort: Ihre Literaturgeschichten lesen sich noch immer „wie eine Verlängerung der Schillerschen
17
Vgl. hierzu auch: Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 140ff. sowie
18
Vgl. Korte: K wie Kanon und Kultur, 35; der Begriff stammt von Simone Winko: vgl. Si-
Ders.: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 589f. mone Winko: Negativkanonisierung: August von Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Renate von Heydebrand (Hg.): KANON MACHT KULTUR. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart/Weimar 1998, 341-364. 19
Vgl. hierzu ausführlich nochmals Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 145f.
20
Vgl. ebd. 168.
21
Ebd., 146.
22
Hierzu und zum Folgenden vgl. ausführlich: ebd., 156ff.
23
Vgl. ebd., 169.
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Ästhetik“24 und sind deutlich geprägt durch die Hegelsche Philosophie,25 durch dessen geschichtsdeutendes progressives Entwicklungsmodell, das sich hier in einer „Art Wellenbewegung“26, ,,in einem „Auf und Ab von Kampfesglück“27 als allmähliche stufenweise Herausbildung des (deutschen) Volksgeistes28 (s.o.) präsentiert. Es ist – ebenfalls vorgeprägt durch Gervinus – eine auf mehreren Ebenen verlaufende „Emanzipationsbewegung“29, deren Zielpunkt die „Subjektwerdung der deutschen Nation“ bildet, wobei – dies muss hier noch nachgetragen werden – die Subjektivität, ganz im Sinne Hegels, ihrerseits an Objektivität rückgebunden wird,30 d.h. durch „die aufgehobene Unmittelbarkeit der Einzelnheit“31 eine notwendige „Versöhnung mit der Wirklichkeit“32 stattfindet.33 In diesem Sinne stellt auch, wie Fohrmann deutlich macht, in diesen Literaturgeschichten „das Programm entelechischer Subjektivierung im Kern ein Objektivierungsprogramm dar[…], das Bilden im ursprünglichen Sinn des Wortes versteht, als Bilden, als Herausstellen.“34 Gemäß dieser Vorstellung bedurfte es jeweils einer Form, um die nationale Subjektivität zu objektivieren, auf diese Weise nationale Identität ‚zum Ausdruck‘ zu bringen und damit die Emanzipation
24
Ebd., 161.
25
Vgl. ebd., 157. Michael Ansel: Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung. Rudolf Hayms Artikel über Friedrich von Gentz. In: Lutz Danneberg/Wolfgang Höppner/Ralf Klausnitzer (Hgg.): Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I). Frankfurt a. M. 2005, 291-318, hier 291, 294f.
26
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 157; vgl. auch ebd. 152.
27
Ebd., 157.
28
Vgl. ebd., 154ff.
29
Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 592
30
Vgl. hierzu auch Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 153; ders.: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 591 sowie Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 323.
31
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Neu herausgegeben von Friedrich Nicolin und Otto Pöggeler. Hamburg 6
1959, 309.
32
Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, 27.
33
Georg Römpp: Hegel leicht gemacht. Eine Einführung in seine Philosophie.
34
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 160, Vgl. hierzu auch Weimar:
Köln/Weimar/Wien 2008, 234f. sowie Schnädelbach: Hegel, 112f., 152f. Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 323f.
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auf einer Ebene abzuschließen.35 Auf der Ebene der Literatur, so waren sich fast alle Literarhistoriker dieser Gruppe einig,36 sei die „‚Vollendung des schönen Subjekts‘“37, die „ästhetische Emanzipation […] als kontrolliertes Selbst-Setzen der Geschmacksregeln, als individuelle und zugleich nationale Fähigkeit zur poetischen Produktion“38 durch die „Klassik“, durch das Komplementärpaar Goethe und Schiller bereits vollzogen. In dieser Weise versuchten sie auch die „Klassik“ weiterhin zu kanonisieren.39 Nach einem „‚Wiedererwachen‘ der Sinnlichkeit“ und einer „Revokation der Einbildungskraft“ habe sich ein individuelles Expressionsvermögen an die Stelle eines „ertötenden Regelkanons“ gesetzt40 (in der Literaturgeschichte dargestellt durch Kanon und Negativkanon). Die Überführung dieser Subjektivität in eine Objektivität durch „Ausgleich“41 und „Mäßigung“42 habe nun die Klassik in der „komplementären Gegensätzlichkeit“43 ihrer beiden Dioskuren bewirkt, wodurch die endgültige Emanzipation gelungen sei. Analog dazu, und Schiller stehe hier mit der Idee des freien Staats stellvertretend schon ganz in der neuen Epoche,44 gelte es diese Subjektwerdung nun auf politischer Ebene nach-zuvollziehen und damit das in der Literatur bereits ausgebildete zu verallgemeinern. Die Subjektivierung der Gemeinschaft vollendet sich dadurch, dass im Staat die Subjektqualität der Individuen beerbt und aufgehoben wird.45 Analog zu Schillers Überlegungen zur Ästhetik, nach denen Ästhetik als ‚sinnliches Pfand zur unsichtbaren Sittlichkeit‘ auf dem Weg
35
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 160.
36
Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 591.
37
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 161.
38
Ebd., 152.
39
Fohrmann spricht hier von „inthronisieren“ (vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 152) statt wie wir von ‚kanonisieren‘, was letztlich nur der Tatsache geschuldet ist, dass er sein Buch bevor der Kanondiskurs in der Literaturwissenschaft begann und dort kanonisiert wurde, abgefasst hat. Wie aber die Fülle der Belege allein in diesem Kapitel zeigen, ist sehr vieles, von dem, was hier erarbeitet wird, nur unter anderen Vorzeichen vorgedacht und formuliert. Das gleiche gilt auch für die Arbeiten Klaus Weimars, wie die Belegstellen des vorangegangenen Kapitels zeigen.
40
Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 591.
41
Ebd.
42
Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur, Bd. 4, 11; zitiert bei: Fohrmann:
43
Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 591.
44
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 161.
45
Ebd.
Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 152.
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zur ‚wahren Kultur‘ verstanden wurde und sie die „propädeutische Rolle“ in der ‚Menschenbildung‘ annahm, wurde von den Historiographen Sittlichkeit als „Effekt ästhetischen Sinnes“46 verstanden. Dieses „ästhetische Vermögen“47 galt es anhand der Poesie, die zuletzt ja selbst wiederum hervorgebracht wurde „von veredelter Sinnlichkeit und moderater Einbildungskraft, von potenzierter Natur und richtig verstandener Freiheit“48 und dem durch die Geschichte der deutschen Nationalliteratur hervorgebrachten Nachweis, dass dieses Vermögen bei den Deutschen am nachhaltigsten und universellsten zum Ausdruck käme, auszubilden.49 Damit war der Subjektivierung der Gemeinschaft der Weg zur Objektivierung im Staat direkt geebnet. Trotz der „Preußen-Panegyrik“50 in der Nachfolge Hillebrands, der eine „literarhistorische Inthronisierung“ des Preußenkönigs Friedrich II. vornahm und ihn als Reformator der Politik hin zum „klassischen Staat“ interpretierte,51 bildete das Ziel der Subjektwerdung eine „republikanische Emanzipation“52. Man verteidigte sich gegen jede Art ständischen Partikularismus, der das „Prinzip des ‚Nationellen‘“ in irgendeiner Weise bedrohen konnte53. Dies wird schon deutlich, wenn man sich die Biographien der Verfasser ansieht. Es scheint, als seien einige von ihnen nicht nur in ihrem Schreiben in die Fußstapfen des berühmten Gervinus getreten. Dieser war bekanntlich einer der „Göttinger Sieben“, wurde 1837 des Königreichs Hannover verwiesen und nahm wie einige seiner Mitstreiter elf Jahre später in der Frankfurter Nationalversammlung einen Abgeordnetenplatz für Preußen („Casinopartei“) ein.54 Ebenso war auch Wilhelm Zimmermann Abgeordneter in der Paulskirchenversammlung (Fraktion „Donnersberg“) sowie ein Jahr später der konstituierenden Versammlung und wurde wegen seiner Teilnahme am Rumpfparlament 1851 aus dem Staatsdienst entlassen.55 Johannes Scherr war ab Mai 1848 als Vertreter des Amtes Geislingen in die Würrtembergische Abgeordnetenkammer gewählt worden,
46
Ebd., 161.
47
Ebd., 162.
48
Ebd., 161.
49
Vgl. ebd., 162.
50
Ebd., 159.
51
Ebd., 160.
52
Ebd., 152.
53
Ebd.
54
Vgl. Andreas Wistoff/Red.: s.v. Gervinus, Georg Gottfried. In: Christoph König (Hg.):
55
Vgl. Andreas Schumann: Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichtsschreibung 1827-
Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Bd. 1, Berlin 2003, 555-557. 1945. München 1994, 278.
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wo er Führer der Demokraten war. Ab Juli des gleichen Jahres war er dann Stuttgarter Mitglied im ersten Landesausschuss der ‚Vaterländischen Vereine Württembergs‘, musste aber ein Jahr später aufgrund der Teilnahme an der Volksversammlung in Reutlingen in die Schweiz fliehen und wurde in Abwesenheit aufgrund seiner großdeutsch-republikanischen Haltung zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt.56 Hermann Hettner hingegen hat keine solchen äußeren politischen Bekenntnisse in seiner Biographie vorzuweisen. Dennoch könnte man anführen, dass er in der Revolutionszeit, ab dem Wintersemester 1847/48 bis 1851, als Privat-Dozent an der Universität Heidelberg tätig war,57 der Universität, an der nicht nur Hegel in den Jahren 1816-1818 lehrte, sondern in der Gervinus selbst seit 1839 unterrichtete. Diese Universität zeigte sich, obwohl der badische Großherzog bis zu seiner Flucht im Mai 1849 ihr Rektor war, von einem außergewöhnlich liberalen Geist geprägt.58 Dies lässt sich schon allein daran erkennen, dass neben Gervinus allein vier weitere Heidelberger Professoren in der Paulskirche saßen59 und als Künder politischer Ideen publizistisch hervortraten.60 Neben Gervinus ist hier vor allem Ludwig Häußer zu nennen, der während dessen Herausgeberschaft als Redakteur der „Deutschen Zeitung“ arbeitete und auch nach der Revolution das Sprachrohr liberal-nationalstaatlicher Gesinnung in Deutschland blieb.61 Robert Prutz schließlich war im Revolutionsjahr Redakteur des „Constitutionellen Clubs“ in Berlin,62 der den Kurs der gemäßigten liberalen Märzregierung Camphausen vertrat. Er sprach sich für eine störungsfreie Durchführung der indirekten Urnenwahlen aus, trat aber aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Folgen für die Stadt gegen Massendemonstra-
56
Vgl. Ansgar Reiss: s.v. Scherr, Johannes Hieronymus. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Bd. 3, Berlin 2003, 1585-1588, 1586 sowie Schumann: Bibliographie, 266.
57
Vgl. Michael Schlott: s.v. Hettner, Hermann Julius Theodor. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Bd. 2, Berlin 2003, 735-737, 735.
58
Vgl. die erst auf der letzten Seite für die Gesinnung ihrer Entstehungszeit zeugende Arbeit von Ferdinand Haag: Die Universität Heidelberg in der Bewegung von 1848/49. Eberbach a.N. 1934, 5, 89.
59
Ebd., 29.
60
Ebd., 30.
61
Ebd., 71ff.
62
Vgl. Horst Schmidt/Red.: s.v. Prutz, Robert Eduard. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Bd. 2, 1435-1437, 1435.
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tionen ein.63 Diese zurückhaltende Position entspricht im Grunde der ganzen von ihm in seinen literarhistorischen Schriften vertretenen Linie: Es gilt „nicht durch Umsturz, sondern durch Bewusstseinswandel für die Freiheit zu kämpfen“64. In diesem Sinne ist auch er, der sich 1856 wegen seiner Ansprache bei der Leipziger Schillerfeier in einem Disziplinarverfahren verantworten musste,65 ganz Schillerianer. Ziel ist wie bei seinen Vorgängern der „sittliche Staat“66, den es in diesem „utopische[n] Projekt“67 erst noch zu verwirklichen gilt. Die zweite Gruppe der Literaturgeschichten des o.g. Zeitraums agierte weitgehend „unter Absehung von forcierter Politikorientierung“ gleichwohl aber „unter der Voraussetzung eines staatlich pazifizierten Innenraums“,68 der durchaus mit bestimmten Vorstellungen in Bezug auf eine Staatsform verknüpft war. Der große Unterschied zur ersten Gruppe bestand vor allem in ihrer Ansicht, dass der ‚sittliche Staat‘ bereits im Mittelalter präfiguriert war und seine Verwirklichung in der Moderne bisher vor allem durch „restsubjektivistische Tendenzen“, zu denen sie auch den politischen Republikanismus zählten, verhindert worden sei.69 Hauptvertreter dieser Literaturgeschichtsschreibung sind Christian Georg Friedrich Brederlow, August Friedrich Christian Vilmar und Heinrich Gelzer,70 alle drei streng gläubige Protestanten71, die ihr Christentum, das von der anderen
63
Vgl. hierzu die Internetausstellung 4x1848. Geschichten der Berliner Märzrevolution, die anlässlich des 150-jährigen Jubiläums vom Zentrum für Berlin-Studien unter der Leitung von Axel Lange erstellt wurde. Hier: http://www.zlb.de/projekte/1848/kap1/thema4.htm (Stand 12.10. 2012). Vgl. hierzu auch: Ingrid Pepperle: Einleitung. In: Robert Eduard Prutz: Zu Theorie und Geschichte der Literatur. Hg. v. Hans-Günther Thalheim. Berlin 1981, 9-50, 30.
64
Edda Bergmann: s.v. Prutz, Robert Eduard. In: Hans Günter Hockerts (Hg.): Neue Deut-
65
Schmidt/Red.: Prutz, 1435.
66
Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 592
sche Biographie. Bd. 20, Berlin 2001, 748-749, 748.
67
Ebd..
68
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 162.
69
Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 592.
70
Vgl. ebd.
71
Vgl. Schumann: Bibliographie, 234, 240, 273 sowie ausführlich: Heinz-Günter Schmitz/Eckart Steinhoff: s.v. Vilmar, August Friedrich Christian. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd.3, 1950-1952; Reinhard Behm: Aspekte reaktionärer Literaturgeschichtsschreibung des Vormärz. Dargestellt am Beispiel Vilmars und Gelzers.
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Gruppe als „äußerer Störfaktor“ eher abgelehnt wurde, in die Literaturgeschichte integrierten,72 ja es sogar als entwicklungsfördernd werteten.73 Ihrer Darstellung nach lag die ‚erste deutsche Blütezeit‘ im Zeitalter der Hohenstaufen,74 das sie gleichsam heroisierten. Vilmar, der „erfolgreichste[] Literaturhistoriker[] der Metternich- und Nachmärz-Ära“75, beispielsweise charakterisierte sie über die metaphorische Ausgestaltung eines „locus amoenus“76 und konstatierte, dass „kein Zeitraum reicher an den fruchtbarsten, bewegendsten, ja entflammensten poetischen Elementen gewesen sei, als eben diese Zeit.“77 Diese erste Blütezeit zeichnete sich durch „Transparenz“ aus.78 Es gab also noch keinen ‚klaffenden Riss‘ zwischen ‚idealem‘ und ‚realen‘ Leben, zwischen Wunsch und Sein, wie man ihn in der Gegenwart diagnostizierte.79 Dennoch lehnten sie eine einseitige Orientierung an der Tradition ab, die ihrer Ansicht nach nur einen eskapistischen Charakter gehabt hätte.80 Es galt vielmehr eine solche Einheit, wie sie bereits existiert hatte, soweit dies möglich war, wiederherzustellen. So schrieb Vilmar etwa:
In: Jörg Jochen Müller (Hg.): Germanistik und deutsche Nation 1806-1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Stuttgart 1974, 227-271. 72
Vgl. hierzu: Behm: Aspekte reaktionärer Literaturgeschichtsschreibung, 232ff.
73
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 162.
74
Vgl. ebd., 163.
75
Hermand: Geschichte der Germanistik, 61. – Seine Literaturgeschichte erschien in einem Zeitraum von 65 Jahren (von 1845-1911) in 27 Auflagen und hatte eine Gesamtauflage von 131 Tausend Exemplaren (vgl. Sybille Ohly: Literaturgeschichte und politische Reaktion im neunzehnten Jahrhundert. A.F.C. Vilmars ‚Geschichte der deutschen NationalLiteratur‘. Göppingen 1982, 1). Allein zu Lebzeiten publizierte der Verlag zwölf Auflagen (d.h. in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen von etwa zwei Jahren; vgl. Schumann: Bibliographie, 513f.). Nach dem Auslaufen der Schutzfrist wurde sie sowohl von Adolf Stern, als auch von Karl Macke bis in die Gegenwart fortgesetzt (vgl. ebd. 413f.).
76
Vgl. Ohly: Literaturgeschichte und politische Reaktion, 104ff. sowie natürlich August Friedrich Vilmar: Geschichte der deutschen National-Literatur. 4. vermehrte Auflage, Marburg/Leipzig 1851, 375.
77
Vilmar: Geschichte der deutschen National-Literatur, 41.
78
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 164.
79
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 165 sowie das dort angegebene Zitat Gelzers: Heinrich Gelzer: Die neuere deutsche National-Literatur nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspunkten. Zur inneren Geschichte des deutschen Protestantismus. Leipzig ³1858, XIf.
80
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 165.
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Gewiß, unsere Aufgabe ist noch nicht erfüllt, und eine reiche Zukunft liegt noch vor uns; aber der Zeiger, welcher still und unverrückt auf die Stunde der Zukunft hinweist, ist kein anderer, als der Sinn für das Leben der Vergangenheit, der Sinn für die Treue, die Liebe und die Freude unserer Väter[]81
Auch hier also präsentierte sich die Geschichte als Geschichte einer Entelechie, stellte sich jedoch, da die „Alterität der Moderne“ ihrer Ansicht nach trotz aller Leistungen den Glanz des Mittelalters nicht einzuholen vermochte, partiell als Verfallsgeschichte dar.82 Das Referenzsubjekt der Diagnose bildete auch hier der „deutsche Geist“ bzw. „Volksgeist“.83 Er strebte nach einer „sittlich-patriotischen, bereits im mittelalterlichen Kaiser-Volk-Verhältnis präfigurierte[n] Gemeinschaft“ und nicht nach einer republikanisch, sich selbst organisierenden und erst noch herzustellenden Öffentlichkeit wie der der anderen Gruppe.84 Sein Entwicklungsgang innerhalb dieser „reaktionäre[n] Ideologie“85 war jedoch ebenso wie der der anderen Gruppe geprägt durch die „Bipolarität von Kampf und Ruhe“86, weshalb sich seine Geschichte ebenfalls durch ‚Wellenbewegungen‘ auszeichnete (mit Kanon und Negativkanon). Der Kamm der Welle zeigte sich dabei als „[i]nnere Sittlichkeit“, die unter der Voraussetzung „politische[r] Befriedung“ erreicht wurde und werden konnte.87 Diese Voraussetzung wiederum bedurfte ihrerseits eines – dies war sicher ihrem Glauben geschuldet – Patriarchalismus, wie sie in der Geschichte nachzuweisen versuchten und wodurch sie letztlich auch das Deutsche Kaiserreich nach 1870/71 antizipierten.88 Ähnlich
81
August Friedrich Christian Vilmar: Vorwort zur vierten Auflage. In: Ders.: Geschichte der Deutschen Nationalliteratur. Mit einer Fortsetzung: „Die deutsche Nationalliteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart“ von Adolf Stern. Siebenundzwanzigste Auflage bearbeitet von Heinrich Löbner und Karl Reuschel. Marburg in Hessen 1911, VII.
82
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 164. Hierzu auch Behm:
83
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 164. – vgl. hierzu beispiel-
Aspekte reaktionärer Literaturgeschichtsschreibung, 239ff. haft Vilmar: Geschichte der National-Literatur, 277f. 84
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 168.
85
Hans-Martin Kruckis: Goethe-Philologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert. In: Fohrmann/Voßkamp (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, 451-493, 454.
86
Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 165. Vgl. hierzu beispielhaft
87
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 163.
88
Vgl. ebd.
auch: Ohly: Literaturgeschichte und politische Reaktion, 104.
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wie die andere Gruppe schätzten auch sie die Weimarer Klassik als notwenige Vorstufe zur (erneuten) Einheit ein.89 In ihr sahen sie die bisherige Entwicklung der Moderne ein Stück weit zurückgenommen. Und weil auch sie der Überzeugung waren, dass hier „auf ästhetischem Feld gezeigt [wurde], dass Schönheit nur auf der Basis von Sittlichkeit sich entwickeln könne“90, plädierten sie dafür, diese Tendenzen fortzusetzen, um dadurch „die Reinigung und Verjüngung des religiösen, des wissenschaftlich=künstlerischen und des politisch=sozialen Lebens – die wahre Kirche und Schule, den gerechte[n] und starke[n] Staat“91 zu bewirken. Das Schillersche Modell einer ästhetischen Erziehung wurde also auch hier wirksam;92 die Stadien nationalliterarhistorischer Entelechie blieben dieselben93 sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Das gerechte Wollen des Einzelnen, dessen Handeln durch die ästhetische Ausbildung seiner Sittlichkeit transparent und kalkulierbar werden sollte,94 sollte am Ende in das Allgemeinwohl münden, woraus die Nation als objektive Einheit, der sittliche Staat als sittliche Gemeinschaft95 schließlich hervorgehen und sich vollenden sollte.96
3.2 D IE
ANTHROPOLOGISCHE
W ENDE
Besonders nachhaltig aus diesen beiden Gruppen der Literaturgeschichten wirkte für die folgenden Jahrzehnte der literarhistorische Entwurf von Robert Prutz. Dieser hatte eine in der Wissenschaftsgeschichte bedeutende97 anthropologische Wende eingeleitet, indem er das „menschliche Subjekt oder die Subjektivität schlechthin“ in den Mittelpunkt des Interesses rückte und somit das „Subjekt der diagnostisch zu ermittelnden Geschichte“ neu bestimmte.98 Ziel war auch für ihn
89
Vgl. beispielhaft: Vilmar: Geschichte der deutschen National-Literatur. 4. vermehrte Auf-
90
Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 593.
91
Gelzer: Die neuere deutsche National-Literatur, XIII, zitiert nach Fohrmann: Geschichte
lage, 117; hierzu auch: Ohly: Literaturgeschichte und politische Reaktion, 108.
der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 593. 92
Vgl. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 593.
93
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 169.
94
Vgl. ebd., 166.
95
Vgl. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 593.
96
Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 167.
97
Klaus Weimar siedelt Prutz in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung sogar höher
98
Ebd., 322.
ein als Gervinus (vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 329).
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als Junghegelianer99 „die vollkommenste Aussöhnung und Uebereinstimmung [des Subjekts] mit dem Ewigen“ sowie „mit der geschichtlichen und praktischen Erscheinung desselben [scil. des Ewigen], mit dem Staat“, wodurch es „zur vollkommensten Harmonie, zu Theilnahme und Freiheit“ gelangen sollte.100 Nun bedurfte seiner Ansicht nach „[d]as Absolute, wie es für uns im Einzelnen, im Subjekt, zur Erscheinung kommt und in ihm sich bethätigen soll, […] auch selbst die Subjektivität zu seiner Offenbarung“101. Als das „bewegende Prinzip aller geschichtlichen Progression“102, als den „bewegende[n] Atem der Geschichte“103 verstand er die „Auflehnung der Subjektivität gegenüber objektiven gesellschaftlichen Zuständen, die – Ausdruck vergangener Perioden – sich hemmend der Entwicklung zu einer immer reicher ausgebildeten Subjektivität in den Weg stellen“104. Seiner Ansicht nach hatte „in der Innerlichkeit des Subjects“ das Absolute die „vorhergehenden Entwicklungsstufen“, in denen „der Geist selbst [..] eingeboren“ war, „aufgehoben und gleichsam in sich zurückgeschlungen.“105 Diese „individuelle Selbstverwirklichung“ bzw. diese „Ausbildung des ‚schönen Subjekts‘“106 diente der Entwicklung zur freie[n] Persönlichkeit, [zum] sich selbst maßgebende[n], sich selbst bestimmende[n] Individuum, [zum] Mensch als Herr und Maßstab seiner selbst als Kern und Grundlage aller Freiheit überhaupt – und [zur] freie[n] Kunst, [zum] ideale[n] Reich der Schönheit, als die freie Wohnung gleichsam des geretteten freien Menschen, de[m] Leib, de[m] entspre-
99
Vgl. hierzu: Pepperle: Einleitung, 29.
100 Robert Eduard Prutz: Der Göttinger Dichterbund. Zur Geschichte der deutschen Literatur. Bern 1970 (Nachdruck der Ausgabe von 1841), 10; dieser Gedanke entspricht genau dem Gedankengang Hegels bei dem der Staat, „der näher bestimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt [war], worin die Freiheit ihre Objectivität erhält und in dem Genusse dieser Objectivität lebt“; vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 52. 101 Prutz: Der Göttinger Dichterbund, 10. 102 Pepperle: Einleitung, 39. 103 Prutz: Der Göttinger Dichterbund, 12. 104 Pepperle: Einleitung, 39f.; vgl. auch das hier zusammengefasste Original Prutz: Der Göttinger Dichterbund, 11 sowie Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 322f. 105 Prutz: Der Göttinger Dichterbund, 12. 106 Pepperle: Einleitung, 39.
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chende[n], welche[r] die freie Persönlichkeit aus sich selbst heraus erschafft, um ihrer Selbstständigkeit, ihrer Freiheit, froh zu werden.107
Dies wiederum bildete die notwendige Voraussetzung der Befreiung der Gesellschaft als Ganzes. Den Selbstverwirklichungsprozess sah Prutz in den „literarisch tätigen Persönlichkeiten“108 vorgeprägt, die in ihrer jeweiligen Subjektivität nichts anderes als Kristallisationspunkte des Subjekts waren.109 Durch sie, in denen sich also der sich entwickelnde Geist der Geschichte manifestierte bzw. dessen stufenweiser Ausdruck sie wurden,110 zeichnete er den geschichtlichen Prozess nach. Ihre poetischen Werke wurden an ihrem „ästhetischen Wert“ gemessen, der sich wiederum daran bemaß, „wie tief, allseitig, überzeugend in ihm der bewegende Atem, die treibende Kraft, der jeweiligen geschichtlichen Entwicklung gestaltet [war]“111. Die Werke selbst jedoch erschienen nur als „Ergebnisse der Tätigkeit jener Persönlichkeiten und als Ereignisse in ihrer Geschichte“112. Sie hatten zwar das Interesse auf die Persönlichkeit ihres Autors geleitet113 und galten (nach Prutz wesentlich stärker als bei ihm selbst) als Ausdruck dessen,114 wurden mehrenteils aber nur noch knapp und pauschal erwähnt, ihre Qualität „bündig konstatiert aber nicht [mehr] eigentlich aus der in sich notwendigen Geschichte der Subjektivität abgeleitet“.115 Im Vordergrund stand ganz der Autor, dessen „Leben und Taten“116. So interessierten – wie Prutz schreibt – „Göthe
107 Robert Eduard Prutz: Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart, Leipzig 1847, 44. Dies wiederum bildete die notwendige Voraussetzung der Befreiung der Gesellschaft als Ganzes. 108 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 325. 109 Vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 326. Vgl. zu diesem Subjektivitätsbegriff: Helmut Pfeiffer: Montaignes Enteignungen. In: Reto Luzius Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektvität, Bd. 1, Berlin 1998, 642-670, 642ff. 110 Hierbei kristallisierte sich etwas heraus, was vorher bereits in Ansätzen vorhanden war; vgl. etwa Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 143, 322, 329). 111 Pepperle: Einleitung, 38f. 112 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 325. 113 Ebd., 325. 114 Vgl. ebd., 399. 115 Ebd., 324. 116 Ebd., 325.
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und Schiller uns fast mehr als Individuen, denn als Dichter“117, weshalb zunehmend auch biographische Zeugnisse wie Briefe der Autoren an Bedeutung gewannen.118 Wie Klaus Weimar darstellt, war damit der Weg für „die historische Erforschung der Persönlichkeitsgeschichten“119 geebnet und eröffnet. In der Folgezeit schlug sich diese Entwicklung nicht nur im Denkmalkult „in Bronze oder in Buchstaben“120, in Dichterfeiern und deren Liturgie121 sowie in der Drombzw. Hodonymie122 nieder, sondern auch in der verstärkten Publikation von Biographien, Lebensbildern123 sowie in den aufkommenden umfangreichen Quellenuntersuchungen der Fachwissenschaft und der dort sich allmählich etablierenden „biographischen Methode“124. Diese sammelte möglichst alle (Lebens-)
117 Prutz: Der Göttinger Dichterbund, 65; auch zitiert bei: Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 324. 118 Vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 325. 119 Ebd., 328. 120 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 400. 121 Vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 401. 122 Sowohl Drom- als auch Hodonymie – dies sei hier den Gedanken der Einleitung dieser Arbeit aufgreifend noch einmal bekräftigt – eignen sich selbst wiederum zur Analyse von Kanonisierungsprozessen. So könnte man beispielsweise sehen, dass nach Paul Heyse bereits zu Lebzeiten, im Jahr seines 75. Geburtstages (1905) in München, seiner damaligen Wirkungsstätte, eine Straße benannt wurde (vgl. o.V.: Münchens Straßennamen. München 1983, 155). Interessanterweise wurde im gleichen Jahr in Berlin, seinem Geburtsort und seiner vormaligen Wirkungsstätte, im Stadtteil Prenzlauer Berg ebenfalls eine Straße nach ihm benannt (vgl. Kurt Wolterstädt/Hermann Zech: Prenzlauer Berg. Zur Siedlungs- und Baugeschichte. Alphabetisches Verzeichnis der Straßennamen. Konkordanz früherer und heutiger Straßennamen. In: Günter Nitschke/Ines Rautenberg/Christian Steer u.a. (Hgg.): Berliner Straßennamen. Ein Nachschlagewerk für die Stadtbezirke Friedrichshain, Hellersdorf, Hohenschönhausen, Lichtenberg, Mitte, Pankow, Prenzlauer Berg und Weißensee. Berlin 1992, 258-285, 275). Dass die Straßennamen im direkten Zusammenhang mit der Arbeit des Historikers stehen, der das dichterische Kapital bewahren, in ihm den Volkscharakter erkennen und ihm Denkmäler setzen soll, die dann „auf Plätzen und Strassen erglänzen und deren barbarische Namen tilgen“, darauf weist schon Jacob Grimm hin (Jacob Grimm: Schiller und Goethe (Berlin 10.11.1859). In: Ders.: Schiller-Reden. Ulm 1905, 4-26, 22; hier zitiert nach und vgl. bei: Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 183). 123 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 329, 366f. 124 Holger Dainat: Von der Neueren Deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp
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dokumente, um anhand dieser Zeugnisse ein Bild des dichterischen Bildungsgangs nachzuzeichnen und Beobachtungen darüber anzustellen, „wie sich das äußere Erlebnis in das innere wandelt“. Die Überzeugung, die hier zum Ausdruck kam, war die, dass „allein die genaueste Kenntnis von Einzelheiten des darzustellenden Handlungszusammenhangs […] die zuverlässige Erschließung des geschehenden Sinnes in der Subjektivitätsgeschichte sichern“125. Die von Prutz eingeschlagene biographisch-anthropologische Orientierung, die innerhalb der in der Literaturgeschichte bereits angelegten ‚Bildungsgeschichte‘ (s.o.) nur konsequent scheint,126 führte in der Folge wiederum zu verschiedener Ausprägung. So übernahm sie beispielsweise Rudolf von Gottschall, der wie sein Nekrolog auf Robert Prutz in der von ihm herausgegebenen Revue Unsere Zeit nahelegt, ein emphatischer Anhänger desselben war.127 In seiner 1855 erstmals erschienenen und zu Lebzeiten noch sieben Auflagen erlebenden Litteraturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts128 legte er demgemäß den Schwerpunkt auf die Charakterisierung der Autoren,129 d.h. auf „[d]as zusammenhängende Charakterbild, die Porträtstudie der einzelnen Dichter“130. Dabei bezog er „alle Kräfte und Entwicklungen“ immer wieder auf den „nationalen Standpunkt“ zurück, um so die „Vermehrung des geistigen Fonds der Nation“
(Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1994, 494537, 505. 125 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 328. 126 Denn letztlich bietet dieser Ansatz die Darstellung von “Welthaftigkeit des Individuums” (vgl. Hans-Martin Kruckis: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert. In: Fohrmann/Voßkamp (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, 550-575, 570), vom Wechselwirkungsprinzip von historischer Persönlichkeit und geschichtlicher Welt. 127 Vgl. Rudolf Gottschall: Robert Prutz. Ein literarischer Essay. In: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart. Monatsschrift zum Conversations-Lexikon. Neue Folge 8 (1872), 2. Hälfte, 433-454. 128 Rudolf Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt. Breslau 1855. – Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 173. 129 Rudolf Gottschall: Vorrede zur ersten Auflage. In: Ders.: Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Litterarhistorisch und kritisch dargestellt. Siebente, vermehrte und verbesserte Auflage, Breslau 1901, Bd.1, I-IX, I. 130 Gottschall: Vorrede zur siebten Auflage. In: Ders.: Die deutsche Nationallitteratur, IX-XV, XII.
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vor Augen zu führen und „ein Wachstum ihres Ruhmes“ zu bewirken.131 Seine Literaturgeschichte war, wie er selbst bekennt, deutlich geprägt durch die „Kenntnis des Hegelschen Systems und seiner Entwicklung“132 und widmete sich dabei einer „doppelte[n] Betrachtungs- und Darstellungsweise“, die das biographische Modell mit dem nationalhistorischen vereinte.133 Was die „Litteraturgeschichte der Vergangenheit“ betraf, so fasste er nämlich, um eine „ins Große gehende Charakteristik zu gestatten“, „den Inhalt der geistigen Bewegungen zusammen“134. Er berücksichtigte dabei „weniger den Entwicklungsgang der einzelnen Autoren [..], als ihr Eingreifen in die gesamte Entwicklung der Nation, das er [scil. der Literaturhistoriker] stets in dem entscheidenden Zeitpunkte darstellt“ 135. Bei der Literatur der Gegenwart, auf die er besonderes Gewicht legte,136 stellte er dagegen „die Entwicklung der einzelnen bedeutsamen Autoren in den Vordergrund“. Auf diese Weise wollte er „ihren geistigen Extrakt [..] gewinnen, und was in ihnen verwandt und gemeinsam ist, zur Bezeichnung einer literarischen Richtung [zusammenstellen]“ auch dort, wo sie „verschiedene Richtungen umfassen“ 137. Der „Zusammenfluß derselben in die allgemein geistigen Strömungen“ entsprach bei ihm selbstverständlich wiederum der (nationalen)138 Entwicklung bzw. Bildung.139 Doch obgleich die „Charakterausdeutung“ der Autoren140 bei ihm im Vordergrund standen141 und er Taine und Saint Beuve als „nachahmendswerte Muster [für] unsere deutschen Literaturgeschichts-
131 Gottschall: Vorrede zur ersten Auflage, I. 132 Ebd., VIII. 133 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 173. 134 Vgl. Gottschall: Vorrede zur ersten Auflage, VIIf. 135 Vgl. ebd., VIIf. 136 Vgl. ebd., VIIf. 137 Ebd., Vf. 138 Vgl. Hermand: Geschichte der Germanistik, 51. 139 Dies legt vor allem auch das Vorwort zur dritten, ein Jahr nach der Reichseinigung erschienenen Auflage nahe; vgl. Rudolf Gottschall: Vorrede zur dritten Auflage. In: Ders.: Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Litterarhistorisch und kritisch dargestellt. Vierte vermehrte und verbesserte Auflage, Breslau 1875, I, XXVII-XXX. 140 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 173. 141 Vgl. Rudolf von Gottschall: Vorrede zur ersten Auflage. In: Ders.: Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Litterarhistorisch und kritisch dargestellt. Siebente, vermehrte und verbesserte Auflage, Bd. 1, I-IX, XIIf.
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schreiber“ empfahl,142 lehnte er die „Fachgelehrsamkeit“, den ‚zusammengehäuften‘ „Zettelkram, der oft die gleichgültigsten Dinge berührt“ und nur angeführt wird, „um damit [die] Gelehrsamkeit außer Zweifel zu setzen“, ab143. Außerdem verurteilte er in gleichem Atemzug wie diese „Mikrologie“144 die positivistische Linie der „Kathedermänner der Scherer’schen Schule“145. Namentlich richteten sich seine Ausfälle zunächst und vor allem gegen Julian Schmidt, den er als deren „Vorkämpfer“146 sah. Tatsächlich gab es eine direkte Verbindungslinie zwischen Scherer und Schmidt bzw. zwischen dem Positivismus und der von Schmidt vertretenen Programmatik.147 Scherer hatte in seiner Literaturgeschichte bekannt, dass Julian Schmidt ihn mit wahrem Enthusiasmus erfüllt habe, wie umgekehrt dieser die positivistische Generation als Fortschritt begrüßte.148 Der Konflikt zwischen Gottschall und Schmidt, die nach Aussagen Gottschalls ‚dieselben Voraussetzungen‘ in ihrer Bildung hatten – beide hätten „die Schule der neueren Philosophie durchgemacht und in der Stadt der ‚reinen Vernunft‘ in Karl Rosenkranz einen gemeinsamen Lehrer gehabt“149, lässt sich zwar an der „Epigonalitätsthese“150 Schmidts und der „folgenreichen Konstruktion“151 des Widerspruchs durch Gottschall, wie Jürgen Fohrmann dies tut, festmachen, die Frage aber, ob die nachklassische Literatur als epigonal oder als
142 Rudolf von Gottschall: Vorrede zur siebenten Auflage. In: Ders.: Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Litterarhistorisch und kritisch dargestellt. Siebente, vermehrte und verbesserte Auflage, Bd. 1, IX-XV, XII. 143 Ebd., XII. 144 Zur Mikrologie vgl. Kruckis: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform, 565f. 145 Gottschall: Vorrede zur siebenten Auflage, XIV. 146 Ebd., X. 147 Auch wenn dies von Rosenberg angezweifelt wird; vgl. Rainer Rosenberg: Die deutsche Literatur im Licht des poetischen Realismus. Das Literaturgeschichtsbild des nachrevolutionären deutschen Bürgertums. Julian Schmidt. Rudolf von Gottschall. In: Ders.: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1982, 78100, 100. 148 Vgl. Helmuth Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland 1848-1960. Tübingen 1972, 26. 149 Rudolf Gottschall: Vorrede zur zweiten Auflage. In: Ders.: Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Litterarhistorisch und kritisch dargestellt. Vierte vermehrte und verbesserte Auflage, Breslau 1875, XIV-XXVI, XV. 150 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 172. 151 Ebd.
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fortschrittlich gewertet werden müsse,152 ist in gewisser Weise nur Indikator für einen viel grundsätzlicheren Konflikt – zumal, wie Gottschall ja auch selbst gleich einräumte,153 Schmidt diese These in den späteren Auflagen seiner nahezu zeitgleich mit der von Gottschall geschriebenen154 Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert durchaus relativierte.155 Es war der Konflikt zwischen der „realistisch und akademischen Richtung“, dessen „Vorkämpfer“ aus Sicht Gottschalls eben Julian Schmidt war, und der von Gottschall vertretenen „idealistischen“,156 der durchaus nuancierter ist, als die Begrifflichkeit zunächst annehmen lässt und der weniger durch die Vorwürfe Gottschalls, die polemischer als prononciert und vor allem durch die Angst der „Kanonkonkurrenz“157 getragen scheinen, als durch den Vergleich der Ausführung beider erkennbar wird.158 Tatsächlich hat ihr Zugang etwas Verwandtes und Stellen, an denen die Unterschiedlichkeit greifbar scheint, relativieren sich wenig später wieder durch fast konträre, der Gegenposition entsprechende Aussagen.159 Der grundsätzliche Unterschied liegt letztlich in der Geist-Konzeption: Gottschall knüpfte an das Bisherige an. Die Entwicklung des „‘deutschen‘ Geistes‘“ folgte noch immer dem „ideale[n] Streben nach dem Höheren“160. Am Ende stand auch weiterhin, wie bereits angedeutet, die „geistige Einheit der Nation“161, die in der
152 Vgl. ebd., 172. 153 Gottschall: Vorrede zur zweiten Auflage, XV. 154 Vgl. ebd., XV. Die Erstauflage der Schmidtschen Literaturgeschichte erschien 1853: Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Leipzig 1853. 155 Vgl. Julian Schmidt: Leipzig den 31. Oktober 1855. In: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Dritte, wesentlich verbesserte Auflage. Leipzig 1856. Dritter Band: Die Gegenwart, VII-XII, XI. Vgl. auch Rosenberg: Die deutsche Literatur, 97. 156 Gottschall: Vorrede zur siebenten Auflage, X. 157 Zimmer: Uhland im Kanon, 437. – Wobei diese Angst sicher auch aus dem Konkurrenzdenken des als Herausgeber der Blätter für literarische Unterhaltung und Unsere Zeit gegenüber dem Herausgeber des Grenzboten herrührt. 158 Wobei, dies trägt auch wesentlich zur Schwierigkeit der Differenzierung bei, vor allem die Position Schmidts über die Zeit hin durch vielfältige Revisionen und Neudefinierungen schwer greifbar ist; vgl. hierzu ebenfalls Rosenberg: Die deutsche Literatur, 89ff. 159 Ähnlich auch Manuela Günter: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008, 159. 160 Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, 53. 161 Ebd., 54.
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Literatur(geschichte) antizipiert wurde.162 In diesem Sinn ist auch sein Widerspruch gegen die These des Verfalls zu begreifen: Gottschall verfolgte auch weiterhin das Prinzip des „von innen heraus auf die Welt“-Wirkens,163 das durch die Autoren als „Prophet[en] des neuzeitlich-nationalen Geistes“164 anschaulich bzw. manifest(ierbar) wird.165 Und gerade die angeblichen „Epigonen unserer Klassiker“ wurden für Gottschall, da sie „aus unserm eigensten Leben schöpfen[] und eine neue und ideale Volkspoesie gestalten[]“ im Gegensatz noch zu Goethe und Schiller, deren Volkstümlichkeit allein auf ihrem „Genie“ beruhte und die deshalb die „nationale Entwicklung“, auch wenn sie sie notwendig geprägt und vorangetrieben hatten, nicht abschließen konnten, zu Garanten der Zukunft.166 Von daher ist es keineswegs so, dass Gottschall sich in seiner Zielsetzung auf die Darstellung des „Rein-Menschlichen“ festlegen möchte und nicht mehr auf die „‘Auswicklung‘ eines nationalen Zentrums“, wie Fohrmann glaubt.167 Vielmehr rangiert bei Gottschall beides gleichwertig und die Akzentuierung der Anthropologie muss vielmehr im Sinne Schillers als notwendige nationale Vorstufe verstanden werden (s.o.).168 Das Konzept Schmidts hingegen setzt die Wirkweise „von außen“ an.169 Das heißt jedoch keineswegs, dass sich die Zukunftgerichtetheit in dieser Konzeption verloren hätte.170 Sie beschränkt sich nur und kehrt sich ab vom Ideal. Sie nimmt die Gegebenheit der Entwicklung hin als von außen gesetzte Wirklichkeit. So schreibt Schmidt programmatisch:
162 Vgl. ebd. 163 Gottschall: Vorrede zur zweiten Auflage, XXI. 164 Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, 129. 165 Gottschall: Vorrede zur dritten Auflage, XXIX sowie Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, 54. 166 Gottschall: Vorrede zur ersten Auflage, IIIf. 167 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 172f. 168 Erkennbar wird dies auch in Rudolph Gottschalls: Festrede, gehalten zur Säcularfeier Schiller’s am 10. November 1859 im Schießwerder zu Breslau. Separat-Abdruck aus der Breslauer Zeitung, Breslau 1860. Und auch seine eigenen Schriftstellereien betonen das nationale Moment sehr deutlich: vgl. hierzu etwa auch Monika MaĔczyk-Krygiel: „Das Vaterland… und ist’s denn nicht ein Phantom unserer Träume?“. Zum patriotisch-nationalen Diskurs in der historischen Prosa Rudolf von Gottschalls. In: Orbis Lingarum 24 (2003), 47-60. 169 Gottschall: Vorrede zur zweiten Auflage, XXI. 170 Vgl. hierzu auch Günter: Im Vorhof der Kunst, 160.
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Das Leben hebt manche Illusionen auf, es zeigt uns aber die wirkliche Kraft im schönsten Licht. Wir haben in früherer Zeit unser Herz zu sehr an unbestimmte Ideale geknüpft, unsere Phantasie zu sehr an Bildern aus der Fremde geweidet: jetzt sind wir mitten in unser deutsches Leben versetzt, tief in Sorge, Noth und Leidenschaft getaucht, aber aus dem Boden, auf welchem wir stehen, erwächst uns auch immer neue Kraft, und in ernster, folgerichtiger Arbeit werden wir erkennen, daß das wahrhaft Ideale auch das Wirkliche ist.171
In diesem realpolitisch zu lesenden Bekenntnis am Ende seiner Literaturgeschichte, das sich fast wie eine postrevolutionäre Antwort auf die bereits zitierten letzten Sätze der Gervinusschen Literaturgeschichte liest (s.o.), steckt im Grunde der ganze Kern des realistischen Programms Schmidts. Realismus bezeichnet hier also ein „neue[s] politische[s] Verhalten, das sich vom Vormärz, von eben jenem ‚progressistischen‘ Idealismus abgrenzen will, durch engeren Anschluß an das Bestehende als an politische Ideale“172. Der Begriff kennzeichnet eine „empirisch-pragmatische Haltung zur Wirklichkeit“ und dient als „Synonym für ‚Realpolitik‘“.173 Wie die letzten Worte des Zitats deutlich erkennen lassen, bedeutet das nun in keiner Weise eine Resignation,174 weder politisch noch in Bezug auf das bürgerliche Selbstbewusstsein. Es wird weiterhin an bürgerlichen Idealen und insbesondere auch am bürgerlichen Wert- und Sittenkodex festgehalten. „An die Stelle spekulativer Abstraktionen und Vermittlungen [tritt hier nun] die unmittelbare Realität des tätigen sittlichen Ichs […], das in seiner sittlichen Tat die konkrete Einheit von Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit erfährt“175. Der „Maßstab der Sittlichkeit“176 bleibt also Grundlage des ästhetischen – zugegeben aber fadenscheiniger werdenden – Werturteils.177 Er verselbstständigt sich aber insofern, als er nicht mehr den „Vormärz-Ideologien“ verschrieben bleibt, „die revolutionäre politische Konsequenzen aus der Hegel-
171 Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Dritte, wesentlich verbesserte Auflage. Leipzig 1856, Bd. 3: Die Gegenwart, 475. 172 Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, 24. 173 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 87. 174 Vgl. ebd., 79, 85. 175 Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, 26. 176 Gottschall: Vorrede zur zweiten Auflage, XVII 177 Vgl. hierzu auch: Wolfgang Albrecht: Wegweiser zu neuer Poesie? Ästhetische Kriterien politisierter deutscher Literaturkritik um 1850 (Wienbarg, Vischer, J. Schmidt). In: Forum Vormärz Forschung 6 (2000): Literaturkonzepte im Vormärz, 23-48, 41f.
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schen Philosophie gezogen hatten“178. Dadurch wird er nun ebenso wenig den (im weiteren Sinn, nämlich als politische Machtteilhabe179 zu verstehenden) „‘übertriebenen‘ Forderungen der Demokratie“180 unterstellt, die aus Sicht der meisten Liberalen maßgeblich Schuld am Scheitern der politischen Revolution waren.181 Schmidt löste sich also „aus dem geschichtsphilosophischen Begründungszusammenhang des deutschen Idealismus“ und schuf so den Übergang zu einer „rein pragmatischen, ‚realpolitischen‘ Argumentation“182, die die VormärzIdeologien als historische Konstruktion entlarvte und kritisierte. Mit dem erklärten Ziel also, „gegen die schädliche Wirkung der modernen Schöngeisterei auf unser Leben zu protestieren, den Grund dieser Verwirrung nachzuweisen und auf den richtigen Weg hinzudeuten“183, „das Ideal […] als Feind der Wirklichkeit“184 auszuweisen, beschreibt Schmidt u.a. zunächst, an welcher Stelle die Entwicklung ihren Anfang genommen hat. Diese liegt nämlich (und das scheint gerade angesichts unserer eigenen Ausführung bemerkenswert) in nichts anderem als der Autonomisierung der Kunst: Da wir kein öffentliches Leben hatten, so mußte der geistige Adel sich zunächst ins Individuelle flüchten; und da der Einzelne in der Gesellschaft, im Staat keinen Spielraum fand,
178 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 79. 179 Vgl. ebd. 180 Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, 29. 181 Im Grunde vollzieht, wenn auch unter anderen Vorzeichen, Schmidt eine ganze ähnliche Wandlung wie sie schon Schiller in Bezug auf die Französische Revolution vollzog. Ähnlich wie die Entwicklung von den Augustenburger Briefen hin zu den „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ wird auch er durch „das Scheusal der Revolution in seiner ekelhaften Nacktheit“, wie er sie in einem unsignierten Grenzboten-Artikel zur „Ermordung Lichnowsky’s und Auerswald’s“ beschreibt, aus den „bisher aufgeregten Morgenträumen“, die die „Vision der lorbeerumkränzten, dunkeläugigen, geistreichen blassen Göttergestalt der Freiheit“ heraufbeschwor, aufgeschreckt ([Julian Schmidt]: Die Ermordung Lichnowsky’s und Auerswald’s. In: Grenzboten 3 (1848), 501 und 508 [zitiert nach: Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, 30f.]). Aus diesem Grund wird auch hier ein anderer Weg eingeschlagen, der zum Ziel führen soll. Während er bei Schiller jedoch der des utopischen Ideals ist, ist es bei Schmidt ein realpolitischer, zugleich aber auch ein dem ökonomischen Fortschrittsglauben huldigender. 182 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 83. 183 Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Zweite, durchaus umgearbeitete, um einen Band vermehrte Auflage. Bd. 1, VII. 184 Ebd., VIII.
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mußte er in der Kunst ein Asyl suchen; um frei zu sein, mußte er mit gleichgestimmten Seelen sich isolieren.185
Von dort führte der Weg, so verführerisch er sich gestaltete,186 zu einem angesichts der tatsächlichen politischen Entwicklungen jedoch sichtbaren Trugschluss, indem man meinte, die „Kunst zur Prophetin des Lebens“187 machen zu können. Dieser „Aufgabe“ zeigte sie sich jedoch „nicht gewachsen“, da sie „die Räthsel der Wirklichkeit“ weder lösen noch „die Wirklichkeit […] ersetzen“ kann, obgleich „in der That“ solches „von ihr verlangt [wurde]“.188 Genau hier ist auch (trotz aller Verdienste, die er ihr zuerkennt)189 die Entstehung von Gervinus‘ Literaturgeschichte zu verorten – dort nämlich, „wo man sich die Zukunft der Nation nur durch den Glauben vermitteln konnte, das heißt durch den Wunsch und die Sehnsucht“190. Und so offenbaren sich auch die dort formulierten Ziele lediglich „als Trost für die Wirrnisse der Gegenwart“.191 Auch dem von Gervinus geprägten ‚evolutionären‘ Prinzip erteilt Schmidt damit eine deutliche Absage.192 Den Schülern Hegels warf er vor, Hegel nicht differenziert genug verstanden und nur den „Schaum seines Wissens“193 abgeschöpft zu haben. Er bezeichnet sie gar als „halbgebildete Menschen“, die ‚gedankenlos‘ mit dessen „philosophischen Sätzen umgehen.“194 Ähnliches hatte er auch schon in seinem
185 Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, 11. 186 Ebd., 19. 187 Ebd. 188 Ebd. 189 Vgl. Schmidt: Vorrede: Leipzig, den 31. Oktober 1855, IX. sowie den Nachruf Schmidts auf Gervinus in: Neue Bilder aus dem Geistigen Leben unserer Zeit. Der ganzen Folge dritter Band, Leipzig 1873, 344-368; wiederabgedruckt in: Edgar Marsch: Über Literaturgeschichtsschreibung. Die historisierende Methode des 19. Jahrhunderts in Programm und Kritik. Darmstadt 1975, 374- 394, insbes. 377-379. 190 Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Zweite, durchaus umgearbeitete, um einen Band vermehrte Auflage. Bd. 1.: Weimar und Jena in den Jahren 1794 bis 1806. Leipzig 1855, IX. 191 Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Dritte, wesentlich verbesserte Auflage. Leipzig 1856, Bd. 3, 436. 192 Ebd., 431. 193 Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Dritte, wesentlich verbesserte Auflage. Leipzig 1856, Bd. 2: seit Lessing’s Tod, 455. 194 Ebd., 460.
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1848 in der Zeitschrift Die Epigonen veröffentlichten Artikel „Die Poesie und die Scholastik“ angeklagt,195 wo er den Schülern vorwarf, den Hegelschen Diskurs mit „ungeschickter Hand“ in einem „bloß formellem Mechanismus“ angewendet zu haben.196 Daher verwies er deren geschichtsphilosophische Interpretation in die „Sphäre des Spekulativen“197. Sie gehörten letztlich zu jenen „Eitelkeiten des subjektiven Wollen“, an denen – wie er angesichts der politischen Entwicklungen nach ૃ48 konstatierte – „wir noch immer kranken“198. Auch die Porträtierung der Dichter, die er für essentiell hielt, zeigt die gleiche Wirklichkeitsfremde auf. So schreibt Schmidt etwa über das Goethebild: Die ganze Nation hat sich und zwar mit Recht, daran gewöhnt Goethe’s Leben als die Hauptsache, seine Werke nur als Erläuterung desselben anzusehen. Wir haben in diesem Leben einen Mythus, an dem wir uns erbauen, wie unsre Ahnen am Mythus vom Siegfried, unsere Väter an den Geschichten vom Luther und vom alten Fritz, und da unsere Geschichte nicht übertrieben viel Persönlichkeiten darbietet, an denen wir uns begeistern könnten, so ist dieses Ideal eines harmonischen Privatlebens unser bester Schatz. Aber auch in diesem Cultus ist etwas von jenem Kunstidealismus der sich am Schein hält, und die Wirklichkeit verschmäht.199
Schmidts fordert daher, dass „die Geschichte über den Mythus“ treten soll und „man sich nicht mehr vor dem Gott niederwirft“ und letztlich, wie Goethe es selbst getan hat, „sein Leben wie ein Kunstwerk schafft“ und der „Wirklichkeit“
195 Julian Schmidt: Die Poesie und die Scholastik. In: Die Epigonen 5 (1848), 209-236. Solche Zeitschriftenbeiträge dürfen hier teilweise durchaus herangezogen werden, sofern ihre Positionen (wie etwa einige spätere) denen der Literaturgeschichte nicht widersprechen, da vieles in den literaturhistorischen Schriften der siebziger und achtziger Jahre auf seiner journalistischen Publizistik beruht (vgl. Rosenberg: Die deutsche Literatur, 83). 196 Schmidt: Die Poesie und die Scholastik, 209f.; vgl. hierzu auch: Marcus Hahn: Die Poesie und die Scholastik. Julian Schmidt, Karl Rosenkranz und die Epigonen der Literaturtheorie. In: Ders./Susanne Klöpping/Holger Kube Ventura (Hgg.): Theorie – Politik: Selbstreflexion und Politisierung kulturwissenschaftlicher Theorien. Tübingen 2002, 107-118, 109f. – Schmidt verortet diesen „Theorieimperialismus der Hegelianer“ (ebd., 110) insbesondere bei Rosenkranz. 197 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 78, 86. 198 Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Dritte, wesentlich verbesserte Auflage, Bd. 3, 474. 199 Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, 11f.
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kein „selbstständiges Recht“ zugesteht, sondern sie nur in den Dienst setzt, um „zu idealisieren“.200 Im Gegenteil: die „Neigung zu den Ideen“ soll und darf gerade nicht den „Respect vor den Thatsachen“ unterdrücken.201 Es soll gerade nicht um eine solche Art der „‘Verklärung des Lebens‘“202, sondern um eine (aus Schmidts Perspektive) „‘wirklichkeitsgetreu[e]‘“ und „‘objektiv[e]‘“203 Darstellung gehen. Auch wenn er – wie die meisten liberalen Nachmärzideologen – aufgrund der von ihm gemachten Erfahrung selbst eine „notorische System- und Theoriefeindlichkeit“204 an den Tag legt und daher kein wirklich zusammenhängendes Gegenprogramm explizit formuliert, so wird doch (ex negativo) klar, worauf Schmidt den Akzent legt und worin innerhalb des biographischanthropologischen Ansatzes (im Unterschied etwa zu Gottschall) die Akzentverschiebung liegt: die „philologisch-mikrologischen Erkenntnisse“ über den Dichter sollen nicht „hilfsweise“ verwendet werden, d.h. um die zugrundeliegende „geschichtsphilosophische Konstruktion zu untermauern“205 und innerhalb dieser eine „Theifizierung“206 zu bewirken. Vielmehr gilt es, das Spekulative auszuklammern und sich „auf die Feststellung historischer Tatsachen zurückzuziehen“207. Wir stoßen hier letztlich auf ein ähnliches Phänomen, das wir schon an anderer Stelle einmal beobachten konnten, als es um das ‚Prinzip historischer Individualität‘ (s.o.) ging. Auch dort ging es darum, sich aus einem übergeordneten zielgerichteten historischen Denkmodell zu lösen und – wir wiesen in diesem Zusammenhang innerhalb der Kritik bereits auf die in Ansätzen vorweggenommene historistische Bewegung hin – auf diese Weise der Geschichte „gerechter“ zu werden. In diesem Zusammenhang konnten wir erkennen, dass dies keineswegs der Fall war und sich stattdessen die Geschichtsschreibung von einem metaphysischen Entwurfsmodell beeinflussen ließ, durch dessen Hintertür die verworfenen teleologischen Vorstellungen unter neuen Vorzeichen wieder Einzug halten konnten (s.o.). Ähnliches müssen wir nun auch hier feststellen, denn die Entsagung der dialektischen ‚Vormärzideologie‘ Hegelscher Provenienz und die dieser entgegengesetzten Forderung (nach) einer ‚realistischen‘ bzw. einer
200 Ebd., 12. 201 Schmidt: Vorrede, IX. 202 Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 595. 203 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 87. 204 Ebd. 205 Kruckis: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform, 562. 206 Ebd., 555. 207 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 78.
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„empirisch-praktischen Haltung zur Wirklichkeit“208 wurde mit einer „liberalen Fortschrittsgläubigkeit“ substituiert, die schließlich tatsächlich209 „dem Positivismus in der Literaturgeschichtsschreibung zum Durchbruch [verhalf]“210. Schmidts Glaubensbekenntnis liegt nicht, wie er schreibt, in den „Revolutionen“, sondern in dem „was außerhalb ihrer liegt“, nämlich in der „Wissenschaft, die das Gesetz der Natur durchforscht“ und in der „Kunst im weiteren Sinn, die über die Natur gebietet und sie zwingt, dem menschlichen Willen zu dienen.“211 Dieser Fortschritt in den Erkenntnissen der Wissenschaft wird gleichgesetzt mit der daraus resultierenden „Steigerung der Produktion“212. Darin sieht Schmidt (ähnlich wie die größte Gruppe der Nachmärz-Liberalen)213 „den Führungsanspruch der Bourgeoisie als der produktionsleitenden Klasse“ begründet.214 „Produktionskraft“ ist hier gleichbedeutend mit „Macht, und wo die Macht vorhanden ist“, so Schmidt „wird die Berechtigung nicht ausbleiben“215. Schmidt sieht also in der „industriekapitalistischen Entwicklung“ eine „Garantie für die allmähliche Auflösung der gesellschaftlichen Widersprüche“,216 genauer: hofft er, in der „ökonomischen Machtentfaltung der Bourgeoisie“217 einer späteren Machtpartizipation Vorschub zu leisten. Bis dahin überlässt sie der Adelsklasse die politische Machtausübung und die Aufgabe, das Proletariat, von dem es sich abzugrenzen gilt und um dessentwillen man aus Furcht den Kampf um die politische Macht abgebrochen hat,218 niederzuhalten.219 Entsprechend fällt auch die Selbstdefinition und der daraus resultierende (ästhetische)220 Wert- und Selektions-
208 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 87. 209 Insofern liegt Gottschall mit seiner Line, die er zwischen Schmidt und Scherer ansetzt, durchaus richtig. 210 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 79. 211 Julian Schmidt: Ein gutes Wort für Bourgeoisie. In: Grenzboten 4 (1849), 286-288 (zitiert nach: Rosenberg: Die deutsche Literatur, 84). 212 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 85. 213 Vgl. hierzu etwa ebd., 99. 214 Ebd., 85. 215 Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Dritte, wesentlich verbesserte Auflage. Leipzig 1856, Bd. 3, 297; zitiert auch bei: Rosenberg: Die deutsche Literatur, 85. 216 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 79. 217 Ebd. 218 Ebd., 85. 219 Vgl. ebd., 79f. 220 Vgl. hierzu auch Gottschall: Vorrede zur zweiten Auflage, XVII.
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maßstab aus, den man an die Kunst anlegt, die nun ihrerseits ebenfalls gemäß der ‚Vermehrung der Produktionskraft‘ des deutschen Bürgertums dem „Utilitaritätsprinzip“ unterstellt wird. Dabei kommt ihr (diesmal ganz offiziell) die Aufgabe zu, im Sinne der Festigung und Verbreitung bürgerlicher Moral zu wirken,221 um so wiederum den eigentlichen Führungsanspruch moralisch zu legitimieren.222 Diesem bürgerlich-liberalen Fortschrittsoptimismus zeigte sich auch Wilhelm Scherer in seiner Wissenschaftsauffassung affin.223 In dieser teilte er Julian Schmidts Kritik an einer idealistischen Literarhistoriographie224 und griff gleichsam dessen Forderung nach dem ‚Zurückziehen auf die historischen Tatsachen‘ auf. Zwar formuliert er ebenfalls nicht in stringenter Weise, doch lässt sich sein „‘kognitives Programm‘“ durch die in seinen Schriften zum Ausdruck kommenden „konzeptionelle[n] und methodologische[n] Zielstellungen“ ohne weiteres eruieren.225 Die zunehmende Ausrichtung auf die Technologie und die Naturwissenschaft,226 die Scherer in der Befragung des Zeitgeistes als „Signatura Temporis“227 ausmacht, zieht nach sich, dass auch die anderen Wissenschaften versuchen dem wissenschaftlichen Anspruch bzw. der exakt messenden Methode der Naturwissenschaften228 ihrerseits zu entsprechen.229 So formuliert auch Scherer:
221 Vgl. Rosenberg, Die deutsche Literatur, 86. 222 Vgl. ebd., 88. 223 Vgl. Rainer Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften. Wilhelm Scherers positivistische Geschichtsauffassung. Die Öffnung der Germanistik für die neuzeitliche deutsche Literatur. Leistungen und Grenzen des literaturwissenschaftlichen Positivismus. Die Scherer-Schule. Erich Schmidt u.a. In: Ders.: Geschichte der Germanistik, 101-127, 102. - Wobei Scherers politische Implikationen sicher nicht so weit wie die Julian Schmidts reichten bzw. innerhalb der literarhistorischen Betrachtungen keine eminente Rolle spielten. 224 Vgl. hierzu auch: Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 103. 225 Vgl. Ralf Klausnitzer: Wissenschaftliche Schule. Systematische Überlegungen und historische Recherchen zu einem nicht unproblematischen Begriff. In: Danneberg (Hg.): Stil, Schule, Disziplin, 31-64, 56. 226 Vgl. Rosenberg: Die deutsche Literatur, 79. 227 Wilhelm Scherer: Die neue Generation. In: Die Presse Nr. 167 vom 19. Juni 1870, [1-3] nicht wortidentisch auch zitiert bei Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 102. 228 Nachdem die Naturwissenschaften Anfang des 19. Jahrhunderts die Ansprüche der spekulativen Naturphilosophie abgewiesen hatten, konnten sie ihren Siegeszug antreten und der Philologie den Anspruch auf höchste Exaktheit, den diese zuvor innehatte, streitig machen. Dies führte dazu, dass am Ende des Jahrhunderts „Objektivität und Sicherheit der Methode mit Naturwissenschaften“ identifiziert wurden und nun ihrerseits die Philologie in den Na-
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Dieselbe Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, die selbe Macht, welche eine unerhörte Blüte der Industrie hervorrief, die Bequemlichkeit des Lebens vermehrte, die Kriege abkürzte, mit einem Wort die Herrschaft des Menschen über die Natur um einen gewaltigen Schritt vorwärts brachte – dieselbe Macht regiert auch unser geistiges Leben; sie räumt mit den Dogmen auf, sie gestaltet die Wissenschaften um, sie drückt der Poesie ihren Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an dem wir Alle gefesselt sind. Nicht nur daß für eine Reihe der wichtigsten Aufgaben die Geisteswissenschaften sich von der Naturforschung Hilfe erbitten müssen: die ganze Methode, der ganze Charakter der wissenschaftlichen Arbeit ist ein anderer geworden.230
Die Folge dieser Forderung nach einer „methodologische[n] Neudefinition der Geisteswissenschaften auf der Basis der exakten und induktiven Methode der Naturwissenschaften“231 ist zunächst die „[g]ewissenhafte Untersuchung des Thatsächlichen“232. Sie stellt letztlich auch einen Versuch dar, die Germanistik „aus ihrer nachrevolutionären Beziehungslosigkeit herauszuführen“233. So formuliert Scherer: Die neue Generation baut keine Systeme. Wir fliegen nicht zu den letzten Dingen empor. Die „Weltanschauungen“ sind um ihren Credit gekommen. Selbst der letzte interessante Versuch einer solchen kann dem nicht abhelfen. Denn das bloß Interessante hat keinen Werth mehr. Wir fragen, wie sind die Thatsachen, für welche ein neues Verständnis eröffnet wird? Mit schönen Ansichten, mit geistreichen Worten, mit allgemeinen Redensarten ist uns nicht geholfen. Wir verlangen Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. [Kursivierung C.G.]234
turwissenschaften „ihren Meister“ fand (Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft, 509). 229 Vgl. hierzu auch Rosenberg: Die deutsche Literatur, 81. 230 Scherer: Die neue Generation, [2f.]; gekürzt zitiert auch bei Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 102f. 231 Pier Carlo Bontempelli: Wilhelm Scherer und die Bildung des Habitus in der deutschen Germanistik. In: Danneberg (Hg.): Stil, Schule, Disziplin, 319-334, 320. 232 Scherer: Die neue Generation, [3]. 233 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 103. 234 Scherer: Die neue Generation, [2].
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Diese ‚Frage nach den Tatsachen‘ und das ‚Verlangen nach Einzeluntersuchungen‘ bedeutet in erster Linie eine „unter Ausschluß jedes wertenden Moments“235 sich rein am Material bzw. an den Quellen orientierende „induktive, empirische Arbeit“236 sowie eine sich daran anschließende „exakte[] wissenschaftliche[] Beweisführung“237. Es geht also um eine genaue quellenkritische Erschließung und Auswertung des Materials, letztlich das, was Scherer und seinen Schülern den Vorwurf des ‚zusammengehäuften Zettelkrams‘ (i.S. eines „Materialfetischismus“238) und der ‚Fachgelehrsamkeit“ von Seiten Gottschalls u.a. einbrachte und jenen bis heute polemisch verwendeten Begriff des „Positivismus“ prägt.239 Sie brachte aber auch jene bis heute anerkannten „außerordentlich[] wissenschaftlich-kulturelle[n] Leistungen“240 wie Goedekes Schiller- und Bernhard Suphans Herder-Ausgabe u.ä. hervor und bewirkte überhaupt erst die „Etablierung der Edition neuzeitlicher deutscher Literatur als eines ständigen Arbeitsbereichs der Literaturwissenschaft“241. In der Ausrichtung der Arbeit auf das genannte Ziel der Rückführung der Erscheinung auf die wirkenden Kräfte, die sie ins Leben riefen, also dahingehend, die „Genese der Literaturprodukte“ zu erklären, liegt auch hier der Schwerpunkt des Interesses auf dem Autor und dessen Biographie. Daher tendierte die Literaturforschung dieser Richtung generell zur „Biographie“ und die daraus hervorgehende Literaturgeschichte zur „Personalgeschichte“.242 Die von Scherer geforderte „gegenseitige[] Befruchtung von Natur- und Geisteswissenschaften“243 schlug sich jedoch nicht nur in der an
235 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 103. 236 Ebd. 237 Ebd., 113. 238 Ebd., 116. 239 Vgl. Andreas Kablitz: s.v. “Positivismus”. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 1998, 433-434, 433 sowie Holger Dainat: Zwischen Nationalphilologie und Geistesgeschichte. Der Beitrag der Komparatistik zur Modernisierung der deutschen Literaturwissenschaft. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik. Stuttgart/Weimar 1995, 37-53, 50. 240 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 117. 241 Ebd. 242 Vgl. ebd., 115; vgl. hierzu auch Hans-Martin Kruckis: Positivismus/Biographismus. In: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik. Berlin/New York 2009, 573596, 576. 243 Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin ²1878, 19 (hier zitiert nach: Hans-Harald Müller: Wilhelm Scherer (1841-1886). In: Christoph König/Hans-
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den naturwissenschaftlichen Methoden ausgerichteten Vorgehensweise und dem damit unternommenen Versuch der Entsprechung mit dem naturwissenschaftlichen „Exaktheitsideal[]“244 nieder, sondern prägte auch die Geschichtsbetrachtung. Denn mehr als „die einzelne Thatsache als solche“ interessierte Scherer „das Gesetz, welches daran zur Erscheinung kommt“245. Es war die „Auffassung der Einheit von Natur und Gesellschaft in Form der Reduktion der Gesellschaftsgeschichte auf Naturgeschichte“, die hierbei zum Ausdruck kam und eben „die Annahme des gesetzmäßigen Verlaufs der Gesellschaftsgeschichte in der Form der Gleichsetzung der angenommenen Gesetzmäßigkeit mit Naturgesetzen“ nach sich zog.246 Durch den Nachweis von „Gesetze[n] im Geschichtsprozeß“247 wollte Scherer umgekehrt also aufzeigen, dass alles mit „naturwissenschaftlicher Notwendigkeit“248 auseinander hervorging. Die von ihm angenommene „historische Grundcategorie“ lautete daher: „Causalität“249. In seiner literarhistoriographischen Praxis, in seiner eigenen Geschichte der Deutschen Litteratur250, zeigte Scherer zwar nicht die gleiche Entschiedenheit und Gradlinigkeit wie in seinen Proklamationen251 (und wie sie seine Schüler in ihrer eigenen Umsetzung dann an den Tag legten). Dennoch sind Ausdruck und Wirkung der von
Harald Müller/Werner Röcke (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Berlin/New York 2000, 80-94, 81) 244 Kruckis: Positivismus/Biographismus, 573. 245 Scherer: Die neue Generation, [3]. 246 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 103. 247 Müller: Wilhelm Scherer, 81. 248 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 115. 249 Wilhelm Scherer: Rezension von: Hermann Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrunderts. In: Marsch (Hg.): Über Literaturgeschichtsschreibung, 340-343, 340f. 250 Wilhelm Scherer: Geschichte der Deutschen Litteratur. Berlin 1883 (in Lieferungen erschienen seit 1880). 251 Vgl. hierzu Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 460 sowie Jürgen Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer. Eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen. Frankfurt a. M./Bern 1977, 250ff., worauf sich Weimar beruft. Dabei neigt Weimar selbst zu einer gewissen Polemik. Es stimmt nur bedingt, dass allein der in Bezug auf die positivistischen Grundforderungen fündig würde „der vorher weiß, was drin steht“, aber nicht der „der Scherers ‚Geschichte der Deutschen Litteratur‘ wirklich gelesen hat“ (Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 459f.)
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ihm dargelegten Programmatik durchaus sichtbar.252 Etwa dadurch, dass ‚keine Systeme‘ gebaut werden sollen und Scherer zudem in seiner Verachtung253 insbesondere der religiös-politischen Literaturgeschichten à la Vilmar (s.o.) auch jeglichen national-„chauvinistische[n] Behauptungen“254 und der darauf ausgerichteten und zielenden Geschichtsdarstellung eine Absage erteilt. In diesem Zusammenhang forderte er, „den falschen Patriotismus und die reactionäre Tendenz des landläufigen Literaturgeschichtsbildes durch eine sachgemäße Auffassung ohne Voreingenommenheit zu ersetzen“255, und nimmt den „entscheidenden Schnitt“ vor, der „durch die Grundlage der diagnostischen Historie“256 geht. Er geht so weit, das „diagnostisch zu erfassende Subjekt, hinsichtlich dessen alle Dichter nur Repräsentanten und alle Texte nur Symptome waren“257 ersatzlos zu streichen und dessen Stelle leer zu lassen. Dieses Vorgehen ist – wie Klaus Weimar überzeugend darlegt – insofern auch konsequent, als alle philologischen Operationen ja auf die „Unmittelbarkeit zum Dichterleben“ und auf den „dichterischen Schaffensakt“ zielen, der der Ursprung und der Ort des Sinns ist, und über den hinaus bzw. hinter den zurück zu wollen, eben unsinnig wäre.258 Diese „Austreibung des Geistes aus der Literaturgeschichte“ bewirkte nun zunächst „die Suspendierung aller historiographischen Zusammenhangskonzeptionen“259. Und für einen Augenblick scheint die Literaturgeschichte tatsächlich Gefahr zu
252 Auch hier gilt also, was Scherer in anderem Zusammenhang mit den Worten beschrieb: „Alle […] Erörterungen können als Methodik über poetische Erscheinungen angesehen werden. Ja, Methodik mehr als vollständige Ausführung. Nur Grundriß, Skizze wollen sie sein. Anleitung zu […] Untersuchungen“ (Wilhelm Scherer: Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse. Hg. v. Gunter Reiss, Tübingen 1977, 52; zitiert nach: Hans-Harald Müller: Stil-Übungen. Wissenschaftshistorische Anmerkungen zu einem (vor-)wissenschaftlichen Problem. In: Ulrike Haß/Christoph König (Hgg.): Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. Göttingen 2003, 235-244, 241). 253 Vgl. hierzu Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 111f. 254 Ebd., 112. 255 Wilhelm Scherer: Skizzen aus der älteren deutschen Litteraturgeschichte: Die Epochen der deutschen Literaturgeschichte. In: Ders.: Kleine Schriften. Hg. v. Konrad Burdach und Erich Schmidt. Bd. 1: Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie. Hg. v. Konrad Burdach. Berlin 1893, 672-675, 673. (zitiert nach Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaft, 112). 256 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 460. 257 Ebd. 258 Ebd. 259 Ebd.
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laufen, unversehens auf ihren Stand geworfen zu werden, den sie hatte, bevor das Subjekt eingeführt wurde, das ermöglichte, eine kontinuierliche Geschichte zu erzählen.260 Denn die Konzepte „‘Einfluß‘ und ‚Schule‘“– diese müssen im Sinn des von Scherer geforderten Kausalitätsprinzips verstanden werden261 – vermögen zwar „auf der nächst höheren Ebene der Autoren als Repräsentanten des Geistes Zusammenhang“262 zu stiften. Sie scheinen aber im Grunde mehr als Mittel zu dienen, das „Material für Darstellungszwecke zu gruppieren“, weshalb die Darstellung (zusätzlich bedingt durch das „temporal ungebundene[] Referat“263, das das vergangene Geschehen anschaulich machen soll) schließlich sogar den Eindruck „einer nicht enden wollenden Revue“264 bzw. eines „historischen Bilderbogen[s]“265 vermittelt. Doch dieser scheinbar ziellos gerichtete Gang durch die „Gemälde- und Ahnengalerie“266 hat seine Motivation, wie bereits hinter den Formulierungen einer Frühschrift Scherers deutlich wird: Wenn wir in die Vergangenheit unseres Volkes uns vertiefen, wenn wir die politische, literarische Culturgeschichte der Deutschen an unserem inneren Auge vorüberrollen lassen, so wird es uns zu Muthe wie den Sprößlingen eines edlen Geschlechts, welche in Ehrfurcht die Ahnensäle ihres Hauses durchwandeln. Da stehen sie befestigt Bild an Bild, alle Großen und Herrlichen, auf deren Fühlen, Denken und Handeln der Ruhm unserer Nation beruht.267
260 Vgl. ebd., 462. 261 Weimar scheint dies, obwohl er die Konzepte ausmacht, zu übersehen (vgl. ebd., 460). 262 Ebd., 461. 263 Ebd. 264 Ebd. 265 Uta Dobrinkat: Vergegenwärtigte Literaturgeschichte. Zum Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichtsschreibung Wilhelm Scherers am Beispiel der „Skizzen aus der älteren Literaturgeschichte“ und der „Geschichte der deutschen Literatur“. Berlin 1978, 489. Auf diese Analyse bezieht sich auch Klaus Weimar (Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 462). 266 Wolfgang Höppner: Literaturgeschichte erzählen. Zur Methodologie der Literaturhistoriographie bei Wilhelm Scherer. In: Donald G. Daviau/Herbert Arlt (Hgg.): Geschichte der österreichischen Literatur. Teil 1. St. Ingbert 1996, 24-39, 38. 267 Wilhelm Scherer: Achim von Arnim. In: Ders.: Kleine Schriften. Hg. v. Konrad Burdach und Erich Schmidt. Bd. 2: Kleine Schriften zur neueren Litteratur. Kunst und Zeitgeschichte. Hg. v. Erich Schmidt. Berlin 1893, 102-113, 102 (zitiert nach: Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 38).
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Scherer betrachtete Geschichte als „Wissenschaft von dem Leben der Völker“268 und „nach dem Vorgang der Naturgeschichte“ die Völker bzw. Nationen „gewissermaßen als verschiedene Arten der Gattung Mensch, mit bis in die subtilsten Äußerungen des geistigen Lebens […] hineinreichenden Besonderheiten“269. Diese Besonderheiten, der „Nationalcharakter“270, bildeten letztlich den Gegenstand seiner Untersuchung. Er setzte sich zusammen „aus erblicher Veranlagung, natürlichen Lebensbedingungen und ursprünglicher Lebensweise“271. In der Erforschung der Charakterzüge diente nach dem Vorbild Taines Philosophie der Kunst die „Psychologie“ als Erklärung der Erscheinungen,272 indem das „Kunstprodukt“ als „Produkt des menschlichen Geistes“, ja als individueller Ausdruck der jeweiligen „Mentalität einer Gesellschaft“273 angesehen wurde. Es geht um die „Aufklärung des Entstehungsprozesses von Dichtungen ‚in der Seele des Dichters‘“274. Das ist es, was Scherer mit dem erklärten Ziel der ‚Rückführung auf die wirkenden Kräfte, die diese Erscheinungen ins Dasein riefen‘ bezeichnet hat und was sodann als Grundlage der besagten gesetzmäßigen Abstraktion dient. Mit ihr erfolgt daher über die „vielzitierte Formel vom Ererbten, Erlebten und Erlernten“275, was auf individueller Ebene der o.g. Zusammensetzung des „Nationalcharakters“ entspricht und diesen daher stellvertretend und verallgemeinert sichtbar macht.276 Im Bild des ‚Sprösslings‘, der durch die ‚Ahnengalerie‘ spaziert, deutet sich an, dass, wie Wolfgang Höppner schreibt: die erzählerisch realisierte Form der Rekonstruktion von Geschichte bzw. Literaturgeschichte […] eben nicht nur das Anliegen [impliziert], den Zeitgenossen vorzuführen, wie deren kulturelle Vergangenheit beschaffen war, sondern auch, was sie ihnen bedeutet bzw. bedeuten soll.277
268 Wilhelm Scherer: Geschichte und Geschichtsschreibung unserer Zeit. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd 1. 169-175, 170. Vgl. Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 104 sowie Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 29. 269 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 104. 270 Ebd. 271 Ebd., 105. 272 Scherer: Geschichte und Geschichtsschreibung, 170; zitiert bei: Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 105. 273 Ebd., 104. 274 Kruckis: Positivismus/Biographismus, 575. 275 Ebd.. 276 Vgl. Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 28f. 277 Ebd., 33.
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Im „[Lese-]Akt des historischen Selbstverstehens“278 aber avanciert die literaturgeschichtliche ‚Revue‘ zur „Makart-Version eines kolossalen Triumphzugs idealer deutscher Gestalten“279. Nachdem der bürgerlich-liberale Fortschrittsoptimismus diese Forschungsposition erst hervorgebracht hat, liegt es nahe, dass die „strenge Forscherarbeit“, die wie die Rankesche Schule280 „den Zeitzusammenhang vergangener Geschehnisse als Sinn- und Wirkungszusammenhang zugleich aus den Quellen hermeneutisch [ermittelt und] quellenkritisch zu sinn- und bedeutungsvollen Geschichten [organisiert]“281, an dieser Stelle wiederum von ‚kulturpolitischen Absichten‘282 unterlaufen wird. Und tatsächlich: die Aussagen am Ende der Literaturgeschichte weisen erneut in diese Richtung: Nur aus der ganzen Folge der Epochen unserer Geschichte erkennen wir die Anlagen, die in uns ruhen; und nur in der gleichmäßigen Ausbildung aller würde die Vollendung unseres Wesens bestehen. Sie wäre wohl erreichbar, wenn es gelänge, die verhängnisvolle Einseitigkeit, die uns so leicht entstellt, zu überwinden, die natürlichen Neigungen durch bewußte Arbeit zu beschränken und den Geist der ablaufenden Epoche in die kommende hinüberzuretten.283
Wieder wird die nationalpädagogische Absicht deutlich. Und erneut ist es – wie Scherer an anderer Stelle, die sich wie eine Ergänzung zu Vorigem liest – der Weg über die Ästhetik, der hier beschritten werden soll: Wir können nicht mit Absicht Dichter erziehen, aber wir können unseren vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Dichtern ein Publikum erziehen, und wir können unserem
278 Ebd., 33. 279 Walter Benjamin: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften III: Kritiken und Rezensionen. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1991, 283-290, 285; vgl. auch Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 38. 280 Vgl. Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 28. 281 Jörn Rüsen: Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke. In: Hartmut Eggert/Ulrich Profitlich/Klaus R. Scherpe (Hgg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, 1-11, 7f.; vgl. auch Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 32f. 282 Vgl. Walter Benjamin: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, 285. 283 Wilhelm Scherer: Geschichte der Deutschen Litteratur. Zweite Ausgabe Berlin 1884, 720; zitiert bei: Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 39.
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Volke jene gleichmäßige Ausbildung der Geisteskräfte durch pädagogische Arbeit zuführen […].284
Das Erbe, das hier nämlich vom Verfasser gleich einem „Regisseur“285 arrangiert wird, entpuppt sich letztlich wiederum, wie auch Höppner zeigt, als ein „Wertekanon, dessen sich die Leser versichern können und der für die Gegenwart als Kraftquell wirken soll“286. Es geht um ein „Ansichtigmachen geistiger Werte“287, die „bildhaft zur Schau gestellt werden“288. Diese ‚Ahnengalerie‘ soll sodann als „Wegweisung“289 fungieren, wodurch vor allem „das Selbstbewußtsein breitester Schichten des deutschen Bürgertums im neugegründeten Kaiserreich“290 bestätigt und gefestigt werden sollte.291 Scherer gab folglich – scheinbar abgesichert durch eine beeindruckende Fülle exakter wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, die sein Werk enthält – eine Schilderung des Nationalcharakters, des „Geistes der Nation“, die in hohem Maß den ideologischen Bedürfnissen der deutschen Bourgeoisie entsprach.292
Und es liegt daher nahe, seine Worte von der Germanistik als „System der nationalen Ethik“ und der „nationale[n] Güter und Pflichtenlehre“,293 wie er sie in
284 Wilhelm Scherer: Goethe-Philologie. In: Ders.: Aufsätze über Goethe. Berlin 1886, 1-27, 9; zitiert bei: Wolfgang Höppner: Erich Schmidt, die Berliner Philologen und ihre Kleist Editionen. Zum Zusammenhang von Editions- und Wissenschaftsgeschichte. In: Peter Ensberg/Hans-Jochen Marquart (Hgg.): Kleist-Bilder des 20. Jahrhunderts in Literatur, Kunst und Wissenschaft. IV. Frankfurter Kleist-Kolloquium, 6.-7.08.1999, Stuttgart 2003, 25-43, 31. 285 Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 32. 286 Ebd. 287 Ebd., 37. 288 Ebd. 289 Ebd. 290 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 109. 291 Vielleicht erklärt sich gerade damit auch die Auflagenstärke der Schererschen Literaturgeschichte, die allein bis zur Jahrhundertwende, also innerhalb von zwanzig Jahren, zehn Auflagen erlebte, also fast alle zwei Jahre eine Neuauflage (vgl. Schumann: Bibliographie, 428f.). 292 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 109. 293 Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1868, VII.
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seiner Geschichte der deutschen Sprache geprägt hat, sich hier erneut in Erinnerung zu rufen.294 So lieferte er [i]ndem er in seiner Literaturgeschichte erst recht moralische Motive als wirksam aufzeigte, das geschichtliche Handeln der Deutschen als letztlich immer von einem solchen moralischen Idealismus bestimmt schilderte, […] den herrschenden Klassen in dem aus dem Eroberungskrieg gegen Frankreich hervorgegangenen neuen Deutschen Reich eine quasi KLVWRULVFKZLVVHQVFKDIWOLFKEHJODXELJWH5HFKWIHUWLJXQJVLGHRORJLH [Kursivierung C.G.].295
Der Anspruch, rein an den Tatsachen ausgerichtet und unter Ausschluß jedes wertenden Moments die Geschichte aufzuarbeiten, führt lediglich zur Aufgabe der bisherigen literarhistorischen Erzählstruktur. Währenddessen bleibt das Erziehungsprogramm und die Selbstlegitimation der Trägergruppe (s.o.) durch die historische Bekräftigung ihrer identitätsbildenden und -stabilisierenden Werte, die als Kriterien „alle[n] Qualitätsurteilen über die Dichter-Text-Einheiten“296 zugrunde lagen, aufrecht erhalten. Auch das „alte Gesellschaftspiel aus den Literaturgeschichten“297 (s.o.) lief im Grunde weiter.298 Letztlich, so könnte man überspitzt formulieren, spielt die Aufgabe der literarhistorischen Erzählstruktur sowieso keine Rolle, da der Kanon der als literaturhistorisch relevant angesehenen Autoren und Werke von ihr gänzlich geprägt ist. Interessanterweise übernahm Scherer diesen nämlich schlicht und sah seine Arbeit auch keineswegs dadurch in Frage gestellt, dass er auf nichts anderem als auf einer Reihe von Werturteilen beruhte.299 Auf „positivistische Weise“ objektivierte er dieses Wertungsproblem, indem er es der „Wirkungsrelation“ zuordnete und „die Höhe des ‚idealen Werths‘ eines Literaturproduktes einfach aus der Dauer seiner Wirkung ableitet[e]“. Letztlich fasst er also den Kanon „als Resultat eines kollektiven gesellschaftlichen Wertungsprozesses auf, in dem sich dauernde Wirkung niedergeschlagen hat[te]“300: Aber wie hier die Aesthetik von der Geschichte lernte und von der historischen Betrachtungsweise (die zugleich die philologische ist) zur Unparteilichkeit gezwungen worden ist,
294 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 109. 295 Ebd. 296 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 462. 297 Ebd., 456. 298 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen ebd. 299 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 115. 300 Ebd., 116.
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so soll sie durchweg und consequent von der Geschichte lernen und unparteilich verfahren, allen Erscheinungen der Dichtkunst und allen Völkern der Erde gerecht werden und ihnen im System ihre Stelle vorbehalten – und nicht vorschnell von Gut und Schlecht reden, sondern höchstens von größeren oder geringeren, oder noch lieber von den verschiedenen Wirkungen, welche durch verschiedene Arten der Poesie hervorgebracht werden. In der Analyse der Wirkungen werden zum Theil allerdings Werthurteile gegeben. Eine Poesie, von der gesagt werden kann, daß sie auf die edelsten Menschen aller Zeiten gewirkt hat, ist gewiß werthvoller als eine andere.301
Die „subjektive Ermessensfrage“ verflüchtigt sich somit in Berufung auf die „Verpflichtung auf einen objektiven historischen Tatbestand“302 und so bleibt trotz der Vermeidung des „Eindruck[s] höherer Notwendigkeit, ja auch nur der äußerlichen Konsequenz“303 durchaus „eine geschichtliche Ordnung“304 bestehen, deren Erhalt auf anderer Ebene (s.o.) verworfen wurde. Scherers „schulbildende Wirkung“ war bekanntlich enorm305 und seine positivistischen Grundpositionen formierten sich zu einer die deutsche Literaturge-
301 Wilhelm Scherer: Poetik. Hg. v. Richard Moritz Meyer. Berlin 1888, 64 (hier zitiert nach Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 116). 302 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 116 303 Walter Muschg: Das Dichterporträt in der Literaturgeschichte. In: Emil Ermatinger (Hg.): Philosophie in der Literaturwissenschaft. Berlin 1930, 277-314, 290. (zitiert nach: Benjamin: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, 285). 304 Ebd. 305 An dieser Stelle sei noch einmal der zu Beginn des Kapitels selbstkritische Gedanke, der Untersuchung der Kanonisierungsprozesse über selbst am Ende von Kanonisierungsprozessen stehende Werke aufgegriffen: An Scherer kann man sehr gut sehen, dass hier ein wirkungsgeschichtliches Netzwerk wirksam war, das ihn in den Kanon der Literaturgeschichten gerückt hat. Scherer war einer der ersten, zu dem sich eine große Zahl deutscher Literaturwissenschaftler der ihm nachfolgenden Generation bekannt hat (während beispielsweise Gervinus, Prutz und Hettner eigentlich kaum „Schüler“ hatten; vgl. Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 119). Das hängt selbstverständlich sehr stark damit zusammen, dass Scherer durch seine „‘scientistische‘ Überzeugung“ (ebd., 118) die neudeutsche Philologie überhaupt erst in den Status einer „Wissenschaft“ – analog den Naturwissenschaften – erbracht hat und es letztlich auch hier um die Bestätigung eines Selbstbildes geht (diesmal um das des Literaturwissenschaftlers). Was wir also auf höherer Ebene beobachten konnten: wie das Bürgertum zur Selbstetablierung und Identifikationsstiftung den Literaturkanon gebraucht hat, könnten wir hier noch einmal im Wissenschaftsdiskurs beobachten. Es scheint mir nämlich kein Zufall, dass Scherer noch heute,
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schichtsschreibung „ebenso beherrschenden Strömung wie die geschichtsphilosophische Literaturhistorik der Hegel-Schüler im Vormärz“.306 So formulierte Gottschall polemisch, dass „aus den Winkeln der Hörsäle Wilhelm Scherer’s in Straßburg und Berlin, […] alle diese Jünger des Meisters, welche die Literaturgeschichte schreiben und die Schlüssel des Pantheons in der Tasche tragen, hervorgegangen sind“307. Nach Scherers frühem Tod im Jahr 1886 war es sein Schüler Erich Schmidt, der seine Nachfolge antrat. Er tat dies nicht nur in Berlin, wo er den Schererschen Lehrstuhl übernahm308 und das Germanische Seminar eröffnete, zu dessen Gründung sein Lehrer (dies könnte man fast wörtlich nehmen) den Grundstein gelegt hatte.309 Er spezifizierte und verbreiterte auch die praktizierte Methode der „Charakterisierung“, auf der Scherers interne Strukturierung der Literaturgeschichte beruhte.310 Doch obwohl das „Schmidtsche Opus lange Zeit ‚zum Maßstab für die philologischen Leistungen der ‚Berliner Schule‘“311 wurde und er selbst zur Festigung jenes historiographischen Positivismusbildes beigetragen hat, das noch heute die Vorstellung „der positivistischen Etappe der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland“312 prägt und in dem aus Sicht der konkurrierenden „geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft“313
wo sich die Geisteswissenschaften noch immer gegenüber den Naturwissenschaften behaupten müssen (vgl. Karlheinz Stierle: Ist die Geisteswissenschaft eine Wissenschaft? In: Magazin Forschung 2 (2007), 27-39), eine Rolle spielt. 306 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 119. 307 Gottschall: Vorrede zur siebenten Auflage, XIV. 308 Wolfgang Höppner: Wilhelm Scherer, Erich Schmidt und die Gründung des Germanischen Seminars an der Berliner Universität. In: Zeitschrift für Germanistik 9 (1988), 545-557, 548. 309 Vgl. hierzu ausführlich: ebd., 545f. sowie Uwe Meves: Die Gründung germanistischer Seminare an den preußischen Universitäten (1876-1895). In: Ders.: Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Germanistik und des Deutschunterrichts im 19. und 20. Jahrhundert. Hildesheim 2004, 279-327, 306ff. 310 Müller: Wilhelm Scherer, 90. 311 Höppner: Erich Schmidt, die Berliner Philologen und ihre Kleist-Editionen, 25; Höppner zitiert hier seinerseits Klaus Kanzog: Edition und Engagement. 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists, Bd.1: Darstellung. Berlin/New York 1979, 22. 312 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 117. 313 Vgl. hierzu ausführlich: Wolfgang Höppner: Eine Institution wehrt sich. Das Berliner Germanische Seminar und die deutsche Geistesgeschichte. In: Christoph König/Eberhard
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die „produktiven Momente im Materialfetischismus und Biographismus […] untergingen“314, hat er selbst keine eigene umfassende Literaturgeschichte geschrieben.315 Neben seinen lange Zeit als Standard geltenden Editionen316 (wie etwa der der Kleistschen Werke und einzelner Goethes in der berühmten Sophien-Ausgabe317) veröffentlichte er seine „Charakteristiken“, eine Sammlung biographischer Studien und Portäts, und größeren Biographien (z.B. die große – übrigens seinem „lieben Freund Paul Heyse gewidmete[]“ – Lessing-Biographie) und fungierte als Herausgeber von einschlägigen Zeitschriften wie den Biographischen Blättern und dem Biographischen Jahrbuch sowie den Reihen Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte oder Palaestra.318 Trotzdem scheint es an dieser Stelle sinnvoll, da Schmidt nun einmal „der bewunderte Repräsentant seiner noch relativ jungen Wissenschaft“319 war, auf sein „wissenschaftliches Glaubensbekenntnis“320 mit dem Titel Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte, das er anlässlich seiner Antrittsvorlesung in Wien im Jahre 1880 ablegte, einzugehen. Darin trug er „nahezu lückenlos alles das zusammen[..] und systematisierte, was an Untersuchungsgegenständen für ihn als neueren Literarhistoriker und seine Anhänger von Interesse war“ 321. Dort findet sich zugleich vieles von dem wieder, was Scherer bereits proklamiert hatte.322 Im
Lämmert (Hgg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt a. M. 1993, 362-380. 314 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 116f. 315 Lediglich in den ersten Jahren nach der Gründung des Germanischen Seminars hielt er eine Vorlesung zur Geschichte der deutschen Literatur von Klopstock bis Schiller und eine zu Deutschen Dramen im 19. Jahrhundert (vgl. Höppner: Zur Gründung des Germanischen Seminars, 546). 316 Vgl. Hans Zeller: Die Berliner Kleist-Ausgabe und die Standards der Editionsphilologie. In: Kleist-Jahrbuch 1992, 20-40, insbes. 22ff. 317 Vgl. Karl Otto Conrady: Germanistik in Wilhelminischer Zeit. Bemerkungen zu Erich Schmidt (1853-1913). In: Hans-Peter Bayerdörfer/Karl Otto Conrady/Helmut Schanze (Hgg.): Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter. Tübingen 1978, 370-398, 371. 318 Vgl. Volker Ufertinger: s.v. „Schmidt, Erich“. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 3, 1618-1621, 1619f. 319 Conrady: Germanistik in Wilhelminischer Zeit, 372. 320 Erich Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte. Eine Antrittsvorlesung (1880). In: Ders.: Charakteristiken. Erste Reihe. Berlin ²1902, 453-472, 466. 321 Wolfgang Höppner: Erich Schmidt (1853-1913). In: König/Müller/Röcke (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, 107-114, 110. 322 Vgl. ebd.
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Grunde wurde darin sogar die von Scherer praktizierte Methode „in einen Fragenkatalog aufgeschlüsselt […], der das gesamte positivistische Forschungsprogramm enthielt“323, wobei sich hier forcierter noch als bei seinem Lehrer der literaturgeschichtliche Gesamtentwurf „aufzulösen begann in ein Konglomerat empirisch nebeneinanderstehender Determinanten und Faktoren zur Beschreibung des Entstehens, Verbreitens und Wirkens von Literatur“.324 Wie für Scherer so bedeutet auch für Schmidt Literaturgeschichte „ein Stück Entwicklungsgeschichte des geistigen Lebens eines Volkes“, die „das Sein aus dem Werden“ erkennt und „wie die neuere Naturwissenschaft Vererbung und Anpassung und wieder Vererbung und so fort in fester Kette“ untersucht.325 Als Grundlage dieser Untersuchung dient die „empirische Materialaufnahme“326 durch die „Bibliographie“, die der Literaturgeschichtsschreibung „einen Canevas zum Ausfüllen“327 überreicht.328. [A]ls statistische Wissenschaft giebt sie auch einen Überblick der Production und der Consumtion, der Einfuhr und der Ausfuhr, der Bearbeitungen, der beliebten Stoffe, der Aufführungen. Der örtlichen und zeitlichen Vertheilung, der Auflagen und Nachdrucke nebst den Neudrucken und Sammlungen […] Sie läßt uns überschauen, was in einzelnen Gattungen geleistet wurden ist und welche blühten.329
Sodann habe die Untersuchung der Techniken zu erfolgen. Schmidt verlangt nach einer „Geschichte der Dichtersprache, des Stils, nicht nur für größere Gruppen und im Vergleich mit der jeweiligen Richtung anderer Künste, sondern auch für jeden einzelnen Dichter“330. Auch diesbezüglich gibt Schmidt einen
323 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 120. 324 Höppner: Erich Schmidt (1853-1913), 110. – Höppner akzentuiert die Kluft zwischen Scherer und Schmidt an dieser Stelle stärker als ich das tue. Das liegt vor allem daran, dass er in Scherers Literaturgeschichte noch sehr deutlich das von Fohrmann konstatierte entelechische Modell vertreten sieht (vgl. etwa Höppner: Literaturgeschichte erzählen, 29). Dies ist m.E., und auch die Ausführungen Fohrmanns (vgl. etwa Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 220ff.) scheinen mir dies nahezulegen, jedoch nicht der Fall. 325 Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, 466. 326 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 120. 327 Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, 466. 328 Vgl. auch Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 120. 329 Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, 466. 330 Ebd., 467.
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ganzen Katalog an Untersuchungskriterien an die Hand, der vom „Wortschatz“ bis zum „Einfluss“ früherer Sprachstufen und fremder Sprachen auf den Autor reicht.331 Des Weiteren wolle die Literaturgeschichte – hierauf gründete eine „bestimmte von dem Schererschen Positivismus ausgehende Variante bürgerlicher Literaturgeschichtsschreibung später ihre absurde Konzeption“332 – „die Rolle der Landschaften im Verlauf der Entwicklung würdigen. Temperament und Lebensverhältnisse, die Mischung mit anderem Blut sind für jeden Stamm zu erwägen, die geographische Lage zu bedenken.“333 Dies führt über zur Untersuchung des ‚Milieus‘, aus dem der Autor hervorging und das ihn geprägt hat.334 Der Fragenkatalog dazu umfasst sowohl die „Herkunft“ und „das Elternhaus“ als auch die ‚religiöse Gesinnung‘, den „Bildungsgang“ und den „Geist der Generationen“.335 Schmidt führt also insgesamt in seinem Forschungsprogramm von der „Analyse des bibliographisch aufgenommenen Literaturprodukts auf die Persönlichkeit des Schriftstellers“336 zurück. Zum Schluss gilt es dann noch, da „[d]as einzelne Werk […] seine Vor- und Nachgeschichte hat“, auf deren ‚Werden und Wirken‘ einzugehen.337 In unserem Zusammenhang noch wichtig ist das von Schmidt am Ende formulierte Versprechen, in dem er – ebenfalls mit Scherer einig338 – auf das für die Germanistik neue Verhältnis zur zeitgenössischen Literatur eingeht:
331 Ebd., 467f. 332 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 121. 333 Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, 468. 334 Schmidt wollte diesen Punkt, der noch stark von den Milieufragen Taines und Scherers geprägt war, in der zweiten Auflage seiner Charakteristiken abschwächen und „die Kraft der ‚Persönlichkeit‘ stärker betonen“, um so „Missverständnissen [sic!] zu steuern“ (Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, 455 [Asteriskbemerkung]; vgl. hierzu auch Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 123). Der Grund hierfür liegt – dies wird in seiner Berliner Rektoratsrede von 1909 deutlich – darin, dass hierdurch „die literarhistorische Forschung weder auf rein ‚mikroskopische‘ noch rein ‚makroskopische‘ Umgangsformen beschränkt“ wird (Carlos Spoerhase: „Der höhere Panegyrikos“: Erich Schmidt (1853-1913) epideiktische Germanistik (1909/1910). In: Zeitschrift für Germanistik 20 (2010) 1, 156–168, 163f). 335 Vgl. Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, 469f. 336 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 122. 337 Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, 470. 338 Vgl. Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 123.
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Wir werden nicht nach der Ziffer 1832 [scil. Goethes Todesjahr] einen dicken Strich ziehen, sondern auch neuren und neuesten Schriftstellern lauschen. Analogien der Vergangenheit können das Urtheil über Zeitgenössisches festigen und an der Gegenwart gemachte Beobachtungen Aufschluß über Vergangenes spenden. So leitet denn uns fort und fort die Losung Wilhelm Schlegels: „Die Kunstkritik muß denn sich, um ihrem großen Zweck genüge zu leisten, mit der Geschichte und, sofern sie sich auf die Poesie bezieht, auch mit der Philologie verbünden.“339
Mit diesem schrittweisen Forschungsprogramm, das nach Ansicht Rosenbergs „völlig der Praxis seines Lehrers [scil. Scherer]“340 entspricht, gab Schmidt der Scherer (sowohl zeitlich als auch geistig) nachfolgenden Generation an (positivistischen) Literaturhistorikern die Poetik an die Hand, die Scherer durch seinen frühen Tod nur in Entwürfen hinterlassen konnte. Von einem anderen Schüler Wilhelm Scherers, Richard Moritz Meyer, wurden diese Entwürfe 1886 herausgegeben.341 Sie stießen – wie die Rezeptionszeugnisse zeigen – bei den meisten anderen Schüler Scherers nicht unbedingt auf die gleiche Begeisterung, die sie zuvor ihrem Lehrer entgegengebracht hatten,342 was jedoch nicht über einen weitgehend vorherrschenden Konsens bezüglich der Grundannahmen hinwegtäuschen soll.343 Richard M. Meyer war es auch, der eine als „unmittelbare Fortsetzung von Scherers Buch gedachte Geschichte der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts“344 verfasste. Er ist in vielerlei Hinsicht derjenige Scherer-Schüler, der dem „Wissenschaftsprogramm seines Lehrers am konsequentesten folgte“345.
339 Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte, 472. – Das Schmidt am Ende Schlegel zitiert schließt den Bogen der Antrittsvorlesung, die mit Schlegels in Wien gehaltenen Vorlesungen begann (vgl. ebd. 455). 340 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 123. 341 Vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller: s.v. „Meyer, Richard Moritz“. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 2, 1218-1219, 1219. 342 Vgl. Scherer: Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse, 241ff. 343 Vgl. Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft, 504f. 344 Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 125. 345 Hans-Harald Müller: „Ich habe nie etwas anderes sein wollen als ein deutscher Philolog aus Scherers Schule.“ Hinweise auf Richard Moritz Meyer. In: Wilfried Barner/Christoph König (Hgg.): Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933. Göttingen 2001, 93-102, 94; vgl. desgleichen ebd. 99 sowie Friedrich Neumann: Studien zur Geschichte der deutschen Philologie. Aus der Sicht eines alten Germanisten. Berlin 1971, 115; Hans-Harald Müller: Richard Moritz Meyer – ein Repräsentant der Scherer-Schule.
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Dies lag nicht zuletzt daran, dass er wie Scherer ein „enthusiastischer Nationalist“ und „konsequenter Liberaler“ war und eine ebenso „tolerante und umfassende Konzeption der Germanistik“ hatte,346 die nicht auf einen „disziplinspezifischen Forschungsauftrag“ beschränkt blieb, sondern darüber hinaus auch einem „allgemein gesellschaftlichen Bildungsauftrag“ nachkam, bei dessen Wahrnehmung auch die Presse in Anspruch genommen werden sollte.347 Zudem zeigte er sich wie sein Lehrer (und damit im Gegensatz zu der Mehrheit der zweiten Generation der Scherer-Schüler)348 der Gegenwartsliteratur gegenüber aufgeschlossen, was sich u.a. in einer umfangreichen Rezensionstätigkeit niederschlug,349 aber eben auch in der Weiterführung der Literaturgeschichte Scherers, die mit besagter ‚Ziffer 1832‘ als dem „magischen Punkt“350 endete. Diese Geschichte erschien zuerst als dritter Band in dem von einem anderen Scherer-Schüler, Paul Schlenther, initiierten und herausgegebenen vielbändigen „Großunternehmen[]“ Das neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung, für das es Schlenther gelungen war, einen „Kreis namhafter Wissenschaftler“ zu gewinnen (so etwa Cornelius Gurlitt für die Kunsthistorie, Georg Kaufmann für die politische Geschichte, Werner Sombart für die nationalökonomische Geschichte etc.).351 Das Werk erschien pünktlich zur Jahrhundertwende als „erste bis unmittelbar an dieses Datum herabreichende Gesamtdarstellung der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts“352. In seiner „genau zwei Kilogramm“353 schweren und 900 Seiten umfassenden Geschichte hatte Meyer sich zum Ziel gesetzt, „die Geschichte der
In: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000: Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins. 21. Jahrhundert. Bd. 11. Übersetzung und Literaturwissenschaft /Aktuelle und allgemeine Fragen der germanistischen Wissenschaftsgeschichte, 225-230, 227. 346 Müller: Hinweise auf Richard Moritz Meyer, 94. 347 Ebd., 95. 348 Vgl. ebd., 96. 349 Vgl. ebd., 95. 350 Rainer Rosenberg: Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe. Berlin 1989, 118. 351 Ebd., 119. 352 Ebd. 353 Adolf Bartels: Ein Berliner Litterarhistoriker. Dr. Richard M. Meyer und seine „deutsche Literatur“. In: Flugschriften der Heimat 1 (1900), 1 (hier zitiert nach: Roland Berbig: „Poesieprofessor“ und „literarischer Ehrabschneider“. Der Berliner Literaturhistoriker Richard M. Meyer (1860-1914). In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 1 (1996), 37-71, 38).
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deutschen Litteratur im neunzehnten Jahrhundert darzustellen als die Geschichte der litterarischen Bestrebungen unseres Volkes“354. In diesem „Triumphzug“355, wie er sie nannte, fasste er „das deutsche Volk als den eigentlichen Schöpfer seiner Litteratur, der in stetiger Folge eine Reihe dichtender Geister hervorbringt“356. Da „das ganze Bild rastloser Entwicklung“ nichts bedeuten würde, „wenn uns die Menschen nicht interessierten, in deren Seele sich dies große Drama vollzog“,357 sah er ganz im Sinne Scherers seine Aufgabe als Geschichtsschreiber darin, „vor allem die Individuen als Träger der Entwicklung darzustellen [...], und die ‚Ideen‘ nur, insoweit sie sich in der Folge der Persönlichkeiten abspiegeln“358. Nur „[i]ndem wir jede Figur für sich betrachten suchen“, so Meyer „glauben wir das leise Wachstum einer stetigen Entwicklung am besten beobachten zu können“359. Entsprechend gestaltete sich auch die Anordnung der Geschichte: „jeden Schriftsteller von selbstständiger Bedeutung“ ordnete er nämlich dahin ein, „wo er als fertig gereiftes Produkt der nationalen Entwicklung hervor[trat]“360. Meyer hielt sich im Wesentlichen an eine „rein chronologische Gliederung“361. Die „jedesmal frisch auf den Plan tretenden Kämpfer und Eroberer“ betrachtete er „der Reihe nach“ und „in regelmäßigen Abständen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Ergebnis ihres Wirkens“, wobei er „die Gefolgsmänner […] dem Heerführer nach[ordnete]“ und teilweise nicht umhin kam, auch „[g]rößere Gruppen“ zusammenzufassen.362 Der „lebendige[] Fluß“363 dieser Entwicklung ergab sich so ihrem „Wesen“ nach aus dem „unaufhörlichen Kompromiß zwischen dem Ererbten und Neuerworbenen“.364 Es galt daher auch das „Ältere, Bleibende“ jeweils „ins Gedächtnis zurück[zu]rufen“, um das „Neuaufblühende“365 im Wechselspiel bedingten und bestimmenden Wirkens – ganz so wie Scherer und Schmidt es im Prinzip und der Methode der „wechselseitigen
354 Meyer: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts, 5. 355 Ebd., 2. 356 Ebd., VII. 357 Ebd., 5. 358 Ebd., 6. 359 Ebd. 360 Ebd., VII. 361 Ebd., VIII. 362 Ebd., 6. 363 Ebd., 7. 364 Ebd., 6. 365 Ebd.
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Erhellung“366 nach (s.o.) aufgefasst hatten – in ihren „charakteristischen Haupterscheinungen“367 zu verstehen. Wie die Ausführungen Rainer Rosenbergs zeigen, handelt es sich auch bei dieser Literaturgeschichte im Grunde um die Bilanz […] eines Nationalliberalen, der die wachsende ökonomische und politische Macht des Wilhelminischen Reiches mit patriotischem Stolz begrüßt und dieses imperialistische Deutschland zugleich als „Vormacht“ der Kultur und des humanistischen Geistes sehen möchte.368
Dies bedingte wiederum, dass Meyer sein „liberales Erbeangebot“ dem bürgerlichen Publikum dadurch annehmbar machte, dass er „den schon gebildeten Wertungen“ und Werten Rechnung trug.369 So bestimmt sich sein selektives Verfahren, nach welchem er die zeitgenössische Literatur sichtete und nach dem Selbstbild, den Überzeugungen und Hierarchien des Großbürgertums bewertete.370 Der Kanon wurde daher aus den „brauchbaren Vorarbeiten“ (gemeint ist sicherlich vor allem die Literaturgeschichte Scherers), die „mit vollem Recht längst in den nationalen Besitz übergangen [waren]“371 übernommen und fand seine Erweiterung bis in die Gegenwart, insofern die späteren Werke sich als dessen Verlängerung auslegen ließen. So wurde, wie Rosenberg ausführlich darlegt, etwa an Gottfried Keller „eine bestimmte Art von ‚Positivität‘“ in den Texten gerühmt, „die in der Rückbindung an das klassische Humanitätsideal gegründet [war] und die sich in der Überzeugung ausdrückt[e], daß die bürgerliche Gesellschaft nach diesem Ideal gestaltet werden könne.“372 Dies führte so weit,
366 Scherer: Poetik, 67 sowie Ders.: Zur Geschichte der deutschen Sprache, 121; vgl. auch Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 106f. – vgl. hierzu auch Richard M. Meyers selbst mit seinem Beitrag: Die Methode der wechselseitigen Erhellung. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 23 (1909), 56-64. 367 Meyer: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts, 6. 368 Rosenberg: Literaturwissenschaftliche Germanistik, 119. 369 Ebd., 120. 370 Wie seine Bibliothek zeigte, floss ihm eine „Flut von Büchern“ zu, die Autoren ihm schickten, „in denen der heisse Wunsch glühte, in dem Rechenschaftsbericht, den das Werk bot, nicht übergangen zu werden“ (Otto Pniower: Vorwort. In: Bibliothek Prof. Richard M. Meyer. Versteigerungskatalog. Antiquar Emil Hirsch. München 26. und 27. Mai 1924, o.S. (zitiert nach Berbig: Der Berliner Literaturhistoriker Richard M. Meyer, 55)). 371 Meyer: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts, VIII. 372 Rosenberg: Literaturwissenschaftliche Germanistik, 122.
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dass Keller – nicht zuletzt auch wegen seines „Bekenntnis[ses] zum klassischen Erbe“ 373 und seiner damit verbundenen „pädagogischen Auffassung der Poesie“374 – verhältnismäßig hoch rangierte.375 Ersichtlich wird hieraus auch, dass noch immer „eine letztlich nationalpädagogisch bestimmte Literaturauffassung“ vorherrschend war, die „von der Aufklärungs- und Bildungsfunktion der Literatur“ ausging und „ästhetische Werte wiederum nur in der Verbindung mit ethischen und/oder religiösen Werten“ akzeptierte. Ebenso wird erkennbar, dass – wie Klaus Weimar erneut vor allem auch für die biographischen Monographien der Scherer-Schule konstatiert – „immer noch das alte Gesellschaftsspiel aus den Literaturgeschichten weiter[lief]“376 (s.o.). An dieser Stelle scheint es sinnvoll, ein Stück vorzugreifen und auf Oskar Walzel einzugehen, der 1917 die Scherersche Literaturgeschichte in ergänzter und modernisierter, bis auf die Gegenwart geführter Form herausbrachte377. Sie erlebte in der Folge bis 1928 vier Auflagen und wurde nach Walzels Angaben378 29000-mal verkauft.379 Oskar Walzel hatte in Wien und Berlin u.a. bei Erich Schmidt und Wilhelm Dilthey studiert380 und wurde bei Jacob Minor und Richard Heinzel promoviert.381 Wie er im Vorwort der Literaturgeschichte bekennt, knüpfte er an „R. M. Meyers Forschungen“ gerne an, konnte aber „bei seinen [scil. Meyers] Aufstellungen nicht stehenbleiben“382. Obwohl ihn die Literaturgeschichte Scherers, den er persönlich nie kennengelernt hatte,383 wie er bekannte: „einst, als ich noch vor meiner Studentenzeit stand, zu meinem Lebensberufe
373 Ebd. 374 Meyer: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts, 686; zitiert bei: Rosenberg: Literaturwissenschaftliche Germanistik, 122. 375 Vgl. hierzu ausführlich: Rosenberg: Literaturwissenschaftliche Germanistik, 121ff. 376 Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 456. 377 Vgl. Schumann: Bibliographie, 432f. 378 Vgl. Oskar Walzel: Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen aus dem Nachlaß. Hg. v. Carl Enders. Berlin 1956, 183. 379 Vgl. Rosenberg: Das Modell der Naturwissenschaften, 109. 380 Vgl. Ufertinger: s.v. „Schmidt, Erich“, 1619. 381 Vgl. Peter Gossens: s.v. „Walzel; Oskar Franz“. In: König (Hg): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 3, 1980-1983, 1980. 382 Oskar Walzel: Vorwort zum Anhang. In: Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Literatur. Mit einem Anhang: Die deutsche Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart von Oskar Walzel. Berlin ²1918, VII-VIII, VIII. 383 Vgl. Klaus Naderer: Oskar Walzels Ansatz einer neuen Literaturwissenschaft. Mit einem bibliographischen Anhang. Bonn 1992, 17.
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[lockte]“,384 war ihm bewusst, „vielfach zu andern Grundsätzen der Forschung gelangt zu sein als Scherer“385. Dabei bezeugen „[a]llein vielleicht diese Blätter“, wie er schreibt „am besten, wieviel von seinen Anregungen mir heute noch unentbehrlich ist [sic!]“386. So „weiht“ er sie dann auch „seinem Andenken“ und dem seines Freundes und ‚zweiten Lehrers‘ Heinzel.387 Walzel stellt in Bezug auf die Literaturgeschichtsschreibung einen sehr interessanten Fall dar: mit der Weiterführung der Literaturgeschichte Scherers nämlich steht er „scharf an der Grenze zwischen Positivismus und Geistesgeschichte“388, nimmt also letztlich eine Zwischenposition zwischen Scherer und Dilthey ein.389 Wie Scherer legt er den Schwerpunkt auf die „Persönlichkeit“ und die „Charakteristik“ sowie die „Verknüpfung der Dichtungen und ihrer Schöpfer“.390 Er muss aber, da die „Funktionstüchtigkeit des ‚alten‘ Positivismus“391 von mehreren Seiten untergra-
384 Walzel: Vorwort zum Anhang, VIII. – vgl. hierzu auch die Lebenserinnerungen Walzels: Wachstum und Wandel, 27. 385 Walzel: Vorwort zum Anhang, VIII. 386 Ebd. 387 Ebd. 388 Naderer: Oskar Walzels Ansatz einer neuen Literaturwissenschaft, 13. 389 Wie Tom Kindt und Hans-Harald Müller in ihrer Untersuchung zu Scherer und Dilthey herausgearbeitet haben, ist aber sowieso die gemeinhin angenommene Opposition von Geistesgeschichte und Positivismus – zumindest in Bezug auf die beiden Portalfiguren dieser Richtungen – ein ‚wissenschaftshistorischer Stereotyp‘, der von der Geisteswissenschaft geprägt (oder wie wir sagen würden: kanonisiert) wurde und in Anbetracht der konzeptionellen Gemeinsamkeiten so nicht aufrecht zu erhalten und daher zu revidieren ist (vgl. Tom Kindt und Hans-Harald Müller: Dilthey gegen Scherer. Geistesgeschichte contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftshistorischen Stereotyps. In: DVjs 74 (2000), 685-709). Natürlich hat Walzel selbst bis zu einem gewissen Grade zu diesem Stereotyp beigetragen (vgl. etwa: Oskar Walzel: Analytische und synthetische Literaturforschung. In: Ders.: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung. Leipzig 1926, 3-35, 4; hierzu auch: Rainer Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (II). Der stiltypische Ansatz. Oskar Walzels Theorie der „wechselseitigen Erhellung der Künste“. In: Ders.: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik, 202-225, 202), wobei er an keiner Stelle in seinen Werken den Zwiespalt zu kaschieren versucht hat (vgl. Naderer: Oskar Walzels Ansatz einer neuen Literaturwissenschaft, 13). 390 Walzel: Vorwort zum Anhang, VIIf.; Hierin besteht übrigens eine der Gemeinsamkeiten zwischen Scherer und Dilthey (vgl. Kindt und Müller: Dilthey gegen Scherer, 701). 391 Rainer Rosenberg: Wilhelm Diltheys „Verstehenslehre“ und das Problem einer wissenschaftlichen Hermeneutik. Die geistesgeschichtliche Wende. Die Literaturgeschichts-
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ben worden war392 und somit auch der „Scherersche Kausalismus“ in der Literaturwissenschaft als gescheitert angesehen werden musste,393 konstatieren, dass nur noch die Individuen übriggeblieben sind, die „wie elastisch harte, einander bei jeder Berührung abstoßende Kugeln“394 nebeneinanderliegen. Dadurch nun, dass die „Individualitäten“ jedoch „jeder Verknüpfung widerstreben“395 und sich „keine Berührungsflächen [ergeben]“, ist es zwar möglich, wenn der Schwerpunkt auf der Erfassung der „charakteristischen Eigenschaften“ liegt, „nur ein Aggregat zu liefern, Individualität neben Individualität [zu] stellen“396. Es ist aber unmöglich, „aus ihnen und auf ihnen ein festes Gebäude zu errichten“ bzw. „ein Ganzes von entwicklungsgeschichtlichem Charakter [zu] erbauen“397. Weil das Erkenntnisinteresse hauptsächlich auf die Individualität eines Autors zielte, war die Literaturgeschichtsschreibung als Darstellung einer Entwicklung folglich unmöglich geworden.398 Zur Lösung dieses Problems griff Walzel daher auf Dilthey zurück, bei dem er das „methodologische Rüstzeug zu einer literaturhistorischen Synthese jenseits des Schererschen Positivismus“399 fand. Dilthey nämlich hatte in ähnlicher Weise für eine Historiographie plädiert, die die Geschichte nicht länger unter Vernachlässigung des umfassenden Zusammenhangs, in dem sie entstanden war, schrieb. Er drängte zugleich darauf, den „gesellschaftlichen Prozessen“ mehr Bedeutung zu schenken.400 So wollte er über einen „historischen Faktizismus“401, der sich mit der „bloßen Auflistung von Tatsachen“402 begnügte, hinauskommen und bemühte sich daher um eine „verallgemeinernde
schreibung als Entwicklungsraum der Lebensphilosophie. Der lebensphilosophische Ausgangspunkt der typologischen Literaturwissenschaft. In: Ders.: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik, 139-181, 141. 392 Vgl. hierzu im Einzelnen und ausführlich: Rosenberg: Wilhelm Diltheys „Verstehenslehre“, 140ff. 393 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (II), 203. 394 Walzel: Analytische und synthetische Literaturforschung, 7. 395 Ebd., 21. 396 Ebd. 397 Ebd. 398 Vgl. Klaus Weimar: Oskar Walzels Selbstmißverständnisse. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53 (2006) 1, 40-58, 48. 399 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (II), 203. 400 Tom Kindt: Wilhelm Dilthey (1833-1911). In: König/Müller/Röcke (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, 53-68, 57. 401 Kindt: Wilhelm Dilthey, 57. 402 Ebd., 58.
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Auswertung“403 dieser Tatsachen. Dem „aufkommenden ‚Hunger nach Weltanschauung‘“404 versuchte er mit seiner Forderung entgegenzukommen, an die „Stelle geistloser Reproduktion“ eine „Charakteristik“ treten zu lassen, die (anders als das bisherige) die „leitenden Gedanken“ einer Zeit herausarbeitet405. Dilthey zufolge entspricht [d]er Variabilität der menschlichen Daseinsformen [..] die Mannigfaltigkeit der Denkweisen, Religionssysteme, sittlichen Ideale und metaphsysischen Systeme. Dies ist eine geschichtliche Tatsache. Die philosophischen Systeme wechseln wie die Sitten, die Religionen und die Verfassungen. So erweisen sie sich als geschichtlich bedingte Erzeugnisse. Was bedingt ist durch geschichtliche Verhältnisse, ist auch in seinem Werte relativ. […] Die Art der Verknüpfung des Wissens einer Zeit ist bedingt durch die Bewußtseinslage, sie ist immer der subjektive und vorübergehende Ausdruck derselben.406
Der Widerspruch der philosophischen Systeme bleibt innerhalb und aufgrund dieses „historischen Relativismus“ unauflösbar407: Die Lebens- und Weltansichten befinden sich in Widerspruch, keine kann wirklich beweisen, ja jede kann widerlegt werden, durch den Nachweis ihrer Insuffizienz gegenüber der Wirklichkeit, der Antinomien, welche in dem verstandesmäßigen Ausdruck derselben gelegen sind.408
Dilthey versuchte diese Ansichten auf bestimmte Hauptformen zurückzuführen, die i.S. von Grundhaltungen, die verschiedenen „Seiten der Lebendigkeit in Bezug zu der in ihr gesetzten Welt“409 ausdrücken und eine Erklärung der Entstehung der Widersprüche ermöglichen. Diese nämlich ergeben sich, indem sich die objektiven Weltbilder, die ja gerade die einzelnen Seiten widerspiegeln, im je-
403 Ebd., 58. 404 Rosenberg: Wilhelm Diltheys „Verstehenslehre“, 141. 405 Zitate Diltheys bei Kindt: Wilhelm Dilthey, 58. 406 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften Bd. VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Göttingen 61991, 6f.; zitiert bei: Rosenberg: Wilhelm Diltheys „Verstehenslehre“, 177f. 407 Rosenberg: Wilhelm Diltheys „Verstehenslehre“, 178. 408 Dilthey: Weltanschauungslehre, 8; zitiert bei: Rosenberg: Wilhelm Diltheys „Verstehenslehre“, 178. 409 Ebd.
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weiligen Bewusstsein verselbstständigen.410 Genau auf diese Typologie nun griff Walzel in seiner Fortschreibung der Schererschen Literaturgeschichte zurück: er ordnete jede Individualität einem der vier von Dilthey ausgemachten Typen zu, beschrieb, wie sich die Entwicklung der Weltanschauungen „bis ins kleinste in deutscher Dichtung“411 spieglte, und stellte dabei die Literaturgeschichte als Ablösung eines Weltanschauungstyps durch einen anderen dar.412 Dadurch verschob sich der Interessensschwerpunkt von der „Individualität“ auf die „Weltanschauung“413. Die Auswahl der „Individualitäten“, also der Kanon der Autoren, orientierte sich großteils am „halbwegs gesicherte[n] Ergebnis einer Wertsetzung“, „an der auch schon geschichtlich gedachte Wissenschaft mitgearbeitet hat“414. Da „Umwertungen“ nicht seine „Absicht“ waren und er „wenig [] erpicht war, um jeden Preis Neues zu sagen“, versuchte er nur „einige neue Gesichtspunkte“ aufzustellen.415
3.3 N EUE K ONZEPTE
DER S YNTHESE UND DIE GEISTESGESCHICHTLICHE R EAKTION
Mit Oskar Walzel und seiner Überarbeitung der Schererschen Literaturgeschichte haben wir bereits ein Stück der Entwicklung innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung vorweggenommen. Durch Scherer und die ihm verpflichteten Schüler, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast „alle einschlägigen Lehrstühle“ besetzten,416 vollzog sich innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung – wie wir sehen konnten – endgültig ein Wandel zu einer
410 Vgl. Rosenberg: Wilhelm Diltheys „Verstehenslehre“, 178. 411 Oskar Walzel: Das Wesen des dichterischen Kunstwerks. In: Ders.: Wortkunstwerk, 100122, 111 (zitiert nach Weimar: Oskar Walzels Selbstmißverständnisse, 48). 412 Vgl. Weimar: Oskar Walzels Selbstmißverständnisse, 48. 413 Ebd., 49. - In späteren Jahren, als man Walzel im Ausland als „den bekanntesten deutschen Literaturhistoriker“ (Carl Enders: Oskar Walzel. Persönlichkeit und Werk. In. Zeitschrift für deutsche Philologie 75 (1956), 186-199, 186; zitiert bei: Walter Schmitz: Oskar Walzel (1864-1944). In: König/Müller/Röcke (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, 115-127, 120f.) feierte, versuchte er in seinem Hauptwerk Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters auch anhand von zahlreichen Textanalysen, „Gestalt-Qualitäten“ auszumachen, die sich den einzelnen Weltanschauungstypen zuordnen ließen (vgl. Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (II), 205). 414 Walzel: Vorwort zum Anhang, VIIf. 415 Ebd., VIII. 416 Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft, 496.
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neuen Geschichtskonzeption. Diese wird – wenn auch in anderem Zusammenhang, so doch aber im gleichen Sinn – am besten vielleicht von Hermann Broch im dritten Teil seiner Romantrilogie Die Schlafwandler im Kapitel „Zerfall der Werte (5): Logischer Exkurs“ beschrieben. Dort heißt es (allerdings in Bezug auf das religiöse Bezugssystem): Der Schritt, der über die monotheistische Kosmogonie hinaus noch zu tun blieb, war ein fast unmerklicher, und war doch von größerer Bedeutung als alle vorhergegangenen: der Urgrund wird aus der „endlichen“ Unendlichkeit […] in die wahre abstrakte Unendlichkeit hinausgeschoben, die Frageketten münden nicht mehr in dieser Gottesidee, sondern laufen tatsächlich in die Unendlichkeit (sie streben sozusagen nicht mehr nach einem Punkt, sondern haben sich parallelisiert), die Kosmogonie ruht nicht mehr auf Gott, sondern auf der ewigen Fortsetzbarkeit der Frage, auf dem Bewußtsein, daß nirgends ein Ruhepunkt gegeben ist, daß immer weitergefragt werden kann, gefragt werden muß, daß weder ein Urstoff noch ein Urgrund aufzuweisen ist, daß hinter jeder Logik noch eine Metalogik steht, daß jede Lösung bloß als Zwischenlösung gilt und daß nichts übrigbleibt als der Akt des Fragens als solcher: die Kosmogonie ist radikal wissenschaftlich geworden und ihre Sprache und ihre Syntax haben ihren „Stil“ abgestreift, haben sich zum mathematischen Ausdruck gewandelt.417
Ebenso wie dort beschrieben lösten sich innerhalb der Nationalliteraturgeschichtsschreibung die Autoren und ihre Werke aus dem entelechischen Modell, universalisierten sich in einer (wenngleich noch immer bürgerlich-nationalen, weil durch die Trägerschicht bestimmten) Ethik und parallelisierten sich in den positivistischen Charakter- und Biographisierungen. Es ist der „Objektivismus des Nebensächlichen“418, dem „der historische Bezugspunkt nur noch ein formales Bindeglied“419 ist. Durch das „fleißige[] Zusammentragen kleiner und kleinster Bausteine zu einem Turmbau der reinen Faktizität, der mit allem ausgestattet war, bloß nicht mit einer sinnstiftenden Struktur“ wird nicht nur das „zutiefst Geschichtsbezogene aus dem Auge verlor[en]“,420 sondern auch – auch hierauf wurde hingewiesen – das Erzählkontinuum gesprengt bzw. die zusammenhän-
417 Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1994, 474f. 418 Hermand: Geschichte der Germanistik, 62. 419 Ebd. 420 Ebd.
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gende Darstellung aufgegeben. Einzelstudien reihen sich nun als „Glied[er] einer unterschiedlosen Gesamtentwicklung“421 aneinander: Die Forscher huldigten lediglich den Postulaten der vollständigen Beschreibung, quellengeschichtlichen Erschließung und biographischen Einbettung der vorgefundenen Stoffmassen, um nur ja keinen charakteristischen Einzelzug auszulassen. Durch diese Verengung auf das eindeutig Empirische gab es kaum einen Positivisten, der nicht der Gefahr des Statistisch-Aneinanderreihenden, Lexigraphischen oder Belanglosen erlegen wäre. Allerorten machte sich ein Objektivismus breit, der auf der erdrückenden Folge lebensgeschichtlicher Dokumente und historischer Belegstellen beruhte […]. Der ursprünglich historische Bezug, soweit er überhaupt noch erkennbar blieb, wurde so zu einem Verknüpfungselement, das einen rein formalgenetischen Charakter hatte.422
An Oskar Walzels Darstellung konnten wir erstmals erkennen, wie durch einen neuen Ansatz wiederum versucht wurde, über einen rein „faktisch belegbaren Kausalnexus“423 hinaus zu einer neuen „Synthese der gewonnenen Detailkenntnisse“424 zu gelangen. Hierzu übernahm er von Dilthey,425 dem im Anschluss an „die allgemeine Wende zu überindividuellen Strukturen und philosophisch definierten Einheitsvorstellungen im Rahmen neuidealistischer Systematisierungs-
421 Ebd. 422 Ebd. Dies erklärt übrigens m.E. auch die zu dieser Zeit aufkommende Fülle an Einzelbiographien, die fast wie ein jeweiliger Entwuchs aus der positivistischen Literaturgeschichtsschreibung erscheint. Vergleichen ließe sich dies – um ein passendes literaturgeschichtliches Beispiel ganz im Sinne der Positivisten zu nennen – mit dem Auswachsen von Goethes Wahlverwandtschaften aus seinem (Novellen-)Zyklus Wilhelm Meisters Wanderjahre zu einem eigenständigen Roman (vgl. Norbert Bolz: Die Wahlverwandtschaften. In: Bernd Witte/Theo Buck u.a. (Hgg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden: Bd. 3: Prosaschriften. hgg. v. Bernd Witte und Peter Schmidt. Stuttgart/Weimar 1997, 152-186, 153). 423 Hermand: Geschichte der Germanistik, 67. 424 Irene Ranzmaier: Konzepte und politische Implikationen der ersten beiden Auflagen der Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften von Josef Nadler (19091928). In: Euphorion 102 (2008), 451- 480, 458. 425 Dies war vor seinen form- und stilanalytischen Arbeiten, die sich wesentlich an den formtypologischen Kategorien Heinrich Wölfflins orientierten (vgl. ausführlich: Rainer Rosenberg: „Wechselseitige Erhellung der Künste“? Zu Oskar Walzels stiltypologischem Ansatz der Literaturwissenschaft. In: Gumbrecht/Pfeiffer (Hgg.): Stil, 269-280).
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versuche“426 das romantische „Ideal einer geistigen Komprimierung“427 vorschwebte, die „weltanschaulichen Typologien“428. Auf diese Weise versuchte er in seiner Fortsetzung der Schererschen Literaturgeschichte eine „geistige Transzendierung des Geschichtlichen“429 zu erreichen. Er steht hier stellvertretend für eine der ‚neuen Richtungen‘, die versuchten, über den von der Scherer-Schule etablierten „einseitigen ‘Biographismus‘ zur Erfassung oder Herstellung übergreifender Zusammenhänge, zur Bildung von Gruppen, Reihen, Zusammenfassungen bald entwicklungsgeschichtlicher, bald ideeller oder stiltypischer Art“430 hinauszustreben und zu „literaturhistorischen Synthesen von Weltanschauungscharakter“431 zu gelangen. In diesem Zusammenhang muss neben Walzel noch ein weiterer „‘neuidealistische[r]‘ Autor“432 genannt werden, der sich sogar noch stärker als Walzel von Dilthey geprägt zeigte und gleichfalls die positivistische Methodologie der Scherer-Schule durch eine „stärkere Berücksichtigung weltanschaulich-philosophischer Konzepte“ zu verdrängen suchte:433 Rudolf Unger. Mit ihm gewinnen wir nicht nur einen Ausblick auf die literarhistoriographischen Entwicklungen bis weit in die zwanziger Jahre hinein. In dieser Zeit formulierte er seine bereits um 1910 entworfene Geschichtskonzeption in programmatischen Schriften weiter aus und konnte hierbei neben seinen eigenen Arbeiten auf eine ganze Reihe praktischer Umsetzungen verweisen.434 Durch seinen Ansatz, der den positivistischen zu ersetzen suchte,435 können wir darüber hinaus noch einmal sehr genau die sich durch die sog. ‚geistesgeschichtliche Wende‘ vollziehende Pendelbewegung vom Positivismus hin zum Neuidealis-
426 Hermand: Geschichte der Germanistik, 70. 427 Ebd. 428 Ebd., 71; hierzu auch Weimar: Oskar Walzels Selbstmißverständisse, 47f. 429 Hermand: Geschichte der Germanistik, 71. 430 Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey [1924]. In: Ders.: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Berlin 1929, 137-170, 137; zitiert bei: Rainer Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I). Rudolf Ungers Programm der Literaturgeschichte als „Problemgeschichte“. In: Ders.: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik, 182-201, 183. 431 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 183. 432 Rainer Rosenberg: Methodenpluralismus unter der Dominanz der Geistesgeschichte. In: Ders.: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik, 226-253, 251. 433 Hermand: Geschichte der Germanistik, 71. 434 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 194. 435 Ebd., 184.
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mus nachverfolgen. In seiner 1908 veröffentlichten Schrift Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft versuchte er erstmals die „allen neugebildeten bürgerlichen Literaturgeschichtskonzeptionen zugrunde liegenden gemeinsamen Bestrebungen in einer philosophisch begründeten literaturwissenschaftlichen Prinzipienlehre zu verankern“436. Damit lieferte er „die erste philosophisch begründete Absage an die positivistische Wissenschaftsauffassung, die aus der akademischen Literaturwissenschaft selbst kam“437. Zunächst erkannte Unger die „großen Verdienste“ Scherers und der Seinen als einen „entscheidende[n] Fortschritt“ an,438 da dadurch „die neuere Literaturgeschichte auch in jenen Kreisen zu wissenschaftlicher Geltung gelangte, denen sie bisher mehr oder minder als schöngeistiger Dilettantismus gegolten hatte“ 439 . Zugleich wäre „[e]in reicher Quell von fruchtbaren Anregungen und belebender Kraft […] aus dieser ‚philologistischen‘ Bewegung“440 hervorgegangen. Trotzdem konstatierte er „schwere[] Mängel und Gebrechen dieser Strömung“441 und wandte sich gegen die „Analogiensucht“442, „die Annahme, daß im geschichtlichen Leben analoge Gleichartigkeiten und Regelmäßigkeiten wie im Naturgeschehen anzunehmen seien, aus denen sich durch analoge Methoden analoge Begriffe und Gesetzmäßigkeiten konstruieren ließen“443. Er äußerte sich gegen das „auf dieser Hypothese aufbauende Prinzip der ‚wechselseitigen Erhellung‘“444 sowie gegen die „Hypertrophie der Einfluß-Forschung“445, weil sie lediglich „zu lauter Zirkelschlüssen führt“446 und „für das wirklich historische Verständnis […] dabei höchst selten etwas gewonnen [ist]“447. Daher kam er zu dem Schluss, dass sie „[a]llen tieferen und schwierigeren Problemen der Literaturwissenschaft gegenüber […] im Grunde versagt [habe]“448. Er erinnerte daran, dass „die neuere Li-
436 Ebd. 437 Ebd. 438 Rudolf Unger: Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft [1907/08]. In: Ders.: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, 1-32, 4. 439 Ebd. 440 Ebd. 441 Ebd. 442 Ebd., 7. 443 Ebd., 6. 444 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 187. 445 Ebd. 446 Unger: Philosophische Probleme, 6. 447 Ebd., 7. 448 Ebd., 5.
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teraturgeschichte in Deutschland wesentlich aus der philosophischen Gedankenbewegung herausgewachsen ist, die etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte und zu einer völligen Neubegründung der Welt- und Lebensauffassung geführt hat“449 und zeichnete die Entwicklung „dieser neuaufsteigenden Ideenwelt der evolutionistisch-organischen und zugleich – im eigentlichen Sinne – monistischen Weltanschauung“450 nach, um hierdurch die „Unverzichtbarkeit der Weltanschauung für den Literaturhistoriker, der den konkreten Geschichtsverlauf interpretieren möchte“451, aufzuzeigen. Unger wollte an diese „neure Literaturgeschichte aus dem Geiste philosophischer Weltanschauung“ anknüpfen, bei der „[i]nsbesondere […] Ästhetik und Geschichtsphilosophie […] Pate gestanden [haben]“452. Dabei bezog er sich auf den von Dilthey der „nomothetischen Kunstauffassung der Positivisten“453 entgegengesetzten „lebensphilosophischen Irrationalismus“ und dessen Rückbindung „an eine objektiv-idealistische Teleologie, wie sie der zeitgenössischen bürgerlichen Hegel-Rezeption entsprach“454. Darüber hinaus stützte er sich auf die dem „Organismus-Modell“455 verpflichtete Psychologie, mittels derer der Versuch unternommen wird, „vom Buche zum Menschen durchzudringen, alle Literatur als Ausdruck inneren seelischen Lebens zu verstehen“456. Dazu rekurrierte er auch auf die (damit eng verknüpfte) Ästhetik, um „die unendliche Vielfalt der historischen Erscheinungen auf unwandelbare Grundstrukturen des ‚menschlichen Geistes‘ zurückzuführen“ und „der geistesgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung zugleich den ‚festen Grund‘ geben“457. Von besonderer Bedeutung für uns ist darüber hinaus vor al-
449 Ebd., 10. 450 Ebd., 10. 451 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 193. 452 Unger: Philosophische Probleme, 12. 453 Rosenberg: Literaturwissenschaftliche Germanistik, 189. 454 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 193. 455 Rosenberg: Literaturwissenschaftliche Germanistik, 190: „Dieses Modell stellte jedes Kunstwerk analog dem Organismus der Natur als einen Organismus von innerer Gesetzlichkeit dar. Seiner Herkunft aus dieser „organischen“ oder „Gestalt“-Ästhetik verdankt der Stilbegriff die Eigenschaft, sich an formalen Kriterien – Strukturmerkmalen – des Textes/Werkes festzumachen, von ihnen jedoch auf einen Inhalt überzuleiten, der in seiner formalen Gestaltung als intellektueller, emotionaler
und voluntativer Ausdruck einer
Künstlerpersönlichkeit zu verstehen ist, der seinerseits die geistige Verfassung einer relevanten Gruppe seiner Zeitgenossen repräsentiert.“ 456 Unger: Philosophische Probleme, 16. 457 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 192.
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lem die erneute Rückbindung an die Ästhetik. Unger sah klar, dass die Positivisten das ästhetische Urteil aus ihren literaturgeschichtlichen Darstellungen verbannten, in der Auswahl des Materials jedoch einfach den traditionellen ästhetischen Werturteilen folgten, ohne diese zu objektivieren.458 Er hingegen verlangte nun, dass „die literarischen Erzeugnisse […] nicht nur als Offenbarungen seelischen Lebens“459, sondern auch „in anderer Hinsicht [..] als Dichtungen, also als selbstständige, in sich abgeschlossene künstlerische Gestaltungen betrachtet werden“460. Denn, so Unger weiter: „Sie unterliegen neben der historischen und psychologischen auch der ästhetischen Auffassungsweise und damit zugleich ästhetischer Beurteilung.“461 Die „ästhetische Auffassung“ habe sowohl eine „objektive“ wie auch eine „subjektive Seite“462. Zur Beantwortung der Fragen zur objektiven Seite liefere „die Poetik die allgemeinen Gesichtspunkte“: hier gehe es um den „Ideengehalt“, die „innere[] wie äußere Form“, die „Grundtendenzen, Komposition, Gestalten, Charaktere[], Motive[], Situationen, Technik, Stil, Rhythmus, Vers“, das „musikalische Element“, die „Verbindung mit Mimik, Tanz, szenischer Kunst usw. usf.“ sowie das „Verhältnis zur Wirklichkeit und zur Geschichte“, um die „psychologische[] und naturgesetzliche[] Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit“, den „Zeitgehalt“ sowie die „zeitlose[], typische[] Gültigkeit“, die „idealistische[] oder realistische[], individualistische[] oder typische[] oder allegorische[] oder symbolische[] Gestaltungsweise und dergleichen mehr“. Die subjektive Seite, die „zur wahrhaften Erfassung einer Phantasieschöpfung“ dient, umfasst hingegen die „seelische Aktivität“, die „Mitwirkung der eigenen Gemüts-und Phantasiekraft“, die „sympathische Einfühlung und inneres Nachschaffen“, „mit einem Worte [den] ästhetische[n] Sinn, dessen so der moderne Literarturhistoriker in alle Wege benötigt [sic!]“463. Die „Aufgabe der Ästhetik“ sei es daher auch, „die allgemeinen Bedingungen und Gesetze der ästhetischen Auffassung und des ästhetischen Genusses zu erforschen“ und „die ästhetische Analyse gleicherweise wie die psychologische mit historischer Betrachtungsweise“ zu verbinden. Zunächst gilt es dazu die „ästhetischen Intentionen auch der Dichter vergangener Epochen, die zum Teil von denen der heutigen sehr verschieden sind“, sorgfältig zu untersuchen. Sodann soll die „ästhetische Aufnahme und Beurteilung der Dichtungen zu ihrer Zeit und weiterhin bis zur
458 Vgl. Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 191. 459 Unger: Philosophische Probleme, 17. 460 Ebd., 18. 461 Ebd. 462 Ebd. 463 Ebd.
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Gegenwart erforscht“ und „das ästhetische[] Milieu jedes Dichters und jeder Dichtung ergründet“ werden. Darüber hinaus werden „mit der jeweiligen dichterischen Produktion die gleichzeitige ästhetische Theorie und Kritik“ verglichen und „die ästhetischen Überzeugungen der einzelnen Dichter mit ihren Schöpfungen“464 konfrontiert. Insgesamt soll also „die Entwicklung jener Theorie und Kritik“465 untersucht werden. Auf diese Weise dringe man (im Anschluss an Herder)466 zu einer „Entwicklungsgeschichte des ästhetischen Geschmacks und der ästhetischen Ideale ganzer Zeiträume und Völker“, von der wiederum ein „mannigfaches Licht auf die einzelnen Schöpfungen zurückfällt.“467 Wenn nun auf diese Weise „die ästhetische Betrachtung mit der historischen Auffassung in enge Beziehung trete[]“, so könne und dürfe der Literarhistoriker „keineswegs auf eigenes ästhetisches Urteil verzichten“, da ohne ein solches literargeschichtliche Arbeit „unmöglich“ sei.468. Dieses ‚eigene ästhetische Urteil‘ des Literarhistorikers – und das ist entscheidend – bestimmte nun seinerseits (wie die weiteren Ausführungen hierzu zeigen) den Kanon. Unger schrieb nämlich weiter: die Literatur eines Volkes würde sich [ansonsten nämlich; C.G.] als ein Chaos von Hervorbringungen darstellen, von denen die eine mehr, die andere weniger Erfolg und Dauer gehabt hat, ohne daß ersichtlich würde warum? Denn schon den inneren Gründen dieses verschiedenen Erfolges nachgehen, heißt ja: auf das ästhetische Gebiet sich begeben. Und hat man einmal dieses Gebiet betreten, so ist eine rein relativistische Betrachtungsweise, die sich allen eigenen Urteils enthält, schlechterdings unmöglich. Denn nach irgendeinem Maßstab muß notwendigerweise eine Auswahl und Wertung der an sich völlig unübersehbaren und indifferenten literarischen Erzeugnisse getroffen werden.469
Dies bedeutet nun keineswegs, dass die „ästhetische Beurteilung und Wertung“ als „integrierende[r] Bestandteil literarhistorischer Arbeit […] subjektiver Willkür und der Zufälligkeit des individuellen Geschmacks anheimgestellt werden darf“470. Vielmehr soll sie „auf wissenschaftliche Basis gestellt werden, indem sie als praktische Anwendung systematisch durchgearbeiteter ästhetischer Be-
464 Ebd., 18f. 465 Ebd. 466 Vgl. ebd., 10. 467 Ebd., 19. 468 Ebd. 469 Ebd. 470 Ebd.
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griffe und Normen geübt wird“471. Der „subjektive, gefühlsmäßig dumpfe ästhetische Geschmack“472 sei zu „wissenschaftlich fundamentierter Klarheit und vollbewußter, systematischer gedanklicher Durchbildung zu erheben und dadurch zu objektivieren“473. Doch obgleich sich die Ästhetik damit „auf dem Boden der Erfahrung, und zwar psychologischer Erfahrung“ aufbaut, geht sie „indessen nicht in der Psychologie auf“474. Sie sei „[t]rotz Scherer und seinem Gewährsmann Taine“ eine „Normwissenschaft“, die „so wenig wie die Ethik und die Logik darauf verzichten kann, die Wirklichkeit am Maßstab des Ideals zu messen“ – auch wenn „subjektive und zufällige Momente“ nie ganz ausgeschaltet werden können und „das Ideal nur annäherungsweise zu erreichen ist“475. Sie hat es mit Normen zu tun, die „das objektive Gegenstück jener dem menschlichen Geiste eigenen ästhetischen Bedürfnisse darstellen“476. Zwar sind sie „nicht starre, schlechthin unveränderliche Gebote, sondern bis zu einem gewissen Grade wandlungs- und entwicklungsfähig wie alles Menschliche“. Jenseits dieser Entwicklungsfähigkeit bestehe aber ein „bleibender Kern“, indem sie „im Wesen des menschlichen Geistes“ begründet seien,477 und damit „psychologischanthropologischen Tatbeständen“478 entsprächen. Wie Rosenberg herausstellt, versuchte Unger hierdurch die Vielfalt innerhalb der historischen Erscheinungen auf „unwandelbare Grundstrukturen des ‚menschlichen Geistes‘“ zurückzuführen. Damit will er einerseits der geistesgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung im Vergleich zur philologischen einen festen Grund zu geben. Andererseits möchte er über diese im Sinne Diltheys postulierte psychologischanthropologische Fundierung hinaus mit Hilfe einer „Rehegelianisierung des Diltheyschen Ansatzes einer ‚Kritik der historischen Vernunft‘“479, zu einer „historische[n] Prinzipienwissenschaft“ gelangen, „welche die gemeinsame Grundlage aller historischen Wissenschaften zu bilden berufen wäre“480. Deren Aufgabe sieht er in der „Schöpfung, Ausgestaltung und praktischen Furchtbarma-
471 Ebd. 472 Ebd. 473 Ebd., 18f. 474 Ebd., 18. 475 Ebd., 20. 476 Ebd. 477 Ebd. 478 Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 191. 479 Ebd., 192. 480 Unger: Philosophische Probleme, 23.
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chung“481 eines „System[s] objektiver Werte“, das sich wiederum aus den „ethischen Vernunftbegriffen“ bzw. „historischen Kategorien“ bilden soll und als deren „fortschreitende Realisierung“ sich der „gesamte kulturgeschichtliche Prozeß“ letztlich darstelle.482 Diese Rückbindung des vom „lebensphilosophischen Irrationalismus geprägten Geschichtsverständnisses an eine objektiv-idealistische Teleologie“, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der an anderer Stelle hervorgehobenen „inneren Beziehung auf eine ‚nationale Ethik‘“483 steht, sowie der dieser Rückbindung vorausgehende u.a. aufgezeigte Ästhetikrekurs lassen deutlich den sich innerhalb der Literarhistoriographie vollziehenden, bereits angedeuteten Pendelschlag (der späteren Zeit) erkennen. Wagen wir, bevor wir zu unseren Literaturgeschichten zurückkehren, noch einen kurzen Ausblick auf eine weitere Entwicklung, die ihre Anfänge ebenfalls vor dem Ersten Weltkrieg nahm, ihre entscheidende Ausprägung jedoch (ebenso wie die Ungers) erst in der Weimarer Zeit fand. Sie weist noch einmal in die entgegengesetzte Richtung und setzt letztlich das fort, was wir mit Broch zu beschreiben versuchten: nämlich die Auflösung der horizontverschmelzenden linearen Geschichtserzählung in die parallelisierende vertikale Einzeldarstellung. Zu nennen ist hier vor allem Friedrich Gundolf, der bezeichnenderweise in Berlin studiert hatte484 und bei Erich Schmidt promoviert wurde.485 1899 führte ihn Karl Wolfskehl bei Stefan George ein, dessen Sekretär und Mitarbeiter er bald darauf wurde, und zu dessen Kreis er lange Zeit gehörte.486 Diese Zugehörigkeit wirkte sich, auch wenn sie zu einem „Spannungsverhältnis oft quälender Kompliziertheit“487 zwischen Kunst und Wissenschaft führte, unmittelbar auf seine literaturwissenschaftliche Arbeit aus. Der Wissenschaftsstil des George-Kreises war nämlich (nicht zuletzt der Selbstinszenierung seines ‚Meisters‘ geschuldet) sehr stark von der „Absicht des Mythen-Schaffens“488 bestimmt. Und ebenso,
481 Ebd., 32. 482 Ebd., 31; vgl. hierzu auch Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 192f. 483 Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte, 144; zitiert und ausgeführt bei: Rosenberg: Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I), 195f. 484 U.a. übrigens bei Dilthey, Roethe und Wölfflin (vgl. Christian Horn: s.v. Gundolf, Friedrich Leopold (bis 1927 Gundelfinger). In: König (Hg): Internationales Germanistenlexikon Bd. 1, 638-640, 638.) 485 Horn: s.v. Gundolf, 638. 486 Vgl. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf (1880-1931). In: König/Müller/Röcke (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, 162-175, 163. 487 Osterkamp: Friedrich Gundolf, 163. 488 Rosenberg: Methodenpluralismus, 230.
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wie der Mythos sich der Geschichte entzieht, gelangte die bürgerliche deutsche Literaturgeschichtsschreibung mit Gundolf an ihren „Nullpunkt“, zur „vollständigen Liquidation des historischen Denkens“489. Obwohl er selbst über ein „stupendes historisches Faktenwissen“ verfügte, war er „gegen solches Nurwissen – gegen den Popanz des positivistisch Objektiven, gegen den Historismus – gefeit“490, ja kritisierte diese Strömungen geradezu491 (ebenso wie jede Fortschrittsfixiertheit) im Hinblick auf die „Unfähigkeit zur Wertsetzung“492. Jenseits des „Fetischs der Objektivität“493 mobilisierte er im Gegenzug antihistorische Konzepte: „sogenannte Kräfte und Tendenzen, das Wesentliche, das Werden, das Bild oder die Bildwerdung, das Geprägte, die Anschauung auf Kosten des Begrifflichen, das Erlebnis oder noch bestimmter das ‚Ur-Erlebnis‘.“494 Wie er in einer Rezension in den „Preussischen Jahrbüchern“ schrieb, läge in jeder historischen Aufgabe ein Punkt, „wo sie [scil. die Aufgabe] metaphysich bedingt ist.“495 Diesen Punkt gelte es zu nutzen, „um eine ganze Geisteswelt mit herauf zu heben“, wozu es wiederum „nicht großer Begriffsmaschinen, sondern eines glückhaften Gefühls für das Wesentliche [bedürfe]“. Dieses „punktum saliens“ ist nach Gundolf nicht durch Aktualisierung der Geschichte,496 sondern durch „Divination“ zu finden; es geht gerade darum, die Teilhabe bestimmter Gestalten am Ewigen zu offenbaren.497 Es ist der Kairos der Georgeschen ‚Geheimlehre‘, in dem sich ein Unendliches an Leben konzentriere, um im Erleben „das Göttliche im Sinnlichen“ zu erfassen.498 Die Methode dazu ist „Erlebnisart“499, ent-
489 Ebd., 232. 490 Klaus Reichert: Gundolfs Geschichtsschreibung als Lebenswissenschaft. In: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hgg.): Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Göttingen, 2004, 303-315, 303. 491 So etwa in den im Auftrag Georges gemeinsam mit Friedrich Wolters herausgegebenen drei Bänden des Jahrbuchs für die geistige Bewegung (vgl. hierzu ausführlich: Osterkamp: Friedrich Gundolf, 164). 492 Osterkamp: Friedrich Gundolf, 164. 493 Reichert: Gundolfs Geschichtsschreibung, 305. 494 Ebd., 303. 495 Zitiert nach ebd. 496 Ebd., 304. 497 Vgl. ebd., 304. 498 Michael Rißmann: Literaturgeschichte als Kräftegeschichte. Friedrich Gundolfs Beitrag zur Methodik geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 42 (1997), 1, 63-105, 78. 499 Zitiert nach Reichert: Gundolfs Geschichtsschreibung, 305.
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spricht der „Setzung einer Konstruktion“500 und gleicht der „konstruktivintuitiven Methode“501 der zeitgleichen Bergsonschen Intuition, der Husserlschen Wesensschau und dem Diltheyschen Erlebnis.502 So wendet sich Gundolf etwa in seiner 1916 erschienenen, die Fachwelt herausfordernden503 „monumentalen Goethe-Monographie“504 der „Darstellung von Goethes gesamter Gestalt, der größten Einheit, worin deutscher Geist sich verkörpert hat“505 zu, wobei Taten und Werke als gestalthafter Ausdruck der „angeborenen Entelechie“506 angesehen werden. Auch innerhalb der Biographie waltet eine Geschichtslosigkeit vor, da die Gestalt „unmittelbar nur als Sein wahrzunehmen [ist]“507. Letztlich gibt es auch dort keine Entwicklung mehr, sondern nur die „Bewegung einer ‚Substanz‘“508, denn – so Gundolf: der geistige, vor allem der schöpferische Mensch tut und erleidet nichts, bewegt und entwickelt nichts was nicht ein Bild von ihm machte, was nicht seine Gestalt ewig festlegte, und er hinterläßt kein Gebild, kein Werk, kein Bild von sich worin nicht seine Lebensbewegung fühlbar und wirksam wäre. […] [F]ür den Betrachter der Gestalt sind Leben und Werk nur die verschiedenen Attribute einer und derselben Substanz, einer geistig leiblichen Einheit, die zugleich als Bewegung und Form erscheint.509
In diesem Sinn beantwortet er sodann auch die Frage, wie „ein Zeitliches, nämlich Erleben und Schaffen als Räumliches, nämlich als Gestalt, erscheinen“ kann, wie folgt:
500 Ebd. 501 Ebd., 308. 502 Vgl. ebd. 503 Vgl. hierzu: Wolfgang Höppner: Zur Kontroverse um Friedrich Gundolfs „Goethe“. In: Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase: Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse. Bern 2007, 183-206, 183f. 504 Rosenberg: Methodenpluralismus, 230. 505 Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916, 1; zitiert auch bei: Ulrike Leuschner: Wissenschaft im Schatten des Meisters. Gundolfs Gestaltbiographie „Goethe“. In: Matthias Luserke: Goethe nach 1999: Positionen und Perspektiven. Göttingen 2001, 121-132, 127. 506 Gundolf: Goethe, 14; vgl. hierzu Rißmann: Literaturgeschichte als Kräftegeschichte, 80. 507 Friedrich Gundolf: George. Berlin 1920, 137; zitiert nach Rißmann: Literaturgeschichte als Kräftegeschichte, 81. 508 Rosenberg: Methodenpluralismus, 230. 509 Gundolf: Goethe, 1; zitiert bei: Rosenberg: Methodenpluralismus, 230f.
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Der Widerspruch löst sich, wenn wir uns die zeitliche Entwicklung nicht vorstellen als das Abrollen einer Linie, die von einem Punkte weiter geht, bis sie äußere Widerstände findet, sondern als die kugelförmigen Ausstrahlungen von einer Mitte her.510
Und so gehört, da es weitergedacht somit auch keine Vergangenheit mehr gibt, sondern „nur verschiedene Wirkungsgrade der Ewigkeit“511, auch das „Nachleben“, das „Phänomen des Ruhms“ im Sinne der geheimen Entelechie „wie die goethesche Urpflanze“ wesentlich zur Person.512 Die ‚religiöse Verehrung‘513 des „Heroen als unsterblich-zeitlosem Wesen“514 hebt folglich die gesamte historische Entwicklung im „Ewig-Gültigen“515 auf. Was nun die Selektion betrifft, die Auswahl der „Heroen in Gundolfs Kanon“516, so überrascht es letztlich nicht, dass hier (ähnlich wie bei Scherer) kein Neuer hinzukommt (vielleicht mit Ausnahme von George, den er selbstverständlich zu etablieren versuchte). Der Kanon schreibt sich auch hier also von allen bisherigen Geschichtsschreibungen her – ebenso wie bei Ernst Bertram und den ihnen in gleicher Richtung folgenden. Doch kehren wir nach diesem verdeutlichenden Ausblick zurück zu den eigentlichen Literaturgeschichten. Ein anderer Schüler Scherers (und auch Erich Schmidts),517 der sich ebenfalls an Dilthey, mehr jedoch noch an seinem Leipziger Professor Rudolf Hildebrand orientierte518 und bereits früh versuchte einen anderen Weg einzuschlagen, war Eugen Wolff. Zwar war Wolffs Karriere, wie Lothar Schneider hervorhebt, „weder repräsentativ noch exemplarisch“519. Seine Werke jedoch waren außerordentlich erfolgreich und waren wie die seines fast gleichaltrigen Kollegen, Richard Moritz Meyer, „noch bis weit in die Weimarer
510 Gundolf: Goethe, 14, zitiert bei Rißmann: Literaturgeschichte als Kräftegeschichte, 80. 511 Friedrich Gundolf: Dichter und Helden. In: Ders.: Dichter und Helden. Heidelberg 1921, 46; zitiert nach Rißmann: Literaturgeschichte als Kräftegeschichte, 81. 512 Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München ²2010, 12f. 513 „Die verehrung der grossen menschen ist entweder religiös oder sie ist wertlos“ (Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin 1933, VII; hier zitiert nach und vgl. hierzu nochmals ausführlich bei Rißmann: Literaturgeschichte als Kräftegeschichte, 77). 514 Rißmann: Literaturgeschichte als Kräftegeschichte, 81. 515 Vgl. hierzu auch Reichert: Gundolfs Geschichtsschreibung, 311. 516 Ebd., 305. 517 Bei ihnen hatte er in den achtziger Jahren studiert (vgl. Christoph Deupmann: s.v. Wolff, Eugen. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 3, 2059-2060, 2059). 518 Lothar Schneider: Eugen Wolffs Dilemma. In: Barner/König (Hgg.): Jüdische Intellektuelle und die Philologien, 103-110, 106. 519 Ebd., 103.
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Zeit hinein in fast jedem Bücherschrank zu finden“520. Wolff gehörte neben Wilhelm Wetz zu jenen „beiden redseligen Jüngsten“ der Scherer-Schule, die nicht auf „Scherers Bahnen“ wandelten, sondern „eine neue Wissenschaft schaffen oder ausbreiten“ wollten521 und so kehrte er sich frühzeitig von den Berlinern ab: die von Meyer herausgegebene Poetik Scherers griff er aufgrund ihres „naturwissenschaftlich-empirischen Wesens“522 an. Auch qualifizierte er die Veröffentlichungspraxis der Goethe-Philologen sowie die literarturwissenschaftliche Relevanz ihrer Methode ab523 und beurteilte die Literaturgeschichte Meyers wegen ihrer starren Chronologie und der Vorliebe für physiognomische Charakteristiken als „grundschlecht“.524 Im Gegenzug dazu aber machte ihm „die Berliner Clique“ seinerseits, wie bereits Klaus Groth in einem Brief 1897 schrieb: „das Leben sauer“ und versuchte „seine Beförderung zu verhindern“525. So verriss, nicht zuletzt aus einem Konkurrenzdenken heraus,526 seinerseits Meyer Wollfs Geschichte der Deutschen Literatur in der Gegenwart, die 1896, also drei Jahre vor seiner eigenen erschien. Symptomatisch hierfür ist beispielsweise ein Satz wie „wer noch in der Lage ist, von Eugen Wolff enttäuscht zu werden, den wird dieses Buch enttäuschen“527. Wolff hatte hierin versucht, „die deutsche Literatur der Gegenwart in geschichtlichem Zusammenhang darzustellen“,528 um damit „den Entwicklungsgang der modernen Literatur bis in die Gegenwart prinzipiell zu verfolgen und alle heute bereits erreichbaren geschichtlichen Kriterien heran-
520 Wilfried Barner: Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte. In: König/Lämmert (Hgg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 201-231, 221. 521 Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft, 495. 522 Eugen Wolff: Prolegomena der Litteratur-Evolutionistischen Poetik. Kiel/Leipzig 1890, 3 (Anm. 14); zitiert bei: Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 107. 523 Vgl. hierzu ausführlicher: Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 107f. 524 Eugen Wolff: Eine naturalistische Litteraturgeschichte. In: Ders.: Zwölf Jahre im litterarischen Kampf. Studien und Kritiken zur Litteratur der Gegenwart. Oldenburg und Leipzig 1901, 531-552, 552; zitiert bei: Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 108. 525 Klaus Groth: Brief N. 418: An Josef Viktor Widmann, Kiel, 9. Juni 1897. In: Ders.: Briefe aus den Jahren 1841-1899. Hgg. v. Ivo Braak und Richard Mehlem, Flensburg/Hamburg 1963, 396; zitiert bei: Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 106. 526 Vgl. ebd., 108. 527 Richard M. Meyer: [Rez.] Eugen Wolff. Geschichte der deutschen Literatur in der Gegenwart. In: Euphorion 4 (1897), 145-147. 145; zitiert bei: Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 108. 528 Eugen Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur in der Gegenwart. Leipzig 1896, V.
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zuziehen, die erkennen lassen, wohin wir steuern.“529 Als ausdrückliches Ziel formulierte Wolff, „daß die Lehren der Geschichte“ und insbesondere die der Dichtung, die seiner Überzeugung nach „eine Ausprägung des Lebens, deutschen Lebens, in Geist, in deutschen Geist“530 darstellt, „einen lebendigen Einfluß auf unsere nationale Entwicklung ausüben“531 möge. Er selbst stellt sich daher in die Nachfolge d’Alemberts und Fichtes und fasst das „Geschichtsstudium“ als einen „Katechismus der ethischen Erziehung“ und als „höchstes Erziehungsmittel […] im Dienst der nationalen Erziehung“532 auf. Aus diesem Grund soll der Geschichtsunterricht aufhören, „ausschließlich wissenschaftlicher Selbstzweck“ zu sein und das „Ansehen und Wesen trockenen Gedächtnisstoffes“ verlieren.533 Es gilt nicht mehr, sich mit „zusammenhanglosen Einzelbildern“534 zu begnügen, auch wenn „Einzelbilder [..] ja gezeichnet werden [sollen]“535. Vielmehr soll das „Wesen der Methode […] darin bestehen, die geschichtlichen, bezw. litteraturgeschichtlichen Entwicklungen nicht wie ein Fremdes auswendig zu lernen, sondern aus Eigenem heraus zu verstehen“536. So erklärt er in diesem Zusammenhang auch: Stellt man nun Hauptrichtungen der zeitgenössischen Litteratur wie die patriotischhistorischen und die sozial-naturalistischen als natürliche Erzeugnisse einer Zeit hin, die einerseits einem siegreichen Einigungskriege folgt, andererseits von sozialen Fragen beherrscht und von materialistischen Anschauungen durchsetzt ist, so dürfte das Verständnis für den Zusammenhang der Dichtung mit dem Geist, den Problemen, Ereignissen, politischen, sozialen u.a. Zuständen der Zeit ohne Weiteres erwachen, und all die Funktionen und Kategorien der Litteraturgeschichte: die Fragen nach dem herrschenden Stand, der herrschenden Wissenschaft, dem geistigen Mittelpunkt, den litterarischen Beeinflußungen u.s.w. erscheinen mit einem Schlage wie selbstverständliche, weil eben als wirklich erkannte Faktoren der Dichtung.537
529 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, V. 530 Ebd., VI. 531 Ebd. 532 Eugen Wolff: Geschichte rückwärts? Kiel und Leipzig 1893, 23. 533 Ebd., 24. 534 Ebd., 9. 535 Ebd., 18. 536 Ebd., 10. 537 Ebd., 11.
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Und genau in diesem Sinn verfasste er später auch seine eigene Literaturgeschichte der Gegenwart. Hier entpuppt sich, wie bereits Lothar Schneider hervorgehoben hat (aber auch wie es bereits von Meyer als problematischer Aspekt zur Zeit der Publikation analysiert wurde)538, seine Vorstellung von ‚Modernität‘ bzw. ‚Moderne‘, deren Begriff er ja bekanntlich geprägt hat,539 erneut als nichts anderes als der „Versuch, mit dem literaturwissenschaftlich legitimierten Konzept eines neuen Nationalismus die partikularistischen Traditionen des Reiches zusammenzuführen“540. Der Geschichtsschreiber der Gegenwart, der „in den Geist der Geschichte eindringt“, findet „nirgends Stillstand“ und lernt „überall Vorwärtsschreiten“. Dabei lebt „jede Idee ein Leben in umgekehrter Aufeinanderfolge der Zeiten“ und geht „erst […] ahndungsschüchtern einem kleinen Kreise auf“, wird „Zukunft“, gelangt „dann […] zu Leben und Geltung“ und wird „Gegenwart“. Der Einheitskrieg zeigt sich dabei genau im Sinne einer solchen „neuen Zukunftsidee“541, die den Auftakt zu den „Klänge[n] der neuen großen nationalen Poesie“542 bildet. Diese bietet „dem Volke wieder wahre Poesie in großem nationalen Stile“ und lässt „die Jugend wieder an die Zukunft unserer Litteratur glauben“543. Aus dieser Perspektive wird verständlich, dass Wolff in seiner eigenen Literaturgeschichte vor allem „das idealisierte und politisch intendierte Selbstbild des Wilhelminismus als Moderne [affimierte]“544. Mit dieser „Rückwendung zur Nationalerziehung“545, die u.a. vor allem durch den erwähnten Rudolf Hildebrand546 sowie Otto Lyon und Friedrich Panzer betrieben wurde, gehört sie im weiteren Sinne zur „Deutschkundebewegung“.547 Diese hatte vor allem ihren Aufschwung erlebt, als Kaiser Wilhelm II. mit Schulverordnungen die nationalen Aspekte der Erziehung verstärkte und an die Stelle lateinischer
538 Vgl. ausführlich Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 108. 539 U.a. in seinem Aufsatz: Die jüngste deutsche Literaturgeschichte und das Prinzip der Moderne (Vortrag in der Freien litterarischen Vereinigung „Durch!“ 1886, erweitert 1887). In: Ders.: Zwölf Jahre im litterarischen Kampf. Studien und Kritiken zur Litteratur der Gegenwart. Oldenburg und Leipzig 1901, 79-129. 540 Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 104. 541 Wolff: Die jüngste deutsche Literaturgeschichte, 82. 542 Ebd., 83. 543 Ebd., 84. 544 Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 109. 545 Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 603. 546 Vgl. zu Hildebrand ausführlicher etwa: Hartmut Küttel: Aus der Geschichte des Deutschunterrichts: Rudolf Hildebrand. In: Deutschunterricht 48 (1995) 5, 266-269. 547 Vgl. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 603.
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Texte den deutschen Aufsatz in den Mittelpunkt der Gymnasialbildung rückte, wozu er im gleichen Zug auch den Deutschunterricht an den Gymnasien ab 1891 um fünf Wochenstunden aufstockte.548 Die eifrigsten Befürworter dieser Maßnahme hofften, hierdurch den Literaturunterricht an den Oberschulen in eine „Erziehung zu ‚vaterländischer‘ Gesinnung“ umzuwandeln und durch die Lektüre der Werke – etwa der Weimarer Klassiker – eine „Stärkung des Nationalstolzes“ sowie eine geistige Mobilmachung gegen den „‘gemeingefährlichen‘ Ungeist der Sozialdemokraten und anderer ‚vaterloser Gesellen‘“ zu erwirken.549 Wolff verfolgte letztlich das gleiche Ziel, nämlich im Rekurs auf Germanismus (statt Humanismus) das Deutsche wieder zum Mittelpunktfach nicht nur der Schule, sondern zum Zentrum der Gesellschaft zu machen und als Instrument zu nutzen gegen den äußeren und gegen den inneren Feind (vornehmlich die Sozialdemokratie).550
Letztlich wird hier – und dieses Phänomen ist uns schon bekannt – wiederum eine bürgerliche Identitätsbestimmung bzw. -stabilisierung vorgenommen, um „in die eine Volksgemeinschaft rück[zu]überführ[en]“551. Wolff steht dabei in gewisser Weise „schon auf völkischem Boden“552, wenn er schließlich auch von einem „Nationalgefühl“ als einem „zum Bewußtsein gekommene[n] Instinkt“ spricht, das gerade dadurch erlangt wird, dass den Rezipienten das „Walten deutschen Geistes [..] mit begeistertem Sturmesbrausen umweht“, wodurch „die Knospen deutscher Individualität […] zu eigenem Leben aus[schlagen]“553. So hofft er auch im Schlusswort seiner Literaturgeschichte, dass dem eben erst „zu einem neuen Leben der Unabhängigkeit und Kraft und – wie wir hoffen – des Glücks“ erblühten deutschen Volk ebenso wie der deutschen Dichtung „noch eine weite Zukunft“ und „Ziele“ winken.554 Im Zusammenhang mit der erwähnten Deutschkundebewegung steht auch die Gründung des Germanistenverbandes (DVG),555 dessen Mitbegründer Wolff 1912 war.556 Auch dieses Organ hatte sich
548 Vgl. Hermand: Geschichte der Germanistik, 78. Auf diese Erlasse geht auch Wolff ein: vgl. Wolff: Geschichte rückwärts, 18. 549 Hermand: Geschichte der Germanistik, 78f. 550 Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 603. 551 Ebd. 552 Schneider: Eugen Wolffs Dilemma, 109. 553 Wolff: Geschichte rückwärts, 24. 554 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 384. 555 Vgl. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 603.
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die „Pflege des literarischen Erbes“ sowie die „Stärkung des nationalen Selbstbewußtseins“ auf die Fahnen geschrieben.557 So formulierte etwa der maßgebliche Gründungsvater des DVG, Frankfurter Oberlehrer Johann Georg Sprengel, in der ersten Versammlung Ende 1912 in Frankfurt: Nicht das Bedürfnis, die germanistische Forschung anzuregen, zu verbessern, hat den Anlaß zu unserem Unternehmen gegeben, auch nicht etwa das bloße Verlangen nach einem Fachverein; vielmehr die Erkenntnis einer unvollkommenen und matten Wechselwirkung unserer völkischen Kulturwerte und der sie ergründenden, vermittelnden Deutschwissenschaft mit dem allgemeinen deutschen Geistesleben. Denn jede Kultur im höheren Sinne muß nationale Kultur sein; nur aus den Eigenkräften quillt geheimnisvoll Streben, Größe und Glück einer Nation, wie nur das eingeborene Blut über Wert und Unwert eines Menschen entscheidet – es gibt kein Mittel, ihm statt des eigenen fremdes in die Adern zu flößen.558
Nach solchen Worten verwundert es nicht, dass der DVG zum „Kampfbund für völkisch-nationale Geistesbildung“559 avancierte. Ein weiteres Gründungsmitglied war der Prager Germanist August Sauer,560 der – wie allein ein Blick auf seinen Lebenslauf belegt – ebenfalls aus der positivistischen Schule hervorging.561 Sauer ist für uns insofern von Bedeutung, als er der akademische Lehrer des österreichischen Germanisten Josef Nadler war.562 Dieser hat mit seiner stammeskundlichen Literaturgeschichtsschreibung einen der „meistbearbeiteten Ansätze der germanistischen Wissenschaftsgeschichte“563 hervorgebracht. Sein Konzept wurde nicht zu Unrecht „als Vorläufer zur völkisch-nationalen Germanistik“ angesehen.564 Die Grundlagen dieses Konzepts hatte er zwischen 1910 und 1918 entwickelt.565 Nach anfänglicher Ablehnung der meisten Universitäts-
556 Vgl. Deupmann: s.v. Wolff, Eugen, 2059. 557 Hermand: Geschichte der Germanistik, 79. 558 Zitiert in: ebd. 559 Ebd., 80. 560 Vgl. ebd., 79. 561 Vgl. Max Kaiser: s.v. Sauer, August Rudolf Josef Karl. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 3, 1568-1572, 1568. 562 Kaiser: s.v. Sauer, 1569 bzw. Elias H. Füllenbach: s.v. Nadler, Josef. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 2, 1298-1301, 1298. 563 Ranzmaier: Konzepte und politische Implikationen, 451. 564 Ebd. 565 Vgl. ebd., 473.
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germanisten, die eine Einhaltung der philologischen Standards forderten566 und auch den „das Individuum einem Kollektiv untergeordneten Ansatz“ wenig akzeptierten,567 etablierte sich vor allem aufgrund der öffentlichen Nachfrage nach Gesamtdarstellungen sehr rasch. Dabei kam ihm zugute, dass Nadler eine solche letztlich als einziger um 1910 innerhalb der Universitätsgermanistik568 bot.569 Diese enthielt sogar noch ein Modell, das nach einem durchgehenden Prinzip eine gleichmäßige Behandlung sowohl der mittelalterlichen und neuzeitlichen wie auch der zeitgenössischen Literatur erlaubte570. Nadler reaktivierte ein altes philologisches Konzept, das bereits aus der Sprach- und Poesiehistoriographie bekannt war,571 nun aber „zum zentralen Baustein der Literaturgeschichte“572 wurde. Er knüpfte in gewisser Weise tatsächlich – wie die Anhänger der geistesgeschichtlichen Gegenbewegung vermerkten – zugleich an den literaturwissenschaftlichen Positivismus an.573 Das Programm hatte sein Doktorvater August Sauer in seiner 1907 gehaltenen Prager Rektoratsrede Literaturgeschichte und Volkskunde vorformuliert,574 die für Nadler zu einem „Schlüsselerlebnis“ wurde.575 Auch Sauer suchte, irritiert durch die immer weiter anwachsende, kaum
566 Vgl. ebd., 475. 567 Ebd. 568 Vgl. ebd., 476. 569 Ebd. 570 Vgl. ebd. 571 Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 232; sowie Andreas Schumann: „… die Kunst erscheint überall an ein nationales und locales Element gebunden…“ (A.W. Schlegel). Versuch einer Typologie regionaler Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft XX (1989), 237-257, 252ff. 572 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 232. 573 Vgl. Rosenberg: Methodenpluralismus, 239. 574 Vgl. ebd., 240. 575 Vgl. Schumann: Versuch einer Typologie regionaler Literaturgeschichtsschreibung, 252. – Dies legt beispielsweise auch das Vorwort Worte der Rechtfertigung und des Danks der ersten Auflage nahe (vgl. Josef Nadler: Literaturgeschichte der Deutschen Stämme und Landschaften. I. Band: Die Altstämme (800-1600). Regensburg 1912, V). Wobei Nadler selbst darauf verwies das stammheitliche Ordnungsprinzip schon vor der Rektoratsrede angewandt zu haben, die er wegen einer studentischen Protestdemonstration gegen die Amtseinführung Sauers nur bruchstückweise habe hören können (vgl. Rosenberg: Methodenpluralismus, 245; sowie die dort angegebene Quelle Josef Nadler: Kleines Nachspiel. Wien 1954, 34).
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noch überschaubare Anhäufung der Forschung nach „Ordnungskategorien, die dieser chaotischen Daten- und Textmenge literarhistorische Struktur einziehen würden“576, um so zu einer „Vorstellung des geschichtlichen Gesamtprozesses“577 zu gelangen. Die bislang erprobten Unterscheidungskriterien motiv-, gattungs- und epochengeschichtlicher Art reichten Sauer für seinen Systematisierungsversuch nicht aus, da er von Anfang an seiner ideologischen Vorgabe entsprechend den Maßstab zur Selektion, Gliederung und Wertung literarischer Werke aus dem Zusammenhang zwischen der deutschen Literatur und dem deutschen Volkstum gewinnen wollte.578 Das bedeutete, dass die Literatur letztlich gesichtet und erschlossen werden sollte „nach dem Grad ihrer Bedeutung für die Herausbildung und Widerspiegelung des deutschen Nationalcharakters“579. Literaturgeschichtsschreibung sollte also wieder „heteronom […] an den politischen Zweck nationaler Identitätsvergewisserung“580 gebunden werden. Da aber „der Begriff des Nationalcharakters“, wie Sauer in seiner Rede konstatiert, bislang „viel zu allgemein und unbestimmt“ gefasst wurde,581 und tatsächlich „der Charakter einer so weit verzweigten Nation wie der deutschen wissenschaftlich in der Tat sehr schwer fassbar ist“582, scheint es sinnvoll den Weg über den leichter zu bestimmenden „Charakter der einzelnen deutschen Stämme, Landschaften, Provinzen und Länder, welche bei grosser Verschiedenheit im einzelnen durch einheitliche Züge miteinander verbunden sind“583, zu gehen. So forderte er eine „Untersuchung der regionalen, ja ‚heimatlichen‘ Ursprünge von Dichtern und ihren Werken“584, denn – so Sauer weiter:
576 Dietmar Lieser: Literaturräume. Zu Begriff und Gegenstand regionaler Literaturgeschichtsschreibung. In: Bernd Witte (Hg.): Oberschlesische Dialoge. Kulturräume im Blickfeld von Wissenschaft und Literatur. Frankfurt a. M. 2000, 25-39, 31. 577 Rosenberg: Methodenpluralismus, 240. 578 Lieser: Literaturräume, 31. 579 Ebd. 580 Ebd. 581 August Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde. Rektoratsrede gehalten in der Aula der K.K. Deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag. Am 18. November 1907. In: Die Feierliche Inauguration des Rektors der K.K. Deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag für das Studienjahr 1907/1908. Am 18. November 1907. Prag 1907, 17-38, 20. 582 Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, 20. 583 Ebd. 584 Schumann: Versuch einer Typologie regionaler Literaturgeschichtsschreibung, 252.
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Im Grunde ist der Mensch […] ein Produkt des Bodens, dem er entsprossen ist, ein Angehöriger des Volksstammes, der ihn hervorgebracht hat, ein Glied der Familien, aus deren Verbindung er entsprungen ist. […] Die Stammesmerkmale bilden die älteste und festeste Schicht, auf welcher alle anderen Einflüsse und Eindrücke, wie sie Erziehung, Bildung und Leben mit sich bringen, sich aufbauen und wären uns diese Stammesmerkmale bekannt, wären sie wissenschaftlich erfassbar, so gäben sie ein ausgezeichnetes Kriterium zu einer gewissermassen natürlichen Gruppierung auch der Literaten und Dichter eines Volkes.585
Was Sauer hier einforderte und methodologisch skizzierte, setzte Nadler in seinem Werk, das ihm anstelle einer Habilitationsschrift die Venia eintrug586 und das er August Sauer widmete, schließlich erstmals konsequent um587 und brachte es „zur wirkungsmächtigsten Praxis regionaler Literaturgeschichtsschreibung bis 1945“588. Auch er deklarierte „das kategorial Diffuse eines vorgeblich verbürgten und vermittelten Nationalcharakters als Summe spezifischer Teilmengen“, um über die von Sauer propagierte Methode einer „schrittweise zum Allgemeinen aufsteigenden Induktion“ das „Gebäude einer nationalen Literaturgeschichte […] auf dem Fundament einer regionalen Literaturgeschichte der Stämme und Territoriallandschaften“ zu errichten.589 Das „Erkenntnisziel“ war ein „neuer nationaler Synthesisbegriff“590, den er in seinem programmatischen Euphorionaufsatz Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte als „deutsch schrifttümlich“591 bezeichnete. Die „Erkenntnismittel“ waren „ausgehend von den [literarischen; C.G.] Denkmälern, fortschreitende Begriffsbildung, Quellendenkmäler, der Induktionsschluß und der Begriff der ursächlichen Abfolge“.592 Als „wesentliche[] Hilfsmittel“ sollten dabei „nomothetische Kulturwissenschaften“593 dienen: die „Sprachwissenschaft, Familiengeschichte, Ethnographie, Geographie
585 Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, 21; zitiert bei und in den Kürzungen folgend: Schumann: Versuch einer Typologie regionaler Literaturgeschichtsschreibung, 252f. 586 Füllenbach: s.v. Nadler, 1298. 587 Vgl. Schumann: Versuch einer Typologie regionaler Literaturgeschichtsschreibung, 253. 588 Lieser: Literaturräume, 32. 589 Ebd., 31. 590 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 234. 591 Josef Nadler: Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Versuche und Anfänge. In: Euphorion 21 (1914), 1-63, 51. 592 Ebd., 51. 593 Ranzmaier: Konzepte und politische Implikationen, 458.
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[sowie die; C.G.] Volkskunde“594. Nadler geht es im Grunde um die „Zwischenglieder zwischen dem Einzelnen und der letzten Einheit, eine Zwischeneinheit, die vor dem Einzelnen die Kontinuität der Entwicklung voraus hat und vor dem letzten Ganzen, der Nation, die Mannigfaltigkeit, die Vielheit solcher Entwicklungen“.595 Dies ist eben „der Stamm, die Sippe, die Landschaft“596. Nadler begründet: Mit dem ererbten Blute rollt eine Fülle erblicher Güter von Geschlecht zu Geschlecht. Neben den Einzelnen tritt Fluch und Segen der Sippe. Und weil sich die Geschichte der Abfolge nur in seltenen Fällen lückenlos feststellen läßt, müssen wie zur unvollkommenen Auskunft greifen, sie nächst Verwandten dieses Einzelnen, seinen Stamm, seine Umgebung, den Menschen seiner Heimat zur Erklärung heranziehen, falls wir wissen, daß er wenigstens in weiterer Folge mit ihm verwandt ist.597
Auf diese Weise hofft er „Gesetze und Typen“598 im Sinne von „regionale[n] Charaktere[n] (eben d[en] Stämme[n])“599 aus der Literatur zu abstrahieren und zu gewinnen.600 Der Stamm als „eine auf gemeinsame Abstammung gegründete Einheit mit einem auf diese gemeinsame Abstammung zurückgehenden Stammescharakter“601. Die in ihm zum Ausdruck kommende bzw. in Interaktion tretende Landschaft „als Nährboden, als Materielles, als Trägerin eines ganz bestimmten Menschenschlages, von der aus beidem, aus Blut und Erde, das Feinste, das Geistige wie in goldenen Dämpfen aufsteigt.“602 Sowie das aus dem „abstammungsgebundenen Stammescharakter und der darauf basierenden geistigen Aneignung einer Landschaft durch einen Stamm oder Stammesteil“603 erwachsende Volkstum. Dieses ganze Konzept wird jedoch durchaus nicht einheitlich
594 Nadler: Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte, 51. 595 Nadler: Literaturgeschichte, VII. 596 Ebd. 597 Ebd. 598 Ebd. 599 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 232. 600 Vgl. Josef Nadler: Stamm und Landschaft in der deutschen Dichtung. In: Neophilologus 21 (1936) 2, 81-92, 88; unter falscher Angabe zitiert bei: Rosenberg: Methodenpluralismus, 246. 601 Ranzmaier: Konzepte und politische Implikationen, 460. 602 Nadler: Literaturgeschichte, VII. 603 Ranzmaier: Konzepte und politische Implikationen, 464.
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gehandhabt604, geschweige denn innerhalb der einzelnen Bezüge konsequent gewichtet605. Es droht in gewisser Weise sogar, da es auch nicht empirisch gewonnen wird,606 dem gleichen „bösen Zirkel“607 zu erliegen, vor dem Sauer in seiner Rektoratsrede gewarnt hatte. Getragen wurde es vor allem, wie Irene Ranzmaier herausgearbeitet hat, von ‚politischen Implikationen‘. Dazu gehörte vor 1918 die „Denkweise des Imperialismus“608. Diese müsste man trotz gewisser Einwände609 genauer unter dem Begriff des Völkisch-Expansiven fassen. Es ging nämlich um eine grundsätzlich „territoriale[] Expansion“610, in der unter der „Teleologie des anwachsenden Nationalbewußtseins, zu dem jedes neue Volkstum seinen Beitrag leistet“, eine „Voraussetzung für kulturelle Höherentwicklung der Nation gesetzt“611 wurde. Dieses völkisch-expansive Ideologie verengte sich nach der Weltkriegs- und Revolutionserfahrung im Jahre 1918, wie häufig im deutsch-nationalen Lager, dem der Österreicher Nadler zweifellos zuzuordnen ist612, auf die klassische (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägte) großdeutsche Einigungsidee.613 Zu dieser kamen auf der anderen Seite immer stärker auch völkische Reinheitsvorstellungen,614 die bereits Anknüpfungspunkte zum Volksgemeinschaftsbegriff aufwiesen. Sie waren jedoch auch schon vorher615 im Sinne erwähnter ‚nationaler Identitätsvergewisserung‘ vorhanden. Es ist auffällig, dass Nadler – ähnlich wie vor ihm auch Scherer – trotz der „Ablehnung ästhetischer Wertungskriterien“616 den sich inzwischen etablierten Kernka-
604 Ebd., 473. 605 Vgl. ebd., 478. 606 Ebd., 473. 607 Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, 20. 608 Ranzmaier: Konzepte und politische Implikationen, 466. 609 Vgl. ebd., 479f. – Ranzmaier fasst den Begriff des „völkisch-nationalen“ letztlich zu eng, indem sie ihn zu sehr bereits an der späteren NS-Ideologie ausrichtet, selbst aber versucht, Nadler differenzierter im Bezug darauf zeigen zu wollen. 610 Ebd., 470. 611 Ebd., 466. 612 Vgl. Wolfgang Neubert: Nationalismus als Raumkonzept. Zu den ideologischen und formalästhetischen Grundlagen von Joseph Nadlers Literaturgeschichte. In: Klaus Garber: Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit. München 2002, 175-191. 613 Vgl. Ranzmaier: Konzepte und politische Implikationen, 470f. 614 Vgl. ebd., 471. 615 Vgl. ebd., 475. 616 Rosenberg: Methodenpluralismus, 247.
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non der „literarischen Denkmäler[]“617 in weiten Teilen übernimmt, ebenso wie er an sich keine Änderung des Wertekanons vornimmt.618 Er bettet ihn lediglich argumentativ neu, eben in seine stammesgeschichtlichen Vorstellungen, ein. Daneben wertet er jedoch auch „Folklore und Dialektliteratur“ auf, wodurch in gewisser Weise „das große bürgerliche Erbe der deutschen Literatur selbst [wiederum; C.G.] provinzialisiert“ wird.619 Mit Nadler schließen wir zunächst die Analyse der Kanonprofile der universitätsgermanistischen Literarhistoriographie bzw. der ‚gelehrten‘ Literaturgeschichten ab. In der Nachzeichnung ihrer Entwicklung konnten wir deutlich beobachten, wie sich die ‚Kanonisierungspraxis‘ im Wellenauf und -ab der Geistesgeschichte veränderte, letztlich aber die „Kanonfunktion“620, d.h. der Kanon in seiner Funktion als „Selbstdarstellung und Identitätsstiftung“ der ihn repräsentierenden und tragenden Gesellschaftsgruppe sowie in seiner „Legitimationsfunktion“, d.h. „der Rechtfertigung und Abgrenzung der Gruppe gegen andere“ konstant erhalten blieb.621
3.4 D IE ‚ GEBILDETEN ‘ L ITERATURGESCHICHTEN / POPULÄREN G ESCHICHTSDARSTELLUNGEN Wenden wir nun den Blick auf die sogenannten ‚gebildeten‘ Literaturgeschichten bzw. populären Literaturgeschichtsdarstellungen und versuchen auch hier den Rahmen, in dem Kanonisierung vorgenommen wurde, abzustecken. Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, kam es in den 1830er bzw. 1840er Jahren zu einer Konjunktur der Literaturgeschichten und der Literaturgeschichtsschreibung, wie allein schon die Zahlen der Neuerscheinungen bei den literaturgeschichtlichen Publikationen beweisen.622 Sie war einerseits bedingt durch die
617 Nadler: Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte, 32. 618 Vgl. Ranzmaier: Konzepte und politische Implikationen, 478f. 619 Rosenberg: Methodenpluralismus, 248. 620 Vgl. dazu ausführlich Korte: K wie Kanon und Kultur, 30f. 621 Simone Winko: Literarische Wertung und Kanonbildung. In: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hgg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996, 585600, 597, zitiert bei: Korte: K wie Kanon und Kultur, 31. 622 Vgl. hierzu die Zusammenstellung der bisherigen Auswertungen bei Zimmer: Uhland im Kanon, 354.
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schulpflichtige Alphabetisierung in Deutschland623. Andererseits hatte sie aber auch mit dem „zunehmenden bürgerlichen Bildungsbedürfnis“624 zu tun, das, wie neuere Studien zeigen, das durchaus in einigen Regionen existierende Lesepotential aktivierte.625 Zu den „Gelehrten vom Fach“626 trat ein „neues Publikum“627. Es war eben jenes, für das die Literaturgeschichte zum politischen „Ersatz-Kampfplatz“628 wurde (s.o.): das Bürgertum, genauer noch: der neue Mittelstand des sog. „Bildungsbürgertum[s]“629. Schon bald wurden die ersten Literaturgeschichten ausschließlich an dieses gerichtet. So adressiert etwa Thomas Scherr seinen 1842 erschienenen Freundlichen Wegweiser durch den deutschen Dichterwald im Untertitel an die „Gebildeten außer dem Gelehrtenstande“630. In der Einleitung präzisiert er, dass das Buch „für jenen überaus zahlreichen Lesekreis bestimmt [ist], welchem die vielen Tausenden angehören, die auf einer Stufe der Mittelbildung sich befinden oder nach derselben aufstreben“. Auf diese Weise versuchte er dem „Bildungsbedürfnis jener Klassen, welche den wahren
623 Eva D. Becker: Literaturverbreitung 1850 bis 1890. In: Dies.: Literarisches Leben: Umschreibung der Literaturgeschichte. St. Ingbert 1994, 109-164, 111ff.; Heinz-Elmar Tenroth: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim und München 52010, 164ff.; zu einzelnen Zahlen: vgl. Étienne Francois: Alphabetisierung in Frankreich und Deutschland während des 19. Jahrhunderts: erste Überlegungen und vergleichende Analyse. In: Zeitschrift für Pädagogik 29 (1983), 755768 sowie ders.: Regionale Unterschiede der Lese- und Schreibfähigkeit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 17 (1990), 154-172. 624 Eva D. Becker: ‚Klassiker‘ in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und 1860. In: Dies.: Literarisches Leben, 7-27, 17. 625 Wie etwa die Untersuchungen Ernst Hinrichs aufzeigen, widersprechen neuere Auswertungen im Bezug auf die Alphabetisierung den Schätzungen der älteren Forschung (vgl. etwa: Ders.: Alphabetisierung. Lesen und Schreiben. In: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hgg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln 2004, 539-562). 626 Otto Ludwig Bernhard Wolff: Die schöne Litteratur Europa’s in der neuesten Zeit, dargestellt in ihren bedeutendsten Erscheinungen. Leipzig 1832, VII; zitiert nach: Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 175. 627 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 175. 628 Becker: ‚Klassiker‘ in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 17. 629 Vgl. Tenroth: Geschichte der Erziehung, 162. 630 Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 176.
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Kern des Volkes ausmachen“ zu entsprechen.631 Diese Form der Adressierung setzte sich in der Folgezeit immer stärker durch und etablierte sich bis Ende des Jahrhunderts vollkommen in dieser neu entstehenden literaturgeschichtlichen Gattung. Mit der gleichen Metaphorik wie Scherr, will auch Franz Hirsch mit seiner Geschichte der Deutschen Litteratur einen „Führer durch den oft pfadlosen deutschen Dichterwald“632 an die Hand geben. Auch Storck633, Arnold634, Schilling635, Bleibtreu636 u.a.637 verfassen für das gleiche Zielpublikum „Führer“ durch, wie es bei Heinze und Goette heißt, das „Gewirr der Erzeugnisse geistigen Lebens“638. Und auch eine der auflagenstärksten Literaturgeschichten,639 nämlich die Eduard Engels, wird verfasst als „ein Führer des Lesers durch den kaum noch zu durchdringenden Wald neuerer deutscher Dichtung“640. In seiner Einleitung schreibt Engel:
631 Ignaz Thomas Scherr: Freundlicher Wegweiser durch den deutschen Dichterwald für Gebildete außer dem Gelehrtenstande zugleich ein Schulbuch für Lehrerseminarien, höhere Töchterschulen und für die obern Klassen deutscher Realschulen und schweizer Secundarschulen. Winterthur 1842, III; zitiert nach: Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 176f. 632 Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, Bd. 1, VII. 633 Vgl. Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, X. 634 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, o.S. [Vorwort]. 635 Schilling: Deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts, IV. 636 Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 5. 637 Eine interessante Ausnahme bildet (das nur am Rande vermerkt) die Literaturgeschichte Hans Röhls, der ausdrücklich schreibt, dass sein Buch gerade nicht erstrebt ein „Führer [..] durch die gegenwärtige Literatur zu sein“. Gleichzeitig jedoch erhofft er, dass der Leser durch die Lektüre seiner „vorwiegend geschichtlich betrachtenden Darstellung [...]“ einer „solchen Führung“ gar nicht mehr bedarf, sondern vielmehr mit einem durch sie „geläuterten Kunstverständnis allein durch den Irrgarten der Gegenwart“ findet (Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 6). 638 Paul Heinze, Rudolf Goette: Geschichte der deutschen Litteratur von Goethes Tode bis zur Gegenwart. Mit einer Einleitung über die deutsche Litteratur von 1800-1832. DresdenStriesen 1890, III. 639 Zwischen 1906 und 1929 erschienen 38 Auflagen, d.h. fast jedes Jahr mehrere Auflagen (vgl. hierzu ausführlich: Anke Sauter: Eduard Engel. Literaturhistoriker, Stillehrer, Sprachreiniger. Ein Beitrag zur Geschichte des Purismus in Deutschland. Bamberg 2000, 47f.). 640 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 8.
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„Es gibt zweierlei Arten, die Geschichte zu schreiben", heißt es bei Goethe, „eine für die Wissenden, die andere für die Nichtwissenden". Die zweite sei die, „wo wir selbst bei der Absicht, eine große Einheit darzustellen, auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern verpflichtet sind". Berühmte deutsche Literaturgeschichten, von Gervinus bis über Scherer hinaus, haben sich nur an die Wissenden gewandt: sie setzten die Kenntnis der deutschen Literatur bei ihren Lesern voraus und boten ihnen vornehmlich die besondere Auffassung des Geschichtschreibers von der Entwicklung der Literatur. (VEHGXUIWHGDQHEHQIUOHUQ EHJLHULJH/HVHUQRFKHLQHV]ZHLWHQ:HUNHV, um zur Meinung über die Tatsachen auch die Tatsachen selbst und einige Proben von den Dichtungen zu erfahren. Die hier vorliegende Deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart ZHQGHWVLFKDQGLH1LFKWZLVVHQGHQ, und das sind, mit Ausnahme der Fachgelehrten, in höherem oder niederem Grade die meisten Leser. [Kursivierung C.G.]641
Im gleichen Sinne wie diese Adressierungen sind auch die zahlreichen „dem deutschen Haus“-Zuschreibungen in den Vorworten vieler Literaturgeschichten zu verstehen.642 Jürgen Fohrmann zählt eine ganze Reihe solcher Widmungen auf: u.a. die für uns relevanten Literaturgeschichten Königs, Hirschs, Leixners, Brennings und Engels.643 Zu ergänzen wäre diese Reihe um die Storcks644, Schultz‘ bzw. Reuchels645 sowie die von Adolf Stern fortgesetzte Literaturgeschichte August Friedrich Christian Vilmars.646 In den drei Wörtern dieser Zuschreibung ist, wie Fritsch-Rößler darlegt, die gesamte „‘Leserzielgruppe‘ genannt: ein breiteres Publikum, der gebildete Laie, die deutsche Familie.“647
641 Ebd. 642 Vgl. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 595f. Fohrmann zählt hier eine ganze Reihe dieser Widmungen auf (König, Hirsch, Leixner, Brenning, Engel; vgl. ebd., 596 [Anm. 48]), die um einige von uns behandelte Literaturgeschichten ergänzt werden könnte: so beispielsweise um die Karl Storcks, Ferdinand Schultzes und die Adolfs Sterns fortgesetzte Literaturgeschichte August Friedrich Christian Vilmars. Zum Zielpublikum vgl. auch: Waltraud Fritsch-Rößler: Bibliographie der deutschen Literaturgeschichten. Band 1. 1835-1899. Mit Kommentar, Rezensionsangaben und Standortnachweisen. Frankfurt am Main 1994, 179. 643 Vgl. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 596 (Anm. 48). 644 Vgl. (bereits im Titel): Storck: Deutsche Litteraturgeschichte für das deutsche Haus, (sowie explizit) VII. 645 Vgl. Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, IV. 646 Vilmar: Geschichte der Deutschen National-Literatur, XII. 647 Fritsch-Rößler: Bibliographie, 179.
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Wie wir bereits sehen konnten, lag (vor allem zu Beginn) das Ziel der literaturgeschichtlichen Aufarbeitung im „Nachweis nationaler Entelechie, in der diskursiven Begründung einer national-kulturellen Gemeinschaft, in der auch alle Dichter noch (und wieder) aufgehen“648. Die Nation wurde als organisch gewachsener „Urgrund aller Geschichtlichen Wirkungen“ aufgedeckt und sollte über die ästhetische Bildung formiert werden.649 Ab den 1840er Jahren führte der Ethiker das Wort und den Zielpunkt seines Bemühens bildete nicht mehr in erster Linie die Nation „als politische Vereinigung, sondern der Staat als Gemeinschaft der Sittlichen“. Die Aneignung der Literaturgeschichte war dabei notwendiger Bestandteil der „Arbeit am ästhetisch-sittlichen Weltzustand“650. Zugleich avancierte Bildung zum „Etikett der Ethikgemeinschaft“ und zum „Aushängeschild jener ‚Gebildeten‘“, denen außerhalb dieses Diskurses noch kein wirklich soziales, geschweige denn politisch wirksames Korrelat entsprach.651 Dieses musste sich erst im Laufe der Zeit über die Kommunikationshandlungen formieren, heraus-bilden652 und nach der Herausbildung durch und in eben diesen Kommunikationshandlungen bestätigen.653 Bildung sollte also auf jeden Fall zu einem „Selbstbewußtsein“ führen, das schließlich (hierbei wird Schiller immer wieder bemüht)654 „jener Tat, die die politische Einigung und Souveränität des Volkes herstellen“ 655 und nach dieser Herstellung auch erhalten sollte, zu Dienste stand. Ein sich zu diesem Zweck etablierender Kanon, (aus)selegiert nach den sich in ihm manifestierenden moralischen und kulturellen Werten,656 eben jene die gesellschaftliche Gruppe als historisch verbürgt ausweisende und sie zugleich legitimierende Tradition (s.o.), diente im „Prozess der Bildung“657 einerseits der Reproduktion, andererseits der Internalisierung, also der „Kultivierung
648 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 179. 649 Ebd., 180. 650 Ebd. 651 Ebd., 181. 652 Vgl. ebd., 181ff. 653 Ein Kernstück der Selbstorganisation der Gebildeten bietet der Verein, als der wichtigste Ort geselliger Kommunikation (vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 185f.). 654 Vgl. ebd., 184. 655 Ebd., 183. 656 Vgl. auch Fritz Ringer: Bildungs- und Geschichtstheorien in Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hgg.): Geschichtsdiskurs. Bd.3: Die Epoche der Historisierung. Frankfurt a. M. 1997, 229-243, 230. 657 Ebd.
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und Selbstverwirklichung“658 sozialer Selbstdefinition. Letztlich sollte also „die Nation an und in der Literatur“ gebildet werden,659 was auch noch und in besonderer Weise galt, als die Nation sich schließlich schon gebildet hatte. Genau im Zusammenhang mit dieser „Bildungsrevolution“660 steht also der rasch expandierende Markt der Literaturgeschichten und das dort baldige Aufkommen der populären Gesamtdarstellungen. Zu Beginn der „Leserevolution“661 überschwemmte den Buchmarkt zunächst vor allem auch die ‚schöne Literatur‘ (i.S. der belles lettres) in Form von Neuerscheinungen, Neuauflagen und Zeitschriftenabdrucken. Das hatte zur Folge, dass Leser in dieser sich beschleunigenden Buchinflation immer stärker einer Orientierung, also wiederum eines Kanons, bedurften. So forderte etwa bereits Arthur Schopenhauer in seinen Parerga und Paralipomena: Gegen die gewissenlose Tintenklexerei unserer Zeit und gegen die dennoch immer höher steigende Sündfluth unnützer und schlechter Bücher sollen die LITTERATURZEITUNGEN der Damm seyn, indem solche, unbestechbar, gerecht und strenge urtheilend, jedes Machwerk eines Unberufenen, jede Schreiberei, mittelst welcher der leere Kopf dem leeren Beutel zu Hülfe kommen will, folglich wohl 9/10 aller Bücher, schonungslos geißelten und dadurch pflichtgemäß dem Schreibekitzel und der Prellerei entgegenarbeiteten, statt solche dadurch zu befördern, daß ihre niederträchtige Toleranz im Bunde steht mit Autor und Verleger, um dem Publiko Zeit und Geld zu rauben.662
658 Vgl. ebd., 230. 659 Peter C. Pfeiffer: „What is Austrian Literature?“ a response to Sigrid Löffler. Forum zur deutschen Literaturgeschichtsschreibung. In: Modern Literature 40 (2007) 4, 132-133, 132; unter unvollständiger Angabe zitiert bei: Zimmer: Uhland im Kanon, 354. 660 Ringer: Bildungs- und Geschichtstheorien, 229 – im Grunde in einem doppelten Sinne zu verstehen. 661 Der vielverwendete Begriff wurde von Rolf Engelsing geprägt, erstmals 1969 in seinem Aufsatz: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 25 (1969) 51, 1541-1569 (vgl. Reinhart Siegert: Theologie und Religion als Hintergrund für die „Leserevolution“. In: Hans-Edwin Friedrich/Wilhelm Haefs/Christian Soboth (Hgg.): Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen, Kontroversen, Konkurrenzen. Berlin/New York 2011, 14-31, 19). 662 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena: Kleine Philosophische Schriften. Zweiter Band. Zürich 1988, 451.
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Tatsächlich liegt genau in dieser Zeit die Geburtsstunde der sog. modernen Literaturkritik.663 Diese rezensierte Neuerscheinungen in den Literaturzeitschriften, die nach der Zäsur des Jahres 1848 ebenfalls eine echte „Schwemme“ und „Gründerwelle“ erlebten664. Es verwundert nicht, dass eine Vielzahl von Literaturkritikern (oft auch Herausgeber oder Redakteure der Zeitschriften) neben ihrer journalistischen Arbeit populäre Gesamtliteraturgeschichten sowie Geschichten der zeitgenössischen Literatur665 verfasst haben. Zu nennen sind unter den Autoren der von uns in Augenschein genommenen Literaturgeschichten:666 • •
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Edmund Hoefer, der Mitherausgeber der Hausblätter in Stuttgart und späterer Leiter des Cotta’schen Morgenblattes war;667 Franz Hirsch, der seit 1871 Redakteur des Leipziger Neuen Blattes, später des Salon und danach bis in die neunziger Jahre von Schorers Familienblatt war; Robert Koenig, der zwischen 1864 und 1869 als Redakteur der Wochenschrift Daheim arbeitete; Samuel Lublinski, der Mitarbeiter bei Theodor Herzls Zeitschrift Die Welt war und in vielen anderen Zeitungen und Zeitschriften seine Rezensionen publizierte (etwa in Der Kunstwart, Die Schaubühne, Magazin für Litteratur, Berliner Tageblatt, Welt am Montag etc.);668 Otto von Leixner, der von 1883 ab als Redakteur der Deutschen Romanzeitung tätig war; Ludwig Salomon, der Verfasser der Geschichte des Deutschen Zeitungswesens, der bei verschiedensten Zeitungen als Redakteur gearbeitet hatte;
663 Vgl. hierzu ausführlich Klaus L. Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik. In: Peter Uwe Hohendahl: Geschichte der deutschen Literaturkritik (17301980). Stuttgart 1985, 10-75, 16ff. 664 Vgl. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2000, 238. 665 Im Falle Julian Schmidts beispielsweise war die Literaturgeschichte nichts anderes als eine Zusammenstellung seiner Grenzboten-Artikel für ein noch breiteres Publikum (vgl. Rosenberg: Die deutsche Literatur, 90). 666 Zu den folgenden Informationen vgl. wo nicht anders angegeben: Rainer Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte nach 1871. Die historiographische Massenliteratur im neuen Reich. In: Ders.: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik, 128-138, 132. 667 Schumann: Bibliographie, 245f. 668 Vgl. Camilla Weber: s.v. Lublinski, Samuel. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 2, 1114-1116, 1115f.
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Paul Heinze, der ab 1880 Redakteur des Deutschen Dichterheims war; Adolf Bartels, ab 1889 Redakteur der Frankfurter Didaskalia; Karl Storck, von 1897 an als Redakteur der Deutschen Zeitung und des Türmer tätig; Carl Weitbrecht, der von 1874 bis 1888 als Redakteur des Neuen Familienblattes wirkte;669 Carl Busse, der 1899 Mitarbeiter an Franz Evers Litterarischen Blättern in Augsburg und später Herausgeber des Deutschen Wochenblattes in Berlin war; Eduard Engel, der als Redakteur des Magazins für die Literatur des Auslandes gearbeitet hatte; Friedrich Kummer, der in der Reaktion des Dresdner Anzeigers mitgearbeitet hatte; Carl Bleibtreu, der u.a. ebenfalls als Redakteur des Magazins für die Literatur des Auslandes als auch (wie weithin bekannt) zusammen mit Michael Georg Conrad als Herausgeber der Gesellschaft tätig war.
Die Hauptkonjunktur der nichtakademischen Literaturgeschichten begann vor allem nach der Reichsgründung, also im Übergang der ‚Take-off-Phase‘ zum ‚Reifestadium‘670 bürgerlichen Selbstverständnisses und bürgerlicher Bildung, in der auch weitgehend deren Institutionalisierung erfolgte. Der Höhepunkt wurde in den 1880er Jahren erreicht,671 als sich die populären (zumeist einbändig „handlichen“672) Darstellungen endgültig zu einer „speziellen Sorte von Massenliteratur“ entwickelt hatten, was umgekehrt dazu führte, dass auch die (renommierten) Werke der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung eine erneute Blüte durch Neuauflagen, Bearbeitungen und Weiterführungen erlebten.673 Als Gründe für diesen Schub führt Rainer Rosenberg u.a. an:
669 Schumann: Bibliographie, 275 – wobei Weitbrecht Lehrer, Philosoph, Literaturwissenschaftler und Publizist in einer Person war. 670 Die Begriffe werden hier aus Rostows Stadientheorie (1960) entliehen und auf die Entwicklung kulturellen Kapitals übertragen (vgl. etwa Bruno Knall: Entwicklungstheorien. In: Willi Albers (Hg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Bd.2: Bildung bis Finanzausgleich. Stuttgart, New York 1980, 421-435, 425). 671 Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte ,128. 672 Rosenberg: Die deutsche Literatur, 89. 673 Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte ,128.
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Zweifellos hatte die durch die Reichsgründung hervorgerufene nationale Euphorie breiter Schichten des deutschen Bürgertums wesentlichen Anteil an der Entstehung der Konjunktur, und das notwenige Interesse der herrschenden Klassen an der ständigen Reproduktion eines systemkonformen Geschichtsbildes mag dazu beigetragen haben, daß diese Konjunktur anhielt. Den Literaturgeschichten kam darüber hinaus eine ähnlich monumentale Bedeutung zu wie den allenthalben aufschießenden Heroen- und Siegesdenkmälern oder den zahlreichen neueingerichteten historischen Museen: die großen Leistungen der Vergangenheit als geschichtliche Tradition und kulturellen Besitzstand (des neugegründeten Besitzstandes) des neugegründeten Deutschen Reiches auszustellen und damit zu einer Repräsentation nationaler Größe beizutragen, die von den herrschenden Klassen in diesem Reich zunehmend auch zur ideologischen Begründung ihrer expansiven außenpolitischen Ziele eingesetzt wurde.674
Die Reichsgründung sorgte also für einen erneuten Bildungsschub, in dem die ‚nationalen‘ Werte noch einmal ihre Bekräftigung fanden; „deutsche Nation – Sittlichkeit – Schönheit“, die in den Literaturgeschichten die Blütezeiten auszeichnen,675 sollten dazu beitragen, das neue Reich auf- und auszubauen, wobei die Dichter erneut, wie etwa bei Ludwig Salomon, „als die vornehmsten Erwecker und Pfleger des nationalen Gedankens“676 fungierten. Die Vermittlung dieses „Wertebewußtsein[s]“677, die das Reich hervorgebracht hatte, sollte das „neue Haus, welches man bezog“678, nach außen erweitern. Dies sollte so vonstattengehen, dass es – hier kommt die alte Aemulatio wieder zum Vorschein – man den besiegten „Erbfeind“ Frankreich in seiner politischen Stellung als
674 Ebd.,133. 675 Ebd.,136. 676 Salomon: Geschichte der deutschen Nationalliteratur, VII. 677 Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte ,137. 678 Ein in dieser Zeit häufiger verwendetes Kollektivsymbol (vgl. hierzu ausführlich: Ute Gerhard und Jürgen Link: Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen. In: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hgg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Stuttgart 1991, 16-52, 22), das beispielsweise, wenn auch unter anderen Vorzeichen (vgl. Fritsch-Rößler: Bibliographie, 192) in der Geschichte der deutschen Nationalliteratur von Ludwig Salomon (470) verwendet wird und in der man durchaus auch eine Korrelation mit dem ‚deutschen Haus‘ der Widmungen sehen könnte, an dem aus dem Vätererbe stammend weitergebaut werden soll (vgl. hierzu: Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 193).
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Weltmacht noch überflügelte.679 Darüber hinaus sollte damit „der innere Ausbau des großen Reichsgebäudes“680 einhergehen und dessen ‚Reinhaltung‘681. Dies führte zu Extrempositionen wie der Adolf Bartels. Er war der Überzeugung war, dass seine Literaturgeschichte „für die Erhaltung unserer geistigen und seelischen Selbstständigkeit oder, was dasselbe sagt, [..] unser Deutschtum“682 notwendig sei, weil „unser geistiges Leben [..] nicht Geschäftsinteressen einer fremden Rasse ausgeliefert werden [dürfe]“683. Deshalb wollte er auch „jede Gelegenheit“ nutzen, „den Stolz auf unser deutsches Vaterland zu stärken und das nationale Gewissen zu schärfen“684. Wie bereits in der Gervinusschen Literaturgeschichte nach Herstellung der Ordnung der politischen Verhältnisse eine kulturelle ‚Blüte‘ prognostiziert wurde, so forcierte auch der Optimismus der deutschen Bourgeoisie in der Gründerzeit neben einer politischen und wirtschaftlichen eine solche.685 Entsprechend propagierten die Literaturgeschichten: wie etwa die Robert Königs, dass die Poesie wieder „frische Wurzeln“ schlägt und „aus dem alten Stamm neues Leben sproß[t]“686. Desgleichen wünschte auch Carl Weitbrecht, dass mit der „neue[n] Form […], in der die Nation, geschlossen und einig, wieder Bestand und Bedeutung gewinnen konnte, […] ein neuer Lebensinhalt errungen [würde], aus dem eine Zukunft sich entwickeln läßt“687. Die meisten der trivialen Literaturgeschichten weisen eine derart „konservativ-nationalistische tendenziöse Einfärbung“688 auf, dass sie geradezu als „Apologie des Bismarckreiches“689 gelesen werden können. In diesem Zusammen-
679 Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte, 136. 680 Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 470. 681 Die Hygiene-Metaphorik, die nach 1849 mit Vorliebe von den bürgerlichen Ideologen verwendet wurde, erhielt einen neuen Aufschwung in den Literaturgeschichten, um gegenläufige Tendenzen als „krank“ etc. zu kennzeichnen (vgl. Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte, 136; hierzu ebenfalls Gerhard/Link: Zum Anteil der Kollektivsymbolik, 29f.). 682 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, XII. 683 Ebd., XI. 684 Ebd., VII. 685 Vgl. Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte ,136. 686 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 647. – vgl. hierzu auch Fritsch-Rößler: Bibliographie, 180. 687 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 5f. 688 Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte, 134. 689 Ebd.
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hang nimmt es auch nicht Wunder, dass hier auf die älteren, in gewisser Weise vorprägenden Literaturgeschichten zurückgegriffen wird. Sie entnahmen ihnen sogar sämtliches Material,690 wobei nur in den wenigsten Fällen wirklich darauf verwiesen wurde. So etwa bei Edmund Hoefer, der das „Koberstein’sche Werk“ als das angibt, das ihm, wie er schreibt: „bei dem größten Theil meiner Arbeit ein sicherer und kaum jemals vergeblich in Anspruch genommener Führer gewesen [ist]“691. Viele dieser Rückgriffe reichen sogar hin bis zum ‚Plagiat‘. So kommentiert etwa Waltraud Fritsch-Rößler in ihrer Bibliographie der deutschen Literaturgeschichten, dass man insbesondere auf die Vilmarsche Literaturgeschichte rekurrierte und hieraus teils passagenweise ohne Quellenausweis abschrieb.692 Daneben bleiben nahezu alle der populären Literaturgeschichten diesen Vorbildern auch in der Geschichtskonzeption verhaftet, so dass sich das, was wir bereits im Zusammenhang mit dem nationalen Identitätsprogramm angeführt haben, hier alles noch einmal wiederfindet. Sei es die bereits von Gervinus bekannte Verknüpfung von literarischer und politischer Geschichte, die explizit von Carl Weitbrecht in seinem Vorwort mit den Worten formuliert wird, die Literatur in ihrer Entwicklung sei der „oft nur verhüllte Ausdruck für die nationale Entwicklung“693 gewesen, und vielleicht am deutlichsten von Max Koch und Friedrich Vogt vorgenommen wird.694 Sei es der Zeitgeistgedanke, der von der Vorstellung der nationalen Entelechie unterlaufen wird wie bei Hans Röhl695 oder noch stärker bei Ludwig Salomon, dessen Geschichte der deutschen Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts mit den Worten beginnt: Das neunzehnte Jahrhundert ist vorwiegend ein politisches; auf die Gründung eines neuen deutschen Einheitsstaates und die Herausbildung eines freien bürgerlichen Staatslebens koncentrieren sich die Hauptgedanken des Säkulums, und darum sind die deutschen Dichtungen des neunzehnten Jahrhunderts vorwiegend politische: sie sind die Spiegelbilder der politischen Stimmungen in den verschiedenen Entwicklungsperioden, die Herzensäußerungen bei unseren nationalen Bestrebungen, die Heroldsrufe zu neuen politischen Thaten, und die Dichter mithin die vornehmsten Erwecker und Pfleger des nationalen Gedankens.
690 Ebd., 135. – Zudem kompilierten viele Literaturgeschichten ihr Material oft aus vorhergehender Sekundärliteratur (vgl. ebd.,138). 691 Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, VIII; hierzu auch Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 194. 692 Vgl. Fritsch-Rößler: Bibliographie, 52. 693 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 7. 694 Vgl. hierzu ausführlicher: Fritsch-Rößler: Bibliographie, 248f. sowie ebd, 269. 695 Vgl. Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, V.
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Infolgedessen unternahm es der Verfasser, die einzelnen Litteraturperioden immer aus dem Geiste der Zeit herauszuklären; es war ihm [..] in erster Linie darum zu thun […] nachzuweisen, wie […] sämtliche bedeutendere Dichtung die Hauptaufgabe hatte, die Tendenz des Jahrhunderts zu fördern.696
Oder sei es die Korrelation von Schönheit und Sittlichkeit, die von Otto von Leixner in der „Überzeugung, daß die höchsten Schöpfungen unserer Litteratur den Einklang von Schönheit und höchster, edelster Sittlichkeit zeigen“, ausgesprochen und zugleich zur Rechtfertigung seiner Darstellung erhoben wird: Wer die Litteratur im Zusammenhange mit dem nationalen Leben darstellt, kann sich von diesem Standpunkte nicht entfernen, falls er volkstümlich bleiben will. Doppelt notwendig ist in unsrer Zeit, wo die sittlichen Begriffe so sehr wankend geworden sind, daß man den ethischen Gehalt nicht der Schönheit der äußeren Form nachsetze, sondern in der Vereinigung beider das höchste Wesen dichterischer Schöpfungen erkenne. Besonders dem jungen noch aufstrebenden Geschlecht muß diese Wahrheit tief in die Seele gesenkt werden, damit es in der Hochhaltung der Ideale aufwachse, deren höchstes neben der Schönheit und dem Vaterlande doch die Sittlichkeit ist.697
Bezeichnend ist auch die Übernahme der Klassik als Blütezeit und Vorstufe zur nationalen Einigung auf dem deutschen Bildungsweg – wie etwa bei Paul Heinze698 oder Eduard Engel, der schreibt: Heute mehr als je empfindet die deutsche Menschheit, daß Goethes und Schillers gemeinsames wie getrenntes Lebenswerk das Höchste bedeutet, was ihr bis zur Erringung eines geeinigten Vaterlandes in einer mehrtausendjährigen Geschichte zu Teil geworden. Die Bedeutung dessen, was wir kurz die klassische Zeit deutscher Literatur nennen, geht über alles hinaus, was andere lebende Völker von ähnlichen Blütezeiten rühmen. Goethe und Schiller, denen wir in diesem Sinne Lessing, Herder und Winckelmann beigesellen, sind weit mehr als eine Reihe einzelner großer Schriftsteller; sie sind die Erzieher des deutschen Stammes zu reifster sittlicher und geistiger Bildung geworden.699
696 Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, VII. 697 Leixner: Geschichte der deutschen Litteratur, VI. 698 Vgl. expliziter noch als in der 2. Auflage in dem von ihm allein verfassten Vorwort (vgl. Fritsch-Rößler: Bibliographie, 236) der von Rudolf Goete und ihm geschriebenen Erstauflage: vgl. Heinze/Goette: Geschichte der deutschen Litteratur, 1. 699 Eduard Engel: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart. Leipzig/Wien 1907, II, 626; zitiert bei: Sauter: Eduard Engel, 52. – Eduard Engel macht in
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Für nahezu alle Literaturgeschichten gilt folglich, was Jürgen Fohrmann schreibt: Es liegt bei ihnen „eine faktisch und auch programmatisch eingestandene Wiederholungsarbeit vor, die die Ergebnisse, die […] erarbeitet wurden, auswählt, repetiert, veranschaulicht, kurzum: sie für die ‚Gebildeten‘ aufarbeitet. Nur dies ist ihre eigenständige Leistung.“700 Begründet liegt dies natürlich auch darin, dass diese Literaturgeschichten keine eigene Forschungsarbeit leisteten.701 Sie beziehen sich lediglich darauf, wie etwa Robert König, der hoffte, durch „treue Benutzung der Forschung unserer hervorragenden Germanisten und Litterarhistoriker dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft gerecht geworden zu sein“702. Das gilt selbst für diejenigen Verfasser, die aus den akademischen Kreisen stammen wie Koch, Weitbrecht, Salzer, sich aber an ein breites Publikum richten, wie sich allein schon an den populärwissenschaftlichen Reihen zeigt, in denen sie veröffentlichen.703 Auch ihre Literaturgeschichten basieren lediglich auf den bereits „gesicherten Ergebnissen der germanistischen und allgemeinen litterargeschichtlichen Forschung“704, die sie für den „Gebildeten“705 wie es heißt „durchaus allgemeinverständlich“706 darstellen707, und haben keinerlei Bezug zu den literaturwissenschaftlichen Methodenfragen ihrer Zeit.708 Lediglich die Tendenz zur größeren Raum einnehmenden Biographisierung schlägt sich auch hier nieder – am stärksten vielleicht bei Friedrich Kirchner,709 der, möglichweise auch nur ein Zufall, in Berlin lebte und lehrte.710 Interessanterweise griffen einige dieser Literarhistoriker auch offen auf die Literaturzeitschriften zurück wie etwa Salzer, der sich darin „über die Neuerscheinungen“ unterrichten ließ.711 Dass hier keine Forschung geleistet wurde, liegt aber auch daran, dass die Intention dieser Bildungsbewegung eine andere war und somit auch eine andere Sti-
diesem Zusammenhang auch noch einmal den Aemulatio- und Weltliteraturgedanken sehr stark; vgl. Engel: Geschichte der deutschen Literatur, 12. 700 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 207. 701 Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte ,135. 702 König: Deutsche Litteraturgeschichte, o.S. [Vorwort]. 703 Vgl. hierzu Fritsch-Rößler: Bibliographie, 248. 704 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, V. 705 Ebd., IV. 706 Ebd., V. 707 Vgl. auch: Fritsch-Rößler: Bibliographie, 270. 708 Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte ,135. 709 Vgl. Fritsch-Rößler: Bibliographie, 255. 710 Vgl. Schumann: Bibliographie, 248. 711 Salzer: Illustrierte Geschichte, XII.
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listik erforderte: eine Stilistik der Mittelstellung zwischen – wie es etwa bei Hoefer heißt: „dem bekannten und beliebten [Werk] Vilmars, und den nicht allzu trockenen und dürftigen, besseren Leitfäden“712. Das „Gebot der Stunde“ hieß in erster Linie „Anschaulichkeit“.713 Die Programmatik lebt, wie Fohrmann ausführt: von der Differenz zwischen der abstrakten und trockenen Rede von Gelehrtentum oder Schule, von denen man gleichwohl gelernt hat […] und den „lebendigen, blutvollen“ Erscheinungen des tatsächlichen Lebens. Diese „lebendigen“ Erscheinungen sind in der Sprache einzufangen, und wo sie nicht vorhanden sind, da müssen sie suggestiv erzeugt werden.714
Dieses ‚suggestive Erzeugen‘, das man auch im Zusammenhang mit dem an früherer Stelle erwähnten Wunsch einer Herstellung von Unmittelbarkeit sehen könnte (s.o.), wird in mehrfacher Weise übernommen. Es geschieht zum einen durch eine deutlich narrative Prägung des Textes.715 So versucht etwa Bartels die „übersichtliche Behandlung des gewaltigen Stoffes mit leichter Lesbarkeit“ zu vereinen.716 Was teilweise zu Ergebnissen führt, die dem „historischen Roman“717 verwandt zu sein scheinen. Zum anderen werden die populären Literaturgeschichten deutlich durch „ausgewählte anthologische Partien“718 geprägt, in denen die „Schriftsteller selbst zu Worte kommen“719. Passagenweise wird hier aus den Werken zitiert, um so eine „lebendige Anschauung“720 zu erreichen und „aus der Vergangenheit das Leben zu erwecken“721. Dabei wird (besonders für uns von Belang) auf „diejenigen Werke verzichtet, in denen kein Leben mehr ist,
712 Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, VI.; zitiert auch bei: Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 193f. 713 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 193. 714 Ebd., 194. 715 Vgl. ebd., 189. 716 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, V. 717 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 203. 718 Ebd., 194. – Natürlich ist auch diese Selektion neben der des Werkes an sich ein Kanonisierungsprozess, der parallel zu setzen ist mit den gleichzeitig herausgegebenen Anthologien und den Zitatenschätzen und Aphorismensammlungen. 719 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, V. 720 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, V. 721 Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, V.
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weil meist überhaupt keines in ihnen war“722 und nur die „Musterstücke“723 vorgeführt. Die Literatur, so Engel, soll „selbst ihre Geschichte erzählen“, zumal „[d]ie längste Auseinandersetzung über Grabbes, Hebbels, Storms, Meyers, Kellers, Dehmels, Georges Dichterart [..] nicht gleich der Überzeugungskraft einer einzigen kurzen Dichtungsprobe [kommt]“, da man „Farben nicht durch Worte schildern [kann]“, sondern „dem Auge zeigen [muss]“724. Durch „kurze Zitate und ausführlichere Proben“ soll also ein „lebendiges und anschauliches Bild von der Entwicklung der ganzen deutschen Dichtung“725 vorgeführt werden. Dies heißt nichts anderes, als dass der Eindruck vermittelt werden soll, die Literatur spreche selbst und der Leser könne sich in der Literaturgeschichte selbst in das „kulturelle Kapital“ vertiefen, damit es zu ihm spreche.726 Natürlich soll durch ein solches „Lesebuch“727, als das z.B. Pott seine Literaturgeschichte auch bezeichnet, der poetische Geschmack geweckt und ausgebildet werden.728 Darüber hinaus gibt es die für diese Literaturgeschichten typischen „lange[n], heroisch und empfindsam aufbereitete[n] Inhaltsnacherzählungen“729, die, so beispielsweise Krüger, „den Einblick in die Gedankenwelt und Vorstellungsweise der berühmten Dichter [..] erleichtern“730. Neben der „Anregung“ sollen die „exzessiven Inhaltsangaben“731 und die zitierten Auszüge zugleich auch „Wegeweisung [sic!] für den Leser zum eigenen Genuß der Literaturwerke“732 sein, was im gewissen Sinne natürlich nichts anderes bedeutet, als dass hier bereits die Rezeption gesteuert wird hin zu einer kanonisierten Lesart,733 wenn sich nicht sogar durch diese Präsentation der „ganze[n] Wahrheit“ 734 die Lektüre erübrigt.
722 Ebd., V. 723 Krüger: Geschichte der deutschen Literatur, III. 724 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 8. 725 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, o.S. [Vorwort]. 726 Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 208. 727 Pott: Geschichte der Deutschen Literatur, 5. 728 Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 201. 729 Ebd., 194. 730 Krüger: Geschichte der deutschen Literatur, III. 731 So Fritsch-Rößler in Bezug auf die Literaturgeschichte Leixners (vgl. Fritsch-Rößler: Bibliographie, 187). 732 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 8. 733 Und dabei dürfte es sogar gleichgültig sein, ob die Lektüre vor oder nach der der Literaturgeschichte stand. 734 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 188.
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Im Zusammenhang mit der Anschaulichkeit muss auch die in der Regel vorgenommene „Verdichtung zu Prinzipien“735 gesehen werden. Die Autoren werden noch ganz im o.g. Sinne als Zeitgeistrepräsentationen und -manifestationen (wie etwa bei Kirchner und Heinze)736 bzw. in der Geschichte der sittlichen Mächte der deutschen Nation als „ideale Stellvertreterschaft für [bestimmte; C.G.] Ideen oder Ideale“ (wie etwa bei Engel und Bartels)737 gefasst und gedacht,738 weshalb die „Individualität“ bzw. die „Charaktere“ der Autoren als „Verkörperung von Tendenzen“ – oft wiederum auch durch Kanon und Negativkanon – dargestellt wird,739 ebenso wie schließlich auch die Epochen totalisiert werden.740 Auch hier entsteht in einigen Fällen der Eindruck einer ‚Revue‘,741 was teilweise sogar auch hier soweit führt, dass einige Literaturgeschichten in „reine Biographien-Sammlungen“ einmünden, in denen aber nicht die äußere Biographie im Vordergrund steht, sondern die Charaktere der Autoren (teilweise auch „Werk-Erzählungen“742) im Sinne ethisch-nationaler Konkretisierungen betrachtet werden743. Es kommt dabei zwangsweise zu Verkürzungen, die aber der Nachfrage nach „Aptum; Repräsentation und leichte[r] Information“, also dem jeweils Passenden, das zugleich ausstellbar und ohne Mühe anzueignen ist,744 geschuldet sind. Die wachsende Nachfrage genau danach ist der Grund, warum in einigen Fällen die Verlebendigung durch Narration, die im Übrigen als eines der wenigen Merkmale von der populären Literaturgeschichtsschreibung auf die wissenschaftliche rückfärbte,745 manchmal wieder zur Aufzählung und damit zur
735 Ebd., 192. 736 Vgl. Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, o.S. [Vorwort] sowie Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, V. 737 Vgl. Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 9 sowie Bartels: Geschichte der deutschen Literatur, V. 738 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte 192f. hierzu auch: 196. 739 So etwa bei Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, V. 740 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte 193. – Hier nimmt sich übrigens ein Verfahren vorweg, dass die Geistesgeschichte – wie Fohrmann schreibt – schließlich auf die Spitze getrieben hat. 741 Vgl. ebd., 198. 742 Vgl. ebd., 204. 743 Vgl. hierzu auch ebd., 201. 744 Vgl. ebd., 188. 745 Deutlich erkennbar schon an der Schererschen Literaturgeschichtsschreibung, die eine fortlaufende Erzählung ohne Fußnoten und gelehrte Einschübe nach dem Vorbild der
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Auflösung der erzählerischen Stringenz verloren zu gehen droht.746 Die der ethischen Formierung dienende „Rückführung von Geschichte auf Geschichten“747, bei der die „anschauliche Totale“748 transparent wird, bleibt hierbei nur in Ansätzen erhalten. Der bürgerliche Kommunikationsprozess verselbstständigt sich, indem diese Literaturgeschichten immer mehr zu einer die „‘gebildete[]‘ Konversationskultur“ befriedigenden thesaurierten Quelle werden, bei der nicht mehr die „Entfaltung der deutschen Literaturgeschichte“ im Vordergrund steht, sondern die „mundgerechte Präsentation jener Bezugspunkte der Unterhaltung, als die die Autoren und Texte nur noch dienen“749. In dieser temporären Reproduktion zeigt sich m.E., dass der Ausdifferenzierungsprozess des gesellschaftlichen Subsystems schon weitgehend vorangeschritten bzw. vereinzelt sogar abgeschlossen ist. Sowohl die Literaturgeschichte als auch deren Rezipient – so wird hier deutlich – avancieren nämlich zu etwas Vergleichbarem wie den sogenannten „Trivialmaschinen“,750 die Luhmann im Anschluss an Heinz von Forster in den posthum veröffentlichten Schriften zum Erziehungssystem in der Schule ausmachte. Er definiert ohne jede Abwertung Trivialmaschinen als solche, „die auf einen bestimmten Input […] einen bestimmten Output produzieren“751. Danach kann die Maschine durch geeignete Progammierungen zu „hoher Komplexität ihrer möglichen Inputs und Outputs gebracht werden“, so dass der Schüler durch diese mögliche „Steigerung der Komplexität“ sich „mit Möglichkeiten der Reaktion auf Fragen oder, allgemeiner, auf die Anforderungen praktischer Situationen“752 versorgen kann bzw. versorgt wird. Auch der bürgerliche Rezipient der Literaturgeschichten wird durch sie, die als populäre Literaturgeschichten selbst analog zu Trivialmaschinen auf bestimmte Inputs unter Ausklammerung interner Informationsschleifen immer denselben Output produzieren, für die ‚ge-
populären Literaturgeschichten bot (vgl. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 458f.). 746 Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 195. 747 Ebd., 202. 748 Ebd., 203. 749 Ebd. 750 Vgl. hierzu grundsätzlich: Krause: s.v. „Trivialmaschine“. In: Ders.: Luhmannlexikon, 224. 751 Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. v. Dieter Lenzen. Frankfurt a. M. 2002, 77. 752 Ebd., 78.
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bildete Konversationskultur‘ mit „kanonisierten“ Outputs präpariert, die ihrerseits durch die Konversation gefestigt werden.753 Die erwähnte Anschaulichkeit der Literaturgeschichten wird aber auch noch in ganz anderem, fast wörtlichen Sinne erfahrbar. Die Literaturgeschichten werden nämlich „immer häufiger auch buchkünstlerisch repräsentativ ausgestattet und reichhaltig illustriert“754, was bei einigen sogar zu einem Titel wie „Illustrierte Literaturgeschichte“ führt.755 Die Veranschaulichung der Autoren, die bereits durch Bild, Schrift und Werk vorgestellt werden, führt dort also „mit Konsequenz zur äußeren und inneren Ornamentalisierung der Literaturgeschichte“756, an der insbesondere die Literaturgeschichte Robert Königs maßgeblichen Anteil hat.757 Im Rahmen der Massenproduktion hergestellte prachtvolle, (gold-) geprägte und teilweise kunstvoll gestaltete Einbände, Schnittverzierungen und monumental ausgestaltete Frontispiz-Seiten758 prägen fortan das äußere Erscheinungsbild. Besonders markant ist beispielsweise die äußere Gestaltung der Deutschen Litteraturgeschichte Karl Storcks, deren zweite Auflage deutlich durch ein „nationales Bildprogramm“759 geprägt ist. Fritsch-Rößler beschreibt: Der Buchrücken mit ‚neutraler‘ Jugendstil-Vignette, der vordere Einband zeigt einen alten, mächtig-knorrigen Baum (deutsche Eiche! Mit vertieft geprägten, goldausgelegten Eicheln), ein daran angelehnter Schild (also implicite die Assoziation „Kampf“) trägt das Wappen des Deutschen Reiches.760
753 Selbstverständlich hat er zudem aufgrund dieser enkulturellen Präparation (wie der Literarhistoriker selbst auch) als „nichttriviale Maschine“ die Möglichkeit, die ihm als nichttriviales System in Situationen, in denen er der Trivialisierung ausgesetzt ist, ohnehin gegeben ist (vgl. hierzu Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, 79) über die „Reflexionsschleife“ analoge Outputs zu den vorhandenen zu produzieren, die den in bestimmte Bahnen lenkenden Kanonisierungsprozess wiederum in die eingeschlagene Bahn weiterlenken. 754 Rosenberg: Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte, 137. 755 Beispielsweise bei Leixner. Sein Fall ist besonders interessant, weil hier ein echtes „TitelTohuwabohu“ herrscht (vgl. ausführlich hierzu: Fritsch-Rößler: Bibliographie, 186). 756 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 203. 757 Vgl. ausführlich hierzu: Fritsch-Rößler: Bibliographie, 180. 758 Vgl. hierzu etwa die ausführliche Analyse Fohrmanns: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 204ff. 759 Fritsch-Rößler: Bibliographie, 276. 760 Ebd.
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Das Bildprogramm folgt hier also ganz dem vertretenen Bildungsprogramm.761 Auch im Inneren gehen Text und Bebilderungen eine neue Synthese ein.762 Zum einen findet man hier charakteristische Porträts und Physiognomien763, denen Vogt und Koch etwa „wissenschaftlichen Lehrwert“764 zusprechen, als „Hilfsmittel geschichtlicher Darstellung, und nicht bloß als ‚äußerlich dekoratives Beiwerk‘“765. Hierzu schreiben sie außerdem: Wenn mit Goethe „die Gestalt des Menschen der beste Text zu allem ist, was sich über ihn empfinden und sagen lässt“, dann werden die Dichterbildnisse sicherlich eine willkommene Ergänzung des charakterisierenden Wortes durch sinnliche Anschauung. […] So mögen nun Wort und Bild im Verein dem Leser das mehr als tausendjährige Werden und Wachsen jenes nationalen Schatzes vor Augen führen.766
Zum andern enthalten sie zeitgenössische, eher der gleichen Einbildungskraft wie der des Historiographen entsprungene als realistische Illustrationen767 wie etwa die „phantasierenden Stiche“ Ludwig Bürgers in der Erstausgabe von Leixners Literaturgeschichte,768 aber auch seriöseres „Illustrationsmaterial“769 wie
761 Das geht sogar soweit, dass die 9. Auflage, die kurz nach Beendigung des ersten Weltkriegs erschien, letztlich diesem Bildungsprogramm wieder ganz entspricht, weil seine Gestaltung „eine von Alltagssorgen und existentiellen Kriegesnöten ablenkende Ästhetisierung dessen, was dem deutschen Volk übrigbleibt – des nationalen Schatzes Literatur [stützt]“ (Fritsch-Rößler: Bibliographie, 276). 762 Vgl. auch Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 203. 763 Vgl. ebd., 202f. – Dass die abgebildeten Porträts letztlich eine ganz eigene Form der Kanonisierung des Autors darstellen, kann hier nur angedeutet werden. Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, die sich von einer Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts herschriebe, wie sie etwa Peter von Matt vorgelegt hat in seinem Buch: …fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. München 1983, wo er jedoch nur auf literarische Linien dieses Themas eingeht und nicht auf die Autoren selbst, deren Bilder und Porträts natürlich in diesen Diskurs einzubetten wären. 764 Fritsch-Rößler: Bibliographie, 270. 765 Ebd. 766 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, VI. 767 Vgl. auch Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 203. 768 Fritsch-Rößler: Bibliographie, 187. 769 Arnold: Illustrierte deutsche Literaturgeschichte, o.S. [Vorwort].
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aus dem häufiger verwendeten Bilderatlas Gustav Könneckes.770 Auch faksimilierte Autographen (Handschriftenproben)771 werden beigefügt,772 die ebenfalls, wie Salzer schreibt, nicht bloß dem Augenreiz dienen [sollen], sondern auch den Text ergänzen, die Form der Überlieferung der Schriftwerke wie den Wandel von Schrift und Druck zeigen, dem Leser die Möglichkeit bieten, sich selbst in der Entzifferung von Handschriften zu üben, und seine Aufmerksamkeit auf alte Schriften, wie sie ihm etwa in die Hände geraten, lenken, [wozu] die den Handschriftenproben beigefügten Übertragungen eine Handhabe [bieten].773
Sie sollen folglich zugleich zu „paläographischen und sprachlichen Studien anregen“774. Auch Abbildungen der Dichterhäuser775 und teilweise Reproduktionen von Titelblattabdrucken776 zieren die Seiten und sollen „reichlich Aufschluss“777 geben: Sie führen das Gesagte im wahrsten Sinne des Wortes noch einmal vor Augen und zu einem „‘hautnahen‘ Kontakt zwischen Leser und Literatur“ 778. Die „Auswahl der Beilagen“, so wird geschrieben, geschehe nicht „planlos“, sondern erstrecke sich „auf das für den Zeitraum Charakteristische“779 und entspricht damit der Kanonauswahl auf bildlicher Ebene, ja unterstreicht diese sogar – ähnlich wie die ebenfalls zu findenden Zeittafeln,780 die noch einmal eine Auswahl innerhalb der Geschichtsdarstellung vornehmen.
770 Gustav Koennecke: Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationallitteratur. Eine Ergänzung zu jeder deutschen Literaturgeschichte. Marburg 1887. – In unseren Fällen z.B. verwendet von Arnold (vgl. Arnold: Illustrierte deutsche Literaturgeschichte, o.S. [Vorwort]) und Leixner (vgl. Fritsch-Rößler: Bibliographie187). Zu Koennecke und der Stellung in seiner Zeit vgl. Gerhard Menk: Marburger Archivar und Kunsthistoriker. Der Grimmelshausen-Biograph Gustav Könnecke. In: Simpliciana 25 (2003), 255-267. 771 Teilweise werden sie wie in der Literaturgeschichte Engels extra auf Anfrage für die Literaturgeschichte verfertigt. 772 Vgl. auch Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 202f. 773 Salzer: Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur, XI. 774 Ebd. 775 Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 203 776 Vgl. ebd., 208. 777 Salzer: Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur, XI. 778 Sauter: Eduard Engel, 52. 779 Salzer: Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur, XI. 780 Etwa in der Literaturgeschichte Krügers: Geschichte der deutschen Literatur, III.
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Es sei an dieser Stelle noch vermerkt, dass insgesamt die Literaturgeschichten aufgrund dieser Art der Anschaulichkeit ihrerseits immer mehr auch zu einem „Gegenstand der Verehrung“781 werden. In dem Maße, wie dies geschieht und sich die Literaturgeschichten auch aufgrund ihrer optischen und haptischen Ausstattung immer mehr den prachtvollen Bibelausgaben angleichen, denen sie – so z.B. der Wunsch Königs – „als Erbbuch […] im Bücherschrank des deutschen Hauses neben der Hausbibel und der Familien-Chronik“782 beigestellt werden, in diesem Maße wird m.E. (ebenso wie bei der Bibel selbst) der Grad des Ausdifferenzierungprozesses sowie der damit in Korrelation stehende Kanonisierungsprozess deutlich: der Gebrauchsgegenstand wird zugleich zum repräsentativen Statussymbol. Neben den populären Literaturgeschichten etablieren sich natürlich auch mehr und mehr die zum erzieherischen Zweck aufgearbeiteten Literaturgeschichten für den Schulgebrauch. Deren Autoren sahen ihre Aufgabe in der „Geschmacksbildung“, der „sittlichen Erziehung“ und der „patriotischen Einführung“783. Für uns sind sie jedoch kaum von Interesse, zum einen, da es auch hier nicht mehr die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch vorhandene „Personalunion zwischen Forscher und Schulmann“784 (wie etwa Karl August Koberstein) gab. Sie verlor sich spätestens in den 1850er Jahren, weshalb diese Literaturgeschichten ebenfalls keine eigenen Forschungsergebnisse mehr präsentierten785. Zum anderen übernahm zwar auch hier die Mehrzahl der Schulliteraturgeschichten meist in „didaktischer Verknappung“786 aus den großen Literaturgeschichten, war also vollkommen „von den Ergebnissen ihrer reichhaltigeren, als ‚wissenschaftlich‘ erscheinenden Vorgänger“787 abhängig, aus deren selektierten Ergebnissen sie nochmals (vor allem in Bezug auf auswendig zu lernende Stichworte und Daten, als deren Ansammlung sie sich fortan präsentieren)788 auszuwählen genötigt war.789 Ab den 1870er (und das betrifft schließlich unseren Zeitraum) veränderte sich aber auch diese „Selektionsreferenz“790 noch einmal. Der päda-
781 Sauter: Eduard Engel, 52. 782 König: Deutsche Litteraturgeschichte, o.S. [Vorwort]. 783 (vgl.) Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 247. 784 Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 603. 785 Vgl. ebd., 248. 786 Ebd., 250. 787 Ebd., 252. 788 Vgl. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 603. 789 Vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 252. 790 Ebd.
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gogische Diskurs selbstreferenzialisierte sich, indem sich die ab diesem Zeitpunkt erscheinenden Schulliteraturgeschichten nicht mehr in erster Linie auf die Literaturgeschichten des wissenschaftlichen und öffentlichen Bereichs bezogen,791 sondern weitgehend auf frühere Schulliteraturgeschichten zurückgriffen.792 Diese Schulliteraturgeschichten bieten also letztlich nichts Neues für uns, sondern können lediglich dazu dienen, unsere Ergebnisse noch einmal in ihrer Verknappung zu verifizieren. Die „Sammlung Göschen“ etwa, die sich neben einem breiten Publikum besonders auch an Schüler richtete, druckte auf ihrem Einband den „Erlass der Kultusministerial-Abteilung für Gelehrte- u. Realschulen“793, dem sie entsprechen wollte. Hier erschienen die Literaturgeschichten Weitbrechts, Kochs und Schultz’. Sie richteten sich explizit an „Schule und Haus“794. Die Literaturgeschichten Kummers, Krügers, Potts, Schillings, Röhls und Salzers795 entstanden „auf dem Wege der Schule“796. Ihre Inhalte wurden in Bezug auf ihre „Verständlichkeit […] im Verkehre mit den Schülern erprobt“797 und deckten den Lehrinhalt in sinnvollem Rahmen ab.
791 Vgl. ebd. 792 Vgl. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, 603. – Diese Ergebnisse Fohrmanns sind für uns insofern wiederum von Bedeutung, als der Schulkanon sich tatsächlich von den von uns untersuchten Literaturgeschichten herschreibt und sich für die Kanoninstanz Schule (der wohl trägsten aller Instanzen) langfristig petrifiziert. 793 Vgl. etwa Koch: Geschichte der deutschen Litteratur, [Einband]. 794 Schultz: Geschichte der Deutschen Literatur, IV. 795 Zu Salzer vgl.: Benedikt Wagner: s.v. Salzer, Anselm. In: König (Hg): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 3, 1554-1556. 796 Salzer: Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur, XIII. 797 Ebd.
4. Zur Kanonisierung in den Literaturgeschichten
Fassen wir hier noch einmal zusammen: Wir haben uns anhand einer Auswahl an Literaturgeschichten ausführlich mit den verschiedenen literarhistorischen Konzepten beschäftigt, innerhalb derer (in dem von uns betrachteten Zeitraum und darüber hinaus) Kanonisierung vorgenommen werden sollte. Hierzu haben wir die großen Linien, aber auch einzelne Profile herausgearbeitet, die für den (zuvor von uns definierten) Kanon bestimmend waren. Nun wollen wir uns der exemplarischen Analyse der Kanonisierung der beiden Autoren Heyse und Raabe zuwenden, um hieraus Rückschlüsse für die Mechanismen literarischer Kanonisierungsprozesse zu ziehen. Um es noch einmal größer und abstrakter zu fassen und unter Anknüpfung an unsere systemtheoretischen Überlegungen zu formulieren: Nach der Befassung mit dem Trägersystem und der „Bedeutung des Wissens“1, soll nun die „Verarbeitung bedeutungshaltigen Wissens“2 im Mittelpunkt stehen, insbesondere auch die daraus hervorgehenden bewertenden Prozesse. Wir werden versuchen, über die externen Speicher (in unserem Fall die Literaturgeschichten) Einblick zu nehmen, und ausgehend von der ‚Aufbewahrung‘ Rückschlüsse auf ‚Enkodierung‘ und ‚Dekodierung‘ ziehen.3
1
Mario von Cranach: Über das Wissen sozialer Systeme. In: Uwe Flick (Hg.): Psychologie des Sozialen. Repräsentationen in Wissen und Sprache. Reinbeck bei Hamburg 1995, 2253, 25. „Bedeutung“ meint hier den Bezug zu den Strukturen, Funktionen und Prozessen, die für die Existenz der Betroffenen wesentlich sind (vgl. ebd, 24).
2
Ebd., 26.
3
Zur Terminologie vgl. die Überlegungen Cranachs: ebd., 25f.
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Im Blickpunkt unserer Betrachtungen stehen daher jetzt die Aussagen über die Autoren und ihre Werke in den Literaturgeschichten, wobei uns natürlich auch interessiert, welche Wertung4 diesen Aussagen innewohnt.5 Hierzu wurden alle Passagen in den Literaturgeschichten, in denen Wilhelm Raabe und Paul Heyse genannt werden, berücksichtigt und einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Schon auf den ersten Blick ist man überrascht. Scheint es doch, als lese man teilweise eingekleidet in verschiedene Worte, teilweise aber auch ganz ähnlich in den Formulierungen bzw. wortgleich immer die gleichen Aussagen über die Autoren und ihre Werke. Das gilt nicht nur für die populären Literaturgeschichten, wo es – wie dargestellt – nicht anders zu erwarten war (s.o.), oder für die ‚gelehrten‘ Literaturgeschichten, bei denen wir darauf hinwiesen, dass sie den bereits etablierten Kanon für sich übernahmen. Es zeigt sich interessanterweise auch für alle untersuchten Literaturgeschichten, egal aus welcher Richtung sie stammen und aus welcher literarhistorischen Schule sie kommen. Selbst in den Literaturgeschichten, bei denen die Verfasser (bzw. Herausgeber) explizit betonen, dass sie (bzw. die Verfasser) ihr „Urteil unabhängig von anderen gebildet“6 hätten, finden sich die gleichen topoihaften Aussagen über die Autoren und ihr Werk. Unabhängig also von den so unterschiedlichen Kanonkonzepten werden die Autoren auf die gleiche Weise kanonisiert. Die konkrete Kanonisierung des
4
Unter Wertung fasse ich (in der inzwischen gängigen auf den Ausführungen Najders beruhenden Definition) alle Zuschreibungen attributiver Werte des/der jeweiligen Literarhistoriker(s) (Bewertungssubjekt) auf, die innerhalb der Literaturgeschichte sowohl aufgrund allgemein literarischer axiologischer Werte als auch aufgrund der spezifischen Wertmaßstäbe literahistorischer Prägung (die jeweilige literarhistorische Perspektive und Programmatik eingeschlossen) vollzogen werden (vgl. Heydebrand/Winko: Einführung, 39ff.; Friederike Worthmann: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden 2004, 57ff.).
5
Siehe hierzu auch Kapitel 4.3.4.
6
Leixner: Geschichte der deutschen Litteratur, V. – Die Betonung dieser Arbeitsweise in den Literaturgeschichten ist fast topisch. Vgl. so auch Adolf Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, VII (desgleichen in den Vorworten seiner Überarbeitungen der Vilmarschen Literaturgeschichten: Geschichte der Deutschen National-Literatur, X); vgl. auch Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, X; Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 9; Salzer: Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur, XII; Georg Gellert im Vorwort zu Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 5f. (die in diesem Zusammenhang vorgenommene Betonung des „objektiven Urteils fern von Cliquen und Klüngeln“ (ebd.) wird gerade für die Literaturgeschichte Bleibtreus unglaubwürdig) u.a.
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einzelnen Autors zeigt sich also weitgehend unbeeindruckt von den großen theoretischen Konzepten. Aber sehen wir uns dies im Einzelnen an, bevor wir unsere Schlüsse ziehen.
4.1 P AUL H EYSE Wenden wir uns zunächst Paul Heyse zu. Hier zeigt sich in den Literaturgeschichten (neben den teilweise auftauchenden, immer die gleichen Stationen umfassenden biographischen Angaben7) ein Inventar von insgesamt zehn (kanonisierten) Topoi in unterschiedlichen Variationen, Kombinationen und Ausweitungen, aus denen sich die auf Heyse beziehenden Abschnitte zusammensetzen.8 Diese sind: 1. 2. 3. 4. 5.
die Fruchtbarkeit des Schaffens, die Formkunst, die Sprachbeherrschung, das in den Werken fehlende Leben bzw. die fehlende Frische, die (verstandesmäßige) Künstlichkeit und die reine Schönheitszuwendung bzw. der ästhetische Idealismus, 6. ein deutlich aristokratischer Zug, 7. antireligiöse und amoralische Tendenzen, 8. erotische Liebe als Thema seines Schreibens, 9. das Absprechen eines Sinns für Dramatik, 10. die novellistische Begabung. Sehen wir uns dies im Einzelnen an und achten wir dabei schon auf die Formelhaftigkeit der Aussagen und ihre quantitative Einstufung:
7
Vgl. insbes. König: Deutsche Litteraturgeschichte, 422; Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 509, Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 213; Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 373; Krüger: Geschichte der deutschen Literatur, 270; Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 533; Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 203; Schilling: Deutsche Literatur, 167; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1896; Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 224.
8
Selbstverständlich gibt es hier und da noch andere Aussagen. Dabei handelt es sich jedoch meist um singuläre Erscheinungen, die uns unter dem Gesichtspunkt der Kanonisierung nicht interessieren und bei denen es sich in den meisten Fällen auch nur um leichte Akzentverschiebungen des Gesagten handelt.
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Jeweils zum Auftakt der Abschnitte über Heyse wird der Dichter in mehreren Fällen als ‚fruchtbarer Schriftsteller‘ beschrieben: so bezeichnet ihn etwa Hillenbrand als „[b]edeutenste[n] und fruchtbarste[n] Schriftsteller der Gegenwart“9, Engel als den „fruchtbarsten und am längsten bekannten unter unsern lebenden Dichtern“10, Salzer als den „fruchtbarste[n] und allseitigste[n] der Münchener Dichter“11, ähnlich nennt ihn auch Stern in seiner eigenen wie in seiner Bearbeitung der Vilmarschen Literaturgeschichte den „vielseitigste[n] und fruchtbarste[n] Dichter des Münchener Kreises“12; und auch Macke stellte die ‚alle überragende Fruchtbarkeit‘13 Heyses heraus, genauso wie Röhl die „ungeheure[] Fruchtbarkeit“14, Ettlinger die „staunenswerte Fruchtbarkeit“15 und Koch gar die „außerordentliche Fruchtbarkeit“16. ‚Fruchtbar‘ bezeichnet bei allen jedoch, wenn man sich die Kontexte ansieht, lediglich die Quantität seines künstlerischen Outputs, nicht (wie man vermuten könnte) eine positive Qualität. Im Gegenteil: die Einschränkungen, die im Verlauf nahezu aller Abhandlungen vorgenommen werden und auf die wir noch zu sprechen kommen werden, zeigen, dass damit, um mit den Worten Weitbrechts zu sprechen, Heyses „bis an die Grenze des Vielschreibens gehende Produktivität“17 gemeint ist. So schließt beispielsweise Ettlinger an seine Feststellung gleich an, dass „[s]eine [scil. Heyses] Novellen […] fast Jahr für Jahr [folgten]“18. Ganz deutlich wird dies auch bei Heyse-Gegner Carl Bleibtreu, der das Wort der „endlosen Fruchtbarkeit“ aufgreift, sie als „abscheulich“ bezeichnet und Heyse einen „fabrikmäßigen Kunstbetrieb“ vorwirft.19 Nahezu von allen wird Heyses Formkunst herausgestrichen. So wird der ‚feinste Formsinn‘20, die „wohltuende Formgewandtheit“21, die „formelle Voll-
9
Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, 444.
10
Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 203.
11
Salzer: Illustrierte Geschichte, 1896.
12
Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 139. Wortgleich auch in seiner Bearbeitung der Vilmarschen Literaturgeschichte: Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 627.
13
Vgl. Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 527.
14
Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 279.
15
Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 544.
16
Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 735.
17
Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 129.
18
Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 544.
19
Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 131.
20
Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, 389.
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endung“22, die „reiche Schönheit der Form“23, die „wohltuende Geschlossenheit der Formen“24 und die ‚Anmut in der Form‘25, die „kunstvolle, dem Inhalt angemessene Form“26, die ‚bewundernswerte‘ „Behandlung der Form“27, die „tadellose Formglätte“28, die „Formbeherrschung“29 bzw. „Meisterschaft in graziöser Formbeherrschung“30, der „ästhetische Formsinn“31, der „Kult des Formenadels“32, die „harmonische Form“33, die „Formsicherheit“34, die „edle[] Weise […] beim Dichten die Form zu behandeln“35, die „poetische Formkunst“36 und die ‚künstlerische Sorgfalt in der Form‘37 bzw. das „künstlerische Formen“38 hervorgehoben und meist auch das „Formtalent“39 Heyses betont. Fast immer aber geschieht dies auch unter dem Vorzeichen eines „aber“. Relativ rasch näm-
21
Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 182; auch: Hillenbrand: Die Deutsche Natio-
22
Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 374; Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 426;
nalliteratur, 445, ebenso: Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 735. Meyer: Die deutsche Litteratur, 605; Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 544. 23
Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 649; ähnlich auch Krüger: Geschichte der
24
Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 658.
deutschen Literatur, 270. 25
Ebd., 660.
26
Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 509.
27
Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 510.
28
Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 736.
29
Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 118.
30
Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 213; vgl. auch Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 129.
31
Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 127; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897.
32
Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 375; ähnlich auch Vilmar/Stern: Geschichte
33
Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 534.
34
Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 203.
35
Schilling: Deutsche Literatur, 167.
der Deutschen National-Literatur, 629.
36
Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897.
37
Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 965.
38
Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 631.
39
Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 213; auch Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 534; Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 139; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1896; Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 133; Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 627.
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lich wird dieses Lob der Form durch die anderen Aspekte relativiert. Diese Relativierung (teilweise sogar Umkehrung) erfolgt implizit oder explizit: so lobt beispielsweise Gottschall die „glatt und gutgefeilt[e]“ Form und stellt die „Meisterschaft“ der Formbeherrschung und das „seltene Formtalent“ heraus, doch erscheint ihm die „Formspielerei“ zugleich „als Schaustellung eines sehr bunten Trödels“40 und die „ausnehmende Formbeherrschung“ vermag seiner Ansicht nach nicht über Mangel an „dramatischem Talent“ (s.u.) ‚hinwegzutäuschen‘.41 Auch der von Weitbrecht zugestandene „ästhetischen Formsinn“ wird sofort von der Aussage abgeschwächt, dass er zu sehr auf Kosten des „Lebensgehaltes“ (s.u.) gehe42 bzw. „Empfindungen und Gedanken […] abtöte[]“43 und dahingehe, dass er zu einem Ästhetizismus führe, der die „Kehrseite des Lebens“ ausklammere.44 Ähnliche argumentative Strukturen finden sich auch bei Ettlinger45, Kirchner46 und Storck47. Teilweise werden diese sich gegenseitig ausspielenden Aussagen auch verkürzt, indem etwa von der „übergroße[n] Betonung der äußeren Form bei geringer poetischer Begabung“48 bzw. von „Formenkühle“49 oder in einem abschätzigen Sinn vom „wohlgefälligem Schwelgen in den Formen der Kunstschönheit“50 die Rede ist. Analog verhält es sich auch mit der Heyse teilweise sogar als vollendet zugebilligten Sprachbeherrschung. Auch hier werden zunächst lobend der „holde[] Wohlklang“51 bzw. „Wohllaut“52, die „bezaubernde[] Anmut“53, die „hohe Sprachfertigkeit“54 und „Sprachgewandtheit“55, der „Adel und die Reinheit“56,
40
Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 213.
41
Ebd., 428.
42
Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 127.
43
Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 265.
44
Vgl. Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897.
45
Vgl. Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 544,
46
Vgl. Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 510.
47
Vgl. Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 426.
48
Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 265.
49
Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 966.
50
Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 380.
51
Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 660.
52
Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 117.
53
König: Deutsche Litteraturgeschichte, 422.
54
Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 426.
55
Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 534; ähnlich auch Salzer: Illustrierte Geschichte, 1896.
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die „edle Sprache“57 und deren ‚vollendete Schönheit‘58 hervorgehoben.59 Aber auch hier wird sogleich relativiert: so wird etwa vom „einschmeichelnden Wohllaut“60 oder von der „sprachlich meisterhafte[n] Schönrednerei“61 gesprochen. Häufig wird das Lob aber auch durch die Kombination einer der anderen Wertaussagen relativiert. Beispielsweise stellt Hillenbrand der Sprachbeherrschung das Fehlen des Lebens (s.u.), die dramatische Talentlosigkeit (s.u.) und antireligiöse Tendenzen (s.u.) gegenüber62. Weitbrecht und (ähnlich) Macke setzen die ‚schwüle Erotik‘ (s.u.) der Sprachfähigkeit entgegen63, wodurch hier wie dort der an sich positive Wert verkehrt wird. Es ist ein von Anfang an eingeklammertes Zugeständnis. Das scheinbare Lob wird, wie wir sehen, in nahezu allen Fällen wieder unterlaufen durch einen anderen Aspekt, der das Beherrschen von Form und Sprache als Oberflächlichkeit und ästhetischen Schein (s.u.) entlarvt. Der häufigste Vorwurf mit dem die scheinbar positiven Wertaussagen relativiert werden, ist der des fehlenden Lebens und der fehlenden Frische. Es mangele an „Ursprünglichkeit und Frische“ und „es fehlt an Leben“, heißt es bei Hillenbrand.64 Hoefer ebenso wie Koch beklagen zu wenig „Lebensfülle und Lebenswärme“65. Hirsch kritisiert, dass alles wie „aus zweiter Hand“ erscheine, „zu viel ästhetischen Schein“ besitze und „kein wirkliches Leben zu finden“ sei.66 König führt aus, dass die Werke „zu fein ausgeführt, zu duftig gehalten, zu wenig lebensfrisch gezeichnet“67 seien, und auch Meyer spricht von einem ‚vergeblichen Suchen nach warmen Leben‘68. Nach Busse fehle „der innerste Lebens-
56
Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 205.
57
Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 965.
58
Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 427; ähnlich auch Meyer: Die deutsche Litteratur,
59
Vgl. darüber hinaus Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 509; Meyer: Die deutsche
60
Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 376.
620. Litteratur, 602. 61
Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 424.
62
Vgl. Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, 444.
63
Vgl. Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 131; Vilmar/Macke: Geschichte der Deut-
64
Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, 444.
65
Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 374; Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Littera-
66
Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 649.
67
König: Deutsche Litteraturgeschichte, 422.
68
Meyer: Die deutsche Litteratur, 609.
schen National-Literatur, 528.
tur, 736.
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nerv“ und deshalb sei es ein berechtigter Vorwurf, dass Heyse nur an der „äußeren Schale“ kleben bleibe.69 Gottschall bedient sich des Goetheworts „kühl bis ans Herz hinan“ und erklärt, ähnlich wie König: „zu viel Duft, zu viel ästhetischer Schein, ein gemaltes und kein wahres Leben“70. In gleicher Weise spricht auch Weitbrecht davon, dass die Poesie Heyses immer „mehr von dem Auge zeuge[], mit dem der Dichter die Dinge betrachtet, als von dem Leben der Dichterseele, das sich in den Dingen anschauen würde“71. Es erscheine, wie auch Salzer konstatiert,72 „weniger das überquellende Gefühl persönlichen Lebensgehaltes“73 in den Werken, deren „ästhetische Feinschmeckerei“ auf Kosten „des tieferen Gehaltes und der Lebenswahrheit“ gehe.74 So seien auch die Gestalten, die in den Romanen umhergingen, „ohne Fleisch und Blut“75 und auch das „Kunstprodukt“ sei nach Ansicht Bartels „leblos und unwahr“.76 In dieser oder einer ihr ganz entsprechenden Weise argumentieren auch Salomon77, Heinze78, Wolff79, Röhl80 und Engel81. Eng mit dieser Aussage verwandt und ihr teilweise als Begründung dienend, ist auch der schon hier und da angeklungene Vorwurf der (verstandesmäßigen) Künstlichkeit. Dabei wird das Metaphernfeld der Bildhauerei prägend. So sei Heyse „zu sehr Bildhauer und nicht zu sehr Maler“82, arbeite „sehr selten mit malerischer, fast immer mit plastischer Phantasie“83, die Gestalten der Werke
69
Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 118.
70
Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 376.
71
Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 127.
72
Vgl. Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897.
73
Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 128.
74
Ebd., 132.
75
Salzer: Illustrierte Geschichte, 1900.
76
Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 626. – Vgl. darüber hinaus auch die Stellung-
77
Vgl. Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 477.
nahmen Salomons, Wolffs (Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 182). 78
Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 378.
79
Vgl. Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 182.
80
Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 265 (Röhl spricht hier, wie oben bereits zitiert vom „Abtöten“).
81
Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 203.
82
Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 649.
83
Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 966; Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 279; ähnlich auch Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 628.
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seien „fein gemeißelt“84 bzw. bildeten „eine Reihe schön gemeißelter Skulpturen“85, wiesen eine „Eleganz der Rundung“86 auf, und wären trotzdem „unerfreulich“87, zumal sich „dazwischen kalt und leer trennende Pfeiler“88 fänden. Von „schwerwuchtender Plastik“89 ist die Rede, von einer Welt, die „stilisiert, formvollendet wie Statuen“ sei, „aber ohne Fühlung mit dem Volksleben“90. Leixner spricht von einer „kühle[n] Glätte“91, Gottschall sowie Storck reden gar von einer „Kühle und Glätte marmorner Form“92. Desgleichen beklagt auch Kirchner den „künstlerische[n] Hauch“, der sich „bisweilen erkältend“ auf seine Figuren lege.93 Dieses „Gefühl der Kälte“94, das natürlich mit dem Aspekt der fehlenden Lebenswärme unmittelbar korrespondiert (s.o.), rühre aus Sicht Storcks daher, dass „[d]er Dichter […] über dem Stoff [stehe] und […] ihn mit kunstvoller Sicherheit [behandle]“95. Auch Lublinski sieht, dass bei den Figuren Heyse „ein ganz und gar artistisches Interesse von außen her zu ihnen heran [triebe]“96 und er aufgrund dieser „formale[n] Künstlerart“ (hier also wieder der Vorwurf der Form; s.o.) „durch und durch Artist“ sei.97 Sein „Verhältnis zur Wirklichkeit [sei] in der Tat Beobachtung geblieben“98, erklärt auch Bartels. Dies sei „das Erbe der technischen Meisterschaft“99, in dem allerdings „Verstand […] Phantasie nicht [ersetze]“100. Auf diese Weise wird das ohnehin schon eingeschränkte Lob
84
Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 649, 659.
85
Meyer: Die deutsche Litteratur, 609.
86
Ebd., 608.
87
Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 659.
88
Meyer: Die deutsche Litteratur, 609.
89
Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 379.
90
Salzer: Illustrierte Geschichte, 1899.
91
Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 966.
92
Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 214; Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 426.
93
Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 511.
94
Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 427.
95
Ebd.
96
Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 100.
97
Ebd., 101.
98
Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 446.
99
Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897.
100 Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, 445.
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für Form und Sprache unterlaufen, die Schreibweise als ‚gemacht‘ und nicht ‚empfunden‘ und damit als oberflächlich entlarvt.101 Verschärft wird dies in vielen Fällen noch durch die Aussage, Heyse wende sich nur dem Schönen zu – eine Aussage, die ebenfalls häufig genutzt wird, die positiven Werte der Formkunst und der Sprachbeherrschung zu relativieren.102 Dadurch nämlich, dass die Schönheit ihm immer „oberstes Gesetz“103 sei, gehe sie ihm „über die Wahrheit“104, verschließe er die Augen vor der „Kehrseite der Natur“105, zeige sich eine „innere Gleichgültigkeit gegen Vorgänge und Gestalten des Lebens“106 und somit „zu wenig die Kehrseite der Medaille“107, zu wenig die „Schattenseiten“108, nicht der „Kampf um Brot und Not des Lebens“109. All dies, von dem man annehmen könnte, es würde für eine realistische oder naturalistische Programmatik genutzt werden, wird nicht über die Andeutung hinaus ausgeführt und verharrt somit auf der gleichen oberflächlichen Argumentation wie bisher. Es handle sich um eine „dem Niedrigen abgewandte Kunst“110, die das „Schöne[] vor dem unmittelbar Charakteristischen“111 bevorzuge. Lublinski spricht daher mehrfach von einer ‚kostümierten Schönheit‘112, Busse von einer „Schönheitssehnsucht“113, Stern von einem „ästhetischen Sybaritismus“114, Bartels von einem „äußerliche[n] Idealismus“115, während Storck Heyse als „Schönheitsschwärmer“116 bezeichnet. Salzer und Ettlinger schließlich spielen hier die
101 Bleibtreu spricht in diesem Zusammenhang von „Konditorkunst“ (Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 134). 102 Vgl. über die im Folgenden angegeben Stellen hinaus auch: Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 511; Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 128; Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 533f. 103 Pott: Geschichte der Deutschen Literatur, 83. 104 Schilling: Deutsche Literatur, 168. 105 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 446. 106 Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 628. 107 Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 427. 108 Schilling: Deutsche Literatur, 168. 109 Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 118. 110 Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 224. 111 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 138. 112 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 100, 154. 113 Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 118. 114 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 140. 115 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 447. 116 Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 427.
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nationale Karte aus und schreiben, dass die „Betonung [..] der über alles heilig gehaltenen formalen ‚Schönheit‘ [..] zu einer Gleichgültigkeit gegen die national begründeten Unterschiede fremder Gedankenwelten von der unseren [führe]“.117 Es verwundert keineswegs (auch angesichts dessen, was wir in den vorigen Kapiteln über die Trägerschicht gesagt hatten), wenn Heyse und seine Werke in diesem Zusammenhang immer wieder als „aristokratisch“ eingestuft werden, was natürlich wiederum eine Diskreditierung bedeutet. Heyse sei „viel zu aristokratisch“118, er sei ein „künstlerische[r] Aristokrat“, an dessen „klarbewußte[r] Kunstdichtung […] oft die blasse Farbe der Salonluft bemerkbar [werde]“119. Ein „Poet für die oberen Zehntausend, für den Luxus“120, auf dessen Werken der „Nimbus der Vornehmheit“121 laste und der deshalb zur „Lieblingslektüre der Frauen reicherer Kreise“122 wurde, dessen Gestalten aus den „höheren Gesellschaftsklassen“123 stammten. Einer, der nur die „Verhältnisse der höheren Klassen“124 darstelle, dessen Novellen „in höheren Kreisen“125 spielten und den „das Luxuriöse, Ueppige“ seiner Werke in der „Aristokratie und reichen Bourgeoisie zum Dichter par excellance erhoben [habe]“126. Fester Bestandteil der Darstellung Heyses in den Literaturgeschichten sind auch die vor allem im Zusammenhang mit seinem Roman „Kinder der Welt“ fallenden Aussagen, dass Heyse ‚antireligiös‘ bzw. ‚atheistisch‘ sei und (oft zugleich auch) ‚amoralisch‘. So heißt es bei Hillenbrand etwa, Heyse habe eine „antireligiöse Tendenz“127, bzw. bei Bartels „eine starke Tendenz gegen die Gläubigkeit“128. König bezeichnet sein Werk als „Apotheose des Atheismus“129,
117 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1880; Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 539. 118 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 511; ebenso Salzer: Illustrierte Geschichte, 1899. 119 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 736. 120 Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 118. 121 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 533. 122 Ebd., 534. 123 Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 279. 124 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 628. 125 Pott: Geschichte der Deutschen Literatur, 83. 126 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 534. 127 Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, 444. 128 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 631. 129 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 424.
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Meyer Heyse als ‚atheistischen Autor‘130. Stern beschreibt ihn als einen Dichter, der „den Glauben, der ihm ein Wahn ist, [bekämpfe]“131, Salzer als einen, der der „christlichen Lehre [..] feindlich gegenüber[stehe]“132 und „in allem Metaphysischen nur eine Beschränkung der Freiheit der menschlichen Natur [erblicke]“133, weshalb ihn „der positiv gläubige Leser mit Abscheu zurückweisen [müsse]“134. Statt Religion finde sich eine „Diesseitsschwärmerei“135, weshalb die Gestalten „mit den durchschimmernden geistigen Adern jenes neuen Glaubens, den man als die Religion des Diesseits bezeichnen könne“136, gezeichnet seien. Heyse stelle „neue[] materialistische[] Ansichten über das Christentum – im Gegensatz zur alten Generation, die an ihrem Glauben festhält – und geht dabei nicht ganz gerecht vor“137. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf Strauß und seine Schriften verwiesen.138 Bleibtreu spricht gar von einem ‚Materialismus und Christenhaß‘139. Der Dichter bekämpfe – so Stern – „[i]n Haltung, Gestalten und Reflexionen […] den Glauben, der ihm ein Wahn ist und vor allem die Anmaßung, den sittlichen Wert des Menschen nach seinem Verhältnis zum Jenseits zu messen“140. Dies sei auch der Grund, weshalb genauso wie von Religion sich eben auch von Sitte „nicht viel“ in Heyses Werk finde, „wohl aber vom Gegenteil“141. Und so weisen etwa König, Kirchner, Heinze, Salzer, Macke und Bartels auf die ‚Amoralität‘ bei Heyse hin.142 Diese wird meistenteils, wo nicht begrün-
130 Meyer: Die deutsche Litteratur, 602. 131 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 142. 132 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 379. 137 Schilling: Deutsche Literatur, 170. 138 Vgl. König: Deutsche Litteraturgeschichte, 424; Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 512; Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 377; Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 132; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1900; Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 132; Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 528. 139 Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 132. 140 Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 630. 141 Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 528. 142 Vgl. im Einzelnen: König: Deutsche Litteraturgeschichte, 433; Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 513; Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 375; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1899; Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 528; Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 631.
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det, so zumindest mit Aussagen über sein Schreiben akzentuiert, die ebenfalls topisch sind: So bilde das große Thema bei Heyse immer die ‚sinnliche Liebe‘ und damit einhergehende Liebeskonflikte.143 Als „Kenner und Liebling der Frauen“144 bevorzuge er dabei in seiner Darstellung das „Wesen des Weibes“145 bzw. ‚Frauen(charaktere)‘146, gewänne folglich der „weibliche Zug in Heyse’s dichterischer Physiognomie [..] die Oberhand“147. Doch bei den „Liebesabenteuer[n] der Heldinnen“ geriete es „fast zur Manier“, den „Reiz der Dichtung“ dort zu suchen,148 wo „sinnliche Neigung im Konflikt mit der Welt oder unbekümmert um dieselbe zum Unheil oder Glück führt“149. Die Liebe stände „allzusehr im Mittelpunkt“150, was „freilich als Mangel ausgelegt werden [müsse]“151. Aufgrund seiner Vorliebe für „psychologische Fragen“152, käme ein „eigentümliches
143 Vgl. Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 650; König: Deutsche Litteraturgeschichte, 422; Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 427; Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 100; Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 375; Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 534; Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 140; Schilling: Deutsche Literatur, 169; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897; Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 132; Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 225. 144 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 736; ebenso Salzer: Illustrierte Geschichte, 1898. 145 Meyer: Die deutsche Litteratur, 607. 146 Vgl. Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 651; Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 479; Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 511; Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 432; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1898; Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 966; Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 631. 147 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 182. 148 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 422. 149 Ebd., 422f. 150 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 736; Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 527; vgl. auch Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 544. 151 Schilling: Deutsche Literatur, 169. 152 Vgl. Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897; ähnlich auch Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 478; König: Deutsche Litteraturgeschichte, 423; Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 736; Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 375; Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 131; Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 966; Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 628, 631. Auch in diesem Zusammenhang wird ihm fehlende Lebenswärme und fehlendes Leben vorgeworfen (vgl. Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 374; Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 127).
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psychologisches Moment“153 hinzu, das zu „absonderliche[n] Situationen“154, „direkt seltsame[n] Konflikte[n]“155, „merkwürdige[n] Seelenprobleme[n]“156 etc. führe, ja sogar „krankhafte Züge“157 erkennen lasse. Daneben atmeten besonders die Novellen eine „üppige Sinnlichkeit“158, seien durchzogen von einer „sinnlichen Schwüle“, durch „süßlich oder schwül erotische Motive“, die „aufdringlich in den Mittelpunkt“159 gerückt seien. Immer wieder wird eine Etikettierung mit dem Begriff der Erotik vorgenommen,160 zuweilen sogar eine der ‚Lüsternheit‘161 und ‚Frivolität‘162. Es heißt sogar, Heyse habe ein „Lehrgebäude errichtet, das auf einen eingeschränkten Sinnenkult hinaus[liefe]“163. Offen oder verdeckt wird dabei auch auf die Unsittlichkeit hingewiesen.164 Eine sich in fast allen Literaturgeschichten wiederkehrende Aussage über Heyse ist die, dass er keinerlei dramatisches Talent besäße: So heißt es bei Hillenbrand etwa, er habe die „Vielseitigkeit seines Talents“ überschätzt, wenn er „für die Bühne zu schreiben“ unternommen habe.165 Hirsch bezeichnet seine Dramatik als „unbefriedigend“166 und die Dramen selbst als „völlig undramatisch“167. Auch Kirchner hält die Theaterstücke für „nicht gelungen“, weil sie zu wenig „dramatischen Gang“ hätten.168 Koch erklärt, dass es „der hochentwickel-
153 Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 651. 154 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 100. 155 Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 427; vgl. auch Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 631. 156 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 966. 157 Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 651. 158 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 377. 159 Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 544. 160 Vgl. etwa Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 432; Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 534; Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 375; Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 446, 628, Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 100. 161 Vgl. König: Deutsche Litteraturgeschichte, 422. 162 Vgl. Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, 466. 163 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 375. 164 Vgl. etwa: Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 132; Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 132. 165 Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur, 445. 166 Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 658. 167 Ebd., 659. 168 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 515.
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ten, ernsten Kunst [..] an der Naturkraft des geborenen Dramatikers [bräche]“169. Meyer spricht von einem „verfehlten Bemühen“170, Gottschall davon, dass man trotz der „lobenswerten Ausdauer […] bezweifeln [mag], ob Paul Heyse das spezifische dramatische Talent besitzt“171, da er „in dramatischer Hinsicht [...] den Eindruck eines vollen Stroms [mache], der sich im Sande verläuft“172 und es ihm an einem „dramatische[n] Rückgrat“173 fehle. Desgleichen schreibt auch Heinze, dass Heyse die „wesentlichen Eigenschaften, deren der Dramatiker bedarf“174 fehlten. Auch Engel spricht ihm „die derbe, ja grausame Faust des geborenen Dramatikers“175 ab. Salzer greift den Aspekt der Formkunst auf und führt aus, dass die „künstlerische Durchbildung [..] des Stoffes und die schöne Form allein [nicht] genügen [..] für ein bühnenwirksames Drama“176. Ebenso sprechen auch Ettlinger, Macke und Bartels Heyse eine „spezifisch-dramatische Begabung“ ab.177 Als Begründung dient hier mehrfach die Betonung der epischen, insbesondere novellistischen Veranlagung.178 Fast einhellig wird Heyse auf dem Gebiet der Novelle eine Meisterschaft zugeschrieben.179 Zum Teil wird ihm hier sogar ein Fortleben prophezeit.180 Jedoch erfolgt nie wirklich eine konkrete Begründung, worin diese Meisterschaft besteht. Letztlich wird dieses Urteil immer nur durch eine der uns bereits bekann-
169 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 735f. 170 Meyer: Die deutsche Litteratur, 612. 171 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 427. 172 Ebd., 431. 173 Ebd., 432. 174 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 376. 175 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 204. 176 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1900. 177 Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 545; Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 528; Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 447, 632. 178 Vgl. Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 143; Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 545; Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 631. 179 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 422; Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 510; Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 735; Meyer: Die deutsche Litteratur, 609; Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 76; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1897; Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 544; Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 624. 180 Vgl. etwa Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 278; Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 380.
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ten Aussagen gestützt, am häufigsten natürlich durch die der Formkunst.181 Genauso aber lässt sich hier, wie schon zuvor, beobachten, dass das positive Urteil sofort wieder eingeschränkt wird – ebenfalls meist durch eine der genannten Aussagen (wie etwa der des fehlenden Lebens)182. Am interessantesten aber ist, dass die novellistische Meisterschaft herangezogen wird, um anderes zu diskreditieren. So werden – wie erwähnt – etwa die Dramen bzw. deren Ausführung immer wieder als „zu novellistisch“ bezeichnet.183 Das gleiche gilt für die Romankunst Heyses. Auch hier sei das „Novellistische allzu bemerklich“184, weshalb sich die Romane als „breit ausgeführte“185 oder „erweiterte Novellen“186 entpuppten,187 und ihm als „Meister der Novelle“, weil der „Novellist dem Romanschriftsteller im Wege [stehe]“188, die Romane ‚misslängen‘189. Damit hätten wir alle der zehn Aussagen über Heyse in den Literaturgeschichten zusammengetragen. Teilweise werden diese noch mit einem Kanon seiner Werke verknüpft. Diese jedoch unterliegen der gleichen Kombinatorik, d.h. die einzelnen Werke werden als Beleg für eine (vereinzelt sogar bestimmte) Aussage angeführt.190 Wollten wir noch einmal in wenigen Sätzen das Urteil über Paul Heyse zusammenfassen, wie es sich, wenn auch immer wieder anders kombiniert, in den Literaturgeschichten präsentiert, so lautete es etwa wie folgt: Paul Heyse sei ein sehr fruchtbarer (manchmal: zur Vielschreiberei neigender) Schriftsteller, der die Sprache und Form vollendet beherrsche, dessen Werken es aber (vielleicht gera-
181 Vgl. etwa, um nur zwei zu nennen Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 132 oder Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 376. 182 Vgl. etwa König: Deutsche Litteraturgeschichte, 422; Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 649 sowie die bereits genannten Stellen. 183 Vgl. etwa Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 425; Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 133 sowie die bereits oben genannten. 184 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 377. 185 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 204. 186 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 534; Schilling: Deutsche Literatur, 170. 187 Vgl. darüber hinaus etwa noch Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 736; Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 377. 188 Meyer: Die deutsche Litteratur, 610. 189 Ebd., 608. 190 Beispielsweise dienen die „Kinder der Welt“ vor allem als Beispiel für die ‚antireligiöse Haltung‘ ihres Verfasser. – Wir gehen allerdings nicht mehr gsondert auf die Werke ein, da sich dadurch nur das Repertoire der Topoi potentieren, keineswegs jedoch den Ergebnisertrag erhöhen würde.
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de darum) an frischem Leben fehle. Sie neigten zu einer fein gemeißelten, aber marmorkühlen und glatten Künstlichkeit, die nur dem oberflächlichen schönen Schein verhaftet sei, was nicht zuletzt einem aristokratischen Zug seines Wesens geschuldet sei. In ihrem Mittelpunkt stünden meist die Liebesabenteuer von Frauen, die psychologisch ausgeleuchtet werden. Sie seien durchzogen von einer schwülen, zuweilen sogar frivolen Erotik. Einiges weise hier eine antireligiöse und amoralische Tendenz auf. Als „Meister der Novelle“ mangele es ihm leider vollkommen an Talent in den Gattungen Drama und Roman, die er zu novellistisch gestalte.
4.2 W ILHELM R AABE Um eine Vergleichsmöglichkeit zu haben, durch die wir unsere Ergebnisse validieren können, wenden wir unseren Blick nun auf Wilhelm Raabe. Auch hier herrscht ein ganz ähnliches Bild vor. Auch hier finden wir neben (sofern genannt) immer gleichen biographischen Angaben191 ein auf wenige Aspekte reduzierbares Bild, das sich kaleidoskopartig durch Variationen in der Wortwahl, der Kombinatorik und der Ausweitung aus insgesamt elf Aussagen bzw. Topoi zusammensetzt.192 Diese sind: 1. Raabes Humorismus, 2. die Traditionsverortung in der Linie Jean Pauls, E.T.A. Hofmanns und Dickens, 3. die Kleinmalerei in seinen Werken, 4. die Phantastik (insbesondere seiner Figuren), 5. seine Formlosigkeit in der Komposition, 6. sein Pessimismus, 7. seine teilweise Manieriertheit, 8. seine Gemütsfülle, 9. die Idyllik seiner Schauplätze,
191 Vgl. Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 515, Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417; Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 255; Krüger: Geschichte der deutschen Literatur, 299; Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 569; Schilling: Deutsche Literatur, 147; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1847; Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 242. 192 Auch hier ließen sich ein Kanon von Werken ausmachen, die aber ebenso wie bei Heyse nur als Beleg für einzelne Topoi genannt werden und sich wie die Aussagen selbst frei kombinierbar mit diesen zeigen.
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10. sein Realismus, 11. sein Deutschtum. Der interessante Unterschied zu Heyse ist, dass – wie wir im Einzelnen sehen werden – viele dieser Aussagen in den unterschiedlichen Literaturgeschichten nicht immer die gleiche Wertigkeit haben. Wir finden zwar die gleiche Aussage, doch einmal in einer positiven Wertung, ein anderes Mal in einer negativen. Doch bevor wir dieses Phänomen erklären, sehen wir uns auch hier zunächst die Punkte im Einzelnen an. Alle der untersuchten Literaturgeschichten stellen den Humor in Raabes Werken heraus und charakterisieren Raabe als Humoristen. Hoefer bezeichnet sein Werk als das „eines ächten Humoristen“193, Salomon nennt ihn einen „erstaunlich reich begabten Humorist[en]“194. Wolff spricht von einem „vornehmen Humoristen“195, Kirchner schwärmt genauso wie Pott von „humoristischen Stimmungsbildern“196, Storck tituliert Raabe als „bedeutendste[n] Vertreter des humoristischen Romans“ und als „echten Humoristen“197, Lublinski spricht von ihm sogar als dem „tief gemütvollste[n] Humoristen, den Deutschland überhaupt besessen hat“198 und auch Schilling geht so weit, ihn als den „größten Humorist[en] seiner Zeit“199 zu bezeichnen. Ähnlich nennt auch Busse ihn den „tiefsten Humoristen, den Deutschland heut besitzt“200. Ebenso erkennt auch Weitbrecht in ihm einen „unserer ersten deutschen Humoristen“201, so wie auch Heinze ihm innerhalb der Humoristen „unstreitig“ den Vorrang als dem „bedeutendste[n] unter den Poeten dieser Gruppe“202 einräumt. Leixner schreibt, dass er „von Natur aus ein echter Humorist“203 sei; Stern erblickt in ihm den „gemütreich-
193 Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 370. 194 Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 513. 195 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 234. 196 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417; Pott: Geschichte der Deutschen Literatur, 83. 197 Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 430. 198 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 8. 199 Schilling: Deutsche Literatur, 148. 200 Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 124. 201 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 77. Wobei mit „erster“, wie der Kontext zeigt, der Vorrang und keine Initiatorenrolle gemeint ist. 202 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 255. 203 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 961.
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ste[n] und liebenswürdigste[n] humoristischen Dichter dieser Periode“204 und dergleichen mehr.205 Natürlich wird in diesem Zusammenhang auch der „golden[] und sieghafte[]“206, der „ungetrübte“207 und „frische“208, der „volle[] und [..] gesunde“209, der „gemütvolle“210 bzw. „gemütreiche“211, der „echte“212 und der „leuchtende“213 Humor noch einmal besonders akzentuiert. In den ersten Jahren der Etablierung in den Literaturgeschichten finden sich diesbezüglich jedoch auch noch einige kritische Stimmen: so greift zwar König das Wort vom Humor Raabes auf, empfindet ihn jedoch „häufig etwas erzwungen“214. Desgleichen schreibt auch der sonst Raabe im Großteil seiner Aussagen lobende Gottschall von einem „oft schleppenden Gang“215 seines Humors, was er vor allem mit den „bizarre[n] Formen der Darstellung“ begründet, insbesondere mit der in der Nachfolge Jean Pauls (s.u.) stehenden Neigung zu einer phantastischen Figurenkreation (s.u.) – letztlich also (und Ähnliches hatten wir bereits in Bezug auf Heyse beschrieben) mit zwei anderen der elf kanonisierten Aussagen. Ähnliches lässt sich auch bei Meyer beobachten: er greift die Etikettierung Raabes als Humorist auf, akzentuiert sie allerdings mit einem weiteren Topos, nämlich dem des Pessimismus (s.u.), indem er Raabe als „pessimistischen Humoristen“216 bezeichnet. Diese kombinatorische Erweiterung wird von ihm begründet mit einer – wie wir sehen werden – im Zusammenhang mit dem Topos des Pessimismus ebenfalls gängigen Argumentation, in der Humor und Pessimismus einander
204 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 160. 205 Vgl. etwa noch Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 570; Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 230; Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 409; Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 651; Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 242; Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 614. 206 Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 513. 207 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417. 208 Ebd., 419. 209 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 77. 210 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 257; Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 569. 211 Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 492. 212 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 962. 213 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1847. 214 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 437. 215 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 563. 216 Meyer: Die deutsche Litteratur, 542.
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gegenüberstellt und bei Raabe meist zugunsten des versöhnlichen Humors entschieden wird. So etwa bei Salzer, der in Raabes „leuchtendem Humor“, den er ebenfalls in der Nachfolge Jean Pauls verortet,217 die Umkehrung der „tragischen Weltauffassung“218 erkennt (s.u.). Bei Meyer jedoch wird lediglich „[n]eben dem tollen Humor die wilde Verzweiflung“219 konstatiert und der Konflikt „zwischen Pessimismus und Lebensfreude“220 als „eigentliche[r] Lebensquell“221 dieser Poesie dargestellt. An späterer Stelle wird zudem einschränkend vermerkt, dass Raabe aber nicht den „verschwenderischen Reichtum“ Jean Pauls besitze, „der alles gleichmäßig mit dem Sternenschnee seines Humors versilbert“222, sondern leider zur Manier (s.u.) neige. Diese wenigen kritischen Töne verlieren sich aber, um sich diesen Wortwitz zu erlauben, da alle anderen Stimmen des Kanons, zeitlich versetzt in die wohlklingende Hauptmelodie einstimmen. Lediglich 1908 spricht Arnold noch einmal in Bezug auf die ‚Käuze und Sonderlinge‘ (s.u.) von einem „humoristischen Behagen, das oft nur zu sehr in die Breite geht“223, wobei eine Seite später schon wieder der „gemütvolle[] Humor“224 Raabes lobend herausgestrichen wird. Mit dieser Ausnahme herrscht, wie wir es auch bei andern Urteilen noch sehen werden, ab der Jahrhundertwende Einstimmigkeit. Die bereits erwähnte Traditionsverortung in der Linie Jean Pauls, aber auch in der E.T.A. Hoffmanns und Charles Dickens ist ebenfalls als ein gängiger Topos in den Abschnitten zu Raabe und in nahezu allen untersuchten Literaturgeschichten zu finden. Seine Ausprägung ist vielseitig. Von einigen wird das Verhältnis lediglich konstatiert aber nicht weiter spezifiziert. Es ist die Rede von „jeanpaulisierende[n] Erstlingsschöpfungen“225 oder „jeanpaulisierende[r] Annahme“226 bzw. „Jean Paul’sche[r] Versenkung“227. Daneben werden Reminiszenzen der Schreibweise ausgemacht. So heißt es etwa, Raabe erinnere „in sei-
217 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1847. 218 Ebd., 2074. 219 Meyer: Die deutsche Litteratur, 542. 220 Ebd., 543. 221 Ebd., 544. 222 Ebd., 562. 223 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 568. 224 Ebd., 569. 225 Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 493. 226 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 564. 227 Ebd., 566; vgl. darüber hinaus etwa auch Bleibtreu: Geschichte der Deutschen NationalLiteratur, 145.
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nen Vorzügen wie Mängeln […] an Jean Paul“228 oder in seiner Darstellung „an J. Paul, E.T.A. Hoffmann, aber auch an Dickens“ 229, oder seine Werke erinnerten in ihrer „Mischung von Humor mit elegischen Tönen […] an Jean Paul“230, oder Raabe schlage oft die „Töne Jean Pauls und Th. Hoffmanns“ an u.ä.231. Daneben finden sich immer wieder konkrete Vergleiche mit den jeweiligen Autoren (etwa: „wie bei Jean Paul“232, „Gestalten, wie sie Dickens geschaffen“233 oder „gleich Charles Dickens“234). Teils wird hier von einem Einflussverhältnis gesprochen („Unter deutlicher Einwirkung Jean Pauls“235, „Dickens' Einfluß ist bei Raabe unverkennbar“236, „E.T.A. Hoffmanns Einfluß zeigt sich bei Raabe vielleicht am deutlichsten“237 u.ä.238), teils von einem ein Vorbild- bzw. Nachahmungsverhältnis („glückliche Nachahmung von Dickens“239, „das läßt sich auch nicht anders erwarten von einem Dichter, der Dickens und Jean Paul verehrt — nachahmt“240 u.ä.241, aber auch „als Raabes Vorbild, aber nicht eines der Nachahmung, erkennt man Dickens“242), teils von einem Lehrer/Schüler-Verhältnis (Raabe als der „Schüler Jean Pauls, der von seinem Meister nur zu viel gelernt hat“243 sowie „geistiger Schüler Jean Pauls“244) teils sogar von einem (geistigen) Verwandtschafts- und Erbschaftsverhältnis („Raabes Verwandtschaft mit Jean
228 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 437. 229 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417. 230 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 234. 231 Vgl. darüber hinaus Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 257; Schilling: Deutsche Literatur, 148. 232 Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 569. 233 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 566. 234 Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 243. 235 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 723. 236 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 256. 237 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 413. 238 Vgl. darüber hinaus: Schilling: Deutsche Literatur, 148; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1848; Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 243. 239 Koch: Geschichte der deutschen Litteratur, 256. 240 Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 569. 241 Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 492. 242 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 230. 243 Meyer: Die deutsche Litteratur, 562, hier zählt Meyer neben Jean Paul auch E.T.A. Hoffmann als seinen „Hauptlehrer“ auf (vgl. ebd.). 244 Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 271; vgl. darüber hinaus auch Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 413.
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Paul“245; „Geistesverwandter des britischen Dichters“246, „Nachfahr Jean Pauls“247 sowie, dass Raabe in der „Erbschaft aus dem Blütezeitalter der deutschen Litteratur, nämlich den Nachlaß der romantischen Humoristen, eines Jean Paul und Theodor Amadeus Hoffmann“248 stehe). Begründet wird diese Traditionslinie u.a. mit dem ebenfalls häufig zu findenden Topos der „Kleinmalerei“. Bereits Hoefer spricht von einem „Stück Kleinmalerei der reizendsten Art“249, erläutert aber nicht näher, was darunter zu verstehen ist. Sind es wie bei Salomon die „kleinbürgerlichen Verhältnisse mit engem Horizont“250, als deren „ausgezeichneter und vielleicht letzte[r] Sittenmaler“251 ihn Stern beschreibt? Oder ist mit diesem „Kleine[n]“, das Raabe „mit liebevoller Vertiefung und feinem Humor darzustellen“ weiß, wie Gottschall schreibt, „das kleinstädtische Leben“ gemeint?252 Es wird nicht deutlich. König spricht vom „heiße[n] Erbarmen mit den Gedrückten, Einsamen und Einfältigen“253 und fasst dies mit dem Begriff der „tiefgemütvolle[n] Auffassung des Kleinlebens“254, den auch Pott aufgreift.255 Heinze lobt (ähnlich wie Macke)256 die „idyllische[], von ergötzlichem Humor erhellte[] Kleinmalerei“257. Umfasst diese „Kleinmalerei“ auch die „elegischen und humoristischen Stimmungsbilder[]“258 sowie die „auf das feinste[] ausgeführte Seelenmalerei“259, deren „realistische Anschaulichkeit“260 jeweils gelobt wird, da sie „vollständig der Wirklichkeit entnommen und doch so eigenartig, poetisch, verklärt [sind bzw. ist],
245 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417. 246 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 257; vgl. ähnlich Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 962. 247 Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 621. 248 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 8. 249 Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 370. 250 Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 513. 251 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 160. 252 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 563; vgl. auch ebd. 565. 253 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 437. 254 Ebd. 255 Vgl. Pott: Geschichte der Deutschen Literatur, 83. 256 Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 258. 257 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 258. 258 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417. 259 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 255. 260 Ebd.
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dass wir glauben, solche Szenen selbst schon gesehen zu haben“261? Und in welcher Traditionslinie befindet er sich damit nun eigentlich? In der Dickens’, wie Heinze meint,262 oder in der Jean Pauls, wie Gottschall263 glaubt? Wie undeutlich sich letztlich dieser Topos in den Literaturgeschichten präsentiert, er scheint zu Raabe zu gehören. Ähnliches gilt auch für die ‚Phantastik‘. Auch sie scheint Raabe eigentümlich zu sein. In diesem Fall sogar so sehr, dass jede Literaturgeschichte sie erwähnt. Doch anders als im Falle der „Kleinmalerei“ gibt es hier ein weitgehend festes Vokabular, auf das die Literarhistoriker zugreifen. Mit ‚Phantastik‘ ist natürlich nicht das gemeint, was heute ein Literaturwissenschaftler in der Nachfolge Todorovs darunter versteht. Die ‚Phantastik‘ oder das ‚Phantastische‘ bezeichnet hier, wie etwa Hoefer bei Raabe erläuternd definiert, dass „aus Natur und Leben vorzugsweise das Seltsame zum Stoff seiner Darstellung“264 gewählt wird. In dieser Weise werden von ihm die „phantastischen, barocken und seltsamen Einfälle“265 hervorgehoben. Doch während gerade dies an ihm gelobt wird, wird es beispielsweise von Salomon beklagt. Dort heißt es, diese „so tolle, unheimliche Phantastik“266 verfalle „wiederholt in das Absonderliche“ und gerate dadurch „in eine gewisse Stilmanier hinein“267. Dieses ‚Absonderliche‘ kreidet auch König Raabe an268 und auch Meyer spricht negativ von der „phantastischen Willkür“269, während zeitgleich Lublinski Raabe enthusiastisch als „schier überirdischen Träumer und Phantasten“270 bezeichnet. Ebenso hebt auch Wolff unter Verortung der Traditionslinien diese „phantastisch-romantische[n] Einflüsse“271 in der Lektüre Raabes positiv hervor. Und ähnlich, wie wir es bereits in Bezug auf den Humor beobachten konnten, wird etwa ab der Jahrhundertwende der
261 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 418. 262 Vgl. Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 257. 263 Vgl. Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 566; vgl. hierzu auch Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 569. 264 Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 371. 265 Ebd., 370f. 266 Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 514. 267 Ebd., 513. 268 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 437. 269 Meyer: Die deutsche Litteratur, 563. 270 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 8. 271 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 233.
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„Phantasiereichtum“272 Raabes als positiver Wert anerkannt und kolportiert. Es ist von ‚Phantasiefrische‘273 die Rede, von einer spielerisch „lebhafte[n] Phantasie“274, und überall herrscht nur noch einstimmiges Lob darüber.275 Analog verhält es sich auch mit den Einzelaspekten dieser Phantastik. Auch hier herrscht zunächst keine Einstimmigkeit im Urteil vor, immer gleich jedoch ist der beschränkte Wortschatz, der sich nur in der Kombinatorik unterscheidet: so spricht Kirchner vom „Dichter der Sonderlinge“276, von „sonderbare[n] Käuzen, deren Weltanschauung meist schrullenhaft“277 sei, Heinze von „seltsamen“278 später auch „alte[n] Käuzen und Sonderlingen“279, Macke ebenfalls von „Sonderlinge[n]“ und „schrullenhafte[n] Leute[n]“280. Arnold schreibt von Raabes „Vorliebe für Originale, für sonderbare, schrullenhafte Käuze“281, Engel von allerlei „Käuzen und Käuzinnen“282, Schilling von „Sonderlinge[n]“283, Salzer mehrfach von „drollige[n] Käuze[n]“284, deren äußere Hülle aus „Wunderlichkeit und Schrullenhaftigkeit“285 bestehe. Desgleichen beschreibt Bleibtreu die Figuren bei Raabe als ‚drollige Käuze‘286. Reuschel spricht vorsichtiger von „sonderbare[n] Charaktere[n]“287 sowie Koch von „absonderlichen Charaktere[n]“288. Auch Ettlinger sieht, dass den „Mittelpunkt seiner [scil. Raabes] Erzählungen [..] in der Regel ein Sonderling [bildet]“289 und noch Walzel entdeckt „knorrige Sonder-
272 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 160; desgleichen natürlich Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 649. 273 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 164. 274 Schilling: Deutsche Literatur, 148. 275 Vgl. etwa: Salzer: Illustrierte Geschichte, 1850; Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 271. 276 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417. 277 Ebd. 278 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 256. 279 Ebd., 257. 280 Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 569. 281 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 569. 282 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 231. 283 Schilling: Deutsche Literatur, 148. 284 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1850. 285 Ebd.. 286 Vgl. Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 145. 287 Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 243. 288 Vogt/Koch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 723. 289 Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 492.
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ling[e]“290 bei Raabe. Die Bezeichnung der Figuren als „Originale“ findet sich darüber hinaus bei Lublinski291, bei Heinze292, bei Bartels293, bei Bleibtreu294 und bei Pott295. Hier und da wird zudem die Form als „zuweilen schrullig“296, „bizarr“297 oder „schrullig[] und kraus[]“298 bezeichnet, ja bei König und Bleibtreu ist sogar von „krause[m] Schnörkelwerk[]“299 bzw. „krause[m] Geschnörkel“300 die Rede. All dies wird, wie nicht mehr anders zu erwarten, auch als Beleg für die anderen Aspekte benutzt, so etwa für die Traditionsverortung,301 für das Humoristische (s.o.),302 für die Idyllik (s.u.)303 und das Gemütvolle (s.u.).304 Dass die Form bei Raabe als „bizarr“ oder „schrullig“ bezeichnet wird, hängt mit einem anderen Topos zusammen, der – wenn auch nicht immer wortgleich – in vielen Literaturgeschichten zu finden ist. Es ist die immer wieder betonte Formlosigkeit in der Komposition. Diese Formlosigkeit gereicht Raabe nicht zum Vorteil, wird aber häufiger konstatiert als kritisiert. So erläutert bereits Hoefer im Anschluss an die von ihm aufgezeigte Phantastik, dass sich die Werke aus „aufgereihten Perlen“ zusammensetzten, die aber (was allerdings, wie aus dem Kontext hervorgeht, nicht als Vorwurf gemeint ist) „keine volle zusammenhän-
290 Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 621. 291 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 8. 292 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 256, 258. 293 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 409. 294 Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 145. 295 Pott: Geschichte der Deutschen Literatur, 83. 296 Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 430. 297 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 563. 298 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 962. 299 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 437. 300 Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 145. 301 So etwa bei Macke (Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 569), Bartels (Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 409), Schilling (Schilling: Deutsche Literatur, 148), Reuschel (Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 243), Röhl (Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 271) und Gottschall (Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 566), der ihn allerdings anders als die zuvor genannten nicht in die Tradition Jean Pauls stellt, sondern in die Dickens. 302 Vgl. etwa Pott: Geschichte der Deutschen Literatur, 83. 303 Vgl. etwa Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 145. 304 Vgl. etwa Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 160 und Salzer: Illustrierte Geschichte, 1850.
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gende Schnur“ bildeten.305 Kritisch hingegen beklagt Meyer diese „innere Formlosigkeit“306 und die „störende häufige Eigenart“307 der Komposition. Gottschall bleibt unentschieden, indem er, ohne weiter Stellung zu beziehen, lediglich bemerkt, dass Raabe „in einzelnen, besonders in den historischen Skizzen das Fragmentarische“308 liebe und in einzelnen Erzählungen „fast jeder Faden der Handlung“ fehle. Ähnliches lässt sich auch bei Kirchner beobachten: auch bei ihm wird nicht ganz klar, ob die beschriebene „Fahrigkeit der Komposition“ sowie das „Fragmentarische und Sprunghafte der Darstellung“ als Mangel oder als Vorteil zu werten ist.309 Weitbrecht hingegen lobt das „romantisch formlose“ der Werke,310 während Heinze die „unstät und zerfahren[e] […] Komposition, in der [..] uns in der Regel nur lose aneinandergereihte Bilder des Lebens“ gegeben werden, genauso wie das „ziemlich unklare[] Durcheinander innerlich wie äußerlich zusammenhangloser Begebenheiten“ kritisiert.311 Nach Ansicht Sterns sind es diese „kaleidoskopisch in rasch wechselnden, verschiedenen und doch wieder einander ähnlichen Bildern“ dargestellten „Welt- und Lebenseindrücke“, die den „Überschuß des ‚Stoffs‘ über die ‚Form‘ (beides im Sinne Schillers und Goethes verstanden)“312 nach sich zieht und zu jener ‚leicht und locker‘ gehaltenen Komposition führt, bei der allerdings jede „festere Ineinanderfügung durch allerhand Gerank und Blätterbekleidung“ versteckt wird.313 Deswegen aber, so Stern ergänzend in seiner Überarbeitung der Vilmarschen Literaturgeschichte, erreiche Raabe „eine gewisse Geschlossenheit und das Gleichmaß aller Teile in seinen kleineren Kompositionen viel besser als in seinen größeren humoristischen Romanen“314. Engel hingegen ist der Auffassung, dass auch dieses „Abschweifen und die Einschiebsel“ dazu beitragen, dass Raabe dem Leser „zu einem wertvollen Besitz“ würde.315 Von einigen wird auch in diesem Zusam-
305 Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 371. 306 Meyer: Die deutsche Litteratur, 562. 307 Ebd., 564. 308 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 563. 309 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417. 310 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 77. 311 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 257. 312 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 160. 313 Ebd., 163. 314 Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 651. 315 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 230.
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menhang auf die Tradition verwiesen,316 was die kritischen Untertöne zugleich wieder entschärft, wenn es heißt: „am Aufbau seiner Dichtungen sündigt er sonst nur wie ein Romantiker“317 oder „mit diesem (scil. Jean Paul) teilt er den Mangel der logischen Komposition und das plaudernd Sprunghafte in der Darstellung“318. Ein weiterer in den Literaturgeschichten immer wiederkehrender Topos ist neben dem bereits erwähnten Humorismus Raabes auch der diesen im Besonderen auszeichnende pessimistische bzw. bittere Zug. Bereits Hoefer weist darauf hin, dass die späteren Werke Raabes immer mehr von diesem Zug durchsetzt werden. So heißt es: „der Humor ist immer mehr zum Scherz und Spott geworden, die nicht selten bitter und scharf erscheinen“319. Auch Salomon berichtet, dass sich Raabes „Humor eine so starke Dosis herb-bittern Wermuts beigemischt [habe], dass wir weder frisch noch froh werden“320. Ebenso spricht auch Meyer davon, dass „Raabes Pessimismus […] sich mit den Jahren [verschärft habe]“321, erkennt aber zugleich an anderer Stelle in „Raabes Humor“ den „Kompromiß [..] zwischen Pessimismus und Lebensfreude“ ausgedrückt.322 Doch auch, wenn sich das Urteil, dass Raabes „Bild der Welt“ mit der Zeit „immer düsterer“ geworden sei, noch in der Literaturgeschichte Bartels findet323 und auch Bleibtreu behauptet, dass sich Raabes Pessimismus ‚bitter gebärdet‘ und „das Düstere den barocken Humor“ überwiege,324 wurde hiergegen doch schon früh Einspruch erhoben. So schreibt etwa Weitbrecht explizit, es liege keine Berechtigung dafür vor, „eine steigende pessimistische Bitterkeit“ in Raabes Werken zu finden. Er begründet dies im gleichen Satz damit, dass „die humorvolle Kraft des Gemüts“ (s.u.) dem widerspräche.325 Auch Salzer betont: „Nein, Pessimismus ist das nie und nimmer“.326 Vielmehr erkennt er wie Röhl einen „gewaltigen idealistischen
316 Vgl. etwa Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417; Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 257. 317 Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 271. 318 Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 492. 319 Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 371. 320 Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 514. 321 Meyer: Die deutsche Litteratur, 565. 322 Ebd., 546. 323 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 409. 324 Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 145. 325 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 79. 326 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1849.
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Glauben“327 und sieht in Raabes „leuchtende[m] Humor“ dessen „tragische Weltauffassung einfach um[gekehrt]“328. Und so setzt sich mit der Zeit eine vorsichtigere Qualifizierung dieses angeblichen Pessimismus durch. So erklärt etwa Gottschall: „der sonnenhelle Optimismus der ersteren [scil. Werke], der in alle Winkel des Daseins hineinleuchtet, [wurde] allmählich durch eine Lebensauffassung verdrängt, die auch ihren Bildern tieferen Schlagschatten zu geben nicht versäumt“329. Ebenso entdeckt Wolff in der „Mischung von Humor mit elegischen Tönen“ eine „gelegentliche Bitterkeit“330. Storck schreibt, dass Raabe „nur selten […] bitter“ würde und sich „meist […], ohne komisch zu werden, die goldige Stimmung des zur Ruhe gekommenen Herzens“ bewahre.331 Auch Leixner versichert, dass „nur zuweilen [..] bei ihm [scil. Raabe] etwas Bitterkeit hervor[bräche], ohne aber eine bleibende Stimmung zu werden“332. Stern sieht sich durch „Gemütstiefe“ (s.u.), „Phantasiereichtum“ (s.o.) und „vor allem durch ein goldnes Heimatgefühl für die pessimistischen und herben Stimmungen [entschädigt]“333. Heinze entschuldigt den „Pessimismus des Dichters“ durch das „urdeutsche Gemüt“334 und behauptet, dass er aus „[der]selben Quelle“ wie sein „gemütvoller Humor“ entspringe.335 Reuschel schließlich erläutert, dass bei Raabe „eine noch tiefer begründete humoristische Kraft“ sich „aus pessimistischer Stimmung zu abgeklärter Lebensauffassung durchrang“336 und Raabe nur „eine Zeitlang […] ganz dem Pessimismus verfallen [schien]“, ihn allerdings „überwand“ und „zum Humoristen“ avancierte.337 Auffällig ist in diesem Zusammenhang die immer wiederkehrende Wettermetaphorik. So schreibt Salomon etwa, dass nach dem „kalte[n] trüben Wetter der Sechziger“338 die „Schöpfungen wieder heller und sonniger“339 seien. Busse spricht davon, dass Raabes „Humor […]
327 Ebd.; vgl. auch Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 272. 328 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1849. 329 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 565f. 330 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 234. 331 Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 430. 332 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 961. 333 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 162; analog Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 650. 334 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 256. 335 Ebd., 257. 336 Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 242. 337 Ebd., 243. 338 Salomon: Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 514. 339 Ebd., 515.
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die Tragik nicht [unterbinde und verwische], sondern [..] sie [aufhebe]“340, und führt aus: „Auf einer großen Resignation der Seele baut er sich auf wie ein Regenbogen, aus Leid und Thränen sog er Glanz und Kraft, und dieser Regenbogen […] leuchtet nun versöhnend über der Welt“341. Gottschall entdeckt „in alle[n] Winkel[n] des Daseins“ seiner frühen Werke einen „sonnenhellen Optimismus“342. Weitbrecht betont, dass sich der „lichte warme Schein nicht vertreiben [ließe], der über seiner [scil. Raabes] ganzen Poesie liegt und aus tiefstem deutschen Herzen kommt“343. Und während Heinze von „gewinnendstem Humor durchsonnten Erzählungen“344 schreibt, erklärt Salzer, dass Raabes Humor „mit dem tragischen verwandt [sei], nur daß er auf dem düsteren, grau in grau gemalten Hintergrunde die Lichtwirkung des Regenbogens um so mehr zur Geltung bring[e].“345 Immer wieder war bereits der Vorwurf der „Manieriertheit“ angeklungen. Er wird meist im Zusammenhang mit den späten Werken Raabes genannt, wobei zu beobachten ist, dass in den Literaturgeschichten anfangs dies als wirklicher Makel empfunden wird, mit der Zeit aber in eine bloße Feststellung übergeht. So spricht König von der „Manieriertheit seiner [scil. Raabes] späteren Arbeiten“346 und auch Storck bestätigt, dass Raabe „zeitweilig der Maniriertheit verfiel“347. Meyer will sogar erkennen, dass „mehr und mehr […] diese Manier vom Autor auf seine Figuren über[gehe]“, diese zu „lauter kleinen Raabes“ würden und „in humoristischer Verschwommenheit unter[gingen]“348. Ähnlich, wenn auch ungleich heftiger, kritisiert Heinze unter Bezug auf den Topos der Sonderlinge: In Raabes späteren Veröffentlichungen ist allerdings ein allmähliches Versickern seiner poetischen Gestaltungskraft unverkennbar; seine Lust am %DURFNEL]DUUHQ, Abenteuerlichen, Unglaubwürdigen YHUOHLWHWLKQPHKUXQGPHKU]XPDQLHULHUWHU'DUVWHOOXQJ, die weder durch die ermüdende Breite des Vortrages mit den unausstehlich häufigen Wiederholungen von Raabes Lieblingswendungen, wie solche beispielsweise in den Romanen „Das Odfeld" (1888), „Stopfkuchen" (1891) und „Hastenbeck" (1899) sich vorfinden, noch
340 Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 124. 341 Ebd., 124f. 342 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 565. 343 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 80. 344 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 258. 345 Salzer: Illustrierte Geschichte, 2074. 346 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 437. 347 Storck: Deutsche Litteraturgeschichte, 430. 348 Meyer: Die deutsche Litteratur, 562.
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durch die Kaprize des Dichters, uns seine eigensinnigen Starrköpfe und 6RQGHUOLQJH DOV 0XVWHU GHXWVFKHU *HVLQQXQJVWFKWLJNHLW DXIQ|WLJHQ ]X ZROOHQ JHQLHEDUHU ZLUG. [Kursivierung C.G.]349
Weitbrecht hingegen vermerkt, dass „wie das zuweilen gerade bei originellen Humoristen geschieht, mit der Zeit etwas wie Manier spürbar [würde]“, wodurch allerdings „der lichte warme Schein nicht vertrieben [würde], der über seiner [scil. Raabes] ganzen Poesie liegt und aus tiefstem deutschen Herzen kommt.“350 In allen übrigen Literaturgeschichten, die diesen Topos aufgreifen, hat man den Eindruck, dass er eher als Pflichtübung aufgenommen wird, wenn es heißt: „an die Stelle des Einfachen“ habe Raabe „zuweilen das Gesuchte, die Manier gestellt“351 oder in den „Späterzählungen“ werde „die Manier stärker“352 bzw. zuweilen sei Raabe der Gefahr nicht entgangen, „aus dem erworbenen festen Stil in Manier zu verfallen“353. Ein immer wieder in verschiedensten Variationen im Zusammenhang mit Raabe genanntes Schlüsselwort ist das des „Gemüts“. So schreibt König, ähnlich wie später Pott,354 von der „tiefgemütvolle[n] Auffassung des Kleinlebens“355, Wolff von der „gemüthvolle[n] Betrachtung des Lebens“356, Heinze wie Arnold vom „gemütvolle[n] Humor“357. Analog dazu nennt Lublinski Raabe den „tief gemütvollste[n] Humorist[en]“358, während Stern in ihm den „gemütreichste[n] und liebenswürdigste[n] humoristische[n] Dichter dieser Periode“359 entdeckt. Auch Ettlinger verwendet die Vokabel im Zusamenhang mit dem Humor Raabes, den er als „gemütreich[], über alle romantische Ironie [..] erhebend[]“360 beschreibt. Kirchner spricht, ähnlich wie Stern in der Überarbeitung der Vilmar-
349 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 259. 350 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 80. 351 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 962. 352 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 411. 353 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1850. 354 Vgl. Pott: Geschichte der Deutschen Literatur, 83. 355 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 437. 356 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 234. 357 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 257; Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 569. 358 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 8. 359 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 160. 360 Lindeman/Ettlinger: Geschichte der deutschen Literatur, 492.
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schen Literaturgeschichte, von der „Tiefe des Gemüts“361 im Zusammenhang mit den Raabeschen Werken und Gottschall führt aus, dass er, Raabe, „das Gemüt zu ergreifen weiß“362 und in seiner „Jean Paul’sche[n] Versenkung in eine Kleinmalerei […] das Gemüt voll und ganz aufgeh[e]“363. Weitbrecht lobt wie Salzer die „sichere Innerlichkeit des Gemüts“364. Heinze und Bartels verwenden das Wort im Zusammenhang mit dem Deutschen. So erkennt der eine in den Erzählungen das „tief angelegte urdeutsche Gemüt“365, während der andere die „Werke als Art Kompendium deutschen Gemütslebens“366 bezeichnet. Die Wettermetaphorik auf die politischen Verhältnisse in Deutschland angewendet erklärt darüber hinaus Bleibtreu mit Überleitung auf das Idyll und die Phantastik: „Nach mehr oder minder äußerlich angewehtem Unwetter kann natülrich der optimistische Humor bequem siegen und ein vertiefter Gemütsreichtum sich entfalten.“367 Eine weitere Vokabel, von der es scheint, dass sie, sobald von Raabe die Rede ist, aufgegriffen werden musste, ist die der ‚Idylle‘. Meist wird sie in Zusammenhang mit der Traditionslinie von Jean Paul gestellt oder findet ihre Erwähnung, wenn neben den „drolligen Käuzen“ die Schauplätze genannt werden, an denen die Erzählungen spielen. So schreibt Meyer, Raabe liebe die „alte, enge, idyllische Stadt“368. Stern behauptet, Raabe seien die „Schauplätze, auf denen ruhiges Lebensbehagen und Idylle aller Art gedeihen, […] ans Herz gewachsen“369, König vergleicht die Werke Raabes ausgehend von der „tiefgemütvollen Auffassung des Kleinlebens“ mit den „Idyllen Jean Pauls“370 und ähnlich spricht (sofern Kleinleben und Kleinmalerei, wie oben thematisiert, das Gleiche meinen) auch Heinze von der „idyllische[n], von ergötzlichem Humor erhellte[n] Kleinmalerei“371. Macke, der Raabes „Hauptgebiet“ dort erkennt, „wo die Armut ihre Hütten aufgeschlagen hat“, spezifiziert diese Armut als eine, in die sich „noch
361 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417; vgl. Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 649. 362 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 563. 363 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 566. 364 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 78; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1851. 365 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 256. 366 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 415. 367 Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 145. 368 Meyer: Die deutsche Litteratur, 571. 369 Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 162; vgl. hierzu auch Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 650. 370 König: Deutsche Litteraturgeschichte, 437. 371 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 258.
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ein Idyll hineinzaubern läßt“372 und verweist danach sogleich auf Jean Paul und Dickens. Auch Walzel kategorisiert Raabe als „Nachfahr Jean Pauls“ und spricht in diesem Zusammenhang von einer „stimmungsreiche[n] Versinnlichung idyllischen und weltfernen, äußerlich armen und innerlich reichen Lebens“373. Kein Wunder, dass Bleibtreu einen solchen Gedanken (übrigens als Einziger) despektierlich fasst und von der „Verinnerlichung eines weltabgewandten Idylls“ bei Raabe spricht, zu dem er auch die „drolligen Käuze“ zählt, die „ein Original“ sein wollen.374 Als „innerlich“ beschreibt auch Wolff die Darstellung Raabes, die „vorwiegend auf bescheidenes, idyllisches Glück“ gerichtet bliebe,375 was Gottschall entsprechend der Wettermetaphorik als „heitere[n] Sonnenschein“ erkennt, der auf den „Jugendidyllen“ Raabes ruhe.376 Ohne weitere Erklärung bezeichnet Lublinski Raabe schließlich (ähnlich wie er ihn bereits einen „tiefgemütvollen Humoristen“ genannt hatte) als den „größten Idylliker“377. Das Aufgreifen des Idyllengedankens bei Leixner leitet uns sogleich über zum vorletzten der von uns dargestellten Topoi bei Raabe, dem des ‚Realismus‘. Leixner schreibt: Wenn man an die Vergangenheit anknüpfen will, so zeigt sich eine gewisse Verwandtschaft mit Jean Paul, wie dieser in den humoristischen Idyllen erschein; im allgemeinen aber ist Raabe dem Geist seiner Zeit gemäß realistischer und bestimmter.378
Dieser Gedanke der Anknüpfung an die Vergangenheit und Verbindungverschmelzung mit der Gegenwart in Form des Realismus, wird bereits von Lublinski formuliert. Er schreibt, dass Raabe die „romantischen Schätze mit dem modernen Realismus“379 verschmelze. Auch Kirchner geht auf die „Verwandtschaft mit Jean Paul“ ausführlich ein, schreibt dann aber, dass er sich „von jenem durch derbrealistischen Zug [sic!] [unterscheide]“. Diesen begründet er interessanterweise mit der von anderen in die Traditionslinie Jean Pauls gestellten Figurenoriginalität, in der er allerdings eine „ungeschminkte[] Natürlichkeit“ er-
372 Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 569. 373 Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 621. 374 Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 145. 375 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 423. 376 Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur, 565. 377 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 8. 378 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 962. 379 Lublinski: Litteratur und Gesellschaft, 8
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blickt.380 Im Unterschied dazu heißt es etwa bei Arnold: „Er war Realist, aber er hatte eine Vorliebe für Originale, für sonderbare, schrullenhafte Käuze“381. In Bezug auf die „Sonderlinge“, insbesondere aber die „Örtlichkeiten“, wo seine Geschichten spielen, kommt auch Schilling zu dem Schluss: „Er ist also auch ein Realist zu nennen.“382 Wolff hingegen sieht den „realistischen Stil schon in seinen Meistern“, wo sich die „epische Kleinmalerei unwillkürlich humoristisch färb[e]“383. Überhaupt, so stellt Wolff fest, könnten sich alle Humoristen, selbst bei „aller scheinbaren Phantastik“ (er nennt hier Vischer) „den wesentlichen Anforderungen des Realismus“ nicht entziehen.384 Heinze bezeichnet Raabe als „unbestrittene[n] Meister einer auf das feinste ausgeführten Seelenmalerei, einer realistischen Anschaulichkeit ohne gleichen“, bleibt allerdings die Erklärung schuldig, wo sich diese ‚realistische Anschaulichkeit‘ zeigt.385 Ähnlich auch Röhl, der Raabe als bedeutendsten Vertreter einer losen Gruppe von Schriftstellern sieht, die sich neben ihrem Pessimismus (s.o.) dadurch auszeichneten, dass sie „mit der scharfen Beobachtung der Realisten“ zu gestalten wüssten und so „treffliche Schilderungen“ der Gegenwart schafften.386 Weitbrecht schließlich zählt als einer der ersten Raabe zum Vertreter des „poetischen Realismus“, den (für unsere Gegenüberstellung ein gewisser Treppenwitz) er vor allem in Abgrenzung zur Münchner Gruppe um Heyse definiert.387 Der letzte Topos, von dem Raabes Bild in den Literaturgeschichten nachhaltig geprägt wird, ist der seines ‚Deutschtums‘. Meyer spricht (wie auch nach ihm beispielsweise Engel)388 von „Raabes Vaterlandsliebe“, die keiner „unbedingte[n] blinde[n] Hingabe eines Kleist“ entspräche, sondern eine „stark moralisch gefärbte“ sei.389 Schließlich wird auch das ursprüngliche NationalliteraturKonzept ganz deutlich, wenn es heißt: Was „Edle[], Gute[], Hingebende[] unter den Menschen [sind], das sind für Raabe die Deutschen unter den Völkern der Erde“.390 Auch Busse schreibt, dass Raabes Romane „Zeichen der Volksgesun-
380 Kirchner: Die Deutsche Nationalliteratur, 417. 381 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 569. 382 Schilling: Deutsche Literatur, 148. 383 Wolff: Geschichte der Deutschen Literatur, 233. 384 Ebd. 385 Heinze: Geschichte der Deutschen Literatur, 255. 386 Röhl: Geschichte der deutschen Dichtung, 271. 387 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 5. 388 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 415. 389 Meyer: Die deutsche Litteratur, 566. 390 Ebd.
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dung“ seien und Raabe im Vergleich beispielsweise zu Spielhagen „deutscher, innerlicher, wurzelkräftiger“ sei.391 Raabe schildere „deutsches Wesen und deutsches Leben“392, er zeige die „deutsche innerliche Eigenart“393 und sei ein „Dichter, der die deutsche Volksseele in ihren Eigenarten reich und unmittelbar widerspiegel[e]“394. Seine Werke seien eine „Art Kompendium des deutschen Gemütslebens“395, u.a. deshalb, weil sich hier „echt deutsches Fühlen und reine[r] Herzens-Idealismus in zuweilen schrulliger und krauser Form [entfalte]“396 und weil er „daheim [bliebe] bei den germanischen Stämmen und [..] von ihrem Fühlen und Denken, ihrem Träumen und Sehnen [erzähle]“397. Und so sei er, da sein Wesen „im deutschen Wesen“398 wurzle, auch „seinem Wesen und seiner Seelenschilderung nach einer der tiefsten deutschen Dichter“399, einer der „besten, deutschesten und liebenswürdigsten unserer Erzähler“400, ein „urdeutsche[r] Dichter“401. Engel geht sogar so weit ihn „den deutschesten unserer Dichter [zu] nennen“, da er „kein bloßer Heimatdichter“, sondern „ der Dichter der deutschen Heimat“ sei.402 Mit diesem letzten Topos wären wir am Ende unserer Sammlung der kanonisierten Aussagen über die beiden Autoren in den untersuchten Literaturgeschichten angelangt. Stellen wir im Folgenden davon ausgehend Beobachtungen an und ziehen unsere Schlüsse daraus.
391 Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 124. 392 Vilmar/Macke: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 570; ebenso Stern: Die Deutsche Nationallitteratur, 162 bzw. Vilmar/Stern: Geschichte der Deutschen NationalLiteratur, 651 sowie Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 620. 393 Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 243. 394 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 569. 395 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 415. 396 Leixner: Geschichte der Deutschen Litteratur, 962. 397 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1850. 398 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 410 399 Schilling: Deutsche Literatur, 149. 400 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1850. 401 Scherer/Walzel: Geschichte der deutschen Literatur, 621. 402 Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 415.
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4.3 AUSWERTUNG 4.3.1 Zusammenfassung und Beobachtungen Zunächst fassen wir (auch auf die Gefahr der Redundanz hin) noch einmal unseren bisherigen Weg und die ihn prägenden Grundüberlegungen zusammen. Ausgehend von der Frage, was literarische Kanonisierung bedeutet, haben wir eine Definition vorgenommen (vgl. Kap. 2.4.), um uns anschließend mit dem Phänomen selbst beschäftigen zu können. Die Literaturgeschichte, so sagten wir, ist in dem von uns betrachteten Zeitraum der Ort, an dem sich der Kanon manifestiert und etabliert. Aus diesem Grund zeichneten wir anhand der verschiedenen literarhistorischen Konzepte (schon unter Berücksichtigung jener dafür einschlägigen und deshalb für unsere spätere Untersuchung ausgewählten Literaturgeschichten) die Geschichte der Kanonisierung nach, wobei unser Augenmerk vor allem auf den angegebenen Kanonisierungsweisen oder besser gesagt auf der von den jeweiligen Konzepten geprägten Perspektive lag, unter der Kanonisierung vorgenommen wurde. Sodann nahmen wir die konkrete Kanonisierung zweier Autoren innerhalb dieser Kanonisierungsprozesse in den Blick: nämlich Paul Heyse und Wilhelm Raabe. Das Vorkommen dieser Autoren in fast (s.u.) allen von uns ausgewählten Literaturgeschichten bestätigte ganz nebenbei unsere zuvor nur auf kanonisiertem literarhistorischem Vorwissen basierende Annahme, dass sie sich in dem damaligen Kanon befinden würden. Über diese Tatsache hinaus interessierte uns natürlich das Wie dieser Kanonisierung, um von dort aus Schlüsse auf die Mechanismen der Kanonisierungsprozesse zu ziehen, vor allem in Bezug auf den Aufstieg und die uns (wiederum durch unser literarhistorisches (Vor-)Wissen) bekannte Halbwertszeit innerhalb des Kanons. Wir haben aus diesem Grund alle Aussagen über die Autoren in den Literaturgeschichten gesammelt und einer vergleichenden Betrachtung unterzogen. Dabei stießen wir wiederum auf eine Kanonisierung. Fast alle Passagen wiesen eine starke Ähnlichkeit zueinander auf. Beinahe überall und bis in wörtliche Übereinstimmung hinein fanden sich die gleichen Aspekte – so, dass sich die Beiträge zu diesen Autoren auf im Falle Heyses zehn, im Falle Raabes auf elf immer wiederkehrende Topoi reduzieren ließen, die wir im Einzelnen aufzählten.403 Im Großen und Ganzen unterschieden sich diese Passagen nur teilweise in Bezug auf die Wer-
403 Daneben gab es – dies sei hier noch einmal erwähnt – sehr vereinzelt noch Aspekte, die in Bezug auf das Große ohne weiteres vernachlässigt werden konnten.
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tung, die allmählich verfestigte, sehr oft in Bezug auf die Kombinatorik der Topoi voneinander. Es gibt also (zu diesem Schluss dürfen wir hier schon gelangen): eine Kanonisierung innerhalb der Kanonisierung. Dass diese Kanonisierung vor der eigentlichen Kanonisierung liegt, legt folgende Beobachtung nahe: Der nur um ein Jahr jüngere Wilhelm Raabe gelangt und etabliert sich (vermutlich auch aufgrund seiner um einige Jahre versetzen Produktivität)404 erst ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in den Literaturgeschichten. So erklärt sich, dass er in der von Hillenbrand und Hirsch noch gar nicht erwähnt wird. Bei Hoefer dagegen tritt er bereits in Erscheinung und, da er hier bereits mit etwa der Hälfte, mit fünf der elf Topoi dargestellt wird, liegt die Vermutung nahe, (sofern man nicht davon ausgeht, dass alle bei ihm abgeschrieben haben) dass diese bereits irgendwo (hierauf wird noch einzugehen sein) vorgeprägt waren. Für uns ist dieser Fall natürlich auch deshalb interessant, weil wir an ihm den Aufstieg eines Autors in den Kanon beobachten können. Aufstieg bzw. Abstieg lassen sich nur am Nichtvorhandensein bzw. am Vorhandensein erkennen bzw. innerhalb des Vorhandenseins an der Ausführlichkeit bzw. am Stellenwert, der dem Autor eingeräumt wird. Hier zeigt sich, dass Raabe sich erst mit der Jahrhundertwende fest etabliert, da zuletzt Koch und Storck ihm noch nicht den Raum einräumen, den er bereits in anderen Literaturgeschichten einnimmt. Bestätigt wird dies auch mit sich ab diesem Zeitpunkt abzeichnenden Übereinstimmungen in der Wertigkeit der Topoi (s.o.). An der zuvor herrschenden Unstimmigkeit lässt sich darüber hinaus erkennen, dass die vorhandenen Topoi zwar immer aufgegriffen, aber einmal so und einmal so ausgelegt werden können. Der Topos selbst hingegen bleibt unverändert und unhinterfragbar. Das liegt aber auch an den Topoi selbst: die meisten nämlich sind Axiome, die gar nicht hinterfragt werden bzw. hinterfragt werden können. Wenn sie argumentativ erläutert werden, dann (auch hierauf wurde schon hingewiesen) geschieht dies fast ausschließlich, indem sie durch einen anderen bzw. durch andere Topoi (in unterschiedlicher Kombinatorik) erklärt werden. Häufig kann dies auch mit einer Relativierung oder Intensivierung des Urteils/der Wertigkeit einhergehen (s.o.). Hierzu noch ein Beispiel: Die Raabe nicht gerade zum Vorteil gereichende Aussage, er neige zu einer Manier, wird bei Weitbrecht mit dem Urteil, Raabe sei Humorist erklärt und mit dem Topos seines Deutschtums relativiert: So schreibt Weitbrecht, dass mit der Zeit bei Raabe „wie das zuweilen gerade bei originellen Humoristen geschieht, […] etwas wie Manier spürbar [würde]“, dass sich dadurch jedoch „der lichte
404 Wilhelm Raabe trat 1857 mit seiner „Chronik der Sperlingsgasse“ erstmals als Schriftsteller in Erscheinung, Heyse fast zehn Jahre früher unter der Protektion Emanuel Geibels.
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warme Schein nicht vertreiben [ließe]“ (hier noch ein Anschluss an die erwähnte Wettermetaphorik, s.o.), der „über seiner ganzen Poesie liegt und aus tiefstem deutschen Herzen kommt [Kursivierung C.G.]“405. Ähnliche Beispiele – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen – sahen und finden wir auch bei Heyse. Vor allem die auf den ersten Blick scheinbar positiven Urteile werden hier, wie erwähnt, nahezu jedes Mal unterlaufen. Überhaupt lässt sich bei Heyse feststellen, dass er im Grunde schon negativ kanonisiert wurde. Keiner der Topoi gereicht ihm nämlich wirklich zum Vorteil. Man könnte sogar so weit gehen und ausgehend von seiner späteren ‚Dekanonisierung‘ überspitzt formulieren, dass Heyse bereits ‚dekanonisiert‘ kanonisiert wurde, da er eigentlich in den Kanon nach bisheriger Definition als Auswahl von Autoren und Werken, die als die vollkommensten anerkannt und mit Argumenten verteidigt werden,406 nie wirklich und wenn überhaupt nur in den Randkanon407 Eingang gefunden hat. Denn wohl niemand wird ernstlich behaupten können, dass ein Autor, von dem beispielsweise gesagt wird, er besitze keinerlei dramatisches Talent oder er sei zwar formvollendet und sprachgewandt, aber seine Werke hätten etwas Künstliches an sich und es fehle ihnen an Frische und Leben, trotz ausführlicher Behandlung zum Kernbestand der Literatur gezählt wird, dass er im kollektiven Gedächtnis Wurzeln schlagen kann, geschweige denn, dass ihn irgendjemand aufgrund einer solchen Empfehlung liest bzw. imstande ist gegen solche Argumente zu verteidigen. Natürlich kann man sich fragen, warum dann ein solcher Autor überhaupt Eingang in die Literaturgeschichte seiner Zeit findet und dort in dieser Ausführlichkeit behandelt wird. Hier lassen sich nur Vermutungen anstellen: eine sehr naheliegende und wahrscheinliche408 (auf eine weitere, diese nicht ausschließende, werden wir zu gegebener Zeit zu sprechen kommen) ist, dass er im literarischen Leben seiner Zeit eine zu wichtige Rolle ge-
405 Weitbrecht: Deutsche Litteraturgeschichte, 80. 406 Vgl. Heydebrand, Probleme, 5. 407 Der Randkanon bezeichnet eine „stabilere Kernzone“, in die Autoren und Werke Eingang finden, „die entweder nur kurze Zeit, etwa aufgrund literarischer Moden und aktueller Vorlieben, zum Kanon gehören […] oder im literarischen Kanongefüge einen schwachen Kanonisierungsgrad haben“ (Korte: Kleines Kanonglossar, 35). 408 Zumal sie auch die Verleihung des Literaturnobelpreises an Heyse mitbegründete: vgl. die Rede des Sekretärs der Schwedischen Akademie Carl David af Wirsén: Laudatio zur Verleihung des Literaturnobelpreises von 1910. In: Paul Heyse: Italienische Novellen. Lachen am Zürichsee 1993, 39 (vgl. hierzu auch: Koebe: Die Paul-Heyse-Rezeption, 223ff.).
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spielt hat, als dass man ihn unbeachtet lassen konnte.409 Tatsächlich stand er – wie Fontane es in einem Brief 1890 an Heyse ausdrückte – „dreißig Jahre lang an der Tete“, weshalb er – so vermutet auch der um neun Jahre jüngere Schriftstellerkollege – „durch keinen Radaubruder aus der Literaturgeschichte gestrichen werden [kann]“410. Begründet werden kann diese Stellung in der literarischen Öffentlichkeit411 zum einen natürlich durch seine von Geibel initiierte Berufung an den Hof Maximilians II., die fraglos einer Adelung seiner schriftstellerischen Arbeit gleichkam.412 Zum anderen war er sowohl anfangs in Berlin als auch später in München durch literarische Vereine und seine eigene Schriftstellerei, die ihn in Kontakt mit den Redaktionen verschiedenster Zeitschriften und Zeitungen brachte, mit Herausgebern und Schriftstellern eng verbunden. Des Weiteren bildetet er selbst durch seine eigenen Herausgeberprojekte (wie etwa den „Novellenschatz“)413 und seine geistigen Schüler einen entscheidenden Kno-
409 Auch wenn inzwischen eine andere Kanonverbindlichkeit der Literaturgeschichten vorherrscht, können wir ihn vielleicht – um uns ein gegenwärtiges Beispiel vorzustellen – in unserer Zeit mit einem ebenfalls mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Autor wie Heinrich Böll vergleichen. 410 Erich Petzet (Hg.): Der Briefwechsel von Theodor Fontane und Paul Heyse. Berlin 1929, 204 [9.3. 1890]; zitiert auch bei: Ian: Die zeitgenössische Kritik an Paul Heyse, 6. 411 Vgl. hierzu auch die einleitenden Überlegungen in: Koebe: Die Paul-Heyse-Rezeption, 15ff. 412 Dass sie als solche in der Zeit wahrgenommen wurde, zeigt ein Artikel aus dem Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes, in dem es heißt: „Im Laufe weniger Jahre ist aus einem vagen, tadelsüchtigen Interesse eine öffentliche Anerkennung geworden, und die Berufung des noch jungen Dichters in die Nähe des Münchener Hofes, hat dieser Anerkennung den schlagenden Ausdruck gegeben. Es kann sich das Auge eines kunstsinnigen Fürsten, wenn er Umschau im deutschen Lande hält, unmöglich auf das Kleine und Unbedeutende richten und der Umstand, von ihm bemerkt zu sein, beweist gleichzeitig, daß man des Bemerktwerdens würdig war.“ (Anonym: Hermen. Dichtungen von Paul Heyse. In: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes 1(1854) 24, 93-95, 93). 413 Sehr gut kann man dies neben seinen Korrespondenzen (vgl. hierzu auch Ian: Die zeitgenössische Kritik an Paul Heyse, 37ff.) beispielsweise an einem Einzelbeispiel wie das des Literarhistorikers Eduard Engel sehen: dieser sucht mit dem Hintergedanken an eine Veröffentlichung für sein eigenes schriftstellerisches Werk immer wieder Rat bei Heyse, der dessen Novellen trotz immer wieder zugestandenem Lob jedoch nicht in seine Sammlung aufnimmt (vgl. ausführlich Sauter: Eduard Engel, 63ff.), was übrigens umgekehrt (dies kann man an den verschiedenen Auflagen nachprüfen) zu keiner nennenswerten Veränderung in der literargeschichtlichen Rezeption führt. Was dafür sprechen könnte, dass die
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tenpunkt innerhalb der literarischen Netzwerke seiner Zeit. Dies führte auch dazu, dass er zur Zielscheibe (etwa der Naturalisten)414 wurde. Zusätzlich sorgten forcierte Veröffentlichungen, die selbstverständlich den Netzwerken geschuldet waren,415 für seine permanente Präsenz innerhalb der Massenmedien, was ihm eine große Popularität einbrachte.416 4.3.2 Heyses weiterer Verbleib im literaturgeschichtlichen Kanon/Evaluation der Beobachtungen Tatsächlich wird Heyse nach seinem Tod immer weiter aus den Literaturgeschichten gedrängt. Wagen wir bereits an dieser Stelle unter Berücksichtigung von 43 weiteren Literaturgeschichten einen Ausblick auf seine literaturgeschichtliche Entwicklung bis 1948: Bereits wenige Jahre nach seinem Tod, in den Literaturgeschichten der 1920er Jahre, in denen übrigens auch die letzte Gesamtausgabe der Heyseschen Werke erscheint,417 ist es nicht mehr wie zu seinen Lebzeiten selbstverständlich,
Topoi über den persönlichen Interessen des Literarhistorikers stehen. Bestätigt würde dies auch dadurch, dass Engel Heyses Erzählwerk in den Briefen höher lobt als er es in den Literaturgeschichten schließlich ansetzt (vgl. hierzu die Briefäußerungen bei Sauter: Eduard Engel, 63ff.). 414 Vgl. Koebe: Die Paul-Heyse-Rezeption, 159ff. 415 Vgl. Günter Butzer, Manuela Günter, Renate von Heydebrand: Strategien zur Kanonisierung des ‚Realismus‘ am Beispiel der Deutschen Rundschau. Zum Problem der Integration österreichischer und schweizer Autoren in die deutsche Nationalliteratur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (1999) 1, 55-81, 61f. 416 Wie groß Heyses Popularität war, wird einem beispielsweise klar, wenn man die Berichterstattung anlässlich der Geburtstage Heyses in den Tageszeitungen liest. Hier wird (ähnlich wie bei einem heutigen Medienstar in der Bildzeitung) berichtet, wie Heyse seinen Geburtstag verlebt hat vgl. etwa die Anonym veröffentlichten Artikel im Berliner BörsenCourier, 21.3. 1900 oder in der Neuen Freien Presse (Wien) am 15.3. 1900 (vgl. hierzu auch Koebe: Die Paul-Heyse-Rezeption, 202ff.). 417 Und zwar in der Cottaschen Buchhandlung Nachfolger Verlagsanstalt Hermann Klemm in drei Reihen zu je fünf Bänden mit einem „Lebensbild“ herausgegeben von Erich Petzet. Petzet kannte Heyse noch persönlich. Er vertrat ihn nach 1912 im Verwaltungsrat der Deutschen Schillerstifung in Weimar und gab nach dessen Tod auch sämtliche Briefwechsel Heyses heraus (vgl. Bernhard Ebneth: s.v. „Petzet, Erich“. In: König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon, Bd. 2, 1393-1394, 1393).
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dass ihm über mehrere Seiten Platz eingeräumt wird. Karl Borinski418, Friedrich Kummer419 und Paul Wiegler420 bilden mit ihrer mehrseitigen Porträtierung eindeutig die Ausnahme, wobei ersterer – wie an seiner nur auf wenige Topoi zurückgreifenden (und diesen z.T. differenziert und kenntnisreich widersprechenden) ausgefeilten Argumentation deutlich wird – ein echter Kenner des Heyseschen Werkes zu sein scheint. Dagegen greift Wiegler vor allem auf das Bekannte zurück und füllt die Seiten mit unkommentierten Inhaltsangaben. Doch bereits Oehlke widmet Heyse 1919 in seiner Geschichte der Deutschen Literatur nur noch einen etwa halbseitigen Abschnitt.421 Und auch bei Max Wedel in der Überarbeitung der Kurzschen Literaturgeschichte422 und bei Friedrich Kainz in seiner Geschichte der deutschen Literatur findet sich nur wenig mehr zu Heyse.423 Oswald Floeck gar erwähnt Heyse nur noch hier und da, widmet ihm jedoch nicht einmal mehr einen eigenen Abschnitt.424 Thomas Lenschau erwähnt ihn lediglich in einer einzigen Nebenbemerkung425 und auch bei Kleinberg,426 Stammler427 und Knuffert428 sowie in der von Max Wieser erweiterten Neuaufla-
418 Karl Borinski: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1921, 476ff. 419 Friedrich Kummer: Deutsche Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Nach Generationen dargestellt. Dresden 1922, Bd 2.: Von Hebbel bis zu den Frühexpressionisten, 27ff. 420 Paul Wiegler: Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1930, Zweiter Band: Von der Romantik zur Gegenwart, 569ff. 421 Vgl. Waldemar Oehlke: Geschichte der deutschen Literatur. Bielefeld/Leipzig 1919, 347f. 422 Vgl. Heinrich Kurz: Deutsche Literaturgeschichte. Neu bearbeitet und bis in die Gegenwart fortgeführt von Dr. Max Wedel. Berlin 1927, 710. 423 Vgl. Friedrich Kainz: Geschichte der deutschen Literatur. Dritter Band: Von Goethes Tod bis zur Gegenwart. Berlin und Leipzig 1928, 54f. 424 Vgl. Oswald Floeck: Die Deutsche Dichtung der Gegenwart. Von 1870 bis 1926. Karlsruhe und Leipzig 1926, 15, 22, 27, 43, 60, 71, 205. 425 Vgl. Thomas Lenschau: Geschichte der deutschen Dichtung. Bielefeld und Leipzig 1926, 170. 426 Vgl. Alfred Kleinberg: Die Deutsche Dichtung. In ihren sozialen, Zeit- und Geistesgeschichtlichen Bedingungen. Eine Skizze. Berlin 1927, 316, 345, 366. 427 Vgl. Wolfgang Stammler: Deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Breslau ²1927, 10. 428 Vgl. Rudolf Knuffert: Hundert Jahre deutscher Dichtung. Eine Literaturbetrachtung. Stuttgart 1928, 34, 37, 80, 109, 117, 122, 142f., 157.
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ge der Mahrholzschen Literaturgeschichte der Gegenwart429 wird Heyse lediglich gestreift, woraus man immerhin den Rückschluss ziehen könnte, dass zumindest der Name (insbesondere, da er nicht ausführlicher kommentiert wird) hier noch weiterhin im Gedächtnis der Leser als präsent vorausgesetzt wird. Ab den 1930er Jahren dann finden sich die ersten Literaturgeschichten, die Heyse gar nicht mehr erwähnen, so etwa die Johannes Mumbauers,430 Paul Adams,431 Josef Prestels,432 Johannes Beers,433 Hellmuth Langenbuchers434 und in der Folge auch die Hermann Harders,435 Wilhelm Vogelpohls436 und Herbert Cysarz.437 Nicht mehr als ein Name in Aufzählungen ist Heyse zuvor schon bei Paul Hankamer438 und in der von Johann Peter Steffes herausgegebenen Literaturgeschichte Vom Naturalismus zur neuen Sachlichkeit.439 In dem von Hermann August Korff und Walther Linden 1930 herausgegebenen Aufriß der deutschen Literaturgeschichte heißt es lediglich in dem von Linden verfassten Abschnitt über Das Zeitalter des Realismus (1830-1885), dass „[a]uf manche Teilerscheinung dieser Zeit nur verwiesen werden kann“, worunter dann die „Formkunst der Münchner Schule“ und in Klammern dahinter mit einer Nebenbemerkung Paul Heyse aufgezählt wird.440
429 Vgl. Werner Mahrholz/Max Wieser: Deutsche Literatur der Gegenwart. Probleme, Ergebnisse, Gestalten. Berlin 1930, 30, 64, 66. 430 Johannes Mumbauer: Die deutsche Dichtung der neuesten Zeit. Freiburg im Breisgau 1931. Im Gegensatz zu ihrem Titel greift die Literaturgeschichte übrigens bis in die Aufklärung zurück. 431 Paul Adam: Vom Germanentum zum Dritten Reich. Führer durch deutsche Dichtung. Leipzig 1933. 432 Josef Prestel: Deutsche Literaturkunde. Erbgut und Erfüllung, Freiburg im Breisgau 1935. 433 Johannes Beer: Deutsche Dichtung seit hundert Jahren. Stuttgart 1937. 434 Hellmuth Langenbucher: Deutsche Dichtung in Vergangenheit und Gegenwart. Eine Einführung mit ausgewählten Textproben. Berlin 1937. 435 Hermann Harder: Das germanische Erbe in der deutschen Dichtung. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. Ein Überblick. Potsdam 1939. 436 Wilhelm Vogelpohl: Deutsche Dichter. Ihr Leben und Schaffen. Leipzig und Berlin 1940. 437 Herbert Cysarz: Das Deutsche Schicksal im Deutschen Schrifttum. Ein Jahrtausend Geisteskampf um Volk und Reich. Leipzig 1942. 438 Paul Hankamer Deutsche Literaturgeschichte. Bonn 1930, 277. 439 J. P. Steffes (Hg.): Vom Naturalismus zur neuen Sachlichkeit. Münster 1932, 25 440 W. Linden: Das Zeitalter des Realismus (1839-1885). In: H. A. Korff/W. Linden (Hgg.): Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten. Berlin 1930, 167191, 185.
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Dass dieses allmähliche Verschwinden Heyses aus den Literaturgeschichten (insbesondere der 1930er Jahre) mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus und schließlich dem nationalsozialistischen Antisemitismus in Verbindung gebracht werden muss, kann zwar nicht ausgeschlossen werden. Es ist aber weniger wahrscheinlich, da Heyses jüdische Herkunft441 kaum Erwähnung findet.442 Lediglich Linden nennt Heyse in seiner Geschichte der deutschen Literatur einen „Berliner Halbjuden“443 und Paul Fechter spricht davon, dass Heyse „dieselbe Blutmischung wie Hans von Marées und Adolf von Hildebrand“444 gehabt hätte. Aber auch hier und da wurde vorher schon einmal auf die jüdische Herkunft der Mutter hingewiesen445 und diese Bemerkungen nehmen sich, sofern sie als Diffamierung zu verstehen sind, vergleichsweise harmloser und vor allem zielloser aus als etwa die Bleibtreus, der in seiner Hetze gegen Heyse schrieb, dass man „diesen literarischen Streber [scil. Heyse] kaum richtig begreifen [könne], wenn man nicht eine rabbinerhafte Spitzfindigkeit als mütterliches Erbteil in ihm auskundete“.446 Neben Bleibtreu hatte zuvor nur Bartels die jüdische Familienherkunft Heyses explizit herausgestellt. Überraschenderweise äußerte sich der sonst für seinen Antisemitismus bekannte Bartels (wenn auch vollkommen
441 Seine Mutter stammte aus einer zum Christentum konvertierten jüdischen Familie. 442 Insgesamt stellt Heyse jedoch einen interessanten Fall dar. Der berühmte Mythos, dass Heines Loreley unter unbekannter Verfasserschaft im Dritten Reich veröffentlich wurde, ist erst kürzlich von Anja Oesterhelt widerlegt worden (vgl. Anja Oesterhelt: „Verfasser unbekannt“? Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines „Loreley“. In: Stephan Pabst (Hg): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. New York 2011, 325-357). Heyse könnte aber als Beispiel eines ähnlichen Falles dienen: Pünktlich zum 12. Jahrestag der Machtübernahme präsentierte der Regisseur Veit Harlan den letzten großen Propagandafilm Kolberg mit Heinrich George in der Hauptrolle. Dieser Film basiert in weiten Teilen auf dem gleichnamigen Theaterstück Paul Heyses. Paul Heyse jedoch wird im Vorspann an keiner Stelle erwähnt. Stattdessen heißt es im Vorspann nach der Titelanzeige: „Dieser Film wurde im Jahre 1942 geschrieben und begonnen. Seine Handlung beruht auf geschichtlichen Tatsachen.“ Sodann wird auf der nächsten Vorspannseite angezeigt: „Buch: Veit Harlan und Alfred Braun“ (vgl. http://archive.org/details/KolbergDerDurchhaltefilm . Stand: 12.10.2012). 443 Walther Linden: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig 1937, 399. 444 Paul Fechter: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1941, 614. 445 Vgl. etwa Salzer: Illustrierte Geschichte, 1896. 446 Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 131f.
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seiner – für uns nicht nachvollziehbaren – rassischen Ideologie verhaftet) erstaunlich „positiv“, als er in der fünften und sechsten Auflage seiner 1909 herausgegebenen Geschichte der deutschen Literatur schrieb: [D]as berührt bei Heyse sehr sympathisch, daß er sein Halb-judentum im Zeitalter des Antisemitismus niemals verleugnet hat, ja, in seinen Bekenntnissen seine jüdische Verwandtschaft mit höchst charakteristischen Strichen zeichnet. Und in der Tat verdankt er wohl auch der jüdischen Blutsmischung mancherlei, gehört zu den glücklichen Rassekreuzungen ersten Grades, denen die ästhetischen Talente in Fülle zuwachsen, mag es auch auf Kosten der elementaren Kraft, die an das reine Blut gebannt scheint, geschehen. [sic!]447
Lediglich als es um einen Standpunkt Hebbels geht, heißt es: „Heyse hat denn auch — da war ihm freilich auch der Halbjude im Wege — Hebbel nie verstehen können.“448 Nun könnte man annehmen, dass Bartels in späteren Auflagen gestützt durch das Aufkommen des Nationalsozialismus – wie dies in anderen Fällen zu beobachten ist – seine Position gegenüber Heyse verschärft hätte. Doch bleibt dieser Verweis auf Heyses Judentum bei Bartels singulär, was allerdings auch daran liegt, dass Heyse (dies stützt unsere These) nach seinem Tod allmählich aus Bartels Literaturgeschichte verschwindet. Die „Große Ausgabe“ von 1924, an der er auch die späteren „Kleinen Ausgaben“ ausrichtet, widmet Heyse keinen eigenen Abschnitt mehr.449 Auch hier wird Heyse mehr und mehr marginalisiert, ist kaum mehr als ein aufgezählter Name, wobei ihm an keiner Stelle wie von Linden ein rassistisches Epitheton gegeben wird. Umgekehrt zeigt die Tatsache, dass die Literaturgeschichte Josef Nadlers 1938 Heyse einen immerhin mehr als eine Seite umfassenden Abschnitt widmet, dass Heyse nicht aufgrund ideologischer Ressentiments langsam aus dem Kanon verschwand. Lenken wir unseren Blick nun auf die Darstellung Heyses in diesen späteren Literaturgeschichten, so können wir deutlich erkennen (wie wir es mit umgekehrten Vorzeichen auch beim Aufstieg Raabes in den Kanon beobachten konnten), dass die von uns aus den zuvor untersuchten Literaturgeschichten herausgearbeiteten Topoi immer noch das tragende Gerüst der Porträtierung bilden:
447 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 622. 448 Ebd., 438. 449 Vgl. Adolf Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur. Große Ausgabe in drei Bänden. Leipzig 1924, Zweiter Band: Die neuere Zeit, 281, 604, 635, 740f. 779f.
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Selbstverständlich gibt es im Lauf dieser Zeit leichte Verschiebungen. So wird beispielsweise seltener von Heyses ‚Meisterschaft‘ in der Gattung der Novelle gesprochen, dennoch wie zuvor die Novellistik als seine Hauptgattung akzentuiert450 und er als „stärkstes Erzähltalent“451 (allerdings rein novellistisches Erzähltalent) oder „der Novellist“452 der Münchner Gruppe bezeichnet. Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass seine Novellistik nun häufiger in einem Atemzug mit Storm und Keller genannt bzw. (mit den üblichen Topoi) von ihnen abgegrenzt wird.453 Hinzu kommt hierbei ein neuer Topos bzw. eine nur selten in den früheren Literaturgeschichten zu findende Erwähnung:454 nämlich die Nennung (sogar mit Erläuterung) der sog. „Falkentheorie“, die Heyse im Vorwort des „Deutschen Novellenschatzes“ entwickelt hat.455 Dass diese Nennung nun in die literaturgeschichtliche Porträtierung Heyses Eingang findet, scheint m.E. aus keiner Neubeschäftigung mit Heyse hervorgegangen zu sein. Vielmehr ist davon auszugehen, dass diese Erwähnung der in dieser Zeit stattfindenden Aufwertung und gleichzeitigen literaturgeschichtlichen Kanonisierung der Gattung geschuldet ist.456 Ähnlich steht der Fall bei einem weiteren, neu hinzukommenden Topos: der Naturalismusanfeindung bzw. –auseinandersetzung. Erwähnt wurde zwar dies auch in wenigen Literaturgeschichten zuvor,457 doch keineswegs ka-
450 Die Betitelung als „Meister der Novelle“ ist keiner zeitlichen Entwicklung unterworfen. So sprechen etwa Paul Wiegler und Arthur Eloesser noch so von ihm (vgl. Wiegler: Geschichte der deutschen Literatur, II., 570; Eloesser: Die deutsche Literatur, 252), während fast zeitgleich von Kainz, Walzel oder Brand ohne dieses Wort doch mit dem gleichen Impetus die Novellistik herausgestellt wird (vgl. Kainz: Geschichte der deutschen Literatur, 55; Walzel: Die deutsche Literatur, 43; Brand: Werden und Wandlung, 189). 451 Walther Klöpzig: Geschichte der deutschen Literatur. Nach Entwicklungsperioden. Leipzig 1933, 152. 452 Borinski: Geschichte der deutschen Literatur, 78. 453 Vgl. etwa Kaulfuß-Diesch: Deutsche Dichtung, 282; Bieber: Der Kampf um die Tradition, 507; Knuffert: Hundert Jahre deutsche Dichtung, 142f.; Walzel: Die deutsche Literatur, 43; Walzel: Deutsche Dichtung, 173f.; Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, 615. 454 Vgl. etwa Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 76, 203; Salzer: Illustrierte Geschichte, 1898; Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-Literatur, 132. 455 Vgl. Paul Heyse: Einleitung. In: Ders./Hermann Kurz (Hgg.): Deutscher Novellenschatz. Bd.1. München [1871], V-XXII. 456 Dies legen auch die Ausführungen Sascha Kiefers nahe; vgl. Sascha Kiefer: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Eine Gattungsgeschichte. Köln 2010, 61ff. 457 Vgl. etwa Meyer: Die deutsche Litteratur, 605; Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 533 sowie selbstverständlich bei Bleibtreu: Geschichte der Deutschen National-
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nonprägend wie jetzt.458 Nun nämlich avanciert diese Auseinandersetzung zum festen Bestandteil des Heyse-Bildes.459 In vier der untersuchten Literaturgeschichten ist sie sogar das einzige, was Heyse erwähnenswert macht.460 Diese Petrifizierung zum Topos scheint aber ebenfalls nichts mit Heyse selbst zu tun zu haben, sondern wiederum mit einer anderen literarhistorischen Kanonisierung und Aufwertung – nämlich der des Naturalismus als Epoche. Ob dies seinerseits wiederum dazu beigetragen hat, dass die ‚Teilerscheinung‘ (s.o.) der Literatur, zu der Heyse gezählt wird, herausfällt, muss offen bleiben.461 Zumindest deutet sich eine deutliche Oppositionierung zu ungunsten der Gruppe um Heyse an. So heißt es z.B., dass die Heyseschen Werke „dem jungen wirklichkeitshungrigen Geschlecht nichts [zu] geben“ vermochten, da sich das „Lebensgefühl nach 1870“ wesentlich verändert hätte.462 In diesem Zusammenhang ist auch eine teilweise Rückung Heyses bzw. der Münchner Gruppe in die klassische Tradition als deren „erst[e], berufene Wahrer und Fortbildner“463, von Zeit zu Zeit
Literatur, 133. – Meist wird diese Erwähnung an die Nennung des Romans Merlin geknüpft, den Heyse tatsächlich als Abrechnung mit den Naturalisten geschrieben hatte, der aber in diesen späteren Literaturgeschichten keine Rolle spielt. 458 Zu beobachten ist das etwa an dem Vergleich der Walzleschen Literaturgeschichten, der die neuen Topoi in den Mittelpunkt seiner Literaturgeschichte von 1932 rückt, während die zuvor behandelten in das Kleingedruckte geraten (vgl. Walzel: Deutsche Dichtung, II, 173). 459 Oehlke: Geschichte der deutschen Literatur, 347; Kaulfuß-Diesch: Deutsche Dichtung im Strome deutschen Lebens, 282; Kummer: Deutsche Literaturgeschichte, 29; Riemann: Von Goethe zum Expressionismus, 288f.; Floeck: Die deutsche Dichtung der Gegenwart, 27; Kurz/Wedel: Deutsche Literaturgeschichte, 710; Mahrholz/Wieser: Deutsche Literatur, 66; Wiegler: Geschichte der deutschen Literatur, 569f.; Eloesser: Die deutsche Literatur, 254; Walzel: Deutsche Dichtung, 175; Brand: Werden und Wandlung, 27; Nadler: Literaturgeschichte des Deutschen Volkes, 604; Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, 614. 460 Kleinberg: Die Deutsche Dichtung, 365f.; Wolfgang Stammler: Deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Breslau ²1927, 10; Hankamer Deutsche Literaturgeschichte, 277; J.P. Steffes herausgegebene Literaturgeschichte: Vom Naturalismus zur neuen Sachlichkeit, 25. 461 Es spräche ja auch einiges dafür, dass die Gegenströmung zur Demarkation der Definition benötigt wird und bestehen bleibt. 462 Stammler: Deutsche Literatur, 10. 463 Hankamer Deutsche Literaturgeschichte, 277; ein weiteres Beispiel bildet die Überschrift: „Formkünstler und Klassizist“ bei Riemann: Von Goethe zum Exporessionismus, 287.
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Heyses in die (nachahmende) Nachfolge Goethes464 und damit ins Epigonentum zu beobachten.465 Heyse wird nun – vermutlich ebenfalls damit in Zusammenhang stehend – häufiger auch als Hauptrepräsentant des Münchner Kreises bzw. „Führer der jüngeren Münchner Dichter“466 in den Literaturgeschichten geführt, was den Stellenwert Geibels (auch wenn er durch die im Wort „jüngere“ mitschwingende Unterscheidung der Generationen in keiner Weise angegriffen wird) schmälert, da er nicht mehr wie zuvor den eigentlichen Bezugspunkt bildet.467 Diese Verschiebung setzt sich auch dahingehend durch, dass die Topoi, die früher ausschließlich bei Heyse zu finden waren, nun immer wieder auf die gesamte Münchner Dichtergruppe übertragen werden.468 Für uns interessant ist darüber hinaus, dass sich in den dreißiger Jahren immer wieder auch eine (wenn auch nicht topisch werdende) Bemerkung findet, die das Grundgerüst auch unserer Arbeit bildet: nämlich die Aussage, dass Heyse in Vergessenheit gerät oder bereits geraten ist. Neben Bemerkungen wie etwa die Petings, dass es Heyse versagt geblieben wäre „Werke, die Unsterblichkeit atmen [zu schaffen]“469, findet sich dies deutlicher ausgesprochen beispielsweise bei Brand bzw. Viëtor. Sie schreiben, dass Heyses „Lebenswerk […] so gut wie verschwunden“470 bzw. „verschollen“471 sei, am deutlichsten aber vielleicht bei Linden an bereits erwähnter Stelle: „Völlig erstorben ist das Werk des Berliner
464 Vgl. etwa Brand: Werden und Wandlung, 188; Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, 615. 465 Vgl. etwa Mahrholz/Wieser: Deutsche Literatur, 28. – Die Epigonalisierung ist an sich eine interessante Entwicklung in der Literaturgeschichte: das Epigonentum geht immer mit einer Abqualifizierung einher, während wir es auf der anderen Seite (und das fast willkürlich) mit einer positiven Traditionsverortung zu tun haben – wie etwa bei Raabe. Einmal rückt es den Autor jedoch weg vom Kanon, ein anderes Mal bindet es ihn fester an den Kernkanon. 466 Kummer: Deutsche Literaturgeschichte, 27. 467 Vgl. etwa Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte, 373; Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 648. 468 Die Fälle, in denen dies ausschließlich geschehen ist, d.h. in denen der Topos nur dort und nicht bei Heyse zu finden war, wurden in der Tabelle mit Klammern („(•)“) gekennzeichnet. 469 Peting: Berühmte Deutsche, I, 66. 470 Brand: Werden und Wandlung, 188. 471 Viëtor: Deutsche Dichten und Denken, 128.
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Halbjuden Paul Heyse“472. Fechter schließt den Abschnitt über Heyse und sein Werk mit den Worten: „Als er 1914 starb, war seine Zeit längst Geschichte“473. Fassen wir diesen kurzen Ausblick zusammen und schließen davon ausgehend noch notwendige Beobachtungen an: es zeigt sich, dass das bisherige Aussagenrepertoire weiterhin vorhanden bleibt und je nach Stellenwert, der Heyse noch eingeräumt wird, ausformuliert wird. Ähnlich wie beim Aufstieg Raabes in den Kanon ist zu beobachten (und damit wird unsere bisherige Vermutung validiert), dass die Topoi wie sie dort von Anfang an da waren, hier bis zum Schluss, also während Heyse aus anderen Literaturgeschichten schon verschwindet, vorhanden bleiben. Hinzu kommen wenige neue Topoi, die mit größter Wahrscheinlichkeit aber von anderer Seite durch eine andere Kanonisierung (etwa der Gattung der Novelle) das Bild Heyses erweitern. Auffällig ist auch, dass es (mit wenigen Ausnahmen) innerhalb dieses Repertoires so etwas wie ein Grundrepertoire an Aussagen über Heyse gibt, die immer wieder genannt werden: etwa seine Formkunst und seine Novellistik (s. Tab.). Kehren wir mit diesem Wissen wieder zurück zu unseren früheren Literaturgeschichten: Eine Frage, die aufgrund des zuvor Gesagten, noch offen die gesamte Zeit im Hintergrund schwebte und die wir nun mit Berücksichtigung der weiteren Literaturgeschichten noch klarer beantworten können, lautet, ob das vorgegebene bzw. sich aus den ‚Schulen‘ der Literaturgeschichten abzeichnende ‚Programm‘ einen Einfluss auf die Porträtierung der Autoren bzw. das kanonisierende/kanonisierte Bild hat. Dies muss verneint werden. Die Bilder, die vermittelt werden, bleiben über die Schulen und Literaturgeschichten hinweg die gleichen. Die Wertung kann hier und da in der gleichen Linie stehen, aber keine Schülerschaft verpflichtet zum gleichen Urteil.474 Die Bilder werden eingebettet in den von der zu Grunde liegenden Programmatik diktierten Text: So zeigt sich etwa, dass der bei Heyse oft in einem Atemzug mit der ausschließlichen Schönheitszuwendung zu findende Topos „Heyse sei aristokratisch“ sich in den biographisch(-positivistischen) Literaturgeschichten auf die in ihren Stationen topische Lebensbeschreibung Heyses stützt – dort vor allem auf die Berufung Heyses an den Münchner Hof Maximilians, wo er zum „Liebling eines Königs und
472 Linden: Geschichte der deutschen Literatur, 399. 473 Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, 614. 474 Man vergleiche nur einmal die Aussagen zu Raabe in Meyers Literaturgeschichte mit denen in Oskar Walzels Literaturgeschichten.
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aller geistigen Aristokraten“475 avancierte, oder auf sein Vaterhaus, wo er „in einem gar zu aesthetischen Geheimratsmilieu“476 aufgewachsen sei. 4.3.3 Der Zusammenhang zwischen den Topoi und der bürgerlichen Selbstdefinition – ein Versuch Hieran unmittelbar anknüpfend, soll gleich noch eine weitere bislang im Hintergrund offene Frage beantworten werden. Wie gestaltet sich der Zusammenhang der dargestellten Topoi beider Autoren mit der in den Kapiteln zuvor herausgearbeiteten Identitäts- bzw. Legitimationsfunktion des Bürgertums? Auf den ersten Blick lässt sich dies nicht unmittelbar in Einklang bringen. Unserer früheren Aussage entsprechend wäre zu vermuten gewesen, dass wir hinter den ästhetischen Urteilen bestimmte ethische/moralische Selbstzuschreibungen finden. Hier gilt es jedoch wiederum ‚größer‘ zu denken und nicht unbedingt in den einzelnen Aussagen: die ästhetische Abwertung oder Aufwertung des Autors selbst geht einher mit besagter sich ausdifferenzierender bürgerlicher Selbstdefinition und genau hierin muss der eigentliche, wenn auch nicht vollständig nachzuweisende Grund für die Halbwertszeit und tatsächliche Aufnahme in den Kernkanon gesehen werden. Bleiben wir bei Heyse: Der Vorwurf des Aristokratischen wird in das Biographische zurückgeführt, woraus er ursprünglich auch, so dürfen wir beim „letzten großen Künstler- und Dichterfürsten des 19. Jahrhunderts [Kursivierung C.G.]“477 vermuten, resultierte. Er wird über das Biographische hinaus – wie wir an den gesammelten Aussagen sehen konnten (s.o.) – vor allem auch als ästhetische Qualität im Werk Heyses festgemacht. Das sind natürlich schlechte Voraussetzungen für einen Dichter in einen Kanon zu gelangen, der als Legitimation des Bürgertums dienen soll. Und so liegt die Vermutung nahe, dass er vielleicht gerade deshalb nicht in diesen Kanon Eingang gefunden hat. Ja, müssen wir nach all dem Gesagten nicht sogar davon ausgehen, dass dies der wahre Grund für seine Nicht-/De-Kanonisierung ist? Tatsächlich zeigt sich, wenn wir die Spur in diese Richtung weiterverfolgen, dass die Topoi der vielbeschworenen Formkunst sowie der Künstlichkeit und reinen Schönheitszuwendung, des Verschließens der Augen und der inneren Gleichgültigkeit vor der Kehrseite der Natur, der fehlenden Frische und des feh-
475 Meyer: Die deutsche Litteratur, 604. 476 Busse: Geschichte der deutschen Dichtung, 118. 477 Norbert Miller: Im Schatten Goethes. Zu Paul Heyses Stellung in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Sigrid von Moisy (Hg.): Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter. München 1981, 11-17, 11.
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lenden Lebens, als auch der wohllautenden aber ebenso oberflächlichen Sprachbeherrschung bis hin zur Schönrednerei genauso wie die der moralischen Verdorbenheit (bis hin zur Frivolität) und sogar der Areligiosität in die Nähe jenes „Wertekanon[s]“478 rücken lassen, den das Bürgertum bereits sehr früh in seiner „soziale[n] Abgrenzung“479 dem Adel unterstellt hat. Das einmal geweckte „bürgerliche[] Selbstbewusstsein“ kopierte „nicht mehr nur aristokratische Lebensformen“, sondern stellte diesen eigene Werte gegenüber.480 Hier wurde nicht „die politische und soziale Privilegiertheit der höfisch-aristokratischen Welt“ zur „Zielscheibe der Kritik“, sondern „allgemeine Charakterzüge“481, die in der Zeit des „Aufstiegs und d[er] Durchsetzung einer bürgerlichen Hegemonialkultur“482 über die pädagogischen „Medi[en] der Selbstverständigung des Bürgertums“483 (zu denen auch die Literaturgeschichten gehörten) als Vorurteile etabliert wurden, um sich „von der herrschenden Wertewelt des Adels“484 abzugrenzen. Sie standen der bürgerlichen Moral diametral entgegen, die ihrerseits in einem „Verhaltenskanon“485 bestimmter Tugenden, unter deren Fahne sich „ein vereintes Bürgertum“ sammeln sollte,486 als Gegen- und Selbstbild akzentuiert und (für unseren anthropologischen Ansatz der Lieraturgeschichte entscheidend) als ‚allgemeinmenschlich‘ bzw. ‚naturgesetzlich‘ ausgewiesen wurden.487 Zu diesen „als grundlegend verschieden wahrgenommenen aristokratischen Standards“488 zählten Oberflächlichkeit, verschwenderischer Luxus, äußere Eleganz, Unehrlichkeit etc.,489 denen die bürgerlichen Tugenden490 als wahre Werte unversöhn-
478 Vgl. hierzu Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-1840). Frankfurt a. M./New York 1998, 51. 479 Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums. Göttingen 1996, 143. 480 Monika Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1990, 62. 481 Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, 51. 482 Maurer: Die Biographie des Bürgers, 617. 483 Ebd., 15. 484 Ebd., 236. 485 Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, 51. 486 Vgl. auch Maurer: Die Biographie des Bürgers, 246. 487 Vgl. hierzu ebd., 232; sowie Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, 52. 488 Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, 51. 489 Vgl. Ebd., 51. 490 Vgl. hierzu ausführlich die von Maurer aus Biographien herausgearbeiteten bürgerlichen Selbstbilder (Die Biographie des Bürgers, 232).
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lich gegenübergestellt wurden. Wenn nun Heyse (gekoppelt mit dem biographischen Faktum des Hofdichters) auf ästhetischer Ebene gerade solche, den aristokratischen Vorurteilen des Bürgertums entsprechenden ‚Images‘ untergeschoben werden, kann es da nicht sein, dass der im ästhetischen Sinne als epigonal Betrachtete, in Wirklichkeit ein im bürgerlichen Sinne Epigone ist? Rühren die Topoi nicht vielleicht gerade daher, dass er aus dieser Perspektive wahrgenommen wurde? Vielleicht müssten genau diese ästhetischen Verurteilungen in einem solchen Sinne gelesen werden. Vielleicht wird ihm z.B. auch genau deshalb (mit der Begründung der anderen Topoi) der Vorwurf gemacht, kein dramatisches Talent zu besitzen, weil das Theater eine genuine ‚Vermittlungsinstanz bürgerlicher Werte‘491war? Natürlich wäre in diesem Fall nur zu verständlich, wenn ein solcher Autor (auch wenn er aufgrund seines zu Lebzeiten anerkannten Status in den akuten Kanon Eingang gefunden haben sollte, s.o.) nicht für den literaturgeschichtlichen Kanon, der ja immer bürgerlich war (s.o.), in Frage kommt. Und wenn, dann nur als Repräsentant eines an sich veralteten Zeitgeistes (s.o.), auf keinen Fall eines epochal-prägenden. Haben wir nicht gesehen, wie sehr die Literaturgeschichte im Zerrspiegel bürgerlichen Wunschdenkens betrachtet wurde? Ist es da überraschend, wenn nach der von Preußen ausgehenden Reichsgründung 1871,492 die von den neuen politischen Verhältnissen geprägten493 Medien, eine negative Aussage des Reichskanzlers über Heyse heranziehen, um ihn abzuwerten (wie dies etwa bei Engels geschieht)494? Wenn nach der den Adel und das Bürgertum endgültig zersprengenden Zäsur des Ersten Weltkrieges495 in der
491 Frank Möller: Das Theater als Vermittlungsinstanz bürgerlicher Werte um 1800. In: Hans Werner Hahn/Dieter Hein (Hgg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf-VermittlungRezeption. Köln, Weimar, Wien 2005, 193-210, insbes. 198ff. – Meiner Ansicht nach war das Drama genau aus diesem Grund auch die Gattung des 19 Jahrhunderts. 492 Dass die Reichsgründung den Anspruch Bayerns eleminiert, degradiert und damit selbstverständlich auch den bayerischen Hof. 493 Die schulischen Medien hingegen sind ganz sicher nicht nur von den politischen Verhältnissen geprägt, sondern auch getragen (vgl. Hermann Korte: Innenansichten der Kanoninstanz Schule. Die Konstruktion des deutschen Lektürekanons in Programmschriften des 19. Jahrhunderts. In: Ders./Ilonka Zimmer/Hans Joachim Jakob (Hgg.): Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten. Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2005, 17-112, 23ff.). 494 Vgl. Engel: Geschichte der Deutschen Literatur, 203. 495 Vgl. Arno J. Mayer: Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der euopäischen Gesellschaft 1848-1914. München 1984, 271ff.
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jungen Demokratie der Weimarer Republik Heyse an den Rand gedrängt wird und wo er noch aufgegriffen wird, als jemand dargestellt wird, der „der politischen und „zeitgemäßen“ Literatur eine Dichtung entgegenstell[te]“, die in Wirklichkeit nur die Schwäche und Blässe eines Idealismus auf[deckte], der als edle Salonliebhaberei oder hohles Wortgepräge ohnmächtig neben dem Leben der Zeit vegetierte, im Volke nicht und nicht in der Gesellschaft wurzelnd, niemandem wirklich notwendig: eine Luxussache für die ganz anderen wirklicheren Dingen zugewandte Bourgeoisie496?
Wenn wir die Kanonisierung von dieser Seite aus betrachten, verwundert es auf der anderen Seite natürlich auch nicht, dass Raabe in den Kanon erhoben wird. Mit den ihm zugeschriebenen Topoi nämlich kann er ganz unzweifelhaft für die Werte des Bürgertums einstehen.497 Sichtbar wird dies allein schon an einem Begriff wie Humor bzw. seiner Etikettierung als Humorist. Bis Ende des 18. Jahrhunderts für eine „nationale Besonderheit der Engländer“498 gehalten, wird der Humor „eine der großen Entdeckungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts“499. In Theorie und Praxis fällt dabei Jean Paul „die Hauptrolle“500 zu, dessen Vorschule der Ästhetik „epochalen Stellenwert“501 erlangt und die seine Rezeption zumindest zu Beginn (wie etwa bei Bouterwek)502 vor allem auf den „Humoristen“503 reduziert. Sein Ansatz erklärt „den idealistisch potenzierten Subjektbegriff zum integralen Bestandteil des humoristischen Verfahrens“504 und folgt damit weitgehend dem ästhetischen Diskurs, wie wir ihn
496 Viëtor: Deutsches Dichten und Denken, 128. 497 Man muss hierzu nur einmal die von Maurer herausgearbeiteten Tugenden des deutschbürgerlichen Selbstbildes (vgl. Maurer: Die Biographie des Bürgers, 232) neben die Topoi Raabes halten. 498 Dieter Hörhammer: s.v. „Humor“. In: Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 3, 6685, 72. 499 Berthold Emrich: Jean Pauls Wirkung im Biedermeier. Diss. Tübingen 1948, 155. 500 Emrich: Jean Pauls Wirkung im Biedermeier, 155. 501 Hörhammer: s.v. „Humor“, 72. 502 Vgl. Wolfhart Henckmann: Einleitung. In: Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von Norbert Miller. Hg., textkritisch durchgesehen und eingeleitet von Wolfhart Henckmann. Hamburg 1990, VII-L, XXXIV. 503 Henckmann: Einleitung, XXXIV. 504 Hörhammer: s.v. „Humor“, 73.
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für das bürgerliche Bewusstsein als prägend kennengelernt haben.505 Er zielte nämlich auf eine „Synthese von Idealismus und Realismus“506, was ihn für die Jungdeutschen interessant machte.507 Die „Verknüpfung von Humor und bürgerlichem Menschenbild“ wurde auf diese Weise „systematisch legitimiert“508 und ermöglichte, dass er seinerseits zum prägenden Referenzpunkt des bürgerlichen Selbstbewusstseins avancierte.509 Nicht zufällig steht folglich Raabe in der Literaturtradition Jean Pauls. Nicht zufällig ist dieser sein Gewährsmann, als der er auch für den Großteil der anderen Topoi gelten kann. Jean Paul genoss in der prägenden Zeit der bürgerlichen Werteausdifferenzierung und -etablierung eine „abgöttische Verehrung“510, so dass er sogar als „Heiland der Zeit, Jesusseele, nektartrunkener Halbgott“511 etc. gerühmt wurde, und zwar gerade weil seine Schriften für die deutsch-bürgerlichen Werte, die man aus ihnen (mitunter oft verflachend) herauslas, einstehen konnten.512 Dies nimmt sogar Don-QuixoteZüge an, wie Berthold Emrich im Anschluss an seine eingehende Untersuchung513 erklärt: Haus- und Winkelsinn, eine behagliche Stube, Wärme, Nähe, Geborgenheit, ein heimeliges Schauern in der Sicherheit will man von ihm [scil. Jean Paul] als für das Dasein verkündet wissen. Das Wohligfühlen im Eingeht-Traulichen wird ergänzt durch einen Drang nach Geselligkeit, so daß die Idylle Jean Pauls, die doch nur Symbol war, ins Leben übertragen wird. Man lebt in einer gemütvollen Kleinwelt, zu der die Originale, Sonderlinge und Käuze gehören, wie man sie aus des Dichters Werken kennt. So wird eine Teilprovinz aus Jean Pauls Welt, eine Insel der Sehnsucht für seine Getriebenen, losgelöst und zu einer
505 Aus diesem Grund wurde die Vorschule in der Folge ihrerseits prägender Referenzpunkt des bürgerlichen Selbstbewusstseins. 506 Vgl. Emrich: Jean Pauls Wirkung im Biedermeier, 177. 507 Vgl. ebd., 132. 508 Hörhammer: s.v. „Humor“, 73. 509 Vgl. hierzu ebd. 510 Emrich: Jean Pauls Wirkung im Biedermeier, 1. 511 Berthold Emrich: Jean Paul in der bürgerlichen Sicht des Biedermeier. In: Hesperus. Blätter der Jean-Paul Gesellschaft 2(1951), 19-25, 20. 512 Vgl. hierzu ausführlich Emrich: Jean Paul in der bürgerlichen Sicht des Biedermeier. 513 Vgl. ausführlich hierzu Emrich: Jean Pauls Wirkung im Biedermeier, 50ff. Ähnliches zeigt auch Peter Sprengel: Einleitung. In: Ders (Hg.): Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland. München 1980, XII-XCII, XLVIIff.
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eigenen Bedeutsamkeit erhoben, die ihr doch nur in Beziehung auf das Transzendente hätte zukommen dürfen.514
Wenn – so können wir im Anschluss hieran rhetorisch fragen – der mit seiner literarischen Wirklichkeit, die bürgerliche Lebenswirklichkeit und damit den bürgerlichen Wertekanon prägende Schriftsteller zum literarhistorischen Gewährsmann eines anderen Schriftstellers erhoben wird, in dessen Werk wiederum (nun allerdings mit durch ersteren möglichen ästhetischen Argumenten) das herausgestrichen wird, was durch ihn Eingang in den besagten Kanon gefunden hat, ist es da nicht selbstverständlich, dass dieser zweite Schriftsteller ebenfalls in den Kernkanon der bürgerlichen Literatur erhoben wird?515 4.3.4 Topos, Imago/Stereotyp und Kanon Erneut können wir hierbei (natürlich unter Bezug auf unsere vorigen Beobachtungen) erkennen: Innerhalb der „Wertbestimmungen“, also „Aussagen über (literarische) Kunstwerke in ihrer ästhetischen Qualität“, und der „Wertzuordnungen“, also „Aussagen über Kunstwerke in ihrer ästhetischen Bedeutung“,516 werden zur Begründung (wenn auch nicht ausformulierte) Argumente angeführt, die „Sachverhalte außerhalb des eigentlichen ästhetischen Gebietes bezeichnen“. Dies geschieht in dem Sinn, dass Kunst und respektive der Künstler „als Gegenstand, Zeugnis, Beleg für etwas anderes bestimmt wird“517 und damit die „Kunsterscheinungen auf andere Gebilde [bezogen werden]“. Dies sind etwa Räume, Zeiten oder Prinzipien gesellschaftlichen Zusammenlebens, wodurch „ästhetische Vorstellungen durch charakterisierende Ideen etwa von Ländern, Nationen oder Geschichte systematisiert werden“518. Ästhetische Objekte sowie stellvertretend für sie ihre jeweiligen Schöpfer, werden „nicht eigentlich als Artefakte der sinnlichen Auffassung, sondern als Beispiele oder Zeugnis für etwas anderes bezeichnet und bewertet“519. Im Falle der Literaturgeschichte geschieht
514 Emrich: Jean Paul in der bürgerlichen Sicht des Biedermeier, 22. 515 Jean Paul dient also für Raabe als Bindeglied in den Werte- wie in den Kernkanon. 516 Karl Ulrich Syndram: Ästhetische und nationale Urteile. Zur Problematik des Verhältnisses von künstlerischem Wert und nationaler Eigenart. In: Hugo Dyserinck/Karl Ulrich Syndram (Hgg.): Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunders. Bonn 1988, 229-244, 230f. 517 Ebd., 231. 518 Ebd. 519 Ebd.
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dies – wie gezeigt – über den Entwurf bzw. die Ausdifferenzierung des bürgerlichen Selbstbildes. Die Surrogation wird – wie wir sehen können – über „typisierende Verallgemeinerungen“520 vorgenommen, die dieses Bild aus Mosaiksteinchen „in Form von images“521 zusammensetzen. Was wir bisher als Topoi bei den Autoren herausgearbeitet haben, ist also im Grunde nichts anderes als eine „bildhafte Typisierung“522, der der Komparatist meist im Zusammenhang mit nationalen Stereotypen begegnet, mit denen unsere Images der Autoren eine deutliche Verwandtschaft aufweisen.523 Dies wird nach den früheren Ausführungen nicht weiter erstaunen und ist vor allem damit zu begründen, dass „[a]llen Ideologien […] Stereotype zugrunde liegen“, da dies ein „Grundzug der Ideologiebildung“524 sei, zu der natürlich auch die ‚Bildung zur Nation‘525 gezählt werden muss.526 Darüber hinaus ist Stereotypisierung „entgegen lang gehegter wissenschaftlicher Überzeugung kein Sonderfall, sondern der Normalfall“ unserer „begrenzte[n], vereinfachte[n] Form der Informationsverarbeitung“.527 Stereotype bzw. Images528 als „schematisierte, auf relativ wenige Orientierungspunkte reduzierte, längerfristig unveränderte und […] starre verfestigte
520 Ebd., 232. 521 Ebd. 522 Ebd., 235. 523 In dem zuvor zitierten Aufsatz Syndrams wird allerdings bereits eine Erweiterung bzw. Ergänzung in unserer Lesart vorgenommen. Syndram entwickelt hierfür bereits eine Projektskizze, der unsere Arbeit in gewisser Weise entspricht (vgl. ebd., 238f.). 524 Franz W. Dröge: Publizistik und Vorurteil. Münster 1967, 169. 525 Im doppelten Wortsinn zu verstehen. 526 Vgl. hierzu Hans Henning Hahn/Eva Hahn: Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine Stereotypenforschung. In: Ders. (Hg.): Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt a. M., Berlin u.a. 2002, 17-56, 27 sowie Ders.: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Historische Stereotypenbildung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Oldenburg 1995, 7-13, 10f. 527 K. Peter Fritszche: Kommen wie nicht ohne Vorurteile aus? In: Internationale Schulbuchforschung 11 (1989), 377-389, 381; hier übernommen von Bernd Mütter: Stereotypen und historisches Lernen. In: Hahn: Stereotyp, Identität und Geschichte, 155-174, 157. 528 Die Differenzierung zwischen Stereotypen und Images, sofern sie vorgenommen wird und keine synonyme Begriffsverwendung stattfindet, ist noch immer nicht geklärt und fällt in ihrer jeweiligen Spezifizierung unterschiedlichst aus (vgl. hierzu u.a. Manfred Beller: Perception, image, imagology. In: Ders./Leerssen: Imagology, 3-16, 7ff. sowie Jarochna Dabrowska: Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse. Eine textlinguistische Untersuchung. Tübingen 1999, 80ff.). Ich übernehme in meinen
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Vorstellung[en]“529, die in der Regel „moralische Wertungen“530 implizieren, sind und dienen – ganz allgemein formuliert – als „Wege und Ausdruck der Identitätssuche und -formulierung“531. Sie integrieren „nach innen“, stärken die „‚Wir‘-Gruppe, die u.a. durch einen gewissen Sterotypen-Konsens funktioniert“, und grenzen nach außen ab, „indem deutlich gemacht wird, wer nicht zur ‚Wir‘Gruppe gehört.“532 Ihre Entstehung ist mit der „sich immer mehr verdichtende[n] Kommunikation und [der] zunehmende[n] Öffentlichkeit von Politik“533 bzw. mit dem vorausgehenden, auf institutionellem Machtverlust basierenden Orientierungsverlust und der daraus resultierenden zunehmenden ‚Komplexität der Welt‘534 zu erklären.535 Als schließliche „‚pictures in our head‘ bilden [sie] be-
Ausführungen in Teilen die Unterscheidung Manfred S. Fischers, eines der Hauptvertreter der Imagologie der Aachender Schule (vgl. Manfred S. Fischer: Literarische Imagologie am Scheideweg. Die Erforschung des „Bildes vom anderen Land“ in der LiteraturKomparatistik. In: Günther Blaier (Hg.): Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur. Tübingen 1987, 55-71), fasse die Begriffe aber weiter, indem ich Images mit dem Merkmal der „Historizität und Varianz“ (vgl. Aglaia Blioumi: Imagologische Images und imagotype Systeme. Kritische Anmerkungen. In: arcadia 37 (2002), 344-357, 346) als Vorstufe des sich kanonisierenden Stereotyps, i.S. einer „Aussage, die zu einem gegebenen Zeitpunkt einen eindeutigen, einzig möglichen Sinn hat“ (ebd., vgl. hierzu auch Fischer: Literarische Imagologie 57f.), wobei natürlich Stereotypen einen gewissen, wenn auch wesentlich trägeren Grad an Historizität und Varianz aufweisen, vgl. hierzu: Hahn/Hahn: Nationale Stereotypen, 24), verstehen möchte. 529 Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 41994, 842; übernommen von Michael Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse. Anregungen zu einem Forschungskonzept kulturwissenschaftlicher Stereotypenforschung. In: Hahn (Hg.): Stereotyp, Identität, Geschichte, 57-72, 61. 530 Waldemar Lilli: s.v. „Vorurteil“. In: Werner Fuchs-Heinritz/Daniela Klimke u.a. (Hgg.): Lexikon zur Soziologie. Wiesbaden 5. Überarbeitete Auflage 2011, 741. 531 Hans Henning Hahn: Einführung. Zum 80. Geburtstag des Begriffs ‚Stereotyp‘. In: Ders. (Hg.): Stereotyp, Identität und Geschichte, 9-13, 12. 532 Hahn/Hahn: Nationale Stereotypen, 17-56, 28; vgl. hierzu auch Dröge: Publizistik und Vorurteil, 140. – Zusätzlich dienen sie selbstverständlich hierbei auch der ‚Legitimation‘ (vgl. Hahn: Einführung, 12). 533 Hahn: Einführung, 11. 534 Ebd. 535 Dröge erklärt diese Komplexität und den Versuch der Bewältigung anhand von Stereotypen zudem anthropologisch (vgl. hierzu: Dröge: Publizistik und Vorurteil, 132, aber auch 45).
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reits eine Wirklichkeitserfahrung über die ‚world outside‘, die wir auf und auf die wir die Realität beziehen“536. Sie sind somit „keine Spiegelung der Welt“, sondern „stellen selbst aufgrund ihrer Existenz in den Köpfen der Menschen und in zwischenmenschlichen Beziehungen eine gesellschaftliche Realität dar“537. Sie dienen als „grundlegende Informationseinheit [..], die ihr Verwender braucht, um sich angemessen in der Welt zurechtzufinden“538. Dazu geben sie eine „Aufforderung zu einer Handlung“539 i.S. einer einer „Rollenerwartung“ zugrundeliegenden „normativen Sollanweisung“540, die, als ein „Einnehmen einer bestimmten Haltung einem bestimmten Menschen, einer Gruppe oder einem abstrakten Gegenstand gegenüber bis [hin] zu tatsächlichen körperlichen Tätigkeiten“541 zu verstehen ist. Die Stereotypen sind damit also ein wichtiger „Faktor der Identitätsbildung“542, weil sie die „‘relative Zusammengehörigkeit‘ […] durch ähnliche bis gleiche Wertauffassungen [markieren]“ und so „das normative Verhalten in der Gruppe bestimmen“543. Als „Wissensbestände“ sind sie „immer [..] Teil des individuellen Wissens einer Person, existieren aber stets nur in Verbindung mit einem Wissen, das kollektiv geteilt wird“544. Dieser „gemeinsame[] Horizont“545 ist einerseits Voraussetzung, andererseits Ziel einer derartigen „Sozialisierung“546. Charakteristisch für dieses „repertory of fixed impressions“547 ist, dass es sich um „antizipierte Vorstellungskomplexe“ handelt, d.h. dass sie „vor der Erfahrung liegen“548, also echte Vor-Urteile sind.549 Sie sind „unabhängig
536 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 142f. Bei den englischen Begriffen handelt es sich um die berühmtgeprägten Begriffe des Stereotypenforschungspioniers Walter Lippmann (vgl. Ders.: Public Opinion. London ²1961, 29, 3ff.). 537 Hahn: Einleitung, 13. 538 Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 62. 539 Ebd. 540 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 144f. 541 Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 62. 542 Ebd., 59. 543 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 49. 544 Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 62f. 545 Hahn/Hahn: Nationale Stereotypen, 18. 546 Vgl. Dröge: Publizistik und Vorurteil, 127. – Dröge spricht in diesem Zusammenhang sinnvollerweise auch von „social heritage“ (ebd.). 547 Lippmann: Public Opinion, 104; Dröge: Publizistik und Vorurteil, 126. 548 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 126. 549 Vgl. hierzu auch ebd., 122; sowie Manfred Beller: Vorurteils- und Stereotypenforschung. Interferenzen zwischen Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie. In: Ders.: Eingebil-
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von eigener Erfahrung, also nicht falsifizierbar“550. Als solche „Bestandteile von Wirklichkeiten zweiter Ordnung“551 weisen sie deshalb auch eine „erstaunliche Resistenz gegen rationale Kritik“552 auf. Da Meinungen aber ihrerseits nur dann einen „befriedigenden Stabilitätswert“ für das Individuum aufweisen, wenn sie rationalisiert werden, d.h. sich auf Fakten beziehen und begründet werden, dies aber in diesem Fall nicht möglich ist, werden sie wiederum „mit vorgestellten, übernommenen, ungeprüften Meinungen begründet“553 und haben daher trotzdem „die logische Form eines Urteils“554. Das führt in gewisser Weise zu einer „Verhärtung“555 der Images bzw. der Stereotype, die auf anderer Ebene dadurch potenziert wird, dass – wie angedeutet – „[n]icht die Wirklichkeit [..] beurteilt [werden], sondern die Stereotype [..] auf die Wirklichkeit angewendet [werden]“ und dadurch die „Wirklichkeit [..] nicht an sich selbst gemessen [wird], sondern an dem Bild, das man von ihr hat“. Daher werden „Tatsachen, die nicht in das vorfabrizierte Bild der Stereotype passen, [..] als Ausnahme von der stereotypen Regel gewertet“ und ‚selektiert‘.556 Ihr starker „Formalcharakter“ weist darüber hinaus auf ihre „Transportabilität“ hin, d.h. dass Stereotypen „trotz geänderter Umwelteinflüsse“ und sogar vor „wechselndem sozialen Hintergrund“ konstant bleiben.557 Erkennen und verstehen wir in unseren sich kanonisierten Autorentopoi Stereotype bzw. Images, oder vorsichtiger gesagt: erkennen oder verstehen wir ihre stereotypenanaloge Struktur, wird uns vieles bewusst: Sie sind „Wirklichkeit [in
dete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie. Hg. v. Elena Agazzi. Göttingen 2006, 47-60, 57f. . – Zum „Anpassungsvorgang des Individuums an die Normen der Gesellschaft“ über das Vorurteil vgl. Alexander Mitscherlich: Zur Psychologie des Vorurteils [1964]. In: Anita Karsten (Hg.): Vorurteil. Ergebnisse psychologischer und sozialpsychologischer Forschung. Darmstadt, 1978, 270-285, 280. 550 Hahn/Hahn: Nationale Stereotypen, 22. 551 Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 62. 552 Hahn/Hahn: Nationale Stereotypen, 22. 553 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 133. 554 Uta Quasthoff: Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Frankfurt a. M. 1973, 28. - Vgl. hierzu auch: Bernd Six: Stereotype und Vorurteile im Kontext sozialpsychologischer Forschung. In: Günther Blaicher (Hg.): Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur. Tübingen 1987, 41-54, 45. 555 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 143. 556 So Dröge im Anschluss an Lipset (vgl. ebd.). 557 Ebd., 146.
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unserem Fall auch Lektüre] vorweg beurteilende[] Bewußtseinselement[e]“558, die für die soziale Gruppe, in unserem Fall die den Kanon etablierende Trägergruppe des Bürgertums, (auch mit Hilfe der Transponibilität der Stereotypen)559 als „sozialkulturelle[r] Code“560 eine „kollektive Gültigkeit“561 gewinnen und natürlich in der Ausdifferenzierung gewinnen sollen. Sie sind „heuristische[s] Hilfsmittel“562, weil sie beim „Streben nach Gewißheit des Wahrgenommenen“ bzw. bei der „Reduktion des unbehaglichen Ungewißheitserlebnisses“563 maßgeblich (auch nachträglich) Orientierung sowohl in Bezug auf Selektion als auch auf Essenzierung geben. Aber auch unabhängig von jeder tatsächlichen Rezeption bilden sie eine Erfahrung, in diesem Fall eine „Erfahrung[] zweiter Hand“564, auf die man sich in der Kommunikation, die durch sie teilweise überhaupt erst möglich wird,565 stützen kann. So sind sie vor allem Vor-Urteile, die in ihrer „pseudo-logisch[en]“566 Argumentation (Topos wird mit Topos begründet) und natürlich auf der ihrer Verbreitung innewohnenden Überzeugungskraft unhinterfragbar bleiben und immer mehr (auch in Bezug auf ihre Formelhaftigkeit) verfestigen oder in unserem Fall kanonisieren.567 Dies muss allerdings nicht dauerhaft eine Verfestigung ihrer Wertigkeit einschließen, da sie wie andere Stereotype „kulturrelativistisch und historisch“568 sind, also dynamisch und kontextuell,569 und damit dem jeweiligen Wertekanon angepasst bzw. für diesen nutzbar gemacht bzw. unbrauchbar werden können. Dies erklärt uns wiederum Ag-
558 Ebd., 149. 559 Gemeint ist hier die Korrelation mit anderen „Stereotypenhaushalten“ (Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 58; hier in einer engeren Verwendung als nur für einen bestimmten Bereich geltende Stereotypen) wie wir es bei Heyse und in den ästhetischen, im Grunde aber aristokratischen (Vor-) Urteilen erkennen konnten. 560 Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 59. 561 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 150. 562 Beller: Vorurteils- und Stereotypenforschung, 48. 563 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 162. 564 Ebd., 46. 565 Vgl. Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 58. 566 Dröge: Publizistik und Vorurteil, 162. 567 Genau hierdurch ließe sich auch das erwähnte „invisible-hand“-Phänomen verstehen. 568 Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 63. 569 Vgl. hierzu ausführlich Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 64f. sowie die dort angegebene Verweisstelle: Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. 51977, 36ff.
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gregatszustände bzw. -zustandsveränderungen wie die Kristallisierung im Kernkanon oder auch die De- und Rekanonisierung570. Nutzen wir diesen Augenblick, um das Ergebnis in unsere bisherigen Überlegungen miteinzubeziehen: Wir hatten zuvor gesagt, der Kanon sei eine strenge Auswahl von Autoren und deren Texten, die eine Gesellschaft oder Gruppe aufgrund bestimmter Selbstzuschreibungen und Definitionen als sie selbst legitimierende und als historisch verbürgt ausgewiesene Tradition etabliert und mit Argumenten verteidigt. Diese Argumente mögen sich vordergründig zwar als ästhetische Qualitäten der selektierten Literatur manifestieren, wurzeln aber letztlich in den beschriebenen Mechanismen sozialer Selbstdefinition (s.o.). Dies alles gilt auch weiterhin unverändert. Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass es sich im Grunde nicht um die Auswahl von Autoren und Texten selbst handelt, sondern um typisierte Bilder davon, denen ihrerseits weitgehend die sozialen Selbstdefinitionen innewohnen und entsprechen. Der Kanon ist damit bereits in gewisser Weise selbst schon „Deutungskanon“571, weil er sich (in seiner literarhistorischen Ausprägung) aus Images zusammensetzt. In ihnen kulminieren selbst wiederum untrennbar „Diskurselemente“ in einem „Interdiskurs“572 (Sozialimages, Ästhetikimages und Autor-/Werkimages) und verbinden sich zu einem „‘Sysykoll‘“, einem „synchronen System von Kollektivsymbolen“.573 worunter die „Gesamtheit der sogenannten ‚Bildlichkeit‘ einer Kultur“574 zu verstehen ist. Er befindet sich, weil er damit Teil der „kollektive[n] Selbstperzeption“575 ist, immer schon in einem Metadiskurs und ist damit im Grunde schon abgelöst von den Autoren und Werken, die er unmittelbar zu repräsentieren vorgibt. Einen Kanon aus Büchern – so könnte man provokant formulieren – gibt es also gar nicht, immer nur einen Kanon aus gedeuteten und entsprechend typisierten Bildern von Büchern und deren Autoren. Dieser wird tradiert und seinerseits – ohne Änderung576 der Images an sich, nur die Wertigkeit kann sich ändern, kanonisiert
570 Zur Rekanonisierung vgl. Korte: Kleines Kanonglossar, 36. 571 vgl. Korte: Kleines Kanonglossar, 26. 572 Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 68. 573 Ebd. 574 Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1997, 25; hier übernommen von Imhof: Stereotypen und Diskursanalyse, 68. 575 Hans Henning Hahn: Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im Stereotyp. In: Ders.: Historische Stereotypenforschung, 190-204, 191. 576 Die Images werden genauso wie andere Stereotypen nicht mehr hinterfragt und lassen sich aufgrund der pseudo-logischen Struktur nicht hinterfragen.
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sich jedoch auch mit der Zeit – in einen jeweils eigenen Wertekanon eingepasst und kontextualisiert (s.o.). 4.3.5 Herkunft der Images Im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand interessiert auch die Frage, woher diese Images eigentlich stammen. Natürlich wird es schwierig sein das herauszufinden, denn auch hier bekommen wir es letztlich mit dem gleichen Problem zu tun, auf das wir schon allgemeiner im Zusammenhang mit der Kanonselektion selbst gestoßen sind. Es handelt sich um das Phänomen der ‚invisible hand‘ (s.o.), das in unserem Fall auch die verschiedenen Kanoninstanzen umfasst. Vermutlich lässt sich also kein alleiniger Verursacher feststellen. Wagen wir trotzdem zumindest einen Versuch innerhalb des Schriftdiskurses.577 Am nahesten liegt natürlich die Vermutung, dass diese Images zurückzuführen sind auf die Literaturkritik. Zwar finden sich hier immer wieder zeitgenössische Äußerungen, die die „kühlen Klassifikations-Manieren“, wie etwa Hans von Wolzogen, dem Redakteur und späteren Herausgeber der Wagnerschen Zeitschrift Bayreuther Blätter, allein „[u]nsere[r] ‘Litteraturhistorie‘“ zuschreiben.578 Andererseits scheint es – wie uns das o.g. Beispiel Hoefers zeigt, der bereits die Hälfte der Raabeschen Images anführt (s.o.) – unwahrscheinlich, dass er sie aus dem Nichts geprägt hat bzw. alle Späteren sie von ihm übernommen haben. Vielmehr werden – und das legt auch der Beitrag Wolzogens selbst nahe, der seinerseits wiederum nur Images aneinanderreiht und (ähnlich wie wir es schon beobachten konnten) gegeneinander ausspielt – diese Kanoninstanzen (und ich beziehe als solche die Literaturkritik ein) beidseits permeabel gewesen sein, was jede Aussagen-Fixierung erschwert. Fänden wir jedoch eine Linie, die zeigt, dass eine Imago bereits vor der literaturgeschichtlichen Prägung in der Literaturkritik zu finden ist, würde ein solcher Nachweis sowohl ihre bereits für einzelne Kanonuntersuchungen nachgewiesene „gate-keeper-Funktion“ unterstreichen579 als auch sich mit den Ergebnissen der Stereotypenforschung decken. Diese zeigen, dass das Aufkommen der Massenpresse (auch im Zusammenhang mit Demokratisierungs- und Nationalisierungstendenzen) einen maßgeblichen
577 Den mündlichen Diskurs können wir ja nicht mehr eruieren und nur versuchen dem Schriftlichen abzuhorchen. 578 Hans von Wolzogen: Von der Sperlingsgasse bis zum Krähenfelde. In: Bayreuther Blätter 4 (1881) 12, 357-365, 359. 579 Vgl. Korte: Taugenichts-Lektüren, 26ff.
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Anteil am Bedeutungsgewinn von Stereotypen im öffentlichen Leben hatte.580 Dass die Literaturkritik der Literaturgeschichte einen Schritt vorausging, würde insofern auch nicht verwundern, als hier ja tatsächlich jeweils eine erste Selektion vorgenommen wird und damit zusammenhängend auch eine erste BildVermittlung.581 Begeben wir uns also zunächst innerhalb der ausgewählten Literaturgeschichten auf Spurensuche. Vielleicht ist es uns möglich schon hier einen Hinweis zu finden. Implizite Hinweise allerdings dürften schwer ausfindig zu machen sein. Hierfür müsste man alle Kritiken (am besten noch im Wortlaut und in ihrer Argumentation) kennen, was unmöglich ist. Hinzu kommt, dass diese Kritiken – ohne dass dies erkennbar wäre – aus zweiter und dritter Hand übernommen wurden. Aber wir haben Glück. In einigen Darstellungen Raabes zumindest findet sich ein expliziter Hinweis auf eine Literaturkritik, nämlich auf die erstmals in der Illustrierte Zeitung im Jahre 1858 erschienene knappe Besprechung des für seine Zeit als Kritiker prägenden582 Friedrich Hebbel. Diese Kritik lautete vollständig: Eine vortreffliche Overtüre, aber wo bleibt die Oper? Wir haben gar nichts dagegen, daß auch die Töne Jean Paul’s und Hoffmann’s einmal wieder angeschlagen werden, aber es muß nicht bei Gefühlsergüssen und Phantasmagorien bleiben, es muß auch zu Gestalten kommen, wenn auch nur zu solchen, wie sie der Traum zeigt.583
Wenn diese Kritik in den späteren Literaturgeschichten erwähnt oder gar zitiert wird, dann immer (fast ebenfalls schon topisch) so, dass die kritischen Töne vollkommen unter den Tisch gekehrt werden und lediglich davon gesprochen wird, dass dieses Werk tatsächlich als Ouvertüre zu den späteren Werken angesehen werden kann. So schreibt neben Arnold584 und Schilling585 etwa Salzer:
580 Vgl. hierzu Hahn: Stereotypen und Geschichte, 197. 581 Vgl. hierzu auch Dröge: Publizistik und Vorurteil, 144. Unter Bild-Vermittlung ist zu verstehen, dass in der öffentlichen Kommunikation ja nie „die Tatsachen in ihrem objektiven Maßstab etwa wie ein diesem gerechtes Abziehbild der Wirklichkeit vermittelt [werden], sondern immer in einer mehr oder weniger starken Verzerrung, eben als Bild“ (ebd., 114). 582 Vgl. Maria Zens: Literaturkritik in der Zeit des Realismus. In: Thomas Anz und Rainer Baasner: Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München 42007, 79-92, 81ff. 583 Friedrich Hebbel: Literaturbriefe XII: Die Chronik der Sperlingsgasse. Von Jacob Corvinus. Zweite Auflage. In: Illustrierte Zeitung 31 (1858) 27. November 1858, 349. 584 Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte, 569. 585 Schilling: Deutsche Literatur, 147.
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„Der Ouvertüre, wie Hebbel die ‚Chronik‘ Raabes nannte, folgte eine Reihe von Romanen und Novellen, zu denen dem Dichter die Gegenwart und Vergangenheit des Vaterlandes den Stoff lieferten.“586 Ähnlich auch Reuschel: „Die Chronik der Sperlingsgasse (1857), unter dem Decknamen Jakob Corvinus veröffentlicht, verdiente die Bezeichnung „Ouvertüre“, die ihr Hebbel gab, durchaus, denn sie enthielt im Keim das ganze fernere Schaffen des Dichters.“587 Und schließlich Bartels, der die gesamte Kritik zitiert und im Anschluss daran formuliert: Man könnte nun ohne Mühe nachweisen, daß in dem Jakob Corvinus der „Chronik“ schon der echte, wenn auch keineswegs der ganze Wilhelm Raabe steckt, aber wir lassen es bei der Bezeichnung des Erstlingswerkes als einer vortrefflichen Overtüre zu dem Gesamtschaffen Raabes bewenden.588
Für uns ist dieser Rekurs aber vor allem deshalb von Bedeutung, weil die Rezension Hebbels ihrerseits – wie Günter Butzer nachgewiesen hat – „mit E.T.A. Hoffmann und vor allem Jean Paul die Bezugspunkte festlegte, die das Markenzeichen Raabes über lange Zeit [für die Literaturkritik; C.G.] bestimm[t]en“589, also letztlich eines der bedeutendsten von uns in den Literaturgeschichten konstatierten Images vorprägte. Hebbel allerdings übernahm es mit größter Wahrscheinlichkeit selbst, denn sowohl die nur einen knappen Monat nach dem Erscheinen geschriebene und damit allererste Rezension zur Chronik des „damals maßgebende[n] Kritiker[s] Ludwig Rellstab“590, die am 29. Oktober 1856 in der Vossischen Zeitung erschien, enthielt den Verweis auf Jean Paul,591 als auch die
586 Salzer: Illustrierte Geschichte, 1847. 587 Schultz/Reuschel: Geschichte der Deutschen Literatur, 242. 588 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 408. 589 Butzer: Mit Kanones auf Raabe schießen, 34. – Bereits Hermann Krüger verwies darauf, dass „Kritiker Raabes [..] oberflächlich genug Hebbels flüchtiges Urteil (in einer sechszeiligen Kritik sprach er von den ‚Tönen Jean Pauls und Hoffmanns‘) nachgebetet haben“ (vgl. Herm[ann] Anders Krüger: Der junge Raabe. Jugendjahre und Erstlingswerke. Nebst einer Bibliographie der Werke Raabes und der Raabeliteratur. Leipzig 1911, 36.). Vgl. darüber hinaus auch Sammons: The Shiftig Fortunes of Wilhelm Raabe, 4f. 590 Krüger: Der junge Raabe, 44. 591 Vgl. Ludwig Rellstab: Literarischer Rückblick. In: Königlich priviligierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen 254, 29. Oktober 1856, 6. – Dass Rellstab von einem ‚entfernten Verwandtschaftsgrad‘ spricht, dient dazu, wie der weitere Kontext zeigt,
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am 13. August 1857 in den Blättern für literarische Unterhaltung erschienene Besprechung Emil Althausૃ.592 Es scheint sich also bei dieser Imago keineswegs um eine ‚kühle Klassifikations-Manier‘ der Literarhistorie zu handeln.593 Vielmehr zeigt sich an diesem (zugegeben für die Nachweis-Linie echten Glücks-) Fall, dass eine Imago in der Literaturkritik präfiguriert wurde (ja, man könnte im Anschluss an Butzer und Sammons sogar davon sprechen, dass auch dort – wie in der Literaturhistorie – selbst Images etabliert wurden) und schließlich Eingang in die Literarhistorie fand. Dort wurde es, wie wir zeigen konnten (s.o.), kanonisiert594 und fester Bestandteil jenes Imagespools, aus dem sich die Literarhistoriker für die Porträtierung des Autors bedienten. An diese spezielle Imago können wir aber darüber hinaus noch eine weitere interessante Beobachtung für den Kanonisierungsprozess machen, die uns in unserer Vermutung bestätigt, dass die Imago nicht in der Literaturgeschichte selbst geprägt wurde, sondern aus der Literaturkritik hierhinein Eingang gefunden hat. Jean Paul ist nämlich eine der „allhöchsten Autorität[en] des Biedermeiers“595 und spielt zu dem Zeitpunkt, an dem diese Imago zu Raabe in den Literaturgeschichten zu finden ist, längst nicht mehr die Rolle wie zur Zeit der Rezensionen, in denen die Imago geprägt wurde.596 An der „literar-
um die Eigenheit herauszustellen, wenn es heißt „[b]ei alledem hat er vollständig sein eigenes Haus und Hof und lebt nicht von seinen Verwandten“ (vgl. ebd.). 592 Emil Althaus: Rez. zu Wilhelm Raabes „Chronik der Sperlingsgasse“. In: Blätter für literarische Unterhaltung 33 (1857), 607. 593 Wolzogen bezog sich übrigens mit diesem Ausdruck genau auf diese Verortung in der Literaturtradition Jean Pauls u.a. (vgl. Wolzogen: Von der Sperlingsgasse bis zum Krähenfelde, 359). 594 Die Wertigkeit – dies sei noch einmal betont – bleibt dabei offen (vgl. hierzu auch Butzer: Mit Kanones auf Raabe schießen, 38). 595 Werner Hahl: Gesellschaftlicher Konservatismus und literarischer Realismus. Das Modell einer deutschen Sozialverfassung in den Dorfgeschichten. In: Max Bucher (Hg.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Stuttgart 1976, Bd. 1, 48-95, 52. 596 Vgl. hierzu etwa Emrich: Jean Pauls Wirkung im Biedermeier, 395f. Vgl. zudem Sprengel: Jean Paul im Urteil seiner Kritiker, LXIVff., aber auch: Georg Wilhelm Meister: Vielgeschmäht und hochgepriesen. Jean Paul im Urteil der Literaturgeschichte. In: Hesperus. Blätter der Jean-Paul-Gesellschaft 26 (1963), 26-33, 28. Auf die Abnahme der Erwähnungen innerhalb der Rezensionen zu Raabe verweist auch Günter Butzer (vgl. Butzer: Mit Kanones auf Raabe schießen, 35).
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historischen Assoziation mit Jean Paul“597 wird – ähnlich wie in der Aristotelischen Substitutionstheorie der Metapher, die davon ausgeht, dass der Ort, aus dem die Übertragung stattfindet, noch am fremden Ort transparent bleibt598 – die Herkunft sichtbar. Der Blick in die Literaturgeschichte ist dadurch wie die Betrachtung der Sterne: das Himmelslicht, das wir wahrnehmen, ist viel älter als das, was die Sterne in diesem Augenblick ausstrahlen.599 Sehen wir uns – auch um dieses erste Ergebnis zu validieren – ein weiteres, diesmal auf Heyse bezogenes Beispiel an. Um einen Nachweis für unsere These zu erbringen, müssen wir hier zeitlich natürlich weiter zurückgehen (s.o.). Wenn richtig wäre, was wir behaupten, so müssten wir Rezensionen finden, die vor der ersten literaturgeschichtlichen Erwähnung liegen und bereits jene Images entwerfen, die sowohl dieses erste als auch das spätere literarhistorische Bild Heyses prägen. Die allerersten Rezensionen zu Heyses Werk stammen aus den fünfziger Jahren600. Die ersten uns bekannten stammen aus dem Jahr 1852 und sind sämtlich im Deutschen Museum erschienen, das „[u]nter den Rezensionsorganen, die sich mit dem eigentlichen Erstlingswerk des jungen aufstrebenden Dichters beschäftigen, [..] vor allen anderen […] zu nennen [ist]“. Dies umso mehr als „in den sechszehn Jahren, die das Blatt existiert, achtzehn Rezensionen, deutlich mehr als in jeder anderen Zeitschrift der Zeit“ zu Heyse und seinem Werk publizierte.601 Fast alle dieser Veröffentlichungen stammen aus der Feder des Herausgebers Robert Prutz. Die allererste findet sich im ersten Halbjahrband dieses Jahres 1852 unter der Rubrik Literatur und Kunst.602 Ihre Anfangsbemerkungen deuten allerdings darauf hin, dass bereits vorher – vielleicht in Tageszeitungen oder anderen noch nicht erfassten Literaturblättern – Kritiken erschienen
597 Ebd., 35. 598 Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 52004, 7f. 599 Ähnliches gilt auch für den Verweis auf Charles Dickens wie die Rezeptionsgeschichte in Deutschland nahelegt (vgl. hierzu ausführlich: Edward McInnes: „Eine untergeordnete Meisterschaft?“ The critical Reception of Dickens in Germany 1837-1870. Frankfurt a. M. 1991, 75ff.). 600 Vgl. hierzu: Werner Martin: Paul Heyse. Eine Bibliographie seiner Werke. Mit einer Einführung von Prof. Dr. Norbert Miller. Hildesheim 1978 sowie diesbezüglich die fruchtbare, leider aber in vielem nicht korrekte Ergänzungsbibliographie Koebes: Die Paul-HeyseRezeption, IVff. 601 Ebd., 50. 602 Robert Prutz: Literatur und Kunst [Rez. zu Urica]. In: Deutsches Museum 2 (1852) Januar-Juni, 143-146.
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waren.603 Aus dem, was Prutz schreibt, können wir ihren Inhalt erschließen: so sei dort etwa „die Meisterschaft, mit welcher er [scil. Heyse] die Sprache behandelt“604 hervorgehoben, aber „bei so vielem Lobe [seien] auch die Schattenseiten nicht [verschwiegen worden], an denen sein [scil. Heyses] Talent bis jetzt noch leide[]“605 und die – wie Prutz daran anschließend ausführt – „in der Tat doppelt bedenklich [seien]“, weil Heyse noch ein „Talent in den Anfängen seiner Entwicklung“ wäre.606 Im Folgenden zählt er die Mängel auf, die er in Heyses Schreibweise erblickt. Hierzu gehöre ein „zuviel“ an „künstlerischer Berechnung“, was sich darin äußere, dass „wie frisch auch die Farben [seien], welche Heyse auf seine Leinwand aufträgt, in der ganzen Zusammenstellung seiner Gruppen, ja oft schon in der Wahl seiner Stoffe [..] sich bei alldem eine gewisse Blassiertheit kund[gäbe]“ und er „aus einer sehr naheliegenden lüsternen Ueberreizung, zu [..] gewaltsam unnatürlichen Mitteln greif[e]“.607 Heyse müsse einsehen lernen, dass es „für jeden Künstler kein anderes Maß“ gäbe als „Wahrheit und Natur“. Auch die „meisterhafteste Beherrschung der Sprache [reiche nicht aus] den Mangel an innerer sittlicher Reife zu verdecken“ und „es [gäbe] überhaupt ohne sittliche Grazie auch keine künstlerische“. Es folgt eine Inhaltsangabe der Urica, deren Neuerscheinung den Anlass zur Kritik bot. Im zweiten Halbjahr dieses Jahrgangs befinden sich zwei weitere kurze Artikel Prutzૃ zu Heyse. Der erste befasst sich mit dem von Emanuel Geibel und Heyse im gleichen Jahr herausgegebenen Spanischen Liederbuch, in dem beide Gedichte aus dem Spanischen und (im Anhang) Provenzalischen sammelten und ins Deutsche übertrugen. Neben allgemeinen Bemerkungen zum Werk heißt es zu Heyse selbst, dass er „sich durch ungemeine sprachliche Gewandtheit aus[zeichne], wie das auch schon früher in diesen Blättern rühmend hervorgehoben [worden sei]“608. Der zweite Artikel, der unter der Überschrift Dichterherbst erscheint und von Prutz
603 Ähnlich wie die evtl. von Theodor Fontane (Martin gibt in seiner Bibliographie Fontane als Verfasser an; Koebe gibt es, da der Artikel tatsächlich nicht gezeichnet ist, als Anonym an) verfasste Rezension zu den Hermen im Literatur-Blatt des Deutschen Kunstblattes 1 (1854) 25, 90-95; 25, 97-99. 604 Prutz: Literatur und Kunst, 143; die Rezension im Literatur-Blatt des Deutschen Kunstblattes deutet an, dass einige Kritiken Heyses Francesca von Rimini „tugendbequem [..] vernichte[t]“ (Anon.: Hermen, 93) hätten. 605 Prutz: Literatur und Kunst, 143. 606 Ebd., 144. 607 Ebd. 608 Robert Prutz: Literatur und Kunst [Rez. zum Spanischen Liederbuch]. In: Deutsches Museum 2 (1852) Juli-December, 62-64, 63.
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„Ende October 1852“609 verfasst wurde, widmet wenige Zeilen der Heyseschen Neuerscheinung Die Brüder, die Prutz positiv aufgrund ihrer ‚sorgfältigen Ausarbeitung‘ als „ein kleines Meisterstück“ würdigt.610 Im Folgejahr finden sich keine Rezensionen über Heyse im Deutschen Museum, was schlicht und einfach damit zu begründen ist, dass Heyse 1853 nichts publiziert hat.611 Außerdem hält sich Heyse in diesem Jahr längere Zeit in Italien auf, worüber die Zeitschrift wiederum in ihren Notizen berichtet,612 was zumindest den erhöhten Stellenwert Heyses anzeigt. 1854 erfolgt die Berufung Heyses nach München, worüber die Notizen ebenfalls berichten613 und was Prutz in einem Leitartikel selbst kommentiert.614 Im Juli folgt eine ebenfalls von Prutz verfasste Kritik der Hermen, in der er – ausgehend von einer nicht ausfindig zu machenden Rezension – vernichtend urteilt: Ein berliner Witzblatt deutete sich den etwas poetischen Titel [scil. Hermen], der aber gerade dadurch wieder bezeichnend ist für den Dichter, in der Art aus, daß darunter Bilde verstanden werden „ohne Hand und Fuß“. Das ist nun jedenfalls witziger als wahr; ja man könnte im Gegentheil behaupten, diese Heyse’schen Gedichte haben nur Hand und Fuß, sie wissen sich nur mit Grazie in einer Reihenfolge schöner Stellungen zu bewegen – aber was das Gedicht eigentlich erst zum Gedicht macht, der warme Pulsschlag der Empfindung, der Blitz des Gedankens, die naive Fülle eines natürlichen, in sich selbst befriedigten, aus sich selbst hervorquellenden Lebens, davon findet sich weniger oder nichts bei diesem Dichter, der uns überhaupt weit mehr Verskünstler zu sein scheint als ein wirklicher Dichter. Paul Heyse glänzt hauptsächlich durch zwei Eigenschaften: er besitzt eine Herrschaft über die Sprache, die selbst in dieser Zeit der formalen Cultur als ungewöhnlich bezeichnet werden muß, und er hat zweitens eine glückliche Gabe der Schilderung für gewisse gemüthliche Zustände, gewisse Stimmungen der Seele, besonders wenn dieselben etwas unklarer, mystischer Natur sind oder doch wenigstens aus verworrenen und seltsa-
609 Robert Prutz: Dichterherbst. In: Deutsches Museum 2 (1852) Juli-December, 835-859, 835. 610 Ebd., 857. 611 Vgl. Martin: Paul Heyse, 1. 612 Vgl. Anonym: Notizen. In: Deutsches Museum 3 (1853) Januar-Juni, 303. 613 Vgl. Anonym: Notizen. In: Deutsches Museum 4 (1854) Januar-Juni, 566. 614 Vgl. Robert Prutz: Die münchener Berufungen. In: Deutsches Museum 4 (1854) JanuarJuni, 161-166. Auch wenn Prutz darin die Vorbehalte des mit „Achselzucken und Kopfschütteln“ darauf reagierenden Publikums auszuloten versucht, werden in der Darstellung der Positionen die bereits erwähnten bürgerlichen Ressentiments und damit zusammenhängende Vorurteile gegenüber der Aristokratie sehr deutlich (vgl. ebd. 164).
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men Situationen hervorgehen. Mehr freilich als gemalte Flammen weiß er uns auch in solchen Fällen nicht zu geben; wie die Gabe der Erfindung scheint ihm auch die Gewalt der Leidenschaft, die Fülle eines mächtigen, Alles durchdringenden, Alles mit sich fortreißenden Pathos versagt. Er ist der wahre Dichter der Dilettanten; sie können sein künstlerisches Machwerk bewundern, ohne daß ihr Kopf dabei etwas zu denken, ihr Herz etwas dabei zu empfinden hat. Hat ein solcher Dichter eine Zukunft?615
Eine Bejahung dieser Frage möchte Prutz nicht ganz ausschließen, resümiert jedoch: „Auf dem jetzigen Wege, so viel steht fest, kann Hr. Heyse wol ein gepriesener Salondichter werden: aber zum Herzen des Volkes gelangt er damit so wenig wie zur Unsterblichkeit.“616 Begegneten uns schon in der ersten Rezension von 1852 einige Formulierungen, die uns an die bereits dargestellten späteren literaturgeschichtlichen Images erinnerten, so klingen uns jetzt wohl die Ohren. Denn vieles finden wir hier vorformuliert, was sich später dort kanonisiert. Aber verfolgen wir diese Spur noch ein Stück weiter: 1855 veröffentlicht Prutz im Deutschen Museum zwei weitere Kritiken zu Heyse. Die erste beschäftigt sich mit der ersten Sammlung der in diesem Jahr erschienen Novellen und schließt in ihrem Ton gleich an die vorherige an. Nach Prutz’ Meinung nämlich bieten diese Novellen Heyses „eine interessante Nahrung“ für den „feinern kritischen Geschmack“ des „ästhetischen Feinschmecker[s], der mehr auf künstlerische Behandlung achtet als auf den Stoff, und mehr liest, um gelesen zu haben, als um sich zu unterhalten“617. Auch in diesen Erzählungen zeige sich, so Prutz, „dieselbe Formenglätte und dieselbe Durcharbeitung, die den Erzeugnissen dieses jungen Dichters überhaupt eigentümlich sind“618. Auch hier sei „die Sprache [..] klar und wohllautend, von edler Einfachheit, die Composition trotz des engen Rahmens, in dem die Mehrzahl derselben sich bewegt, sorgfältig überdacht und mit sicherer Hand zurechtgerückt.“619 Aber auch hier seien die Schattenseiten nicht ganz ausgeblieben, die uns wol sonst schon an den Heyseschen Dichtungen entgegentraten. Also namentlich eine gewisse Kälte, der wir es allzu sehr an-
615 Robert Prutz: Literatur und Kunst [Rez. zu den Hermen]. In: Deutsches Museum 4 (1854) Juli-December, 78-79, 78f. 616 Ebd., 79. 617 Robert Prutz: Literatur und Kunst [Rez. zu Novellen]. In: Deutsches Museum 5 (1855) Januar-Juni, 29-30, 29. 618 Ebd. 619 Ebd.
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merkten, daß der Verfasser mehr mit dem Verstande als mit dem Herzen arbeitet. Und zweitens, was nahe damit zusammenhängt, die Neigung zum Pikanten, Absonderlichen, selbst auf Kosten der Wahrheit und Schönheit.620
Da „diese beiden Eigenschaften“ sich aber mit der Novelle „wol noch am ersten [vertragen]“, gelangt er zu dem Fazit, dass „diese Novellen als höchst anmuthige und interessante Erscheinung, ja sogar als dasjenige unter den Werken des Dichters zu bezeichnen [sei], das uns die meiste und reinste Befriedigung gewährt hat.“621 In der zweiten Rezension dieses Jahres geht es um die noch 1854 erschienene622 Tragödie Meleager. Prutz lobt zwar auch hier (insbesondere einzelne Teile wie das „Chorlied der Parzen“, das er als „Meisterwerk“623 bezeichnet), lässt es allerdings „nur als Experiment“624 und, insofern man „die Forderung eines einheitlichen organischen Kunstwerks fallen“ lässt, „als eine geistreiche Studie“625 gelten. Insgesamt nämlich erweise es sich als zu eklektisch.626 Allerdings heißt es auch hier wieder, dass „[d]ie Sprache [..] durchgängig von außerordentlichem Wohllaut [sei]“ und „die einzelnen Sentenzen [..] eine Fülle des Gedankens, einen Adel des Ausdrucks [atmeten], der den Leser unwiderstehlich gefangennimmt.“627 Zum Schluss jedoch gelangt er zu einem ähnlichen Fazit wie bei den Hermen, wenn er schreibt: Der Studien hat er [scil. Heyse] nachgerade genug angestellt, es wird Zeit für ihn, seine Kraft auch zu ernstgemeinten Werken zu sammeln, zu Werken, die ihren Ursprung nicht blos der poetischen Laune verdanken, auch nicht blos für den Gaumen ästhetischer Feinschmecker berechnet sind, sondern die in der Geschichte unsers Volkes wurzeln, von seinen Empfindungen, seinen Kämpfen, seinen Hoffnungen erfüllt und darum auch dem gesamten Volke verständlich und genießbar.628
620 Ebd., 30. 621 Ebd. 622 Vgl. Martin: Paul Heyse, 1. 623 Robert Prutz: Literatur und Kunst [Rez. zu Meleager] ]. In: Deutsches Museum 5 (1855) Juli-December, 727-728, 728. 624 Ebd., 727. 625 Ebd.. 626 Vgl. ebd., 728. 627 Ebd. 628 Ebd.
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Auch in diesen beiden Rezensionen verfestigt Prutz – wie wir sehen können – noch einmal das Bild, das er zuvor von Heyse entworfen hat. Auch in diesen beiden Rezensionen finden wir wieder bis in die Formulierung hinein jene Images unserer Literaturgeschichten vorgeprägt (vgl. 4.1.). Dass Prutz hier seinerseits nicht alles selbst entwickelt hat, zeigt etwa die sich verselbstständigende Übernahme des Urteils über die Sprachfertigkeit Heyses (s.o.).629 Anders als bei Raabe, bei dem wir mit Hebbel einen konkreten Nachweis für die Übernahme der Images aus der Literaturkritik in die Literaturgeschichte zeigen konnten, ergibt sich hier die Schwierigkeit zu zeigen, dass die Literarhistoriker auf Prutzૃ Rezensionen zurückgriffen haben. Aber das ist gar nicht notwendig. Nicht nur deswegen, weil das bisherige Ergebnis für sich sprechen sollte. Sondern auch deshalb, weil uns dieses Beispiel den Weg der Verfestigung bzw. Kanonisierung der Images in die Literaturgeschichte zeigt: Wir wollten in diesem Fall nach Rezensionen suchen, die vor der ersten Literaturgeschichte liegen, in die Heyse aufgenommen und in der sein Bild erstmals literarhistorisch geprägt wird. Das haben wir mit diesen im Deutschen Museum zwischen 1852-1855 erschienen Rezensionen getan. 1856 erscheint dann schließlich jene erste Literaturgeschichte630 mit dem Titel Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848 bis 1858. Dass diese Literaturgeschichte sich gerade auf die genannten Rezensionen des Deutschen Museums bezieht, wird – noch bevor man einen Blick in den Text wirft – wohl sofort einleuchten, wenn man ihren Verfasser kennt. Es ist nämlich Robert Prutz selbst. Vergleicht man schließlich die Texte miteinander, so springt als erstes ins Auge, dass sich der Text der Literaturgeschichte im Großen und
629 Die Erschließung des Materials bei diesen Rezensionen ist nahezu unmöglich. Es müssten hierzu nicht nur alle literarischen Zeitschriften ausgewertet werden, sondern auch alle Feuilletons von Tageszeitungen. Einzelne zeitgleich erschienene Rezensionen allerdings legen, da sie ebenfalls diese Bilder enthalten, nahe, dass auch ihnen eine Vorprägung zugrunde liegt (vgl. etwa Anonym: Melanger. Eine Tragödie von Paul Heyse. In: Blätter für literarische Unterhaltung 23 (1855), 413-414, 414). Diejenigen allerdings, die nun ihrerseits argumentieren und behaupten, dass die Dinge einfach textintrinsisch zu erschließen sind und als solches von den Kritikern unabhängig erschlossen wurden, seien darauf hingewiesen, dass es durchaus keine Einstimmigkeit in den Literaturkritiken gibt, wie später in den Literaturgeschichten. So schreibt etwa ein anonymer Kritiker der Zeitschrift Grenzboten über Heyse, dass „trotz aller Geschicklichkeit und Geschmeidigkeit […] die Form noch nicht fertig [ist]“ (Anonym: Gedichte. – Hermen. Dichtungen von Paul Heyse. In: Die Grenzboten 3 (1854), 72-73, 73)., ein Urteil, über das alle Literaturhistoriker gegenteiliger Meinung sind (vgl. 4.1). 630 Dass es sich tatsächlich um die erste handelt: vgl. Martin: Paul Heyse, 105.
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Ganzen aus den früheren Rezensionen zusammensetzt. Dies wird übrigens wenige Jahre später gängige Praxis und trägt sicher auch zu einer wechselseitigen Verfestigung zwischen Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung und (damit einhergehend) zur Kanonisierung bei.631 Interessant ist auch der unmittelbare Vergleich. Auffällig ist dabei die passagenweise Selbstzitation, die teilweise nur um Übergänge erweitert wird.632 Darüber hinaus werden einige Urteile, die bereits über ein spezielles Werk geäußert wurden, nun auf das gesamte bisherige Schaffen ausgeweitet und verallgemeinert, so dass nun etwa von der „Kälte“ gesprochen wird, „die überhaupt alle Schöpfungen dieses Dichters charakterisieren“633. Sie werden auf weitere bzw. andere Werke übertragen, auch hier meist mit Verallgemeinerungen im Anschluss.634 So wird etwa das Fehlen des „eigentlichen Lebenskerns“ und der „Beziehung zum Volk“635 – bisher nur für die Hermen konstatiert – nun auch auf Meleager übertragen. Hinzu kommt der bisher nur implizit vorhandene Vorbehalt einer zudem fehlenden Beziehung „zur Gegenwart des Dichters“, der verallgemeinernd mit dem vorigen verknüpft wird, wenn es heißt: „Aber irgend eine Beziehung muß jedes Kunstwerk, das nicht bloß in den Bücherschränken der Aesthetiker, nein, auch in den Herzen des Volkes leben will, zu seiner Gegenwart doch haben“636. Bisheriges Lob wird interessanterweise relativiert, indem beispielsweise über das „kleine Meisterstück“ Die Brüder (s.o.) nun gesagt wird, es falle schwer, „es für das Erzeugnis eines und desselben Dichters zu halten“637. Zudem werden nun auch Urteile über bisher nicht besprochene Werke gefällt: So wird etwa über Francesca von Rimini gesagt, es sei als „nicht nur durch ihre Bühnenwidrigkeit, sondern noch weit mehr
631 Als bestes Beispiel ist hier etwa Eduard Engel anzuführen, der vieles, was er im Magazin für die Literatur des (In- und) Auslandes veröffentlicht hat, für seine Literaturgeschichte noch einmal systematisch auf- bzw. für spätere Auflagen überarbeitet (vgl. Sauter: Eduard Engel, 47ff.). 632 Das beginnt mit der Rezension der Urica (vgl. Robert Prutz: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848 bis 1858. Erster Band. Leipzig 1859, 228f.) und endet mit der zum Spanischen Liederbuch (vgl. ebd., 237). 633 Ebd., 236; ähnliches gilt für sein Schreiben „mehr mit dem Verstande als mit dem Herzen“ (ebd). 634 Hier wird noch einmal deutlich, was wir bereits erwähnt hatten. Die Werke selbst spielen keine Rolle, sondern dienen nur als Beispiel der sich der topoihaften (bzw. sich zum Topos verfestigenden) Aussage. 635 Ebd., 234. 636 Ebd., 234f. 637 Ebd., 232.
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durch die sittlichen Widerwärtigkeiten [verdammt]“638. Des Weiteren wird über die Pfälzer in Irland bzw. Sabinerinnen ausgesagt, dass das eine vom „Dichter selbst [..] nach der ersten Aufführung zurückgezogen [worden sei]“ und das andere „das Publikum […] überall kalt gelassen habe[]“639. Zum Schluss versucht Prutz unter Beantwortung der Fragen: „Wie erklären wir uns nun die Erscheinung dieses Dichters? und wie gehört er namentlich hierher, wo wir vorzugsweise die poetischen Repräsentanten unserer gegenwärtigen Reactionsepoche, die Dichter der Freude und des unbefangenen Lebensgenusses abschildern wollten?“640 und der uns bereits bekannten Frage „Hat ein solcher Dichter eine Zukunft?“641 ein Fazit zu ziehen, in das er seine bisherigen Kritikpunkte einarbeitet. Hier schreibt er: Ganz gewiß gehört er hierher. Denn auch Paul Heyse mit all seinen Absonderlichkeiten und Verzwicktheiten ist ein Dichter des Genusses, nur daß dieser Genuß selbst bei ihm kein unmittelbarer und natürlicher, sondern ein künstlich zurechtgemachter ist; […] so ist Paul Heyse der Dichter des ästhetischen Raffinements und der dilettantischen Feinschme642
ckerei.
Daran anschließend begründet Prutz die Ergebnisse seines ästhetischen Urteils mit Biographischem. Dies konnten wir an anderer Stelle bereits beobachten (s.o.), finden es hier allerdings durch Prutz zum ersten Mal wie folgt vorgeprägt:643 Von früh an ist der Dichter unter ästhetischen Eindrücken aufgewachsen; sein Vater selbst war ein feinsinniger und geschmackvoller Gelehrter, und auch übrigens traten dem Dichter von Jugend auf vorwiegend ästhetische Eindrücke und Anregungen entgegen. Was in dieser ästhetisch durchwürzten Luft gewonnen und erreicht werden kann, das hat der Dichter sich redlich angeeignet: Feinheit des Geschmacks, Empfänglichkeit der Phantasie und einen regen, fast überragenden Eifer zur poetischen Production. Das ist etwas, aber
638 Ebd., 227. 639 Ebd., 237. 640 Ebd., 238. 641 Ebd., 239. 642 Ebd., 238. 643 Auf seine literarhistoriographische Bedeutung wurde bereits ausführlich eingegangen (vgl. 3.2).
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bei weitem nicht genug, ja in seiner Vereinsamung kann und muß es sogar schändlich wirken.644
Hieran schließen sich Positionen an, die seine Junghegelianische Prägung zeigen (s.o.), und Heyse unterstellen, „das Erbtheil einer männlichen, thatenkräftigen Gesinnung, ernste und ausdauernde Begeisterung für die großen Schicksale der Menschheit, Vertrauen in die Geschichte und ihre Entwicklung […] nicht mit[ge]geben [bekommen zu haben]“645, sondern nur jene „ganze ästhetische Liebhaberei, de[n] geistreichen Dilettantismus“646. Es folgt die bekannte Frage nach Heyses Zukunft und die bereits in der Rezension gegebene Antwort, dass er „wol ein gepriesener Salondichter werden, aber zum Herzen der Nation […] so wenig wie zur Unsterblichkeit [gelangen könne]“647. Prutz trägt in dieser ersten literarhistorischen Betrachtung noch einmal alle Urteile zusammen, die er über Heyse in seinen Rezensionen gefällt hatte. Bereits durch diese Wiederholung verfestigt er das von ihm entworfene Heysebild. Durch die Wiederaufnahme in die literaturgeschichtliche Darstellung, durch Übertragung auf andere Werke und Verallgemeinerung auf das Gesamtwerk (für das der Autor hier stellvertretend steht) zementiert er dieses Bild nochmals. Letztlich avanciert es bereits hier zur Imago. Indem nun spätere Literaturgeschichten auf Prutz indirekt (d.h. auch aus zweiter oder dritter Hand) oder direkt auf seine Rezensionen (entweder in Form der Rezension selbst oder in Form der Literaturgeschichte) zurückgreifen (wie etwa explizit Adolf Bartels in seiner Literaturgeschichte648), werden diese Bildelemente endgültig petrifiziert und stereotypisiert, da sie nun von mehreren Handelnden geteilt werden.649 Damit einher geht gleichzeitig das, was wir ganz zu Beginn unserer Kanonüberlegungen herausgearbeitet hatten: Analog zur Trennung von kanonischen und apokryphen Texten wird die Produktivität inspirierter Schriften – in diesem Fall anders posi-
644 Ebd. 645 Ebd. 646 Ebd. 647 Prutz: Die deutsche Literatur, 240. 648 Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 263. 649 Vgl. Winfried Thielmann: Authentische und zitierende Erfahrung – Dimensionen touristischer Sprachlichkeit. In: Doris Höhmann (Hg.): Tourismuskommunikation. Im Spannungsfeld von Sprach- und Kulturkontakt. Mit Beiträgen aus der Germanistik, Romanistik und Anglistik. Frankfurt a.M. 2013, 37-51, 44; Thielmann allerdings spricht hier aufgrund differenzierender, uns jedoch nicht tangierender sprachwissenschaftlicher Überlegungen nur von Image und nicht von Stereotyp.
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tionierter Literaturkritik (wie etwa die, die keineswegs von Formkunst bei Heyse spricht)650 – ein Stück weit stillgelegt. Dies vollzieht sich dadurch, dass sich eine bestimmte, in seiner Wertigkeit an sich noch offene Imago durch direkte oder indirekte intertextuelle Bezüge etabliert.651 Dieses zweite Beispiel validiert nicht nur unser erstes Ergebnis. Es erweitert unseren Blick auf die Mechanismen literarischer Kanonisierungsprozesse auch dahingehend, dass die Grundlage der späteren literaturgeschichtlichen Images bereits in der Literaturkritik vorgeprägt wurde und diese tatsächlich, wie vermutet und teilweise schon belegt, ihre ‚gate-keeper‘-Funktion wahrnimmt. 4.3.6 Abstrahierung des Mechanismus Wollen wir an dieser Stelle versuchen, den Mechanismus zur Kanonisierung noch einmal auf abstrakterer Ebene zu durchleuchten. Was sich letztlich vollzieht, entspricht dem, was Winfried Thielmann bereits in seinem Aufsatz zur Authentischen und zitierende Erfahrung in Bezug auf „touristische Formen des Erlebens“652 skizziert hat: Ausgehend von der Wissensdefinition Ehlich/Rehbeins, nach der Wissen aus einer dreistelligen Relation zwischen einem Subjekt des Wissens, dem Thema und dem bezüglich des Themas Gewussten besteht,653 zeigt er, wie Bilder als „komplexeste Wissensform, die wir bezüglich eines Wissensthemas vorhalten können“ und insbesondere „Bild[er] zweiter Stufe“, d.h. „kommunizierte Bilder“ (hier im Speziellen durch Text kommunizierte Bilder) im Gegensatz zu „authentisch-erfahrungsbasierten Bildern“, geprägt werden.654 Thielmann erklärt (mit Hinblick auf Reiseführer etc.): Autorseitig stellt sich die Sache folgendermaßen dar: Wer Texte produziert, die Bilder eines Ortes vermitteln sollen, schreibt für spezifische Bedürfnisse. Selbst wenn er nicht primär touristische Erfordernisse bedienen möchte, so geht es ihm doch um die Kommunikation von Wahrnehmungen, die einen Leser, der nicht an diesem Ort ist, interessieren
650 Anon.: Gedichte. – Hermen, 73. Vgl. hierzu Anm. 1817. 651 Weitere Beispiele für die Herkunft der Images bzw. Stereotypisierung lassen sich auch durch den letztlich ebenfalls auf die imagologischen Überlegungen hinauslaufenden Schlagwortkatalog mit Nachweisen bei Annemarie von Ian belegen, der leider jedoch viele spätere durch Werner Martin und Kristina Koebe ausfindiggemachte Quellen nicht berücksichtigt (vgl. Ian: Die zeitgenössische Kritik an Paul Heyse, 110ff.). 652 Thielmann: Authentische und zitierende Erfahrung, 37. 653 Ebd., 42. 654 Ebd., 43f..
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könnten. Das kommunizierte Bild muss in das Vorwissen des Lesers integrierbar sein und zugleich Elemente enthalten, die Bedürfnisse des Lesers bedienen. Wer Bilder eines anderen Ortes vermittelt, selegiert mithin aus seinen Erlebnissen diejenigen, die er für besonders kommunikabel erachtet. Er erlebt sozusagen im Hinblick auf das Kommunizieren des Erlebten. Diese kommunizierten Erlebnisse sind derart, dass sie Bedürfnisse bedienen, die ihrerseits – denn Bedürfnisse sind ja nicht beliebig – gesellschaftlich ausgearbeitet sind. Dies hat zur Folge, dass, wenn es dem Autor eines Textes über einen anderen Ort nur noch um im diesen Sinne Kommunikables geht, also um die Bedienung gesellschaftlich ausgearbeiteter Bedürfnisse, er eigene Erlebnisse gar nicht mehr benötigt, wenn er die Möglichkeit hat, bereits auf andere derartige Kommunikate, also Images, zurückzugreifen. So erklärt sich, dass Orte sozusagen nur über Topoi gedacht werden können.655
Gleiches gilt letztlich auch für die Literaturkritik und in potenzierter Form für die Literaturgeschichte. Auch dort geht es – wie wir sehen konnten – um ‚kommunizierte Bilder‘. Sie bedienen ‚die Bedürfnisse des Lesers‘ und sollen zugleich – so wie sie in sein ‚Vorwissen‘ integrierbar sind – die ‚Bedingung gesellschaftlich ausgearbeiteter Bedürfnisse‘ erfüllen, nämlich die Ausdifferenzierung der bürgerlichen Werte. Diesen Prozess können wir anhand des bisher Gesagten ebenfalls abstrahieren und mit Hilfe der von Alexander Ziem formulierten Diskursanalyse, die an Marvin Minskys Frame-Semantik anschließt, theoretisieren.656 Als Frame definiert Minsky „a datastructure for representing a stereotyped situation“657. Dies umfasst erweitert alle „Wissenstrukturen auf verschiedenen Abstraktionsstufen“, „denen unterspezifizierte Daten der Sinneswahrnehmung gleichsam unterliegen und epistemisch anreichern [sic!]“658. In Frames ist folglich alles „prästabilisier-
655 Ebd., 44f.. 656 Die Frametheorie für Literaturkritik fruchtbar zu machen hat bereits Lianmin Zhong unternommen (vgl. Lianmin Zhong: Bewerten in literarischen Rezensionen. Linguistische Untersuchungen zu Bewertungstypen, Buchframe, Bewertungsmaßstäben und bewertenden Textstrukturen. Frankfurt a. M. 1995, 83ff.). Diesem Versuch verdanke ich die Anregung zur Beschäftigung mit Minskys Theorie, beziehe mich aber im weiteren Verlauf auf Alexander Ziems m.E. innovativeren Ansatz. 657 M[arvin] Minsky: A Framework for Representing Knowledge. In: Dieter Metzing (Hg.): Frame Conceptions and Text Understanding. Berlin 1980, 1-25, 1. 658 Alexander Ziem: Frame-Semantik und Diskursanalyse – Skizze einer kognitionswissenschaftlich inspirierten Methode zur Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Ingo H. Warnke/Jürgen Spitzmüller (Hgg.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Berlin 2008, 89-116, 95.
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te[] und schematisierte[] Erfahrungswissen […] organisiert“, auf das wir kognitiv zurückgreifen und das wir benötigen, „[u]m uns in der Welt orientieren zu können, um das Prinzip der Sinnkonstanz […] aufrecht zu erhalten“.659 Indem Frames als „sprachliche Texte“ bestimmt werden, „die den rationalen Zugang zu stereotypischem Wissen ermöglichen, das an die Lexik gebunden ist“660, können auch Diskurse als „eine (virtuelle) Menge an Texten [verstanden werden], auf deren Basis sich spezifische Frames mit spezifischen Standardwerten herausbilden“661. Nun gilt, dass „übergeordnete Frames untergeordnete insofern determinieren, als sie festlegen, welche Informationen dem jeweiligen ‚Sub-Frame‘ zugehören können“662. Also bestimmt ein Frame, „welche Leerstellen, so genannte ‚slots‘, ein untergeordnteter Frame aufweist, und [gibt] Anweisung, mit welchen konkreten Werten, also mit welchen Wissenssegmenten, dieser aufgefüllt werden kann.“663 Bezogen auf unsere Ergebnisse bedeutet dies folgendes: Der bürgerliche Diskurs bestimmt als ‚übergeordneter Frame‘ den ‚Sub-Frame‘ „deutsche Literatur“. Der Produzent einer Literaturkritik, vor allem aber der der späteren Literaturgeschichte, greift nun einerseits auf die mit diesem Frame verknüpften „kommunikativ prästabilisierten Standardwerte[]“ (hier: die bürgerlichen WertStereotypen)664 zurück, die in diesem „diskursiven Zusammenhang“ (SubFrame) relevant erscheinen, insofern sie „Anschlusskommunikationen (und/oder Inferenzen) ermöglichen bzw. blockieren“665. Er prägt bzw. (indem er von anderen übernimmt) etabliert/kanonisiert nun seinerseits einen weiteren spezifischen Unterframe, der eben jene Stereotypen enthält, die wir bei den Autoren herausgearbeitet haben und die in der Folge den Frame/Diskurs über sie bestimmen.666
659 Ebd.; ausführlicher auch in Alexander Ziem: Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. Berlin 2008, 146. 660 Claudia Fraas: Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte Identität und Deutsche im Diskurs zur deutschen Einheit. Tübingen 1996, 16. 661 Ziem: Frame-Semantik und Diskursanalyse, 96. 662 Ebd., 94. 663 Ebd., 95f. 664 Zur Komplexitätsreduktion bei den semantischen Repräsentationen der Frame-Elemente bis hin zur Prototypsierung vgl. ausführlich Immo Wegner: Frame-Theorie und lexikalische Semantik. In: Deutsche Sprache 7 (1979), 298-314, 307ff. 665 Ziem: Frame-Semantik und Diskursanalyse, 96. 666 Dass hierbei Variablität vorherrscht, die sich u.a. in der unterschiedlichen Füllung der Leerstellen äußert, kann auch durch die Frame-Theorie erklärt werden, die je nach „Abstraktionsgrad einer Informationseinheit“ mit „konkreten Daten (‚fillers‘)“ bzw. nicht vor-
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Dadurch wird ein Frame und sein Bild „von mehreren Aktanten geteilt[]“, d.h. kanonisiert. Dies führt dazu – wie wiederum Thielmann deutlich aufzeigt – dass diese Images (zumal wenn sie sich als ‚Bilder zweiter Stufe‘ verselbstständigen und dadurch potenzieren) schließlich nicht nur „gegenüber der Erfahrung“, sondern auch „gegenüber Alterationen“ resistent werden.667 Der Grund hierfür dürfte in der Arbeit unseres Gedächtnisses selbst liegen, wie die Ausführungen Harald Welzers nahelegen: Die Wahrheit des autobiographischen Gedächtnisses unterliegt allein sozialen Bestätigungskriterien; diese Kriterien sind nicht – wie etwa juristische oder wissenschaftliche Wahrheitskriterien – an objektivierbare Datenbestände gebunden. Bei einem in so hohem Maße exogrammatisch [gemeint ist die im Gegensatz zu neuronalen Einschreibung externe Gedächtnisspur; C.G.] operierenden Gedächtnissystem wie dem menschlichen ist es funktional gleichgültig, ob die ‚Lehre‘ […] auf ein authentisches oder ein importiertes Erlebnis zurückgeht, stärker formuliert: ob man es selbst oder ob es jemand anderes erlebt hat.668
Das legt nahe, dass die (De-)Kanonisierung letztlich über den Prozess einer nahezu irreversiblen Kanonisierung von Stereotypen verläuft.669
4.4 AUTORENPORTRÄTS ALS KANONISIERENDE S CHNITTSTELLE VON L ITERATURKRITIK UND L ITERATURGESCHICHTE Wir haben gesehen, wie Literaturkritik und Literaturgeschichte Hand in Hand gehen, wie die Autoren-Images in der Literaturkritik oft vorgeprägt und etabliert und in der Literaturgeschichte kanonisiert wurden. Dieser letzte Abschnitt rückt
ausgesetzt werden kann, dafür aber um so eher wieder als „Standardwert (‚default value‘) präsupponiert werden [kann]“ (Ziem: Frame-Semantik und Diskursanalyse, 95). 667 Thielmann: Authentische und zitierende Erfahrung, 45; sowie ausführlich 45ff. 668 Harald Welzer: Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven. In: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hgg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Weimar 2010, 1-10, 4. – Zur Unterscheidung Engramm/Exogramm vgl. ebd., 3. 669 Das Phänomen der Rekanonisierung ergibt sich m.E. wie an anderer Stelle angedeutet allein dadurch, dass der übergeordnete Frame sich verändert hat und nun die Vorzeichen des „Sub“-Frames verändert, der im Grunde aber noch immer aus den gleichen Stereotypen besteht.
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nun Mischformen dieser Gattungen in den Mittelpunkt, durch die gezeigt werden kann, dass es synchron hierzu eine gegenseitige Stabilisierung des Kanons gab. Diese Mischformen sind die literarischen Porträts bzw. Autorenporträts, die meist zu einem bestimmten Anlass (beispielsweise aufgrund eines Jubiläums) sowohl in Tageszeitungen als auch in den Literaturzeitschriften, in Einzelfällen sogar als Monographien erscheinen. „[R]ein zahlenmäßig“ übertrafen diese Artikel in den Feuilletons und deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften alles, was „in einem vergleichsweisen Zeitraum“ sowohl über Raabe als auch über Heyse veröffentlicht wurde.670 Verfasser dieser Beiträge waren neben unbekannten, teilweise tatsächlich anonymen Journalisten namenhafte Redakteure und (wie schon bei den populären Literaturgeschichten in Personalunion dazu)671 Literarhistoriker bzw. allein solche. Unter ihnen befanden sich beispielsweise Adolf Bartels, Carl Busse, Eugen Wolff, Richard M. Meyer, Ludwig Salomon u.a. Diese namhaften Autoren streuten ihre Artikel sehr weit. Carl Busse beispielsweise veröffentlichte seinen anlässlich des 70. Geburtstags von Heyse geschriebenen Artikel in sieben Tageszeitungen gleichzeitig. So erschien ein und derselbe Artikel zwischen dem 12. und dem 15. März 1900 in der Danziger Zeitung, im Neuen Wiener Journal, in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung, im St. Petersburger Herold, im Budapester Tagblatt, im Prager Tagblatt sowie im Tagesboten aus Mähren und Schlesien672. Ähnliches gilt auch für Adolf Bartels, der anlässlich Raabes siebzigstem Geburtstag, bei dem er übrigens sowohl die Rede der vormittäglichen Hauptfeier des Geburtstags im Braunschweiger Rathaus673 als auch ein halbes Jahr zuvor, am 26. April, vor dem Berliner „Verein
670 Jörg Thunecke: Bemerkungen zur Rezeption Wilhelm Raabes anläßlich seines 70. Geburtstags am 8. September 1901. In: Leo A. Lensing/Hans-Werner Peter (Hgg.): Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Aus Anlaß des 150. Geburtstages (18311981). Braunschweig 1981, 434-461, 435. Dass diese Aussage auch auf Heyse zutrifft beweist der erste Blick in die Bibliographie Martins (vgl. Martin: Paul Heyse, 119ff., 132ff.). 671 Vgl. Kap. 3.4. 672 Vgl. Martin: Paul Heyse, 119 – da die meisten der Artikel mir im Heyse Nachlass in der Staatsbibliothek (Heyse hat sie seinerzeit über ein Büro, das anscheinend hierfür beauftragt war, sammeln lassen) bzw. über Fernleihbestellungen zugänglich waren, konnte ich feststellen, dass es sich um ein und den gleichen Artikel handelt. 673 Vgl. Thunecke: Bermerkungen zur Rezeption Wilhelm Raabes, 434; Adolf Bartels: Wilhelm Raabe. Festrede zur Feier von Wilhelm Raabe’s siebzigsten Geburtstage. In: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart 1 (1901/02), 86-97.
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zur Förderung der Kunst“674 gehalten hatte, gleich in mehreren Zeitschriften675 und einer Tageszeitung676 unterschiedliche, sogar dem jeweiligen Veröffentlichungsorgan677 in ihrer Tendenz (einschl. Stereotypsierung) angepasste, aber sehr ähnliche Porträtierungen von Raabe vornahm. Einige von ihnen – wie etwa Eduard Engel – veröffentlichten sogar zu jedem Anlass (so etwa zu Heyses siebzigsten678 bzw. achtzigsten679 Geburtstag sowie anlässlich seines Todes680) einen Beitrag. Alle diese Porträts weisen die gleiche Kanonisierungstendenz auf, die von den Verfassern auch in ihren Literaturgeschichten vertreten wird. Ja, einige zitieren, ähnlich wie im o.g. Fall von Prutz, sich selbst. Dieses Mal verläuft der Weg jedoch umgekehrt: von der Literaturgeschichte in die Zeitschrift. Einer der interessantesten Fälle dieser Art ist der einen Tag nach dem Tod von Paul Heyse in der Morgenausgabe der Berliner Zeitung Der Tag erschienene Beitrag „Paul Heyse als Mensch und Dichter“ von Franz Hirsch. Nach einigen Vorbemerkungen zu ersten persönlichen Lektüreerfahrungen und einem die wichtigsten Stationen umfassenden Lebensabriss übernimmt Hirsch fast wortwörtlich das, was er dreißig Jahre (!) zuvor in seiner Literaturgeschichte geschrieben hat, und lässt
674 Vgl. Thunecke: Bermerkungen zur Rezeption Wilhelm Raabes, 434; Adolf Bartels: Wilhelm Raabe. Ein Vortrag. Gehalten im Berliner Verein zur Förderung der Kunst. Leipzig und Berlin 1901. 675 Vgl. Adolf Bartels: Wilhelm Raabes. Zu seinem siebzigsten Geburtstage. In: Erwinia. Monatsblatt des litterarischen Vereins ‚Alsabund‘ 8 (1900/01) 12, 172-179; Ders.: Wilhelm Raabe. Zu seinem siebzigsten Geburtstage. In: Der Kunstwart 14 (1901) 23, 417-425; Ders.: An Wilhelm Raabe. In: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart 1 (1901), 133; Ders.: Wilhelm Raabe. In: Bayreuther Blätter 24 (1901) 10, 299-303; Ders.: Wilhelm Raabe. In: Deutsche Zeitschrift 14 (1901), 769-773. 676 Adolf Bartels: Wilhelm Raabes. Zu seinem siebzigsten Geburtstage. In: National-Zeitung (Berlin) vom 8.9. 1901, Jg. 53, Nr. 504 Morgenausgabe. 677 Am deutlichsten vielleicht in den Bayreuther Blättern, wo er, da dort „jedes Dezennium eine Revue über die Werke abgehalten und ihre Vorzüge ins Licht gestellt [würden]“ insbesondere auch auf die „Werke des letzten Jahrzehnts“ eingeht (Adolf Bartels: Wilhelm Raabe. In: Bayreuter Blätter, 302), was in diesen Geburtstagsporträts selten geschah (vgl. Thunecke: Bemerkungen zur Rezeption Wilhelm Raabes, 435). 678 Eduard Engel: Paul Heyse. In: Hamburger Fremdenblatt. Beilage v. 15.3. 1900. 679 Eduard Engel: Was wird aus Paul Heyse werden? Eine Betrachtung. In: Der Erzähler. Unterhaltungs-Blatt des „Badischen-General-Anzeiger-Mannheimer Tageblatt“ 31, 15.3. 1910. 680 Eduard Engel: Paul Heyse. In: Leipziger Neuesten Nachrichten 93, 3.4.1914, 4. Beilage.17f.
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somit eine erhebliche Zeitspanne aus, in der Heyse noch sehr produktiv war. Auch wenn er hier und da einen neueren Werktitel aufnimmt, bleibt Hirsch bei der resistenten stereotypen Charakterisierung des Werks mit seiner „abgeklärten Schönheit der Form“, den „fein gemeißelt[en]“ Gestalten, der „mit überlegter Kunst abgetönt[en]“ Farben etc.681 Dieselben Charakterisierungen bestimmen ganz generell nahezu alle diese Porträtierungen sowohl in der Tagespresse, in der die Mehrzahl der Beiträge erscheint,682 als auch in den teilweise differenzierteren,683 im Grunde aber nur ausführlicheren und die Prioritäten an anderer Stelle setzenden Zeitschriften.684 Und auch hier ist es letztlich gleichgültig, ob es sich beispielsweise um Heyses siebzigsten oder achtzigsten Geburtstag handelt.685 So gilt, was Kristina Koebe in ihrer Untersuchung der Geburtstagsehrungen Heyses konstatiert: „Sowohl in Duktus als auch in der eigentlichen Beurteilung hält man sich an rezeptionelle Klischees und Gewohnheiten“.686 Der „Katalog der [..] zugeordneten Attribute“687 bleibt also auch hier der gleiche. Auf diese Weise – so können wir an die vorigen Überlegungen anknüpfen – werden die Frame-Elemente der jeweiligen Autoren-Frames auch und insbesondere in Bezug auf ihre Prototypisierung weiter gefestigt, was den Diskurs letztlich wiederum redundant werden lässt.
681 Franz Hirsch: Paul Heyse als Mensch und Dichter. In: Der Tag (Berlin) 170/79 (1914), 3. April 1914; Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur, 648. 682 Vgl. Koebe: Die Paul-Heyse-Rezeption, 216. 683 Vgl. ebd. 684 Vgl. ebd., 212, 214; Thunecke: Bemerkungen zur Rezeption Wilhelm Raabes, 435. 685 Vgl. Koebe: Die Paul-Heyse-Rezeption, 216; was hier für Heyse konstatiert wird, nämlich, dass eine „relative Gleichheit der […] 1900 und 1910 zugeordneten Attribute“ besteht (vgl. ebd.), gilt – wie ich selbst feststellen konnte – auch für Raabe, wenn man sich die (wenn auch zahlenmäßig geringeren) Geburtstagsporträtierungen zum 75. sowie die (zahlenmäßig wiederum höheren) Nekrologe ansieht. Jörg Thuneckes Untersuchung zur Rezeption in den Feuilletons anlässlich des 100. Geburtstags scheint dem nur auf den ersten Blick zu widersprechen, denn letztlich findet dort nur Verengung auf die bereits für die Ideologie der 30er Jahre brauchbaren Stereotypen, die allerdings schon vorher (beispielsweise bei Bartels etc.) zu finden sind, statt (vgl. Jörg Thunecke: Rezeption als Regression. Feuilletons zu Wilhelm Raabes 100. Geburtstag am 8. September 1931. In: RaabeJahrbuch 1986, 129-149). 686 Koebe: Die Paul-Heyse-Rezeption, 216. 687 Ebd., 212.
5. Schlussbemerkungen
Wir sind am Ende unserer Untersuchung angelangt. Was bleibt, ist ein eher ernüchternder Befund: ein Kanon, der auf Vorurteilen beruht, die ungeprüft in die Kanonprogramme der Literarhistoriographie eingefügt werden, wodurch deren große Entwürfe mit einem Mal ein blasses und schwaches Aussehen erhalten und jederzeit austauschbar erscheinen. Aber ist das Ergebnis, so desillusionierend es vielleicht auf den einen oder anderen Literaturwissenschaftler wirken muss, wirklich überraschend? Ich glaube nicht. Wie oft werden wir selbst zu Positionen, zu Meinungen über Bücher und Autoren gezwungen, bei denen wir auf unsere Vorurteile, auf uns vermittelte Images zurückgreifen? Wie sehr sind wir – und ich habe versucht, es in einigen Anmerkungen dieser Arbeit zu zeigen – bei aller Selbstkritik auf Kanonisierungen angewiesen, um überhaupt eine Aussage treffen, ja, um überhaupt mit einer Arbeit anfangen zu können. Kanones gleich jeder Art sind wichtig und notwendig und – wie sich zuletzt aufgrund unserer neuronalen Disposition gezeigt hat – auch zutiefst menschlich. Wir brauchen sie, so simpel ihr Zustandekommen auf uns auch wirken muss. Auf der anderen Seite aber sollte uns diese Erkenntnis zu einer gewissen Vorsicht gegenüber Vorurteilen gemahnen, zu denen wir vorschnell neigen. In der Literaturwissenschaft mag es das Aburteilen eines vergessenen Werkes sein, aber auch die Euphorie über ein kanonisiertes oder sich kanonisierendes. Wir sollten uns trotz allem bemühen, kritisch zu bleiben. Dazu gehört auch zu lernen, sich selbst in seiner Arbeit zu relativieren. Dies bedeutet nicht, dass wir unsere gefundenen Ergebnisse verleugnen. Vielmehr sollten wir sie als Anregung begreifen, unsere Thesen und Schulmeinungen ständig zu überprüfen und auch in der Beurteilung der Vergangenheit (der Arbeit der Literaturwissenschaftler in bestimmten Regimen oder zu bestimmten Zeiten) nicht vorschnell sein. Ich glaube, dass das Ergebnis dieser Arbeit sich ohne weiteres auch auf viele andere Kanonisierungsprozesse, die der sensibilisierte Doktorand unserer Einleitung konstatiert hat, übertragen lassen. Vielleicht erscheinen sie uns dort sogar selbstverständlicher und sind uns bewusster.
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jüngsten Vergangenheit ergänzte und bedeutend vermehrte zweite Auflage. Leipzig 1903. W. Henckmann: Einleitung. In: Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von N. Miller. Hg., textkritisch durchgesehen und eingeleitet von W. Henckmann. Hamburg 1990, VII-L. J. G. Herder, Werke. Bd. 7, Briefe zu Beförderung der Humanität. Hg. v. H. D. Irmscher, Frankfurt 1991. J. Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek bei Hamburg, 1994. H.-G. Herrlitz: Der Lektüre-Kanon und literarische Wertung: Bemerkungen zu einer didaktischen Leitvorstellung und deren wissenschaftlicher Begründung. In: Deutschunterricht 19 (1967) 1, 79-92. R. v. Heydebrand/ S. Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legetimation. Paderborn, München u.a. 1996. R. v. Heydebrand/ S. Winko: Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19 (1994) 2, 206261. R. v. Heydebrand: Probleme des ‚Kanons’. Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In: Johannes Janota (Hg.), Methodenkonkureenz in der germanistischen Praxis. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, IV, Tübingen 1993, 3-22. P. Heyse: Einleitung. In: Ders./ Hermann Kurz (Hgg.): Deutscher Novellenschatz. Bd.1. München, [1871], V-XXII. J. Hillenbrand: Die Deutsche Nationalliteratur im XVIII. und XIX. Jahrhundert. Historisch und ästhetisch-kritisch dargestellt. Dritte Auflage durchgesehen und vervollständigt vom Sohne des Verfassers. Gotha 1875. H. J. Hiery: Zur Einleitung. Der Historiker und der Zeitgeist. In: Ders.(Hg.): Der Zeitgeist und die Historie. Dettelbach 2001, 1-6. E. Hinrich: Alphabetisierung. Lesen und Schreiben. In: R. v. Dülmen/ S. Rauschenbach (Hgg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln 2004, 539-562. F. Hirsch: Geschichte der Deutschen Litteratur von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit. Leipzig 1883-1885. F. Hirsch: Paul Heyse als Mensch und Dichter. In: Der Tag (Berlin) 170/79 (1914), 3. April 1914. E. Hoefer: Deutsche Literaturgeschichte für Frauen und Jungfrauen. Stuttgart 1876. W. Höppner: Eine Institution wehrt sich. Das Berliner Germanische Seminar und die deutsche Geistesgeschichte. In: Ch. König/ E. Lämmert (Hgg.): Litera-
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272 | W ARUM WERDEN AUTOREN VERGESSEN?
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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, 428 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
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Lettre Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0
Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
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Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke November 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4
Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2
Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2
Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Juli 2014, 340 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5
Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3
Carolin John-Wenndorf Der öffentliche Autor Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern
Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3
Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1
Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6
Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing Januar 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6
Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis August 2014, 376 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6
Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen September 2014, 584 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0
Juni 2014, 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2757-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2
Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.
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