Entsagung und Routines: Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne 9783110331660, 9783110307535

Why do the narratives of Poetic Realism often culminate in renunciation? And how did this German literary epoch finally

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German Pages 442 [444] Year 2013

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Table of contents :
Einleitung
Zeichen auf der Kippe. Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne
Aporien des Spätrealismus
Auf dem Weg in die Marotte. Wilhelm Raabes Else von der Tanne, Villa Schönow, Stopfkuchen und die Tücken der Metonymisierung im Poetischen Realismus
„Unsere Jenny hat doch Recht“ – Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel
Entsagung im Poetischen Realismus. Motiv, Verfahren, Variation
Realistische Realien. Zur Zeichenfunktion des Gegenständlichen bei Adalbert Stifter
„Das klingt ja sonderbar, als ob es doch möglich wäre.“ Fantastik als Herausforderung für den Realismus
Der einzige Weg. Spätrealistische Textverfahren in Conrad Ferdinand Meyers. Die Hochzeit des Mönchs
Zwischen Realismus und Moderne
„ … das Sprachvermögen der Musik in’s Unermessliche vermehrt …“. Intermedial reflektiertes Erzählen um 1900
Tiefenrealismus. Zu Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel
Probleme mit dem Selbstbewusstsein: Von Raabe zu Husserl
Der Abschied vom inneren Himmel. Entsagung und Exzess bei Herman Bang
Realistische re-entries. Thesen zur ‚realistischen‘ Episteme und zu ihrer Transformation um 1900
Routines der Frühen Moderne
Über Fülle/Überfülle. Textverfahren der Copia um 1890
Mosaik und Doppelung. Trunkenheits-Darstellung bei Liliencron, Holz, Gerhart Hauptmann und Scheerbart
Überschreibungen des Realismus. Richard Dehmels Prosatexte als Wegbereiter der Frühen Moderne
Epilog
Ist literarischer Realismus entpolitisierbar? Historische Stationen einer Idee
Forschungsliteratur
Autoren und Werke
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Entsagung und Routines: Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne
 9783110331660, 9783110307535

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Entsagung und Routines linguae & litterae

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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies

Edited by

Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Ekkehard König (Berlin) Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Lorenza Mondada (Basel) Pieter Muysken (Nijmegen) · Wolfgang Raible (Freiburg) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistants Aniela Knoblich Frauke Janzen

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De Gruyter

Entsagung und Routines Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne

Herausgegeben von Moritz Baßler

De Gruyter

ISBN 978-3-11-030753-5 e-ISBN 978-3-11-033166-0 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

V

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Moritz Baßler (Münster) Zeichen auf der Kippe Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne . .

3

Aporien des Spätrealismus Christian Rakow (Berlin) Auf dem Weg in die Marotte Wilhelm Raabes Else von der Tanne, Villa Schönow, Stopfkuchen und die Tücken der Metonymisierung im Poetischen Realismus . . . . . .

25

Torsten W. Leine (Münster) „Unsere Jenny hat doch Recht“ – Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel . . . .

48

Stefan Tetzlaff (Münster) Entsagung im Poetischen Realismus Motiv, Verfahren, Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

Katharina Grätz (Freiburg i.Br.) Realistische Realien Zur Zeichenfunktion des Gegenständlichen bei Adalbert Stifter . . . 115 Julia Neu (Berlin) „Das klingt ja sonderbar, als ob es doch möglich wäre.“ Fantastik als Herausforderung für den Realismus . . . . . . . . . . . 130 Philipp Pabst (Münster) Der einzige Weg Spätrealistische Textverfahren in Conrad Ferdinand Meyers Die Hochzeit des Mönchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

VI

Inhaltsverzeichnis

Zwischen Realismus und Moderne Fabian Lampart (Freiburg i.Br.) „ … das Sprachvermögen der Musik in’s Unermessliche vermehrt …“ Intermedial reflektiertes Erzählen um 1900 . . . . . . . . . . . . . . 175 Heinz Drügh (Frankfurt a.M.) Tiefenrealismus Zu Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Konrad A. Müller (Münster) Probleme mit dem Selbstbewusstsein: Von Raabe zu Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Robert Matthias Erdbeer (Münster) Der Abschied vom inneren Himmel Entsagung und Exzess bei Herman Bang . . . . . . . . . . . . . . . 250 Claus-Michael Ort (Kiel) Realistische re-entries Thesen zur ‚realistischen‘ Episteme und zu ihrer Transformation um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Routines der Frühen Moderne Ingo Stöckmann (Bonn) Über Fülle/Überfülle Textverfahren der Copia um 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Peter Sprengel (Berlin) Mosaik und Doppelung Trunkenheits-Darstellung bei Liliencron, Holz, Gerhart Hauptmann und Scheerbart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Melanie Horn (Münster) Überschreibungen des Realismus Richard Dehmels Prosatexte als Wegbereiter der Frühen Moderne . . 356

Inhaltsverzeichnis

VII

Epilog Christa Karpenstein-Eßbach (Karlsruhe) Ist literarischer Realismus entpolitisierbar? Historische Stationen einer Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Autoren und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

VIII

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne

3

Moritz Baßler (Münster)

Zeichen auf der Kippe Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne

I.

Realismus und Semiotik

„Wir sind alle damit beschäftigt, die künstlerischen Techniken von Kunstrichtungen und Werken zu studieren, die allesamt an der Form orientiert sind. Aber wie stellen Sie sich zum Realismus, der doch offenbar auf eine Wirklichkeit außerhalb der Kunst bezogen ist?“ So sprach im Jahre 1920 Osip M. Brik zu Roman Jakobson und brachte diesen zum Nachdenken.1 Tatsächlich ist die metonymisch verfahrende Literatur des Realismus lange Zeit kaum als semiotische Herausforderung begriffen worden. Anders als die tendenziell eher metaphorische Literatur der Romantik oder gar der literarischen Moderne überschreitet sie ja die Skripte und Frames unseres alltäglichen Weltwissens in der Regel nicht. Folglich erscheint uns die Wirklichkeit in den immer noch gern gelesenen Texten von Theodor Fontane, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe, Adalbert Stifter oder Theodor Storm unmittelbar und unverfremdet. Keinerlei störende Textverfahren schieben sich zwischen Lesen und Verstehen: eine Literatur für das bürgerliche Lesepublikum und die gymnasiale Mittelstufe. Sollte man meinen. Ganz besonders dem deutschsprachigen Poetischen Realismus wird gern mit einer gewissen intellektuellen Herablassung begegnet – er erreiche nicht die weltliterarische Qualität seiner zeitgenössischen Pendants in Frankreich und Russland, sondern verweigere sich der Moderne in regionaler Muffigkeit, auch was den Esprit angehe, und sei insgesamt eine irgendwie rückständige und verklemmte Angelegenheit. Als die semiotische Forschung sich dann mit Roland Barthes’ S/Z (1970) ernsthaft den Realismus vorknöpft, wird es in dieser Hinsicht nicht besser: Barthes stört sich genau an besagtem metonymischen Verfahren des Schreibens in geläufigen kulturellen Codes. Der realistische Text bleibe dadurch hinter Möglichkeiten und Auftrag der Kunst zurück, er verkörpere geradezu „die Quintessenz dessen, was nicht 1

Roman Jakobson/Krystyne Pomorska, Poesie und Grammatik. Dialoge, Dt. v. Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 1982, S. 112.

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Moritz Baßler

noch einmal geschrieben werden kann“, und sei gekennzeichnet durch ein „Erbrechen der Stereotypen“.2 Zum Glück, möchte man sagen, kam dann ja die literarische Moderne. Von der Schwelle des 21. Jahrhunderts aus rückblickend muss man allerdings konstatieren: Sie ging auch wieder. Und übrig blieb, siegreich, ein realistisches Schreiben, das man längst obsolet wähnte. In der populären, außerhalb intellektueller und Avantgarde-Zirkel gelesenen Literatur des 20. Jahrhunderts war dieses Schreiben im Grunde nie bedroht gewesen, ebenso wenig in der Literatur jener Kultur, die mit Macht zur Leitkultur unseres Zeitalters aufsteigen sollte: der amerikanischen. Schon früh zeigte sich überdies seine Affinität zum Konkurrenzmedium des Films, das bereits Jakobson zu „einer zutiefst metonymischen Kunst“ erklärt hatte.3 Heute sind – hierzulande ebenso wie international – fast alle Romane, die die Feuilletons beschäftigen und die Literaturpreise abräumen, wieder durchgehend realistisch erzählt. Grund genug also, sich den avantgardistischen Explosionsstaub von den Schultern zu klopfen und sich mit dem semiotischen Rüstzeug, das wir der Moderne verdanken, noch einmal ihrem Vorgänger zuzuwenden, dem guten alten und vermeintlich so harmlosen Poetischen Realismus. Und siehe da – je länger man sich mit ihm befasst, desto interessanter, um nicht zu sagen: desto seltsamer kommt einem die spezifische Logik dieses Literatursystems vor, das immerhin beinahe die komplette zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch die deutsche Hochliteratur beherrschte und bis heute irgendwie die Norm unverkünstelter Literatur definiert. Die germanistische Literaturwissenschaft hat sich ja auch zu keinem Zeitpunkt abhalten lassen: Viele ihrer besten Köpfe haben sich seit jeher intensiv mit den Texten dieser Autoren aus Husum, Eschershausen oder dem Böhmischen Wald eingelassen und die Gefahr internationaler ‚unhipness‘ in den Wind geschlagen. Dabei hat sich auch eine semiotische Forschungstradition herausgebildet, an die unser Münsteraner Forschungsseminar seit 2006 anknüpfen konnte. Neben den Arbeiten Roland Barthes’ erwiesen sich dabei insbesondere die großen Studien von Hans Vilmar Geppert und Claus-Michael Ort als anschlussfähig. Geppert führt an reichhaltigem Material vor, wie ein Übergewicht des ‚Realistischen‘ gegenüber seinen poetischen und weltanschaulichen Bedeutungscodes im realistischen Erzähltext immer wieder zu einem ‚Verbrauchen der Codes‘ führt, das letztlich ein Erzählen ohne überwölbenden Sinn zur Folge hat, ohne dass der Anspruch auf einen solchen 2 3

Roland Barthes, S/Z, Dt. v. Jürgen Hoch. Frankfurt a.M. 31998, S. 101. Jakobson/Pomorska, Poesie und Grammatik, S. 113.

Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne

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idealistischen Metacode je aufgegeben würde.4 Und Ort führt eindringlich vor, wie die Verklärung, die das poetische Programm der Realisten bestimmt, immer wieder in bedeutungsgeladene Textkonstellationen mündet, die das ‚Realistische‘ selbst bedrohen und daher gleich wieder metonymisch aufgelöst werden müssen.5 In diesen Studien6 zeichnet sich als Kern des realistischen Erzählens ein aporetisches Verfahren in Form einer semiotischen Kippfigur ab, das einerseits von erzähllogischen Unmöglichkeiten geprägt (dazu gleich unten mehr!), andererseits aber überaus erfolgreich im Generieren immer neuer großartiger und herzergreifender Geschichten war. Dieses Kippmodell bildet die Ausgangthese des vorliegenden Bandes. Die Beiträge im ersten Abschnitt „Aporien des Spätrealismus“ erkunden, wie die spätrealistischen Texte mit dieser konstitutiven Aporie poetisch-realistischen Erzählens umgehen, die ihnen, wie die literarischen Zeugnisse nur allzu deutlich zeigen, durchaus schmerzlich bewusst ist. In verfahrensgeschichtlichen Relektüren bekannter, aber auch entlegenerer Texte werden die erstaunlichen poetologischen Qualitäten realistischer Erzählprosa sichtbar. Falls irgendwo noch Zweifel bestanden haben sollten: Nein, dieser Realismus ist nicht naiv. Er weiß, was er tut. Um ein Ergebnis vorweg zu nehmen: Kein poetischer Realist geht so weit, das Verklärungsprinzip als Forderung (gerade auch an die eigene Literatur) aufzugeben – auch wenn Fontane und Raabe in ihrem Spätwerk mitunter nahe dran sind. Kein deutschsprachiger Realist von Rang läuft zur Moderne über, vielmehr halten sie an ihrem Modell fest, um es bis zu ihrem Lebensende immer wieder neu und ungebremst gegen die Wand zu fahren. In Raabes letztem Werk, Altershausen, führt das zum Abbruch des Schreibens. Es gibt also keine fließenden Übergänge vom Poetischen Realismus in die literarische Moderne, und doch entwickelt sich diese ja auch in Deutschland, und zwar noch zu Leb- und Arbeitszeiten, also quasi unter den Augen der Realisten. Dieser verfahrensgeschichtlich überaus interessanten Konstellation galt im Juli 2010 die Freiburger Tagung „Alternativen zum Realismus. 4

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Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994. Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998. Weitere semiotische Studien wurden von Rosemarie Zeller, der Kieler Schule um Marianne Wünsch und vor allem von Michael Titzmann vorgelegt (vgl. insbesondere die Sammlung: Michael Titzmann, Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche, Lutz Hagestedt (Hrsg.), München 2009). Zur weiteren Forschung vgl. die einzelnen Beiträge und die ausführliche Gesamtbibliographie.

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Verfahrensgeschichte der deutschen Literatur 1886–1910“.7 Ausgangspunkt der Überlegungen war die Beobachtung, dass zwischen Poetischem Realismus und der emphatischen Moderne (Futurismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus etc.) eine Lücke klafft, die literaturgeschichtlich durch die Ausdifferenzierung verschiedener ‚Ismen‘ ohne prima facie erkennbare Einheit gekennzeichnet ist. Naturalismus, Symbolismus, Fin de Siècle, Décadence, Impressionismus, Neuromantik, Jugendstil, Wiener, Münchner und Berliner Moderne – der Label sind viele, und dabei bleiben große Teile der deutschen Literatur der Zeit immer noch unerfasst. Insbesondere die ‚Nuller Jahre‘ des 20. Jahrhunderts sind geradezu ein weißer Fleck auf der literaturgeschichtlichen Landkarte; und dies, obwohl viele Autoren, deren Stern erst unter dem expressionistischen Programmdiskurs wirklich aufging, ihre Verfahren bereits deutlich vor 1910 entwickelten (Walser, Däubler, Döblin, Einstein, Lasker-Schüler etc.). Als zweites Ziel neben der Profilierung einer spätrealistischen Verfahrenspoetologie hat sich dieser Band vorgenommen, einen substantiellen Vorschlag zu einer ergebnisoffenen Neuvermessung dieser Jahrzehnte zwischen Realismus und emphatischer Moderne zu präsentieren. Dabei setzen insbesondere die Beiträge der Sektion „Zwischen Realismus und Moderne“ noch einmal bei den realistischen Prämissen an, fragen, warum sie sich überleben und in welchen Figurationen sie vielleicht doch weiterleben. Gerade das Übergangsfeld von realistisch-diegetisch ausgerichteten zu formaleren und abstrakteren Textverfahren wird hier noch einmal genauer kartiert. Dabei stellt sich immer wieder auch die Frage, ob sich die einzelnen Ismen um 1900 überhaupt textsemiotisch trennscharf beschreiben lassen. Verfahrensähnlichkeiten zwischen Naturalismus und Symbolismus wurden längst konstatiert (z. B. die Kataloge bei Holz und Huysmans) – hier lässt sich an die verfahrensanalytischen Modernestudien aus dem Tübinger Wunberg-Umfeld anknüpfen.8 Verfahrensgeschichtlich, so zeigt sich, liegt es mehr als nahe, die Gemeinsamkeiten in den Schreibweisen der Jahrzehnte um 1900 gegenüber ihren divergenten programmatischen und inhaltlichen Schwerpunkten aufzuwerten. Immerhin setzt hier ‚die‘ literarische Moderne ein, und zwar mit einer Vielstimmigkeit literarischer Verfahren, die erklärungsbedürftig erscheint. Dabei

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Gut die Hälfte der Beiträge dieses Bandes gehen auf diese Tagung am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) zurück. Wir danken für die großzügige Unterstützung auch bei der Drucklegung dieses Bandes. Sehr geholfen haben auch Antje Heide, David Ginnutis und Rainer Karczewski. Danke! Vgl. Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996.

Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne

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ist zu berücksichtigen, dass damals einflussreiche ‚Moderne‘ wie Liliencron, Dehmel, später Hille oder Blei für unsere literarhistorische Moderne-Erzählung bis heute kaum eine Rolle gespielt haben, desgleichen Sprachexperimentatoren wie Scheerbart und Morgenstern. Im letzten Teil dieser Einleitung werde ich versuchen, diese nach-realistische Literatur auf den Begriff der ‚Routine‘ zu bringen und damit sowohl das Prinzip ihrer Einheit als auch ihren gemeinsamen point of departure von der poetisch-realistischen Grundkonstellation zu benennen. Die Studien von Stöckmann, Stocker und Horn setzen sich bereits kritisch und produktiv mit diesem Konzeptualisierungsvorschlag auseinander. Dieser Band versteht sich als Beitrag zu einer Verfahrensgeschichte, insbesondere zu einer Verfahrensgeschichte realistischer Schreibweisen. Seine Einzelstudien praktizieren daher überwiegend eine semiotisch informierte, poetologisch ausgerichtete Literaturwissenschaft, sind, mit Briks Worten, also vor allem „an der Form orientiert“. Es versteht sich von selbst, dass damit kultur-, gesellschafts- und diskursgeschichtliche Ansätze zum Übergang von Realismus zur Moderne nicht überflüssig gemacht, sondern nur ergänzt werden sollen, dies allerdings durchaus substantiell; denn literarische Texte werden diskursiv in ihrer Form. Der Rest dieser einleitenden Betrachtung sei dazu genutzt, zum einen noch einmal die semiotischen Grundlagen zu skizzieren, auf denen die Realismus-Studien des Bandes überwiegend aufbauen (oder zu denen sie sich kritisch verhalten), und zum anderen den Begriff der ‚Routines‘ für die Literaturen um 1900 einzuführen.

II. Aporien des Spätrealismus Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist, wie gesagt, ein semiotisches Modell des Poetischen Realismus. Es behauptet eine im Kern aporetische Struktur, die dennoch, so die These, bis zum Ende der Epoche in Kraft blieb und ihr ästhetisches Potential freisetzen konnte. Wir gehen zunächst davon aus, dass in Erzähltexten des Poetischen Realismus der Schritt von der Textebene zur Darstellungsebene und damit zur Textwelt (Diegese) weitgehend automatisiert erfolgt. Die Sinnstiftung, um die es geht, soll nun programmatisch dadurch gelingen, dass den Phänomenen der Diegese, insbesondere den Handlungen der Figuren, auf einer sekundären Bedeutungsebene ein überwölbender, wesentlicher Sinn zugeordnet wird – Stichwort: Verklärung. Wobei das bereits post-realistisch formuliert ist: Zeitgenössisch geht man, unter Berufung auf Goethes Symbolik, davon aus, dass sich die wesentlichen Züge in der Wirklichkeit dem poetischen Blick offenbaren

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Moritz Baßler

Skizze 1

und die Aufgabe des Dichters allein darin besteht, die Welt seiner Kunstwerke so zu gestalten, dass diese Züge darin sichtbarer werden als im wirklichen Leben. Die poetischen Realisten lassen bis zum Schluss nicht von dem heuristischen Ziel ab, einen – und das heißt: genau einen – Metacode für ihre Welt zu finden. Bereits Hans Vilmar Geppert hat allerdings gezeigt, dass sie an diesem Projekt immer wieder gescheitert sind. Im metonymischen Fortschreiten der Erzählung werden die jeweils aufgerufenen Metacodes, so sein Ausdruck, ‚verbraucht‘. Auf der Verfahrensebene führt das dazu, dass jedes Phänomen der Diegese zwar verklärt werden, also symbolisch für einen Code stehen soll, dass aber immer dann, wenn solche Phänomene tatsächlich mit Bedeutsamkeit aufgeladen werden, der realistische Charakter der Diegese (und damit automatisch auch des Textes) bedroht ist und der Text sofort wieder in eine metonymische Bewegung kippt. Claus-Michael Ort hat das vor allem an der poetologischen Bedeutung von Gemälden in realistischen Erzähltexten gezeigt (z. B. das Meretlein im Grünen Heinrich, die Bilder in Aquis submersus). Beide Tendenzen haben wir zu einem Strukturmodell poetischrealistischer Semiose generalisiert, das die Form einer Kippfigur hat.9 Die vertikale Achse ist in diesem Modell die Achse der poetischen Verklärung, die das Ziel jedes poetisch-realistischen Textes bleibt. Aufgrund des fehlenden Metacodes jedoch, so die These in Anschluss an Geppert 9

Das Modell wurde erstmals publiziert in: Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2010, S. 63–80.

Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne

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Skizze 2

und Ort, führt die Metaphorisierung nicht, wie geplant, zu einem symbolisch-phänomenologischen Durchsichtigmachen der Welt auf einen stabilen Wesenszusammenhang hin (nach dem Muster Goethes, mit dessen Metacode ‚Natur‘ das noch funktionierte), sondern eben bloß zu einer Allegorisierung, einer Aufladung mit übertragener, und das heißt: künstlicher Bedeutung. Eine solche aber ist nicht realistisch, sondern stellt geradezu eine Gefährdung des realistischen Schreibprojekts dar – weshalb sie sofort wieder zurückgenommen, und das heißt: in den Modus der Metonymie überführt werden muss. Sobald also ein diegetisches Phänomen (Ü), als tragendes Zeichen des realistischen Erzähltextes, mit Bedeutung aufgeladen wird ( Y ), kippt die semiotische Bewegung des realistischen Textes in Richtung ‚realistischer‘ Erklärung (Ü) und damit in Richtung eines unverklärten Naturalismus, der dann seinerseits wieder nach poetischer Verklärung verlangt und so immer weiter. Poetisch-realistische Zeichen sind Zeichen auf der Kippe. Ein so verfasster Text kann nun eigentlich nicht enden. Die Entsagung, die typischerweise am Ende des poetisch-realistischen Textes steht (statt einer Hochzeit, eines Opfers oder Heldentodes), lesen wir denn auch vor allem als technischen Trick, der dazu dient, trotz der Kippfigur, die die semiotische Textbewegung eigentlich auf ‚unendlich‘ stellt, eine poetisch befriedigende clôture zu erreichen. Die Entsagung ermöglicht, das Modell auf der metonymischen Achse zu belassen und also am Ende einen ‚realistischen‘, lebbaren Zustand herzustellen, der gleichwohl auf der metaphorischen Achse als defizitärer markiert bleibt und also weiterhin auf den abwesenden Metacode verweist. Der grüne Heinrich bringt sich in der realistischen Romanfassung nicht um, aber er wird auch kein glücklich lieben-

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der, erfüllter, die Welt mit seiner Produktivität bereichernder Künstler und Familienvater, sondern ein mediokrer Amtmann in platonisch-entsagender Gelegenheitsbeziehung. Damit wird keiner der im Romanverlauf durchgespielten Metacodes (Kunst, Liebe, Nation etc.) und auch kein irgendwie gearteter sittlicher Metacode bestätigt, aber die finale Konstruktion bleibt lebbar (‚realistisch‘) und sozusagen nach oben offen (‚poetisch‘, wenngleich im Negativen). Die realistische Entsagung ist – nebenbei bemerkt – nicht zu verwechseln mit der Entsagung der Goethezeit, die der Sozialisierung der Figuren dient, etwa im Bildungsroman. Die Entsagenden des Poetischen Realismus bleiben ökonomisch, künstlerisch und biologisch unfruchtbare Außenseiter und Sonderlinge vom Typ des Freiherrn von Risach, Carsten Curators oder Leo Hagebuchers. Und dennoch kommt alles darauf an, ihre Sicht auf die Welt, die zumeist ja auch die der Texte ist, eben nicht als partikulare zu verstehen. Im Poetischen Realismus geht es immer ums Ganze, um das Wesen von Welt, Goethe bleibt hier explizit das Vorbild, auch wenn dessen Symbolik, in der das Phänomen immer zugleich für das Gesetz steht und umgekehrt, in der Kippfigur des Realismus sozusagen ent-arretiert wurde – mit den genannten aporetischen Folgen. In jeder realistischen Entsagung wird dieses wesentliche Ganze als unbedingte Forderung offengehalten. Betrachten wir dagegen die Helden der Literaturströmungen, die unmittelbar auf den Realismus folgen: Bahnwärter Thiel, Papa Hamlet Thienwiebel, den kleinen Herrn Friedemann, den Leutnant Gustl, den Korsettenfritz und wie sie alle heißen, so hat sich offenbar genau in diesem Punkt etwas geändert. Wir haben es immer noch überwiegend mit realistisch verfahrenden Texten zu tun, was den leichten Übergang von der Text- zur Darstellungsebene angeht, aber die Sicht auf die Welt, die über solche zentralen Figuren gestaltet wird, oft in personaler Erzählung und bis hin zum Inneren Monolog, diese Sicht prätendiert nicht mehr, die eine, wesentliche Perspektive auf die Welt zu sein. Im Gegenteil – die Faszination liegt jetzt in der Beschränkung, Vereinseitigung, ja Verfremdung, die durch partikulare Perspektiven gewonnen wird. Diese reichen im Extremfall bis hin zur Neurose, Hysterie, ja manifesten Irrenrede – alles Dinge, die darzustellen die poetischen Realisten konsequent vermieden haben. Und zwar nicht, weil sie es nicht gekonnt hätten. Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde von 1856 erstaunt den heutigen Leser durch seine präzise Darstellung von psychischen Grenzzuständen. Von den beiden Brüdern Apollonius und Fritz Nettenmair, die im Zentrum der Erzählung stehen, ist der erste (der ‚Gute‘) ein Neurotiker, ein „Federchensucher“, der ständig imaginäre Stäubchen von seiner Jacke wischt und noch als alter Mann in sei-

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nem Gärtchen eine anale, im Text heißt es mehrfach: „ängstliche“ Ordnung hält. Bei Fritz dagegen schlagen Neid und Selbsthader in eine manifeste Psychose um. Beides ist ausführlich gestaltet in einer personalen Erzählweise mit Anteilen erlebter Rede, die verfahrenstechnisch den internationalen Vergleich nicht scheuen muss (Flauberts Madame Bovary erschien ebenfalls 1856). Ein Beispiel: Fritz belauscht, wie sein Töchterchen der Mutter von Onkel Apollonius vorschwärmt, und ballt die Faust. Darüber stand ein rotes Gesicht, verzerrt von der Anstrengung, die die gehobene Faust zurückhielt, sonst hätte sie das lächelnde Gesicht des Kindes getroffen, das, so jung, schon eine Kupplerin war. Das lächelnde, vatermörderische Gesicht! Das Kind hat ein blaues Kleidchen an; blau ist die Lieblingsfarbe Apollonius’. Sein Kind trägt seines Todfeindes Livree. Und die Mutter – oh, Fritz Nettenmair kann sich noch auf die Zeit besinnen, wo sie täglich so gekleidet ging wie heute. […] Glaubt sie, was damals vorgegangen, gibt ihr ein Recht, ihn nicht zu fürchten? Ein Recht, in Schande zu leben, weil es seine Schande ist? Das alles reißt an der gehobenen Faust.10

Die auktoriale Beschreibung, in ihrer Perspektive auf die räumliche Anordnung von Gesicht und Faust tendenziell extern fokalisiert, kippt mitten im Satz in erlebte Rede und damit in rein interne Fokalisierung: Dass das Kind „eine Kupplerin war“, gar ein „vatermörderische[s] Gesicht“ macht, ist Fritzens Wahn und nicht etwa Textaussage. Der elliptische, verblose Ausruf schaltet dann sogar auf Präsens um, die folgende erlebte Rede ist dadurch nah am inneren Monolog. Das Präsens wird am Ende der Passage mit in die Erzählerrede übernommen, erst zum Schluss der erzählten Szene kehrt der Text zum Grundtempus zurück. Otto Ludwig verfügt also über alle Mittel psychologisierender Prosa, und doch soll seine Erzählung keine Fallstudie sein, sondern – ganz im Sinne der poetisch-realistischen Programmatik – ein verklärender Text über die Welt und ihr Wesen als Ganzes. Die Entsagung, die auch hier prominent den Text beschließt, besteht im Verzicht Apollonius’ auf seine geliebte Schwägerin nach dem Tod des Bruders, ein Verzicht, den niemand wirklich versteht: weder die Frau, der Vater und die Stadtbevölkerung innerhalb der Diegese noch, außerhalb derselben, der Leser. Der Text selbst bietet zunächst eine psychopathologische Erklärung an: „in Apollonius überspannte sich, was Gutes in ihm war: seine Gewissenhaftigkeit, Anhänglichkeit und sein Sauberkeitsbedürfnis“.11 Diese Überspanntheit wird wiederum in seitenlangen Passagen erlebter Rede vorgeführt: 10 11

Otto Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, Stuttgart 1989, S. 71. Ebd., S. 184.

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Moritz Baßler Nun war es ja wie in dem schlimmen Traum: der Bruder war tot, und er hatte sein Weib. Nimmt er des Bruders Weib, die frei wurde durch den Sturz, so hat er ihn hinabgestürzt. Hat er den Lohn der Tat, so hat er auch die Tat. Nimmt er sie, wird das Gefühl ihn nicht lassen; er wird unglücklich sein und sie mit unglücklich machen. Um ihret- und seinetwillen muß er sie lassen.12

Nicht nur wäre hier die Entsagung des Helden kausal-naturalistisch aus seiner spezifischen psychischen Disposition erklärbar, sie wird sogar tatsächlich daraus erklärt, aber das darf eben nicht das letzte Wort des poetisch-realistischen Textes sein. Denn, so der Programmatiker Ludwig: Nur was geistig ist, und zwar Ausdruck einer gewissen Idee am Stoffe, und zwar derjenigen, die als natürliche Seele in ihm wirkt und atmet, wird in das himmlische Jenseits der künstlerischen Behandlung aufgenommen; was bloßer Leib, zufällig Anhängendes ist, muß abfallen und verwesen.13

Das Partikulare, das sich etwa in der spezifischen psychischen Disposition eines Menschen zeigt, bleibt – ebenso wie die Spezifika des Dachdeckergewerbes, an deren Schilderung sich einige Zeitgenossen gestoßen haben – zufällig und ist deshalb nicht verklärbar. Und so muss am Ende der Erzählung die Entsagung in Form einer Selbst-Exegese noch ins Allgemeinmenschliche generalisiert und zur moralisch richtigen Lösung des Konfliktes verklärt werden. Dazu bedient sich Ludwig der auktorialst-möglichen Form von Leseranrede, Brinkmann spricht von „Sauce“:14 Die Glocken rufen es, das Grasmückchen singt es, die Rosen duften es, […] die schönen greisen Gesichter sagen es, auf dem Turmdach von Sankt Georg kannst du es lesen: […] Was die Menschen Glück und Unglück nennen, ist nur der rohe Stoff dazu, am Menschen liegt’s, wozu er ihn formt. Nicht der Himmel bringt das Glück, der Mensch bereitet sich sein Glück und spannt seinen Himmel selber in der eigenen Brust. […] Wer ihn nicht in sich selber trägt, der sucht ihn vergebens im ganzen All. [usw.]15

Die Lesbarkeit der Diegese [vgl. Skizze 1] verweist nicht auf partikulare psychische Dimensionen, sondern auf einen allgemein menschlichen Wesenskern, der als „Idee“ der erzählten Welt deren „natürliche Seele“ wäre, mit anderen Worten: auf einen Metacode. Der kann im Text aber eben nur ‚so12 13

14

15

Ebd., S. 187. Otto Ludwig, „Dramatische Studien: Shakespeare und Schiller“, in: Werke in 6 Bdn., Adolf Bartels (Hrsg.), Bd. VI: Ausgewählte Studien und kritische Schriften, neue vermehrte Auflage, Leipzig [o. J.], S. 148–170, hier S. 156f. Richard Brinkmann, Illusion und Wirklichkeit. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts, Tübingen 31977, S. 207. Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, S. 211.

Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne

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ßenförmig‘ auktorial behauptet und nicht narrativ beglaubigt werden und realisiert sich innerhalb der Diegese daher nur im Negativen, als Entsagung. Damit befinden wir uns wieder innerhalb des Mechanismus jenes semiotischen Kippmodells, das oben skizziert wurde [Skizze 2].

III. ‚Routines‘ – Ein Versuch, die Literatur nach dem Poetischen Realismus auf den Begriff zu bringen Die erzählerischen Mittel, mit denen Otto Ludwig 1856 die inneren Grübeleien und psychischen Grenzzustände seiner Figuren gestaltet, wirken deshalb auf uns so unerwartet ‚modern‘, weil wir sie aus der Erzählpraxis des Poetischen Realismus sonst kaum kennen, dafür aber eben aus den Texten der frühen literarischen Moderne um 1900. Im Hinblick auf eine Verfahrensgeschichte zeigt sich hier einmal mehr, dass literarischen Techniken wie dem Katalog, der Metalepse oder eben auch der erlebten Rede nicht einfach, wie oft angenommen, bereits für sich genommen eine Art Moderne-Vektor innewohnt. Sie stehen offenbar durchaus transhistorisch zur Verfügung, werden aber in der poetischen Praxis vor allem in solchen Kontexten aktualisiert, in denen sie zum Schreibprogramm passen, in anderen Kontexten dagegen bleiben sie marginal. Die poetischen Realisten konnten psychologisierende Prosa schreiben und seelische Ausnahmefälle gestalten (quod erat demonstrandum), nur war ihnen daran überhaupt nicht gelegen. Aus der ab ca. 1890 auffälligen Häufung von Texten, die sich dominant personaler Darstellungsmittel wie erlebter Rede, Ich-Erzählung und Inneren Monologs bedienen, lässt sich also auf ein verändertes Schreibprogramm schließen. Jedoch scheint dieses Schreibprogramm nicht ohne weiteres identisch mit den oft geradezu gegensätzlichen Programmatiken der unterschiedlichen literarischen Strömungen um 1900, in denen sich die genannten Verfahren finden lassen: Holz, Panizza, Schnitzler, Dauthendey, Liliencron, Dehmel und andere schreiben unter ganz verschiedenen Prämissen. Dem Naturalismus etwa gelingt es, das Kippmodell des Realismus ganz auf die metonymische Achse auszurichten; den dazu nötigen Metacode liefert die positive Wissenschaft – jedenfalls in der Theorie. Praktisch kann auch Zolas Experimentalroman allerdings nur spezifische Charaktere in spezifische Milieus schicken. Die Ergebnisse sind nur in Grenzen generalisierbar, daher braucht es die enzyklopädische Anlage der Rougon-Macquart, um zu einem umfassenderen Bild der Gesellschaft vorzudringen. Julian Schmidt dagegen hatte sich in seiner Programmatik noch auf Goethe berufen und die Fähigkeit des Dichters postuliert, „bei jeder Individualität in der Natur, der Geschichte und im wirklichen Leben schnell die charakteristischen Züge“

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herauszufinden.16 Jede poetische Diegese habe, so der Anspruch, letztlich immer auf ein wesentliches Ganzes zu verweisen. Diesen Anspruch hat der Poetische Realismus wie gesagt bis zu seinem Ende aufrecht erhalten, obwohl er ihn nirgends positiv einlösen konnte. Den post-realistischen Texten scheint dagegen gemeinsam, dass dieser Anspruch aufgegeben wird. Dies macht den Weg zu dem frei, was ich im Folgenden anhand von vier exemplarischen, wenngleich notwendigerweise skizzenhaften Fallstudien als erzählerische ‚Routines‘ beschreiben möchte. „Also, wie gesagt! Laufe da eben ganz trübselig den Hafendamm runter. Hä? Und wer begegnet mir da? Der Kanalinspektor! Na, wer denn sonst? Der Kanalinspektor natürlich! Nobel verheiratet, Villa in Bratsberg, no! etc. pp. Könnt euch ja denken! Schleift mich also natürlich sofort zu Hiddersen und läßt vorfahren… Na, oller Junge? Wie geht’s?… Faul! sag ich also natürlich. Faul!… Hm! Weißte was? Könntest eigentlich meine Alte porträtieren!… Hm! Mit Jenuß, Kind! Mit Jenuß! Aber- -e… Farben, siehst du- -he, Leinwand, Rahmen also… Hä! Was? Nobles Putthuhn!!“ Ole Nissen ließ jetzt die schönen, noblen Kronen in seinen Taschen nur so klimpern. „Frau Wach-tel! Frau Wachtell!! Frau Wach-tellll!!!“ Das Haus Thienwiebel schwamm wieder in Wonne. Sein Krach war wieder auf eine Weile verschoben. „Hä! Und dies? Ist das Butter? Und dies? Hä? Ist das Schinken? Hä? Und dies? Hä? Platz für das Silberzeug! Silentium!!“ Der kleine Ole war heute wieder ganz aus dem Häuschen… Nachdem das „Silberzeug“ dann endlich abgeräumt und die Punschbowle zu zwei Dritteln bereits geleert war, mußte Frau Wachtel sogar noch die Skatkarten „ranschleifen“. Es war einfach herrlich!17

Die naturalistische Textur von Papa Hamlet (1889) protokolliert, idealerweise zeitdeckend, spezifische Situationen und wird dabei dominiert von langen Passagen wörtlicher Rede, die durchweg stark idiomatisch eingefärbt ist. Dabei führt die Erzählung lustvoll und in aller Ausführlichkeit spezifische und durchaus beschädigte Charaktere mit oder vielmehr in ihren sprachlichen und diskursiven Idiosynkrasien vor – genau das also, was der Poetische Realismus konsequent unterdrückt hatte. Selbst die eingeschobene Erzählerrede steckt sich an der Figurenrede an. Zum Teil wird das durch Anführungszeichen markiert („ranschleifen“); wo das nicht der Fall ist, haben wir es praktisch mit erlebter Rede ohne klare Personenzuordnung zu tun („Es war einfach herrlich!“). In jedem Fall wird die Aufmerksamkeit des Lesers durch 16

17

Julian Schmidt, „Schiller und der Idealismus“, in: Die Grenzboten, 17/II, Bd. 4/ 1858, S. 401–410, hier S. 404. Arno Holz/Johannes Schlaf, Papa Hamlet [1889], Stuttgart 1963, S. 26.

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dieses Verfahren nicht nur auf die Eigenheiten der dargestellten Personen gelenkt, sondern zugleich auch auf die erschwerte Textur des Textes selbst. Dadurch, dass die wörtliche Rede zur Dominante des Textes wird, profiliert dieser eine Form idiosynkratischen Diskurses, wie wir sie aus dem Realismus nicht kennen – es ist gerade die personale Spezifik, über die wir uns mit dem Erzähler wundern sollen. Darauf verweist schon der Beginn der Erzählung: Was? Das war Niels Thienwiebel? Niels Thienwiebel, der große, unübertroffene Hamlet aus Trondhjem? Ich esse Luft und werde mit Versprechungen gestopft? Man kann Kapaunen nicht besser mästen?…18

Durch die Hauptfigur, den gescheiterten Schauspieler, wird die Partikularität der naturalistischen Rede in die Nähe zur Rollenprosa gestellt. Thienwiebel spielt sozusagen im Leben eine Rolle. Und genau hier möchte ich den Begriff der ‚Routine‘ ins Spiel bringen. Mit Routine meine ich eine Textproduktion nach willkürlich gesetzten Spielregeln: Man wählt zunächst eine bestimmte Manier, und in dieser wird dann ein Thema abgehandelt, ein Diskurs geführt, eine Situation durchgespielt. Der Poetische Realismus ermutigt ein solches concettistisches Schreiben in Routines nicht, weil es ihm darum geht, das objektive Wesen der Wirklichkeit zu erfassen. Dazu muss die Art des Schreibens selbst als quasi natürlich erscheinen – man kann die eine Wirklichkeit mehr oder weniger gut erfassen, aber nicht auf beliebig viele verschiedene Weisen. In der Praxis entspricht dem die bis heute gängige ‚realistische‘ Erzähltextur mit ihrem Wechsel von raffenden Passagen und Szenen. Routines dagegen produzieren zwar eine meist sehr homogene Textur, die aber gerade nicht als selbstverständlich-natürlich, sondern als bedingt und künstlich erscheint. Die Anregung zu dieser Begrifflichkeit entstammt poetologischen Überlegungen von William S. Burroughs anlässlich seines Romans Queer.19 Routines sind – als gestaltete Idiosynkrasien – sozusagen per definitionem queer, während poetisch-realistische Texte ‚wahr‘ und daher emphatisch anti-idiosynkratisch sind. Die bekanntesten Routines dieser Art in der deutschsprachigen Literatur um 1900 sind die Innerer-Monolog-Texte Schnitzlers, z. B. Leutnant Gustl: Wie lang’ wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen… schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren… Erst viertel auf zehn?… Mir kommt vor, ich sitz’ schon drei 18 19

Ebd., S. 19. Vgl. William S. Burroughs: „Introduction“, in: Ders., Queer, New York 1987, S. v–xxiii, hier S. xv f.

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Moritz Baßler Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht gewohnt… Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen… Ja, richtig: Oratorium! Ich hab’ gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich wenigstens einen Ecksitz hätt’! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End’! Vielleicht ist es sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. Woher sollt’ mir auch die Laune kommen? Wenn ich denke, daß ich hergekommen bin, um mich zu zerstreuen… Hätt’ ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber Violine. Aber da wär’ der Kopetzky beleidigt gewesen. […] – Sie singen übrigens sehr schön. Es ist sehr erhebend – sicher! Bravo! Bravo!… Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir klatscht wie verrückt. Ob’s ihm wirklich so gut gefällt?20

Der idiosynkratische Diskurs hat hier den Text vollständig übernommen und ist gänzlich auf die Person des Leutnants Gustl zurechenbar. Es ist eigentlich erstaunlich, dass diese beiden Fakten nicht dazu führen, dass auch die Textaussage mit der Position der Figur verschmilzt. Aber der Leser identifiziert sich so wenig mit dem Leutnant wie mit dem Selbstmörder in Andreas Thameyers letzter Brief, der Hysterikerin in Fräulein Else oder mit Papa Hamlet, und dass das so ist, liegt eben am idiosynkratischen Charakter der Routine. Sie führt uns das Wesen eines spezifisch Anderen vor und stellt diesen/dieses damit als partikularen Fall aus – die individuierenden Titel weisen darauf hin. Damit aber gibt der Diskurs, den der Text führt, den Anspruch auf allgemeine Wahrheit preis. Die Wahrheit eines partikularen Diskurses kann bestenfalls eine unter vielen möglichen sein. Der Leser erfährt sie in ihrer Bedingtheit, hier definiert durch den bigotten Ehrenkodex der k.u.k.Armee.21 Das heißt also: Selbst wenn die Routines der Jahrhundertwende von jeweils nur einem Code pro Text regiert sind, ist dieser Code kein allgemeingültiger Metacode mehr (wie Goethes ‚Natur‘), sondern automatisch nur einer neben anderen. Man könnte Routines – zunächst einmal sicher zutreffend – auch deviationsästhetisch deuten, als Texte mit Freude an der Abweichung. Entscheidend ist aber, dass der Normdiskurs, um den es den Realisten stets gegangen war, hier nirgends mehr Eingang in den Text findet. Er wird überhaupt nicht mehr mitgeschrieben. Das Deviante, ‚Queere‘, wird in der Routine zur literarischen Norm.22 – Weiterhin prätendiert die vollständige Personalisierung zwar, als Psychologisierung verstanden, zunächst eine 20

21

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Arthur Schnitzler, Leutnant Gustl [1900], in: Ders., Erzählungen 1892–1907, Frankfurt a.M. 22004, S. 335–368, hier S. 335. Schnitzler wurde auf die Publikation dieser Novelle hin bekanntlich sein Reserveoffiziersrang entzogen. Vgl. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 21987, S. 314.

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Naturalisierung des Diskurses; aber als psychologische Prosa wären solche Routines eben auch nur unzureichend begriffen. Die vermeintlich realistische Darstellung einer personalen Idiosynkrasie produziert nämlich eine idiosynkratische Textur, die als solche Aufmerksamkeit beansprucht und also artifiziell wirkt. Der Übergang von der Textebene zur Diegese wird in diesem Verfahren tendenziell ent-automatisiert – wir entfernen uns vom selbstverständlich Realistischen. Auf den ersten Blick ist Oskar Panizzas Der Korsetten-Fritz (1893) als IchErzählung im epischen Präteritum traditioneller erzählt als die bisherigen Beispiele. Doch ist die Erzählung schon dadurch als Routine markiert, dass der Ich-Erzähler als Folge seines delirierenden Korsett-Fetischismus im Irrenhaus sitzt. Die poetologische Konsequenz erschließt sich über einen Text im Text: Fritz muss (wie andere Fritze der Zeit auch) einen Schulaufsatz schreiben zum Thema „Die Bestimmung des Menschen“, und in diesem lässt er nun seinem fetischistischen Weltbild freien Lauf: Das ist unsere Bestimmung, das ist unser Fluch, zu grübeln und zu spintisieren, die Schliche und Verhüllungen unserer Nebenmenschen aufzudecken, den Kern aus der Schale zu brechen, die Panzer abzureißen: ein Geschlecht läuft neben uns her, seltsam gebildet, mit ausladenden, outrierten Formen; die Blicke dunkel und verzehrend, die Haut schneeweiß, fuchtelnde Arme, auf der Brust zwei ungebärdige Ballen, die seltsam in der Kleidung versteckt werden, über Hüfte und Leib schillernde, seidene, farbige Überzüge von unbekannter, geheimnisvoller Herkunft; weiterhin sonderlich gebildet, alles glatt und weich, zart und behext; das, einmal gesehen die Phantasie nicht mehr loslässt, die Gymnasiasten verwirrt, ihnen das Gedächtnis auslöscht, sie dem Verderben zuführen will. Löse diese Rätsel, zerreiße die Schleier, decke alles auf – das ist die Bestimmung des Menschen […].23

Für diesen Text nun bekommt Fritz zwar wegen „‚unziemlicher Ausdrücke und unsittlicher Anspielungen im deutschen Aufsatz‘ zwei Stunden Arrest […], aber für den deutschen Aufsatz selbst wegen der darin gezeigten ‚Selbständigkeit in Behandlung schwieriger und abgelegener Themata‘ die erste Note“ und besteht damit sein Abitur.24 Was für die Routine in der Routine gilt, gilt nun aber für das Wesen der Routine generell: Die Bestimmung des Menschen, das Finden eines allgemeingültigen Metacodes für Welt und Text ist nicht mehr ihr Ziel. Zunächst hatte Fritz eine Antwort geben wollen, die dem schulischen Erwartungshorizont vermutlich eher entsprochen hätte: „Die Bestimmung des Menschen ist, die Rätsel, mit denen ihn diese Welt 23

24

Oskar Panizza, Der Korsetten-Fritz, in: Ders., Die Menschenfabrik und andere Erzählungen, Berlin 1984, S. 69–99, hier S. 89. Ebd., S. 90.

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umgibt, zu lösen und sich zur ruhigen Geistesklarheit durchzuringen“.25 So ungefähr sagt das Otto Ludwig auch. An die Stelle dieses ungedeckten Schecks poetisch-realistischer Verklärung tritt mit der Routine dagegen eine Art Concetto. Das Rätsel, von dem Fritz spricht, ist nicht mehr das der allgemeinen Menschenbestimmung, sondern das einer, seiner fetischistischen Idiosynkrasie, und dieser Befund lässt sich poetologisch verallgemeinern: Es geht um die selbständige „Behandlung schwieriger und abgelegener Themata“ jenseits des Erwartbaren, und hierin wollen unsere nach-realistischen Autoren die erste Note erringen. Betrachten wir als letztes Beispiel einen Auszug aus Liliencrons Roman Der Mäcen von 1889, „Farben“ überschrieben: Hellblaue Husaren reiten, zu Zweien hintereinander, aus dem Ausgang eines dunklen Buchenwaldes in den hellsten Sommersonnenschein; immer mehr, immer mehr – immer reiten zwei heraus, und immer mehr, und immer nur zwei zugleich. Die hinter ihnen ziehen, die noch kommen sollen, sind nicht zu sehen. Neulich, als ich jagte, suchte mein kurzhaariger, goldbrauner Hühnerhund in einem blühenden Lupinenfelde. Der Hund verschwand; nur sein Kopf war, fortwährend witternd (Luft ziehend), über dem Felde sichtbar. Dieses dunkle Goldbraun in den eiergelben Lupinen. Auf dieser Jagd auch fiel mir ins Auge: Auf einem niedergelegten Knick stand ein Ebereschenbäumchen, mit knallroten Beeren übersäet. Diese stachen ab von der lila Haide, die den Wall übersponnen hatte. Rote Beeren und lila Haide, wieder von den Stoppeln, auf denen gebräunte Garben sich aneinander lehnten. In diesem Frühjahr sah ich und behielt im Kopf: Eine dunkle Tannenwand; zwei nebeneinanderstehende Silberpappeln in der Höhe der Fichten, vor diesen. Und vor den beiden Silberpappeln, vor deren Mitte, ein Buchenbäumchen mit den ersten hellgrünen Blättchen. Reizend.26

Das ist nun eindeutig eine Routine (nach der Verfahrensregel: Liste starke Farbeindrücke auf!), scheint aber doch irgendwie anders zu funktionieren als unsere bisherigen Beispiele. Die impressionistische Reihung von optischen Eindrücken ist zwar noch personal an ein Erzählsubjekt rückgebunden insofern, als der Romantext in einem vorangestellten Rahmenteil als das ‚Notizbuch‘ Wulff Gadendorps ausgegeben wird. Die Farben bleiben also gesehene Farben, aber diese Bindung ist doch extrem schwach. Der Wegfall der Verben gibt die narrativ-situative Verortung weitgehend preis, vor allem aber zielt der Text – und darin unterscheidet er sich wesentlich von den bisherigen Beispielen – nicht mehr auf Darstellung der Eigenheiten des Protagonisten. Als formales Einheitsprinzip des heterogenen Gesamtromans geht die25 26

Ebd., S. 88. Detlev von Liliencron, Der Mäcen [1889], in: Ders., Gesammelte Werke, 5. Bd.: Romane, Berlin 9/101922, S. 173–313, hier S. 242.

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ser vielmehr ganz in seiner Rolle als Sammler auf. Neben Farbeindrücken präsentiert Der Mäcen kleine Reflexionen und Fundstücke, Listen empfehlenswerter Bücher, Lese- und Traumprotokolle, anthologische Textsammlungen realistischer und zeitgenössischer Autoren, Anekdoten aus dem Landleben und vieles mehr in bunter Folge, alles zusammengehalten nur durch den Geschmack Gadendorps, der die Sachen ohne weitere Begründung „reizend“ oder auch „echt“ oder „lebendig“ findet. Diese ästhetischen Urteile sinnt der Text nun allerdings auch dem Leser an. Damit bleibt dem Roman ein Anspruch auf allgemeine Beipflichtung erhalten, der mit einer Partikularität des Subjektes, wie wir oben argumentiert haben, nicht zusammenginge. Anders als im Poetischen Realismus erschöpft sich dieser Anspruch aber im Ästhetischen, und zwar – nebenbei gesagt – in einem Ästhetischen, das nicht unbedingt Texteigenschaft ist. Die Farbeindrücke müssen ja erst in Prosa verwandelt werden; dabei wird ihre besondere ästhetische Qualität durch lyrische Dichte, etwa durch die Assonanzen repräsentiert. Dominante des Textes bleibt in beiden Fällen ein deiktischer Gestus, wobei das Gezeigte seinen ästhetischen Wert bereits vor seiner Vertextung in sich tragen soll: „Dieses dunkle Goldbraun in den eiergelben Lupinen.“ Das generische Prinzip des Textes, die Regel seiner Routine, ist hier demnach auf andere Weise mit dem Erzählsubjekt verknüpft als in den bisherigen Texten: Es ist nicht mehr dessen idiosynkratisch besondere, beschränkte und tendenziell pathologische Rede. Person und Textur tendieren nicht mehr zur Identität, der Text nicht mehr zur Fallstudie. Zwar bleibt die impressionistische Textur an ein Erzähl-Ich gebunden, dieses aber zeigt sich selbst nurmehr als ein geschmackvoll wählendes und arrangierendes. Das funktioniert übrigens auch in heterodiegetischer Narration – man denke nur an Des Esseintes in Joris-Karl Huysmans’ paradigmatischen Dandy-Roman À rebours, dessen Sammelwut die Lizenz für die dekadente Katalogprosa schafft. Die erzählten Subjekte gehen hier in ihrer semantischen Funktion kaum noch über die Verkörperung des Verfahrens hinaus, sie werden zu bloßen Vehikeln dieses Verfahrens. Es gibt keine Differenz mehr zwischen ihrer Idiosynkrasie, dem ästhetischen Verfahren des Textes und der Textaussage. Ganz ähnlich verhält es sich in der Kurzprosa Robert Walsers, die ebenfalls um 1900 ansetzt – auf Fritz Kochers Aufsätze habe ich schon angespielt. Damit vermeidet der moderne Text die semiotische Kippfigur des Poetischen Realismus, seine Zeichen sind deshalb aber nicht weniger prekär: Das (neue) Paradox der Routine besteht darin, dass der Text in seinem Verfahren vollständig einem (idiosynkratischen) Subjekt überlassen wird, das seinerseits nur im Verfahren seines Textes Gestalt und Wirklichkeit gewinnt. Die

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Zeichen dieser Literatur stehen daher ebenfalls auf der Kippe, aber nicht mehr zwischen Metonymisierung (Realismus) und Metaphorisierung (Verklärung), sondern zwischen Mimesis (der Nachahmung von partikularen Weltsichten) und Poiesis (der Hervorbringung partikularer Textwelten). Das Prekäre, das ja im Literarischen tendenziell auch das Produktive ist, greift damit auch auf die Textebene über, die im Realismus noch gänzlich unproblematisch erschien. In Fortsetzung der aufgezeigten systematischen Linie sind schließlich Routines denkbar, die überhaupt nicht mehr personal rückgebunden sind, sondern generische Regeln im freien Spiel ausprobieren. Die realistischen Prämissen sind um 1900 noch so stark, dass sich solche Fälle überwiegend in Texten finden, die im literarischen Feld eher auf der unernsten Seite verortet werden – in der Phantastik Scheerbarts und den Galgenliedern Morgensterns geht das Texturexperiment in einigen Fällen bereits bis hin zum Lautgedicht. Niefanger spricht hier von Spieltexturen. Die emphatische Moderne wird dann ab etwa 1910 verstärkt in diese Richtung gehen; vor allem aber wird sie manche Ansätze der Zeit um 1900, von der Bürgersatire zur Irrenrede, unter eine radikal neue, avantgardistische und mediumistische Programmatik bringen und neu evaluieren. Das verfahrensgeschichtliche Modell, das hier vorgeschlagen wird, beschreibt also einen Dreischritt: (1) Es schreibt sich her von einem semiotischen Modell des Poetischen Realismus (inspiriert vor allem von Geppert und Ort), demzufolge dessen programmatische Verpflichtung auf die heuristische Idee eines Metacodes jegliche Repräsentation von Idiosynkrasien als solchen blockiert. Die Sonderlinge des Realismus sollen eben nicht als ‚Fälle‘ vorgeführt werden, sondern im Gegenteil gerade das eigentlich Wesentliche repräsentieren, sie sind, als Entsagende, Medien der Verklärung, ihr Diskurs ist daher nicht als partikular-spezifische Routine zu verstehen. (2) Erst mit dem Ende des poetisch-realistischen Schreibprogramms werden dann in einem zweiten Schritt Texte möglich, die als personale Routines angelegt sind und die dargestellten Idiosynkrasien zur Verfahrensregel der eigenen Textur machen. Dies kann unter naturalistischen ebenso wie unter ‚dekadenten‘ und impressionistischen, unter psychologisierenden, ästhetisierenden, neuromantischen oder anderen programmatischen Vorzeichen geschehen – im Prinzip der Routine liegt, so die vorläufige These, gerade die Einheit der literarischen Vielstimmigkeit der beiden Jahrzehnte um 1900. Jeder Text wird dabei zwar nur noch durch genau einen Code bestimmt, und dieser funktioniert sogar und wird nicht, wie im Poetischen Realismus, nur gefordert. Dieser Code aber macht ausdrücklich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit mehr, er ist, als Regel eines bestimmten ‚Falls‘, immer schon

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anderen möglichen Codes nebengeordnet. (3) Routines können schließlich ihre Verfahrensregel von der Referenz auf personale Idiosynkrasien lösen. Damit ist dann der Weg zu einer absoluten, nicht mehr realistischen Prosa frei, der erst unter dem Programmdiskurs der historischen Avantgarden ein neuer systematischer Ort zugewiesen wird. Wir wissen heute, dass dieser Weg keineswegs unumkehrbar war. Recht bald nach 1920 setzen sich in der deutschen Literatur ja wieder realistische Erzählverfahren durch. Aber das wäre bereits ein anderes Kapitel einer zukünftigen Verfahrensgeschichte.

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Wilhelm Raabes Else von der Tanne, Stopfkuchen

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Christian Rakow (Berlin)

Auf dem Weg in die Marotte Wilhelm Raabes Else von der Tanne, Villa Schönow, Stopfkuchen und die Tücken der Metonymisierung im Poetischen Realismus

„Sauce“ nannte es Richard Brinkmann 1957 in seiner paradigmatischen Realismusuntersuchung am Beispiel von Otto Ludwigs Großerzählung Zwischen Himmel und Erde (1854): „Sauce“, das sind die angestrengt bedeutsamen Momente, die sich regelmäßig in Texte des Poetischen Realismus in Deutschland einschleichen.1 Sie entstehen dort, wo ein individuelles Geschehen durch assoziative Beigaben des Erzählers perspektiviert und verallgemeinert werden soll. Entsprechend mischten sich „vielfach eingestreute moralisierende und räsonierende Reflexionen oder finstere, mysteriös-vielsagende Andeutungen“ bei Otto Ludwig zu einem kitschiges Gebräu aus „Sentimentalität, Süßlichkeit, Harmonisierung, Erweichung der Spannungen auf der einen Seite, Übersteigerung der Spannungen, genrehaftes Ausmalen der Szenen des Grausigen, Makabren, Wild-Bösen, Wollüstigen, Schmerzlichen auf der anderen Seite“.2 Brinkmanns unerbittliche Expertise zeigt sich von einer Idealvorstellung Goethe’scher Symbolik getragen, nach der ein konkretes, besonderes Geschehen gewissermaßen aus sich heraus die Struktur einer übergreifenden Totalität zu erkennen gibt. Dieses Textideal ist freilich seinem Gegenstandsbereich adäquat. Schon Julian Schmidt, der Doyen der realistischen Literaturkritik nach 1848, hatte sich auf die klassische Symboldiskussion bezogen, als er die einschlägige Auseinandersetzung zwischen Goethe und Schiller über die Urpflanze zur Gründungsszene des Poetischen Realismus erhob: Goethe nenne sich hierin einen „Realisten, weil ihm seine Ideen Realität haben, ja weil sie ihm als das einzig Lebendige erscheinen“,3 erläutert Schmidt 1

2 3

Richard Brinkmann, Illusion und Wirklichkeit. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts, Tübingen 31977, S. 207. Ebd., S. 206. Julian Schmidt, „Wahrer und falscher Realismus“ [gekürzte Fassung des Aufsatzes „Schiller und der Idealismus“ von 1858], in: Gerhard Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1997, S. 119–121, hier S. 119.

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und leitet aus der Goethe’schen Position seinen realidealistischen Obersatz ab: Der „wahre Realismus der Beobachtung liegt darin, daß man bei jeder Individualität in der Natur, der Geschichte und im wirklichen Leben schnell die charakteristischen Züge herausfindet, mit anderen Worten, daß man Sinn für Realität hat, für den wahren Inhalt der Dinge“.4 Anders ausgedrückt: Im Poetischen Realismus symbolisiert die Erscheinung immer schon selbst ihren wesentlichen Gehalt. Friedrich Spielhagen hat diese idealistische Grundvorstellung in seine für das realistische Projekt einflussreiche Narratologie aufgenommen. Er kommt darin gleichsam Brinkmanns Kritik zuvor, wenn er alle explizierenden, reflektierenden Beigaben im Erzählvorgang (sprich: alle Redeanteile, die über mimetische Sätze hinausgehen) als unpoetisch zurückweist.5 Nur dort, wo der erzählerische Zierrat minimiert wird, kann ein aus sich heraus bedeutsames, organisches Kunstwerk als „zur Erscheinung gebrachte (objektivirte) Idee“ entstehen.6 Allerdings musste schon Spielhagen, auch darin Brinkmann vorwegnehmend, an seinen Zeitgenossen bemängeln, dass sich ein solcher Symbolisierungsauftrag in einer Literatur, die von ausdifferenzierten, individualisierten Gegenwartskontexten ausgehen will, nicht mehr ohne Weiteres einlösen lässt. Gerade der Einsatz poetischer „Sauce“ bezeugt das tatsächliche Auseinanderfallen zweier Bedeutungsebenen:7 Als Basis erscheint hier die metonymisch manifeste handgreifliche Wirklichkeit, also diejenige Ebene, auf der sich eine Abfolge konkreter Sachverhalte zur Diegese formt. Es ist die Ebene profaner Details, zeitgenössisch und irgendwie fade. Darüber aber schimmert das Dauerhafte, Große, im kulturellen Gedächtnis fest verankerte Bedeutungstragende: religiöse Mythen etwa oder auch archetypische Fabeln (man denke an Romeo und Julia auf dem Dorfe). Und weil dieser Horizont der Totalität eben nicht mehr homogen in den diegetischen Details konkretisiert ist, muss ein Erzähler, wie bei Otto Ludwig beobachtet, mit explizierenden Zugaben nachhelfen: mit sinnfälligen Schematisierungen und Kontrastierungen (Himmel und Erde), mit einschlägigen Metaphern (die Protagonisten als Wiedergänger von Kain und Abel) und ausdrücklichen Vergleichen (eine „Emporlaube“ am Haus, „einer halben Dornen-

4 5

6 7

Ebd., S. 120. Unter den zahlreichen Schriften zum Thema sei hier allein eine frühe, prägnante Darstellung genannt: Friedrich Spielhagen, „Ueber Objektivetät im Roman“ [1864], in: Ders., Vermischte Schriften, Erster Band, Berlin 1864, S. 174–197. Ebd., S. 176. Vgl. den einleitenden Aufsatz von Moritz Baßler in diesem Band.

Wilhelm Raabes Else von der Tanne, Stopfkuchen

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krone nicht unähnlich“8), in denen die heilsgeschichtliche Tiefe des Dachdeckerkrimis bezeugt werden soll. So hat es bereits Brinkmann herausgestellt. Nun sind Verkitschung oder Sauce-fizierung, zumal wenn sie aus zentralen Strukturfragen des realistischen Literaturprojekts resultieren, alles andere als unproblematisch. Ich will in diesem Aufsatz an Wilhelm Raabes Übergang von seiner mittleren zur späten Werkphase das hier umrissene Verfahrensdilemma weiter verfolgen und Raabes Lösungsmöglichkeiten andeuten.

I.

Verkitschung statt Vertiefung in Wilhelm Raabes Else von der Tanne Lieblich lag der Sonnenmorgen über dem Walde; lieblich erregten sich die Vögel in Baum, Strauch und blauer Luft; und jeder Quell sprang und lief freudiger und mutwilliger in den Johannistag hinein. / Das zahme Reh begleitete die schöne Herrin mit fröhlichen Sprüngen und schmeichelndem Anschmiegen durch den Forst […].9

Für einen Text, der sich mit einem unbedingten Willen zur Weichzeichnung nachgerade selbst trivialisiert, hat Wilhelm Raabes Else von der Tanne (1865) ein beachtliches Renommee erlangt. In die repräsentative Oxford German Series (New York 1911) fand er ebenso Eingang wie in Reclams Universalbibliothek. Aus Raabes unfangreichem Oeuvre sind heute noch elf Titel bei Reclam lieferbar, darunter nicht Klassiker der Raabe-Forschung wie Hastenbeck (1899) oder Drei Federn (1865), nicht der seinerzeit so populäre wie heute notorische Hungerpastor (1864), sondern eben die kleine Erzählung aus dem Dreißigjährigen Krieg um den Pfarrer Friedemann Leutenbacher und das Flüchtlingsmädchen Else: Im Jahre 1636 wird das sechsjährige Mädchen Else mit ihrem Vater, dem Magister Konradus, aus dem zerstörten Magdeburg in ein fiktives Harzdörfchen mit dem sprechenden Namen „Wallrode im Elend“ vertrieben. Menschenscheu siedeln sich die beiden nicht im Dorf, sondern in einer Hütte unter den Tannen im Wald an. Bald werden sie von der Dorfgemeinschaft geächtet, und spätestens als der Pfarrer Leutenbacher beginnt, sich regelmäßig zu den beiden in die Einsiedelei zu gesellen, schlägt die Ablehnung des Dorfes in offenen Hass um. Als das Mädchen und sein

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Brinkmann, Illusion und Wirklichkeit, S. 156. Wilhelm Raabe, Else von der Tanne oder Das Glück Domini Friedemann Leutenbachers, armen Dieners am Wort Gottes zu Wallrode im Elend [1865], in: Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, Karl Hoppe (Hrsg.), Bd. 9,1, Göttingen 1962, S. 159–198, hier S. 181.

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Vater anlässlich ihres achtzehnten Geburtstags am Johannistag 1648 erstmals die Kirche zu Wallrode betreten, passiert das Unglück: Da „flog ein scharfkantiger Kiesel und traf die Jungfrau auf die linke Brust, daß sie mit einem Schrei zusammenbrach und bewußtlos in die Arme des Vaters sank“.10 Wenige Monate darauf, am Heiligabend desselben Jahres, stirbt Else an den Folgen dieses Steinwurfs. Und der Text versäumt nicht, den Tod der Jungfrau mit gebotener Symbolik und einigen Epitheta der Holdseligkeit zu verklären: Das zahme Reh stand neben dem Bett und hatte seinen schlanken Hals, sein Köpfchen auf die Decke gelegt, die weiße Waldtaube, welche vor zwei Jahren aus dem Neste gefallen und von Else aufgezogen war, saß zu den Häupten des Lagers auf dem Bettpfosten und sah auf die bleiche Herrin.11

Ist das eigentlich noch Realismus? Wenn man die Raabe-Forschung zu diesem Text anschaut, muss man glauben: Eher nein. Einen „Märchencharakter“ hat man dem Text zugesprochen (Hotz).12 Weniger ein konkretes Setting denn „lediglich narratives Dekor“ (Czapla)13 stelle der Dreißigjährige Krieg für diese Historie bereit. Entsprechend ist die Fabel vergleichsweise abstrakt in ihrem allegorischen Potenzial ernst genommen worden: Mit ihrer lockeren Aneignung christlicher und nordischer Mythologeme diene sie der Problematisierung heilsgeschichtlicher Erwartungen (Czapla)14 bzw. werde zum pessimistischen, nihilistischen Kommentar auf die Unfähigkeit der Menschen, „die christliche Botschaft (oder: die humanistische Idee) zu realisieren“ (Cremer).15 Oder hier liege schlichtweg „eine ergreifende Allegorie auf die condition humaine“ und eine „Parabel des ewigen Kampfes, den 10 11 12

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Ebd., S. 187. Ebd., S. 193. Karl Hotz, „Raumgestaltung und Raumsymbolik in Wilhelm Raabes Erzählung ‚Else von der Tanne‘“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1968, S. 83–90, hier S. 85 [Das Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft wird im Folgenden mit der Sigle JbRG abgekürzt.]. Ralf Georg Czapla, „Mythen im Wandel. Zur nordischen Mythologie in Wilhelm Raabes ‚Else von der Tanne‘ und Arno Schmidts ‚Die Wasserstraße‘“, in: JbRG, 1996, S. 69–91, hier S. 73. Vgl. ebd., S. 77–81. Günter Cremer, „Gott oder Satan? Negierte Heilsbotschaft und Nihilismus in Raabes Erzählung ‚Else von der Tanne‘“, in: JbRG, 2000, S. 74–95, hier S. 94. Die humanistische Tragweite der nach klassischen Kanones gestalteten Else-Figur wurde bereits herausgestellt von: Gertrud Brate, „Form und Inhalt in Wilhelm Raabes ‚Else von der Tanne oder Das Glück Domini Friedemann Leutenbachers, armen Dieners am Wort Gottes zu Wallrode im Elend‘“, in: JbRG, 1973, S. 54–70, hier S. 65.

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Güte und Verstand gegen die Mächte der Finsternis führen“ (Beitter)16 vor. In Czaplas und Cremers Deutungen konkretisiert sich diese weit gespannte Allegorie als ein Ausdruck der resignativen Einstellung von Künstlern und Intellektuellen nach 1848.17 Wenn man denn dabei von einer Konkretisierung reden kann. Eine Allegorese betreibt schließlich auch dieser Kurzschluss zwischen mythologischer Bedeutungsproduktion und postrevolutionärer Mentalität. Nun ist allegorische Versinnbildlichung keineswegs das, was der Poetische Realismus in der oben mit Julian Schmidt beschriebenen, tendenziell symbolischen Selbstauffassung bezweckt. Ebenso problematisch wie die bloß mimetische Reproduktion von Wirklichkeit in ihren kontingenten Oberflächenphänomenen (eine Tendenz, die der Realismus dem Naturalismus zuschreibt) gilt dieser Literatur schließlich die Entleerung von Wirklichkeit in realitätsfreien Attrappen von Symbolen (eine Tendenz, die der Realismus als romantisch abqualifiziert). Letzterer Grenzbereich aber scheint in Else von der Tanne erreicht. Hier droht ein Zuviel an Zeichenhaftigkeit, so wie im Naturalismus zuwenig davon vorhanden ist. Realistische Texte brauchen den Bildsprung hin auf ein textfremdes Bedeutungsfeld, aber sie brauchen ebenso die metonymische Einbettung dieser Tropen, eben den genuin symbolischen Modus. Sinnbildliche Textbausteine, die über den gegebenen Handlungsrahmen hinausweisen sollen, müssen gleichsam als handgreifliches Ding auf der Sachebene der Geschichte motiviert sein. Diesen realistischen Double-bind zwischen freier Funktionalität und Motiviertheit der Zeichen hatte bereits Claus-Michael Ort in seiner richtungsweisenden, an Roman Jakobson anschließenden Realismusstudie Zeichen und Zeit (1998)18 erläutert. In Raabes Novelle erscheinen die symbolischen Momente eher top-down an die Handlungsträger angelagert. Am Beispiel des „zahmen Rehs“, das hier einen hochgradig kitschverdächtigen Auftritt hat, ist das bereits auseinandergesetzt worden.19 Es ist ja nicht so, dass sich Rehe nicht domestizieren ließen (Brehms Tierleben etwa erläutert, dass eine Zähmung bei weiblichen Kälbern durchaus gelinge). Aber auf eine derartige Plausibilisierung aus einem zoo16

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Ursula E. Beitter, „Mythologische Symbolik in Raabes ‚Else von der Tanne‘“, in: JbRG, 1980, S. 43–51, hier S. 44. Vgl. Czapla, „Mythen im Wandel“, S. 81; vgl. Cremer, „Gott oder Satan?“, S. 75. Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998, S. 100. Moritz Baßler, „‚Ein Rudel mißlungener Rehe‘. Bambi und das Rehmotiv in der deutschen Literatur“, in: Siegfried Mattl/Werner Schwarz (Hrsg.), Felix Salten. Schriftsteller – Journalist – Exilant, Wien 2006, S. 121–137, hier S. 126f.

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logischen Wissen heraus ist Raabe nicht aus. Das unvermittelte Erscheinen des Rehs an der Seite von Else am Johannistag ist allein durch eine vorgängige Generalmetapher gedeckt, die Else zur „Seele des großen Waldes“ (v)erklärt.20 Wer als Waldesseele wandelt, dem kann sich praktisch jedes Tier beigesellen, so auch das Reh, das damit als „sekundärer Unschuldsmarker“ der Person fungiert.21 Dass die beseelte Jungfrau an ihrem Schicksalstag scheinbar verständnislos das ahnungsvolle Zurückscheuen ihres tierischen Begleiters vor dem zürnenden Dorfmob übergeht („Ach, es redete nur seine Sprache und die konnten oder wollten die stolzen Menschen nicht verstehen“22), macht kaum mehr als eine geringfügige Unstimmigkeit in der franziskanischen Anlage der „schönen Else“ aus. Der Text ist hier bereits einen Sprung weiter. Else, die sonst mühelos die „Sprache der Tiere, des Windes, des Lichtes“23 versteht, folgt im Finale praktisch einem höheren Bedeutungsprogramm: dem des Martyriums. Das metonymisch nachvollziehbare Handeln der Heldin verblasst im hellen Glanz der Leidens-Allegorie. Von der Konkretheit des Symbolischen sind wir in all dem freilich ein ganzes Stück weit entfernt. Oder anders gesagt: Mit dem Bestreben, transhistorische Bedeutsamkeit (für die condition humaine, wenn man denn so will) in einem ansonsten profanen Dorf-Setting zu erzeugen, gerät Else von der Tanne aus dem poetisch-realistischen Lot. Die mit allegorischen Versatzstücken gespickte Fabel verabschiedet sich in trivialromantische Gefilde, ins freie Spiel mit mythologischen Zeichen.24 Damit steht freilich nicht allein der ästhetische Status des Textes, sondern auch das Bedeutungsprogramm des Poetischen Realismus auf dem Spiel. Wie geht man mit dem Dilemma um, dass die programmatisch avisierte Schau des Wesentlichen im Wirklichen schnell zur Ver-Wesentlichung wird? Wie lässt sich Realität verklären, ohne dass Texte darin gleichsam von der Sogkraft des Idealischen fortgetragen werden? Ich will die Entstehung dieses Dilemmas in der Novelle Else von der Tanne noch einmal genauer in den Blick nehmen, weil darin auch Ansatzpunkte für 20 21 22 23 24

Raabe, Else von der Tanne, S. 178. Baßler, „Ein Rudel mißlungener Rehe“, S. 127. Raabe, Else von der Tanne, S. 182. Ebd., S. 179. Dass die mythologischen Sinneinheiten in der Novelle durchaus widersprüchlich auftreten (vgl. Czapla: „Mythen im Wandel“, S. 78f.), entspricht dem Trend, nach dem realistische Prosatexte Mythen vorzugsweise in „gebrochene[r] Form“ aufrufen (vgl. Renate Böschenstein, „Mythologie zur Bürgerzeit. Raabe – Wagner – Fontane“, in: JbRG, 1986, S. 7–34, hier S. 7). Ausführlich zur „Trivialisierung des Mythos“ als Charakteristikum des Realismus auch: Ingo Meyer, Im „Banne der Wirklichkeit“? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien, Würzburg 2009, S. 230–242.

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verschiedene Problemlösungsstrategien des Realismus sichtbar werden. Wie entsteht eigentlich der fatale Antagonismus zwischen den Dorfbewohnern und den Exilanten im Wald, der sich zur besagten „Parabel des ewigen Kampfes, den Güte und Verstand gegen die Mächte der Finsternis führen“ (Beitter),25 auswächst? Man betrachte zunächst die Handlungsebene, ehe die Erzählsituation eingehender in Augenschein genommen wird. Als Else mit ihrem Vater 1636 in der Schwedenzeit im Walde eintrifft, nähert sich ihnen zunächst eine Schar Kinder. Diese geben hernach im Dorf Bericht von einem „wilden, gewaffneten Mann und vier Hunden, groß und grimm wie Wölfe“. Weiter heißt es: „[N]eben dem Feuer sitze ein Mägdlein ganz holdselig, und der wilde Mann koche ihm ein Süppchen.“26 Dass das Attribut „holdselig“ kaum nach Kindermund klingt, wird sogleich in der Betrachtung der narrativen Situation interessieren. Für den Moment bleibt festzuhalten, dass in den Worten dieser ersten Kundschafter allenfalls die rätselhafte Erscheinung der Fremden konstatiert wird. Den Kindern folgt ein Trupp Dörfler, der kaum weniger irritiert zurückkehrt, aber doch immerhin mit einer einstweiligen Beruhigung: „[E]s seien aber keine Tartaren.“27 Von einer feindseligen Einstellung ist hier noch keine Spur. Es liegt nunmehr bei Pfarrer Leutenbacher, dem wunderlichen Phänomen auf einer dritten Expedition nachzugehen und für seine Dorfgemeinschaft Sinn zu stiften. Er sah „nicht gleich den andern scheu aus der Ferne auf die Fremden; sondern er trat an sie heran“, so erfährt man.28 Die Nahansicht fördert freilich kaum Neuigkeiten zutage: Die Hunde sind tatsächlich gräulich, der wilde Mann gebärdet sich stumm, abweisend und wild (und seine Augen „leuchteten noch viel schrecklicher als die des zornigen Hundes“29), und einzig das holdselige Mädchen richtet einige freundliche Worte an den Gast. Anders als die vorherigen Botschafter kehrt Leutenbacher dennoch mit einer Interpretation zurück ins Dorf: [Es] sei eine Zeit Gottes, in welcher der Herr der Menschen Sinne und Gedanken, Tun und Treiben arg durcheinanderworfele auf seiner Tenne, eine Zeit, in welcher ein jeglicher, es sei Mann oder Weib, so viel mit sich selber zu tun habe, daß ein jeglicher wohltue, für sein armes Teil Frieden zu halten und jedem armen Bruder seinen Weg offenzulassen.30

25 26 27 28 29 30

Beitter, „Mythologische Symbolik“, S. 44. Raabe, Else von der Tanne, S. 164. Ebd., S. 165. Ebd. Ebd., S. 166. Ebd., S. 166.

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In diese Toleranzanweisung hat sich nun leider genau das eingeschlichen, was für die Dorfbewohner (und letztlich auch für die Raabe-Forschung) zum dominanten Modus der Repräsentation wird: Leutenbacher allegorisiert die Fremden in ihrer anscheinenden Verwirrtheit als signum temporis (‚es ist eine Zeit Gottes …‘). Noch bevor sie Menschen mit einer spezifischen (Flüchtlings-)Geschichte werden, sind sie Geschichtszeichen. Genau daraus entsteht auf der Handlungsebene das Problem. Die prekäre Kontextlosigkeit der Fremden spitzt sich bei einer weiteren und vorerst letzten szenisch geschilderten Begegnung mit der Dorfgemeinschaft zu. Ich „bin kein Betrüger oder Verräter, kein Landstreicher oder Schwarzkünstler, kein Schnarchhans“, so erklärt sich der Mann aus dem Walde bei seinem Antrittsbesuch im Dorfe31 und stellt sich alsbald als „Magister Konradus“32 vor. Allerdings erklärt er all dies auf Latein und wendet sich damit ausschließlich dem Pfarrer zu. Die Dorfgemeinschaft bleibt so, obgleich räumlich anwesend, kommunikativ außen vor. Sinnfälligerweise referiert Konradus auf seine Erstbegegnung mit Pfarrer Leutenbacher im selben Modus und mit nahezu denselben Worten wie der Geistliche: „Die Zeit sprach aus mir und mein Schicksal; verzeih mir.“33 Hier haben sich zwei Brüder im Geiste gefunden, zwei Sinnüberschussproduzenten im Dienste der Zeitgeist-Allegorie. Spätestens an dieser Stelle stellt sich denn ein für den weiteren Handlungsverlauf fataler Hiatus ein. Konradus und Leutenbacher vereinigen sich in einer elitistischen, privatistischen Geste und wenden sich gemeinschaftlich von den Ortsansässigen ab. Der prekäre Status der Fremden bleibt damit unaufgeklärt, ihr Erscheinen ohne metonymische Verankerung für die ortsansässige Gesellschaft.34 Wo den Einheimischen eine konkrete Flüchtlingsgeschichte vorenthalten bleibt, schaffen sie sich eigenständig allegorische Kontexte, um die unlesbaren, bedrohlichen Fremden semiotisch zu bannen. In der Hütte im Walde, die für Konradus und seine Tochter alsbald eingerichtet wird, treffen die zum stumpfen Staunen verdammten Dorfbewohner 31 32 33 34

Ebd., S. 167. Ebd., S. 169. Ebd., S. 167. Die Entfernung des Protagonisten Leutenbacher von seiner Gemeinde und die entsprechende kommunikative Entkoppelung sind in ihrer Problematik schon benannt worden in der anthropologisch interessierten Studie von: Andrea Rüttiger, „Grenzen und Ausgrenzungen. Der Umgang mit dem Fremden in Wilhelm Raabes ‚Else von der Tanne‘“, in: Ulrich Kittstein/Stefani Kugler (Hrsg.), Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus,Würzburg 2007, S. 143–156, hier S. 149f.

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auf allerlei rätselhafte wissenschaftliche Instrumente, die ihnen Anlass zu den „merkwürdigsten Phantasien“ geben.35 Im Aberglauben kompensieren sie letztlich das Metonymisierungsdefizit: „Die Stelle bei der hohen Tanne wurde verrufen [.]“36 Einzig Pfarrer Leutenbacher ist es vorbehalten, weiter in die konkreten Verhältnisse vorzudringen und sich peu à peu über Herkunft, Tun und Wollen der beiden Waldbewohner zu informieren. Ihm gelingt die Metonymisierung – aber eben in der Isolation von der Dorfgemeinschaft. Ein Anschluss an den Standarddiskurs vor Ort findet so nicht mehr statt, und die Konsequenzen aus dieser Konstellation sind, wie gesagt, für Else von der Tanne tödlich. Else von der Tanne könnte mit diesem Problementwurf eine poetologisch überaus sinnfällige Erzählung des Poetischen Realismus sein. Die Gefahr der quasi romantischen Allegorisierung von Wirklichkeit durch das Ausbleiben der Metonymisierung liest sich – mit Claus-Michael Ort – als Gefährdung der realistischen Poetik schlechthin (und die dramatische Inszenierung über das Martyrium Elses gäbe einen entschiedenen Relevanzmarker für dieses semiotische Problem ab). Tatsächlich aber mag man dieser Erzählung eine solche selbstreflexive Struktur nur schwerlich zubilligen. Und das nicht nur, weil ihre Sympathien deutlich zugunsten der allegorischen Sinnproduzenten vom Schlage Leutenbachers und Elses verteilt sind, sondern vor allem, weil sich die Erzählung als ganze reichlich unreflektiert auf deren Programm draufsetzt. Hier nun geht es um das oben besagte Signalwort „holdselig“ und damit gleichzeitig um die Eigenheit der Erzählsituation. Wenn die Kinder nach ihrem Erstkontakt mit Magister Konradus und seiner Tochter Else das Bild des Mädchens mit dem Verklärungsmarker par excellence „holdselig“ versehen, so vernimmt man in diesem Adverb weniger die Stimme der unreifen Berichterstatter als die Stimme dessen, dem die Nachricht zugetragen wird und der sich Jahre später daran erinnert: Pfarrer Friedemann Leutenbachers. Durch seine über die Zeit erworbene Fähigkeit, in Else die „Seele des Waldes“ zu schauen, zeichnet er den Rückblick weich. So ist die Erzählung von Beginn an bestrebt, ihren geistlichen Protagonisten als Träger der Perspektive zu etablieren. In der Eingangssequenz hockt er über seiner Weihnachtspredigt am 24. Dezember 1648 und lässt von dort seine Gedanken zurückschweifen zur Ankunft der beiden Fremden im Jahr 1636 über die anschließenden zwölf Jahre ihres Asyls am Örtchen Wallrode im Elend bis zur Gegenwart in der besagten Weihnachtsstunde. Und doch haben wir es nicht mit einer konsequent fokalisierten, personalen Erzähl35 36

Raabe, Else von der Tanne, S. 171. Ebd., S. 172.

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situation zu tun. Zur Stimme Leutenbachers gesellt sich schon auf den ersten Seiten eine zweite hinzu, die Stimme der Erzählinstanz erster Ordnung, die von der dargebotenen Historie weit entfernt im 19. Jahrhundert anhebt, also dort, wo man mit großem Skopus sagen kann: Nun war das zweite Imperium, das Römische Reich Deutscher Nation, auch zerbrochen, und wenngleich die Ruine zu Verwunderung aller Welt noch durch hundertundfünfzig Jahre aufrecht stand, so lösten sich doch bei jedem Sturm und Wind verwitterte, morsche Teile ab und stürzten mit Gekrach hernieder.37

Diese übergeordnete Erzählinstanz beschränkt sich allerdings nicht nur darauf, das Chronikstückchen in historiographischer Manier zu moderieren. Sie legt auch die besagte allegorisierend verklärende Tendenz an: „[I]m Elend wäre Friedemann Leutenbacher längst verlorengegangen, wie das deutsche Volk, wenn Else von der Tanne nicht gewesen wäre“, heißt es schon auf den ersten Seiten im Vorgriff auf die finale Überhöhung des Martyriums der Else zum nationalen (Sünden-)Fall.38 „Heute sind von dem Dorf Wallrode im Elend nur noch geringe Trümmer im Wald zu erblicken; es ist nicht auszusagen, nicht an den Fingern herzuzählen, was niederging durch diesen Krieg, welcher dreißig Jahre gedauert hat“, so schließt der Text.39 Was hier niederging und in der Fabel um Else allegorisiert ist, ist eine gewisse naturwüchsige Einheit und Totalität des Glaubens, so legt es die Erzählung nahe. Von dieser Erzählinstanz erster Ordnung aus löst sich denn der fokalisierte Blick immer wieder auf.40 Und die Erzählung selbst – nicht nur ihr geistlicher Protagonist – fängt an, die Titelheldin zu verklären. Man kann dies als einen Fall von „Ansteckung“ der Erzählerrede (im Sinne von Franz K. Stanzel41) durch die Figur Leutenbachers ansehen. In der Konsequenz bedeutet es, dass die Novelle mit dieser Erzählweise das angesprochene semiotische Problem der Allegorisierung nicht poetologisch vorführt, sondern sich selbst davon beherrschen lässt. Was als forciertes Verklärungserlebnis des Pfarrers Leutenbacher in personaler Darstellung noch durchginge, erfasst den Erzähltext im Ganzen. Und so sieht man letztlich das versatzstückhafte Reh nicht allein durch die Fantasie des betörten Geistlichen, sondern durch den Text als Ganzes hüpfen. 37 38 39 40

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Ebd., S. 161. Ebd., S. 162f. Ebd., S. 198. Vgl. zur komplexen Erzählsituation in Else von der Tanne auch Wieland Zirbs, Strukturen des Erzählens. Studien zum Spätwerk Wilhelm Raabes, Frankfurt a.M./Bern/New York 1986, S. 121–127. Vgl. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 72001, S. 248f.

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II. Die gerahmte Verklärung – Wilhelm Raabes Villa Schönow Bekanntlich setzen stärker selbstreflexive Werke des Poetischen Realismus genau an diesem Punkt des Verfahrensproblems an. Das Idealisierungsbestreben, das Else von der Tanne praktisch ungebrochen exerziert, wird dabei intradiegetisch subjektiviert und im Ganzen mit deutlichen Anführungszeichen versehen. Die sentimental-humoristische Thematisierung des von Schiller inspirierten Liebesliedes „Wo sich Herz zu Herzen find’“ in Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel führt eine solche selbstreferentielle Auseinandersetzung mit den Prämissen der realistischen Poetologie einschlägig vor.42 Ungleich satirischer geht Gottfried Keller das Problem in Die mißbrauchten Liebesbriefe (1873), einer Novelle aus dem zweiten Band der Leute von Seldwyla, an, wenn er den kaufmännischen Hobbypoeten Viggi Störteler in seinem Drang nach quasi Schiller’scher Überhöhung seines Ehelebens karikiert. Dieses Zerrbild eines Trivialliteraten kritisiert eine Literatur, die Metonymisierung, das heißt Praktikabilität für die handelnden Figuren, grundlegend versäumt.43 Keineswegs aufgegeben, sondern gewissermaßen ex negativo beschworen wird dabei von Keller wie von Fontane der Anspruch auf eine gelingende Verbindung aus symbolischer Vertiefung des Wirklichkeitsstoffs und metonymischer Motivierung. Wilhelm Raabe ist unter den Poetischen Realisten derjenige Autor, der solche poetologischen Markierungen am stärksten über die Erzählinstanz erster Ordnung realisiert. Wenn er im Odfeld (1888), 23 Jahre nach Else von der Tanne, auf „die frommen Rehe“ anspielt, dann nurmehr mit entsprechendem Verweis auf die literarische Stereotypie eines solchen Motivs:44 „[b]is, wie es im Märchen heißt, eines Morgens die frommen Rehe kamen und den lieben Freund und guten Greis aller Unlust durch seinesgleichen auf Erden enthoben fanden und so weiter“45; wobei über das Etcetera auch die Selbstreferenz auf den Erzählakt geschaltet wird: „Und so weiter!“ nämlich werden an dieser Stelle schon leider mehr als einer und eine sagen, denen jetzt schon scheint, als ob der Historiograph wieder einmal imstande sei, ihnen die gewohnte Unlust zuzubereiten, und – hinter deren Rücken fahren wir fort in unserem Bericht.46

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Vgl. den Beitrag von Torsten Leine in diesem Band. Vgl. Christian Rakow, Die Ökonomien des Realismus – Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850–1900, Berlin, Boston 2013, S. 217–231. Vgl. dazu nochmals Baßler, „Ein Rudel mißlungener Rehe“, S. 126f. Wilhelm Raabe, Das Odfeld. Eine Erzählung [1888], in: Sämtliche Werke, Braunschweiger Ausgabe, Karl Hoppe (Hrsg.), Bd. 17, Göttingen 1966, S. 5–220, hier S. 9. Ebd.

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Die selbstironische Anspielung besitzt für Raabes Spätwerk eine durchaus bittere Wahrheit. Zunehmend hinter dem Rücken des breiten Lesepublikums (zumindest im Vergleich mit früheren Markterfolgen wie Die Chronik der Sperlingsgasse oder Der Hungerpastor) entwickelt Raabe sein hochgradig markiertes, selbstbewusstes, teils auch selbstverliebtes Erzählen. Wenn er Figuren durch die Diegese schickt, dann mit deutlichem Verweis auf den eigentümlichen Kunstcharakter der Fiktion. So heißt es in Villa Schönow (1885): Vielleicht führt das Schicksal (nicht der Erzähler!) den verunglückten jugendlichen Träumer aus der Provinz nicht ohne Grund sogleich zu dem schwarzen Ledersofa, auf welchem Butzemann senior einst dem verunglückten Träumer und Pulvererfinder Pablo Ferrari die Augen zudrückte.47

Ein solches ironisches Diktum – „das Schicksal (nicht der Erzähler!)“ – dient bei Raabe stets der Bekräftigung, dass es sich bei der künstlerischen Narration um einen Willkürakt handelt. Die Klammer der Selbstreflexion, mit der Raabe das Erzählte umspannt, gibt dabei auch dem Auftauchen allegorischer Attrappen einen neuen Status. Man denke etwa an das populäre zeitgenössische Gesellschaftsspiel Hammer und Glocke, das in der Eingangssequenz von Villa Schönow richtungweisend für die spätere Ereigniskette des Romans aufgerufen wird. Da sieht man exemplarisch, wie die Glückslose dieses Romans verteilt sind: Zum einen vergnügt sich hier die jugendliche Heldin Wittchen Hamelmann, die als gütige Pflegerin des Kriegsversehrten Ludolf Amelung vorgestellt wird und entsprechend die Schimmelkarte ausspielt, so wie es dereinst die Fürst-Äbtissin Auguste Dorothea von Braunschweig-Wolfenbüttel tat (wie Raabe mit gewohnter enzyklopädischer Reichweite vermerkt). Diese Fürst-Äbtissin erlebte der Geheimrat Friedrich Karl von Strombeck – dessen Memoiren (von 1833) Raabe hier in freier Improvisation heranzieht – als eine etwa 50-jährige Dame voller Herzensgüte, Frömmigkeit und Edelmut, mehr „für Andere, besonders für Nothleidende als für sich lebend und stets dahin strebend, Menschen-Elend zu lindern“.48 In der historischen Äquivalenz wird mithin das Rollenstereotyp der herzensguten Fürsorgerin für Wittchen Hamelmann festgeklopft. Und mehr noch: Die Nennung der im Auktionsspiel Hammer und Glocke als wenig lukrativ geltenden Schimmelkarte nimmt schon ein nächstes Ereignis im Leben Wittchens vorweg. Ihr verwitweter Vater, 47

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Wilhelm Raabe, Villa Schönow. Eine Erzählung [1884], in: Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, Karl Hoppe (Hrsg.), Bd. 15, Göttingen 1964, S. 387–571, hier S. 544f. Friedrich Karl von Strombeck, Darstellungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit, 1. Theil, Braunschweig 1833, S. 153.

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Baumeister Hamelmann, wird sterben und die Tochter ohne Obhut zurücklassen. Auf der anderen Seite des Spieltisches erlebt man, wie Malchen Liebelotte überproportionale Gewinne einfährt. Auch hier korrespondiert die Rolle im Spiel mit der intradiegetischen Wirklichkeit der Figur. Malchen ist Tochter des Mannes, der das Haus der Familie Amelung beliehen hat und der die Hypothek just in dem Moment kündigt, da der Kriegsversehrte Ludolf stirbt. Merke: Wie der Vater, so die Tochter. Beide scheffeln einigermaßen skrupellos Geld, wobei die Allegorie des Glücksspiels den Gelderwerb von der Leistungsethik abkoppelt. Liebelottes sind Gewinner in einem System, das Wohlstand per se ebenso ungleich verteilt wie die Gesellschaftsunterhaltung Hammer und Glocke. Raabes Darstellung kümmert sich hier nicht um die metonymischen Belange, weder was die Strategien im Gesellschaftsspiel, noch was die ökonomischen Hintergründe des weiteren Handlungsverlaufs anbelangt. Sie gibt vielmehr allgemein und allegorisierend ihr zugrunde liegendes Gesellschaftsbild an: Mit der freien, auf Wachstum basierenden Marktgesellschaft hat es nur wenig zu tun (dabei ließe zumindest die Auktion, mit der das Spiel Hammer und Glocke einsetzt, eine gute Ansicht der Marktlogik zu, dienen doch Auktionen in der ökonomischen Literatur regelmäßig als Modell für transparente Preisbildung).49 Hammer und Glocke ist ein Nullsummenspiel, in dem die Erträge auf der Siegerseite den Defiziten der Verlierer entsprechen. Für den Roman verweist es auf eine moralische Bewährungssituation: Wenn Erfolge im Leben derart spielerisch und schicksalhaft zustande kommen, womöglich sogar auf Kosten der Mitspieler gehen, dann sind umso mehr Ausgleich, Hingabe und Fürsorge gefordert. Dann bedarf es der tätigen Unterstützung für die Verlierer im ökonomischen Wettbewerb. Und genau diese Unterstützung wird der Inhaber eines Dachdeckergeschäfts, Titelheld Wilhelm Schönow, gewähren. Was die Glücksspielallegorie in Villa Schönow, trotz ausbleibender metonymischer Durchdringung, über den Status der Attrappe hinaushebt, ist zweierlei: Anders als im Falle des zahmen Rehs, das um die beseelte Jungfrau in Else von der Tanne herum hüpft, zapft Raabe hier nicht ein kanonisiertes literarisches Archiv an (das Genre der Legende), sondern greift auf den populären Kontext seiner Zeit zurück. Das Bild des Spiels trägt mithin noch nicht den Charakter völliger Automatisierung und stereotyper Landläufigkeit. Zweitens zeigt sich die Trope im besagten Spielcharakter der Narration 49

Vgl. zu diesen Aspekten in Villa Schönow Rakow, Die Ökonomien des Realismus, S. 457–468.

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selbst aufgehoben. Wenn Raabe in Wilhelm Schönow und seiner Förderin Julie Kiebitz ein gesellschaftspolitisch verklärtes Eliten-Duo zur Hilfsaktion antreten lässt (den Bourgeois Hand in Hand mit der Bildungsbürgerin),50 dann nicht ohne diesen Sozialpakt zugleich in den Irrealis zu rücken. Über Julie Kiebitz sagt Schönow: „Die hätte als Polype jeboren werden müssen, daß aus jedem Stücke von sie een neues jleiches Exemplar möglich wäre zum Besten von unsereinem.“51 Schönow und der Roman wissen nur zu gut um die Begrenztheit des Altruismus, für den Kiebitz steht, und um die geringe Reichweite mildtätigen Unternehmertums, das Schönow verkörpert („Ick hätte zum Exempel in Liebelottes Stelle jetzt nich det Kap’tal in de Hundstwete jekündigt“52). Und genau hier schließt sich der Bogen zur besagten Erzählkonstruktion, die stets explizit markiert das fiktionale Schicksal, das Tun der Figuren und das Wirken des Erzählers koordiniert. In einem solchen Geflecht lässt sich die Erzählinstanz gern ausdrücklich von ihrer Hauptfigur „anstecken“ (Stanzel): „Wir fallen immer in die entferntesten gelehrten Reminiszenzen, wenn von Fräulein Julie Kiebitz die Rede ist“, diagnostiziert der Erzähler an sich selbst.53 Und ganz dem Wirkungskreis der heimlichen Heldin des Romans entsprechend können „Wir“ (ein pluralis auctoris des Erzählers) auch die Diegese in ihren letzten Winkeln durchleuchten: Er [der Baumeister Hamelmann] widerstand der Verlockung, sein Wittchen allein weiterzuschicken und bei Daemel [im Wirtshaus] noch auf einen Moment einzutreten. Wir nicht; – es ist sogar unsere Pflicht und Schuldigkeit, noch ein bißchen hineinzugehen und unser Kind mit hineinzunehmen. –54

Der spielerische Umgang mit den Möglichkeiten der Fiktion verbleibt fraglos im Rahmen der realistischen Darstellungskonventionen. Raabe zeigt, dass seine Fürsorge-Fabel wenn auch nicht in einem mimetischen Abbild der Wirklichkeit, so doch in einem betont künstlerischen, künstlichen Setting seinen Ort hat. Das bloß repräsentative „So ist die Welt“ weicht darin dem fiktionalen „So wünschen wir uns die Welt“. Von einer radikal anderen Version von Wirklichkeit träumt dieses Schreiben noch nicht. Die Option des Gegenentwurfs zur Realitätskonstruktion liegt jenseits der realistischen Dis50

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Was ihm denn auch eine entsprechende Kritik seitens der marxistischen Literaturwissenschaft eingetragen hat: Vgl. Georg Lukács, Die deutschen Realisten des 19. Jahrhunderts, Berlin 51956, S. 244. Lukács vermisst hier die „Wahrheit des Typischen“, wenn „kapitalistische Tätigkeit“ mit dem „gehüteten Geist der deutschen Traditionen in Einklang gebracht werden“ soll. Raabe, Villa Schönow, S. 537. Ebd., S. 417. Ebd., S. 468. Ebd., S. 412.

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kursivität in den Nuller Jahren, wo der Kunstcharakter noch stärker akzentuiert wird und es nicht mehr ‚Schicksal (nicht Erzählen!)‘, sondern ganz unironisch ‚Erzählen (nicht Schicksal!)‘ heißt.55

III. Metonymisierung und Marottifizierung – Wilhelm Raabes Stopfkuchen Die Ironisierung von idealischen Anstrengungen sowie die zunehmende Markierung der realistischen Darstellungskonventionen sind Antworten auf das oben beschriebene Verklärungsproblem. Sie rücken das ursprünglich mit größter Totalitätsforderung ausgestattete Programm des Realismus auf zweite Stufe. Vorgeführt wird nicht mehr eine aus sich heraus umfassend symbolische Diegese, sondern ein poetologischer Verweis auf die angestrebte Symbolkraft bzw. auf ihre permanente Verfehlung. Im Zuge dieser Reflexivwerdung des Realismus partikularisiert sich sein Projekt. Man findet wohl Figuren, die je individuell verklärungsfähig sind. Eine weithin verklärte Diegese findet man nicht. Bei Wilhelm Raabe besitzt das geschilderte Problem noch einen zweiten Lösungsweg, der stärker an den Erfordernissen der Metonymisierung ansetzt. Schon Villa Schönow darf als Beispiel eines Textes gelten, der seinen eher schlichten, mit wenigen Stationen versehenen Handlungsverlauf durch einen rhetorischen Coup aufpeppt: Die unablässige Dialektfaselei des Unternehmerhelden Wilhelm Schönow erschwert die Informationsaufnahme ganz gehörig. In langen, mäandernden O-Tönen wird die Zielspannung der Fabel gedämpft. Was in den Vordergrund rückt, sind die idiosynkratischen Kuriositäten samt ihren für Raabe typischen enzyklopädischen Anreicherungen. Im Aufschub der metonymischen Relationen feiert sich die Figur als Träger eines freien, von äußeren Motivierungen unabhängigen Diskurses. So ersetzt der späte Raabe die Totalität des diegetischen Seinszusammenhangs (die dem Verklärungsgebot des Realismus entspringt) durch die Marottifizierung der individuellen Rede. In Vollendung führt die eigenwillige Kriminalgeschichte Stopfkuchen – Eine See- und Mordgeschichte (1890) diese Marottifizierung vor. Ganz ähnlich wie in Else von der Tanne trifft man hier auf eine sozial ausgestoßene Rumpffamilie: den Bauern Andreas Quakatz und seine Tochter Valentine auf ihrem Gehöft außerhalb der Stadt, auf der Roten Schanze. Quakatz gilt den Einheimischen als Mörder des Schweinehändlers Kienbaum. Gerichtlich verurteilt 55

Vgl. hierzu über die „Routines“ der Frühen Moderne den einleitenden Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band.

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wurde er nicht, was der sozialen Ächtung keinen Abbruch tat. Einzig der träge Schüler Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, wagt sich hinauf zur Roten Schanze. Bald stattet er ihr regelmäßig Besuche ab, freundet sich mit dem grobschlächtigen Quakatz an, ehelicht die Tochter und löst schließlich als neuer Gutsherr auf der Roten Schanze den Mordfall Kienbaum. Bekanntlich wird all das keineswegs in einem geradlinigen Krimi dargeboten. Raabe wartet vielmehr mit einer verschachtelten Erzählkonstruktion auf, die vor allem einem Zweck zu dienen scheint: alles für eine Mordgeschichte genretypische Plotting zu suspendieren. In „endlosen Reden des dicken Heinrich Schaumann“56 wird analeptisch ein fülliger Diskurs mit eher dünnem Handlungsfaden gesponnen, den wiederum der beflissene homodiegetische Erzähler auf erster Stufe, der Emigrant Eduard, wie stenotypiert auf seiner Seefahrt heim nach Afrika wiedergibt. Zum antithetischen Verhältnis zwischen Erzähler und Held hat die Raabe-Forschung Hinreichendes gesagt.57 Hüben haben wir den eher blass bleibenden Eduard: weltläufig, Oberflächen beackernd, aber nun – da es auf die Aufdeckung von Wirklichkeit ankommt – zum passiven Lauschen und akribischen Verschriftlichen verdammt. Drüben produziert sich der Protagonist Schaumann als feister, randständiger, doch fest verwurzelter, gegen die Meinungen wie die oberflächliche Beweglichkeit der Leute immuner Charakter, dem es gleichsam durch eben dieses Beharrungsvermögen gelingt, eine eigenständige Sicht auf die örtlichen Verhältnisse (pars pro toto für die Welt im Ganzen) zu entwickeln: Ich hoffe es dir im Laufe des Tages doch noch zu beweisen, daß auch die einsame Haustürtreppe, der unterste Platz in jeder Schulklasse, der tränenreiche Sitz am Wiesenrain den Menschen doch noch zu einem gewissen Weltüberblick und einem Zweck und Ziel im Erdendasein gelangen lassen können.58

Weil ein solcher Weltüberblick nun aber mehr umfasst als die bloße Lösung eines hermeneutischen Rätsels,59 rückt der Krimi in den Hintergrund. Die früh avisierte und wiederholt beschworene Lösung des Falls Kienbaum wird 56

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Romano Guardini, „Über Wilhelm Raabes ‚Stopfkuchen‘“ [1932], in: Hermann Helmers (Hrsg.), Raabe in neuer Sicht, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968, S. 12–43, hier S. 15. Vgl. Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg 1968, S. 127–132. Wilhelm Raabe, Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte [1890], in: Sämtliche Werke, Braunschweiger Ausgabe, Karl Hoppe (Hrsg.), Bd. 18, Göttingen 1963, S. 5–207, hier S. 66f. Roland Barthes spricht vom hermeneutischen Code als einem der grundlegenden Paradigmen des klassischen (realistisch gearbeiteten) Textes. Vgl. Roland Barthes, S/Z, Frankfurt a.M. 31998, S. 23f.

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aufgeschoben zugunsten einer hoch redundanten Selbstfeier des einst als „Stopfkuchen“ verspotteten, doch in der Marginalisierung glücklich geworden Helden Heinrich Schaumann. „Unzählige Male wird im Verlauf des Erzählens eine und dieselbe Aussage wiederholt und variiert“, charakterisierte schon Herman Meyer diese Diskursanlage treffend: „Der Leser möchte Neues erfahren; der Dichter aber gebärdet sich wie eine wiederkäuende Kuh.“60 Die Forschung hat Schaumann als eigentümliche Ausgestaltung des Detektivtyps aufgefasst. So geschwätzig und selbstgefällig er sich zeige, so sehr sei sein Diskurs eben doch von der singulären Leistung, die Mordgeschichte aufgeklärt zu haben, fundiert. „Raabes gefräßiger, äußerlich unbeweglicher und schon von daher für Rezeption jeder Art besonders begabter Detektiv ist entschieden ein Empirist“, meint Ulf Eisele61 auch mit Blick auf den sprechenden Namen des Helden und seine Selbstcharakteristik (Schaumann: „[D]er Begriff war mir gar nichts; ich nahm alles unter der Hecke weg, mit dem Sonnenschein des Daseins warm auf dem Bauche, aus der Anschauung!“62). Tatsächlich legt eines der zentralen Symbole des Textes einen solchen empiristischen Zug mitsamt dem realidealistischen Vertiefungspotenzial nahe: „Wer weiß, ob das Riesenfaultier ihr nicht noch den Kranz der Unsterblichkeit auf die Haube – wollt ich sagen die Locken drückt?“, sagt Schaumann über seine Frau und meint mit dem „Faultier“ ebenso sich selbst wie seine urgeschichtlichen Funde, die der Hobby-Paläontologe aus der Roten Schanze birgt.63 Eisele hat die Wanderjahre von Johann Wolfgang von Goethe als Intertext dieser „Faultier-Chiffre“ (Ohl)64 offengelegt: „Wenn ich ein zerstreutes Gerippe finde, so kann ich es zusammenlesen und aufstellen; denn hier spricht die ewige Vernunft durch ein Analogon zu mir, und wenn es das Riesenfaultier wäre“, heißt es in den Betrachtungen im Sinne der Wanderer.65 Den 60

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Hermann Meyer, „Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst“ [1954], in: Helmers (Hrsg.), Raabe in neuer Sicht, S. 98–129, hier S. 109. Ulf Eisele, Der Dichter und sein Detektiv. Raabes ‚Stopfkuchen‘ und die Frage des Realismus, Tübingen 1979, S. 3. Eisele tritt hier der Auffassung Fairleys entgegen, der Schaumann als „Lehnstuhldetektiv“ in die Nähe rationalistischer Detektivtypen rückt, wie sie bei E. A. Poe (Der Doppelmord in der Rue Morgue) zu finden sind. Vgl. dazu Barker Fairley, „Wilhelm Raabes ‚Stopfkuchen‘“, in: Jost Schillemeit (Hrsg.), Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil, Frankfurt a.M. 1966, S. 203–217, hier S. 203. Raabe, Stopfkuchen, S. 117. Ebd., S. 111. Ohl, „Bild und Wirklichkeit“, S. 126. Zitiert nach Eisele, Der Dichter und sein Detektiv, S. 57.

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Unterschied in den beiden Gebrauchsweisen des Symbols führt Eisele gleichwohl nicht aus. Während es bei Goethe zunächst um die Formung einer inneren Einheit aus verstreuten Einzelteilen geht, überspringt Raabes Text diesen Akt sogleich zugunsten einer transzendenten Ausrichtung. Den Beginn der Knochenausgrabungen auf der Roten Schanze versieht Quakatz auf derart einschlägige Weise mit Sinn, dass Schaumann die Worte des Bauern noch Jahre später in seinem Bericht als O-Ton wiedergibt: „[E]s liegt wohl doch mehr da; denn diese Schanze ist wohl so eine Anschwemmung von der Sündflut her. Junge, Junge, von der Sündflut her! Du weißt es nicht, wie es dem Bauer auf der Roten Schanze zumute ist, wenn er in der Bibel von der Sündflut liest; aber wenn du in deinen Büchern über das Knochenzeug was hast, so bringe es auch mit heraus; aber sage keinem Menschen davon, welch einen versteinerten Drachen Kienbaums Mörder zu seinem Troste in seiner Kiesgrube gefunden hat.“66

„Trost“, angesichts der großen erdgeschichtlichen Linien, anhand deren man von den „Knochen der jüngern Vergangenheit“ zu „denen der wirklichen Vorwelt“ gelangt, ist in diesen empirischen Studien bezweckt. Es ist ein Trost, der in dem Maße wächst, wie sich die jüngste Vergangenheit (der Mord an Kienbaum) auflöst in die nicht mehr ganz so nahe Vergangenheit (des Siebenjährigen Krieges, dessen Schauplatz die Rote Schanze war) und schließlich in die große weite Vorwelt bis zur Sintflut hin. „Da redete Gott mit Noah und sprach: Gehe aus dem Kasten“, steht konsequenterweise als Haussegen über der Pforte von Schaumann und seiner Frau.67 Wo eine Existenz sich im Lichte göttlicher Strafe und Gerechtigkeit verklären kann,68 wird der Poetische Realist heimisch. Was hat diese Herangehensweise für die vermeintlich detektivische Arbeit Schaumanns zu bedeuten? Sehr viel. Der Held ist nämlich keineswegs jemand, der akribisch die Wirklichkeit nach metonymischen Zusammenhängen durchforstet und so gewissermaßen die Indizien des Mordfalls wie die Teile eines Skeletts (à la Goethe) zusammenfügt. Vielmehr regiert hier von 66 67 68

Raabe, Stopfkuchen, S. 99. Ebd., S. 75. Aus den diversen biblischen Konnotationen hat die Forschung – in Überschätzung von Schaumanns metonymischem Wirkungskreis – den Helden als Widergänger Noahs beschrieben, ja als über-menschlich strafenden Gott; einschlägig: Heinrich Detering, Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes, Göttingen 1990; ähnlich: Helmut Mojem/Peter Sprengel, „Wilhelm Raabe: ‚Stopfkuchen‘. Lebenskampf und Lebensfülle“, in: Romane des 19. Jahrhunderts. Interpretationen, Stuttgart 1992, S. 350–384. Das passive, entsagende Moment der Figurenanlage kommt in solchen Deutungen zu kurz.

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Anbeginn an die metahistorische Analogie.69 Bereits der erste handlungstragende Kern, die Entdeckung einer Geschützkugel aus dem Siebenjährigen Krieg im Gemäuer des elterlichen Hauses, ist als Symbol der Widerständigkeit gegen die örtliche Gesellschaft angelegt. Schaumann zieht es auf die Anhöhe, von der aus einst das Städtchen durch Prinz Xaver von Sachsen beschossen wurde. Dort verläuft dann tatsächlich eine Aufklärungsgeschichte, aber keine kriminalistische, sondern eine humanistische: Schaumann gesellt sich zu den Marginalisierten, führt Bildung in den Haushalt Quakatz ein (historische und naturwissenschaftliche Bücher wie überhaupt ganz allgemein ein kommunikatives Klima)70 und macht so peu à peu die Rote Schanze für sich und die beiden Gefährten zu einem friedfertig-widerständigen Ort der „behaglichen Weltverachtung“.71 In dieser Weltverachtung verblassen die aktuellen innerweltlichen, metonymischen Zusammenhänge. Einschlägig nimmt sich das Vermächtnis aus, das Andreas Quakatz beim ersten Zusammentreffen Schaumann ausstellt: „[S]o probiere es, kriege heraus, wer Kienbaum totgeschlagen hat, und ich verschreibe die Rote Schanze dir und allen deinen Rechtsnachfolgern.“72 Der hier niedergelegte Deal weist Schaumann tatsächlich eine Detektivrolle zu und stellt genretypisch einen erklecklichen Lohn in Aussicht. Nur realisiert sich der Handel nicht in der antizipierten Weise. Schaumann wird eben nicht durch Nachforschungen, sondern durch seine Bildungsgänge mit dem entsprechenden Gewinn an sozialem Zutrauen seitens der Quakatz-Familie zum Rechtsnachfolger auf der Roten Schanze. Er ehelicht Valentine, noch lange bevor sich im Kriminalfall auch nur irgendeine Lösung abzeichnet, ja praktisch ohne je einen Schritt zur Aufklärung des Mordes unternommen zu 69

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Katharina Grätz setzt zwar mit Eisele das detektivische Versprechen in Schaumanns Paläontologie voraus, führt dann aber überzeugend aus, wie der Roman metonymische Verhältnisse in analogische sowie – vermöge seiner Leitmotivik – in poetische Äquivalenzverhältnisse auflöst. Vgl. Katharina Grätz, „Alte und neue Knochen in Wilhelm Raabes ‚Stopfkuchen‘“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Jg. 42/1998, S. 242–264 (besonders S. 243–249). Selbstverständlich (zumindest in einer Forschungslandschaft nach Foucault und Derrida) lässt sich eine solche Bildungsoffensive auch als gewaltförmige Zähmung interpretieren. Vgl. Claudia Liebrand, „Wohltätige Gewalttaten? Zu einem Paradigma in Raabes ‚Stopfkuchen‘“, in: JbRG, 1997, S. 84–102, hier S. 94–98. Raabe, Stopfkuchen, S. 197. In seiner Weltverachtung fällt Schaumann unter den Typus des „Sonderlings“, der in Raabes Spätwerk zunehmend als Kritiker der Verhältnisse auftritt. Vgl. Herman Meyer, Der Sonderling in der deutschen Dichtung, München 1963, S. 276–281. Raabe, Stopfkuchen, S. 92.

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haben. Verdienter Lohn, so lernt man, stammt nicht aus konkreten, zweckförmigen Verhältnissen. In einem höheren Sinne geht der besagte Handel gleichwohl auf. Schließlich ist der Wechsel des Helden aus der Dorfgemeinschaft hinüber zu den Verfemten auf der Roten Schanze – poetologisch betrachtet – durch eine fundamentale Unschuldsvermutung gedeckt.73 Nur wenn das Gerede im Städtchen als dümmlich, vorurteilsbeladen und im Ganzen falsch angesetzt werden kann, lohnt es den sozialen Selbstmord (der in gewisser Weise, ganz ähnlich wie in Else von der Tanne, ein Martyrium ist). Ebendeshalb wird schon so früh und regelmäßig auf die Aufdeckung des wahren Täters verwiesen. Dass sich ein Protagonist ganz einvernehmlich einem Kriminellen beigesellt, kommt im Poetischen Realismus schlichtweg nicht vor.74 Die besagte Unschuldsvermutung aber gilt es einzulösen, nicht für innerweltlichen Lohn, sondern zur Bezeugung einer transzendenten (und poetologisch gesehen sogar: einer transzendentalen) Gerechtigkeit. Aus diesem Grund liegt die Aufdeckung des tatsächlichen Mörders nach dem Tod des Bauern Quakatz. Und sie ist nicht Ergebnis einer Ermittlungskette, sondern einer Offenbarung. Nachdem der Pfarrer, gespickt mit Schaumanns Worten, am Grab von Quakatz den Städtern leidlich ins Gewissen geredet hat, enttarnt sich der nunmehr von seiner (ewigen) Schuld übermannte Briefträger Störzer selbst. Als Mitglied der Trauergemeinde vermag er es nicht, dem Grab des Toten Erde aufzuschütten. Und Schaumann erspäht die Situation, bemerkt, „daß einer die drei Schaufeln für den Toten mit dem Zeichen Kains auf der Stirne verweigert habe“.75 Vor einer solchen Entdeckung lag nun freilich keine lange Ermittlungskette, keine detektivische Arbeit. Schaumann hatte die Rede des Pfarrers manipuliert, aber nicht um dadurch einen Ver-

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Hier geht es um einen konkreten moralischen Begriff von Unschuld. Inwieweit die Erzählung den bürgerlichen Schuldbegriff in einem – an Schopenhauer geschulten – metaphysischen Konzept universaler Sünde und Schuld aufhebt, kann für die Analyse der metonymischen Achse dahingestellt bleiben. Diese Fragen sind Gegenstand philosophischer Intertext-Lektüren des Romans: Vgl. Søren R. Fauth, „Die gegenseitige Mörderei und die geniale Anschauung. Raabes ‚Odfeld‘, ‚Stopfkuchen‘ und die Philosophie Schopenhauers“, in: Ders./Rolf Parr/Eberhard Rohse (Hrsg.), ‚Die besten Bissen vom Kuchen‘. Wilhelm Raabes Erzählwerk. Kontexte, Subtexte, Anschlüsse, Göttingen 2009, S. 135–166. Schaumanns Aussagen, dass er, der vielfach Gedemütigte, selbst zum Mörder eines Kienbaum oder eines Lehrers Blechhammer disponiert gewesen wäre (vgl. Raabe: Stopfkuchen, S. 27), dürfen – mit Blick auf das literarische Paradigma – locker als Koketterie verbucht werden. Raabe, Stopfkuchen, S. 174.

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dächtigen in die Enge zu treiben, sondern um den Schwiegervater postum von übler Nachrede zu befreien (und zugleich ein wenig gegen die Philister des Ortes zu ätzen).76 Entsprechend unvermutet trifft auch ihn der Schlag der Offenbarung: „Mich aber durchfuhr es: ‚Was ist das, was soll das?‘ und dann: ‚Bist du verrückt, Stopfkuchen, oder kann dies wirklich etwas zu bedeuten haben?‘“77 Hier brauchte es mithin keinen Investigativspezialisten, sondern schlichtweg jemanden, der seine Augen offen hatte, als sich die Wahrheit gewissermaßen melodramatisch Bahn brach. Auch anschließend kann Schaumann auf kriminologische Kniffe verzichten, um Störzer zu überführen. Der reuige Sünder legt sein Geständnis samt Tathergangsbeschreibung im Zwiegespräch sogleich von selbst ab. So ist die Mordgeschichte in Stopfkuchen von einem Hiatus zwischen Handlung und Lösung geprägt. Die (detektivische) Arbeit an der metonymischen Relation zwischen Indizien wird suspendiert zugunsten der passiven Erwartung eines letztlich geradezu epiphanischen Moments: ein deus ex machina ist es. Die von der Justiz nicht greifbare Wahrheit fällt praktisch vom Himmel (aus der Rede des Pfarrers direkt in den Kopf des Täters und von dort zum Träger der Gerechtigkeitserwartung). Alle Weitschweifigkeit des Dauerplauderers Schaumann gilt der Offenhaltung dieses Hiatus.78 Sein Diskurs dient nicht dem aktiven Erforschen von intradiegetischen Zusammenhängen (Goethe), sondern der Feier einer passiven, gleichwohl für den Einbruch von Wirklichkeit offenen Disposition der Entsagung. Gefüllt und zelebriert wird dieser Hiatus durch die Marotte. „Aber unterbrich dich doch

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Die bis in die Handbuchliteratur hinein virulente Ansicht, Stopfkuchen habe „Störzer durch einen Theatercoup entlarvt“ (Mojem/Sprengel) geht mithin an der Sache vorbei; vgl. Mojem/ Sprengel, „Wilhelm Raabe: ‚Stopfkuchen‘“, S. 374. In ähnlicher Weise formuliert es Cowen, der etwas schief an die Analysen von Hubert Ohl anschließt: Roy C. Cowen, Der Poetische Realismus. Kommentar zu einer Epoche, München 1985, S. 327f.; dazu Hubert Ohl, „Eduards Heimkehr oder Le Vaillant und das Riesenfaultier. Zu Wilhelm Raabes ‚Stopfkuchen‘“ [1964], in: Helmers (Hrsg.), Raabe in neuer Sicht, S. 247–278, hier S. 261f. Raabe, Stopfkuchen, S. 174. Überzeugenderweise ist die neuere Forschung zu Stopfkuchen denn auch dazu übergegangen, den repressiven Redefuror und die Selbstinszenierung von Schaumann in den Vordergrund der Analyse zu rücken. Wenn man von der narrativen Situation her denkt, bleibt, wie Claudia Liebrand nachgewiesen hat, in letzter Instanz sogar ungewiss, ob der Mordfall eine tatsächliche oder nur eine durch Schaumann behauptete Lösung gefunden hat. In diesem Falle würde es sich um die Simulation einer Verklärung handeln. Vgl. Liebrand, „Wohltätige Gewalttaten“, S. 84–94. Zu den Selbstinszenierungen des „Showman“ Schaumann siehe etwa Mojem/Sprengel, „Wilhelm Raabe: ‚Stopfkuchen‘“, S. 375–384.

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nicht immer selbst, alter, wunderlicher Freund!“, zeigt sich Zuhörer und Protokollant Eduard schon früh genervt.79 Das Erzählen kreist, stockt, reißt ab, um seine eigentliche Pointe potenziell unendlich aufzuschieben. Warum auch nicht. Schließlich blieb dem Leidensgenossen Quakatz dieselbe Pointe zeitlebens verborgen. Im idealistisch gefärbten realistischen Diskurszusammenhang kommt der entscheidende Sinnschub (hier ein tieferes Verständnis für Schuld, Sühne und Gerechtigkeit) nicht aus der akribischen Durchforschung des Konkreten. Etwas höhere Segnung aus der tiefgründigen „Weltverachtung“ heraus (lies: Entsagung) braucht es auch. „Ich bin ein wenig breit – auch in meiner Schöne-Geschichten-Erzählweise. Aber dafür sind andere Leute desto kürzer“, sagt Schaumann.80 In seinem Spiel mit der Erwartungshaltung Eduards (und letztlich auch des Lesers) tritt Schaumann anderen Raabe-Erzählern zur Seite, etwa dem großen Entdramatisierer Eberhard Pfister (Pfisters Mühle) oder auch dem verspielt die Gattungskonventionen der Liebesgeschichte verulkenden extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler in Der Lar. Die Marottifizierung des Erzählens in einem zunehmend geschwätzigen, von Aufschüben geprägten und konfliktabgewandten Modus bedeutet eine Lösung der oben beschriebenen Spannung zwischen Metonymisierung und semiotischer Überhöhung (Idealisierung) der Geschichte. In der Erzählmarotte können metonymische Zusammenhänge präsentiert und gleichzeitig offen gehalten werden. Fraglos erfährt man in Stopfkuchen hinreichend viel über die konkreten Schritte, die zur „Inbesitznahme“ der Roten Schanze durch Schaumann geführt haben. Die Reproduktion dieser Zusammenhänge ließe gleichwohl die letzte Signifikanz (das verklärende Moment) vermissen. Hierfür braucht es denn doch den in der Marotte dominanten Modus analogischen Verweisens. In Störzers Selbstentlarvung am Grabe Quakatz’ erkennt Schaumann die Struktur der Kraniche des Ibykus von Schiller; im Leben auf der Roten Schanze deutet er regelmäßig auf biblische Sünd- und Schuldzusammenhänge, die Sintflut und die Erlösung für die ersten Menschen um Noah. So wird die metonymische Progression der Geschichte durch enzyklopädische Kurzschlüsse durchstoßen und überhöht. Und das ganz ohne den Einsatz von metonymisch untermotivierten allegorischen Attrappen. Denn alle aufgewandten Tropen sind als intradiegetisches Diskursmoment ausgewiesen. So unterläuft der späte Raabe das Metonymisierungsgebot (das gegen Ende des Jahrhunderts durch den Naturalismus mit naturwissenschaftlicher

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Raabe, Stopfkuchen, S. 65. Ebd., S. 183.

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Rahmung forciert wird), ohne dabei selbst in eine allegorisierende Romantisierung abzudriften. Er lässt reden und das transzendentale Signifikat (in Stopfkuchen das des ewig entrückten Lohns für Dulden und Entbehren) umspielen. Aber eben in Anführungszeichen.

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Torsten W. Leine

Torsten W. Leine (Münster)

„Unsere Jenny hat doch Recht“ – Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel

I.

Nostalgische Reminiszenzen Ein sonderbares Gefühl des totalen Überflüssigseins beherrscht mich, und wiewohl ich eigentlich nie ‚eine Zeit‘ gehabt habe, fühle ich doch, meine Zeit liegt zurück. Alles weggestorben und der Blick der Jüngeren drückt das aus, was Friedrich der Große auf seiner letzten Fahrt durch das Ruppinische sagte: ‚mein Gott, lieber Rathnow, ich dachte Er wäre lange todt‘. Manche Blicke sind auch nicht so gemüthlich und erinnern mehr an ‚Racker’s, wollt ihr denn ewig leben‘. In Indien wurden früher die Alten auf große Bäume am Ganges gesetzt und dann begann ein Schütteln. Die sich nicht mehr halten konnten, fielen in den Fluß und wurden weggeschwemmt.1

Als der 72-jährige Theodor Fontane 1892 in einem Brief an Friedländer mit Blick auf die jüngere Generation von einem ‚Gefühl des totalen Überflüssigseins‘ berichtet, ist seit dem Erscheinen der programmatischen Schriften des Poetischen Realismus beinahe ein halbes Jahrhundert vergangen. Nicht nur der Autor, sondern auch der Poetische Realismus ist also mit der Publikation von Frau Jenny Treibel oder ‚Wo sich Herz zum Herzen find’t‘2 (1893) in die Jahre gekommen. Während Fontane in seinem Brief vor allem die Veränderung seiner persönlichen Umwelt beobachtet, reflektiert der Roman, so soll im Folgenden gezeigt werden, das poetologische Programm ‚seiner Zeit‘ vor dem Hintergrund literaturästhetischer Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. So wird die Frage nach der Zukunft der Künste, speziell der Literatur, in Frau Jenny Treibel immer wieder zum Streitpunkt der Figuren. Im Zentrum der Diskussion steht dabei die von der Kommerzienrätin Jenny Treibel inszenierte Aufführung des ‚Herzensliedes‘, das Wilibald Schmidt ‚seiner Freundin Jenny‘ in ihrer Jugendzeit gewidmet hatte. Die sowohl der Treibel’schen Gesellschaft als auch dem Leser ‚wohlbekannten Liebesworte‘ werden im Verlauf der Erzählung nicht nur wiederholt in voller Länge vor1

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Theodor Fontane, „Brief an Georg Friedländer vom 9. 5. 1892“, in: Briefe (1890–1898). Werke, Schriften und Briefe, Bd. 4.4, Otto Drude/Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Darmstadt 1982, S. 194. Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel oder ‚Wo sich Herz zum Herzen find’t‘, in: Theodor Fontane. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 14, Tobias Witt (Hrsg.), Berlin 2005 (im Folgenden im Fließtext zitiert).

Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel

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getragen, sondern haben ihren Weg auch in den Untertitel der Erstveröffentlichung gefunden. Die Frage nach dem Wesen des Poetischen gibt ferner nicht nur bei den Empfängen im Hause Treibel Anlass zu hitzigen Diskussionen, sondern ebenso in den Wortgefechten im Kreise der ‚Sieben Waisen Griechenlands‘, des intellektuellen Zirkels, der regelmäßig im Hause Schmidts zusammenkommt. Schließlich wird Literatur auch in der jüngeren Generation zum Thema, wenn der aufstrebende Archäologe Marcell gegenüber seinem zukünftigen Schwiegervater ausführlich von seinem jüngsten Lektüre-Erlebnis, Paul Heyses Novelle Unvergessbare Worte, berichtet, der liebeskranke Leopold Treibel Zuflucht in Goethes Die Leiden des jungen Werther sucht und Marcell und Corinna ausgerechnet Verona zum Zielpunkt ihrer Hochzeitsreise bestimmen. Angesichts der deutlichen Präsenz des Poesie-Diskurses innerhalb des Romans verwundert es, dass dieser meist nur in Zusammenhang mit einer sozialkritischen Perspektive, als Indikator für den Verfall des wilhelminischen Bürgertums, problematisiert wird.3 Alternativ dazu soll im Folgenden die poetologische Codierung des Textes und ihre Bedeutung für die Einordnung des Romans in den Kontext des Spätrealismus akzentuiert werden.4 Es geht um die Frage, ob sich die Poetik des Poetischen Realismus in dem Spätwerk Fontanes noch einmal behaupten kann oder bereits als überholt erscheint, selbst kurz davor, ‚in den Fluss zu fallen und weggeschwemmt zu werden‘. 3

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Vgl. Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 307–10; Hugo Aust, „Anstößige Versöhnung? Zum Begriff der Versöhnung in Fontanes ‚Frau Jenny Treibel‘“, in: ZfdPh, 92/1973, Sonderheft, S. 101–126, hier S. 122; Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen, Berlin/Zürich 1970, S. 147. Die Rückbindung des Poesie-Diskurses an die Sozialkritik kann sich dabei auf eine oft zitierte Äußerung Fontanes aus einem Brief stützen: „Zweck der Geschichte: das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeois-Standpunktes zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson [Berliner Warenhaus] meint.“ (Theodor Fontane, „Brief an seinen Sohn Theodor. Berlin 9. Mai 1888“, in: Richard Brinkmann/ Waltraud Wiethölter (Hrsg.), Theodor Fontane. Teil II, München 1973, S. 425–26. „Von hier aus wird sichtbar, dass es in Fontanes ‚Frau Jenny Treibel‘ nicht bloß um Gesellschaftskritik und Bildungskritik geht, sondern darin auch um Fragen der Kunst, dass man den Roman auch ganz anders, nämlich als Selbstreflexion eines Künstlers über die Möglichkeiten seiner Kunst und über sein Publikum lesen kann“ (Anke-Marie Lohmeier, „‚ …es ist ein wirkliches Lied.‘ Theodor Fontanes Roman ‚Frau Jenny Treibel‘ als Selbstreflexion von Kunst und Kunstrezeption in der Gesellschaft der Gründerjahre“, in: DVJS, 68/1994, S. 238–250, hier S. 248). Vgl. auch: Siegrid Thielking, „‚Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!‘ Rührpoesie und Renommage in Theodor Fontanes ‚Frau Jenny Treibel‘“, in: Literatur für Leser, 20/1997, S. 133–142, hier S. 140.

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II. ‚Der Prosa gehört die Welt‘ – Zum Verhältnis von Realismus und Verklärung Die Diskussion um die Bedeutung von Literatur wird bereits vor der ersten Aufführung des Herzensliedes eröffnet und entzündet sich an einer Meinungsverschiedenheit zwischen Leutnant Vogelsang, dem Propaganda-Beauftragten des Kommerzienrats, und Jenny Treibel während eines ihrer Diners. Als Jenny emphatisch Partei für den Dichter Herwegh ergreift, kritisiert Vogelsang die politische Inkonsequenz des Tendenzpoeten und die gesellschaftliche Nutzlosigkeit von Poesie überhaupt: „Und so wird es immer sein. Das kommt von den hohlen, leeren Worten und der Reimsucherei. Glauben Sie mir, Frau Räthin, das sind überwundene Standpunkte. Der Prosa gehört die Welt.“ (32) Jenny kontert mit einer idealistischen Literaturauffassung, die das Lied als gesungene Dichtung favorisiert: „Ich für meine Person verbleibe dem Ideal und werde nie darauf verzichten. Am reinsten aber hab’ ich das Ideal im Liede, vor Allem in dem Liede, das gesungen wird“ (32). In der Forschung wird mit Recht darauf verwiesen, dass dem von Schmidt verfassten Liebeslied, das als Musterbeispiel der von Jenny so verehrten Gattung gelten kann, epigonale Züge anhaften: „Das ganze Gedicht ist eine naive Summe und Ernte vertrauter Bilder und Motive Schillers, Goethes, Eichendorffs und Mörikes“5. Speziell der letzte Vers, ‚Wo sich Herz zum Herzen find’t‘, präsentiert sich als expliziten Verweis auf Schillers Das Lied von der Glocke. Zwar liegt es deshalb nahe, das von Jenny verklärte Lied als beabsichtigten Kitsch zu klassifizieren,6 insbesondere, weil man sich auf die Äußerung Schmidts berufen kann, der sein eigenes Lied selbst als „himmlische Trivialität“ (92) bezeichnet. Doch versteht man das Lied lediglich als eine „poetische Jugendsünde“,7 übergeht man allzu leichtfertig die ‚Bekehrung‘ Schmidts während der Hochzeitsfeier seiner Tochter, die zu einer Neubewertung des Liedes führt: „Es ist was damit, es ist was drin; ich weiß nicht genau was, aber das ist es eben – es ist ein wirkliches Lied“ (222). Was hat es also mit dem Herzenslied auf sich? 5 6

7

Aust, „Anstößige Versöhnung?“, S. 115. Neuhaus warnt davor, das Lied als selbstständiges poetisches Kunstwerk zu begreifen: „Dazu ist es viel zu kitschig. Der Kitsch ist Absicht und dient vor allem zur Charakterisierung der Hauptfigur Jenny Treibel“ (Stefan Neuhaus, „‚Warum sich Herz zum Herzen find’t‘. Die Bedeutung eines Schillerzitats für die Interpretation von Fontanes ‚Frau Jenny Treibel‘“, in: LWU, 31/1998, S. 189–195, hier S. 191). Müller-Seidel, Theodor Fontane, S. 310.

Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel

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Mit dem Ausruf Vogelsangs, der Prosa gehöre die Welt, und Jennys Antwort, sie verbleibe dem Ideal, bezieht sich der Text auf einen kunstphilosophischen Diskurs, der im späten Idealismus wurzelt und für die Poetik des Poetischen Realismus entscheidend ist.8 Die Gegenüberstellung von poetischem Ideal und prosaischer Wirklichkeit findet sich bereits in Hegels Ästhetik, wo er über die Helden des bürgerlichen Romans urteilt: „Sie stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt“.9 In der zeitgenössischen Literatur der Romantik führe diese Gegenüberstellung von poetischer Innerlichkeit und prosaischer Wirklichkeit dazu, dass die „Auflösung des klassischen Ideals“10 als Auflösungsprozess sichtbar werde: „Im Romantischen […], wo die Innigkeit sich in sich zurückzieht, erhält der gesamte Inhalt der äußeren Welt die Freiheit, sich für sich zu ergehen und sich seiner Eigentümlichkeit und seiner Partikularität nach zu erhalten“.11 In der mangelnden Bezogenheit von Individuum und äußerer Welt sieht Hegel schließlich „das Zerfallen der romantischen Kunst“12 begründet13: Auf die eine Seite nämlich stellt sich die reale Wirklichkeit in ihrer – vom Standpunkt des Ideals aus betrachtet – prosaischen Objektivität: der Inhalt des gewöhnlichen täglichen Lebens, das nicht in seiner Substanz, in welcher es Sittliches und Göttliches enthält, aufgefasst wird, sondern in seiner Veränderlichkeit und endlichen Vergänglichkeit. Andererseits ist es die Subjektivität, welche mit ihrer Empfindung und Ansicht mit dem Recht und der Macht ihres Witzes sich zum Meister der gesamten Wirklichkeit zu erheben weiß.14 8

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Vgl. dazu auch: Christine Aichinger, „Prosa der Verhältnisse und Poesie der Ware. Versöhnte Moderne und Realismus in ‚Soll und Haben‘“, in: Florian Krobb (Hrsg.), 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustavs Freytags kontroversem Roman, Würzburg 2005, S. 67–86, hier S. 76ff.; Bernd Bräutigam, „Candide im Comptoir. Zur Bedeutung der Poesie in Gustavs Freytags ‚Soll und Haben‘“, in: GRM, 35/1985, S. 395–411; S. 406f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. 1, Friedrich Bassenge (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1966, S. 567. Vgl. dazu auch: Gerhard Plumpe, „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus, Stuttgart 2005, S. 9–19. Hegel, Ästhetik, S. 568. Ebd. Ebd., S. 569. Auf die Problematik, die sich für Hegel mit der Erkenntnis eines prosaischen Zustands vor allem für die Kunst ergibt, sowie auf die Rezeption dieses Problems verweist schon Georg Kurscheidt, Engagement und Arrangement. Untersuchungen zur Roman- und Wirklichkeitsauffassung in der Literaturtheorie vom Jungen Deutschland bis zum Poetischen Realismus Otto Ludwigs, Bonn 1980, S. 197. Hegel, Ästhetik, S. 569.

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Dieser ‚Verfallsgeschichte‘ des Ideals setzen die programmatischen Texte des Poetischen Realismus einen Entwurf entgegen, der eine Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit zum Ziel hat und den geschichtsphilosophischen Poesie-Prosa-Gegensatz, den Hegel für die moderne Kunst (speziell die Romantik) konstatiert, zurücknehmen soll. Julian Schmidt formuliert zunächst epistemologisch: Der wahre Realismus der Beobachtung liegt darin, daß man bei jeder Individualität in der Natur, der Geschichte und im wirklichen Leben schnell die charakteristischen Züge herausfindet, mit anderen Worten, daß man Sinn für Realität hat, für den wahren Inhalt der Dinge.15

Der Begriff des ‚Wahren‘ stellt, wie Eisele konstatiert, geradezu „ein Leitmotiv“16 dar, das den Realismus strukturell mit dem deutschen Idealismus verbindet, bringt dieser Begriff doch jene Wesenhaftigkeit zum Ausdruck, welche die Erscheinung des sinnlich Wahrnehmbaren übersteigt und bei Goethe im Begriff der Idee/des Ideals ausgedrückt ist.17 Im Idealismus sieht die Programmatik des poetischen Realismus also keinen Gegensatz zum Realismus, sondern einen elementaren Aspekt realistischer Poesie: „Wenn man nun das, was wir als wahren Realismus bezeichnet haben, Idealismus nennen will, so ist auch nichts dagegen einzuwenden, denn die Idee der Dinge ist zugleich ihre Realität“.18 Gleichzeitig grenzen sich die programmatischen Texte mit dem Attribut ‚wahr‘ von einem ‚falschen‘ Realismus ab, der lediglich mimetisch verfahre und deshalb die prosaische Wirklichkeit nicht transzendiere: „es ist der nackte, prosaische Realismus, dem durchaus noch die Verklärung fehlt“.19 Wenn in Fontanes Roman also von der Bedeutung des Ideals die Rede ist, haben wir es nicht mit einem epigonalen Klassizismus zu tun, sondern mit einem Grundgedanken der realistischen Poetik. Indem die programmatischen Texte den von Hegel geprägten PoesieProsa-Gegensatz überhaupt problematisieren, wird dieser nicht einfach im Rückgriff auf Goethe „unterschlagen und so getan, als sei auch die moderne, differenzierte Gesellschaft weiterhin ‚schön‘ und deshalb auch vernünftig,

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Julian Schmidt, „Wahrer und falscher Realismus“ [1858], in: Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 119–121, hier S. 120. Vgl. Ulf Eisele, Realismus und Ideologie. Zur Kritik der lieterarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des „Deutschen Museums“. Stuttgart 1976. Ebd., S. 59. Schmidt, „Wahrer und falscher Realismus“, S. 121. Theodor Fontane, „Realismus“ [1853], in: Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 140–148, hier S. 142.

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von der Idee durchdrungen“.20 Der bewusste Appell zur ästhetischen Verklärung markiert die Aufwertung des Ideal-Wirklichkeit-Zusammenhangs vielmehr als prekäre Aufgabe des Künstlers. Diese setzt bereits dort an, wo eine als kontingent erscheinende Wirklichkeit bewusst selektiv Eingang in den poetischen Text findet: „Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten“.21 Ein Preis des Vermittlungspostulats ist also von Anfang an „die Entsagung des Poetischen Realismus gegenüber der Diskursfülle seiner Zeit“.22 Beispielhaft lässt sich diese Selektionsbewegung an Gustav Freytags frühem Roman Soll und Haben exemplifizieren, wo eine Waren-Poesie nur deshalb entwickelt werden kann, weil bestimmte Mechanismen der modernen Wirtschaft, wie etwa die industrielle Massenproduktion, zugunsten einer Subsistenzwirtschaft ausgegrenzt werden und das erzählte Geschehen einfach in eine vorindustrielle Zeit verlegt wird.23 Was in diesem frühen Roman noch funktioniert, wird spätestens mit dem Spätrealismus zum Grundproblem der literarischen Texte, hat die Verklärung doch nur dann einen Wert, wenn der Text ‚realistisch‘ glaubwürdig bleibt. Poetischer Realismus erweist sich also letztlich als ein Balanceakt, der das ‚Wahre‘ in einem mühevollen ästhetischen Prozess nicht nur „buchstäblich zutage […]fördert“,24 sondern überhaupt erst erzeugen muss und dabei gleichzeitig einem Realismuspostulat verpflichtet bleibt. Damit ist das poetisch-realistische Kunstwerk aber nicht mehr per se Ausdruck der Einheit von Ideal und Wirklichkeit, es wird vielmehr zum unsicheren Ort ihrer Vermittlung. Während im Goethe’schen Symbolbegriff die Verweiskraft der Phänomene auf die Idee einerseits und die Ordnungskraft der Idee in Bezug auf die Phänomene andererseits ineinander verschränkt sind, treten diese beiden Achsen im Poetischen Realismus auseinander: Die Individualitäten sperren sich in ihrer Symbolisch-Werdung, und die Ideen werden immer gleich wieder in ‚schlechte Individualitäten‘ metonymisiert, die mit 20

21 22

23

24

Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 128. Fontane, „Realismus“, S. 145. Moritz Baßler, „Gegen die Wand. Die Aporie des Poetischen Realismus und das Problem der Repräsentation von Wissen“, in: Michael Neumann/Kerstin Stüssel (Hrsg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr. Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 429–442, hier S. 436. Vgl. Christian Rakow, Die Ökonomien des Realismus – Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre1850–1900, Berlin, Boston 2013, S. 214f. Eisele, Realismus, S. 52.

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Torsten W. Leine ihnen nicht kongruieren wollen. […] Die beiden Achsen der Goetheschen Symbolik, auf die sich die Realisten berufen, werden also entarretiert. Das geschlossene und stabile Modell wird zur Kippfigur.25

Da die Texte keinen „idealistischen Metacode“26 im Sinne des Goethe’schen Naturbegriffs zur Verfügung haben, der dem Erzählten einen letztgültigen Sinn zuweisen könnte und die Wirklichkeit ‚poetisiert‘, changieren die Texte immer wieder zwischen Symbolisierung und Metonymisierung, die KippFigur ist auf Dauer gestellt.27 Zurück zu Frau Jenny Treibel. Der diskursive Verweis auf ein klassisch-poetisches Ideal, der implizit im intertextuellen Bezug des Herzensliedes zu Schillers Das Lied von der Glocke zum Ausdruck kommt, zitiert nun das grundlegende Programm des Poetischen Realismus an – die Vermittlung von Ideal und narrativer Wirklichkeit. Indem der ausschlaggebende, die beiden Lieder verbindende Vers in den Romantitel aufgenommen wird, behauptet der Text programmatisch, die Umsetzung des Ideals vorzuführen, also eine narrative Wirklichkeit zu eröffnen, in der „sich Herz zum Herzen find’t“.28 Mit der Erklärung Vogelsangs, der Prosa gehöre die Welt, verweist der Text jedoch von Beginn an in klassischer poetisch-realistischer Manier auf ein Scheitern dieses Anspruchs – das Kipp-Modell ist aktualisiert. Nun ist die Position Vogelsangs allerdings nicht haltbar. Für den Politiker Vogelsang beschränkt sich die Daseinsberechtigung der Literatur auf die Funktionalisierung für die politische Rede. Zweckrationalisiert büßt sie jedoch ihre Semantik ein, sie wird zu einem inhaltsleeren „Sprechanismus“ (19). So rezensiert die Presse Vogelsangs redundanten Vortrag über die „Royaldemokratie“: „der Kasten ist da, nicht der Inhalt“ (123). Indem Vogelsang selbst ‚leere Worte‘ produziert, wird er von seiner eigenen Kritik eingeholt. Mit seiner Verengung des Literarischen auf den Bereich des politischen Engagements erscheint er als kultur- und gesellschaftsfremde Figur: „Seine gesellschaftlichen Meriten sind wohl eigentlich gering und seine 25 26 27

28

Baßler, „Gegen die Wand“, S. 433f. Vgl. den einleitenden Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band. Diese ‚aporetische‘ Struktur poetisch-realistischer Narrative wird in verschiedenen Beiträgen dieses Bandes vorgeführt. Dazu auch: Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 51/2010, S. 63–80. Mit Barthes’ Code-Modell ließe sich dieser Bezug zwischen Titel/Untertitel einerseits und der sich entfaltenden Erzählung anderseits als Teil des hermeneutischen Codes bezeichnen, der ein Spannungsverhältnis zwischen impliziter Frage und erwarteter Antwort produziert (Roland Barthes, S/Z, Frankfurt a.M. 1987, S. 21, Anm. 1).

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menschlichen werden dasselbe Niveau haben. Aber er ist ein Politiker“ (34); so avanciert er schließlich zur Karikatur des Bösen schlechthin: „Vogelsang zog die Augenbrauen zusammen, und Jeder, den die Vorstellung von seiner Mephistophelesschaft bis dahin nur gestreift hatte, hätte bei diesem Mienenspiel unwillkürlich nach dem Hinkefuß suchen müssen“ (31). Wenn Vogelsangs Zugang zur Poesie jedoch als Nicht-Zugang karikiert wird, stellt sich die Frage, ob die Erzählung ein Gegenmodell zu diesem Ansatz entwirft und wie dieses gestaltet ist. Wird das Scheitern des Vermittlungspostulats durch Jenny abgewendet, weil sie die Rezeption des poetischen Ideals durch die Performance des Herzensliedes garantiert? Vor dem Hintergrund des programmatischen Selbstverständnisses scheitert auch Jennys Poesierezeption, weil sie eben keine Vermittlung zwischen dem von ihr verklärten Ideal und ihrer sozialen Wirklichkeit leistet. Schon bei ihrer ersten Begegnung mit dem ‚Herzenslied‘ – so erinnert sich Schmidt – wird dieses von Jenny hyperbolisch verklärt und verliert damit seinen Bezug zur Realität: „,Wilibald, Einziger, das kommt von Gott.‘ Ich sagte halb verlegen etwas von meinem Gefühl und meiner Liebe, sie blieb aber dabei, es sei von Gott“ (91). Der performativ-kommunikative Charakter, der das Lied als Teil der individuellen Wirklichkeit der Liebenden Schmidt und Jenny ausweist, wird von Jenny ignoriert. Sie versteht das Lied nicht als ein repräsentatives Zeichen für die Liebe Schmidts, sondern als abstrakten, der konkreten Wirklichkeit enthobenen Träger eines sich nicht erfüllenden Ideals. Indem Poesie nicht als Medium in Erscheinung tritt, das zwischen Ideal und Wirklichkeit vermittelt, sondern die ‚Achse der Wirklichkeit‘ von der ‚Achse des Idealen‘ isoliert, wird aus der Entarretierung eine Separierung, das dynamische Modell realistischen Erzählens erstarrt. Auf der Ebene der Diegese zeigt sich diese poetologische Konsequenz implizit in der stagnierenden Entwicklung der Figur Jennys, besonders plastisch in ihrem gesellschaftlichen Alltag. Die Treibel’schen Diner-Abende erfolgen mit voraussagbarer Regelmäßigkeit und wiederholen sich in nahezu identischem Schema, den krönenden Abschluss bildet grundsätzlich der Vortrag des von Jenny favorisierten Liedes. Die Redundanz ist schließlich so bedeutsam, dass sie eine Voraussetzung für das Funktionieren der Abende darstellt – so weiß Krola: „Wird Jenny nicht aufgefordert [das Herzenslied vorzutragen], so seh’ ich die Treibel’schen Diners, oder wenigstens unsere Teilnahme daran, für alle Zukunft in Frage gestellt“ (54). Explizit zeigt sich Jennys Unfähigkeit zur Entwicklung schließlich in der Einschätzung Schmidts: „Mag übrigens Alles schwanken und unsicher sein, Eines steht fest: der Charakter meiner Freundin Jenny“ (93).

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Es gilt also festzuhalten, dass Jennys Poesiezugang tatsächlich problematisch bleibt und kaum geeignet scheint, das Vermittlungspostulat zu realisieren. Warum aber betonen Schmidt und Krola dennoch immer wieder ihre Freundschaft zur Kommerzienrätin? Warum sitzen am Ende des Romans Professor, Opernsänger a. D. und Kommerzienrat zusammen und versichern einander, „unsere Jenny hat doch Recht“? Sollten sich in den Figuren des Philologie-Professors und des Opernsängers nicht gerade alternative Zugänge zur Poesie realisieren? Und welche Rolle kommt bei der Positionsbestimmung der Literatur eigentlich der jüngeren Generation zu, die mit Corinna Schmidt, ihrem Cousin Marcell und Leopold Treibel ebenfalls Eingang in den Roman gefunden hat?

III. Rettung des Poetischen im Unsinn In der Auseinandersetzung zwischen Jenny und Vogelsang verzichtet Krola auf eine Parteinahme, „denn als Tenor und Millionär saß er zwischen zwei Stühlen“ (32). Neben seinem Hang zum Materialismus, der eine Verteidigung des Poetischen als Farce entlarven würde, erwächst seine Zurückhaltung außerdem seiner kulturkonservativen Einstellung: Die Tage seiner eigenen Berühmtheit lagen weit zurück, aber je weiter sie zurücklagen, desto höher waren seine Kunstansprüche geworden, sodaß es ihm, bei dem totalen Unerfülltbleiben derselben, vollkommen gleichgültig erschien, was zum Vortrage kam und wer das Wagniß wagte. (53)

Weil der Opernsänger nicht mehr an die Produktion niveauvoller Kunst in der zeitgenössischen Gesellschaft glaubt, nimmt er gegenüber dieser insgesamt eine ironisch-distanzierte Haltung ein: „Aus seinem ganzen Wesen sprach eine Mischung aus Wohlwollen und Ironie“ (53). Damit ist seine Position den Kunstkritikern vergleichbar, denen Fontane in seinem Essay von 1853 polemisch vorwirft, „neunmalweise Leute“ zu sein, „die mit dem letzten Goetheschen Papierschnitzel unsere Literatur für geschlossen erklären“.29 Betrachtet man nun die Figur Wilibald Schmidt etwas genauer, zeigen sich deutliche Parallelen nicht nur zur Figur des Opernsängers, sondern auch zu seiner Freundin Jenny. Während er mit dem Opernsänger besonders dessen ironische Distanz teilt, zeigt sich, dass der an Jenny so häufig kritisierte Opportunismus ihm selbst nicht fremd ist. Im Bereich der Kunst sticht das Desinteresse Schmidts an aktuell-relevanten Entwicklungen hervor, denn lediglich archäologische Ausgrabungen, die 29

Fontane, „Realismus“, S. 140.

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neue Erkenntnisse über Vergangenes bringen könnten, interessieren ihn. Während Jenny und Vogelsang zu den Dichtern der Gegenwart immerhin eine Meinung äußern, werden sie von Schmidt gar nicht erst gewürdigt. Die Charakterisierung Schmidts durch den Erzähler, er sei „Classiker und Romantiker zugleich“ (14), drückt lediglich sein Interesse für mittelalterliche und antike Dichtung aus: „Wenn Wilibald Schmidt, der Gymnasialprofessor für Griechisch und Latein, vom Klassischen redet, dann meint er, wie er selbst sagt ‚nicht das von meiner Freundin Jenny‘, nicht Schiller nämlich, nicht die deutsche Klassik, sondern ‚das Klassische, was sie jetzt verspotten‘, die klassische Antike“.30 Sein Interesse gilt Horaz und Pindar, nicht aber moderner Poesie. Falls er sich dennoch auf das Gebiet aktueller Literatur wagt, dann lediglich, um „sich, aller Klassicität unbeschadet, auch ein modern-literarisches Ansehen zu geben“ (80). Für Schmidt erweist sich der Wert des Poetischen an seiner Zweckdienlichkeit – und diese ist rein prosaischer Natur, nämlich auf den sozialen Aufstieg ausgerichtet, wie sich im Gespräch mit seiner Tochter zeigt: „,Werde, der du bist‘, ein Wort, das nur ein Grieche sprechen konnte. Freilich, dieser Werdeprozeß, der hier gefordert wird, muß sich verlohnen, aber wenn mich meine väterliche Befangenheit nicht täuscht, bei Dir verlohnt es sich […] so müßte keine Gerechtigkeit sein, wenn Ihr nicht übers Jahr Privatdocent wär’t oder Extraordinarius“ (212).

Gegenüber der Witwe Schmolke äußert Schmidt seine Freude darüber, den aufstrebenden Bildungsbürger Marcell als Schwiegersohn zu bekommen, ganz offen: „wenn er von da [Mykenä] zurück ist, sag’ ich, so ist ihm eine Professur gewiß. Die Alten können nicht ewig leben. Und sehen Sie, liebe Schmolke, das ist das, was ich eine gute Partie nenne“ (205). Insofern bleibt auch Schmidt als Teil der Bildungselite nicht von dem Vorwurf der ‚Geldsackgesinnung‘ verschont:31 Denn der Bourgeois, wie ich ihn auffasse, wurzelt nicht eigentlich oder wenigstens nicht ausschließlich im Geldsack; viele Leute darunter Geheimräte, Professoren und Geistliche, Leute die gar keinen Geldsack haben, oder einen sehr kleinen, haben trotzdem eine Geldsackgesinnung.32

30 31

32

Lohmeier, „‚ …es ist ein wirkliches Lied.‘“, S. 246. Die durchaus problematische Zeichnung der Figur sieht auch Dieter Kafitz, „Die Kritik am Bildungsbürgertum in ‚Frau Jenny Treibel‘“, in: ZfdPh, 92/1973, Sonderheft, S. 74–101, hier S. 77. Theodor Fontane, „Von Zwanzig bis Dreißig“, in: Theodor Fontane. Werke und Schriften, Bd. 35, Walter Keitel/Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Frankfurt a.M./Berlin/ Wien 1980, S. 16f.

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Schmidt hat sich, wie auch Jenny Treibel und Krola, der prosaischen Wirklichkeit verschrieben. Indem er das Poetische funktionalisiert, rückt er sogar in die Nähe Vogelsangs. Wie aber kommt es dann, dass der Schmidt’sche Egoismus gegenüber dem Vogelsangs ein „liebenswürdiger“ (203) bleiben kann? Erstens ist der Professor im Gegensatz zum verbissenen Leutnant zur Selbstironie fähig: „Weil die Selbstironie, in der wir, glaube ich, groß sind, immer wieder ein Fragezeichen hinter der Vollendung macht. Das ist recht eigentlich das, was ich das Schmidt’sche nenne“ (86). Zweitens präsentiert sich Schmidts ironische Haltung nicht als erstarrter Zustand, sondern ist die Folge eines traumatischen Erlebnisses in seiner Jugendzeit und wird zudem von ihm selbst am Ende des Romans zurückgenommen. Auslöser für diese Wende ist die Performance des Herzensliedes durch Krola. Der Vortrag, „voll Kraft und Klang“ (222), rührt Schmidt zu Tränen und veranlasst ihn schließlich zu den umstrittenen Worten: Schmidt weinte vor sich hin. Aber mit einem Male war er wieder da. „Bruder“, sagte er, „das hat mir wohlgetan. Bravissimo. Treibel, unsere Jenny hatte doch Recht. Es ist was damit, es ist was drin; ich weiß nicht genau was, aber es ist ein wirkliches Lied. Alle echte Lyrik hat etwas Geheimnisvolles. Ich hätte doch am Ende dabei bleiben sollen…“ (ebd.).

Schmidts Verhältnis zur Poesie war zudem nicht immer von der geschilderten ironischen Distanz geprägt. In seiner Jugendzeit, so erfahren wir, war er selbst als Poet tätig und scheint gegenüber Jenny eine Ehrlichkeit und Offenheit an den Tag gelegt zu haben, die in Anbetracht ihres Charakters als äußerst wagemutig bezeichnet werden kann. Leider geht die ganze Sache schief, er gesteht ihr seine Liebe, aber sie heiratet den wohlhabenden Kommerzienrat Treibel. Indem Schmidt sein eigenes Verhalten ironisiert, sein poetisches Werk karikiert und sein ehrlich gemeintes Liebesgeständnis zum Spiel abwertet, gelingt es ihm, sein traumatisches Erlebnis zu verdrängen: Alles in allem eine sonderbare Geschichte, daran, das glaub’ ich sagen zu dürfen, andere Freundschaften gescheitert wären; aber ich bin kein Uebelnehmer und Spielverderber, und in dem Liede, drin sich, wie Du weißt, ‚die Herzen finden‘ – beiläufig eine himmlische Trivialität und ganz wie geschaffen für Jenny Treibel – in dem Lied lebt unsere Freundschaft fort bis diesen Tag, ganz so, als sei nichts vorgefallen. Und am Ende, warum auch nicht? Ich persönlich bin drüber weg (92).

Insofern fungiert die ironische Haltung des Professors ganz pragmatisch als psychologischer Schutzmechanismus: „Die Ironie dient ihm sonach als Mittel zur Verhüllung seiner Lebenswunde, zugleich aber auch als Abwehrmittel gegen Wirklichkeitsschläge“.33 33

Sylvain Guarda, „Fontanes ‚Frau Jenny Treibel‘: Ein stummer Sirenengesang als Raubspiel“, in: German Studies Review, 27/2004, S. 527–541, hier S. 532.

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Da das Ideal, ausgedrückt im Herzenslied, an der prosaischen Wirklichkeit – also am sozialen Erfolgsstreben Jenny Bürstenbinders – scheitert und damit seine Untauglichkeit beweist, muss Schmidt sich entscheiden, will er nicht der Zweigleisigkeit verfallen, die sich Jenny zu eigen gemacht hat, indem sie die Diskrepanz zwischen gefeiertem Ideal und gelebter Wirklichkeit ignoriert. Schmidt entscheidet sich für die prosaische Wirklichkeit, schlägt eine Karriere als Professor ein und distanziert sich von der Poesie. Die großen Worte Schmidts, mit denen die Erzählung ausklingt, lassen sich nun konsequenterweise als Absage an die prosaische Wirklichkeit deuten. Das Problem, mit dem sich Schmidt vor vielen Jahren konfrontiert sah, ist dasselbe geblieben, nur sein Lösungsweg hat sich verändert: Hat er sich damals für die zur Prosa geordnete Wirklichkeit entschieden, so wählt er nun das Ideal: „Für mich persönlich steht es fest, Natur ist Sittlichkeit und überhaupt die Hauptsache. Geld ist Unsinn, Wissenschaft ist Unsinn, alles ist Unsinn, Professor auch“ (223). Indem er den Gütern Geld, Wissenschaft und Titel den eigentlichen Wirklichkeitscharakter abspricht, Jenny Recht gibt und das Ideal der Sittlichkeit als die Hauptsache, als Natur hervorhebt, wendet er Vogelsangs Aussage in ihr Gegenteil: Nicht der Prosa, sondern dem Poetischen gehört die Welt! Betrachtet man nun das Erzählverfahren des Textes, so lässt sich feststellen, dass eine Vermittlung von Ideal und Wirklichkeit zunächst ausbleibt, weil das im Herzenslied formulierte Ideal weder von Jenny noch von Schmidt und Krola mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit vermittelt werden kann. Poltermann beobachtet für den gesamten Roman eine „Technik theatralischer Überführung des vermeintlich zeitlos Idealen und innerlich Notwendigen in geschichtlich kontingente Sinnsetzung“34 und deutet die Rezeption des Idealen somit als Profanisierung der höheren Poesie.35 Indem aber am Ende des Romans diese Profanisierung wiederum gebrochen wird – die Erzählung endet mit einer Absage an die prosaische Wirklichkeit und einem Bekenntnis zum Ideal – stellt der Text die Profanisierung selbst wieder in Frage. Möglich wird diese Rettung des Poetischen aus der Sphäre des Profanen jedoch nur in der für den Poetischen Realismus typischen Kastration der modernen Gesellschaft, durch die Entsagung von ihren zentralen Mechanismen, Geld, Fortschritt und sozialem Aufstieg.

34

35

Andreas Poltermann, „‚Frau Jenny Treibel‘ oder die Profanisierung der hohen Poesie“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theodor Fontane, Edition Text+Kritik, Sonderband, München 1889, S. 131–147, hier S. 141. Ebd., S. 143–145.

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Im Bereich der älteren Generation bleibt das Verhältnis zur Poesie also problematisch. Wie aber steht es nun mit den jungen Hoffnungsträgern? Fügt sich die Poesierezeption Corinnas, Marcells und Leopolds problemlos in das Selbstverständnis des Romans oder zeigen sich hier möglicherweise sogar alternative Zugänge zur Literatur, naturalistische oder avantgardistische Tendenzen?

IV. ‚Erste Etappe zu Julias Grab‘ – Generation Prosa Man wird enttäuscht. Im Gespräch mit seinem zukünftigen Schwiegervater führt Marcell Wederkopp zur Verteidigung seines Standpunktes ausgerechnet Paul Heyses Novelle Unvergessbare Worte (1883) an, die sich in klassischer Manier der Frage nach dem Moment des Tragischen als poetischem Ideal stellt. Der Protagonist der Novelle, Doctor Philipp Schwarz, stellt die These auf, ein genuin tragisches Unglück werde durch die Unschuld der Helden markiert und allein durch Zufall herbeigeführt; als Beispiel dienen Romeo und Julia.36 Poetologisch stellt sich für Heyses Novelle die Frage, ob sich nun das Unglück der Helden ebenfalls als ein tragisches und damit poetisches oder ein selbstverschuldetes und damit prosaisches darstellt. In der Erzählung belauscht Philipp Schwarz zufällig ein Gespräch seiner Geliebten Gräfin Fräulein von Hainstetten mit einer Freundin, in welchem sie en passant auf die Schwächen des Doctors zu sprechen kommt. Trotz ihrer anschließenden Liebesbeteuerungen sieht Schwarz in der Spionage der ‚unvergessbaren Worte‘ einen Streich des Schicksals, der ihre Liebe nun unmöglich macht und ein in seinem Sinne tragisches Ende motiviert. Der Leser Marcell amüsiert sich über das Verhalten des Protagonisten, weil der Doctor das vermeintlich tragische Ende durch pragmatisches Handeln leicht hätte abwenden können: „Mir ganz unverständlich. Ich, lieber Onkel, hätt’ es anders gemacht, ich hätte nur die Liebe herausgehört und nicht den Scherz und den Spott, und 36

„Hierin liegt das Recht und das Verhängnis aller wahrhaft tragischen Helden: ihr innerer Adel in der armseligen Welt, die ihre Gesetze nach dem Mittelmaß der Schwäche eingerichtet hat, stürzt sie in hoffnungslose Kämpfe, wo sie von der Wucht des Alltäglichen erdrückt werden. Und zu dieser Beschwörung des Gemeinen gegen das Erhabene gehört auch die Rolle, die der Zufall so häufig spielt, und darum berührt gerade sein Eingreifen so erschütternd, weil wir dadurch an die Mächte erinnert werden, die selbst die stärksten Seelen vergewaltigen, an das Nichtige, Äußerliche rein tückische der Wirklichkeit, dem sooft das Ideale erliegt“ (Paul Heyse, Unvergessbare Worte, in: Ders., Gesammelte Werke, Reihe IV, Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1924, S. 496).

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wäre, statt abzureisen, meiner geliebten Baronesse wahnsinnig glücklich zu Füßen gestürzt“ (209). Unabhängig davon, ob Marcell mit seiner Einschätzung nun Recht oder Unrecht hat, drängt sich die Frage auf, ob sich ein tragisches Ende auch für die gescheiterte Liebe zwischen Leopold und Corinna proklamieren lässt. Offensichtlich nicht, denn zum großen Glück aller Beteiligten entpuppt sich Corinnas Absicht, Leopold Treibel zu heiraten, als harmlose „Verirrung“, als „bloße Marotte, die verziehen werden kann“ (207), wie Schmidt und Marcell resümieren. Am Ende „kann noch Alles gut werden“ (203), weiß auch die Witwe Schmolke; Corinna heiratet ihren Cousin Marcell, Leopold die Schwester seiner Schwägerin – von Tragik keine Spur. In diesem Sinne wird die doppelte Verlobungsfeier auch in der Forschung immer wieder als „Happy-Ending einer Liebesbeziehung“37 gefeiert. Wieder sind es jedoch die Worte Schmidts aus der Schlussrede, die der Erzählung plötzlich eine andere Richtung geben und die Idylle der Versöhnung, die der Text suggeriert, verdächtig erscheinen lassen: „Und die arme Corinna! Jetzt ist sie bei Trebbin, erste Etappe zu Julias Grab“ (222). Die Deutung dieses Ausrufs als Verweis auf eine notwendige Katharsis, um die Liebelei mit Leopold symbolisch zu ‚begraben‘,38 lässt den syntagmatischen Kontext der Äußerung unberücksichtigt, der sie direkt an die poetische Neuorientierung Schmidts anbindet und damit in den Poesie-Diskurs des Romans integriert: ‚Alle echte Lyrik hat etwas Geheimnisvolles. Ich hätte doch am Ende dabei bleiben sollen…‘ Treibel und Krola sahen sich an und nickten dann zustimmend. ‚ … Und die arme Corinna! Jetzt ist sie bei Trebbin, erste Etappe zu Julias Grab‘. (222)

Aus der Perspektive des Professors, der zum Ende der Erzählung Partei für das Poetische ergreift, wirkt die Hochzeitsreise seiner Tochter plötzlich erschreckend prosaisch. Indem Corinna seinem vor seiner ‚Bekehrung‘ erteilten Rat folgt und mit Marcell „in die Welt hinaus, an die großen Stätten, und besonders an die ganz alten“ reist, um schnellstmöglich ihren sozialen Aufstieg zu realisieren, entscheidet sie sich gegen ihr anvisiertes Abenteuer mit 37

38

Neuhaus, „‚Warum sich Herz zum Herzen find’t‘“, S. 192; vgl. auch relativiert: Heidi Mehrkens, „Jenny Treibel ist keine Märchenfee. Frau Jenny Treibel – Ein Roman mit einem Happy End?“, in: Fontane-Blätter, 59/1995, S. 170–177, hier S. 177; sowie Aust, „Anstößige Versöhnung?“, S. 104. Aust, „Anstößige Versöhnung?“, S. 105; ähnlich auch Guarda: Der Roman schließe „mit einer Reise zu den Grabstätten der Vergangenheit ab, die für Fontane einem Durchgang durch den Tod gleichkommt und als Voraussetzung für ein wahrhaft sinnvolles Leben gilt“ (Guarda, „Fontanes ‚Frau Jenny Treibel‘“, S. 536).

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Leopold zugunsten einer gesellschaftlich gesicherten Zukunft in dem ihr vertrauten Milieu des Bildungsbürgertums. Dieses eher bedrückenden Ausgangs ihrer Bestrebungen ist sich Corinna bis zum Ende bewusst, wie in ihrer Reaktion auf die Frage ihres Cousins, ob sie Leopold geliebt habe, deutlich wird: „Nein. Aber ich wollte ihn ganz ernsthaft heirathen. Und mehr noch, Marcell, ich glaube auch nicht, daß ich sehr unglücklich geworden wäre, das liegt nicht in mir, freilich auch wohl nicht sehr glücklich. Aber wer ist glücklich? Kennst du wen? Ich nicht“ (214). Es zeigt sich, dass die Entscheidung Corinnas für ihre Ehe mit dem Archäologen das Resultat von „Resignation und des sich Fügens ins Unvermeidliche“39 darstellt. Anders als ein großer Teil der literaturwissenschaftlichen Forschung versteht Corinna ihre Heirat also nicht als Happy End. Ist das Ende der Corinna-Episode damit aber ein tragisches im Sinne Heyses und damit ein poetisches? Um dies zu beantworten, soll zunächst ein kurzer Blick auf das eigentliche Motiv ihrer Verirrungen geworfen werden. Spätestens seit dem Gespräch zwischen Marcel und Corinna im Anschluss an das Diner im Haus der Treibels sollte klar sein, dass es Corinna bei dem Flirt mit Leopold nicht um materiellen Wohlstand geht, sondern darum, sich zum Zentrum eines poetischen Abenteuers zu machen. Schon während des Diners teilt sie Mr. Nelson mit, sie sei „für das Heroische“ (37), und gegenüber Leopold behauptet sie, ihm und Marcell mangle es an „heroical courage“ (38). Während Leopold statt dieser seines Vaters Fabrik besitze, gebe sich Marcell mit seinem Sport zufrieden, „was ihm ein- für alle Mal die Heldenschaft bedeutet“ (ebd.). So ist es konsequenterweise weder Leopold noch Marcell, sondern Mr. Nelson, der Namensvetter des heldenhaften Siegers von Trafalgar, dem sie in Aussicht stellt, ihm „als Sklavin nach Liverpool hin [zu] folgen“ (41). Dabei liegt Corinnas Absicht allerdings – und dies ist entscheidend – nicht primär darin, Mr. Nelson oder Leopold zu beeindrucken, sondern vielmehr darin, „daß jedes Wort auch von ihrer Umgebung und ganz besonders von ihrem Vetter Marcell gehört werde“ (37).40

39

40

Gerhard Wedereit, „Leitmotivische Wiederholung. Beobachtungen zu Technik und Ethos in Fontanes ‚Frau Jenny Treibel‘“, in: Acta Germanica, 7/1972, S. 117–125, hier S. 123. Des Weiteren macht Corinna sich immer wieder Gedanken darüber, was Marcell wohl gerade von ihr denken möge. Sowohl während der Konversation weiß Corinna, „was in ihm vorging“ (41), als auch auf dem Heimweg: „So gingen sie schon fünf Minuten nebeneinander her, bis Corinna, die sehr gut wusste, was in Marcells Seele vorging, das Gespräch wieder aufnahm“ (56).

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Hier nun liegt das Missverständnis begründet, das nicht nur Marcell, sondern auch die literaturwissenschaftliche Forschung häufig verwirrt. Der gekränkte Marcell versteht das Verhalten Corinnas als Andeutung eines Seitensprungs und wirft ihr die Lächerlichkeit ihres Vorgehens vor. Erst als Reaktion auf diese Anklage versichert Corinna ihm verteidigend, dass Leopold keinesfalls eine schlechte Partie sei. Was Corinna anstrebt, ist, umworben zu werden, weshalb sie Leopold aber überhaupt erst als möglichen Rivalen plausibel machen muss: „Aber freilich, das ist unser altes Eva-Recht, die großen Wasser spielen zu lassen und unsere Kräfte zu gebrauchen, bis das geschieht, um dessentwillen wir da sind, mit anderen Worten, bis man um uns wirbt. Alles gilt diesem Zweck“ (60). Dass es ihr von Anfang an nicht um Leopold als Person geht, sondern primär um den Modus des Liebesabenteuers, wird auch in ihrer Beschreibung des Singuhrturms deutlich, der hier in bester freudianischer Manier als Metapher für Leopold herhalten muss: ‚Sieh nur‘, wiederholte Corinna, ‚nie hab’ ich den Singuhrturm in solcher Schärfe gesehen. Aber ihn schön finden, wie seit Kurzem Mode geworden, das kann ich doch nicht; er hat so etwas Halbes, Unfertiges, als ob ihm auf dem Wege nach oben die Kraft ausgegangen wäre. Da bin ich doch mehr für die zugespitzten, langweiligen Schindeltürme, die nichts wollen, als hoch sein und in den Himmel zeigen.‘ (59)

Es ist Corinnas Hang nach Wohlleben, der Leopold grundsätzlich zu einer guten Partie macht, und dieser entspricht, wie Corinna an anderer Stelle feststellt, ebenfalls der aktuellen Mode (62). Wie der Turm ist auch Leopold schwerfällig, wirkt ‚unfertig‘, und auf dem Weg, Corinna gegen den Widerstand seiner Mutter zu heiraten, geht ihm die Kraft aus. Eben diesen Kirchturm findet sie aber nicht schön, sondern favorisiert die ‚Schindeltürme‘, welche die Attribute ihres Cousins tragen. Marcell missversteht jedoch die Bedeutung der Turm-Schilderung, bewertet Corinnas Äußerung als Ablenkung und fordert sie auf, zum eigentlichen Thema zurückzukehren. Anstatt des von Corinna erhofften heldenhaften Eroberungsfeldzuges tritt ihr Cousin den Rückzug an, da ihm das „Sich-in-Scenesetzen“ (41) Corinnas missfällt, und macht ihr deutlich, dass er „nicht so dumm sein [wird], die Weiberwelt und die Welt überhaupt ändern zu wollen, ich will sie wirklich nicht ändern auch dann nicht, wenn ich’s könnte“ (61). Warum, so ließe sich fragen, braucht es aber überhaupt diesen ‚Hahnenkampf‘ zwischen Leopold und Marcell, wenn sich Corinna sowieso schon längst für ihren Cousin entschieden hat? Hinter Corinnas ambitioniertem Versuch, ihre Freier zur heldenhaften Auseinandersetzung zu bewegen, verbirgt sich offensichtlich der einfache Wunsch, aus den Notwendigkeiten der prosaischen Wirklichkeit, wozu auch die bereits als selbstverständlich be-

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Torsten W. Leine

trachtete Ehe mit Marcell Wederkopp gehört, auszubrechen.41 Bei der so genannten ‚Verirrung‘ Corinnas handelt es sich also um ein „Freiheitserlebnis. Die Ehe mit Leopold ist für Corinna gleichbedeutend mit einer Flucht aus der väterlichen Starre in eine Abenteuerwelt voll glitzernder Exotik“42. Im Kontext des Poesie-Diskurses bedeutet die Flucht aus der väterlichen Starre jedoch mehr als ein entwicklungspsychologisch motiviertes Geschehen, sondern ist poetologisch markiert. So wie sich ihr Vater aufgrund seines poetischen Misserfolges für die prosaische Wirklichkeit und damit gegen das poetische Ideal entschieden hat, steht auch Corinna vor der Entscheidung, sich in die prosaischen Verhältnisse einzufügen oder aber nach der Verwirklichung des von ihr angestrebten Ideals zu streben. Denn, so Corinna gegenüber Marcell, „das, wozu der Liebe Gott mich so recht eigentlich schuf, das hat nichts zu thun mit einem Treibel’schen Fabrikgeschäft oder mit einem Holzhof und vielleicht am wenigsten mit einer Hamburger Schwägerin“ (62). Corinnas Streben geht nicht auf in der Opposition von Besitz- und Bildungsbürgertum, sondern steuert den Abschied von der prosaischen Wirklichkeit beider Welten an: „und Leopold Treibel erscheint mir dann mit einem Mal als der Rettungsanker meines Lebens, oder wenn Du willst, wie das aufzusetzende große Marssegel, das bestimmt ist, mich bei gutem Wind an ferne, glückliche Küsten zu führen“ (63). Anstatt zu fernen Küsten führt sie Marcell letzten Endes jedoch zum Grab der Julia. Corinnas Vorhaben scheitert, nicht zuletzt, weil das von ihr erstrebte Poetische schon im Modus der Ware und nicht mehr des Wahren erscheint.43 Mister Nelson verweist für sie schlicht aufgrund seines Namens auf das Heroische, das damit nur noch nominell eingeholt werden kann. Der Bezug zwischen dem Label Nelson und dem Heroischen kommt überhaupt nur zustande, weil Corinna davon „im Walter Scott gelesen“ (37) hat. Weder ‚wirkliche‘ Liebe zu Leopold noch ‚wirklicher‘ Hass auf die Kommerzienrätin sind Corinnas Motive, wie auch Jennys Entgegnung auf Corinnas Bitte, man nehme doch Rücksicht auf ihre Gefühle, zeigt: „,Bah‘, lachte Jenny, ‚daß Sie so sprechen können, zeigt mir deutlich, daß Sie keine haben und daß alles bloßer Uebermuth oder vielleicht auch Eigensinn ist“ (188). Indem Corinna, wie schon Heyses Doctor Schwarz, versucht, eine Romeo-und-Julia-Episode 41

42 43

Sowohl Schmidt als auch Schmolke wissen, noch bevor sich Corinna gegen Leopold entscheidet, dass sie Marcell heiraten muss. So versichert der Professor von Anfang an seinem Neffen: „Du sollst sie haben, und Du wirst sie haben, und vielleicht eher, als Du denkst“ (93); und auch Schmolke macht Corinna deutlich: „Denn es ist ja doch ganz klar, daß Du Deinen Vetter heirathen mußt“ (201). Guarda, „Fontanes ‚Frau Jenny Treibel‘“, S. 535f. Vgl. den Beitrag von Heinz Drügh in diesem Band.

Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel

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künstlich zu inszenieren, entwickelt sich aus ihrem Vorhaben „doch nur eine Komödie“ (186). Auch wenn Leopold Corinnas Verweis auf das Heroische richtig versteht und zwar nicht zum Walter Scott greift, aber die Rolle des Ritters Karl von Eichenhorst einstudiert, der in Gottfried August Bürgers Ballade mit dem bezeichnenden Namen Die Entführung seine Geliebte gegen den Willen ihres Vaters verschleppt, scheitert sein Vorhaben, da er sich das Label ‚Rittertum‘ nicht zu eigen machen kann. Statt eines Dänenrosses, wie der Ritter in der Ballade, reitet er ein altes Pferd, „dem etwas Extravagantes nicht mehr zugemuthet werden konnte. Leopold ritt denn auch Schritt, so sehr er sich wünschte, davonstürmen zu können“ (109). Er bezeichnet Milch als sein „eigentliches Getränk“ (114) und weiß um seine Schwächen: „Mir fehlt es an Energie und Muth, und das Aufbäumen hab’ ich nun schon gewiß nicht gelernt“ (ebd.). Auch die Goethelektüre, „was, ist nicht nöthig zu verrathen“ (190), bleibt in den Händen Leopolds nicht mehr als Bestsellerlektüre, die ihn von seinem eigentlichen Vorhaben ablenkt. Weder Marcell noch Leopold eignen sich zur Erfüllung von Corinnas poetischen Träumereien, sodass sie sich schließlich Marcells Pragmatismus anschließt und in die Ehe mit ihrem Cousin einwilligt. Was also wird am Ende zu Grabe getragen? Nicht Corinnas schlechtes Gewissen oder der Wunsch nach Geld und Besitz, sondern Romeo und Julia, Werther und der Ritter von Eichenhorst, das poetische Ideal und damit die Hoffnung auf eine poetische Wirklichkeit. Die Bildungsgeschichte Corinnas illustriert damit genau das, was Hegel am klassischen Bildungsroman kritisiert: Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Individuum die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet […]. Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt verzankt haben, am Ende bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch.44

Der entscheidende Unterschied zwischen Corinnas ‚Bildungsgeschichte‘ und dem von Hegel kritisieren Bildungsroman ist jedoch, dass der Text die Anpassung an die bestehenden Verhältnisse ironisch reflektiert und ihr Defizit und eben nicht ihre Vernünftigkeit herausstellt. Dass Corinna ihr erstrebtes Ideal nicht realisieren kann, macht der Text ebenso deutlich wie den Umstand, dass die Entscheidung für eine prosaische Wirklichkeit ein defizitärer Zustand bleibt, der jede Form von Tragik und damit auch das Poetische ausschließt. Die Heirat mit Marcell, die einer Entsagung Corinnas vom Poe-

44

Hegel, Ästhetik, S. 568.

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Torsten W. Leine

tischen gleichkommt, ist dann aus der Sicht des Poeten Schmidt auch nicht mehr als ein trauriges Ereignis.

V.

Ironie als letzter Anker eines poetologischen Auslaufmodells

Kommen wir nun abschließend zu der emphatischen Aufwertung des Poetischen durch Wilibald Schmidt zurück. Ein sorgfältiger Blick auf den Kontext der Rede des Professors zeigt, dass die Reliabilität der Figur gleich in zweifacher Hinsicht in Frage gestellt wird – einerseits durch den Erzähler, andererseits durch die Figur selbst. Erstens steht Schmidt, wie der Erzähler nicht zu berichten versäumt, im Gegensatz zu Krola, „der an hundert Tafeln wetterfest geworden und im Vergleich zu Schmidt noch ganz leidlich imstande war“ (221), während seiner Rede deutlich unter Alkoholeinfluss. Zweitens behauptet Schmidt bereits an anderer Stelle gegenüber seinem Neffen, dass ‚das Schmidt’sche‘ in ihm eine eindeutige Positionierung prinzipiell unmöglich mache: ‚Aber das Schmidt’sche setzt sich aus solchen Ingredienzien zusammen, daß die Vollendung, von der ich spreche, nie bedrücklich wird. Und warum nicht? Weil die Selbstironie, in der wir, glaube ich, groß sind, immer wieder ein Fragezeichen hinter der Vollendung macht.‘ (86).

Als letzte Instanz verhindert also die Möglichkeit einer ironischen Brechung der Schlussworte eine endgültige Aufwertung des Poetischen und damit eine eindeutige Positionierung des Textes. Damit kommt der Ironie im Text eine doppelte Funktion zu: Auf der Ebene der histoire unterstützt sie eine Charakterisierung der Figuren, auf der Ebene des discours verankert die Ironie das poetisch-realistische Verfahrensmodell. Da dieses seine Dynamik aus dem Kipp-Effekt zwischen der Konstruktion einerseits und dem Aufbrauchen von Codes (als sinnstiftende Ordnungsmuster) andererseits gewinnt, lässt sich die ironische Reflexion als Gelenkstelle begreifen, die sowohl die Absolutsetzung als auch die Auflösung der Codes verhindert. Damit wirkt die Ironie aber nicht als „Gestaltung des Objektiven in dem Reflex des Subjektiven“,45 also als Reflexion der dargestellten Wirklichkeit durch das Dichtersubjekt, sondern als Textverfahrenselement, das zwischen den Codierungen des Textes vermittelt und die Verfahrensstruktur des Textes auf Dauer stellt. Indem das poetisch-realistische Sinnpostulat, das eine Vermittlung von Ideal und Wirklichkeit unter dem Begriff der Sittlichkeit postuliert, im Schluss des Textes ironisch gebrochen wird, ironisiert der Text sein eigenes Programm 45

Fritz Martini, „Ironischer Realismus. Keller, Raabe und Fontane“, in: Albert Schaefer (Hrsg.), Ironie und Dichtung, München 1970, S. 113–141, hier S. 117.

Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel

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und hebt sich damit auf den, wie Schmidt formuliert, „denkbar höchsten Standpunkt, den der Selbstironie“ (65), ohne jedoch – und hierauf kommt es an – das ironisierte Strukturmodell zu verlassen. Da sich die ironische Brechung des Erzählten durch die Schlussworte des Romans nicht nur bestätigt, sondern verschärft, mündet die Erzählung nicht in eine Auflösung der Ironie in den für den poetischen Realismus als charakteristisch angesehenen ‚versöhnenden Humor‘, der eine durch die ironische Reflexion motivierte Distanz des Textes zum Erzählten zurücknimmt,46 sondern vielmehr in eine Verschärfung dieser Distanz. Während sich auf der Ebene der Diegese die Konfliktparteien des Besitz- und Bildungsbürgertums Treibel und Schmidt im gemeinsamen Austausch nostalgischer Erinnerungen versöhnen, spitzt sich auf poetologischer Ebene der Konflikt zwischen den Codes des Textes zu. Falls nun, wie behauptet, die Ironisierung innerhalb des Textes als wesentliches Gestaltungselement fungiert, um die Arretierung einer letztgültigen Codierung zu verhindern, muss abschließend einer Sequenz innerhalb des Textes Rechnung getragen werden, die dezidiert nicht ironisch markiert ist; gemeint ist die kurze Erzählung der Witwe Schmolke über ihren verstorbenen Gatten. Indem der im Bekenntnis des Professors als ‚Hauptsache‘ bezeichnete Begriff der ‚Sittlichkeit‘ auf diese Episode über den ‚Sittenpolizisten‘ Schmolke rekurriert, wird die Schmolke-Episode zum Ende des Romans an prominenter Stelle noch einmal aufgerufen. Betrachtet man diese kurze Anekdote genauer, zeigt sich, dass in der Geschichte aus dem Alltagsleben der ‚Sitte‘ das Ideal des Herzensliedes tatsächlich realisiert ist. Nicht Geld, Wissenschaft und sozialer Rang sind die Werte, auf welche die Anekdote verweist, sondern Anstand, Liebe und Glück. Die Witwe berichtet Corinna davon, dass sie sich immer wieder Sorgen gemacht habe, weil ihr Mann täglich von ‚bildhübschen Frauen‘ umgeben gewesen sei, und sie ihn deshalb irgendwann zur Rede gestellt habe, um sich seiner Treue zu vergewissern, mit scharfem Blick, „aber doch immer noch freundlich. Denn ich liebte ihn“ (159). Diesem im Roman singulären Liebesbekenntnis folgt dann die Reaktion ihres Mannes: Un dann nahm er meine Hand, streichelte sie ganz zärtlich un sagte: ‚[…] Denn ich sage Dir, wer da so tagaus tagein in der Sitte sitzen muß, dem vergeht es, dem stehen die Haare zu Berge über all’ das Elend und all’ den Jammer, und wenn dann welche kommen, die nebenher auch noch ganz verhungert sind, was auch vorkommt, und wo wir ganz genau wissen, da sitzen nu die Eltern zu Hause un grämen sich Tag und Nacht über die Schande, weil sie das arme Wurm, das mitunter 46

Aust, „Anstößige Versöhnung?“, S. 117.

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Torsten W. Leine sehr merkwürdig dazu gekommen ist, immer noch lieb haben und helfen und retten möchten, wenn zu helfen und zu retten noch menschenmöglich wäre, […] denn is es mit Verführung un all sowas vorbei […] un man geht nach Hause und is froh, wenn man sein Hammelfleisch kriegt und eine ordentliche Frau hat‘. (159)

In der metadiegetisch platzierten Erzählung werden Ideal und Wirklichkeit erfolgreich miteinander vermittelt. Der Text führt nicht nur das Elend der armen und unglücklichen Frauen vor Augen – und liefert damit eine gewisse Portion Realität –, sondern zeigt am Beispiel des Polizeibeamten Schmolke, wie man sich anständig, geradezu heldenhaft verhält, indem Schmolke die kümmerliche Lage der Prostituierten nicht ausnutzt, sondern Mitgefühl zeigt.47 Er durchschaut nicht nur die Lage der wegen Prostitution verurteilten Frauen, sondern weiß vor dem Hintergrund dieses Elends sein eigenes Glück umso mehr zu schätzen, ein Kunststück, das den übrigen Romanfiguren nicht gelingt. Auch Corinna fällt die Bedeutung der Erzählung auf, denn plötzlich legt sie die spöttische Miene, die für alle Figuren der Erzählung kennzeichnend ist, ab: „Um Corinna’s Mund verlor sich jeder Ausdruck von Spott“ (158). An die Stelle der ironischen Brechung tritt ein versöhnender Humor, der die problematische Realität nicht negiert, aber dennoch am Ideal der Menschlichkeit festhält und damit eine Realisierung des Vermittlungsanspruches möglich macht. Was Martini als Charakteristikum des poetischen Realismus konstatiert, ist innerhalb dieser Mikro-Episode realisiert: Die vielen Tönungen der Ironie „verwandeln sich dort überall zum Humor, wo in solchem Versagen und Verfehlen gleichwohl der rechte substanzielle Lebenskern, das Wesentliche unversehrt bleibt“.48 Allerdings bleibt die Erzählung eine Episode, die keine spürbaren Konsequenzen für den Romanverlauf hat. Dadurch, dass die Witwe Schmolke die Geschichte erzählt, um Corinna beispielhaft eine ideale Lebensführung vor Augen zu führen, kommt der Anekdote in der Gesamtkomposition des Romans eine ähnliche Funktion zu wie dem von Schmidt verfassten Lied. Sie fungiert als in den Bereich der Vergangenheit ausgegrenztes Ideal, das jedoch für die Gegenwart keine Bedeutung mehr gewinnt. Obwohl Corinna am Beispiel der Beziehung zwischen der Haushälterin und ihrem Schutzmann narrativ belehrt wird, dass Glück und Liebe prinzipiell realisierbar sind, misslingt ihr genau dies. Wenn Wilibald Schmidt am Ende des Romans im Handeln seiner ‚armen Co47

48

Gerhard Friedrich, „Die Witwe Schmolke. Ein Beitrag zur Interpretation von Fontanes Roman ‚Frau Jenny Treibel‘“, in: Fontane-Blätter, 52/1991, S. 29–46, hier S. 35f. Martini, „Ironischer Realismus“, S. 136.

Zur Poetologie des Spätrealismus in Fontanes Frau Jenny Treibel

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rinna‘ seine eigenen Fehler wiedererkennen muss, so zeigt sich darin nicht der versöhnende Humor, sondern die bittere Ironie eines Textes, der eine lebbare Vermittlung von Ideal und Wirklichkeit – und damit einmal mehr das Programm des poetischen Realismus – ‚gegen die Wand‘ fährt, ohne es jedoch zu überwinden. Indem sich der Text selbst auf den Standpunkt der Selbstironie hebt, erreicht er den höchsten Standpunkt der Reflexion, der innerhalb der Grenzen poetisch-realistischen Erzählens möglich ist, bleibt aber zugleich innerhalb dieser Grenzen verhaftet.

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Stefan Tetzlaff

Stefan Tetzlaff (Münster)

Entsagung im Poetischen Realismus Motiv, Verfahren, Variation

Ich bin an Entsagung gewöhnt; ja noch mehr: ich habe – so seltsam dies auch klingen mag – bereits gelernt, entsagend zu genießen. Und es ist gut, daß es so ist; denn sonst – – Höre nur, was sich zwischen uns beiden ereignet hat. Ferdinand von Saar, Marianne1 Ich weiss, wenn ich der Welt entsagen könnte, Des Himmels Frieden würde mir zu theil, Ich wohnte rein im reinen Elemente. Arthur Fitger, Entsagung2

I.

Geschwisterliebe. Wie alles begann

„Erzählungen schließen mit Verlobung oder Hochzeit“3 – so heißt es in Theodor Fontanes Vor dem Sturm (1878). Darin scheint sich jedoch eher ein Wunsch als ein Gesetz auszudrücken, denn auch wenn Fontanes erster Roman genau wie L’Adultera (1879/80) ein solches Happy End bietet, enden andere Erzählungen auf eine irritierende Weise unerfüllt, die rekurrent für den gesamten Poetischen Realismus ist. Graf Petöfy (1884) zeigt eine solche Konstellation. Franziska Franz, eine junge Schauspielerin, verheiratet sich mit dem Jahrzehnte älteren Grafen von Petöfy; in dessen Gesellschaft wird sie bald einsam und erkennt die Verfehlung ihrer Ehe. Als sie sich in Egon verliebt, einen Mann ihres Alters mit regem Gesellschaftsleben, bemerkt Petöfy ihre Neigung und reagiert unerwartet: Er beschließt, das Glück der beiden nicht zu behindern und bringt sich um. Franziska verlässt daraufhin Egon und wendet sich dem Katholizismus zu. 1

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Ferdinand von Saar, „Marianne“, in: Ferdinand von Saar. Kritische Texte und Deutungen, Bd. 1, Regine Kopp (Hrsg.), Bonn 1980, S. 71. Arthur Fitger, „Entsagung“, in: Requiem aeternam dona ei. Gedichte, Leipzig 1894, S. 24. Theodor Fontane, „Vor dem Sturm“, in: Werke, Schriften und Briefe, Abteilung I, Bd. 3, Walter Keitel/Helmuth Nürnberger (Hrsg.), München 21971, S. 5–712, hier S. 709.

Entsagung im Poetischen Realismus Motiv, Verfahren, Variation

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Der Roman nimmt damit zwei Wendungen, die verwundern und deren zentrale Idee sich als ‚Entsagung‘ beschreiben lässt, d. h. als freiwilliger Verzicht, der keinen Ertrag an anderer Stelle bewirkt, sondern allenfalls einen intrinsischen Wert aufweist. Um zu erklären, warum Petöfy den Freitod wählt und Franziska ihre tragische Freiheit ungenutzt lässt, sei ein Blick auf Entwicklung, Funktion und Varianten des Entsagungskonzeptes im deutschen Poetischen Realismus geworfen. Wir bleiben dafür bei Theodor Fontane und einem seiner frühesten Texte, Geschwisterliebe (1839), dessen Figuren- und Motivinventar noch deutlich romantisch geprägt ist. Clara und ihr blinder Bruder Rudolph leben zufrieden und entfernt von der Welt nur füreinander. Ihre Lebensgemeinschaft wird erst problematisch, als die „klösterliche Abgeschiedenheit“4 durch den jungen Geistlichen Eisenhardt gestört wird. Denn Claras erwachende Liebe zu ihm schafft einen erkenntnisreichen Kontrast zur Pflege des Bruders. Diese erscheint sowohl ihr als auch Rudolph selbst augenblicklich als Opfer. Als Clara sich daraufhin entschließt, aus dem Verzicht auszubrechen und fortan mit Eisenhardt zu leben, rückt das Entsagungskonzept ausdrücklich in den thematischen Mittelpunkt: Das Los des Weibes ist entsagen, dulden und ertragen, doch sollte es darum auch seine Bestimmung sein, den Geliebten um des Bruders willen zu opfern?5

In diese Rolle beschließt Clara sich nicht zu fügen; um den Verlust der keuschen geschwisterlichen Liebe zu kompensieren, übernimmt Rudolph den Part des Entsagenden und lehnt das Angebot Claras und Eisenhardts ab, mit ihnen zu leben. Sein Wunsch, in Einsamkeit zu sterben, ist zugleich das Begehren nach einer Resäkularisierung des eigenen Daseins. Clara, von Rudolphs „wehmütige[m], stillergebene[m] Entsagen vernichtet“,6 bittet Jahre später den blinden Bruder an ihrem Totenbett um Vergebung. Sie hat erkannt, dass sie Eisenhardt nicht wirklich liebt und dass es ihre Vorsehung gewesen wäre, Rudolph zu lieben und ihm treu zu sein. Als Eisenhardt und Rudolph daraufhin versprechen, in Zukunft füreinander zu sorgen, stirbt Clara als „Verklärte“.7 Und nachdem Claras Grab für die bei-

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5 6 7

Theodor Fontane, „Geschwisterliebe“, in: Werke, Schriften und Briefe, Abteilung I, Bd. 7, Walter Keitel/Helmuth Nürnberger/Hans-Joachim Simm (Hrsg.), München 21984, S. 123–153, hier S. 124. Ebd., S. 137. Ebd., S. 144. Ebd., S. 150.

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den jahrelang „ein immer mehr geliebter unentbehrlicher Wallfahrtsort“8 geworden ist, sterben auch Rudolph und Eisenhardt gleichzeitig als todessehnsüchtige alte Männer. Geschwisterliebe versammelt damit noch ungeordnet die motivischen Bausteine für das Konzept, das der Fluchtpunkt realistischen Erzählens bleiben wird: Der Poetische Realismus liefert immer und immer wieder, über vierzig erfolgreiche Jahre lang, Figurationen der Entsagung.9

Und zwar, so Moritz Baßler, weil das Motiv der Entsagung dem realistischen Narrativ einen Abschluss erlaubt, obwohl dieses als unabschließbar entworfen ist. Das zentrale Verfahren realistischen Erzählens lässt sich mit Jakobsons Zwei-Achsen-Modell, der Gegenüberstellung von Metapher und Metonymie, beschreiben. Der Wechsel zwischen symbolischer Aufladung des Geschehens und dessen metonymischer Auflösung projektiert eigentlich ein endloses ‚Verbrauchen der Kodes‘ (Hans Vilmar Geppert).10 Unter ‚Kode‘ sei hier ein Referenzsystem verstanden, in Bezug auf das Textelemente als um eine metaphorische Bedeutungsebene angereichert erkannt werden können. Innerhalb der Textgrenzen ist der Fremde in Thomas Manns Tod in Venedig, von dessen Erscheinung fasziniert Gustav Aschenbach „ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne“11 ergreift, zunächst einmal nicht mehr als ein Tourist. Und der Globetrotter, halb wunderlich, halb charismatisch, weckt im schaffensmüden Schriftsteller „Reiselust, nichts weiter“.12 Der Kode ‚Griechische Mythologie‘ aber lässt die Figur auf einer metaphorischen Ebene als Postfiguration des Seelenführers Hermes erscheinen. Basthut, Stock und Beutel, Lodengewand und gekreuzte Füße – beinahe jeder Deutschabiturient der vergangenen Jahrzehnte hat diese Accessoires als Insignien des Begleiters ins Totenreich lesen und damit die Erzählung durch einen Kode um eine Bedeutungsebene erweitern gelernt. Der Poetische Realismus erprobt solche Kodes, um sie anschließend zugunsten des nächsten zu verwerfen. Elemente, die verheißen, vor einem 8 9

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Ebd., S. 152. Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 51/2010, S. 63–80, hier S. 63. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1993, S. 126ff. Thomas Mann, „Der Tod in Venedig“, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 2.1, Terence J. Reed (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2004, S. 501–592, hier S. 504. Ebd.

Entsagung im Poetischen Realismus Motiv, Verfahren, Variation

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Abb. 1: Kippmodell des Poetischen Realismus: Metaphorische Aufladung (Welt f Rahmen) und metonymische Entladung (Rahmen f Welt); vgl. ausführlich Abschnitt III, Abb. 2 und den Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band.

Kode als Teile einer parallelgeführten Bedeutungsebene lesbar zu sein, werden vom Text boykottiert, indem dieser die vermeintlich kodeverweisenden Attribute als kontingent und im Zusammenhang mit der Realwelt erklärt. Diese Auf- und Entladung als potenziell endloses Wechselspiel findet ihre Clôture erst in Konstellationen eines lebbaren Defizits, das sich mit dem Konzept der Entsagung und dessen Erscheinungsform, der programmatisch geforderten Verklärung, fassen lässt. In Robert Prutz’ Worten: „[D]enn was ist alle Kunst selbst anders, als die ideale Verklärung des Realen“?13 Für Otto Ludwig ist es der „wahrere Schein der Wirklichkeit“,14 bei Fontane die Formung des ‚Wirklichen‘ zum ‚Wahren‘,15 und Julian Schmidt konstatiert: „[K]lassisch wird derjenige Dichter sein, der in seinen Werken allgemein menschliche Ideale, d. h. echten bleibenden Lebensgehalt darstellt, und der diese Ideale so dazustellen weiß, daß jede Zeit an ihre Realität glaubt.“16 Was die Programmatik dabei nicht expliziert, ist das Kippmodell, aus dessen Eigendynamik die Notwendigkeit verklärten Entsagens im realistischen Erzählen erst plausibel wird. Diese Differenz zwischen Wirklichem und Wahrem illustriert Wilhelm Heinrich Riehls Der Fluch der Schönheit (1862), wenn der junge Amos, „ein so

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Robert Prutz, „Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848–1858 [Auszug]“, in: Gerhard Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus, Stuttgart 1985, S. 130–132, hier S. 130. Otto Ludwig, „Shakespeare-Studien [Auszug]“, in: ebd., S. 148–150, hier S. 150. Theodor Fontane, „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 [Auszug]“, in: ebd., S. 140–148, hier S. 147. Julian Schmidt, „Neue Romane [Auszüge]“, in: ebd., S. 106–110, hier S. 106.

74

Stefan Tetzlaff

bildschönes Kind, wie man seit Menschengedenken keines gesehen“,17 einerseits dem Kirchenmaler Modell steht, sodass sämtliche Engel in der Kirche seine Gestalt und sein Gesicht haben – andererseits aber derart unter seiner Schönheit und den daraus erwachsenden Benachteiligungen leidet, dass sein Happy End darin besteht, in der Armee zum Krüppel geschlagen zu werden. Jetzt kann Amos zu Marthe zurückkehren, die ihn als Mädchen vergeblich umworben hat und die ihm nun eine schöne Frau zu sein scheint. Und als sie einander ansehen, meinten beide für sich, die Herzensgüte, welche aus den Zügen sichtbar hervorbreche, mache doch das allerschönste wie ein etwas verunglücktes Gesicht erst wahrhaft schön und kein Maler könne diese allerschönste Schönheit nachbilden, auch wenn er Kirchenengel zu malen verstehe.18

Der Mehrwert der realistischen Verklärungspoetik wird hier zusätzlich daran profiliert, die bildende Kunst zu übertreffen, und zeigt genau das Happy End im Defizit, aus dem sich die poetisch-realistische Verklärung generiert.

II. Traditionen. Forschungsgeschichte – Goethe, Hegel und Biedermeier Entsagung ist keine Erfindung des Realismus. Das begriffsgeschichtliche Erbe verweist auf Hegel und Goethe19 sowie eine diskursive Virulenz des Konzepts um 1800.20 In für die Fragestellung zulässiger Verallgemeinerung 17

18 19

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Wilhelm Heinrich Riehl, „Der Fluch der Schönheit“, in: Wilhelm Heinrich Riehl. Durch tausend Jahre. Fünfzig kulturgeschichtliche Novellen, Bd. 2, Hans Löwe (Hrsg.), Leipzig (o. J.), S. 121–160, hier S. 123. Ebd., S. 160. Vgl. Marion Schmaus, „Entsagung als ‚Forderung des Tages‘. Goethes und Hegels Antwort auf die Moderne“, in: Werner Frick [u. a.] (Hrsg.), Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne, Tübingen 2003, S. 157–172. Des Weiteren: Dies., Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778–1936), Tübingen 2009, S. 147ff. Genauso: Ehrhard Bahr, „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden“, in: Bernd Witte/Peter Schmidt (Hrsg.), Goethe-Handbuch in vier Bänden. Prosaschriften, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1997, S. 186–231, hier S. 203. Vgl. Schmaus, „Entsagung als ‚Forderung des Tages‘“, S. 157: „Juristische Titel dokumentieren, daß sich der Begriff zwischen 1780 und 1820 im Arbeits-, Vermögens-, Erbschaft- und Vertragsrecht etabliert.“ Die Ausbreitung des Begriffs im literarischen Diskurs flankiert diese Entwicklung; vgl. stellvertretend für die Fülle von Entsagungsgeschichten Titel wie: Charlotte von Ahlefeld, Liebe und Entsagung (1805); Anonym, Cäcilie oder Liebe und Entsagung (1807); Johanna Franul von Weißenthurn, Liebe und Entsagung (1810); Magdalene Freiin von Callot, Die edle Entsagung (1822); Regina Frohberg, Entsagung (1824); Amalia Schoppe, Antonie oder

Entsagung im Poetischen Realismus Motiv, Verfahren, Variation

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können der Goethe’sche und der Hegel’sche Entsagungsbegriff aus der Notwendigkeit des Gesellschaftsvertrages heraus begriffen werden. Sowohl die „Versöhnung des Individuellen mit dem Allgemeinen über wechselseitige Entsagungshandlungen“21 (Hegel) als auch Wilhelm Meisters Unterordnung des freien Willens unter den der Turmgesellschaft22 (Goethe) beschreiben Entsagung als Praxis auf dem Weg zum gesellschaftlich organischen Ganzen. Dementsprechend rät auch der Mönch in Goethes Die natürliche Tochter Eugenie: „Wenn du nun, / In frühen Jahren, ohne Schuld, verbannt, / Durch heil’ge Fügung, fremde Fehler büßest, / So führst du, wie ein überirdisch Wesen, / Der Unschuld Glück und Wunderkräfte mit.“23 Die Verklärung ist, wenn auch im Nebensatz, bereits präsent. Die Entsagung als „soziales Ethos“24 bildet die Goethe’sche Synthese von Einzelnem und Ganzem ab, verfährt dabei jedoch auf einer anderen Ebene als der Realismus. Die Entsagung der Goethezeit ist eine allegorische, sie lässt sich nicht als Selbstzweck der Textstrategie lesen. Während Goethes Wilhelm entsagt, um etwas darzustellen, entsagt der realistische Held, damit der Text überhaupt darstellen kann. Arthur Henkels grundlegende Untersuchung und die in ihrer Folge stehende Forschung begreift Goethes Entsagung als „Abschied von der Lockung des Unendlichen. Die so entsagende ‚Person‘ entdeckt ihr Gesetz als das der menschlichen Ordnung überhaupt.“25

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Liebe und Entsagung (1826); Johanna Schopenhauer, Der Schnee (1826), Josef Schreyvogel, Wie es geschah, daß ich ein Hagestolz ward. Aus den Lebenserfahrungen eines Ungenannten (1827); Emilie Lohmann, Graf Lauzun (1827); Fanny Lewald, Clementine (1842) und Jenny (1843). Schmaus, „Entsagung als ,Forderung des Tages‘“, S. 163. Vgl. ebd., S. 164 u. S. 166. Johann Wolfgang Goethe, „Die natürliche Tochter“, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abteilung: Sämtliche Werke. Dramen 1791–1832, Bd. 6, Dieter Borchmeyer/Peter Huber (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 301–393, hier S. 387 (Verse 2751–2755). Schmaus, „Entsagung als ‚Forderung des Tages‘“, S. 170. Arthur Henkel: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman (1954). Tübingen 1964, S. 143. So auch Eberhard Lämmert, der die Entsagung im Wilhelm Meister als „Abwendung vom absolut freien und nur sich selbst hörigen Individuum“ liest (Eberhard Lämmert, „Der Autor und sein Held im Roman des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: The German Quarterly, 66/1993, 4, S. 415–430, hier S. 419). Dem Schauspielertum zu entsagen bedeute, einer „uneigentlichen Erweiterung und Überhöhung seines Lebenshorizontes zu entsagen“ (S. 418). Eine Ausnahme bildet der Standpunkt von Christina Salmen, die in den Entsagungsszenen der Wanderjahre den Gestus des gesamten Romans kodiert sieht, die Möglichkeit seiner Zeichenhaftigkeit und seiner narrativen Geschlossenheit in Frage zu stellen:

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Diesem „heiteren Modus der Entsagung“26 bei Henkel folgt in der Erforschung des Motivs für die Biedermeierzeit der Begriff der ‚Resignation‘.27 Die Studien Wilhelm Bietaks28 und Paul Kluckhohns29 beschreiben den zurückgezogenen biedermeierlichen Helden im Spannungsfeld zwischen Ideal und Wirklichkeit: Der Gefahr einer einseitigen Betätigung des Menschen in idealer oder realer Richtung steuert die Resignation. Sie hebt den Gegensatz zwar nicht auf, schafft aber einen Ausgleich, indem sie den Menschen entweder dem Streben nach Verwirklichung des Ideals entsagen läßt, wenn die Maßlosigkeit der idealen Anlage seines Lebensgefühles ihn in die Schuld gegen die Wirklichkeit treibt, oder ihn zum Verzicht gegenüber den Gütern der Wirklichkeit des Lebens nötigt, wenn die unge-

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„Goethes Text entsagt hier der eigenen Einheit und Kontinuität und wendet sich im Akt seiner Entzweiung und in Form eigener Abgeschiedenheit auf sich selbst zurück“ (Christina Salmen, ‚Die ganze merkwürdige Verlassenschaft‘. Goethes Entsagungspoetik in Wilhelm Meisters Wanderjahren, Würzburg 2003, S. 162). Diese „Poetik der Entsagung“ realisiere sich als „allegorische Gebrochenheit“, die „das fortgesetzte Spiel von Trennen und Vereinigen in den die Textur bildenden Bewegungen thematisiert und inszeniert“ (ebd.). Wenn dies so wäre, würde es sich in der Tat nicht mehr um ein operatives Konzept, um Entsagung als Übung in Versöhnlichkeit handeln, sondern um die Diagnostik der eigenen Textaporien. – Der Unterschied zum poetisch-realistischen Entsagungsbegriff bleibt aber derselbe, nämlich einer der Ebene. Ob Goethes Entsagung als Fügung ins Willensprimat des gesellschaftlichen Kollektivs oder als Ausdruck des mangelnden Selbstvertrauens des Textes zu lesen sei – in beiden Fällen handelt es sich um abbildende, also Umstände kodierende Verfahren: einmal um die Abbildung außerliterarischer Wirklichkeit, im zweiten Fall um die selbstreflexive Abbildung der Stolperstellen im eigenen Gemacht-Sein. Den Schritt darüber hinaus vollzieht der Poetische Realismus, indem Entsagung strukturell textkonstitutiv wird. Realistische Texte brauchen Entsagung, um überhaupt poetisch-realistisch erzählen zu können. Henkel, Entsagung, S. 145. Henkels enthusiastischem Konzept steht die dialektisch-materialistische Studie Thomas Degerings (Das Elend der Entsagung: Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘, Bonn 1982) gegenüber, die den Bund in den Wanderjahren als „kapitalistisch formbestimmt“ und dessen Entsagung fordernde Tätigkeit „im Dienst der Akkumulation des Kapitals“ (S. 3) sieht. Vom heutigen Forschungsstand aus erscheinen beide Blickwinkel überzeichnet; vgl. Bahr, Die Entsagenden, S. 203. Vgl. pars pro toto Lämmert bzgl. Stifters Nachsommer: „Entsagung ist umgeschlagen in Resignation“ (Lämmert, „Der Autor und sein Held“, S. 422). Wilhelm Bietak, „Vom Wesen des österreichischen Biedermeier und seiner Dichtung (1931)“, in: Elfriede Neubuhr (Hrsg.), Begriffsbestimmung des literarischen Biedermeier, Darmstadt 1974, S. 61–83. Paul Kluckhohn, „Biedermeier als literarische Epochenbezeichnung (1935)“, in: ebd., S. 100–145.

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zügelte Hingabe an dessen berauschende Fülle die idealen Ziele seinem Auge entrückt hat.30

Der romantischen „dualistischen Ganzheit steht also eine dualistische Einordnung gegenüber“,31 so Bietak. Wo das romantisch-idealistische Denken den Kosmos vom Ich gesetzt sieht, bescheidet sich das Biedermeier, sein jeweiliges Ich an die ihm passende Stelle im Kosmos zu setzen. Friedrich Sengle spricht diesbezüglich von „Versöhnungsbereitschaft“ und „Einordnung“.32 Eben diese „Einsicht in die Notwendigkeit des Kompromisses oder die Unlösbarkeit der Lebensaufgabe führt zur Resignation und Entsagung.“33 Eine dreischrittige Entwicklung, die einen Ausblick auf das Entsagungskonzept im Realismus gibt, beschreibt Wolfgang Lukas. Er sieht im Frührealismus den „Niedergang des ‚klassischen‘ und eigentlichen Entsagungskonzeptes“34 eingeleitet. Entscheidender Faktor sei hierbei die Psychologisierung der Entsagung als sexualpathologischer Zug. Während die Goethezeit die Entsagung „unmittelbar nach de[m] Augenblick der emphatischen Paarkonstitution“35 setzt und eine „Vergeistigung und Verklärung der entsagenden Frau zu einer engelsgleichen Gestalt“36 vornimmt, werde das „frühbiedermeierliche Entsagungsmodell […] einer quasitherapeutischen Funktionalisierung unterzogen“.37 Entsagung als Passagenritus der persönlichen Reifung tritt im Verbund mit einer künstlerischen oder sozialen Ersatzaktivität auf und leistet so die „Rettung der psychischen Integrität“.38 30 31 32

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Bietak, „Österreichisches Biedermeier“, S. 62f. (Hervorh. i. Orig.). Ebd., S. 64. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Allgemeine Voraussetzungen, Richtungen, Darstellungsmittel, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 81 (zweiter Begriff i. Orig. gesperrt). Kluckhohn, „Biedermeier“, S. 114 (Hervorh. i. Orig.). Wolfgang Lukas, „‚Entsagung‘. Konstanz und Wandel eines Motivs in der Erzählliteratur von der späten Goethezeit zum frühen Realismus“, in: Michael Titzmann (Hrsg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 113–149, hier S. 146. Ebd., S. 132. Ebd., S. 139. Ebd., S. 133 (Hervorh. i. Orig.). Entsagung als Ritus der eigenen Persönlichkeitsfindung und -bildung sieht auch Margaret Ward in den frühen Romanen Fanny Lewalds: „Lewald began to expand its borders and question the appropriateness of Ottilie’s kind of Entsagung for women who were truly in search of themselves. Similarly she used these early novels as a way of exploring her own ideal of marriage as a partnership of equals.“ (Margaret E. Ward, „Ehe und Entsagung: Fanny Lewald’s Early Novels and Goethes’s Literary Paternity“, in: Women in German Yearbook, 2/1986, S. 57–77, hier S. 75.) Ebd., S. 137.

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Die endgültige Ausrichtung der Entsagung an der Figurenpsyche im Frührealismus schließt Lukas zufolge die Transformation vom ästhetischen Lebenskonzept über eine biedermeierliche „sinnstiftende“ Entsagung hin zu „Geschichten von scheiternder Erotik“39 ab. Realistische Helden der Provenienz von Otto Ludwigs Apollonius führen „die männliche Sexualangst als Ursache für die Nichtrealisierung der Liebe“40 vor. Dass der Weg der Entsagung von einer „Ästhetisierung des eigenen Lebens“ über einen Akt der Ich-Versicherung schließlich in ein „pathologisches Verhaltensmodell“41 im Frührealismus führt, leuchtet zwar für die Architektur der Charaktere ein, lässt aber die Frage offen, was mit einem Narrativ und seinen Erzählverfahren angesichts solcher Verlagerungen geschieht. Dabei wird gerade vor dem Hintergrund der realistischen Bemühungen, ein Goethe’sches Dispositiv zu erschreiben, Lukas’ Hinweis auf die „metaphysische Überhöhung“42 interessant, die an den meist weiblichen Entsagenden der Goethezeit sichtbar wird. Die Frage nach Metaphorisierung und Metonymisierung im Realismus und der Vergleich mit analogen Strukturen der Goethezeit erweisen sich hier als unmittelbar anschlussfähig. Dass es sich bei der Entsagung des Realismus weder ausschließlich um eine „Resignation, die für den Roman des 19. Jhs. wichtig wird“,43 noch um eine „Negativ-‚Lösung‘ für das Problem einer schuldhaft erlebten Sexualität“44 handelt, wird mit der Beschreibung ihrer Funktion deutlich. Fest steht, dass die Entsagung im Realismus permanent begegnet;45 und zu Recht weist Peter von Matt bezüglich der „alternden Männer“ und „ver-

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43 44 45

Ebd., S. 146. Ebd., S. 141. Ebd., S. 143. Ebd., S. 139; zugleich bzgl. Ottilies auch Ward, „Lewald“, S. 63; Rüdiger Görner weist darauf hin, dass Ottilies metaphorische Erhöhung als Strategie Eduards lesbar ist, um die eigene Entsagung zu motivieren: „Diese Heiligung entwickelt sich geradezu zu seinem Projekt, das ihm dabei helfen soll, ihr zu entsagen, beziehungsweise ihr Andenken zu wahren.“ (Rüdiger Görner, „Sich lösen – Sich finden. Entsagung und das Problem der Kunst in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“, in: Ders., Goethe. Wissen und Entsagung – aus Kunst, München 1995, S. 72–80, hier S. 72). Bahr, Die Entsagenden, S. 203. Lukas, „‚Entsagung‘“, S. 146. „The literature between 1780–1880 is replete with the theme of renunciation“, bemerkt schon Andrew Louis 1935 (Andrew Louis, The Motive of Renunciation, New York 1934, S. 7).

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witterten Solitäre“46 darauf hin, dass bei „vielen dieser Geschichten von den einsam Vergreisenden das Scheitern der Liebe in einer fernen Vergangenheit literarisch mangelhaft motiviert ist, als wäre die Begründung gar nicht nötig, als verstünde sie sich von selbst“.47 – In gewisser Weise tut sie das auch, und zwar auf der Verfahrensebene. Genau dort ist auch die bis dahin vergeblich gesuchte Motivation zu finden.

III. Aber warum ist das so? Entsagung und Kippmodell Das realistische Konzept der Entsagung48 zeichnet sich dadurch aus, dass es sowohl auf Verfahrens- als auch auf Inhaltsebene verortbar ist. Diese hybride Anlage, sowohl an Elementen der erzählten Welt als auch auf der Ebene der Textverfahren stattzufinden, erlaubt die gleichzeitige Symbolisierung und Metonymisierung und damit die größtmögliche Annäherung an die Goethe’sche Symbolik, den großen Wunsch realistischen Erzählens. Was das im Einzelnen meint, sei am Beispiel verdeutlicht. Jeremias Gotthelfs Erzählung Das Erdbeerimareili (1851) beschreibt ein junges Mädchen und dessen außergewöhnliche Begabung im Auffinden von Erdbeerpflanzen. Als es eines Tages beim Beerenpflücken einem Engel begegnet, kommt das realistische Kippmodell zum Tragen. Der Symbolisierung als Lichtwesen folgt die Metonymisierung in Gestalt eines Wiedersehens mit dem vermeintlichen Engel, der sich als Schlossfräulein herausstellt. Günstiges Licht und weiße Gewänder hatten das Übrige getan. Der Gegenstand, an dem sich hier der Wechsel von symbolischer Überhöhung und metonymischer Erklärung vollzieht, ist ein Element der Diegese. Szenen, die allegorisches Potenzial erhalten, Figuren oder Gegenstände, die metaphorisch aufgeladen werden, sind Teil der erzählten Welt und können im Nacheinander von Sprache und Erzählen nicht gleichzeitig mit ihrer metonymischen Depotenzierung stehen. So ergibt sich das abwechselnde Nacheinander; eine Symbolisierung und Metonymisierung des Schlossfräulein-Engels im gleichen Moment ist nicht zu haben. Dass die Entsagung diesen Wechsel zum Abschluss bringt, liegt daran, dass sie nicht nur den Erzählgegenstand, sondern auch das Erzählen beein46

47 48

Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München/Wien 1989, S. 238. Ebd., S. 239. Im Folgenden wird lediglich in kontrastiver Erwähnung zwischen realistischer respektive anderen Formen der Entsagung unterschieden; mit der unmarkierten Form sind im hier verhandelten Zusammenhang immer Formen der Entsagung im Poetischen Realismus gemeint.

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Abb. 2: Metaphorisierung und anschließende Metonymisierung

flusst. Entsagung ist im Realismus sowohl eine Handlungsweise auf diegetischer Ebene als auch ein metakodestiftendes Verfahren, sodass am Ende die Verklärung des Geschehens unter dem Vorzeichen eines verlässlichen ganzheitlichen Wertesystems zu stehen scheint. Dieses Wertesystem aber erweist sich als Alibi-Kode, der zwar als moralisch-ethischer Orientierungspunkt behauptet wird, für das Gesamt des Narrativs aber nicht valide ist. Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde inszeniert dementsprechend seine Clôture über einen religiösen Kode um Heiligkeit und keusche Liebe, ist in seiner psychologischen Reflektiertheit aber dem eigenen Ende analytisch überlegen. Die Verklärung gelingt, indem sie diesen verbindlichen Kode antäuscht. Gotthelfs Erdbeerimareili lebt eine vorbildliche Entsagung, sie ist bereits zu Lebzeiten verklärt und imaginiert sich zusammen mit den verstorbenen Geschwistern im Himmel Erdbeeren suchend: „Mareili lebte ein seltsam Leben, bald im Himmel, bald auf Erden, beide waren eins und eng verflochten ineinander.“49 Die Synthese der Jakobson’schen Achsen, zwischen denen das Kippmodell noch oszilliert, wird hier schon als gelungen figuriert, und auf dem Weg 49

Jeremias Gotthelf, „Das Erdbeerimareili“, in: Ausgewählte Werke in zwölf Bänden. Ausgewählte Erzählungen III, Bd. 11, Walter Muschg (Hrsg.), Basel 1978, S. 201–254, hier S. 219.

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der Entsagung steuert Mareili so unbeirrt auf dieses Ziel zu, dass Walter Muschg zu Recht von einer Erzählung spricht, die „an der Grenze des Esoterischen spielt“.50 Und das ist der Punkt: ‚Esoterisch‘ wirkt hier nicht nur das Geschehen, sondern ebenso der Erzähldiskurs, das Erzählen in seinen Verfahrensweisen. Jenes Schlossfräulein nämlich ist schwer krank und findet in der sterbebegleitenden Pflege durch Mareili Frieden. In abgeschiedener Weltentsagung wirkt ihre Verklärung auf die Schwerkranke, und als diese friedlich verschieden ist, zieht sich Mareili auf ihre Hütte zurück, um zeitweise einzelne Kinder zur Erziehung aufzunehmen. Sie erscheint „in einem Glanze, daß man nicht wußte, war es ein wirklicher Mensch oder ein überirdisches Wesen“.51 Im Bericht von wechselwirksamer Heiligung gibt sich das Erzählen selbst ‚esoterisch‘. Die Entsagung leistet hier Metonymisierung und Symbolisierung zugleich; ein Leben der Aufopferung für Andere ist ein Leben des Verzichts. Anstatt unvermittelt eine Auflösung in ein selbsttätiges Happy End zu präsentieren, bleibt das Lebensnarrativ Mareilis defizitär. Der metonymisch geschilderten Entbehrung der Figur in der erzählten Welt steht die symbolische Aufladung des Erzählens selbst zur Seite.

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Walter Muschg, „Vorwort“, in: ebd., S. XII. Gotthelf, „Erdbeerimareili“, S. 253.

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Auf der Verfahrensebene befestigt die Entsagung den Metakode der poetisch-realistischen Verklärung, in dessen Rahmen Mareili für ihren zum Menschen metonymisierten Engel im Wechsel selbst zum Engel wird und vom Erzähldiskurs in die Teilhabe am metaphorisch Jenseitigen eingeschrieben wird. Die Entsagung Mareilis ist ein erzählweltliches Element und zugleich zentrale Idee eines Kodes auf der Ebene der Erzählverfahren. Als ersteres wird sie metonymisch in den Zusammenhang der Entbehrung eingereiht, als letztere wird sie symbolisch aufgeladen und leistet die Verklärung des metonymischen Defizits. Und zwar simultan, weil auf die beiden Ebenen des Textes verteilt. Mit dieser symbolischen Aufladung der Metonymisierung ermöglicht die Entsagung das Zugleich der beiden Vorgänge, deren Unvereinbarkeit im Erzählverlauf zunächst als das bekannte Kippmodell auftritt.

IV. Entsagung in Reinform Vor dem Hintergrund dieses Modells fallen zunächst Figurationen ausdrücklich gelungener Entsagung auf. So zum Beispiel in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde (1856); der Roman lässt den Leser vor allem mit einer Frage zurück: Warum heiraten Christiane und Apollonius nicht? Von seinem Bruder Fritz als Brautwerber hintergangen, heiratet Apollonius Christiane nicht. Mit falschen Vorspiegelungen von Missgunst und Antipathie hält Fritz die beiden Verliebten voneinander fern und heiratet schließlich selbst Christiane. Seinem gefallsüchtigen Wesen und seiner schwachen Arbeitsmoral geschuldet, gerät der väterliche Dachdeckerbetrieb in Schwierigkeiten. Mit wachsender Frustration wird Fritz immer unvorsichtiger in seinen Versuchen, Apollonius und Christiane gegeneinander auszuspielen, sodass seine Manipulationen zuletzt entdeckt werden und Apollonius und Christiane sich um ihre Liebe betrogen finden. Der inzwischen charakterlich gebrochene Fritz verunglückt beim Streit mit Apollonius tödlich, als er vom Dach stürzt. Die folgenden Jahre stehen im Zeichen der Schadensregulierung und des Wiederaufbaus des Geschäfts, der tatsächlich in dem Maße gelingt, wie die Familie zur Ruhe kommt. Warum also versagt sich der Text das klassische Happy End, auf das er doch scheinbar hinarbeitet? Mit dieser Frage ist der Leser in guter Gesellschaft, denn auch die Bekannten der Protagonisten erwarten deren Heirat. Die Antwort liegt im realistischen Bekenntnis zur Entsagung. Auf inhaltlicher Ebene wird das Entsagen in den Zusammenhang von zwanghafter Korrektheit und Integrität eingebettet. Apollonius’ Verhalten wird herausragend modern psychologisiert und als ordnungsneurotische Akkuratesse beschrieben. Der Figur, deren überkorrekt gepflegter Gar-

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ten leitmotivisch funktioniert, bleibt die Liebe zur vormals unerreichbaren Frau unter allen Umständen „wie beschmutzt“.52 Die Verbindung ist zwar keine verbotene mehr, aber „daß sie es einmal gewesen, warf seinen Schatten herüber auf das vorwurfsfreie Jetzt“.53 Während die psychologistische Erklärung Apollonius’ Entscheidung kontig, sozusagen an der metonymischen Achse entlang, aus der Reihe seiner Verhaltensmuster erklärt, kommt die Entsagung beim Bedarf eines metaphorischen Metakodes, d. h. einer Symbolisierung des Geschehens, ins Spiel. Sie bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich Metonymisierung und Symbolisierung wie beschrieben simultan vollziehen. Die metonymisch eingesetzte Verhaltenspathologie wird mit einem symbolischen Kode enggeführt, der sich aus dem Diskurs des Sakralen und der Idee der Ehrenhaftigkeit, einer abzubüßenden Schuld und des Erhalts der Familienehre zusammensetzt. Daher betet Christiane zu ihrer toten Mutter um Beistand, und Apollonius fühlt in der Heirat eine Schuld, denn sie ist möglich allein auf Kosten des Brudertodes. Vor dem Glaubenssatz „Hat er den Lohn der Tat, so hat er auch die Tat“54 erscheint die Heirat als Verrat am Versprechen, die Ehre des Hauses aufrechtzuerhalten. Die Verklärung der Liebe ins Keusch-Heilige speist sich unmittelbar aus dem Konzept der Entsagung. So heißt es von den ‚Herzensfäden‘, die die Menschen verbinden, es seien „dunkle und helle, je nachdem Hoffnung oder Entsagung an der Spule saß“.55 Die eher unerwartete Kopplung von Hoffnung/dunkel und Entsagung/hell gibt so schon zu Beginn die Werteskala im Rahmen einer „Psychologisierung religiöser Semantik“56 vor, an der sich Apollonius und Christiane ausrichten. Und als zuletzt eine Krankheit Apollonius zur Bettruhe zwingt, aus der er endgültig gefestigt hervorgeht, hat auch Christiane in heimlicher Pflege des Kranken an dessen kathartischem Infekt teil und überwindet selbst ebenso die Versuchung zugunsten der sakralen Verklärung der Situation. Denn sie ist glücklich, etwas um ihn zu leiden, der alles um sie litt. In diesen Nächten bezwang die heilige Liebe die irdische in ihr; aus dem Schmerz der getäuschten süßen Wün52

53 54 55 56

Otto Ludwig, „Zwischen Himmel und Erde“, in: Ders., Romane und Romanstudien, William J. Lillyman (Hrsg.), München/Wien 1977, S. 331–532, hier S. 506. Ebd. Ebd., S. 508. Ebd., S. 354. Claus-Michael Ort, „Was ist Realismus?“, in: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 11–26, hier S. 21.

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Stefan Tetzlaff sche, die ihn besitzen wollten, stieg sein Bild wieder in die unnahbare Glorie hinauf, in der sie ihn sonst gesehen.57

Auch die Blechkapsel mit der Blume, die Christiane als junges Mädchen für Apollonius gepflückt hat, „liegt bei Bibel und Gesangbuch und ist ihrer Besitzerin so heilig, als diese“.58 Die Entsagung geht als Vorgang von der Diegese aus und betrifft die Verfahrensebene, indem sie sowohl ein beharrlich irritierendes Defizit hervorruft als auch die Ebene eines Metakodes eröffnet, vor dessen Hintergrund der freiwillige Verzicht erklärbar werden soll. Das diegetische Defizit wird auf der Ebene der Verfahren zur gleichen Zeit als Textstrategie sichtbar, sodass die metonymisch geschilderte Entbehrung mit Hilfe eines Metakodes metaphorisch lesbar wird und die Clôture sich in einem Bild der Verklärung vollzieht. Dass dieser Metakode jedoch eine Erklärungskraft vortäuscht, über die er nicht verfügt, wird in den Reaktionen der Figuren um Apollonius und Christiane deutlich. Es findet sich ausdrücklich keine Nebenfigur, der im Einklang mit dem angebrachten Alibi-Kode das Verhalten der Protagonisten einleuchtet. Dass Apollonius Christiane heiratet, scheint dem Umfeld der natürliche Gang der Dinge: „Der Vater wollte es; sie liebt ihn und hat ihn immer geliebt, nur ihn; alle Menschen billigen, ja sie fordern es von ihm.“59 Entsagung als Buße für eine Schuld begegnet auch zwanzig Jahre später bei Paul Lindau, jedoch mit der Umgewichtung des Spätrealismus auf eine nüchterne Abschwächung der Verklärung. Helene Jung (1885) lässt die gleichnamige Protagonistin in zwei Schritten entsagen. Hält sie sich als alleinstehende Tochter eines verurteilten Mörders bereits zu Beginn von jeder Gesellschaft fern, so entsagt sie zuletzt auch im Individuellen, als sich zwischen ihr und Prinz Reinhard ein Liebesverhältnis entwickelt. Um den Giftmord 57 58 59

Ludwig, „Zwischen Himmel und Erde“, S. 529. Ebd., S. 531. Ebd., S. 508. Vollkommen affirmativ hingegen wird der Kode von Marianne Bonwit gelesen. Wo Lukas dessen Brüchigkeit in seiner Ausstellung als pathologisches Verhalten erkennt, sieht Bonwit in der realistischen Entsagung exakt den Goethe’schen Verzicht im Namen gesellschaftlicher Werte: „An Fritz, der Christiane heimführt, wird kein gutes Haar gelassen, während der ihn überlebende Apollonius so makellos edel dargestellt wird, und dabei mit einer psychologisch so gut geschilderten Skrupelhaftigkeit, daß man sein langjähriges Junggesellentum an der Seite der verwitweten Schwägerin, die er noch immer liebt, ohne Erstaunen hinnimmt, wenn nicht gar erwartet.“ (Marianne Bonwit, „Der leidende Dritte. Das Problem der Entsagung in bürgerlichen Romanen und Novellen, besonders bei Theodor Storm“, in: University of California Publications in Modern Philology, 36/1951, 2, S. 91–112, hier S. 98).

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des Vaters und dessen Geliebter an der Mutter zu sühnen, tritt sie in ein Kloster ein. Als Schwester Reinhilde nimmt sie sich einer Insassin der benachbarten Irrenanstalt an und pflegt dort eben jene Cäcilie Wöllinger, die Geliebte und Komplizin ihres mörderischen Vaters, die freigesprochen und wahnsinnig geworden ist. In der christlichen Liebe zum Sünder und der keuschen, rein geistigen Verbindung im Namen (Reinhard–Schwester Reinhilde) wird ein religiöser Alibi-Kode nachgereicht, der im letzten Kapitel die Mutter Oberin dem Herrn danken lässt, „daß er uns Schwester Reinhilde gesandt hat“.60 Henkel kann über Goethe noch sagen: „Entsagender Abschied ist jedesmal Einsicht und der Gewinn größerer Durchsichtigkeit.“61 Helene Jungs Abschied dagegen ist weitestmöglich von einer Erklärung entfernt, und zwar zugunsten seiner Ver-Klärung. Genauso präsentiert Theodor Storms Angelica (1855) eine Konstellation, die erst als Verfahren nachvollziehbar wird. Das Einzige, das Erhardt und Angelica von einer Verbindung abhält, ist Erhardts Armut. Er will seiner Geliebten entsagen, sie aber sieht ihn „mit klaren Augen“ an und sagt nur „Dein!“.62 Als Angelicas Mutter schließlich Erhardt bittet, die Tochter freizugeben, damit sie keine alte Jungfer werde, zieht Erhardt fort. In seiner neuen Heimat wird er durch einen glücklichen Zufall erfolgreich und wohlhabend. Er kehrt zurück, erfährt aber von der Verlobung Angelicas; die kommenden Jahre, wieder in der Fremde, sind ihm „in ein graues Einerlei“63 verwandelt. Eines Tages bekommt er einen Brief: „Angelicas Verbindung ist vor der Hochzeit durch den Tod des Bräutigams gelöst; komm nun und hole Dir Dein Glück! – –“64 Und hier erstaunt der Leser wieder über eine Wendung, die auch Otto Ludwig und eine Vielzahl poetisch-realistischer Texte anbringen: Der Held, dem wider Erwarten der Weg zum Glück zuletzt doch offen steht – entsagt. So auch Erhardt: [A]ls er endlich seiner Sinne und seiner Seele wieder Herr geworden war, da wußte er auch, daß er erst jetzt Angelica verloren und daß sein Verhältnis zu ihr erst jetzt für immer abgeschlossen und zu Ende sei.65 60 61 62

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Paul Lindau, Helene Jung, Stuttgart 1885, S. 140. Henkel, Entsagung, S. 146. Theodor Storm, „Angelica“, in: Sämtliche Werke in vier Bänden. Gedichte. Novellen. 1848–1867, Bd. 1, Dieter Lohmeier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1987, S. 363–385, hier S. 365. Ebd., S. 383. Ebd. Ebd., S. 384f.

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Denn erst jetzt, da er sie wirklich haben könnte, ist die Entsagung freiwillig. Die Liebe zu einer verlobten Frau genügt diesem Anspruch nicht. So oder so ähnlich begegnet das Muster in einer Vielzahl realistischer Texte, sodass die Annahme, es handele sich bei der entsagenden Hauptfigur um einen integralen Bestandteil der realistischen Poetologie, nahe liegt. Wie aber war das mit L’Adultera? Die Novelle zeigt eine junge Frau, die nicht nur der Versuchung des Ehebruchs erliegt, anstatt der Liebe zu entsagen, sondern sie wird auch damit glücklich, sodass die Novelle schließt: „Und sie umarmten sich und küßten sich, und eine Stunde später brannten ihnen die Weihnachtslichter in einem ungetrübten Glanz.“66 – Ein Happy End ausgerechnet am Weihnachtsabend, auf dessen Bühne der Realismus sonst so gerne schwermütiges Entbehren inszeniert (man denke an Raabes Zum wilden Mann)? Und warum endet der Nachsommer mit der Heirat der Hauptfiguren Heinrich und Natalie und einer Zusammenführung der Familien sowie allseitiger Liebeserklärungen? Warum findet sich Wenzel Strapinski am Ende von Kellers Kleider machen Leute als erfolgreicher Geschäftsmann und glücklicher Familienvater? Warum schließt Ernst Wicherts Der Schaktarp mit dem Satz „Um Johanni gab es in Gilge eine lustige Hochzeit“?67 Und warum endet Storms Im Schloss mit der ‚Seligkeit‘ erfüllter Liebe? Wie lässt sich Entsagung als Angelpunkt realistischen Erzählens beschreiben vor dem Hintergrund einer Vielzahl realistischer Texte, die ein Happy End zelebrieren? Eine Umformulierung der ursprünglichen These hilft hier weiter. So soll im Folgenden davon ausgegangen werden, dass nicht das Motiv der Entsagung, sondern dessen Verhandeltwerden ein zentrales Phänomen des Realismus ist. Die Entsagung ist zwar allgegenwärtig, aber nicht weil sie immer vollzogen würde, sondern weil sich die Texte an ihrer Möglichkeit abarbeiten – das geschieht letztlich oft genug in der Realisierung ihres Gegenteils. Die Feststellung „Hochzeit und der Tod, als die typischen Entparadoxierungsstrategien von Erzählprosa, sind im Realismus in der Tat wenig verbreitet“68 wäre zu überdenken, und gerade dabei zeigt sich, was es mit der Allgegenwart der Entsa-

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67

68

Theodor Fontane, „L’Adultera“, in: Werke, Schriften und Briefe, Abteilung I: Sämtliche Romane. Erzählungen, Gedichte. Nachgelassenes, Bd. 2, Walter Keitel/Helmuth Nürnberger (Hrsg.), München 1971, S. 7–140, hier S. 140. Ernst Wichert, „Der Schaktarp“, in: Ders., Ernst Wicherts Gesammelte Werke, Bd. 16, Dresden 31904, S. 165–275, hier S. 275. So Baßler, Entsagung, S. 66; genauso sieht Ort als „pessimistische Sujets, die den Kriterien ‚poetisierender‘ Stoffwahl kaum mehr gehorchen: Tod und todesnahes Erzählen“ (Ort, „Realismus“, S. 24).

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gung auf sich hat. Es lassen sich vielmehr neben der vollzogenen tatsächlichen Entsagung Konstellationen beschreiben, in denen Entsagung erprobt, kommentiert, verlagert oder durch Entsorgung ersetzt und damit auf Verfahrensebene verhandelt wird.

V.

Das Machtspiel mit der Entsagung

Arthur Fitgers Wunsch nach ‚himmlischem Frieden‘ aus vorangestelltem Motto bleibt bezeichnenderweise nicht ungebrochen stehen, sondern wird in den letzten Strophen des Gedichts relativiert: Ein lockig Haupt, ein rother Mund allein, Ein flüchtiger Kuss nur auf geliebte Hände Müsst’ aus der Plünd’rung ausgeschlossen sein, […] – Das eine Gut ist mehr Als alles, was mir ausserdem beschieden, Und für kein Paradies gäb ich es her.69

Das Gebot der Entsagung wird anerkannt, sollte aber auf eine erlaubte Ausnahme hin verhandelbar bleiben. Diese Unentschlossenheit zwischen Konzept und Lebensführung zeichnet sich an einer Reihe realistischer Texte ab, die eine Erprobung von Alternativen zur Entsagung und Umgehungsversuche beschreiben. So steht ähnlich wie bei Fontane auch in Friedrich Spielhagens Die Sphinx (1863) die Liebe zweier Geschwister im Mittelpunkt, ein Motiv, das schnell ins realistische Standardrepertoire aufgenommen wird. Cornelie, die für ihren Bruder Sven beinahe ihren Mann verlässt, weiß jedoch so wenig wie dieser selbst von der Verwandtschaft. Vor deren Entdeckung führt es Sven genau wie Christine bei Otto Ludwig im Traum zu seiner verstorbenen Mutter, die ihm erklärt, daß um seine liebsten Hoffnungen betrogen werden, Menschenloos, und daß Entsagen lernen, der Weisheit letzter Schluß sei.70

Sven aber ist als Figur noch zu sehr Nachfahre der Romantik, als dass er den realistischen Weg der Entsagung unmittelbar gehen wollte. Anstatt im Verzicht das Orakel zu erfüllen und dessen Hintergründe auf sich beruhen zu lassen, stellt er Nachforschungen an. In alten Aufzeichnungen findet er seine und Cornelies Vorgeschichte, die er ihr daraufhin offenbart. Cornelie bricht 69 70

Fitger, „Entsagung“, S. 24. Friedrich Spielhagen, „In der zwölften Stunde [Die Sphinx]“, in: Ders., Friedrich Spielhagen’s gesammelte Werke. Clara Vere. In der zwölften Stunde, Bd. 5, Berlin 1867, S. 250.

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den Kontakt zu Sven ab, der auf ein einsames Gut an der Ostsee zieht. Als Cornelies Sohn stirbt, ertränkt sie sich. Svens Entsagung im Einsiedlertum ist eine Entsagung im zweiten Anlauf. Eine ungebrochene Verklärung vermag sie nicht mehr zu leisten, denn die irreversible Erkenntnis, dass der Verzicht auf die gegenseitige Liebe gar nicht aus freien Stücken möglich, sondern zwingend ist, um eine unnatürliche Verbindung zu verhindern, lässt keine symbolische Überhöhung der Lage mehr zu. Analog zum Spätrealismus, der das Illusorische verklärender Entsagung entlarvt und sich einer bitteren Nüchternheit zuwendet, scheint der Frührealismus noch den idealen Zeitpunkt zur Entsagung zu erproben. Lange bevor die Entsagung enttäuscht karikiert wird, zeigen Texte wie der von Spielhagen Figuren, denen sich die Entsagung als Ideallösung anbietet, die aber nicht der Verlockung widerstehen können, es zunächst doch einmal ohne sie zu versuchen. Dass die Entsagung damit auch ein Wille zum Nicht-Wissen ist – dieses als metaphorische Verschleierung fassbare Prinzip kehrt nicht umsonst in der Phase gelingender Entsagung als Verklärung wieder –, zeigt Die Sphinx deutlich. Und Philipp Schwarz in Heyses Unvergeßbare Worte (1882) lässt sich dieses Prinzip sogar auf den Grabstein schreiben: „oblivisci nequeo“71 (dt.: „ich kann nicht vergessen“). Hätte er vergessen können, nämlich die unfreiwillige Auskunft seiner Verehrten Victoire, dass sie ihn weniger liebt als vielmehr unterhaltsam findet, hätte sich eine freundschaftlich keusche Verbindung im Zeichen der Entsagung ergeben. Als Nachzügler erweist sich Ernst Ecksteins Roderich Löhr (1896); der Roman stellt ebenfalls einen Protagonisten vor, dem die Entsagung so lange vorschwebt, bis die Versuchung stärker ist. Roderich, der mit seiner Frau Alwine als reicher Erbe und erfolgreicher Blumenzüchter den gleichförmigen Alltag verbringt, verliebt sich in Eva, die extravagante, aufregende Frau vom Nachbargut. Diese stellt sich als berechnende femme fatale heraus, die Roderich zwar nach dessen Scheidung von Alwine heiratet, ihn aber genauso schnell betrügt. Im Duell mit dem Nebenbuhler verwundet, wird Roderich von seiner ehemaligen Frau Alwine am Krankenbett besucht. Er hält ihre Hand, „die warm und weich in der seinigen lag, so fest und traulich, als habe sie nie im schmerzlichen Krampf der Entsagung und der betrogenen Liebe gezuckt“.72 In der Erinnerung an das gemeinsame, früh verstorbene Kind

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Paul Heyse, „Unvergeßbare Worte“, in: Ders., Gesammelte Werke, Erste Reihe, Bd. 4, Stuttgart [o. J.], S. 458–514, hier S. 514. Ernst Eckstein, Roderich Löhr, Berlin 1896, S. 403.

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und in der Glückseligkeit, dass Alwine ihm verziehen hat, schläft Roderich sanft für immer ein. Die entscheidende Parallele zu Spielhagens Die Sphinx liegt in der Diskrepanz zwischen dem bewussten Gebot der Entsagung und der Willensschwäche im Moment ihrer Ausführung. Als Roderich beim Spaziergang mit Eva die Chance zum gegenseitigen Liebesgeständnis sieht, ist ihm durchaus klar, was sich für einen poetisch-realistischen Helden gehört: Er wollte ihr frei bekennen, daß er sie liebte, – und sich dann losreißen für immer … vielleicht übermannte auch sie der Sturm ihrer Sehnsucht! Vielleicht gab sie ihm das Geständnis mit auf den Weg, daß er sich nicht getäuscht habe, daß auch sie namenlos leide! Gemeinsames Weh, übereinstimmungsvolles Entsagen war in diesem Fall ja Entzücken …73

Dass sich das Entzücken jedoch in praxi eher in Grenzen gehalten hätte, scheint Roderich zu ahnen, schließlich gibt er Eva unmittelbar darauf nach. Und ebenso wie in der Sphinx fällt der Bedarf an Todesfällen bei den Hauptfiguren auf, um Roderich nach diesem kapitalen Fehltritt zu rehabilitieren. Eva nämlich versucht noch kurz vor dem Duell, das ihr überraschend ohnehin den ungeliebten Mann von der Seite schafft, diesen zu vergiften. In flagranti ertappt, öffnet sie sich nach ihrer Verhaftung noch in der Zelle mit dem Abendbrotmesser die Pulsadern; ihre Mutter rennt fortan „wie hirnkrank durch alle Gemächer“74 und ihr Vater stirbt kurz darauf am ‚Schlagfluß‘. Und auch Roderich selbst stirbt ja zuletzt – aber, und das ist der Unterschied zu Spielhagen, versöhnt und im Rahmen einer Art melancholischen Happy Ends, dessen Tragik mit der Note der Versöhnlichkeit gemildert wird. Entsagung ist das zentrale Thema, sie misslingt aber auch hier, um im zweiten Anlauf auf Kosten des Personals nachgeholt zu werden. So gelingt schließlich sogar eine Art Verklärung, obwohl zunächst kein verklärbares Defizit zur Hand scheint; der Tod ersetzt das freiwillige Defizit der Entsagung und ermöglicht die symbolische Erhöhung der Schlussszene. Ecksteins Roderich Löhr ist dabei eine anachronistische Ausnahme. Das Scheitern am Versuch, Alternativen zur Entsagung zu finden, ist eine frührealistische Figur. Sie schreibt sich aus der vorrealistischen Auflehnung gegen die Entsagungsmodelle der Goethezeit her. So kann Friedrich Rückert 1822 noch selbstbewusst fordern: „Sey nur ein Thor, / Mein liebendes 73 74

Ebd., S. 141. Ebd., S. 388.

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Herz! / Und die Vernunft / Bezähme dich nicht! // Fühle, daß nur / Entsagung dir frommt, / Und zur Entsagung / Bequeme dich nicht!“75

VI. Entsorgung. Tod als stellvertretendes Defizit Die auffallend hohe Sterberate der Nebenfiguren ist als Symptom einer Auslagerung lesbar, findet sie sich doch vornehmlich in Texten mit Happy End. So auch in Friedrich Spielhagens Roman Clara Vere (1857), der den Protagonisten Georg Allen zwischen zwei Frauen beschreibt. Auf der einen Seite Helene, seine naturverbundene Jugendliebe, auf der anderen Lady Clara Vere. Unentschieden irrt Georg zwischen gutem Charakter und adliger Chique hin und her, bis sich herausstellt, dass er mit Lady Vere verwandt und diese darüber hinaus für den Tod von Helenes Bruder verantwortlich ist. Derart bekehrt erkennt Georg das bösartige Wesen Lady Veres und nimmt Abschied von ihr, um mit Helene nach Amerika auszuwandern. Clara Vere weiß, was das bedeutet: „Sie werden gehen, und ich werde das alte Leben fortsetzen, mir nicht zur Freude, und anderen zum Verderben.“76 Mit Clara Vere findet sich erneut ein Narrativ, das sich aus der Romantik herschreibt und realistische Erzählweisen erprobt, so eben auch die Entsagung. Die Wahl der ‚falschen‘, weil nicht aufrichtig liebenden Frau, steht in der Tradition des romantischen Helden und dessen Position zwischen Hure und Heiliger.77 Nur ist Clara Vere, obwohl sie mehrfach als Marmorbild beschrieben wird, frei von dämonischen Zügen im Sinne einer die Diegese betreffenden Phantastik. Die wahre, erfüllte Liebe geht auf Kosten der anderen Figuren. Helenes verstorbenem Bruder schließt sich die Mutter an, unmittelbar bevor das Happy End sich entfaltet. Und Lady Vere ist erstaunlich sicher in ihrer fatalen Prognose, was das eigene glücklose Leben angeht. Dabei wäre ein Überleben der Mutter und die Heirat Lady Veres innerhalb des Adels ohne Weiteres denkbar. Und doch kontrastieren dem Happy End mit seiner an Eichendorff erinnernden Reise nach Amerika78 das auf Dauer angelegte, freiwillige Unglück und der Tod der Nebenfiguren. Mag dieses Beispiel nur vor dem Hintergrund deutlicherer Ausprägungen des Schemas klar werden, zeigt sich die Struktur beispielhaft in Wilhelm Hein75

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Friedrich Rückert, „Ohne Titel“, in: Ders.: Östliche Rosen. Drei Lesen, Leipzig 1822, S. 305. Friedrich Spielhagen, Clara Vere (1857), Berlin 31867, S. 143. Vgl. Detlef Kremer, Prosa der Romantik, Stuttgart/Weimar 1996, S. 109ff. Man denke an die Schlussszene von Eichendorffs Ahnung und Gegenwart.

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rich Riehls Der Stadtpfeifer (1847). Der künstlerisch ambitionierte Stadtpfeifer Heinrich Kullmann lebt ärmlich mit seiner Frau Christine und Kindern. Die Ermahnung seines Schwiegervaters, ein „Bauer unter den Musikanten“79 zu bleiben, erfüllt er ganz und gar, denn das Virtuosentum bleibt ihm bei allem Üben unerreichbar. Eines Nachts findet er nicht nur Geld für das Brot, das ihm und seiner Frau fehlt, sondern auch einen neugeborenen Jungen, den er zum Virtuosen zu erziehen beschließt. Fortan ist sein musisches Begehren auf Friedrich ausgelagert, und „[e]in Eifer zu arbeiten, zu erwerben glühte in ihm“.80 Mit seinem Ziehsohn lebt er das Musische: „[W]enn er Duette mit seinem Friedrich spielte – und nur dann –, adelte sein Spiel sich wundersam.“81 Der Junge entspricht dabei ganz dem früh verzehrten, kränklichen Künstlertyp; „in geistigem Ringen hatte sich bei ihm die Jugend vertobt“.82 Der Fürst wird auf den Stadtpfeifer und dessen begabten Sohn aufmerksam, lässt sie gemeinsam vorspielen und schickt Friedrich auf seine Kosten zu Joseph Haydn in die Ausbildung. Wann immer Kullmann von den Fortschritten Friedrichs Nachricht bekommt, schaut er sich seine „Geige vergnügt wehmütig an, aber um keinen Preis würde er einen Strich darauf getan haben“.83 An dem Tag, an dem Kullmann vom Fürst als Hofmusiker angestellt wird, erhält er die Nachricht vom Tod Friedrichs. Zwar trauert man zunächst, doch ist bald die Rede vom Altersglück; „[e]in sonniges Alter war den Eheleuten nach so vielen rauhen Jahren bereitet“.84 Die zu Beginn angedeutete Entsagung, Kullmanns Verzicht auf die Künstlerkarriere in Rücksicht auf den Broterwerb, wird unnötig durch das Findelkind. Kullmann hat sich seiner künstlerischen Ambitionen in Friedrich entäußert und ist als Berufsmusiker mit der Musik auf einem lebbaren Intensitätsniveau versöhnt. Friedrichs Tod erscheint weniger als Einschnitt in die Familie denn als Überwindung der inneren Unruhe. An Stelle von Kullmanns Entsagung wird das Defizit auf Friedrich ausgelagert und dieser schließlich entsorgt. Kullmann jedoch hat zuletzt alles, was sich zu Beginn noch auszuschließen und nur auf Kosten der Entsagung zu haben schien, er

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Wilhelm Heinrich Riehl, „Der Stadtpfeifer“, in: Wilhelm Heinrich Riehl. Durch tausend Jahre. Fünfzig kulturgeschichtliche Novellen, Bd. 3, Hans Löwe (Hrsg.), Leipzig (o. J.), S. 123–163, hier S. 127f. Ebd., S. 142. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161.

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ist verdienender Familienvater und Berufsmusiker. Kullmann bestätigt diese Strategie: Als ich den Buben um Gottes Willen aufzog, da ward ich inne, daß mir’s wenigstens gegeben sei, in einem andern zu erwecken, was ich so deutlich in mir fühlte doch nicht von mir geben konnte.85

Und eigentlich weiß er schon zu Beginn, worum es geht: „[D]arum werde ich in dem Buben meinen Frieden finden.“86 Der Verzicht auf das Musische und die Kunst um des eigenen Seelenheils willen ist ein beliebter Topos. So rät der Pate in Kellers Der Narr auf Manegg (1876/77) seinem Schützling Jakob dringend, die Pläne zu einer neuen Manesse’schen Handschrift aufzugeben, und illustriert dies mit der Geschichte des Narren, der in den Fängen der Phantasie sein Kunstschaffen mit Wahnsinn und zuletzt Tod bezahlt. Jakob entsagt in der Folge seinen schriftstellerischen Plänen, und „[d]iese Entsagung vermerkte der Pate, als er im Laufe der Zeit wieder nach dem Freunde sah, mit Wohlgefallen“.87 Und auch Wilhelm Heinrich Riehls Amphion (1856) beschreibt einen solchen Musenverzicht. Der Geigenvirtuose Baronius wird durch eine lehrreiche Farce in einem Wirtshaus von seinem Anspruch befreit, die verlorene orpheische Wirkmacht der Musik wiederzuerlangen. Aus Dankbarkeit, seine Musik wieder als Handwerk genießen zu können, überlässt er den Wirtsleuten eine Abendgage zum Erhalt des Hauses, „worin ich kuriert worden bin“.88 Etwas drastischer gestalten sich die Folgen für den Fall, dass ein solcher oder ähnlicher Verzicht nicht gelingt und das Defizit an Stellvertretern ausagiert wird. Der Tod erweist sich als beliebter Kulminationspunkt solcher Auslagerungen auf andere Figuren, um der Entsagung zu entgehen. Beispielsweise in Theodor Storms Im Schloß (1861–1863), das einen zurückgezogen lebenden ehemaligen Gesandten präsentiert, der mit Personal in Minimalbesetzung sein Gut führt. Seine Tochter Anna und deren kränklicher junger Bruder werden vom jungen Herrn Arnold unterrichtet. Zwar liebt Anna den Lehrer, es kommt jedoch zu keiner Verbindung. Der allgemeine Wunsch sich zu verheiraten aber ist seitdem wach. Erst ein Jahr, nachdem 85 86 87

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Ebd., S. 158. Ebd., S. 151. Gottfried Keller, „Der Narr auf Manegg“, in: Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 6, Walter Morgenthaler [u. a.] (Hrsg.), Basel/Frankfurt am Main, S. 118–144, hier S. 143. Wilhelm Heinrich Riehl, „Amphion“, in: Wilhelm Heinrich Riehl. Durch tausend Jahre. Fünfzig kulturgeschichtliche Novellen, Bd. 2, Hans Löwe (Hrsg.), Leipzig (o. J.), S. 417–442, hier S. 440.

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der Bruder seiner natürlichen poetisch-realistischen Disposition folgt und stirbt, heiratet Anna. Sie wirkt dabei aber nicht glücklich, und auch „die hagere Gestalt des Bräutigams mit dem dünnen Haar und den vielen Orden wollte den Leuten nicht gefallen“.89 Ihre Gefühle für Herrn Arnold sind noch immer wach, werden ihr aber erst im Nachhinein recht bewusst. Tatsächlich sieht sie ihn nach Jahren wieder und beginnt ein Verhältnis mit ihm. Auch diese Verbindung, nicht zuletzt weil sie aus echter Liebe hervorgeht, fordert stellvertretende Tote. Zunächst stirbt das Kind, das Anna inzwischen mit ihrem Mann hat, kurz darauf folgt jener selbst. Letztere Wendung ergibt sich plötzlich und unkommentiert und verlangt umso mehr nach einer im Verfahren liegenden Erklärung. Schließlich hatte Anna nach der Trennung noch einen letzten Brief an ihren Mann geschrieben, um „die Wiederherstellung ihrer Ehe zu versuchen“.90 Fast ein Jahr später bekommt sie die Antwort: Ihre Hände zitterten, als sie das Siegel brach. Einen Augenblick noch, und ein Schrei stieg aus ihrer Brust, wie es dem Erstickenden geschehen mag, wenn ihn plötzlich wieder der frische Strom der Luft berührt. Sie hatte den Tod ihres Mannes gelesen.91

Der Weg ist frei für das Happy End mit Herrn Arnold, im Schlussbild gehen beide „Arm in Arm, zögernd, als müßten sie die Seligkeit jeder Sekunde zurückhalten, die breite Treppe in das obere Stockwerk hinauf.“92 Vor dem verfahrensgeschichtlichen Hintergrund zuerst zelebrierter und später im Scheitern vorgeführter Entsagung fällt zwar die Andeutung des Bruches auch in diesem Happy End auf; die Sakralisierung scheint in ihrer Seligkeit auf Dauer kaum erträglich, und das Zögern im Angesicht der Erfüllung formuliert ein Misstrauen gegen den allzu versöhnlichen Schluss. Und doch bleibt es bei dieser einen Andeutung, sodass zwar ein Sprung im Gefäß erahnbar wird, von einer undichten Stelle aber nicht die Rede sein kann. Vielmehr führt das Narrativ vor, auf welche Kosten ein realistischer Text durchaus zu einem Happy End kommen kann, und zwar indem das Defizit auf Stellvertreter ausgelagert wird. Eine Synopse der Verfahren von gelungener Entsagung respektive Entsorgung bietet Ferdinand von Saars Innocens (1865). Namensgeber der No89

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Theodor Storm, „Im Schloß“, in: Sämtliche Werke in vier Bänden. Gedichte. Novellen. 1848–1867, Bd. 1, Dieter Lohmeier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1987, S. 480–528, hier S. 482. Ebd., S. 524. Ebd., S. 525. Ebd., S. 528.

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velle ist ein junger Geistlicher, der sein Amt in der Wyschehrader Zitadelle im Süden Prags innehat. An die Tochter des Zeugwarts knüpfen sich dabei schnell die Lektionen in Entsagung, aus denen Innocens erfolgreich hervorgeht und sich als ideale poetisch-realistische Figur erweist.93 Naturwissenschaftlich gebildet und als Arzt erprobt, gäbe es für ihn zwar Alternativen zum Zölibat, aber ein großer Schmerz läutert, indem er die Seele zwingt, ihr Tiefstes zu sammeln. Er reift in uns die Erkenntnis, daß nur jenes Glück, welches wir ganz in uns selbst finden, Dauer verspricht […].94

Arthur, ein junger Adeliger, ordnet dieses Credo nicht umsonst direkt richtig ein: „Aus Ihnen spricht der Geist der Entsagung“.95 Denn als Parallelfigur zu Innocens wird an Arthur nicht nur die Alternative zur Entsagung, sondern auch deren oben beschriebene Konsequenz sichtbar. Arthurs innig geliebte junge Braut nämlich stirbt nicht nur bereits im Alter von siebzehn Jahren, sie erweist sich auch als Doppelgängerin jener jungen Frau, der Innocens entsagt. Die Ähnlichkeit ist so frappant, dass die Beisetzung den Geistlichen für einen Moment erschreckt zweifeln lässt, ob es seine eigene unglücklich Geliebte sei, die vor ihm liegt. 93

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Jens Stüben ordnet die Erzählung in die Tradition der Entsagungsliteratur im österreichischen Biedermeier ein und betont einmal mehr die Kontinuität zum Konzept Goethes. Die Lesart des Helden, „der durch den Liebesverzicht seine moralische Integrität wiederherstellt“ (Jens Stüben, „Kommentar“, in: Ferdinand von Saar. Kritische Texte und Deutungen, Bd. 4, Jens Stüben (Hrsg.), Bonn 1986, S. 214), deutet das an, was als Alibi-Kode vorangehend behandelt wurde, bleibt aber letztlich doch eine affirmative Lesart der Verklärungsidee. Entsagung als Überwindung der „Dichotomie von Wirklichkeit und Ideal, Natur und Geist“ (ebd.) deutet das Ziel einer Synthese an, problematisiert diese jedoch nicht, sondern liest Innocens wie auch den Grünen Heinrich und den Nachsommer als Geschichten einer Läuterung „[g]anz ohne bitteren Beigeschmack“ (ebd.). Die Goethe’sche und die biedermeierliche Entsagungstopik erscheinen um Schopenhauer erweitert als „[s]chmerzliche Selbsterkenntnis und die Einsicht in die natürliche Ordnung“ (ebd.), deren Fokus ausschließlich auf der Figur liegt und im Bemühen, eine Goethe-Tradition herzustellen, die verfahrenstechnische Besonderheit der realistischen Entsagung außer Acht lässt. Interessant ist die von Stüben aufgezeigte Fülle von zum Teil wörtlichen Parallelstellen sowohl der Erzählung als auch ihrer Vorarbeit Ein Künstler im Kloster. Eine Skizze (1864) und Storms Immensee (vgl. hierzu auch Mark G. Ward, „Ferdinand von Saar’s Realism“, in: Hurt Bergel (Hrsg.), Ferdinand von Saar. Zehn Studien, Riverside 1995, S. 193–213, hier S. 198f). Ferdinand von Saar, „Innocens“, in: Novellen aus Österreich, Bd. 1, Karl Wagner (Hrsg.), Wien/München 1998, S. 7–55, hier S. 50. Ebd.

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Eine Relativierung steht nicht zur Wahl, die Bedingungen sind für beide Teilnehmer gleich, der Gegenstand des Begehrens tendenziell identisch. Dem von Trauer übermannten Witwer deutet Innocens im Gespräch die erlösende Haltung der Entsagung an. Das Diptychon zeigt so auf der einen Seite Entsorgung und auf der anderen Entsagung. Innocens selbst benennt die beiden Optionen: [Z]weifach wird die Welt überwunden: entweder grausam durch den Tod, der alles Irdische des gleißenden Schimmers entkleidet und Moder und Verwesung bloßlegt, oder schön und herrlich durch den Mut der Entsagung, den Christus gepredigt und auf Golgatha besiegelt.96

Dass letztere als nachhaltiger und eigentlich richtige erscheint, ist deutlich. Der Alibi-Kode des Mythisch-Religiösen wird auch hier im letzten Absatz als Perspektive auf ein Narrativ behauptet, das sich bisher nicht daraus gespeist hat. So kann sich der Erzähler, ein Soldat, dem Innocens seine Geschichte erzählt hat, beim Abschied noch einmal umdrehen und den Lohn der Entsagung betrachten: Hoch oben auf der Plattform stand Innocens und winkte noch einmal zum Abschied. Sein Antlitz schimmerte im Strahl des Mondes, der durch das leichte Gewölk der Frühlingsnacht brach, wie verklärt.97

Von Saars Schloß Kostenitz (1893) und Das Haus Reichegg (1876) spielen in weniger dichotomischem Kontrast ebenfalls Varianten der Entsagung durch, deren Verbindung von Verzicht, Erfüllung und Entsorgung das zweipolige Schema des Innocens zum Panorama erweitert. So handelt Das Haus Reichegg nicht nur vom Ehebruch der Gräfin Reichegg, denn die Tochter Raphaela schwärmt darüber hinaus ebenfalls für den Liebhaber Herrn Röder, tritt aber ob dessen Zurückweisung ins Kloster ein. Das Ergebnis mütterlicher Untreue ist absehbar: Raphaelas Vater, der Graf, stirbt, Röder fällt im Krieg, und die Gräfin wird mit einem neuen Liebhaber gesehen, beide gealtert und verbittert: „Es waren zwei Tote. – –“98 Dem Ergebnis derart wiedergängerischer, lebend Entsorgter folgt die subtilere Auffächerung der Entsagungsthematik zwei Jahrzehnte später in Schloss Kostenitz. Auf jenem Gut lebt abgeschieden der etwa fünfzigjährige Freiherr von Güntersheim mit seiner drei Jahrzehnte jüngeren Gattin Klothilde. Und wenn es heißt: „als dann später die beiden Gatten auf dem Altan standen und in die azurene Nacht emporblickten, da wölbte sich der Himmel 96 97 98

Ebd. S. 53. Ebd. S. 55. Ferdinand von Saar, „Haus Reichegg“, in: Novellen aus Österreich, Bd. 1, Karl Wagner (Hrsg.), Wien/München 1998, S. 163–183, hier S. 182 (Hervorh. i. Orig.).

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mit seinen unzähligen Sternen wirklich über zwei glücklichen Menschen“,99 vermutet man bereits, dass zum Kauf dieses Glücks eine Entsorgung stattgefunden haben muss. Genau so versucht man es auch einzurichten, es bleibt aber der Beigeschmack der Nachträglichkeit. Denn Tante Lotti, die man als Haushälterin auf das Schloss holen will, hat zwar früh ihren Mann verloren und anschließend ihren Sohn, einen „hoffnungsvollen Jüngling“, „in ihren Armen verbluten“100 sehen, aber die Inanspruchnahme dieser Entsorgung durch den Freiherrn und seine Frau kann nicht ganz überzeugen. Die Sphäre der schicksalsgeprüften Tante ist eine fremde, deren Verknüpfung mit der eigenen im Nachhinein, bei längst erreichtem Happy End zur Absicherung geschehen soll. Dementsprechend ist die Szene erfüllter Liebe auch nicht das Ende, und Klothilde ahnt das. Sie ist sich der Hilfestellung bewusst, die die Abgeschiedenheit ihrer Lebensweise für ihre eheliche Treue gibt. Und als die Einquartierung durchreisender Soldaten im Schloss ansteht, fürchtet sie, der Erotik der Uniform nicht gewachsen zu sein. Sie erinnert sich, wie schon als junges Mädchen „ihr Blick dankbar und mit stillem Wohlgefallen auf den kräftigen Gestalten, den wettergebräunten Zügen der Marssöhne“101 gelegen hatte, und fühlt, „daß sie bereits auf dem Wege war, ihrem Gatten in Gedanken untreu zu werden, und deshalb hatte sie auch diesmal das Schloß und seine Abgeschiedenheit doppelt freudig begrüßt“.102 Wie berechtigt aber Klothildes Sorge ist, zeigt sich, als der Rittmeister Graf Poiga-Reuhoff ihr hartnäckig Avancen macht. Es fällt ihr nicht leicht zu widerstehen, und als er versucht sie zu küssen, zögert sie. Zwar gesteht sie alles unmittelbar ihrem Mann, der sich seines Alters bewusst ist und ihr mit Verständnis begegnet, aber Klothilde trägt schwer an ihrem Vergehen. Während der Freiherr dem Grafen um Klothildes willen die Bitte zur unmittelbaren Abreise anträgt („Sie muß vergessen lernen“103 – hier erweist sich erneut die Entsagung als Wille zum Nicht-Wissen), erkrankt diese an einem Hirn- und Nervenfieber, dem sie bald erliegt. Die folgenden Jahre lebt der Freiherr alleine mit Tante Lotti, und als er eines Tages vom Tod des Grafen Poiga-Reuhoff im Gefecht liest, überfällt ihn die Lungenlähmung, man findet ihn tot auf dem Sofa.

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Ferdinand von Saar, „Schloß Kostenitz“, in: Novellen aus Österreich, Bd. 2, Karl Wagner (Hrsg.), Wien/München 1998, S. 233–295, hier S. 246. Ebd., S. 242. Ebd., S. 250. Ebd. Ebd., S. 274 (Hervorh. i. Orig.).

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Kurz gesagt: Wer nicht entsagt, wird entsorgt. So ahnt man, warum das Unglück in Arthur Achleitners Familie Lugmüller (1896) ausdauernd und in allen Formen über die Familie mit dem sprechenden Namen hereinbricht. In die Aneinanderreihung der Unglücksfälle und Schicksalsschläge ist der Werdegang der Tochter Marie verwoben, deren Ambitionen, finanziell vorteilhaft zu heiraten und einen guten Namen zu tragen, sich vor der Folie realistischer Entsagung als prekär erweisen. Zu Beginn auf dem besten Wege, eine ältliche Jungfer zu werden, geht mit ihren hohen Zielen der Ruin der Familie (hauptsächlich betrieben durch den Bruder) einher, bis zuletzt die treue Magd Lisi, die selbst noch ihre Rücklagen in den Erhalt der Familie investiert hatte, in einem bayrischen Armenhaus stirbt. „Niemand folgte dem Sarge“ heißt es ganz werthersch, bevor der Roman mit der Moral schließt: „So geht es, wenn man nicht zu sparen versteht – – – Man weiß hier nichts von Dienstbotenliebe und Treue und vom Schicksal der Familie Lugmüller.“104

VII. Stellvertretende Entsagung Der Entsorgung als aufgezwungenem Defizit steht die stellvertretende Entsagung einer Nebenfigur zur Seite. Einen ebensolchen Ansatz bei bekannter inzestuöser Konstellation stellt Ernst Ecksteins Donna Lucretia (um 1878) vor. Der als Kind entführte Sohn kehrt Jahre später als Verlobter seiner Schwester zurück, allein Donna Lucretia erkennt in ihm den Sohn und sieht sich vor die Wahl gestellt, das Glück ihrer Kinder zu zerstören oder in Sünde zu schweigen. Sie entscheidet sich für Letzteres, wohl wissend, dass dies dem Seelenheil entsagen bedeutet. So stirbt sie wenig später an ihrem Gram, während die Geschwister eine glückliche Ehe führen und einen gesunden Sohn aufziehen. Diesem beschließt der Erzähler einen Besuch abzustatten und ihm die Verhältnisse seiner Eltern zu entdecken, damit Donna Lucretias Opfer der Entsagung nicht umsonst war. „Er ist ein starker Geist, ein philosophischer Freidenker. Die Kunde wird ihn erschüttern, doch nicht zu Boden werfen.“105 So hat sich die Verfehlung ausgewachsen und ist darüber hinaus durch Donna Lucretia gesühnt. In einer stellvertretenden Entsagung wird das Happy End der Hauptfiguren ermöglicht. Ernst Wicherts Erzählung Der Schaktarp. Eine litauische Geschichte (um 1881) koppelt die Entsagung an das Abbüßen einer gesellschaftlichen Schuld, indem zuletzt der kriminelle Vater sterben muss, um das Glück sei104 105

Arthur Achleitner, Familie Lugmüller (1896), Dessau (o. J.), S. 162. Ernst Eckstein, „Donna Lucretia“, in: Ders., Sturmnacht. Neue Novellen. Erster Band, Leipzig 1878, S. 177–201, hier S. 201.

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ner Tochter zu ermöglichen. Diese lebt als Ziehkind bei der wohlhabenden Fischer- und Holzhandelsfamilie Endromeit, in deren Sohn Erik sie sich verliebt. Erik erwidert zwar ihre Liebe, entsagt jedoch einer Verbindung auf Zureden der Mutter und um der Familienehre willen, die er nicht durch den kriminellen Vater versehren will. Letzterer sägt aus Rache am Fischmeister Grünbaum, der ihn viele Male überführt hat, die Stützen von dessen Pfahlhaus an, sodass dieser im Frühjahrstau mit dem Haus im Meer versinkt. Else rettet den Fischmeister, dessen Tochter und deren bis dahin heimlich im Hause verborgenen Liebhaber. Als Elses Vater die Rettungsaktion beobachtet, eilt er zu Hilfe und kommt dabei selbst ums Leben. Erik, als er von einer Geschäftsreise zurückkehrt, erfährt von Elses mit einem Orden ausgezeichneter Heldentat und erhält von der Mutter die Zustimmung zur Heirat. Und auch der gerettete Grünbaum gibt seiner Tochter und ihrem bisher nicht geduldeten Verehrer seinen Segen. Denn die Erzählung hat wie die vorangegangenen Beispiele das, was ein realistisches Happy End braucht: einen stellvertretend Entsagenden. In der Regel sterben wie hier Vater, Mutter, Bruder oder alle gemeinsam. So kann es zuletzt entgegen aller poetisch-realistischen Entsagung heißen: „Um Johanni gab es in Gilge eine lustige Hochzeit.“106 Eine ähnlich deutliche Auslagerung der Entsagung beschreibt Konrad Telmanns Novelle Unheilbar (um 1897). Nach einem Brand, aus dem Rolf Berndt nur eines seiner beiden Kinder sowie seine Frau Käthe retten kann, wird diese nervlich zerrüttet in eine Anstalt eingewiesen. Dabei wird Rolfs Frage, ob ihr Wahnsinn heilbar sei, stets von der Hoffnung begleitet, den Zustand als irreversibel hinnehmen zu müssen. Denn auch die Figur des Rolf Berndt ist über einen Willen zur Entsagung organisiert, der nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lässt: Wie oft haben wir es erleben müssen, daß die von den größten Ärzten aufgegebenen Kranken wieder genasen, daß sie gegen alle wissenschaftlichen Grundsätze von ihrem Siechenbett wieder aufstanden und wandelten.107

Nicht umsonst erinnert diese Beschreibung an Zombies oder ähnliche Untote; „sie lebt und sie ist doch tot“.108 Käthes Genesung wäre dem auf Entsagung setzenden Rolf ein Horrorszenario: [U]nd wenn sie nun doch noch einmal wieder gesund würde! Ist das nicht eine Vorstellung, die den Ruhigsten zum Irrsinn treiben könnte?109 106 107 108 109

Wichert, „Der Schaktarp“, S. 275. Konrad Telmann, Unheilbar, Leipzig (o. J.), S. 9. Ebd., S. 13. Ebd., S. 30.

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Käthe soll nicht tot und überwindbar, sondern sie soll als Frau tot, als geliebtes Wesen aber präsent sein, eben im Schwebezustand der Entsagung. Diesem Konzept entsprechend ist Rolf klar, dass er eine eventuelle neue Frau nicht lieben und die Heirat nur ein Opfer zum Wohl der Tochter Leonie bedeuten würde. Doch kaum beteuert, zerbricht das Vorhaben an Leonies Kinderfrau Asta, der ehemals besten Freundin Käthes, in die sich Rolf verliebt, um sie kurz darauf zu heiraten. Durch einen Brand in der Anstalt und die Wiederholung des traumatischen Erlebnisses geheilt, „als stiege sie aus sich selber heraus, eine andere, eine Wiedererstehende“,110 benutzt Käthe die Verwirrung der Löscharbeiten, um zu entkommen. Zu Hause findet sie Rolf mit neuer Frau und Kleinkind. Im Gebüsch versteckt beobachtet sie die glückliche Familie und hört Leonie von ihrer ‚ersten Mutter‘ sprechen. Dem Kind ist sie „eine Verklärte, die nachts als Schutzengel seinem Lager nahte“.111 Sie kommt sich nicht mehr als eine Ausgestoßene und Verdrängte, sondern wirklich als eine Abgeschiedene, eine Verklärte vor, die nur noch einmal wieder niedergestiegen ist, um zu sehen, ob ihr Andenken auf Erden auch gepflegt und in Ehren gehalten wird. Und wenn sie darüber Gewißheit erhalten hat, kann sie wieder unsichtbar werden, niedertauchen, verwehen.112

Genau das tut sie dann auch, indem sie sich ertränkt und damit ihre stellvertretende Entsagung vollendet. Rolf scheint in diesem Moment „Käthes Gestalt, wie grüßend, über die Felder hin zum Flusse“113 zu schweben. Das Happy End des gelungenen Familienidylls ist weitestmöglich vom Defizitären entfernt, und die Gewährleistung besteht einmal mehr im Muster einer stellvertretenden Entsagung: Und drunten schlossen sich die wirbelnden Flußwellen über einem überflüssig gewordenen Menschenleben. Ende.114

VIII. Desillusionierte Entsagung Eine Alternative zum Happy End durch Entsorgung oder ausgelagerte Entsagung bilden Figurationen scheiternden, weil wirkungslosen Verzichts. Gabriele Reuter kommentiert mit ihrer Novelle Der Lebenskünstler (1897) in typisch spätrealistischer Ernüchterung das Entsagungskonzept. Der Schrift110 111 112 113 114

Ebd., S. 59. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Ebd., S. 100. Ebd.

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steller Bernhard Althaus wünscht sich eine lose Beziehung ohne Ehe und Enge, die ihm Raum für seine Kunst lässt. Zur Verwirklichung seiner Pläne wählt er die Witwe Viola Gerwin aus. Verhält diese sich bei beiderseitiger Neigung zu Beginn noch zurückhaltend, so bemüht sie sich in der Folge um den zunehmend distanzierten Bernhard immer offensiver. Doch es war nicht ohne Bedeutung, daß er von Werken der deutschen Litteratur die Romane ‚Auch Einer‘ und Kellers ‚Grünen Heinrich‘ über alles liebte. Viola las auf seine Empfehlung hin beide Bücher, und dabei überschlich sie ein unbestimmtes Ahnen, daß all ihr Bemühen, diesem Manne irgend eine Art von Glück zu schenken, mit wenig Freude verknüpft sein werde.115

Und sie hat recht; während sie geglaubt hatte, dass ihr „eine ruhige, edle Entsagung nicht schwer fallen dürfte“,116 wird ihr spätestens bei der Heirat Bernhards mit einer anderen Frau bewusst, dass ihr dessen noch immer wache „entsagende Neigung“117 für sie nicht genügt. Das minneähnliche Konzept entsagender, unerfüllter Liebe ist für sie keine Option. Viola zieht nach München und teilt Bernhard mit, dass sie ihm nur so viel gegeben hat, damit er in keiner Ehe finde, was er suche: Und in der Tat ist Bernhards Ehe keine glückliche. Mit dieser Beihilfe zur Entsagung endet die Novelle, deren defizitäres Ende in keiner Weise verklärt wird, sondern das Illusorische der Entsagung als ethisch und ästhetisch erhöhender Kraft entlarvt. Auch Ernst Ecksteins Willibald Menz (1898) beschreibt den Versuch, der Entsagung in Richtung Glück und gelungenes Leben zu entkommen, lässt die Hauptfigur aber zuletzt an ihren Schuldgefühlen scheitern. Willibald Menz, der sich eines Verehrers der jungen Meta von Gasny erwehren muss, obwohl er sich aufgrund fehlenden eigenen Interesses an Meta gar nicht als dessen Konkurrent sieht, beschließt, ein Duell zum pädagogischen Exempel zu nutzen. Menz plant, den eifersüchtigen Leutnant Enkenberg an der Schulter zu treffen und im Anschluss mit dem Mann, für den er aufrichtige Sympathie empfindet, Frieden zu schließen. Enkenberg selbst fehlt, und Menz trifft trotz großer Fertigkeit als Schütze versehentlich tödlich dessen rechtes Auge. Dem folgenden Gerichtsverfahren stellt er sich dankbar und spürt während seiner Haftstrafe „Tag für Tag eine Art innerlichen Genesens und Aufblühens“.118 Als Figur, der die Entsagung im Kleinen bereits geläufig ist, wird Menz eingeführt, als er einige Wochen zurückgezogen auf einem verlassenen Gut eine „fachwissenschaftliche Arbeit über die Zukunft der 115 116 117 118

Gabriele Reuter, Der Lebenskünstler, Berlin 1897, S. 29. Ebd., S. 32. Ebd., S. 73. Ernst Eckstein, Willibald Menz, Stuttgart 1898, S. 32f.

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deutschen Landwirtschaft“119 verfasst. In Haft studiert er „Nationalökonomie und Staatswissenschaft“,120 und als er nach sieben Monaten vorzeitig entlassen wird, wendet er sich wieder der Praxis kleiner, weil zeitweiliger Entsagung zu: Er war entschlossen, wie zur Vollendung seiner frühzeitig unterbrochenen Sühne vorläufig ganz der Arbeit zu leben und die Großstadt mit ihrer lauten Geselligkeit bis auf weiteres zu meiden.121

Auf den Tag genau ein Jahr nach dem unglücklichen Duell begegnet der inzwischen moralisch wiederhergestellte Willibald Menz Meta von Gasny. Diese ist stark verändert, der „frohe, schalkhafte Zug um den kleinen Mund war dem unverkennbaren Ausdruck herber Entsagung gewichen“.122 Die Dreieckskonstellation war keine glücklich aufzulösende gewesen, Enkenberg liebte Meta, diese liebte Willibald, der wiederum Enkenberg gerne als Schützling angenommen hätte und im Übrigen ganz für seine Studien lebte. Der Tod Enkenbergs vermochte somit nicht, das Gleichgewicht zwischen den beiden übrigen Figuren herzustellen. Willibald Menz erkennt, dass er neben dem Tod des Leutnants auch das in Entsagung verwelkende Leben der Meta von Gasny zu verantworten hat. Die längst überwundenen Schuldgefühle kehren wieder, und im Versuch, sich mit Arbeit zu betäuben, beginnt Menz den toten Enkenberg zu halluzinieren, der ihn an seine Seite ruft. Auf einer Zerstreuungsreise nach Rom lernt er Flandrine kennen, die er heiratet, während auch Meta von Gasny sich verlobt, was Menz erleichtert zur Kenntnis nimmt. Aber auch dieser letzte Versuch, die Entsagungsperioden zur Überwindung der Schuld zu nutzen und im Anschluss ein Happy End zu leben, scheitert an der wiederkehrenden Erscheinung Enkenbergs. Dessen schattenhaftes Bild hat eine deutliche Botschaft für Menz: „Es geht nicht!“123 Menz ist verzweifelt. Die gefolterte Seele kannte nur noch den einen Wunsch: Ruhe! Entsühnung! Gnade! Der Zusammenhang der Geschehnisse ging ihm völlig verloren.124

Eine ausgewogene Gleichzeitigkeit von Metonymie und Symbolik, sprich Verklärung, ist nicht mehr möglich, der gefährliche symbolische Kode von Schuld und Fluch aus dem Grab heraus bricht sich komplett Bahn, die Me119 120 121 122 123 124

Ebd., S. 6. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 38. Ebd., S. 80. Ebd.

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tonymie als Gesetz der Kontiguität, als ‚Zusammenhang der Geschehnisse‘ geht völlig verloren. Willibald skizziert auf wenigen Blättern sein Leben und tötet sich im Anschluss mit einem Schuss ins rechte Auge.

IX. Reflexionen über Entsagungsstrategien Die nüchterne bis bittere Beleuchtung von Entsagung und trotzdem scheiternder Verklärung, die der Spätrealismus inszeniert, wird flankiert von einer Distanzierung vom Konzept auf poetologischer Ebene. So spielen die Figuren in Fontanes Mathilde Möhring (1891–1896) unmittelbar auf das Versäumnis einer stellvertretenden Entsagung an. Nachdem Mathildes Mann Hugo, in dessen Charakterbildung und Karriere die Protagonistin jahrelangen Aufwand investiert hat, an Lungenentzündung stirbt, bringt die stets verzagte, weinerliche Mutter Mathildes einen Gedanken zum Ausdruck, der einem Schuldgeständnis ähnelt: „Mutter, weine nur nich gleich. Jeder kommt ran.“ „Ja, bloß der eine zu früh und der andre zu spät. Wenn ich doch rangekommen wäre.“125

Diese Beileidsgeste ließe sich leicht als Floskel überlesen – wenn nicht das Motiv des versäumten Opfers seitens der Mutter im Text rekurrent wäre. Nachdem Mathilde mit Hugo nach Woldenstein gezogen ist, bleibt Mathildes Mutter in Berlin zurück. In Sorge um ihre Zukunft beklagt sie, dass die Familiengründung die Ersparnisse verbraucht habe, obwohl es sich von vornherein um Mathildes eigenes Geld handelte, wie Mathilde mehrmals klarstellt: „Als ob sie sich geopfert und mir mit ihrem Sparkassenbuch, was doch mein war, mein Glück bereitet hätte.“126 Die Erzählung kommentiert auf poetologischer Ebene, dass Mathildes Mutter die Position der stellvertretend Entsagenden innehat, deren Erfüllung aber versäumt. Dementsprechend entsagt zuletzt Mathilde demonstrativ; gegen den Wunsch der Mutter bleibt sie unverheiratet und lehnt es ab, ihren Mädchennamen wieder anzunehmen: „Ich bin kein Fräulein und habe meinen Stolz als Witwe“.127 Sie macht ein glänzendes Examen als Lehrerin und versorgt sich und die Mutter. 125

126 127

Theodor Fontane, „Mathilde Möhring“, in: Werke, Schriften und Briefe, Abteilung I: Sämtliche Romane. Erzählungen, Gedichte. Nachgelassenes, Bd. 4, Walter Keitel/Helmuth Nürnberger (Hrsg.), „Mathilde Möhring“, Gotthard Erler (Hrsg.), München 1974, S. 577–676, hier S. 668. Ebd., S. 663. Ebd., S. 675.

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Einen anderen poetologischen Zugang entwirft Wilhelm Heinrich Riehl mit seinem Konzept vom ‚Erzählen am Feierabend‘.128 Die Novelle Abendfrieden (um 1888) zeigt den Erzähler als Schuljungen, der seine Kameraden so lange mit aus dem Stegreif erdachten Geschichten unterhält, bis er versehentlich erwähnt, dass er nicht Gedrucktes wiedergibt, sondern selbst erfindet. Bei den Mitschülern fällt er in Ungnade, trifft kurz darauf aber persönlich den alten Walter Scott, dessen Werk er in Folge zu lesen beginnt. Mit dem Nacherzählen dieser nachweislich gedruckten Geschichten wird er wieder in den Kreis seiner Schulkameraden aufgenommen und beschließt, später selbst Schriftsteller zu werden. Die pseudologische Beglaubigungsstruktur von Narration über deren schriftliche Fixierung führt zugleich die Forderung nach Metonymisierung sowie deren Entlarvung als Geste vor. Erzählen als flüchtiges Phantasma findet seine Erdung zwar darin, irgendwo tatsächlich aufgeschrieben zu sein, das Problem ist damit aber lediglich verlagert. Denn der Wissenshorizont des neunzehnten Jahrhunderts verfügt über keinerlei postmoderne Intertextualitäts- oder Diskurstheorie, sodass aus Sicht des Erzähldiskurses davon auszugehen ist, dass mit jeder neuen vorgeschalteten schriftlichen Quelle das ursprüngliche Phantasma nur um eine Stelle nach hinten verschoben wird. Es bleibt jedoch unvermeidbar, also beschließt der Erzähler, selbst Schriftsteller zu werden. Symbolisierung und Metonymisierung werden typisch realistisch angebracht und zuletzt synchronisiert. Dabei sind aber weder Entsagung noch Verklärung beteiligt; vielmehr führt die Erzählung vor, dass Wahrhaftigkeit und Beliebtheit des Narrativs weniger von dessen Wesenhaftigkeit (also Poetik) als vielmehr von seiner außerliterarischen Vermittlung, d. h. Marketingstrategie abhängen. Metonymisierung erscheint als produktionsästhetische Geste der Verharmlosung unvermeidbarer Anteile am Symbolischen wie Inspiration und Phantasie. Noch in der Hochphase des Poetischen Realismus hatte Ernst Eckstein diesen Mechanismus ebenfalls erkannt und mit Arzt und Autor (1875) ein gutes Jahrzehnt früher dieselbe poetologische Diagnose gestellt. Der Autor Otto ist ebenso erfolglos wie der befreundete Arzt Edgar, bis sie sich auf den Rat ihres Dieners hin medienwirksam zu inszenieren lernen. In der Presse lassen sie die Nachricht von Ottos mysteriösem Tod verbreiten, er sei unter

128

Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl, „Abendfrieden. Eine Novelle als Vorrede“, in: Ders., Durch tausend Jahre. Fünfzig kulturgeschichtliche Novellen, Bd. 1, Hans Löwe (Hrsg.), Leipzig [o. J.], S. 5–25, hier S. 25.

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dem Ansturm der Musen tot zusammengebrochen, kein Arzt habe mehr helfen können. Daraufhin werden wichtige Kritiker auf Otto aufmerksam und übertreffen einander in Lobeshymnen, sodass seine Werke Höchstauflagen erreichen. Schließlich lässt der Diener Ottos einen Brief in der Zeitung drucken, der beschreibt, wie nach festgestelltem Tod einzig ein junger Arzt, nämlich Edgar, über das hervorragende Fachwissen verfügte, um Otto wieder zu Leben und Gesundheit zu verhelfen. Auch Edgars Praxis ist seitdem aus nachvollziehbaren Gründen gut frequentiert. Dass die Literaturkritik nach Ottos vermeintlichem Tod Hinweise auf dessen baldiges Ende aus seinen Texten philologisch ableitet, entwirft eine Sinndimension von Text, die sich erst aus einer metaphorisch überhöhten Wirklichkeit ableiten lässt. Getreu dem Motto ‚mundus vult decipi‘ sind es auch bei Eckstein die außerliterarischen Begleitumstände, die über den Erfolg des Textes entscheiden. Wie Riehl das metonymische Moment, so beschreibt Eckstein das metaphorische als dem Text äußerliche Geste der Präsentation. Gemeinsam ist die Reflexion auf das Kippmodell als Verfahren, dessen Pole keine hehren Wahrheiten mehr kodieren, sondern eine beliebte, erfolgreiche Masche ermöglichen. Dementsprechend fasst Riehl sein Konzept vom ‚Erzählen am Feierabend‘ zusammen: Im ernsten Tagewerk scheue ich den Kampf nicht; in der Novelle suche ich den rein und heiter abgeschlossenen Stoff, das still anregende, nicht das wild aufregende Spiel des Lebens, und mir dünkt, eben wenn die Kämpfe des Menschenherzens vor den Sinnen des Hörers am heißesten entbrennen, dann soll er doch in Ton und Stimme des Erzählers schon die kommende Versöhnung ahnen.129

„[W]eil ich des Vergnügens in Frieden zu erzählen nicht entbehren will und weil ein jeder seinen Feierabend nach seiner Weise haben darf“,130 wendet sich dieses Erzählen von Entsagung und Verklärung ab zugunsten einer Offenlegung seiner Verfahren. Der Attraktionswert liegt nicht länger in der Beglaubigung eines letzten möglichen Metakodes im Zuge von Entsagung, sondern Symbolisierung und Metonymisierung werden erzählhandwerklich beschrieben und bewusst vom intradiegetischen Zusammenhang der in den Erzählungen vorkommenden Texte gelöst. Dass es der Wirksamkeit stellvertretender Entsagung keinen Abbruch tut, wenn sie auch von den Figuren als Methode durchschaut und planvoll herbeigeführt wird, zeigt Ernst Ecksteins Die Sturmnacht (1878). Zu Besuch auf dem Schloss seines Studienfreundes Erich von Lorm bietet sich dem Ich-Erzähler ein knapp vor der Grenze zum Parodistischen angelegtes Bild eines 129 130

Ebd. Ebd.

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„Familienzirkel[s] […] wie er schöner und glücklicher nicht gedacht werden konnte“.131 In der titelgebenden Sturmnacht dann erklärt der Hausherr seinem Besucher die Architektur dieses Glücks: Die erstgeborene Tochter nämlich kam mit missgestalteten Beinen zur Welt. Nachdem die Mutter zunächst in Ohnmacht fällt, entfächert sich vor den Eheleuten der Ausblick auf ein Leben allseitiger Entsagung, sowohl eigener als auch der der Tochter. Dem Fehlen einer repräsentativen Tochter und der fortwährenden Pflege stehen die leidvollen Entbehrungen der Verkrüppelten in ihrem eigenen Leben zur Seite, das erkennt besonders die Mutter: „[I]n welche Zukunft habe ich geblickt, in welches Leben der Qual und Entsagung!“132 Die Geburt der folgenden gesunden Kinder macht die Existenz der behinderten Tochter nur noch unerträglicher. „Mit wollüstigem Grausen vertiefte sie sich in die Schrecknisse eines Gemüths, dem keine Erlösung winkt als der Tod.“133 Während die Mutter eine Freundin in der Hauptstadt besucht, bekommt Marie – „so hatten wir die kleine Dulderin getauft, nach der heiligen Mutter der Leiden und der Entsagung“134 – Fieber. Von Lorm ergreift die Gelegenheit und gibt ihr den gesamten Vorrat des morphiumhaltigen Medikaments auf einmal, aus Liebe will er ihr ein Leben in Entsagung ersparen. Sie stirbt, und der Weg ist frei zur Verklärung, die Erinnerung an Marie wird zum „religiösen Cultus“.135 Frau von Lorm weiß nichts vom euthanasischen Eingreifen ihres Mannes, und dieser hat ein reines Gewissen. Am Morgen nach der Beichte der Sturmnacht reitet die ganze prächtige Gesellschaft, ein Ausbund des jugendlich Schönen, Ausgelassenen und Gesunden, durch den Wald. Als ein missgestalteter Bettler um ein Almosen bittet, sehen sich von Lorm und der Erzähler an: „Wir verstanden uns.“136 Und doch vermag die Selbstlosigkeit der Tat nicht ganz zu überzeugen, es ist neben Maries Entsagung auch die eigene, vor der die Eheleute zurückschrecken. Das behinderte Kind, von dem es heißt, dass sein restlicher Körper umso schöner sei, und in dessen Pflege die perfekte poetisch-realistische Entsagungsstruktur hätte verwirklicht werden können, wird ganz strategisch zum stellvertretenden Entsager gemacht. Die angebotene Entsagung ist

131

132 133 134 135 136

Ernst Eckstein, „Die Sturmnacht“, in: Ders., Sturmnacht. Neue Novellen, Bd. 1, Leipzig 1878, S. 1–48, hier S. 13. Ebd., S. 29. Ebd., S. 29f. Ebd., S. 33. Ebd., S. 37. Ebd., S. 47.

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nicht erwünscht, stattdessen wird die zeitweilige Pseudoentsagung eines Verzichts auf die Tochter inszeniert, um unmittelbar zum Happy End vorzuschreiten, das sich in einem ungebrochenen Setting überzeichneten Familienglücks andeutet. Das Idealergebnis rückt vor dem Hintergrund der zweifelhaften Ethik in die Nähe parodistischer Überhöhung und zeigt die Mechanismen der Entsagung und der Verklärung einmal mehr aus poetologisch reflektiertem Abstand. Die Reflexion auf Entsagung und Entsorgung beschreibt die poetischrealistische Verklärung als Auslaufmodell. An Texten der Jahrhundertwende, die an diesem Diskurs teilhaben, deuten sich Versuche erzählerischer Modernität an, die vor allem der Sollbruchstelle nicht mehr glaubhafter Verklärung geschuldet sind. So gibt Paul Lindaus Roman Hängendes Moos (1897) im letzten der achtzehn Kapitel die auktoriale Erzählhaltung abrupt auf, um unvermittelt ich-fokalisiert aus der Sicht eines Dritten das Geschehen als Binnenerzählung zu perspektivieren. Dieses nachträglich gerahmte Narrativ beschreibt – verfahrenstechnisch gesprochen – die Abkehr Martha Breuers, eines jungen kränklichen Mädchens, vom Zustand natürlicher Entsagung und ihre darauf folgende Entsorgung. Bis mit Hugo Hall die Verlockung einer partnerschaftlichen Bindung ihre Überzeugungen hinterfragt, war Martha „nie eingefallen, daß sie ein Weib sei und geliebt werden könne“.137 Die Verlobung, von Hugos Seite halb aus Höflichkeit, halb aus Verlegenheit eingegangen, markiert den Beginn eines Entsorgungsprozesses um Fieber und Bluthusten, den Martha selbst mit einem „Lächeln von unendlicher Traurigkeit“138 beobachtet. Ihr Verlobter nämlich ist der gesellschaftlich begehrten Leonie Welsheim verfallen, deren ebenso wohlhabender wie argloser Gatte Felix das Verhältnis für Freundschaft hält und Hugos dichterische Gehversuche protegieren hilft. Leonies und Hugos Gefühle füreinander als keusche Entsagungsliebe zu inszenieren, scheitert an Eifersucht und der Frage, wie der Umgang miteinander in der Öffentlichkeit zu gestalten sei. Am Premierenabend von Hugos Erstling, einem durchschlagenden Erfolg, kommt es zum endgültigen Bruch. Martha weiß längst von Hugos Verhältnis und löst die Verbindung von sich aus. Hugo selbst bereut seine Verirrung inzwischen, ihm scheint „die duldende, still klagende und still tragende Martha in ihrer Jungfräulichkeit und keuschen Reinheit wie eine verklärte Heilige“.139 Er eilt an ihr Kran137 138 139

Paul Lindau, Hängendes Moos, Breslau 1897, S. 21. Ebd., S. 59. Ebd., S. 252.

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kenbett, aber nur um Zeuge eines letzten heftigen Anfalls zu werden, der Martha Blut husten lässt, bis sie stirbt. Die darauf folgende Szene sei vollständig zitiert, das Kippmodell nämlich wird hier nicht nur in aller Deutlichkeit, sondern auch mit klaren Abnutzungserscheinungen präsentiert. Metaphorisierung und Verklärung werden zweimal angesetzt, scheinen aber erst im letzten Moment zu gelingen: Sie hatte ausgerungen und war in Freuden gestorben. Der westliche Himmel flammte tiefroth im Lichte der scheidenden Octobersonne, und der mattgoldige Wiederschein fiel durch das schräge Fenster auf Marthas Lager und überhauchte die Tote mit einem wundersamen Schimmer. Als aber das Abendroth erstarb, flößte die wachsähnliche schreckliche Blässe des Gesichts der trauernden Mutter, von der sich Lohausen soeben mit Thränen im Auge verabschiedet hatte, und deren Mienen wieder zu finsterer Ausdruckslosigkeit erstarrt waren, und dem bleichen Geliebten, der die Hand der Mutter fest in der seinigen hielt, Grausen ein. Aber der Ausdruck des entsetzlich blassen Gesichts war so glückselig, so friedfertig, so völlig mit Allem versöhnt, daß die Beiden, die da Hand in Hand neben der Leiche saßen, das Gefühl des Grausigen bald überwanden und mit tiefster Wehmuth, mit lindernder Rührung, im Schmerze vereint, unablässig auf das wundersam ruhige, von allem Jammer befreite, verklärte Antlitz der Entschlafenen blickten.140

Hier wird ein Verfahren inspiziert, das, für nicht mehr gut befunden, verabschiedet und zusammen mit der Erzählhaltung aufgegeben wird. Im letzten Kapitel verlagert sich die Perspektive in ein diegetisches Außerhalb, von wo aus das Geschehen um Martha, Hugo und Leonie als Narrativ und als Kombination erzählerischer Verfahren sichtbar wird. Auf einer Bahnreise durch die Vereinigten Staaten beschert ein Maschinenschaden dem Erzähler die Muße zur Erkundung der Umgebung. In einer Waldung aus „vom hängenden Moos umfangenen Baumleichen“141 stößt er auf das Haus eines Einsiedlers, den er bald als jenen Hugo Hall erkennt, der dem Leser als Hauptakteur der vorangehenden Kapitel bekannt ist. Ein raabesker „Sonderling“,142 lebt er ganz seinem „Vereinsamungstrieb“,143 den er selbst psychologisch erklärt: 140 141

142 143

Ebd., S. 262. Ebd., S. 274. Das hängende Moos ist leitmotivisch mit dem ehemaligen Botaniker Hugo Hall verknüpft, sodass der Raum ihm symbolisch zugeordnet wird. Zu Beginn hatte Hugo Leonie noch erklärt, dass der Wirt unter dem hängenden Moos üblicherweise absterbe – die allegorische Ebene des Leitmotivs kommt somit zum Schluss erst ganz zum Tragen. Ebd., S. 277. Ebd.

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„Ja, aber was treiben sie denn die ganze Zeit hier, wenn ich fragen darf ? […]“ „Was ich treibe? Ich denke mir mancherlei und verdaue.“144

Mit der Fokalisierung, der Verengung des Blickwinkels auf die erste Person wird buchstäblich der Anspruch auf eine ganzheitliche, weil überindividuelle Perspektive aufgegeben. Ein verbindlicher Metakode würde sich in Ich-Form vergeblich um Glaubwürdigkeit bemühen, und so tut das realistische Erzählen das einzig Sinnvolle und tritt aus seinem Narrativ heraus in den Bereich des Extradiegetischen. Die Verklärung ist endgültig gescheitert, sie wird selbst zum Stoff: Um Hugo Hall, den ich auch flüchtig kennen gelernt habe, hat sich nämlich nach dessen spurlosem Verschwinden ein wahrer Sagenkreis gebildet. Die einen haben ihn in die weite Welt, die anderen in das enge Kloster geschickt, wieder Andere haben ihn begraben.145

Man braucht nicht allzu viel guten Willen, um hier in nuce genau jene Motive zu erkennen, die im Vorangegangenen als Figurationen von Entsagung respektive Entsorgung beschrieben wurden. Deren Verhandlung wird hier geschlossen. Der Erzähldiskurs wechselt auf eine Ebene, von der aus Entsagung und Verklärung als Erzählverfahren erkannt und nicht länger authentisch als Verfasstheit von Wirklichkeit gesehen werden können. „Und er erzählte mir die Geschichte seiner Liebe zu Leonie und seines an Martha verübten Treubruchs“, heißt es, „die ich frei nacherzählt habe“.146

X. Überwindung der Entsagung Der tatsächliche Sieg über die Entsagung ist der für die Protagonisten glücklichste Fall – und es gibt ihn. In Erzählungen nämlich, die das Konzept erproben und daraufhin verabschieden, indem es auf seinen begrifflichen Kern, die Freiwilligkeit, zurückgeführt wird. Die Abmilderung der moralischen und religiösen Last stuft die Entsagung zur Option zurück, eine fakultative Lebensweise, der sich die Figuren probierend oder instrumentalisierend bedienen, um zuletzt das Happy End ohne Wegzoll in Form von Entsorgung zu erreichen. So zum Beispiel in Ernst Ecksteins Nervös (um 1888). Rechtsanwalt Hugo Cellarius leidet unter nervösen Phasen und Schlaflosigkeit, seine bis zur tagelangen Arbeitsunfähigkeit sich auswachsende Launenhaftigkeit ist auch seiner Frau Lore eine schwere Bürde. Ein befreundeter Arzt hört beide einzeln an und sagt jedem, der jeweils andere 144 145 146

Ebd., S. 276. Ebd., S. 281. Ebd., S. 285.

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leide unter einer gefährlichen Form nervlicher Überreizung, die bei fehlender Rücksichtnahme zum Tod führe. Mit diesem verhaltenstherapeutischen Coaching entlässt er seine Patienten in den angeordneten Urlaub, der aus einem Miteinander reinster Nachsicht und Gelassenheit besteht. Das Paar findet in der Entsagung der eigenen Bedürfnisse und Launen wieder zueinander, und als man schließlich die List des Doktors entdeckt, lobt man diese erheitert, denn die Wirkung hat Hugos und Lores Ehe gerettet. Die Entsagung wird hier nicht als Endzustand beschrieben, sondern als zeitweilige Stütze, deren Überwindung in das harmonische Happy End führt. Dass die Versöhnung unter dem Vorzeichen Goethes steht, wird dabei direkt angesprochen: „So ward denn die Kunst, wie bei der Goethe’schen Bajadere, allmählich Natur.“147 Kunst und Natur meinen in Goethes Der Gott und die Bajadere käufliche Liebe und im Akt sich entwickelnde wahre Zuneigung. Bezeichnend ist aber, dass hier Goethe ausgerechnet mit einer Ballade zitiert wird, deren Einordnung in ein klassizistisches Paradigma die Forschung hartnäckig verweigert. Die Geschichte von Shiva, der in Menschengestalt die Liebe einer Prostituierten gewinnt, lässt sich dementsprechend auch eher unklassisch als der Bericht einer überwundenen Entsagung lesen. Als Shiva nach der Liebesnacht seinen Tod vortäuscht, lässt sich die Bajadere aus Liebe lebendig mit ihm verbrennen. Dieses Opfer der Witwenverbrennung führt aber gerade in die himmlische Vereinigung, da der Gott in ihr Reue und edle Gesinnung erkennt: „Unsterbliche heben verlorene Kinder / Mit feurigen Armen zum Himmel empor“.148 Entsagung und Selbstaufgabe führen hier zwar zur Verklärung, aber nicht im Sinne einer Ästhetik des Defizitären, sondern in Form von Erfüllung. Der Protagonist in Ecksteins Novelle Die Zwillinge (um 1878) wiederum entsagt gar im Namen Kants. Der Privatdozent für Philosophie verliebt sich in Anna, die Tochter seiner Wirtin, da sein Vermögen aber nicht zur Eheund Hausstandsgründung reicht, beruft er sich auf Kant und den „Trug des principii individuationis“.149 „Die Vielheit ist Schein!“ rief ich mir zu. „Das Ding an sich ist nur Eins! Streife den Schleier der Maja zurück, und du wirst finden, daß ihr beide, Anna und du, nur zwei verschiedene Darstellungsformen eines und desselben Wesens seid! Anna ist du und du bist Anna! Wie kann das Ding an sich Sehnsucht nach sich selbst haben?“150 147 148

149 150

Ernst Eckstein, Nervös. Die Zwillinge. Zwei Novellen, Leipzig (o. J.), S. 39. Johann Wolfgang Goethe, „Der Gott und die Bajadere“, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abteilung, Bd. I: Gedichte 1756–1799, Karl Eibl (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1987, S. 692–695, hier S. 695 (Verse 36 und 37). Eckstein, Nervös. Die Zwillinge, S. 52. Ebd., S. 58f.

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Auf dieser Grundlage fügt sich der namenlos bleibende Ich-Erzähler in den „Wehrmutstrank der Entsagung“,151 dessen Bitterkeit vom Stolz über die edle Haltung überlagert wird: Langsam richtete ich mich empor, wie ein Mensch, der alles irdische Verlangen abgestreift und den Entschluß gefaßt hat, fürderhin nur noch die Rolle des asketischen Weisen zu spielen.152

Die Verheiratung mit einer Frau ist dabei aber durchaus geplant, allerdings nicht als Gefühlsentscheidung, sondern im Dienste der Wissenschaft – „mit einem Wort im heiligen Dienste der Idee“.153 Das ‚principium individuationis‘ jedoch spielt dem Philosophen böse mit, als er zur Durchführung dieses Plans eine junge Frau auswählt, den Antrag aber deren Zwillingsschwester macht. Erwartungsgemäß fällt er in Ungnade und kehrt in seine Wohnung zurück. Als er Annas Schatten am Fenster sieht, wird er sich seiner Gefühle umso stärker bewusst und stimmt ein letztes Mal das Lied der Entsagung an. Doch schon im Moment zuvor heißt es, er sei „[g]eläutert“,154 und so hält der erneute Wille zur Entsagung nur eine Treppe lang für den Weg in die Wohnung. Dort findet er die Nachricht über seine Ernennung zum ordentlichen Professor und damit die Nichtigkeit seiner Geldsorgen. Der Schlusssatz deutet das inzwischen bekannte Happy End an: „[D]as muß ich doch gleich meiner Anna zeigen!“155 Und auch Ecksteins Das Kind (1893) spielt Entsagungskonzepte durch, um diese zuletzt zu überwinden: Die unglücklich verheiratete Gräfin Adele lernt den jungen Leo von Solmsdorff kennen und lieben. Als Leo die gräfliche Tochter Josefa vor einem angreifenden Hirsch rettet, wird er schwer verletzt. Nicht zuletzt nach Leos aufopferungsvoller Tat liebt Adele ihn umso mehr. Zum Wohle des Kindes aber entsagt sie, um „in Demut und Schweigsamkeit ihre Pflicht“156 als Ehefrau und Mutter zu tun. Und Leo pflichtet ihr still bei: „‚Entsage ihr!‘ klang es durch sein Gemüt“.157 Leos Wesen scheint Adele seit dem Unfall „in Milde – sie hätte fast sagen mögen: in kindliche Sanftmut – umgewandelt. Der Klang seines Organs hatte jetzt Modulationen, deren schmeichelnde Art sie fast an Josefa erin-

151 152 153 154 155 156 157

Ebd., S. 57. Ebd. Ebd., S. 65. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Ernst Eckstein, Das Kind, Stuttgart 1893, S. 29. Ebd., S. 55.

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nerte“.158 Und hier deutet sich bereits die Lösung an: die Sublimierung der partnerschaftlichen Liebe auf eine Art lebendigen Fetisch, nämlich Josefa. So wird die verbotene Liebe wieder keusch, und Leo, Adele und Josefa fallen in eine Kategorie. Man schließt einen regelrechten Sublimationsbund: Lassen Sie uns die Sehnsucht, der wir nicht folgen dürfen, mutig in einer Empfindung begraben, die heilig und selbstlos ist: in der gemeinsamen Liebe zu ihrer Josefa!159

In Leo jedoch regt sich unterschwellig Groll gegen Josefa als das vermeintliche Hindernis ihrer erfüllten Liebe, sodass er ihr nicht zu Hilfe kommt, als sie im See ertrinkt. Adele ahnt nichts von Leos unterlassener Hilfeleistung, und nachdem beide sich noch in Entsagung üben (Adele beruft sich auf Kants Schreiben aus dem Jahre 1797: Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu seyn), kommt ihnen ein poetisch-realistischer Todesfall zu Hilfe: Am Heiligen Abend ( ! ) wird Adeles Mann beim Versuch, in Eile die Schienen zu überqueren, um pünktlich zu Hause zu sein, vom Zug überfahren. Eigentlich ist nun genügend Personal verstorben, und nach einer Weile der Trauer heiraten Leo und Adele auch tatsächlich. Adele aber erfährt schließlich doch noch von Leos Untätigkeit während Josefas Unglück und verlässt ihn. Zwei Jahre später aber besinnt sie sich, und das Happy End tritt dauerhaft ein. Die Verzögerung gilt beiden als Abschluss der Entsagung, die mit der letztlichen Versöhnung überwunden ist; man will „die beiden verlorenen Jahre hinnehmen, wie eine Zeit der Läuterung!“160 In Heyses Beppe der Sternseher (1877) schließlich treffen sich mehrere der beschriebenen Motive, es geht sowohl um stellvertretende Entsagung und deren Überwindung als auch um Geschwisterliebe. Als der stets schweigsame grimmige Beppe seiner Tochter Beppina den Umgang mit ihrem ersten Verehrer verbietet, entwickelt diese einen Hass auf ihren Vater, den nur die Mutter Gioconda zerstreuen kann, indem sie Beppes Beweggründe erklärt. Beppina nämlich ist das uneheliche Kind eines früheren Liebhabers der Mutter, der diese schwanger verlassen hat. Beppe heiratete daraufhin aus ehrlicher Liebe Gioconda und nahm auch die Tochter Beppina als seine eigene an. Deren Liebhaber aber ist der Sohn eben des Mannes, der das Verhältnis mit der Mutter hatte, aus dem Beppina hervorgegangen ist – also ihr Bruder. Nun versteht Beppina ihren Vater, und ihr Hass verwandelt sich in Dankbarkeit. Hatte sie bei Verhängung des Hausarrestes hinsichtlich ihres Verehrers noch geschwo158 159 160

Ebd., S. 38. Ebd., S. 64. Ebd., S. 158.

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ren „nie werde ich ihm entsagen!“,161 ist diese Notwendigkeit nun nicht mehr gegeben, die unnatürliche Verbindung liegt gar nicht mehr in ihrem Interesse. Aber die Entdeckungen der Mutter lassen ihre Familie in einem anderen Licht erscheinen. Beppina geht in ein Kloster, denn sie ist sicher, auch wenn Beppe seiner Frau verziehen habe, werde er durch die Tochter doch immer an das Unglück erinnert, und es könne in Beppinas Gegenwart kein Glück im Hause einkehren. In ihrer Abwesenheit bekommen die Eltern zuletzt tatsächlich ein eigenes Kind, die kleine Giocondina; Beppes Gemüt wird heiter, und die Ehe ist fortan eine glückliche. Und nach einem Probejahr kehrt Beppina nach Hause und in die Welt zurück. Erneut liegt die Lösung in einer strategischen Anwendung der Entsagung. Diese erscheint einmal mehr nicht als Endzustand, sondern als Rezept für ein Happy End, das von der Entsagung gelöst besteht und alle Figuren in die Welt zurückführt. Noch deutlicher werden Verklärung und Entsagung verabschiedet in Heyses Novelle Der verkaufte Gesang (1881). Verklärung wird über ein Generationenmodell als Anachronismus ausgemustert, denn der Vater der beiden Protagonisten, der „verklärte Ritter“,162 der seinerzeit heikle politische Lyrik verfasst hatte, stirbt direkt zu Beginn. Über die Traditionsfolge des „verklärten Erzeugers“163 entscheiden die Brüder per Losverfahren – wen der gemeinsame Hund zuerst anspringt, wird als Zeichen vereinbart, wer die Burg behalten und wer sein Leben als reisender Dichter verbringen wird. Als sich im Laufe der Zeit herausstellt, dass für jeden der beiden die zugeteilte Lebensform Entbehrung bedeutet, einigt man sich, den Losentscheid aufzuheben und die eigentlich gewünschte Zuordnung vorzunehmen. Eine Entsagung wäre hier bestenfalls noch bezüglich der ungeliebten, falsch zugeteilten Seinsweisen zu erkennen, im Vordergrund jedoch steht der wechselseitige Rücktritt von einer Konvention, die einem erfüllten Leben zu entsagen bedeutet hätte.

XI. Fazit Dem Realismus stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, das Konzept der Entsagung in seine Narrative einzubauen. So wird schließlich auch die glückliche zweite Ehe in Fontanes L’Adultera erklärbar, die sich 161

162

163

Paul Heyse, „Beppe der Sternseher“, in: Ders., Gesammelte Werke, Erste Reihe, Bd. 3, Stuttgart/Berlin (o. J.), S. 566–601, hier S. 581. Paul Heyse, „Der verkaufte Gesang“, in: Ders., Gesammelte Werke, Dritte Reihe, Bd. 3, Stuttgart/Berlin [o. J.], S. 220–252, hier S. 221. Ebd., S. 225.

Entsagung im Poetischen Realismus Motiv, Verfahren, Variation

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durch die Entsagung der Kinder aus erster Ehe finanziert. Diese trennen sich von ihrer Mutter, die inzwischen mit dem zweiten Mann ein weiteres Kind hat und sich in die Entscheidung fügt. Auch der Nachsommer verhandelt Entsagung, ohne auf ein Happy End zu verzichten. Heinrich und Natalie profitieren von der Auslagerung der Entsagung auf die Elterngeneration. Weil der ‚Gastfreund‘ Freiherr von Risach und dessen Jugendliebe trotz später Versöhnung der Ehe entsagen, besteht für die Folgegeneration keine Notwendigkeit mehr zum Verzicht.164 Gottfried Kellers Hadlaub führt die identische Konstellation noch pointierter vor: Die Eltern der jungen Fides haben sich „Entsagung […] unverbrüchlich auferlegt“165 und leben enthaltsam als Bischof respektive Äbtissin. Ihre Tochter erscheint Johannes Hadlaub stellvertretend verklärt, „wie von einem goldenen Lichte umflossen, da sie nicht glücklich zu sein schien“.166 Nach verschiedenen standesbedingten Schwierigkeiten finden Fides und Johannes zueinander und heiraten zeitgleich mit einer ebenso überraschend wie dramaturgisch unmotiviert die Ehe schließenden alten Tante. Die Äbtissin ist nicht umsonst „froh, daß das Kind und sie selbst damit zur Ruhe“167 kommt, denn trotz Verteilung auf die Generationen hat die Äbtissin Teil an Fides’ Glück und diese an der Entsagung ihrer Mutter. Noch kurz vor der Eheschließung hatte Fides allein auf der Burg gewohnt, „einsam, wie einst ihre Mutter“.168 Und auch Wenzel Strapinskis spätes Glück in Kellers Kleider machen Leute wird verständlich, denn entsprechend dem Modell überwundener Entsagung hat er seinen Verzicht bereits geleistet: „in halber Kindheit noch, habe ich mich selbst überwunden und einem Glück entsagt, das mir beschieden

164

165

166 167 168

Interessant erscheint auch, dass Heinrichs Vater ein Ordnungsbegehren aufweist, das stark an Otto Ludwigs Apollonius erinnert; bei ihm darf „kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen“ (Adalbert Stifter, „Der Nachsommer“, in: Werke und Briefe, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald (Hrsg.), Stuttgart/Berlin/Köln, S. 11). Im gleichen Paradigma steht auch die Försterstochter Regerl in Arthur Achleitners Mitten im Glück: „Kein Stäubchen ist zu entdecken, in der Küche blinkt das Kupfer- und Messinggeschirr wie lachendes Gold“ (Arthur Achleitner, „Mitten im Glück“, in: Ders., Geschichten aus den Bergen. Erster Teil, Leipzig (o. J.), S. 4–18, hier S. 4). Gottfried Keller, „Hadlaub“, in: Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 6, Walter Morgenthaler [u. a.] (Hrsg.), Frankfurt a.M./Basel 1999, S. 26–117, hier S. 56. Ebd., S. 62. Ebd., S. 117. Ebd., S. 98.

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schien!“169 Die Chance, als Diener mit einer reichen Gutsherrin zu leben, schlägt er damals um der anhänglichen Mutter willen aus. Dass seine wundersame Einschätzung als Graf und die katastrophale Entlarvung auf dem Höhepunkt dennoch mit glücklichem Ende, Heirat und Familie abschließen, fügt sich so in das Paradigma verschiedener Formen, Entsagung zu verhandeln. Dass Verklärung am Text, am Erzähldiskurs geschieht, verdeutlicht auch, warum es nicht notwendig ist, dass die Hauptfigur sowohl entsagt als auch verklärt wird. Das realistische Narrativ inszeniert beide Achsen simultan, um zu einem Abschluss zu gelangen; in welcher Aufteilung die beiden Elemente auf das Personal verteilt werden, ist egal. Es wird nicht eigentlich die Figur verklärt – beim Zusammenfallen beider Aspekte in ungebrochener Entsagung wie beispielsweise in Storms Carsten Curator scheint das freilich so –, sondern verklärt wird das Erzählen. Entscheidend ist, dass in der metonymischen Sukzession des Erzählens Entsagung und Defizit eine Schlüsselrolle spielen und dass der Erzähldiskurs abschließend zum scheinbar verklärten Blick auf die Diegese, zum metaphorischen Sprechen über das Metonymische gelangt. Dass dieser Kode nur rückwirkend als stabil behauptet wird, für das Narrativ als Ganzes aber nicht anschlussfähig ist, kann dabei als Spezifikum des Poetischen Realismus gelten.

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Gottfried Keller, „Kleider machen Leute“, in: Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 5, Walter Morgenthaler [u. a.] (Hrsg.), Frankfurt a.M./Basel 2000, S. 11–62, hier S. 53.

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Katharina Grätz (Freiburg i.Br.)

Realistische Realien Zur Zeichenfunktion des Gegenständlichen bei Adalbert Stifter

Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, solang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke. Man muß mit ihm umgehen, wie der Tierbändiger mit der Bestie, wenn er sich in ihren Käfig gewagt hat; er läßt keinen Blick von ihrem Blick und die Bestie keinen von seinem […]. So lauert alles Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Zigarre, Glas, Lampe – alles, alles auf den Augenblick, wo man nicht acht gibt. […] Und wie der Tiger im ersten Moment, wo er sich unbeobachtet sieht, mit Wutsprung auf den Unglücklichen stürzt, so das verfluchte Objekt; plumper oder feiner, wie es kommt.1

In Friedrich Theodor Vischers Roman Auch Einer (1879) herrscht Kriegszustand zwischen Subjekt und Objekt. Banale Gegenstände des Alltags, Brillen, Knöpfe oder Essgeschirr, treten im Roman als widerspenstige „Kanaillen“ und „Teufelsbestien“ auf, die sich gegen den Menschen verschworen haben, ihm mit „unbeschreiblicher Bosheit“ nachstellen und ihn im Alltag straucheln lassen.2 Damit bildet Vischers Roman den skurrilen Kulminationspunkt einer für die literarische Entwicklung des 19. Jahrhunderts insgesamt charakteristischen Aufwertung der materiellen Kultur. Die Hinwendung zur gegenständlichen Realität, die seit dem Vormärz und dem literarischen Biedermeier immer intensivere literarische Repräsentation erfuhr, gipfelte im Realismus in der exzessiven Schilderung gegenständlicher Tableaus. Sie bilden den konkreten Ausfluss des realistischen Literaturkonzepts, für das die Orientierung an der Wirklichkeit, der Hang zur Empirie und das Streben nach Realitätsillusion leitend waren. In der Konsequenz führte das zur Literarisierung neuer Gegenstands- und Erfahrungsbereiche, wie sie sich exemplarisch an der Gestaltung der Kaufmannswelt in Gustav Freytags Soll und Haben oder der realiengesättigten Darstellung des Dachdeckerhandwerks in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde beobachten lässt. Nicht nur der gegenwärtige, sondern auch der vergangene Alltag fand Eingang in die Literatur. Realistische Texte rufen eine Fülle historischer Realien 1

2

Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, mit einem Nachwort von Otto Borst, Frankfurt a.M. 1987, S. 30. Vischer, Auch Einer, S. 20 u. 21.

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auf und verhelfen so der materiellen Kultur vergangener historischer Epochen zu neuartiger literarischer Präsenz, etwa indem sie vom Umgang mit Antiquitäten, Erbstücken und anderen Hinterlassenschaften der Vorzeit erzählen. Die Bedeutung der Realien für den Realismus ist noch nicht systematisch erforscht. Dass der Realismus der konkret-faktischen Realität verstärkte literarische Präsenz verschafft, wurde von der Forschung zwar einhellig konstatiert, nicht aber als ein wesentlicher Aspekt der Epoche beschrieben.3 Das ist ein bedauerliches Versäumnis, weil sich im literarischen Umgang mit der gegenständlichen Realität Grundprobleme und Streitpunkte des RealismusKonzepts besonders deutlich erkennen lassen – insbesondere die Ambivalenz von Realitätsbezug und Kunstcharakter tritt bei der literarischen Inszenierung von Realien unmittelbar hervor. Realistische Texte streben zumeist danach, den Eindruck genauer mimetischer Abbildung außerliterarischer Realität zu vermitteln; sie geben sich den Anschein, als erhalte die Welt des Gegenständlichen in ihnen unmittelbare Präsenz.4 Weil diese vermeintliche Realitätstreue sprachlich erzeugt ist, sich literarischer Konstruktion verdankt5, liegt die grundsätzliche Paradoxie realistischer Erzählverfahren bekanntlich darin, dass sie der intendierten Realitätsillusion wegen ihre narrativen Strategien verdecken und ihre Konstruktionsverfahren verhüllen müssen.6 3

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5

6

Eine Ausnahme bildet der von Sabine Schneider und Barbara Hunfeld herausgegebene Sammelband: Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Helmut Pfotenhauer, Würzburg 2008. Wirklichkeitsreferenz ist allgemein als hervorstechendes Merkmal der realistischen Literatur anerkannt: „Die Literatur des Bürgerlichen Realismus bleibt stets auf die empirisch erfahr- und lebbare Realität bezogen, diese ist der bestimmende Bezugspunkt der Werke“ (Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900, Tübingen/Basel 2003, S. 125). Bereits Richard Brinkmann weist nachdrücklich auf die sprachliche Vermitteltheit der deshalb nur scheinbar ‚objektiven‘ Wirklichkeitsdarstellung der realistischen Literatur hin, in der es darum gehe, „das besondere, individuelle Tatsächliche in der Sprache zu erfassen“ (Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts, Tübingen 1957, S. 311). Von einem notwendigen „Vertuschen der Künstlichkeit“ spricht etwa Rosmarie Zeller („Realismusprobleme in semiotischer Sicht“, in: Richard Brinkmann (Hrsg.), Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, Darmstadt 1987, S. 561–588, hier S. 570). Sabine Schneider beschreibt die realistische Literatur als eine, die „tendenziell eine Ausschaltung erzählerischer Subjektivität, das Unsichtbarmachen der Darstellungsebene von Literatur oder, semiologisch gesprochen, eine Eliminierung des Zeichencharakters der Sprache zugunsten einer Selbstpräsenz der dargestellten Gegenstände proklamiert“ (Die Dinge und die Zeichen, Einleitung, S. 11).

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Stifters Werk stellt in dieser Hinsicht einen besonders interessanten Fall dar; es ist sowohl typisch als auch exzeptionell. Seine Texte bieten besonders einprägsame Beispiele für die literarische Hinwendung zum Gegenständlichen und zur materiellen Realität des Alltags. Akribische Beschreibungen von Möbelstücken und ausgreifende Interieurschilderungen sind nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern wesentlicher Bestandteil der narrativ entfalteten fiktionalen Welt. Einerseits erweist Stifter sich damit als repräsentativer Autor des poetischen Realismus, andererseits hebt die spezifische Form der literarischen Inszenierung des Gegenständlichen seine Texte markant von den Schreibweisen und narrativen Verfahren anderer realistischer Autoren ab. Bei Stifter erhalten charakteristische Züge des Realismus übersteigerte Form; besonders auffällig sind ein forcierter Detailrealismus, die genaue Repräsentation der gegenständlichen Realität, die Neigung zu einer formelhaften Sprache und eine eigenwillige Erzählperspektive. Irritierend ist zudem, dass seine Texte – zumindest gilt das für das Spätwerk – ihre narrativen Strategien und sprachlichen Verfahren nicht verhüllen, sondern den literarischen Konstruktcharakter demonstrativ ausstellen. In meinem Beitrag möchte ich die Eigentümlichkeit von Stifters Ding- und Detailrealismus und der korrespondierenden narrativen Verfahren genauer beleuchten. Stifters Schreibweise soll als realistischer Sonderweg verständlich werden, der sich gegenläufig verhält zu Entwicklungstendenzen des deutschsprachigen Realismus. Stifters Texte, so meine These, stoßen – ohne dass dies vom Autor intendiert wäre – in einen Grenzbereich des Realismus vor, an dem realistische Verfahren, statt Realitätsillusion zu evozieren, in Künstlichkeit umschlagen. Sie laden deshalb in besonderer Weise dazu ein, grundsätzliche Probleme und Aporien des realistischen Schreibens zu diskutieren.

I.

Dominanz des Gegenständlichen Er nahm […] den großen gläsernen Krug, der mit demselben herrlichen Quellwasser wie gestern auf dem Tische stand, und goß davon einen Theil in einen kleinen hölzernen wohlgebohnten Trog, der an der Wand neben der Thür stand. Nachdem der Spiz getrunken hatte, ging der Oheim von seinem Geschäfte weg und rief seine Hunde zu dem Wasser; da aber keiner Lust bezeigte, weil sie wahrscheinlich ohnehin schon getränkt waren, so drükte der Oheim an einem Stabe, der von der Wand des Troges empor stand, nieder, worauf sich im Boden des Gefäßes eine metallene Platte öffnete und die Flüssigkeit abrinnen ließ.7

7

Adalbert Stifter, „Der Hagestolz“, in: Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald (Hrsg.), Bd. 1/6: Studien. Buchfassungen, Helmut Bergner/Ulrich Dittmann (Hrsg.), Stuttgart [u. a.] 1980, S. 11–142, hier S. 80.

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Mit der in der deutschsprachigen Literatur wohl ersten und einzigen Beschreibung eines Hunde-Trinkwasserschälchens mit mechanischer Abflussvorrichtung bietet Stifters Erzählung Der Hagestolz ein Beispiel für das Eindringen alltäglicher, ja banaler Gegenstände in die Literatur. Das zeugt von einem Realismuskonzept, das Marginalem und Unbedeutendem eine neuartige literarische Präsenz verschafft. Die Hinwendung zur materiellen Kultur zeigt sich in Stifters Texten als hypertrophe Gegenstandsfixierung in unterschiedlichen Spielarten. Da gibt es zum einen ungewöhnliche Vorrichtungen, die dem neuesten technischen Stand entsprechen: So führt etwa der als Landvermesser tätige Ich-Erzähler in Kalkstein während seiner Wanderungen eine ausgeklügelte Apparatur mit sich, die ihm dazu dient, Wein mit Hilfe von flüssigem Äther zu kühlen.8 Und die einer Festung ähnliche Wohnung des Hagestolz verfügt über eine Eingangstür, die sich mittels eines Pfeiftons öffnen lässt. Viel dominanter als solche modernen technischen Vorrichtungen jedoch treten Sammelstücke, historische Relikte, museale Arrangements in Erscheinung.9 Der Nachsommer etwa versetzt den Leser in eine Welt, die von toten Objekten beherrscht wird. Bücher, alte Möbel, Gemälde, Kupferstiche, Skulpturen und Gemmen sowie eine Vielzahl anderer Sammelstücke bilden die eigentlichen Protagonisten des Romans. Die fiktiven Räume sind von Gegenständen erfüllt, von Möbelstücken, Kästen und Fächern, die selbst wieder Gegenstände enthalten.10 Besondere Sorgfalt lässt Stifter der Beschreibung von Wohnräumen und ihrer Einrichtung angedeihen, wobei nicht nur außergewöhnliche Interieurs (etwa der Marmorsaal im Nachsommer) große Aufmerksamkeit erfahren, sondern auch solche, die alltäglichen Zwecken bestimmt sind.11 Der sorgfältig-akribischen Beschreibung von Innenräumen steht die Beschreibung der 8

9

10 11

Der Erzähler erläutert die Funktionsweise folgendermaßen: „Das Glas wird in ein Fach von sehr lokerem Stoffe gestellt, der Stoff mit einer sehr dünnen Flüssigkeit, die Äther heißt, und die ich in einem Fläschchen immer mit führe, befeuchtet, welche Flüssigkeit sehr schnell und heftig verdünstet, und dabei eine Kälte erzeugt, daß der Wein frischer wird, als wenn er eben von dem Keller käme, ja als ob er sogar in Eis stünde“ (Adalbert Stifter, „Kalkstein“, in: Werke und Briefe, Historischkritische Gesamtausgabe, Bd. 2/2: Bunte Steine. Buchfassungen, Helmut Bergner (Hrsg.), Stuttgart [u. a.] 1980, S. 61–132, hier S. 80). Vgl. hierzu Katharina Grätz, Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe, Heidelberg 2006. Psychologisch hat man das auf einen horror vacui zurückgeführt. Vgl. hierzu Ruth K. Angress, „Der eingerichtete Mensch: Innendekor bei Adalbert Stifter“, in: GRM, 36/1986, S. 32–47. Kirsten L. Belgum, „High Historicism and Narrative Restoration: The Seamless Interior of Adalbert Stifter’s ‚Nachsommer‘“, in: The Germanic Review, 1992, S. 15–25.

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Landschaftsräume nicht nach. Auch der landschaftliche Raum wird wahrgenommen als ein von Dinglichem erfüllter Raum. In der Erzählung Der fromme Spruch erfasst die auf einer Bank sitzende Gerlint die Umgebung auf folgende Weise: Sie sah in der Richtung gegen den Mittag hin. Zu ihren Füßen war die Blöße, dann strich der Blick über die Wipfel des Waldes dahin, dann traf er Gebäude mit Feldern, Wiesen, Wäldchen, Obstbeständen, zerstreuten Meierhöfen, Ortschaften Kirchthürmen und Schlössern, und endete mit dem Gürtel des blauen Gebirgszuges, der den glänzenden Himmel schnitt.12

Stifters ‚faktophiler Realismus‘ (Brinkmann) entwirft Wirklichkeit als Ensemble von Gegenständen (beziehungsweise von Zeichen, die auf Gegenständliches verweisen). Es handelt sich dabei freilich nicht um eine willkürliche Anhäufung von Dingen, sondern, wie gleich deutlich wird, um planvolle Inszenierungen.

II. Zwischen Realitätsillusion und Künstlichkeit Roland Barthes hat in seinem Aufsatz L’effet du réel (1968) die These vertreten, dass ein Überschuss an zufälligen und funktionslosen Details im narrativen Text einen ‚Realitätseffekt‘ erzeugt. Das Aufrufen kontingenter Details wäre demnach als literarische Strategie nutzbar, um eine realistische Wirkung hervorzurufen. Das ist insofern plausibel, als Kontingenz fehlende künstlerische Gestaltung indiziert und somit beim Rezipienten den Eindruck verstärken kann, dass Realität ‚unverfälscht‘ zur Geltung gelange. Daraus könnte man nun schließen, dass die Anhäufung überflüssiger und funktionsloser Einzelheiten die realistische Wirkung eines literarisch-fiktionalen Texts notwendig steigert. So einfach ist die Rechnung aber nicht, was sich gerade an Stifters Texten erkennen lässt. Ich möchte das an einem einfachen Beispiel plausibel machen. In Stifters Texten werden immer wieder Mahlzeiten geschildert, wobei insbesondere der alltägliche Vorgang des Auftragens der Speisen in seinem Ablauf und den zugehörigen Utensilien dem Leser minutiös vor Augen gerückt wird. Am folgenden Textbeispiel aus der Erzählung Zwei Schwestern fällt außerdem auf, dass zwar die Vor- und Nachbereitung der Mahlzeit, das Decken und Abräumen des Tischs, detaillierte Darstellung erfährt, der eigentliche Vorgang des

12

Adalbert Stifter, „Der fromme Spruch“, 2. Fassung, in: Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 3/2: Erzählungen, Johannes John/Sibylle von Steinsdorff (Hrsg.), Stuttgart [u. a.] 2003, S. 177–361, hier S. 271.

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Essens hingegen auf ein entsinnlichtes und retrospektives „wir hatten“ reduziert wird: Während wir noch so sprachen, ging die Thür auf, und es kam eine Magd und ein Mann herein. […] Sie trugen Tischzeug, um den Tisch damit zu decken. Sie taten den Teppich weg, stellten die Lampe seitwärts auf einen Kasten, deckten den Tisch für zwei Personen, stellten zwei Lichter darauf und ließen die Lampe auf dem Kasten fort brennen. Dann gingen sie wieder zur Thür hinaus. Nach kurzem brachte die Magd unsere Speisen, und der Mann brachte das Getränke. Wir hatten eine Suppe, guten Braten mit Sallat, eine Flasche vortrefflichen Weines und sehr frisches Wasser. Das Abendessen hatte nichts Armes oder Bettelhaftes an sich. Als wir es verzehrt hatten, kamen wieder die zwei nämlichen Menschen und räumten ab. Sie trug das Geschirr und er die übrigen Eßgeräthe fort. Zuletzt breiteten sie wieder den Teppich über den Tisch, stellten die Lampe darauf und verließen uns.13

Es handelt sich um die Schilderung eines alltäglichen Vorgangs, unbedeutend und (jedenfalls auf den ersten Blick) funktionslos für das erzählte Geschehen. Hinzu kommt die offensichtliche Redundanz der Beschreibung: Dass das aufgetragene Geschirr wieder abgedeckt werden muss, versteht sich von selbst und hätte keiner ausdrücklichen Erwähnung bedurft. Vergleichbare Banalitäten und Überflüssigkeiten hatten in der Literatur bis zu dieser Zeit keinen Platz – auch im Realismus finden sie sich so ausgeprägt allein bei Stifter. Interessant ist nun aber die Frage nach der Wirkung dieser Beschreibung auf den Rezipienten. Zwei unterschiedliche Antworten scheinen möglich. Einerseits lässt sich mit gutem Recht die Realitätstreue der Darstellung hervorheben, führt der Text den Leser doch durch die präzise und ausführliche Schilderung des gewöhnlichen Vorgangs unmittelbar an die alltägliche Lebensrealität heran. Die Selektionsfunktion der narrativen Instanz scheint außer Kraft gesetzt, und so entsteht der Eindruck ungefilterter Wiedergabe gewöhnlicher Lebensvollzüge und der zugehörigen materiellen Kultur. Andererseits aber wirkt die Fixierung auf das Marginale befremdlich und ist dazu angetan, Distanz zum Erzählten zu schaffen, weil sie eingeschliffenen Wahrnehmungskonventionen zuwider läuft. Das Übermaß an Einzelnem verstößt sowohl gegen die Gesetze der Erzählökonomie als auch gegen die

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Adalbert Stifter, „Zwei Schwestern“, in: Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1/6: Studien. Buchfassungen, Helmut Bergner/Ulrich Dittmann (Hrsg.), Stuttgart [u. a.] 1982, S. 215–378, hier S. 273.

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Lesererwartung.14 Und man darf wohl grundsätzlich sagen: Wird unbedeutenden Details große narrative Aufmerksamkeit zuteil, dann fordert das den Leser dazu heraus, ihnen eine besondere Bedeutung zuzuweisen.15 Die demonstrativ hervorgekehrte Nebensächlichkeit und Überflüssigkeit eines minutiös geschilderten Vorgangs schürt also eine Sinnerwartung, scheint ein Bedeutungsversprechen zu enthalten. Deshalb können akribische Beschreibungen eine literarische Aufwertung alltäglicher Vorgänge bewirken – sie weisen dem Unbedeutenden herausgehobene Bedeutung zu. An Stifters Texten ist zu beobachten, wie hypertrophe Detailfülle zu Verfremdungen und Irritationen führt. Extreme Formen von Detailrealismus stehen nicht mehr im Dienst von Realitätsillusion, sondern kippen in Künstlichkeit um (gemeinsam mit Sabina Becker habe ich für dieses Phänomen den Begriff des ‚artifiziellen Realismus‘ vorgeschlagen16). Demnach ist festzuhalten: Literarische Realitätsnähe wird zwar durch Fakten- und Detailtreue gestützt, geht aber durch überforcierte Detailtreue auch wieder verloren. Für den literarisch-fiktionalen Text, der realistische Wirkung intendiert, gilt es also hier die Balance zu wahren. Bei Stifter erscheint diese Balance gefährdet – ein Übermaß von Details droht die realistische Wirkung der Texte zu untergraben. Spricht man über die Rolle des Gegenständlichen in der Literatur, dann muss man die literarischen Strategien seiner Inszenierung einbeziehen, also beachten, wie die Realien narrativ vergegenwärtigt werden und wie sie in das innerliterarische Werte- und Normensystem eingebettet sind: Wesentlich ist, in welcher Weise die Figuren mit den Gegenständen umgehen und welche 14

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Bernd W. Seiler erläutert das mit der Kategorie der Wahrscheinlichkeit. Die Dinge dürften „weder detaillierter noch allgemeiner, weder wichtiger noch unwichtiger, weder komplexer noch einfacher dargestellt werden […], als sie uns im großen und ganzen ‚wirklich‘ erscheinen, sondern eben immer so, daß sie uns wie von selbst als wahrscheinliche auch vor Augen treten“ (Bernd W. Seiler, „Das Wahrscheinliche und das Wesentliche. Vom Sinn des Realismus-Begriffs und der Geschichte seiner Verundeutlichung“, in: Christian Wagenknecht (Hrsg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Würzburg 1986, S. 373–392, hier S. 380). Ein gutes Beispiel für eine solche Überbetonung von Unbedeutendem ist die folgende Passage aus dem „Frommen Spruch“: „Wo die Eichen die Wiese begrenzten, standen mehrere Tische und Bänke und Stühle. Sie hatten nichts Besonderes an sich, und waren, wie derlei Geräthe in den meisten Gärten sind. Gerlint blieb vor einem Tische stehen, und betrachtete ihn sehr lange“ (Stifter, „Der fromme Spruch“, S. 271). Sabina Becker/Katharina Grätz (Hrsg.), Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus, Heidelberg 2007.

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Bedeutung für sie die materielle Umwelt gewinnt. In Rechnung zu ziehen ist zudem, dass sich der Zeichencharakter von Realien durch ihre literarische Inszenierung wandeln kann: Die Gegenstände sind ja zugleich Teil eines außerliterarischen kulturellen Zeichensystems wie Teil eines innerliterarischen Zeichensystems – und beides braucht sich nicht zu decken. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert der Umgang mit Schmuck und Kleidung im Nachsommer. Immer wieder wird auf die unstandesgemäß schlichte Kleidung Risachs hingewiesen. Sie ist aber nicht Ausdruck einer Fehlhaltung, sondern zeugt im Gegenteil davon, dass Risach sich von der auf Schein und Repräsentation ausgerichteten Lebensweise des Adels und gehobenen Bürgertums frei gemacht hat. Damit etabliert der Nachsommer ein innerliterarisches Wertesystem, das dem gesellschaftlich-realen entgegen gerichtet ist.

III. Zwischen Sinnaufhebung und Sinngebung Nun ist jedoch das Herstellen von Realitätsillusion nicht oberstes und alleiniges Ziel des poetischen Realismus. Zumindest der frühe Realismus und seine Programmatik beanspruchen eine höhere Ordnung, Zusammenhang, Wahrheit sichtbar zu machen. Die literarische Darstellung zielt also nicht eigentlich auf die (materielle) Oberfläche der Realität, sondern auf die (verborgenen) ideellen Grundlagen der Wirklichkeit. Realismus bezeichnet im 19. Jahrhundert das Konzept einer poetisch überformten Wirklichkeitsund Naturnachahmung. Die Kunst, so heißt es in Fontanes Abhandlung Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853), „will das Wahre“.17 Nicht um das Zufällige, Oberflächliche und Akzidentelle der Wirklichkeit ist es den Autoren des Realismus zu tun, sondern um das Eigentliche dieser Wirklichkeit. Entsprechend wird künstlerische Nachahmung als ein schöpferischer Akt verstanden, der dem Wahren der Wirklichkeit zur Anschauung verhilft. Das realistische Literaturprogramm ist deshalb keine Widerspiegelungstheorie im engeren Sinn. Nach Otto Ludwig, der die Bezeichnung ‚poetischer Realismus‘ populär machte, besitzt Literatur ordnende und orientierende Funktion, macht Wirklichkeit als Ganzheit, als geschlossene Einheit erfahrbar – Ludwigs leitende Begriffe lauten „Notwendigkeit“ und „Zusammenhang“.18 17

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Theodor Fontane, Literarische Essays und Studien. 1. Teil, Kurt Schreinert (Hrsg.), München 1963, S. 13. Ludwig weist der schaffenden Phantasie des Künstlers zentrale Bedeutung zu: „Sie schafft die Welt noch einmal, keine sogenannte phantastische Welt, d. h. keine

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Für den realistischen Autor stellt sich damit die Aufgabe, die empirisch erfassten Phänomene künstlerisch so zu gestalten, dass ein übergreifender Bedeutungszusammenhang erkennbar wird. In dieser Zielsetzung, die auf der einen Seite die Ausrichtung auf die Phänomene der Realität beinhaltet und auf der anderen Seite den Aufweis idealer Ordnung intendiert, gründet die zentrale Spannung des realistischen Literaturkonzepts, das deshalb, wie Moritz Baßler deutlich herausgestellt hat, nach zwei Seiten hin gefährdet ist: Erhält die Orientierung an der Realität und den konkreten individuellen Phänomenen das Übergewicht, dann droht der Verlust von Zusammenhang, Sinn und Wahrheit. Dominiert aber der Anspruch auf Evident-Machung eines in der Realität nicht unmittelbar aufzufindenden Sinns und werden die präsentierten Daten und Phänomene entsprechend literarisch mit Bedeutung aufgeladen, dann untergräbt das den realistischen Anspruch. Realistische Texte bewegen sich daher fortwährend auf einer Grenze zwischen Bedeutungsaufladung und Bedeutungsnegation.19 Das betrifft nicht zuletzt die in den Texten zeichenhaft repräsentierten Gegenstände. Sie können als kontingente Details erscheinen oder aber als sinnhafte Repräsentanten einer umfassenden Ordnung. Das Besondere an Stifters Texten liegt darin, dass beides im Extrem begegnet: Auf der einen Seite frappiert die Fülle von Marginalien, scheinbar bedeutungslosen Details und redundanten Gegenständen. Auf der anderen Seite treten Zusammenhang stiftende und Bedeutung generierende Bemühungen dominant hervor. Einzelphänomene werden in übergreifende Handlungs- und Textmuster eingebunden. Entscheidend sind dabei syntagmatische Strukturen: das Prinzip der Sammlung, das den Einzelgegenstand in eine das Individuelle transzendierende Ordnung integriert; die Wegstruktur, die Einzelnes an eine kontinuierliche raum-zeitliche Bewegung rückbindet; sowie ritualisierte Handlungsabläufe, die dem Einzelnen Bedeutung geben, indem sie es in eine Handlungssequenz integrieren.

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zusammenhanglose, im Gegenteil, eine, in der der Zusammenhang sichtbarer ist als in der wirklichen, nicht ein Stück Welt, sondern eine ganze, geschlossene, die alle ihre Bedingungen, alle ihre Folgen in sich selbst hat. […] Ein Stück Welt, solchergestalt zu einer ganzen gemacht, in welcher Notwendigkeit, Einheit, nicht allein vorhanden, sondern sichtbar gemacht sind.“ (Otto Ludwig, „Der poetische Realismus“, in: Gerhard Plumpe (Hrsg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1997, S. 149). Moritz Baßler beschreibt das als „Strukturproblem“ realistischer Texte, das auf der Handlungsebene durch das Motiv der Entsagung gelöst werde (Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2010, S. 63–80, hier S. 66).

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Illustrieren soll das eine Passage aus der späten Erzählung Der fromme Spruch. Gerlint verteilt an ihrem eigenen Geburtstag Geschenke an die Bediensteten und kommentiert das in folgender Weise: Da sind wieder Kleinigkeiten, die ich an diesem Tage mit meinen eigenen Händen an euch zu vertheilen mir das Vergnügen mache, um euch für das Liebe meinen Dank zu bezeigen, das ihr mir thut. Adam, diese Dose fühlt sich recht glatt in der Hand, und öffnet, und schließt sich leicht und genau. Agathe, in dem Buche sind Gedanken an Gott, wie du sie gerne hast, und die silbernen Spangen weisen auf einen reinlichen Sinn. Mathias, theile deinem Vater von dem Gelde mit, ihr brauchet es jetzt mehr als etwas Anderes. Martha, deine Augen schauen noch auf Flitter, an Sonntagen wird dir das Tuch recht gut anstehen. Anna, dieser Laz wird dir auch nicht mißfallen. Sebastian, halte deine Zeiger regelmäßig wie die Zeiger dieser Uhr. Katharina, nimm das Linnen, wozu du es brauchen kannst. Eva, lasse dir aus dem Stoffe ein nicht gar zu auffälliges Kleid schneiden. Ferdinand, mir ist das Rauchen in Zimmern und feuergefährlichen Orten sehr zuwider; ich mag dir aber doch gern eine Freude machen, rauche aus dieser Pfeife nicht an den Orten, die ich genannt habe. Joseph, ich denke, diese Weste könnte dir gefallen, und dir Maria, diese Bänder, und Margaretha, dir diese Sonntagsschuhe, und euch anderen das Andere.20

Die Passage liefert ein drastisches Beispiel für das Übergewicht, das Realien in Stifters Texten immer wieder erhalten. Aufgeführt wird eine Vielzahl von Gegenständen, die für den Handlungszusammenhang überflüssig und funktionslos erscheinen und auch nur dieses eine Mal Erwähnung finden. Trotzdem werden sie nicht als kontingente Einzeldinge inszeniert. Denn auf der Ebene der histoire sind sie in einen ritualisierten Vorgang eingebunden und auf der Ebene des discours durch parallele syntaktische Strukturen formalisiert: Die analogen Satzbaumuster, die jeweils mit der Nennung eines Eigennamens beginnen und anschließend dem namentlich bezeichneten Individuum einen Gegenstand zuordnen, stellen Relationen und Zusammenhang her zwischen menschlicher und gegenständlicher Umwelt. Die besonderen Gegenstände dienen der Individualisierung des jeweiligen Empfängers, teilweise erhalten sie charakterisierende Funktion, ansatzweise erfahren sie allegorische Deutung („die silbernen Spangen weisen auf einen reinlichen Sinn“) – zugleich betten sie die Beschenkten in einen übergreifenden (sozialen) Zusammenhang ein. Scheint die Darstellung auf den ersten Blick auch überflüssig, bedeutungslos ist sie keineswegs: Sie zeigt ein Zusammenhang stiftendes Ritual zwischen menschlicher und gegenständlicher Umwelt, in dessen Zentrum Gerlint steht.

20

Stifter, „Der fromme Spruch“, S. 191f.

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Die ausführliche literarische Beschreibung vertrauter Handlungsabläufe und zugehöriger Gegenstände vermittelt ein Gefühl der Sicherheit, da alles Einzelne im Zusammenhang eines übersichtlich strukturierten Daseins aufgehoben scheint. Werden diese Ordnungsmuster jedoch überstrapaziert, dann tritt der gegenteilige Effekt ein.21 Stifters Texte, so konstatierte Hans Joachim Piechotta, sind geprägt von der permanenten Spannung zwischen einer „bedrohlich gestörten Ordnung und der dagegen hartnäckig mobilisierten Ordnungsoption“.22

IV. Verweigerter Perspektivismus Die spätrealistischen Texte lösen sich zunehmend von der Vorstellung einer sinnvoll gerundeten, bewusstseinsunabhängigen Realität und vermitteln das Bild einer komplexen, nicht mehr überschaubaren Wirklichkeit. Insbesondere gilt das für die Romane Fontanes und des späten Raabe, die freilich unterschiedliche Erzählverfahren einsetzen. Fontanes Texte zeigen eine ausgeprägte Tendenz zum polyperspektivischen Erzählen. Realität setzt sich in ihnen aus vielen Stimmen und Facetten zusammen; eine übergeordnete Perspektive fehlt. Raabe hingegen wählt mit Vorliebe Formen monoperspektivischer Erzählweise, die sich in ihrer Einseitigkeit selbst unterminieren. Beispielhaft hierfür sind die späten Romane Die Akten des Vogelsangs und Stopfkuchen, die beide vorführen, wie die Weltsicht des Erzählers durch den Erzählakt aus den Angeln gehoben wird. In den Akten gelingt es dem Erzähler Karl Krumhardt nicht, die eigene Jugendgeschichte als Chronist zu bewältigen und ad acta zu legen. Und in Stopfkuchen steht der Erzähler unter dem überwältigenden Eindruck seines Jugendfreundes Eduard Schaumann, der die eigene Erzählerrede vollkommen okkupiert. Auch Stifters Texte erschließen Realität vornehmlich aus Figurenperspektive. Räume – Innenräume ebenso wie Landschaften – werden zumeist aus der Sicht einer Figur vermittelt, die sich als Fußgänger in diesen Räumen bewegt, sie durchschreitet. Die Bewegungsform des Spaziergangs gibt der narrativen Ordnung ein Zusammenhang stiftendes Muster vor, das es erlaubt, Heterogenes an das Kontinuum eines ausgeschrittenen Wegs zurückzubin21

22

Je intensiver die Gesten des Sich-Versicherns ausfallen, desto spürbarer wird eine untergründige Angst. Zum Aspekt des Pathologischen bei Stifter siehe zusammenfassend Isolde Schiffermüller, Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren, Bozen 1996, S. 10f. Hans Joachim Piechotta, „Ordnung als mythologisches Zitat. Adalbert Stifter und der Mythos“, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 1983, S. 83–110, hier S. 99.

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den. Mit seinem Zugleich von Offenheit und Geschlossenheit, von Diskontinuität und Kontinuität, bildet der Spaziergang eine strukturelle Klammer, die disparate Textteile verknüpft und somit ihren künstlerischen Zusammenhang ermöglicht. Entsprechend nutzt Stifter das Sujet des Spaziergangs als ein integratives Erzählmodell, das ein detailgesättigtes Erzählen, ein genaues narratives Registrieren der Umwelt erlaubt und dafür zugleich eine Ordnung gebende Struktur liefert. Beispielhaft hierfür sei das folgende Zitat aus der frühen Studien-Erzählung Der beschriebene Tännling (1845) angeführt: Er ging jetzt einen sanften Abhang schief abwärts, der mit Gebüschen, Laubbäumen und Steinen besetzt war. Er ging immer fort. […] Er ging jetzt durch dichten, dunkelnden Wald. Er ging an starken Stämmen vorüber, die die rauhe Rinde hatten, und von deren verdorrten Ästen die grünen Bärte des Mooses herunter hingen. Er ging an großen Steinen vorüber, die mit einer weichen Hülle bedeckt waren, auf der zarte Fäden und feuchte Blättchen wachsen. Er ging auf dem modrigen Boden, der die tausendjährigen Abfälle der Bäume enthielt und dem Tritte keinen Widerstand leistete. Er ging auf keinem Wege, weil er die Gestalt und Richtungen des Waldes auch ohne Weg sehr gut kannte. – Endlich war er an seinem Ziele.

Die Wiederholung von Subjekt und Prädikat („er ging“) hält den Vorgang des Gehens bewusst und bildet die formale Klammer der Passage. Der Text konzentriert sich auf die ausführliche, detaillierte und weitgehend unkommentierte Wiedergabe des Sichtbaren. Ungewöhnlich ist, dass es sich um eine Er-Erzählung handelt, der Protagonist also eigentlich als Reflektorfigur eingesetzt ist, dass aber dennoch interne Fokalisierung und somit die Anbindung des Erlebens an das subjektive Bewusstsein strikt vermieden werden. Entsprechend tritt die narrativ vermittelte Wirklichkeit nicht als subjektiv wahrgenommene in Erscheinung, sondern zeigt sich im Gegenteil von den Spuren des Subjektiven gereinigt. So offenbart der Weg des Protagonisten, der doch eigentlich dazu prädestiniert wäre, subjektive Welterschließung vorzuführen, den Blick auf eine Wirklichkeit, die objektiv gegeben scheint und nicht erst durch das wahrnehmende Subjekt konstituiert wird. Man könnte dieses Phänomen auf die paradoxe Formel eines entpersonalisierten personalen Erzählens bringen. Dessen Kniff liegt darin, dass scheinbar aus personaler Perspektive erzählt wird und dennoch eine bewusstseinsunabhängige Realität Bestätigung erfährt. An dem Zitat ist zu erkennen, wie nicht allein die Subjektivität der (vermeintlichen) Reflektorfigur ausgeblendet wird, sondern zugleich die individuellen Merkmale des Wahrgenommenen. Auf stilistischer Ebene schlägt dieses befremdliche Realismuskonzept in einen Formalismus um, der Subjektivität durch objektivierende Textverfahren tilgt. Betonen möchte ich, dass es sich dabei nicht um eine Besonderheit

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dieser einen Erzählung handelt, sondern um ein generelles Merkmal von Stifters Erzählweise, die sich freilich im Spätwerk immer deutlicher ausprägt. Auch im Nachsommer ist eine solche Entsubjektivierung des Erzählens festzustellen. Sie bewirkt, dass man als Leser leicht vergisst, dass es sich um eine Ich-Erzählung aus der Perspektive Heinrich Drendorfs handelt. Mit diesem ‚entpersonalisierten personalen Erzählen‘, das eine dem Subjekt übergeordnete Wirklichkeit zur Geltung zu bringen sucht, steht Stifters Realismus in einem spannungsvollen Verhältnis zu einem Realismusverständnis, wie es sich in den Romanen Fontanes oder des späten Raabe ausprägt. Statt eine vielschichtige Realität durch perspektivischen Weltzugang zu repräsentieren, vermeidet Stifter die subjektive Realitätswahrnehmung.23 Seine Hinwendung zum Gegenständlichen ist deshalb gerade nicht als Indiz eines mimetischen Realismus zu werten, sondern, wie bereits Joseph Peter Stern betonte, als Merkmal eines „ontologischen Stils“.24 Nicht in der realitätsgetreuen Abbildung der Wirklichkeit erkannte Stern das Ziel von Stifters narrativem Verfahren, sondern in der Vermittlung „ein[es] Dasein[s] jenseits des Individuellen“.25 Stifters Interesse am Gegenständlichen, das wurde auch in neueren Forschungsarbeiten immer wieder betont, gilt nicht dem Besonderen, sondern einer überindividuellen „Ordnung der Dinge“.26 Die Realien, denen er in seinen Texten zeichenhafte Präsenz verschafft, stehen im Dienst eines universalen Zusammenhangs, und das Einzelne wird, so Christian Begemann, „zum ‚lesbaren‘ Zeichen des Allgemeinen und Gesetzhaften“.27 Dem Drang nach Objektivierung entspricht die (im Spätwerk bis ins Befremdliche getriebene) Restriktion des Erzählers auf eine bloße Aufzeichen- und Registrierfunktion.28 Gleichklang und Monotonie, inhaltliche und 23

24

25 26 27 28

Brinkmann hatte argumentiert, dass ein wachsender Hang zum detaillierten Erfassen des Individuellen den Einbruch des Subjektiven erzwinge. Zwar treffe zu, dass die realistische Literatur verstärkt die „‚Gegenstände‘, Dinge, Tatsachen, Vorgänge“ des Alltags thematisiere, doch könnten auch die Realisten dies nur „mit den Mitteln der subjektiven Phantasie, mit subjektiven Assoziationen und Manipulationen […] intentional erfassen und vorstellen“ (Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion, S. 311f.). Stifters literarische Strategie sucht genau im Gegenteil die Realität ohne subjektive Überformung und ‚Verfälschung‘ literarisch zu repräsentieren. Joseph Peter Stern, „Adalbert Stifters ontologischer Stil“, in: Lothar Stiehm (Hrsg.), Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen, Heidelberg 1968, S. 103–120. Stern, „Adalbert Stifters ontologischer Stil“, S. 119. HKG 4/3, S. 614. Christian Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart 1995, S. 32. Symptomatisch ist ein Zeigegestus wie in folgender Passage aus dem „Waldbrunnen“: „Er führte sie im Walde herum […]. Er zeigte ihnen die großen Buchen und

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sprachliche Wiederholung sind Erzählmuster, die zunehmend deutlicher hervortreten.29 Stifters Spätstil ist durch Wiederholung und Formelhaftigkeit gekennzeichnet. Die narrative Struktur der Wiederholung vermittelt den Anschein von Stetigkeit, Zuverlässigkeit und Überschaubarkeit.30 Sie zeigt sich in analogen Satzbaumustern, in formelhafter Figurenrede, in immer gleichen Handlungsabläufen und der Schilderung wiederkehrender Vorgänge wie etwa des Abschreitens bestimmter Wege oder des wiederholten Betrachtens der gleichen Gegenstände.

V.

Schluss

Die Texte des Spätrealismus vermitteln zunehmend die Erfahrung einer bewusstseinsabhängigen Realität. Statt ein abgerundetes, einheitliches und zusammenhängendes Bild der Wirklichkeit zu entwerfen, führen sie vor, wie Realität perspektivisch erschlossen (und entsprechend narrativ konstruiert) wird: Komplexe Strukturen und Schreibweisen, Mehrdeutigkeit, Polyperspektivität und Relativismus zeugen von einem Realitätsverständnis, das nicht mehr mit dem frührealistischen Streben nach Zusammenhang und Einheit zusammengeht. Stifter allerdings vollzieht in seiner literarischen Produktion eine gegenläufige Entwicklung, die noch dazu in sich selbst spannungsvoll erscheint: Denn auf der einen Seite treten kontingente Einzeldinge in seinen Texten dominant hervor, auf der anderen Seite erhalten Zusammenhang evozierende Handlungsmuster und Strategien, die auf die narrative Integration des Einzelnen zielen, immer stärkeres Gewicht. Chris-

29

30

Tannen und Ahorne, die da wuchsen, die bemoosten Steine, die in Mengen und in Verwirrungen umherlagen, und oft wie grünes Gold funkelten, er zeigte ihnen die dunkeln und lichten Waldblumen, die im Schatten standen, und die anderen Kräuter und Blätter, die da waren […], er zeigte ihnen die vielen Wässerlein, die da rannen“ (Adalbert Stifter, „Der Waldbrunnen“, in: Werke und Briefe, Historischkritische Gesamtausgabe, Bd. 3/2: Erzählungen, Johannes John/Sibylle von Steinsdorff (Hrsg.), Stuttgart [u. a.] 2003, S. 95–139, hier S. 112). Vgl. dazu Albrecht Koschorke/Andreas Ammer: „Der Text ohne Bedeutung oder die Erstarrung der Angst. Zu Stifters letzter Erzählung ‚Der fromme Spruch‘“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 61/1987, S. 676–719. In engem Zusammenhang mit der Dominanz von Wiederholungen steht die Vorliebe für zyklische Handlungsstrukturen und zyklische Figurenkonstellationen. Sie bewirkt die Verfestigung eines ‚mythischen Zeitbewusstseins‘ und untermauert die Vorstellung einer unveränderbaren Wirklichkeit. Vgl. hierzu: Gerhard Plumpe, „Zyklik als Anschauungsform historischer Zeit. Im Hinblick auf Adalbert Stifter“, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hrsg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart 1984, S. 201–225.

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tian Begemann hat deshalb betont, dass Stifters Interesse nicht eigentlich dem „materiellen Dasein“ gilt, sondern den „Dingen als Trägern von Bedeutung“.31 Das deckt sich in Teilen mit meinen Überlegungen, die ja ebenfalls vorgeführt haben, wie entscheidend die Zeichenfunktion der Gegenstände wird, die Ausrichtung des Materiellen auf etwas Übergeordnetes hin. Von einer „Entwertung“32 der Dinge bei Stifter möchte ich aber nicht sprechen, sondern im Gegenteil betonen, dass der materiellen Realität eine immense Aufwertung zuteil wird. Stifters fiktive Wirklichkeit setzt sich aus einer Vielfalt von Einzeldingen zusammen. Sie sind nicht an sich sinnhaft, sondern fordern zu angestrengten innerliterarischen Deutungsleistungen heraus. Die Kluft zwischen dem materiellen Charakter der Realien und der ihnen zugewiesenen Zeichenhaftigkeit bleibt dabei sichtbar; einzelne Details treten auf irritierende Weise in den Vordergrund. Welcher andere Autor hat schon Sinn für Hundeschälchen mit automatischer Abflussvorrichtung!

31 32

Begemann, Die Welt der Zeichen, S. 32. Ebd.

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Julia Neu

Julia Neu (Berlin)

„Das klingt ja sonderbar, als ob es doch möglich wäre.“ Fantastik als Herausforderung für den Realismus

Geistergeschichten in einem modernen Roman sind um nichts besser als das Treiben der Somnambulen und Magnetiseurs in der wirklichen Gesellschaft.1

Mit dieser Setzung des Literaturprogrammatikers Julian Schmidt könnte das Kapitel „Fantastik im Realismus“ getrost geschlossen werden, noch ehe es richtig aufgeschlagen wurde. Zumal sich seine Ablehnung nicht erschöpft in der trivialen Begründung, Gespenster seien im Realismus nicht darstellbar, weil es sie nicht gibt – so schlicht argumentiert ein Dichter und Denker vom Schlage Schmidts nicht. Vielmehr wird die romantische Fantastik (für die hier pars pro toto die Gespenstergeschichte angeführt wird) abgelehnt, weil es das Projekt der idealistischen Verklärung2 und damit den Poetischen Realismus in seinem Wesenskern gefährdet: Abgesehn von vielen andern Paradoxien der Romantiker, die kamen und gingen wie die Luft, z. B. Gespenster sind die Hauptsache, die beste Regierungsform ist der Despotismus, die katholische Kirche ist sehr tiefsinnig, die Rosen singen die gescheidteste Philosophie usw., gab es ein Stichwort, auf das sie immer wieder zurückkamen: das wirkliche Leben mit seinem ganzen Inhalt, mit seinem Glauben, Hoffen und Lieben ist ekel, schaal und unerspriesslich. Die positiven Wirkungen der Schule konnten nicht beträchtlich sein, wohl aber die negativen. Wenn ein solches Labyrinth von Gedanken und Empfindungen ein volles Menschenalter hindurch unermüdlich umgewühlt wird, so entsteht notwendig daraus bei der Masse der Leute, die doch gern der neuen Bildung teilhaftig werden wollen, und die nicht fest auf ihren Füßen stehn, eine große Verwirrung. Was ist eigentlich schön und häßlich? was gut und böse? was ist ideal und was nicht? ja: was ist wirklich?3

1

2 3

Julian Schmidt, „Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings Tod“ [1860], in: Max Bucher/Werner Hahl/Georg Jäger/Reinhard Wittmann (Hrsg.), Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, Bd. 2., Stuttgart 1981, S. 102. Vgl. den einleitenden Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band. Julian Schmidt, „Neue Romane“ [1860], in: Bucher/Hahl/Jäger/Wittmann (Hrsg.), Realismus und Gründerzeit, S. 96.

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Statt Verklärung des Wirklichen zum Wahren („was ist ideal?“) erfolgt „Verwirrung“, statt eines wohlgeordneten Sinngebäudes wird ein „Labyrinth“ errichtet. Dass das Wirkliche geöffnet wird für Metaphysisches, widerspricht dabei noch nicht dem Programm des Realismus. Vielmehr ist es beispielsweise Friedrich Theodor Vischer als Poetisierungs- und Verklärungsstrategie durchaus willkommen: Ein […] Weg ist die Reservirung gewisser offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Ungewöhnliches durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegengewicht hält. Der bedeutendere Geist wird diese Blitze der Idealität aus tiefen Abgründen des Seelenlebens aufsteigen lassen […]; solche psychisch mystische Motive sind eine Art von Surrogat für den verlorenen Mythus […].4

Aber bitteschön, ein Blitz der Idealität soll es sein! Realistische Verklärung (als Verwesentlichung der Wirklichkeit) und romantische Fantastik (als Verwirrung der Wirklichkeit) sind damit zwei diametral entgegengesetzte Konzepte. Vischer fügt seinen Ausführungen denn auch schleunigst hinzu: „Es versteht sich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Romantik rechtfertigen wollen.“5 Und trotzdem gibt es sie zuhauf: Gespenster, weiße Frauen, Teufel, Spukphänomene, Bilder der Vorahnung und zweite Gesichte bevölkern die Texte des Poetischen Realismus, ungeachtet aller programmatischen Vorbehalte. Ein Quäntchen Schauerromantik scheint ein probates Mittel zu sein, um die Prosa der Verhältnisse künstlerisch zu transzendieren und also den alltagsfähigen Realismus poetisch werden zu lassen. Claus-Michael Ort hatte das in seiner einschlägigen Studie Zeichen und Zeit (1998) bereits beobachtet: Im Bemühen um semiotische Aufladung setzen realistische Text regelmäßig isoliert bildhafte, gespenstische Momente an,6 die der Darstellung eine „freie Funktionalität der Zeichen“ und damit eine eigenständige Literarizität garantieren.7 Gleichzeitig dürfen solche Bildsprünge lediglich punktuell stattfinden, weil der Text andernfalls seinen realistischen Charakter verliert. Eine jede zeichenhafte, fantastische Erscheinung ruft somit umgehend nach der Re-Motivierung ihres Auftretens. Gespenster müssen narrativ gebannt werden, andernfalls gleitet ein Text, wie von den Programmatikern gefürchtet, in romantische Verwirrung ab. 4

5 6

7

Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. 3. Theil, 2. Abschnit, 5. Heft: Die Dichtkunst, Stuttgart 1857, S. 1305. Ebd. Vgl. etwa Claus-Michael Orts Diskussionen zur Meretlein-Figur in Kellers Der grüne Heinrich: Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998, S. 49–53. Ebd., S. 53.

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Wie genau dieses poetologische Problem in Texten des Realismus bearbeitet wird, will ich in der folgenden Diskussion fantastischer Textmomente untersuchen. Dabei kommen konsequent fantastische8 Texte der Epoche wie Bulemanns Haus oder Regentrude von Theodor Storm oder die Binnenerzählungen in Storms Am Kamin und Wilhelm Raabes Ein Frühling nicht in Betracht. Gegenstand sind vielmehr Werke, die sich in ihrer Diegese als realistisch und auf die Alltagswirklichkeit bezogen präsentieren und die dabei gleichwohl bestrebt sind, fantastische Momente diegetisch zu integrieren. Erst mit ihnen stellt sich die poetologische Grundfrage, wie ein zeitgenössischer Realismus und eine romantische Poetizität des Fantastischen miteinander harmonisiert werden können.

I.

Zwei Herstellungsweisen des Fantastischen im Realismus

Realistische Texte entwickeln ihren Diskurs über Kontiguitätsbeziehungen, d. h. vorwiegend auf metonymische Weise. Diese Beobachtung hatte bereits Roman Jakobson zum Ausgangspunkt seiner Realismusanalysen gemacht.9 Gesteuert werden diese Kontiguitätsbeziehungen durch Erfahrungskontexte oder Frames, also durch das, was Roland Barthes als kulturelle Codes anspricht: Als Resümees vulgären Wissens liefern die kulturellen Codes den Syllogismen der Erzählung ihre obere Prämisse, die sich immer auf eine geläufige (‚wahrschein8

9

Mit Todorov (vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt 1976) lässt sich das fantastische Moment als Konflikt zweier Handlungskreise beschreiben: Ein realfiktiver (also außerliterarisch kontextualisierbarer) Handlungskreis bildet den Koordinatennullpunkt der Erzählung, der durch einen zweiten, wunderbaren Handlungskreis gestört wird. Im letzteren herrschen Gesetze, die denen des ersten Handlungskreises zuwider laufen. Diese Dualität lässt sich mit Roger Caillois als Rupture beschreiben, also als ein Riss der realfiktiven Dimension, der durch einen punktuellen Zusammenstoß zwischen beiden Handlungskreisen entsteht. Ausgelöst wird dadurch eine Krise der Ontologie (vgl. Roger Caillois, „Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction“, in: Rein A. Zondergeld (Hrsg.), Phaicon I. Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt a.M. 1974, S. 44–83, hier S. 45).Todorov beschreibt die Dualität zwischen erstem und zweitem Handlungskreis als Hésitation, als Schwebezustand, der eine epistemische Krise der Figur und des Lesers auslöst, welche Gesetze nun innerhalb des Textes gelten (vgl. Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, S. 33). Vgl. hierzu auch: Sanna Pohlmann, Phantastisches und Phantastik in der Literatur. Zu phantastischen Kinderromanen von Astrid Lindgren, Wettenberg 2004, S. 52f. Roman Jakobson, „Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances“, in: Ders./Halle Morris, Fundamentals of Language, Gravenhage 1956, S. 55–82, hier S. 78.

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liche‘, sagt die alte Logik) Meinung gründet, auf eine endoxale Wahrheit, mit einem Wort, auf den Diskurs der Anderen […]; alle kulturellen Codes, von Zitat zu Zitat verstreut, bilden in ihrer Gesamtheit ein kleines enzyklopädisches, merkwürdig zusammengestückeltes Wissen, einen Wust: dieser Wust bildet die landläufige ‚Realität‘, im Verhältnis zu dem das Subjekt [des Textes, Anm. J.N.] sich anpaßt und lebt.10

In der Befolgung kultureller Codes nähert sich die literarische Darstellung externen Diskursen an. Der realistische Effekt verschleiert die literarische Gemachtheit. Damit befinden sich realistische Texte in größtmöglicher Entfernung zu Texten der Avantgarde, die bekanntlich die poetische Funktion der Sprache in den Vordergrund treten lassen. Fantastische Ereignisse stören diese realistische Kontiguitätserwartung. Sie durchstoßen den Erfahrungskontext und lenken damit den Fokus auf die Botschaft als solche: Der realistische Effekt wird zerstört. Eine Welt, in der Gespenster herumstreunen, mag eine lesbare sein, eine realistisch lebbare, d. h. referentialisierbare, ist sie nicht. Wie also kann ein Text fantastische Elemente integrieren, ohne dass sein realistischer Status verloren geht? Zwei grundlegende Verfahrensweisen, die meist eng ineinander greifen, lassen sich unterscheiden: (1) Das erste Verfahren umfasst die Verlagerung fantastischer Elemente in den Diskurs der Figuren, wobei das Erzählte in einem kontigen Zusammenhang mit der jeweilgen Erzählgegenwart steht – im Gegensatz zu allegorischen oder parabelhaften Binnenerzählungen wie etwa in Wilhelm Raabes Ein Frühling. (2) Das zweite Verfahren kann als Strategie des konnotativen Überschusses bezeichnet werden. Ein Element innerhalb der realistischen Narration denotiert zwar ein manifestes Objekt oder einen Handlungsträger in der Diegese, dieses wird aber angereichert mit wunderbaren Zweitbedeutungen.

II. Spuk nach Hörensagen – Fontanes Effi Briest Die wunderbare Bedeutung des Chinesen in Theodor Fontanes Effi Briest wird fast ausschließlich über intradiegetische Erzählungen generiert.11 Es ist ein Erzählen, das ein Spiel mit dem Signifikanten „Chinese“ vorführt, hinter

10 11

Roland Barthes, S/Z, Dt. v. Jürgen Hoch, Frankfurt a.M. 31998, S. 183f. Helmstetter spricht von der „kommunikativen Genese des Fantastischen“ (Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1998, S. 209).

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dem die tatsächliche Referenz12 des Zeichens (die Frage, in welcher Weise es einen solchen Chinesen in der Welt des fiktionalen Kessin gab und ob er als Spuk existiert) zunehmend fraglich wird. Der Chinese ist zum Zeitpunkt der Erzählung tot, seine Spur nur noch ablesbar an der Grabinschrift. So stellen allein die Figurendiskurse die komplexere Bedeutung des Namens her. Noch vor der Ankunft in Kessin, dem „Wohnort“ des Chinesen, hört Effi über ihn von Innstetten. Sie eröffnet das Gespräch: „Eine ganz neue Welt, sag ich, vielleicht einen Neger oder einen Türken, oder vielleicht sogar einen Chinesen.“ „Auch einen Chinesen. Wie gut du raten kannst. Es ist möglich, daß wir wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben wir einen gehabt; jetzt ist er tot und auf einem kleinen eingegitterten Stück Erde begraben, dicht neben dem Kirchhof. Wenn du nicht furchtsam bist, will ich dir bei Gelegenheit mal sein Grab zeigen; […] Es ist sehr schön und sehr schauerlich.“ „Ja, schauerlich, und ich möchte wohl mehr davon wissen. Aber doch lieber nicht, ich habe dann immer gleich Visionen und Träume und möchte doch nicht, wenn ich diese Nacht hoffentlich gut schlafe, gleich einen Chinesen an mein Bett treten sehen.“ „Das wird er auch nicht.“ „Das wird er auch nicht. Höre, das klingt ja sonderbar, als ob es doch möglich wäre.“13

Dieses Gespräch Innstettens mit Effi ist paradigmatisch für ihre weitere Kommunikation über den Spuk. Innstetten ruft wunderbare Konnotationen auf („schön und schauerlich“), um sie sofort zu leugnen, und die Art seines Leugnens ruft bereits neue wunderbare Konnotationen auf: „Das wird er auch nicht.“ Gerade dieses Futurum macht Effi zu schaffen. Es bezeichnet die Möglichkeit eines zukünftigen, dann wirklich spukhaften Auftretens des Chinesen. Metadiegese und Diegese sind dadurch nicht hermetisch voneinander getrennte Sphären, die – wie in klassischen Binnenerzählungen – in rein metaphorischem Zusammenhang stehen, sondern kontig verbunden. Den Schwebezustand des fantastischen Elements versucht Effi aufzulösen, indem sie die zusammenhängende Geschichte des Chinesen, also die Ursache des möglichen Spuks, erfragt. Statt einer Erzählung Innstettens erfolgt eine lange Aneinanderreihung unsicherer Informationen von unbekannten Bürgen:

12

13

Vom Referenten des Zeichens ist hier, ebenso wie vom Denotat, nur in Bezug auf die fiktionale Diegese die Rede. Theodor Fontane, Effi Briest, in: Ders., Sämtliche Werke, Nymphenburger Ausgabe, Bd. VII, München 1959, S. 205.

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„Also Thomson war nun da, ein sehr adretter Mann – so wenigstens hat man mir gesagt – und wohlgelitten. […]“ „Also wir waren bei Kapitän Thomsen, den ich mir als einen Dänen oder Engländer denke, sehr sauber, mit weißen Vatermördern und ganz weißer Wäsche…“ „Ganz richtig. So soll er gewesen sein. Und mit ihm war eine junge Person von etwa zwanzig, von der einige sagen, sie sei seine Nichte gewesen, aber die meisten sagen seine Enkelin, was übrigens den Jahren nach kaum möglich. Und außer der Enkelin oder der Nichte war da auch noch ein Chinese, derselbe, der da zwischen den Dünen liegt und an dessen Grab wir eben vorübergekommen sind. […] Also dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen hielt so große Stücke auf ihn, daß er eigentlich mehr Freund als Diener war. Da mit einem Male hieß es, Thomsens Enkelin, die, glaub ich, Nina hieß, solle sich, nach des Alten Wunsche verheiraten, auch mit einem Kapitän. Und richtig, so war es auch. […] Und wie man sich denken kann, es ging hoch her. Am Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einem Male hieß es, sie sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich fort, irgendwohin, und niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese; Thomsen kaufte die Stelle, die ich dir gezeigt habe, und da wurd er begraben.“14

Man erzählt, dass eine Enkelin oder vielleicht eine Nichte eines Dänen oder vielleicht eines Engländers, die vielleicht Nina hieß, verschwindet, und niemand weiß, wohin. Zwei Wochen später, so erzählt man, stirbt ein Chinese, und niemand weiß, wieso, der Großvater oder vielleicht Onkel der Braut scheint zumindest nicht mit einem kausalen Zusammenhang zu rechnen, immerhin sorgt er für die Bestattung des Chinesen. Die Struktur dieser Erzählung kulminiert in dem abschließenden Satz: „Der Berliner Pastor aber soll gesagt haben: Man hätte ihn auch ruhig auf dem christlichen Friedhof begraben können, denn der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und gerade so gut wie die anderen. Wen er mit den ‚andern‘ eigentlich gemeint hat, sagte mir Gieshübler, das wisse man nicht recht.“15

Hier wird das Prinzip der diskursiven Fantastik auf die Spitze getrieben: Innstetten erzählt, dass der Pfarrer etwas gesagt haben soll, von dem Gieshübler erzählt, dass „man“ nicht weiß, was der Pfarrer mit dem, was er erzählt hat, gemeint hat: Die Pointe der Geschichte des Chinesen ist, dass sie eigentlich nie erzählt wird.16 Der Erzähler erster Ordnung gibt sie nicht wieder, sondern verlagert sie in intradiegetische Erzählungen. Diese wiederum erzählen nicht die Geschichte, sondern das Erzählen der Geschichte. Von

14 15 16

Fontane, Effi Briest, S. 240f. Ebd., S. 240. Vgl. Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 214.

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der landläufigen Bedeutung des Chinesen im „vulgären“ Wissen (Barthes) der Bewohner Kessins erfährt man dabei kaum etwas. Der Signifikant (das Erzählen) schließt seinen Bezugspunkt nicht mehr auf; der Diskurs über den Chinesen wird intransparent gegenüber dem Referenten. Gregor Reichelt spricht deshalb in Bezug auf den Chinesen von einer Anti-Fiktion: Die Vielzahl narrativer Versionen über den Chinesen löst letztlich die narrative Kohärenz der Chinesen-Erzählungen auf, so dass keine Geschichte im klassischen Sinn entsteht.17 Ob die Geschichte des Chinesen eine unglückliche oder eine glückliche oder keine Liebesgeschichte ist und ob der Tod des Chinesen in einem kausalen Zusammenhang zum Verschwinden der Kapitänsnichte (oder -enkelin) steht, bleibt im Dunkeln. Die Gesamtdiegese eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, das fantastische Element dadurch zu schwächen, dass es als Ausdruck von Figurenpsychologien gelesen werden kann. So unterstellt Crampas den Erzählungen Innstettens über den Chinesen eine erzieherische Funktion18 und wird darin von Effi bestätigt. Denn diese vermutet daraufhin, dass Innstetten durch den Chinesen einen „Angstapparat aus Kalkül“ errichten will.19 Effi ihrerseits bezeichnet sich selbst als anfällig für Spukgeschichten und versucht ihre mögliche Angst bereits im Vorfeld psychologisch einzuordnen („ich habe dann immer gleich Visionen und Träume“)20. So wird denn das fantastische Potenzial des spukenden Chinesen doppelt realistisch relativiert: Es bleibt auf den Figurendiskurs beschränkt und erlangt keinen vom Erzähler erster Ordnung sanktionierten ontologischen Status. Und es wird über die (Selbst-)Psychologisierung der Figur alltäglich realistisch kontextualisiert: als Angstfantasie. Indem die Erzählung das Zeichen derart evoziert und im selben Zuge als bloßes Schauerzeichen entproblematisiert, verhindert sie den tatsächlichen Einbruch eines wunderbaren, zweiten Handlungskreises. Der Sinnhorizont des Wunderbaren bleibt – und damit ist die zweite Dimension der Verarbeitung fantastischer Momente im realistischen Text angesprochen – lediglich konnotativ. D. h., die Frage nach einer anderen Realität wird nicht in solchem Ausmaß gestellt, dass diese als ontologische Frage zentral wird. Da das wunderbare Element aber hier nicht als Darstellungsobjekt sui generis fungiert, wird es für andere symbolische Funktionen frei. 17

18 19 20

Vgl. Gregor Reichelt, Fantastik im Realismus. Literarische und gesellschaftliche Einbildungskraft bei Keller, Storm und Fontane, Stuttgart/Weimar 2001, S. 206. Vgl. Fontane, Effi Briest, S. 280. Ebd., S. 283. Fontane, Effi Briest, S. 205.

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Im Poetischen Realismus, so hatte bereits Hans Vilmar Geppert gezeigt, ist das Symbol von seiner traditionellen Aufgabe entbunden, eine metaphysische Ordnung außerhalb des Textes bildhaft darzustellen. Es zeigt sich primär textimmanent ausgerichtet und erfüllt seine Rolle in der metonymischen Konstruktion der Geschichte. Es versinnbildlicht Figurendispositionen und psychische Zustände oder nimmt Ereignisse vorweg, die im Plot erst noch folgen.21 Wie oft beobachtet, dient die symbolische Behandlung des Chinesen in Effi Briest dazu, die verdrängte Sexualität der Titelheldin implizit zu thematisieren.22 Ihre Angst vor Intimität mit Innstetten projiziert Effi auf den Chinesen, der dadurch für sie zum Spuk wird. Der Chinesenspuk symbolisiert somit intradiegetische Zusammenhänge zwischen den Figuren (die sexuellen Beziehungen) und löst keine Hésitation (Todorov) oder Rupture (Caillois) zwischen verschiedenen ontologischen Ebenen aus. Mit dieser intradiegetischen Funktion verbindet sich eine zweite, auf die kulturellen Codes bezogene: Die Problematisierung der Heldin im Zeichen der Spukgeschichte ruft die Möglichkeit alternativer Handlungscodes auf. Realistische Fantastik behauptet dann nicht, wie die romantische, „die Realität könnte auch komplett anders sein“, sondern fragt: „Könnte die Realität nicht auch anders organisiert sein?“23 Für Effi wächst sich der behauptete Chinese zur Tatsache aus. Indem dadurch der Prozess von der Behauptung eines Codes zu seinem Erscheinen als Realität für den Leser nachvollziehbar und transparent wird, legt das fantastische Element das Strukturprinzip der Codierung offen. Was real erscheint (der Chinese), entpuppt sich als komplexes Zusammenspiel lediglich arbiträrer Codierungen (zum Beispiel Innstettens Erziehungsprogramm). Damit gerät auch die natürliche Referenz der übrigen, realitätsbeherrschenden kulturellen Codes potenziell ins Wanken.24 Innstettens Begriff der Ehre bestimmt seine Auffassung der Realität in gleicher Weise, wie der Chinese

21

22

23

24

Vgl. die einschlägigen Erörterungen von Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994, S. 204–221. Vgl. Angela Isenberg, Effi auf Abwegen. Fremdheit und Befremdung in den Eheromanen Theodor Fontanes, Marburg 2002, S. 178 u. S. 226–227; vgl. ebenfalls Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 210f. Zu Recht mahnt Gregor Reichelt an, Fantastik im Realismus als relationales Phänomen zu betrachten. Im Gegensatz zur romantischen Fantastik ist nicht zu fragen, was sich im fantastischen Element selbst zeigt, sondern vielmehr, was sich durch das fantastische Element innerhalb der realistischen Diegese zeigt. Vgl. Reichelt, Fantastik im Realismus, S. 11. Vgl. ebd., S. 14 u. S. 19.

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Effis Realitätsbild prägt. Wenn Innstetten nach den Maximen der Ehre handelt, ist dies in gleichem Maße irrational, wie wenn Effi Angst vor dem Chinesenspuk hat. Komplexer wird das Verhältnis dadurch, dass Innstetten den Ehrbegriff bekanntermaßen als gesellschaftliches Konstrukt durchschaut: Wüllersdorf war aufgestanden. „Ich finde es furchtbar, daß Sie Recht haben, aber Sie haben Recht. Ich quäle Sie nicht länger mit meinem ‚muß es sein‘. Die Welt ist einmal wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht wie wir wollen, sondern wie die andern wollen. Das mit dem ‚Gottesgericht‘, wie manche hochtrabend versichern, ist freilich ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt.“ Innstetten nickte.25

Er erkennt selbst, dass Ehre kein naturgegebener Begriff ist, handelt aber trotzdem nach diesem Konzept, weil er, wie er sich einbildet, es „muß“. In diesem Sich-Einbilden nun liegt die Parallele zur Fantastik in Effi Briest. Denn auch für Effi ist der Chinesenspuk nicht mehr real, nachdem sie ihn als Konstrukt Innstettens (als „Angstapparat aus Kalkül“) erkannt hat. Trotzdem bleibt die Angst Effis vor dem Chinesen handlungswirksam. Als Innstetten ihr erzählt, dass Johanna in ihrem Portemonnaie das Chinesenbild von Kessin nach Berlin mitgenommen hat, entgegnet sie: „Ach, Geert, das hättest du mir nicht sagen sollen. Nun ist doch wieder so was im Hause.“ „Sag ihr, daß sie ihn verbrennt.“ „Nein, das mag ich auch nicht, und das hilft auch nichts. Aber ich will Roswitha bitten…“ „Um was? Ach, ich verstehe schon, ich ahne, was du vorhast. Die soll ein Heiligenbild kaufen und es dann auch ins Portemonnaie tun. Ist es so was?“ Effi nickte.26

Obwohl Effi um die Irrealität des Chinesen weiß, fürchtet sie ihn; obwohl Innstetten um die Irrationalität des Ehrkonzepts weiß, folgt er ihm: Das Handeln nach einem gesellschaftlich festgelegten Ehrbegriff wird mit der abergläubischen Spinnerei Effis parallelgesetzt. Dass darin die Arbitrarität der kulturellen Codes durchgespielt wird,27 erschließt sich in der Perspektive des lesenden Beobachters.

25 26 27

Fontane, Effi Briest, S. 370. Ebd., S. 295. Eine Dimension, die auch Geppert schon dem Realismus zugesprochen hat (vgl. Geppert, Der realistische Weg, S. 8f).

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III. Der wunderbare Überschuss – diabolische Momente in Raabes Zum wilden Mann Das bereits angesprochene Verfahren des konnotativen Überschusses wird insbesondere dort augenscheinlich, wo potenziell fantastische Elemente in Texten des Poetischen Realismus näher an das erzählte Geschehen auf erster Ebene heranrücken. Man denke an den finsteren Weltenbummler August alias Agonista in Wilhelm Raabes Zum wilden Mann, von dem die Kritik immer wieder behauptet hat, ihm hafte etwas Diabolisches an.28 Auch hier werden die zentralen Deutungen in direkten Figurenreden der Protagonisten Kristeller und Agonista entwickelt. Aber sie betreffen unmittelbarer die Figurenanlage und den Handlungsfortgang und also die Frage, ob mit Agonista der Leibhaftige in den realistischen Text Einzug hält. Man betrachte pars pro toto die schauerliche Szene am Blutstuhl, den Kernmoment der Beziehung zwischen Agonista und Kristeller, auf den die Schenkung jenes Geldbetrags folgt, von dem Kristeller seine Apotheke „Zum wilden Mann“ erwirbt (ein Betrag, den er letztlich an Agonista zurückzahlt, um sich verarmt, aber seelisch unbeschwert aufs Altenteil zurückzuziehen). Auch Raabe hält die gebotene realistische Distanz zum wunderbaren Handlungskreis und delegiert die Deutungsmacht an die intradiegetischen Diskurse. Ob die Szene am Blutstuhl Ausdruck eines (wunderbaren) Teufelskampfes oder eines (natürlichen) inneren Ringens des vom Henkersberuf übermannten August ist, lässt sich nicht entscheiden. Durch Agonistas rückblickende Erzählung wird sie als Teufelskampf konzipiert. [I]ch trug meinen still und um einen Kopf kürzer gemachten Patienten, minus diesen Kopf, auf dem Rücken, und ich hatte ihn eben auf den Blutstuhl hinaufgeschleppt, als mein Freund Philipp die Klippe von der anderen Seite her erkletterte […]. [I]ch trug, wie gesagt, den Rumpf des armen Teufels von dem Gerüste hinunter; er hing mir auf dem Rücken, die Hände schleiften auf dem Boden nach, und ich hielt auf jeder Schulter einen Fuß im blauen wollenen Strumpfe gepackt! So hab ich ihn auf den Blutstuhl hinaufgeschleift; und als du mich fandest, Philipp 28

Vgl. Hans Oppermann, „Mythische Elemente in Raabes Dichtung“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1968, S. 49–82; Volker Hoffmann: „‚Zum wilden Mann‘. Die anthropologische und poetologische Reduktion des Teufelspaktthemas in der Literatur des Realismus am Beispiel von Wilhelm Raabes Erzählung“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 30. Jg./1986, S. 472–492; Heinrich Detering, Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes, Göttingen 1990; Michael Schmidt, „Nichts als Vettern? Anspielungsstrukturen in Wilhelm Raabes Erzählung ‚Zum wilden Mann‘“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1992, S. 109–138, hier S. 113f.

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Kristeller, auf dem Felsen liegend, das Gesicht zu Boden gedrückt, da saß der Halunke auf mir, kopflos – hatte mir eine Kralle in das Nackenhaar gewühlt und sang sein diabolisches Triumphlied über mich – ein Bauchredner sondergleichen.29

Gleichzeitig erscheint bereits innerhalb der Erzählung Agonistas die aufgerufene Konnotation des Kampfes mit dem Teufel wieder gebrochen, und stattdessen wird eine psychologische Deutung nahe gelegt: Der „Halunke“, den der Henkerssohn August/Agonista berufsmäßig exekutieren musste und der ihn anschließend spukhaft verfolgt, wird als „Bauchredner“, also als innere Stimme Augusts (etwa als sein Gewissen), bezeichnet. Die Einordnung der Szene als Kampf eines Verzweifelten mit dem Teufel30 unterstützt auch Kristeller in seiner einleitenden Erzählung: Nun war es, als ringe er in der Tiefe seiner Seele mit einem gewaltig starken Gegner, und dann war es, als ob er dem Feinde obgesiegt habe, und dann war es, als stehe er triumphierend mit dem Fuße auf der Brust des Niedergeworfenen. Er knirschte mit den Zähnen und rieb die rechte Hand, als sei sie feucht und er müsse sie trocknen.31

Die Schenkung des Geldes an Kristeller liest sich vor diesem Hintergrund als Bußgabe Augusts,32 die Blutstuhl-Begegnung als dramatische Theodizee, in der letztlich der Teufel verliert. Die wunderbaren Konnotationen werden dabei durchkreuzt von Erklärungen, die sich auf innerweltliche Gesetze berufen und beschränken. Der Wahnsinn Augusts erscheint nicht als eine wunderbare, sondern als eine sozial begründete Verzweiflung: Ich habe heute mit dieser Hand mein Schicksal besiegelt und werde sie niemandem mehr als Zeichen der Freundschaft, der Zuneigung, der Liebe geben. Haltet mich nicht für einen Narren – oh, ich wollte, ich wäre es […]. Sieh da rundumher, sieh, wie die Städte und Dörfer ausgestreut sind; – sieh, alle diese hunderttausend Menschenwohnungen sind mir von jetzt an verschlossen: ich habe keinen Verkehr mit euch mehr, ich bin allein; es gibt keinen anderen Menschen mehr auf Erden, der so allein ist wie ich!33

Wenn damit auch in Bezug auf ein einzelnes Element eine Konkurrenz zwischen wunderbarem und realistischem Handlungskreis besteht, wird doch der Text als Ganzes nicht fantastisch. Raabes Erzähler spielt geradezu mit den fantastischen Konnotationen, wenn er seine Figuren schauerliches Er29

30 31 32 33

Wilhelm Raabe, „Zum wilden Mann“, in: Sämtliche Werke, Braunschweiger Ausgabe, Bd. 11, Karl Hoppe (Hrsg.), Freiburg i.Br./Braunschweig 1956, S. 161–256, hier S. 215f. Vgl. Detering, Theodizee und Erzählverfahren, S. 77–81. Raabe, „Zum wilden Mann“, S. 194. Vgl. Detering, Theodizee und Erzählverfahren, S. 77–79. Raabe, „Zum wilden Mann“, S. 193f.

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schrecken umgehend realistisch dämpfen lässt: Als Kristeller vom Erbe der Henkersfamilie Agonistas erfährt und eine dämonische Verbindung zwischen der damaligen Geldschenkung und dem anschließenden Tod seiner Verlobten Johanne nahe legt („O meine Johanne – meine liebe, arme Johanne!“34), wendet Agonista umgehend ein: „Nein, nein Philipp, bei allen Mächten, nein! es ist nicht so! Das ist nicht der Geschäftsgang zwischen Himmel und Erde! Du würdest sie doch verloren haben – o, um meine Hinterlassenschaft hat sie dir das Schicksal nicht sterben lassen! Was hatte ihr Dasein und Geschick mit dem zu schaffen, was alles an den Talern hing, die ich damals auf der Flucht von mir warf und dir an den Hals, weil du mir zufällig zunächst standest.“35

So werden Konnotate des Wunderbaren aufgerufen, aber dessen Geltung umgehend relativiert. Kohärent als eigener Handlungskreis konstruiert ist das Dämonische nicht. Vielmehr handelt es sich um eine punktuelle Anreicherung der Diegese mit mythischen Zeichen, die wie „Goldstaub“ (Barthes) über der referenziellen Bedeutung liegen.36 Während Agonistas Lebensweg auf realistischer Ebene hinreichend motiviert gezeichnet ist (Melancholie als Henkersspross, Schenkung des Lohns an Kristeller, Auswanderung nach Brasilien, Soldatenleben und moralische Verrohung, Rückkehr zu Kristeller, Plünderung des kleinbürgerlichen Haushalts), ist die fantastische Ebene von deutlichen Brüchen geprägt: Wenn Agonista erst auf der Fahrt nach Brasilien auf dem Schiff „Diablo blanco“ vom Teufel besucht und zum Teufel gemacht wird, wie kann dann bereits die Schenkung an Kristeller ein Teufelspakt sein? Die logische Unstimmigkeit wird hier realisiert als Bruch der Chronologie. Es ist gleichwohl eine Unstimmigkeit, die nötig ist, um den realistischen Text im Glanze übersinnlich mythischer Bedeutung strahlen zu lassen, ohne ihn damit aus dem referenzialisierbar kulturellen Wissen zu entlassen.

IV. Fantastik als „Stille Post“ bei Theodor Storm „Ich habe den Sagenstoff ins rein Menschliche hinübergezogen; darin lag die Schwierigkeit für die Ausführung […]“37 So kommentiert Theodor Storm 34 35 36 37

Ebd., S. 217. Ebd. Barthes, S/Z, S. 13. Theodor Storm, „Brief Elwin Paetel vom 7. 3. 1888“, Storm-Archiv Husum, zitiert nach: Gerd Eversberg, „‚Vor der Deichnovelle habe ich einige Furcht‘. Storms letzter Schreibprozeß im Spiegel der ‚Schimmelreiter‘-Textzeugen“, in: Ders./David A. Jackson/Eckart Pastor (Hrsg.), Stormlektüren, Festschrift für KarlErnst Laage zum 80. Geburtstag, Würzburg 2000, S. 323–348, hier S. 323.

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die Arbeit an seiner späten Geisternovelle Der Schimmelreiter. Im Gegensatz zu Effi Briest und zu Zum wilden Mann ist bei Der Schimmelreiter nicht die Frage zu stellen, wie sich ein realistischer Text mit fantastischen Elementen anreichern lässt und trotzdem realistisch bleibt, sondern umgekehrt, wie ein fantastischer Stoff so weit reduziert werden kann, dass aus ihm eine realistische Novelle entsteht. Bekanntlich hat Storm seine Deichsage narrativ komplex verschachtelt und dabei das für die Frage nach der Fantastik relevante Geschehen weitreichend historisch distanziert. Vier Erzählinstanzen sind vorgeschaltet: 1) der Herausgeber (ein anonymer Rahmen-Ich-Erzähler) 2) der Berichterstatter aus dem Gasthaus um 1830 (ein zweiter anonymer Ich-Erzähler) 3) der Erzähler des Lebens von Hauke Haien um 1750 (der Schulmeister) 4) Zeitgenossen von Hauke Haien (die Dorfbewohner) Der Rahmenerzähler auf erster Stufe verhält sich heterodiegetisch gegenüber der berichteten Geschichte. Er gibt an, lediglich eine Geschichte darzubieten, die er um 1850 als Kind gelesen hat: ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den „Leipziger“ oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten“. […] vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, dass ich sie seit jener Zeit […] niemals aus dem Gedächtnis verloren habe.38

Dieser Herausgebertext umfasst nur die ersten 20 Zeilen des Gesamttextes, aber er leistet eine entscheidende Immunisierung. Von vornherein versagt sich der Erzähler auf erster Stufe, den Wahrheits- und Realitätsgehalt der anschließend dargebotenen Geschichte zu verbürgen. Zwischen der potenziell fantastischen Metadiegese und der Diegese erster Ordnung (so rudimentär sie hier auch ausgearbeitet ist), wird kein kontiger Zusammenhang gestiftet. Der Herausgeber markiert lediglich eine poetische Nische, in der Inhalte bis zu einem gewissen Grade der (realistischen) Überprüfung entzogen sind. Man kennt diese erzählstrategische Volte vom späten Storm. In Ein Fest auf Haderslevhuus, einem Text, der vor schauerromantischen Motiven geradezu strotzt, etabliert der Erzähler seine Diegese ganz ausdrücklich gegen die 38

Theodor Storm, „Der Schimmelreiter“, in: Sämtliche Werke, Bd. III: Novellen 1881–1888, Karl Ernst Laage (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1988, S. S. 634–756, hier S. 634.

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etablierte Geschichtsschreibung der Chronisten.39 Bewegende literarische Stoffe, so legen Storms Einleitungen nahe, lassen sich bevorzugt am Rande des sanktionierten Wissens platzieren – nicht komplett jenseits der Standarddiskurse (so viel Romantik geht denn nicht!), aber doch auch keineswegs vollends von ihnen abgesichert. Die eigentliche Spukgeschichte vom Deichgrafen Hauke Haien, der laut Volkssage zum Schimmelreiter-Gespenst geworden ist, wird um 1830 erzählt, wobei sich der hier Bericht erstattende Schulmeister auf diverse unzuverlässige Zeugnisse der Ereignisse um 1750 stützt. Die Bewertung, welcher Textinstanz zu trauen ist, liegt beim impliziten Leser und wird diesem in Form der Unterhaltung des Ich-Erzählers mit dem Schulmeister im Gasthaus denn auch als Rezeptionsaufgabe mitgegeben: „Nun freilich“, sagte der Alte […], „will ich gern zu Willen sein; aber es ist viel Aberglaube dazwischen, und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen.“ „Ich muß Euch bitten, den nicht auszulassen“, erwiderte ich; „traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde!“40

Im hier angesprochenen Gemisch aus „Spreu“ und „Weizen“, aus Aberglauben und Faktischem, entsteht der eigentliche fantastische Gehalt des Schimmelreiters. Und auf dieser Ebene sind die Trennlinien nicht so leicht zu ziehen. Denn zwischen den Ebenen 1750 und 1830 ist mit der Erscheinung des Schimmelreiters, auf den der Reisende bei Ankunft im Dorf stößt, eine Kontiguität hergestellt. Wie genau kommt das fantastische Gemisch zustande? Das Misstrauen der Dorfbewohner gegenüber Hauke Haien entzündet sich noch zu Lebzeiten an seinem Schimmel, von dem die Dorfbewohner vermuten, dass er etwas mit dem Teufel zu tun hat. Diese Vermutung beruht auf einer beobachteten Erscheinung eines gespenstischen Pferdes auf Jevershallig, die in der Perspektive zunächst seines Kleinknechts und dann eines großen Teils des Dorfes mit dem Kauf des Schimmels zusammengeschaltet wird. Bereits die Erscheinung des gespenstischen Pferdes erhält innerhalb der Diegese keinen Realitätsstatus, sondern wird lediglich durch den Diskurs der Figuren Iven Johns und Carsten und in deren Perspektive entwickelt. Die Erzählinstanz selbst zieht sich hinter eine Ansammlung von Figuren zurück und bürgt weder für das Pferd, noch leugnet sie es. Gebrochen wird dieser Figurendiskurs zusätzlich durch den einleitenden Hinweis des Schulmeisters, dass die Überlieferung der wunderbaren Annahmen auf dem „Geschwätz des ganzen Marschdorfes“ basiert – im Gegensatz zu seinen eigenen Ausführungen, die 39 40

Vgl. Ders., „Ein Fest auf Haderslevhuus“, in: ebd., S. 389–458, hier S. 389f. Ders., „Der Schimmelreiter“, S. 639.

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auf „Überlieferungen verständiger [lies: realistisch gesinnter, Anm. J. N.] Leute“ beruhen.41 Betrachten wir die kommunikative Entstehung des Fantastischen an den beiden Figuren Carsten und Iven genauer. Eine anfänglich lediglich ungewöhnliche Wahrnehmung, eine Irritation in der natürlichen Welt der Diegese führt zu diffusen Zweifeln an ihr, die im Gespräch in konkrete Vorstellungen des Wunderbaren münden: „Wonach guckst du denn so?“ frug der Junge. Der Knecht hob den Arm und wies stumm nach der Hallig. „Oha!“ flüsterte der Junge; „da geht ein Pferd – ein Schimmel – das muß der Teufel reiten – wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?“ – „Weiß nicht, Carsten; wenn’s nur ein richtiges Pferd ist!“42

Während der Großknecht Iven Johns das Phänomen und dessen anschließende erfolglose Erkundung auf sich beruhen lässt, bringt es der Kleinknecht Carsten mit dem neu gekauften Schimmel seines Herrn Hauke Haien in einen kontigen Zusammenhang: „Du, Iven!“ sagte er endlich, „weißt du, das Pferdsgeripp auf Jeverssand! […] Es ist gar nicht mehr da; weder Tages noch bei Mondschein; wohl zwanzigmal bin ich auf den Deich hinausgelaufen!“ „Die alten Knochen sind wohl zusammengepoltert!“ sagte Iven und rauchte ruhig weiter. […] „Mach keinen Spaß, Iven! Ich weiß jetzt; ich kann dir sagen, wo es ist! […] Es steht in unserem Stall; da stehts, seit es nicht mehr auf der Hallig ist. Es ist auch nicht umsonst, daß der Wirt es allzeit selber füttert; ich weiß Bescheid, Iven!“43

Die Genese der Fantastik wird an mehreren Stellen auf spezifische Bedingungen der Kommunikation zurückgeführt und dadurch relativiert. Wie im Prinzip der „Stillen Post“ verselbstständigt sich die Erzählung des Kleinknechts Carsten: So tat er [Carsten] sich denn heimlich nach einem neuen Dienste um, kündigte und trat um Allerheiligen als Knecht bei Ole Peters ein. Hier fand er andächtige Zuhörer für seine Geschichte von dem Teufelspferd des Deichgrafen; […] [sie] hörten in behaglichem Gruseln zu und erzählten sie später Allen, die gegen den Deichgrafen einen Groll im Herzen oder die an derart Dingen ihren Gefallen hatten.44

Aus dem Gespensterpferd ist bereits innerhalb der Erzählung Carstens ein Teufelspferd geworden, die anfängliche Assoziation („das muß der Teufel 41 42 43 44

Ebd., S. 695. Ebd., S. 696f. Ebd., S. 705. Ebd., S. 706.

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reiten“45) wird Wirklichkeit, insofern sie handlungswirksam wird. Ole Peters nutzt die Geschichte, um seiner auf Eifersucht beruhenden Feindschaft gegenüber Hauke Haien innerhalb des Dorfes Rückendeckung zu geben. Mit Erfolg: „Nun, Marten!“ rief Hauke; „was stehst du, als ob dir der Donner in die Beine gefahren sei?“ – „Herr, Euer Pferd, es ist so ruhig, als ob es Böses vorhabe!“ Hauke lachte und nahm das Pferd selbst am Zügel […]. Von den Arbeitern sahen einige scheu zu Roß und Reiter hinüber […].46

Die Furcht vor seinem Pferd hat sich im Dorf bereits zur Furcht vor Hauke Haien ausgeweitet. Zum einen wird durch diese Episode also gezeigt, wie sich die Schimmelgeschichte durch die wiederholte Erzählung verselbstständigt und an Konkretheit gewinnt, wobei die diskursive Produktion über die Figurenrede ähnlich wie bei Fontane funktioniert. Zum anderen wird sie als instrumentalisierte Geschichte von Ole Peters vorgeführt. Damit wird das Wunderbare thematisch überformt durch die Darstellung einer rein alltagsrealistisch motivierten Feindschaft zweier Männer. So wird der realistische Status der Diegese thematisch gestärkt. Zu welchem Zwecke evoziert Der Schimmelreiter fantastische Momente? Ähnlich wie bei Fontane werden hier die scheinbar natürliche Geltung kultureller Codes und eine spezifische Form von Rationalität im Spiel mit übersinnlichen Deutungen problematisiert. So wie den Dorfbewohnern die Teufelsgerüchte zur Realität werden, so ist Hauke Haiens Realitätssicht von seinem Deichbauprojekt bestimmt.47 Zwar erscheint dieses Deichbauprojekt als Ergebnis rationalen Kalküls. Der Deich selbst wird auf Grundlage mathematischer Berechnungen konstruiert, die traditionelle Bauweise als unvernünftig verworfen. Haien lehnt die Tradition des Deichopfers ab und verlässt sich auf die vernünftige Bauweise als Sicherung des Deiches. Auch der Koog, der als Folge des neuen Deiches entsteht, erhält seinen Wert aufgrund seiner ökonomischen, und damit rational erscheinenden Nutzung. Doch zugleich werden in den realistischen Handlungsstrang irrationale Beweggründe Haiens verwoben. Es ist die paranoide Angst Haukes vor der Missachtung der Dorfbewohner, die ihn das Mammutprojekt beginnen lässt. Als die Flut es bedroht, weigert er sich, „seinen“ Deich und „seinen“ Koog zu opfern und so den alten Deich, der das Dorf schützt, zu erhalten.48 Ein stehender Deich, der niemanden mehr schützt, wird für Hauke Grund zur 45 46 47 48

Ebd., S. 696. Ebd., S. 713. Vgl. Reichelt, Fantastik im Realismus, S. 160f. Storm, „Der Schimmelreiter“, S. 749f.

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Freude: „Ein unwillkürliches Jauchzen brach aus des Reiters Brust: ‚Der Hauke-Haiendeich, er soll schon halten; er wird es noch nach hundert Jahren tun!‘“49 Kontrastiert wird dieses irrationale Verhalten mit dem bis dato als wunderbar, abergläubisch markierten Verhalten der Dorfbewohner. Angesichts der Katastrophe sind sie es, die rational agieren.50 Während sie ihr Leben vor den Fluten retten, stürzt sich Hauke mitten hinein (zudem die wunderbare Tradition des Deichopfers aufgreifend, indem er sich selbst zu einem macht). Während sie den alten Deich retten wollen, um das Dorf zu schützen, nimmt Hauke dessen Bruch in Kauf. Der naturaliserte Nexus zwischen Realismus und Rationalität wird aufgelöst und als kultureller Code sichtbar. Mit der „Empirie“ wird noch eine weitere Kategorie ihrer selbstverständlichen Zuordnung zur realistischen Rationalität enthoben. Die als rational markierte Figur des Hauke Haien beobachtet als Kind unheimliche Gestalten im Nebel: Hauke sah mit starren Augen darauf hin; denn in dem Nebel schritten dunkle Gestalten auf und ab, sie schienen ihm so groß wie Menschen. […] dann breiteten sie sich aus und verloren alle Form. „Was wollen die? Sind es die Geister der Ertrunkenen?“ dachte Hauke. „Hoiho!“ schrie er laut in die Nacht hinaus; aber die draußen kehrten sich nicht an seinen Schrei, sondern trieben ihr wunderliches Wesen fort. […] [A]ber er lief nicht fort, sondern bohrte die Hacken seiner Stiefel fest in den Klei des Deiches und sah starr dem possenhaften Unwesen zu, das in der einfallenden Dämmerung vor seinen Augen fortspielte. „Seid ihr auch hier bei uns?“ sprach er mit harter Stimme: „ihr sollt mich nicht vertreiben!“51

Auf empirischer Ebene sind die unheimlichen Gestalten für Hauke nicht zu leugnen. Hauke sieht sie (fokalisiert), und das, was er sieht, steht im Indikativ. Die Empirie widerspricht Haukes sonstigem Wirklichkeitssinn. Indirekt erkennt er den Realitätsstatus der Gestalten an, indem er mit ihnen kommuniziert. Allein die Tatsache, dass er ihnen keine Handlungsrelevanz beimisst („ihr sollt mich nicht vertreiben“), lässt ihn seine realistische Weltsicht aufrechterhalten. Ähnliches geschieht in der Diegese des Ich-Erzählers um 1830. Seine Sinne erkennen eindeutig den Schimmelreiterspuk, doch seine rationalistische, realistische Weltsicht steht dem entgegen, weshalb er dem aufklärerischen Schulmeister statt den Dorfbewohnern zugeneigt bleibt: 49 50

51

Ebd., S. 752. Vgl. Johannes Harnischfeger, „Modernisierung und Teufelspakt. Die Funktion des Dämonischen in Theodor Storms ‚Schimmelreiter‘“, in: Schriften der TheodorStorm-Gesellschaft, Bd. 49/2000, S. 23–44, hier S. 31. Storm, „Der Schimmelreiter“, S. 644f.

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„Alles vorüber!“ sagte er [der Deichgraf]. „Aber unser Schulmeister hat Ihnen wohl schön was weisgemacht; er gehört zu den Aufklärern!“ – „Er scheint ein verständiger Mann!“ „Ja, ja, gewiß; aber Sie können Ihren eignen Augen doch nicht mißtrauen; und drüben an der anderen Seite, ich sagte es ja voraus, ist der Deich gebrochen!“ Ich zuckte die Achseln: „Das muß beschlafen werden! Gute Nacht, Herr Deichgraf!“ Er lachte: „Gute Nacht!“52

Die Rationalität des Realismus, das ist die Pointe dieses Erzählstranges, ist nur möglich dank eines selektiven Wirklichkeitsbildes. Der selbstverständliche Nexus zwischen Rationalität, Realismus und Empirie wird im Schimmelreiter aufgehoben, das scheinbar natürliche Dreiecksverhältnis zeigt sich als Konstrukt, seine Natürlichkeit als imaginär. Storm gelingt diese Pointe auch, weil er das bereits angesprochene Verfahren des konnotativen Überschusses in Anschlag bringt. Auf der untersten Ebene des erzählten Geschehens, in der Geschichte um Hauke Haiens Deichbau, herrscht eine regelrecht fantastische Dialektik von wunderbarer und realistischer Erklärung, und doch erscheint das Wunderbare dabei nicht als dominanter, durch und durch kohärenter Deutungsentwurf. Hauke verweigert das im magischen Glauben konventionelle Opfer eines lebendigen Wesens an der sensibelsten Stelle des Deiches. In dunkler Prophezeihung warnt ihn daraufhin die Dorfbevölkerung: „[S]oll Euer Deich sich halten, so muß was Lebiges hinein!“53 Just bricht der Deich während eines Unwetters an der besagten Stelle. Dies kann aufgrund des Gesprächs als magische Strafe gelesen werden. Die Passage korrespondiert mit weiteren Vorahnungen, etwa in der Sterbeszene Trien’ Jans’: Zu Ende des Septembers war in der Kammer […] die fast neunzigjährige Trien’ Jans am Sterben. Man hatte sie nach ihrem Wunsche in den Kissen aufgerichtet, und ihre Augen gingen durch die kleinen bleigefaßten Scheiben in die Ferne; es mußte dort am Himmel eine dünnere Luftschicht über einer dichteren liegen; denn es war hohe Kimmung, und die Spiegelung hob in diesem Augenblick das Meer wie einen flimmernden Silberstreifen über den Rand des Deiches, so daß es blendend in die Kammer schimmerte; auch die Südspitze von Jeverssand war sichtbar. […] „Jins! Jins!“, und kreischend, wie ein Notschrei, brach es [aus Trien’ Jans] hervor, und ihre knöchernen Arme streckten sich gegen die draußen flimmernde Meeresspiegelung: „Hölp mi! Hölp mi! Du bist ja bawen Water…Gott gnad de Annern!“54

52 53 54

Ebd., S. 755. Ebd., S. 722. Ebd., S. 741f.

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Was hier als unheimliche Vorahnung der Katastrophe erscheint und als solche ein übersinnliches Wissen konnotiert, wird noch in der selben Passage metonymisiert: Die Erscheinung des Meeres ist auf eine naturwissenschaftlich erklärbare und ausdrücklich als solche erklärte Luftspiegelung zurückzuführen. Dass diese realistische Erklärungsmöglichkeit zwar ausreicht, um die wunderbare Deutung (Trien’ Jans sieht mehr als nur kausale Zusammenhänge) so weit zu metonymisieren, dass sie die realistische Narration nicht sprengt, aber nicht hinreicht, um die Konnotation als solche auszulöschen, beweist Hauke selbst: „In Haukes Innern aber klang schwer die letzte Rede der Sterbenden. ‚Gott gnad de Annern!‘ sprach es leise in ihm. ‚Was wollte die alte Hexe? Sind denn die Sterbenden Propheten? – –‘“55 Die Vorahnung Trien’ Jans’ erhält im Nachdenken der Figur ihre Bestätigung. Die Erzählung selbst wiederholt das Muster der übersinnlichen Antizipation auch durch die gesamte Dorfgemeinschaft: „– – Bald, nachdem Trien’ Jans oben bei der Kirche eingegraben war, begann man immer lauter von allerlei Unheil und seltsamem Geschmeiß zu reden, das die Menschen in Nordfriesland erschreckt haben sollte.“56 Das hier befürchtete „Geschmeiß“ rückt konnotativ in die Nähe der biblischen Plagen, die dem Versinken der Ägypter im Meer vorausgehen: [Und] sicher war es, am Sonntage Lätare war droben von der Turmspitze der goldne Hahn durch einen Wirbelwind herabgeworfen worden; auch das war richtig, im Hochsommer fiel, wie ein Schnee, ein groß Geschmeiß vom Himmel, daß man die Augen davor nicht auftun konnte, und es hernach fast handhoch auf den Fennen lag, und hatte Niemand je so was gesehen57.

Dadurch, dass das „Geschmeiß“ tatsächlich den Ort heimsucht, besteht hier ein starker kontiger Zusammenhang zwischen den Ahnungen und der Diegese. Dieser Ereigniszusammenhang erhält eine solch markante Konnotation des Wunderbaren, dass eine apodiktische Setzung der extradiegetischen Erzählinstanz nötig ist, um sie nicht zum Denotat werden zu lassen. Die wunderbaren Erzählungen seien „Geschwätz“, so der Schulmeister: „So fand im Hause des Deichgrafen das abergläubische Geschwätz bei der Herrschaft keinen Anhalt; aber in die übrigen Häuser, und je länger die Abende wurden, um desto leichter drang es mehr und mehr hinein.“58 Das Problem für den realistischen Aufbau der Diegese ist nun aber: Das „Geschwätz“ behält Recht, die Katastrophe findet tatsächlich statt. Wie 55 56 57 58

Ebd., S. 742. Ebd. Ebd. Ebd., S. 743.

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kann die Diegese trotzdem realistisch bleiben? Der konnotierten Ebene des Wunderbaren liegt eine dominante realistische Handlungskette parallel. Während es sich bei den wunderbaren Motiven eher um poetisch zugkräftige Äquivalenzbeziehungen handelt, gibt es auf der realistisch-metonymischen Achse handfeste Folgebeziehungen. Der Bruch des alten Deiches ist, realistisch betrachtet, vorauszusehen. Denn Deiche dieser Bauart, heißt es, halten erfahrungsgemäß dreißig bis fünfzig Jahre: Ein ärgerliches Lachen ging durch die Gesellschaft. „Aber wozu die unnütze Arbeit; der Deich soll ja nicht höher werden als der alte“, rief eine neue Stimme, „und ich mein, der steht schon über dreißig Jahre!“ „Da sagt Ihr recht“, sprach Hauke, „vor dreißig Jahren ist der alte Deich gebrochen; dann rückwärts vor fünfunddreißig, und wiederum vor fünfundvierzig Jahren; seitdem aber, obgleich er noch immer steil und unvernünftig steht, haben die höchsten Fluten uns verschont.“59

Die realistischen (bautechnischen) Begründungen für den Deichbruch erhalten einen höheren Wirklichkeitsstatus als die wunderbaren Vorahnungen, gerade dadurch, dass sie nicht ins „Geschwätz“ der Leute eingehen, sondern stattdessen mit weiteren Erzählerinformationen übereinstimmen. Nach einem schweren Sturm kontrolliert Hauke Haien die Deiche und erkennt die poröse Stelle, die später brechen wird: Schon war er […] auf dem neuen Deich herumgeritten, und es war Alles wohlerhalten; als er aber an die Nord-Ostecke gekommen war, dort wo der neue Deich auf den alten stößt, war zwar der erstere unversehrt, aber wo früher der Priel den alten erreicht hatte und an ihm entlanggeflossen war, sah er in großer Breite die Grasnarbe zerstört und fortgerissen und in dem Körper des Deiches eine von der Flut gewühlte Höhlung, durch welche überdies ein Gewirr von Mäusegängen bloßgelegt war.60

Die mangelnden Ausbesserungsarbeiten, die Ursache für den späteren Bruch werden, sind durch eine krankheitsbedingte Schwäche Haukes61 erklärt, die ihn vor „neuer Plag und Arbeit“62 zurückschrecken lässt. Nach Rücksprache mit den Deichbevollmächtigten unterbleibt eine Generalreparatur,63 und auch ganz ohne wunderbare Anzeichen ahnt Hauke die Katastrophe: Das Jahr ging weiter, aber je weiter es ging und je ungestörter die neugelegten Rasen durch die Strohdecke grünten, um so unruhiger ging oder ritt Hauke an dieser 59 60 61 62 63

Ebd., S. 707. Ebd., S. 735f. Ebd., S. 735. Ebd., S. 736. Ebd., S. 738.

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Julia Neu

Stelle vorüber, er wandte die Augen ab, er ritt hart an der Binnenseite des Deiches […]; und endlich, mit den Händen hätte er Alles wieder aufreißen mögen; denn wie ein Gewissensbiß, der außer ihm Gestalt gewonnen hatte, lag dies Stück des Deiches ihm vor Augen.64

Der Deichbruch ist also hinreichend profan motiviert, so dass eine magische Strafe für ein fehlendes Deichopfer als Erklärung durchaus nicht nötig ist. Hauke erkennt sein Versagen entsprechend mit realistischem Wirklichkeitssinn: „Euere Schuld, Deichgraf!“, schrie eine Stimme aus dem Haufen: „Euere Schuld! Nehmt’s mit vor Gottes Thron!“ […] Was hatte er für Schuld vor Gottes Thron zu tragen? – Der Durchstich des neuen Deichs – vielleicht, sie hätten’s fertig gebracht, wenn er sein Halt nicht gerufen hätte; aber es war noch eins, und es schoß ihm heiß zu Herzen, er wußte es nur zu gut – vorigen Sommer, hätte damals Ole Peters’ böses Maul ihn nicht zurückgehalten – da lag’s! […] „Herr Gott, ja ich bekenn es“, rief er plötzlich laut in den Sturm hinaus, „ich habe meines Amtes schlecht gewaltet!“65

Der konnotative Überschuss der Handlung ist damit gleichwohl nicht aufgebraucht. Wie oben gesagt, hat Storm die erste Erzählebene hinreichend gegen Kontiguitäten mit der Metadiegese immunisiert, so dass er in den Binnenerzählungen ausgiebig Wundersames vorbringen kann. Und weil er auch auf der basalen Geschehensebene stets bestrebt ist, übersinnlich anmutende Ereignisse konsequent realistisch zu metonymisieren, so dass kein Handlungskern untermotiviert erscheint, kann er bis zuletzt poetische Äquivalenzen ausspielen: So trägt denn Haukes Tod auch dem Wunderbaren Rechnung, ohne dass dieses als Wirkursache des Geschehens zu gelten hätte. Er macht sich selbst zum Deichopfer und greift dabei die Vorahnung Trien’ Jans’ auf: „‚Vorwärts!‘ rief er noch einmal, wie er es so oft zum festen Ritt gerufen hatte: ‚Herr Gott, nimm mich; verschon die Andern!‘“66 Von außen betrachtet schillert der Tod Hauke Haiens so zwischen der Dynamik übersinnlicher Prophezeihung und dem zwar heroischen, aber doch realistisch lesbaren Selbstopfer eines paranoiden, von Hybris übermannten Helden. Es ist ein wahrhaft poetisch-realistischer Tod: hinreichend motiviert, aber doch mit dem Abglanz wunderbar symbolischer Bedeutung ausgestattet.

64 65 66

Ebd., S. 740. Ebd., S. 750f. Ebd., S. 753.

Der einzige Weg

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Philipp Pabst (Münster)

Der einzige Weg Spätrealistische Textverfahren in Conrad Ferdinand Meyers Die Hochzeit des Mönchs

I. Paul Heyse, Theodor Storm und Gottfried Keller waren sich einig: Conrad Ferdinand Meyers Novelle Die Hochzeit des Mönchs (1884) leidet unter ihrer dominanten und manierierten Rahmenerzählung. Paul Heyse etwa ist nach seiner Lektüre überzeugt, dass die Rahmenerzählung ein entbehrliches Ärgernis darstellt. In einem Brief an Theodor Storm fragt er: „Was aber sagst Du zu C. F. Meyers ‚Hochzeit des Mönchs‘, mit der erkünstelten, noch dazu historisch sehr bedenklichen Rahmenerfindung?“1 In einem Schreiben an Gottfried Keller heißt es dann noch deutlicher, „[d]ie prachtvolle Novelle hat er durch seinen verkünstelten Rahmen und die nach Edelrost schmeckende Schnörkelrede fast ungenießbar gemacht“.2 Die aufwendige Konstruktion um Dante Alighieri, der am Hofe Cangrande Scaligers eine wärmende Feuerstelle sucht und der Hofgesellschaft im Gegenzug eine unterhaltsame Geschichte vortragen muss, entsprach offenbar nicht dem Geschmack der prominenten Zeitgenossen. Ganz in der Nachfolge von Meyers Dichterkollegen hat sich auch die literaturwissenschaftliche Forschung bei ihrer Rezeption der Hochzeit des Mönchs vor allem auf den augenfälligen Rahmen bezogen. Im Unterschied zu Meyers Zeitgenossen hat sie die Rahmen1

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Paul Heyse an Theodor Storm, Brief vom 21. November 1884, in: Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel, Clifford Albrecht Bernd (Hrsg.), Kritische Ausgabe, Bd. 3, Berlin 1974, S. 98f. Paul Heyse an Gottfried Keller, Brief vom 3. Dezember 1884, in: Bernd (Hrsg.), Theodor Storm – Paul Heyse, S. 319. Auch Gottfried Keller wundert sich in seinem Antwortschreiben über die scheinbar überflüssige Rahmenkonstruktion: „Der Rahmen zu F. Meyers Hochzeit des Mönchs ist allerdings ein seltsames Ding, da eine Novelle ja gar keinen Rahmen braucht und der Autor sich ohne allen Grund des Selbsterzählens, d. h. des freien Stils begibt. Meyer hat meines Bedünkens sich von der Höhe der reinen Form zum Berge der Manieriertheit hinübergeschwungen […].“ (Gottfried Keller an Paul Heyse, Brief vom 12. Dezember 1884, in: Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, Bd. 3.1, Carl Helbling (Hrsg.), Bern 1952, S. 110–113, hier S. 112).

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konstruktion jedoch nicht abgewertet, sondern als ästhetische Stärke der Novelle aufgefasst. Lars Korten kommt zu dem Schluss, dass Die Hochzeit des Mönchs keine „Geschichte dar[-stellt], sondern das Geschichtenerzählen und -hören“ in den Vordergrund rückt.3 Man kann nicht abstreiten, dass die Rahmenerzählung in Meyers Hochzeit des Mönchs höchst kunstvoll ist und die Novelle auf eine Metaebene des Erzählens hebt. Im Zusammenspiel der Figuration der Geschichte durch den Erzähler Dante auf der einen Seite und der Reaktion der Zuhörer auf der anderen Seite wird die „Inszenierung“ einer Narration „explizit entfaltet“,4 wie Oliver Jahraus schlussfolgert. Der narrative Rahmen ist also, anders als es Meyers Zeitgenossen sahen, kein funktionsloses, narratives Dekor, sondern vielmehr eine Reflexion über die Rahmenbedingungen poetisch-realistischen Erzählens. Dies wird deutlich, wenn Cangrande Scaliger im Vorfeld von Dantes Geschichte drei wesentliche Arten des Erzählens unterscheidet und den Florentiner fragt, ob er „‚eine wahre Geschichte […] nach Dokumenten? oder eine Sage des Volksmundes? oder eine Erfindung [s]einer bekränzten Stirne?‘“ erzählen werde.5 Dante antwortet dem Fürsten, dass er seine „‚Geschichte aus einer Grabschrift‘“ entwickle, die er vor Jahren „‚unter wildem Rosengesträuch‘“ versteckt „bei den Franziskanern in Padua“ gelesen habe.6 Damit entscheidet er sich für eine innerdiegetisch gesicherte Quelle, von der aus die Erzählung ihren Ursprung nimmt. Dieses in der Rahmendiegese gegebene Material ist ein narrativer Aufhänger – die eigentliche Geschichte „‚gestaltet‘“ Dante in seinem „‚Geiste‘“.7 Entscheidend ist, dass die Erzählung hierdurch einen Realitäts-

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Lars Korten, Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848–1888, Stifter, Keller, Meyer, Storm, Tübingen 2009, S. 162f. Oliver Jahraus, „Unrealistisches Erzählen und die Macht des Erzählers. Zum Zusammenhang von Realitätskonzeption und Erzählinstanz im Realismus am Beispiel zweier Novellen von Raabe und Meyer“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 122/2003, S. 218–236, hier S. 232. Conrad Ferdinand Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, in: Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 2, Alfred Zäch (Hrsg.), Bern 1961, S. 5–98, hier S. 11. Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 11. Die Grabinschrift lautet: „Hier schlummert der Mönch Astorre neben seiner Gattin Antiope. Beide begrub Ezzelin.“ (ebd.). Ebd., S. 12. Eine Parodie der Rückbindung der Dichtung an tatsächliches Material findet sich in der Figur des Dilettanten Viggi Störteler aus Gottfried Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe. Störteler verfolgt unter dem Pseudonym Kurt vom Walde krampfhaft ein Anschauungsverfahren in Nachfolge Goethes. Er erhofft sich, in der natürlichen Umgebung Material für seine Dichtung zu erhalten, scheitert jedoch kläglich aufgrund von Phantasie- und Talentlosigkeit.

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bezug erhält und diesen dann ästhetisch überformt.8 Mit dieser Konstruktion greift Die Hochzeit des Mönchs auf einen poetisch-realistischen Topos zurück: Die Verklärung der Wirklichkeit ist ein integraler Bestandteil des Programms der Realisten.9 Der Hofgesellschaft um Cangrande Scaliger geht es allerdings weniger um Verklärung als um einen Abend voll geselliger Geschichten. Unter dem Motto „‚Plötzlicher Berufswechsel‘“10 tragen die Höflinge der Reihe nach Erzählungen vor, die zuallererst für Unterhaltung sorgen sollen. Demgemäß fordert Scaliger auch Dante auf, sich in das „harmlos[e] Spiel zu mischen“ und zu „erzähle[n], […] statt zu singen“.11 Der Aufforderung des Fürsten, lediglich ein „kurzweilige[s] Geschichtchen“12 vorzutragen, kommt Dante sehr wohl nach; aber damit begnügt er sich nicht. Für Kurzweil sorgt sein Einfall, die Figuren der Erzählung nach dem Vorbild der Hofgesellschaft zu gestalten.13 Wie Lars Korten bemerkt, macht der Florentiner seine Geschichte zu einem unterhaltsamen „Gesellschaftsspiel“,14 das die Aufmerksamkeit fesselt und durchweg große Anteilnahme hervorruft.15 8

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Beispiele für das Begehren des Poetischen Realismus, seine Erzählungen an innerdiegetisch gesicherte Quellen zurückzubinden, sind etwa Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse sowie Theodor Storms Schimmelreiter und Aquis submersus, um nur einige zu nennen. Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz des Poetologen Julian Schmidt, „Schiller und der Idealismus“, in: Die Grenzboten, 17/1858, 2, S. 401–410; sowie Jacob Burckhardt, mit dem Meyer in enger Verbindung stand. In einem Brief an Meyer stellt Burckhardt die zentrale Frage des Poetischen Realismus: Wie ist die „ideale Welt“, die die Goethezeit beschäftigte, „mit der wirklichen in Einklang zu bringen“? Jacob Burckhardt, Briefe, Max Burckhardt (Hrsg.), Basel 1964, S. 10. Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 8. Ebd. Wie der Fürst berichtet, hat er Dante am selbigen Tag beim Dichten von „Terzinen“ gehört. In der „astrologischen Kammer“ hat der Florentiner „mit dumpfen Gesange Verse skandier[t]“ (ebd., S. 7). Ebd., S. 7. Nachdem Dante erklärt hat, dass der Tyrann Ezzelin Züge des Fürsten Scaliger trägt, eröffnet er der Hofgesellschaft: „‚Auch die übrigen Gestalten der Erzählung […] werde ich, ihr gestattet es? […] aus eurer Mitte nehmen und ihnen eure Namen geben […].‘“ (ebd., S. 12). Die Forschung hat das Verhältnis und die Ähnlichkeit der Rahmenfiguren und der Binnenfiguren eingehend untersucht und ist zu differenzierten Ergebnissen gekommen. Im Vordergrund stehen dabei zwei Fragen: Zum einen, inwieweit die Geschehnisse der Binnenerzählung Rückschlüsse auf Dantes Verhältnis zur Hofgesellschaft zulassen, und zum anderen, ob Dante selbst mit einer Figur der Binnenerzählung in Verbindung steht. Vgl. dazu Korten, Poietischer Realismus, S. 160f. Ebd., S. 148. Während die Hofgesellschaft zuerst in Sorge war, dass Dantes Geschichte weniger unterhaltsam als elaboriert und komplex sein werde, kann sie die Erzählung

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Die Hochzeit des Mönchs operiert jedoch auch, so meine These, mit den typischen Verfahren des Poetischen Realismus – und zwar vor allem innerhalb der Binnengeschichte. Verklärung und Entsagung spielen eine elementare Rolle in der Erzählung um den Mönch Astorre. Meyers Novelle arbeitet sich mit diesen Verfahren an der Poetisierung der Wirklichkeit ab, dem Grundproblem des Poetischen Realismus, das weit über die Forderung des Fürsten Cangrande nach einer unterhaltsamen Geschichte hinausreicht. John Osbornes Einschätzung, „der Inhalt“ der Binnengeschichte sei „unwesentlich“ und „der Vorgang des Erzählens [werde] ostentativ“ in den Fokus gestellt,16 bedarf einer Revision. Die Hinwendung zur Binnengeschichte und zu ihrem Verhältnis zur Rahmengeschichte ist ein logischer Ansatz, wenn man in den Blick nimmt, wie sich die Hochzeit des Mönchs zum poetologischen Selbstverständnis des Poetischen Realismus verhält.17 Wie Hans Vilmar Geppert in seiner umfangreichen Studie Der realistische Weg gezeigt hat, ist es ein Kennzeichen des Spätrealismus, dass er die Aporien seines poetologischen Diskurses thematisiert, problematisiert und in immer neuen Variationen durchspielt.18 Laut Geppert gehen poetisch-realistische Texte von „sprachlichen Regularitäten aus, ebenso aber auch von vorgegebenen Typen des Sehens, Denkens und Sichverhaltens aller Art, konventionellen und natürlichen Codes, gesellschaftlichen“ und „literarischen“

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nun gar nicht mehr erwarten: „Ein Gemurmel der höchsten Aufregung lief durch die Zuhörer, und: ‚Deine Geschichte, Dante!‘ raunte es von allen Seiten, ‚deine Geschichte!‘“ (Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 12). John Osborne, Vom Nutzen der Geschichte. Studien zum Werk Conrad Ferdinand Meyers, Paderborn 1994, S. 91. Das Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählung untersucht auch Wolfgang Lukas, der ebenfalls die textexterne Realität des späten 19. Jahrhunderts hinzuzieht, um die Historizität des Erzählens bei Conrad Ferdinand Meyer zu reflektieren. Meyer habe, so Lukas, das Mittelalter als paradigmatisch-vorbürgerliche Epoche gewählt. Hier sei, im Gegensatz zum bürgerlichen 19. Jahrhundert, ein „gesteigertes ‚Leben‘“ (und die Verklärung im Sinne des Poetischen Realismus) möglich. Damit wäre das historische Erzählen Conrad Ferdinand Meyers als poetologische Strategie des (Spät-)Realismus zu verstehen, der diegetisch in Vergangenheiten ausweicht, um sein Programm weiterhin aufrechtzuerhalten. Vgl. Wolfgang Lukas, „Kontingenz vs. ‚Natürlichkeit‘: Zu C.F. Meyers Die Hochzeit des Mönchs“, in: Rosmarie Zeller (Hrsg.), Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums, Heidelberg 2000, S. 41–75 (besonders S. 70–75). Vgl. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994, S. 458.

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Codes.19 Die Codes, die Geppert meint, sind standardisierte Welterfassungsmodelle, denen die poetisch-realistischen Texte folgen. Sie lassen ihre Figuren nach den Codes handeln und denken. Aber damit nicht genug, die Codes leisten ebenso Sinnangebote und sind somit textkonstitutive Prinzipien. Es ist ein Spezifikum des realistischen Weges, dass die Figuren mit verschiedenen Codes in Kontakt kommen und dass der Poetische Realismus die unterschiedlichen Codes nicht stabilisiert, sondern beständig an ihre Grenzen treibt und auf ihre Fehler hinweist. Aus dieser labilen Codestruktur resultiert das, was Geppert das „Verbrauchen von Codes“ nennt.20 Da die Codes nicht reibungslos funktionieren, liefern sie den Protagonisten keine adäquaten Verhaltens- und Erklärungsmodelle und in dieser Konsequenz auch keine Sinnangebote, die essentiell für die Selbstverwirklichung der poetisch-realistischen Helden sind. Daher sind diejenigen poetisch-realistischen Texte so zahlreich, die ihre Protagonisten am Ende in einem zwar lebbaren, aber defizitär markierten Zustand verharren lassen.21 Ein sinngebender Metacode, der die Erzählung zu einem für die Figuren positiven Ende kommen lässt, wie zum Beispiel die Liebe oder das religiöse Heil, gehört demnach nicht zum Programm des Poetischen Realismus.22 Ganz im Sinne Gepperts modifizieren zahlreiche spätrealistische Texte dieses Strukturmerkmal, indem sie die Aporie des Realismus als Ausgangspunkt wählen und bereits mit einer Konstellation beginnen, in der die Protagonisten am Ende des realistischen Weges stehen. In diesem Fall sind die Codes also bereits verbraucht, und die Figuren üben sich in Resignation oder flüchten in Erinnerungsberichte, die wiederum von ihren gescheiterten Selbstverwirklichungsversuchen handeln.23 Auch die Binnengeschichte in Meyers Hochzeit des Mönchs setzt dort an, wo poetisch-realistische Texte in der Regel enden. Sie beschreibt eine Situation, die die Figuren offenbar in einen lebbaren, aber defizitären Zustand überführt. Am Hofe Cangrande Scaligers beginnt Dante Alighieri seine Erzählung wie folgt: 19 20 21

22 23

Ebd., S. 126. Vgl. ebd., S. 127. Man denke etwa an das Ende der zweiten Fassung des Grünen Heinrich, in der sich Heinrich nach verschiedenen Versuchen der Selbstverwirklichung (Kunst, die gescheiterte Liebe zu Anna etc.) in einem resignativen Leben als Beamter einrichtet, ohne mit Judith verheiratet zu sein. Vgl. zu den defizitär geprägten Lebensläufen im Poetischen Realismus auch Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2010, S. 63–80. Vgl. diesbezüglich ebd., S. 66. Beispielhaft ist hier Wilhelm Raabes Jubelgreis in Altershausen.

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Wo sich der Gang der Brenta in einem schlanken Bogen der Stadt Padua nähert, ohne diese jedoch zu berühren, glitt an einem himmlischen Sommertage unter gedämpften Flötenschall eine bekränzte, von festlich Gekleideten überfüllte Barke auf dem schnellen, aber ruhigen Wasser. Es war die Brautfahrt des Umberto Vicedomini und der Diana Pizzaguerra. […] Umberto Vicedomini hatte vor fünf Jahren, da die Pest in Padua wütete, das Weib seiner Jugend begraben und obwohl in der Kraft der Männlichkeit stehend, nur schwer und widerwillig auf das tägliche Drängen eines alten und siechen Vaters, zu diesem zweiten Ehebunde sich entschlossen.24

Umberto, so viel ist klar, ist auf dem Weg, eine ökonomisch motivierte Zweckehe mit Diana Pizzaguerra einzugehen. Nur der Wille des alten Vicedomini, der sich um den Erhalt seines Geschlechts und die Verteilung des Erbes sorgt,25 bringt ihn dazu, Diana zu ehelichen. Der Metacode ‚Liebe‘ ist mit dem Tod von Umbertos erster Frau verbraucht. Statt eines sinnstiftenden und erfüllenden Lebensentwurfs hält die neue Verbindung nur pragmatische Resignation bereit und mündet in die Sackgasse des realistischen Weges. Doch dazu kommt es nicht, denn am Brenta-Ufer erscheint Ezzelin, der Tyrann der Stadt Padua, der die Aufmerksamkeit der Festgesellschaft auf sich zieht und eine Katastrophe in Gang bringt: Die Ruderer rissen sich die roten Mützen vom Kopfe und das ganze Fest erhob sich in Furcht und Ehrerbietung […]. Untertänige Gebärden, grüßende Arme, halbgebogene Knie wendeten sich gegen den Strand mit einem solchen Ungestüm und Übermaß der Bewegung, daß die Barke aus dem Gleichgewicht kam, sich nach rechts neigte und plötzlich überwog. Ein Schrei des Entsetzens, ein drehender Wirbel, eine leere Strommitte, die sich mit Auftauchenden, wieder Versinkenden und den schwimmenden Kränzen der verunglückten Barke bevölkerte.26

Während Umberto Vicedomini in der Brenta den Tod findet, zieht Umbertos Bruder, der Mönch Astorre, die bewusstlose Diana Pizzaguerra aus dem Wasser.27 Mit Umbertos Ertrinken scheitert nicht nur die geplante Hochzeit mit Diana. Durch das Brenta-Unglück gerät sinnbildlich und faktisch auch das poetisch-realistische Projekt in die Krise. Dante beginnt seine Geschichte mit einem Desaster, das den Text vom realistischen Weg abbringt. Der realistische Weg ist die standardisierte Art der Problemstilllegung und Textbeendigung, aber Umberto Vicedomini kann diesen Weg nicht mehr

24 25

26 27

Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 13. Der alte Vicedomini richtet sein „zähes Dasein“ allein auf das Ziel „den Reichtum und das Gedeihen seines Stammes“ zu erhalten (ebd., S. 17). Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 14.

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verfolgen. So ist es die Abweichung vom poetisch-realistischen Programm, die am Beginn der Erzählung um den „entkutteten Mönch“28 Astorre steht.

II. Wie der Tyrann Ezzelin berichtet, hat Umberto seine „Knaben“ aus erster Ehe während des Barkenunglücks umschlungen und mit sich in die Brenta gezogen.29 In seinem letzten Sohn Astorre sieht der alte Vicedomini nun die einzige Möglichkeit, sein Familiengeschlecht zu erhalten und seinen Nachlass zu retten. Jedem Paduaner ist es bewusst, dass der einflussreiche Vicedomini „mit dem Aufwande seines letzten Pulses“ versuchen wird, Astorre „den Klostergelübden zu entreißen“,30 um ihn anstelle seines toten Bruders mit Diana zu verheiraten. Damit entsteht ein weiteres Problem, denn Astorre sieht in seinem monastischen, per definitionem entsagenden Leben eine Berufung. Dante erklärt, dass er der Stadtmönch von Padua heißen [konnte], den das Volk verehrte und auf den es stolz war. Und mit Grund: denn er hatte auf die Vorrechte seines hohen Adels und den unermeßlichen Besitz seines Hauses tapfer, ja freudig verzichtet und gab sein Leben in Zeiten der Seuche […] für den Geringsten und die Ärmste preis.31

Astorre widmet sich einer Existenz, die von Verzicht und Barmherzigkeit geprägt ist, aber nicht als Mangelzustand empfunden wird. Nur in Krisenzeiten nimmt er an der paduanischen Gesellschaft teil, sein Alltag ist vom Stadtleben getrennt. Giorgio Agambens Definition von Religion zufolge ist Astorre „dem allgemeinen Gebrauch [entzogen] und in eine abgesonderte Sphäre“ versetzt.32 Der Mönch unterliegt also der für die Religion charakteristischen „Absonderung“,33 die in der Hochzeit des Mönchs als erfüllende Entsagung realisiert ist. Darin unterscheidet sich Meyers Novelle von den üblichen Entsagungsfigurationen des Poetischen Realismus. Laut Moritz Baßler ist es kennzeichnend für den „entsagende[n] Held[en] des Poetischen Realismus“, dass er sich „nicht in die bestehenden Verhältnisse hinein[bildet]“ und „dabei oft genug biologisch, künstlerisch und ökonomisch […]

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33

Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 18. Ebd., S. 16. Giorgio Agamben, „Lob der Profanierung“, in: Ders., Profanierungen, aus dem Italienischen von Marianne Schneider, Frankfurt a.M. 2005, S. 70–91, hier S. 71. Vgl. ebd.

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unfruchtbar“ bleibt.34 Auch Astorre fügt sich nicht in die gegebenen, weltlichen Verhältnisse ein. Stattdessen lebt er den Metacode christlicher Religion. In einem mönchischen Leben, das allein auf das religiöse Heil gerichtet ist und in diesem seine Erfüllung sieht, ist die Entsagung ein integraler Bestandteil der Selbstverwirklichung.35 Biologische und ökonomische Unfruchtbarkeit gehören hier fest zum Konzept des Metacodes. Für Astorre produziert die Entsagung keine Defizite, sie garantiert vielmehr Codestabilität und Lebensglück. Unter den Voraussetzungen eines monastischen Lebensentwurfs und des Metacodes ‚Religion‘ wertet Die Hochzeit des Mönchs somit ein konstitutives Prinzip des Poetischen Realismus auf. Denn üblicherweise zieht die Entsagung das Scheitern der poetisch-realistischen Helden nach sich und überführt diese in einen Zustand der Resignation. Doch die Stabilität des Codes auf der Grundlage des Verzichts währt nur kurz. Schließlich wendet der alte Vicedomini vollsten Eifer auf, um Astorre von seinem geistlich-entsagenden Leben abzubringen und ihn von einer ökonomisch und biologisch fruchtbaren, weltlichen Existenz zu überzeugen. So holt der Aristokrat durch gute Verbindungen zum Vatikan und mit pekuniärem Aufwand ein päpstliches Breve ein, das besagt, dass Astorre von seinen Gelübden entbunden ist, wenn er „aus freiem Willen und eigenem Entschlusse in die Welt zurückkehre“.36 Darüber hinaus bedrängt er den Gewaltherrscher Ezzelin, um weitere Überzeugungshilfe zu erhalten. Dieser lässt sich jedoch von den Anschuldigungen, dass er es allein auf Vicedominis Erbe abgesehen hätte, mit dem er einen weiteren Krieg führen wolle (vgl. S. 21),37 nicht beeindrucken.

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Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 65. Baßler setzt sich von Hegels Einschätzung des Bildungsromans ab. Im Bildungsroman, so Hegel, bilden sich die Helden nach ihren „Lehrjahren […] in die bestehenden Verhältnisse“ hinein (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. 2, Friedrich Bassenge (Hrsg.), Berlin 1985, S. 452). Im Poetischen Realismus ist ein monastisches, klösterliches Leben in der Regel keine Option der Selbstverwirklichung. Im Gegenteil, das Kloster steht am Ende des realistischen Weges, denn hier sind für gewöhnlich alle Codes verbraucht. Es ist ein Raum, in dem Entbehrungsreichtum und Entsagung lokalisiert sind und der damit die Krise oder das Scheitern einer Figur bedeutet. Wer in ein Kloster eintritt oder eintreten muss, wer Mönch oder Nonne wird, ist aus der weltlichen Gesellschaft ausgeschlossen und hat keine oder nur geringe Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen. Vgl. dazu beispielsweise Conrad Ferdinand Meyers Novellen Plautus im Nonnenkloster und Die Richterin sowie Leonie des Beaux in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs oder Pavels Schwester Milada, die in Marie von Ebner-Eschenbachs Das Gemeindekind einen Hungertod im Kloster stirbt. Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 20. Ebd., S. 21.

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Hingegen rät der Tyrann dem Mönch von einer Konversion in das weltliche Leben ab, denn „du übst das Amt der Barmherzigkeit, das ich gelten lasse, wiewohl ich ein anderes bekleide. Würdest du in die Welt treten, die ihre eigenen Gesetze befolgt, welche zu lernen es für dich zu spät ist, so würde dein klarer Stern zum lächerlichen Irrwisch und zerplatzte zischend nach ein paar albernen Sprüngen unter dem Hohne der Himmlischen! […] Dein Wandel war meinem Volke eine Erbauung, ein Beispiel der Entsagung. Der Ärmste getröstete sich deiner, den er seine karge Kost und sein hartes Tagwerk teilen sah.“38

Ezzelin betont, dass das säkulare und das christliche Leben kategorial anderen Gesetzmäßigkeiten folgen, er stellt also zwei grundsätzlich verschiedene Codes in Opposition. Während für den religiösen Code die menschliche Barmherzigkeit (und Entsagung) zentral ist, funktioniert der säkulare Code nach den Prinzipien weltlicher „Gerechtigkeit“.39 Ein Codewechsel brächte Astorre in große Gefahr, da er mit den säkularen Gesetzmäßigkeiten nicht vertraut ist und diese nicht mehr erlernen kann.40 Astorre selbst ist sich dessen wohl bewusst, wenn er seinem Vater erklärt, dass es zur genealogischen Tradition der Vicedominis gehört, dass der letztgeborene Sohn „geistlich“ wird. „Ich kannte mein Los, welches mir nicht zuwider war, von jung an. Mir wurde kein Zwang auferlegt“,41 insistiert er. Mit einem Winkelzug bringt der alte Vicedomini, der mittlerweile auf dem Sterbebett liegt, Astorre letztlich dazu, seine Gelübde aufzugeben. Die „List“,42 von der Astorre später spricht, besteht darin, dass sein Vater scheinheilig und zielgerichtet in den Kategorien des religiösen Codes argumentiert, der Astorre in einen Gewissenskonflikt bringt. ,Ich fahre dahin, aber ich sage dir, Astorre: Lässest du mich meines Wunsches ungewährt, so weigert sich dein Väterchen, in den Kahn des Totenführers zu steigen, und bleibt zusammengekauert am Dämmerstrande sitzen!‘43

Der alte Vicedomini stellt Astorre vor die Wahl: Entweder er löst seine Gelübde und heiratet Diana, oder sein Vater fährt nicht in den Himmel auf und erlangt nicht das christliche Heil („Was hast du über mich verhängt Geliebtester? Himmel oder Hölle?“44). Es ist der Winkelzug des alten Vicedomini, 38 39 40

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Ebd., S. 25f. Ebd., S. 10. Ezzelins Warnung ist ein weitsichtiger Hinweis auf Astorres katastrophales Scheitern, mit dem Die Hochzeit des Mönchs endet. Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 24. Ebd., S. 30. Ebd., S. 23. Ebd., S. 27.

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der den Metacode ‚Religion‘ als in sich dysfunktional ausweist. Astorre befindet sich in einem Dilemma: Er ist gezwungen, nach den Prinzipien des religiösen Codes zu handeln, und stabilisiert damit nicht etwa den Code, sondern destruiert ihn. Der Mönch lässt Barmherzigkeit walten und nimmt die schwerwiegendste Entsagung auf sich, wenn er auf sein entbehrungsreiches, monastisches Leben verzichtet und dem Wunsch seines Vaters folgt.45 Dies bringt den säkularen Code als neues Lebensmodell und Problemfeld in die Erzählung ein. Die Entsagung, die im religiösen Metacode zur Codefunktionalität beitrug, wendet sich mit Astorres Eintritt in den säkularen Code ins Negative und ist nun, wie im Poetischen Realismus üblich, die Verabschiedung eines gültigen Wertsystems. Anders als in poetisch-realistischen Texten ist es aber gerade die Entsagung, die in Die Hochzeit des Mönchs wieder auf den realistischen Weg und nicht an sein Ende führt. Der Bruch der Gelübde verschleißt ja einen Code (Religion), um einen neuen Code (weltliches Leben) in Position zu bringen. So ist Astorre nach dem Tod des Vaters sichtlich bemüht, sich von seinem mönchischen Leben zu distanzieren. Er verlangt „weltliches Gewand“, weil er sich „vor seiner Kutte“ schämt.46 Dass die Konversion in den säkularen Code nicht reibungslos funktioniert, zeigt, dass Astorre bei den Paduanern seinen Beinamen „Mönch“ behält.47 Durch das dritte Gelübde ist Astorre vor allem im Umgang mit Frauen ungeschult und unsicher. In einem Gespräch mit dem weltgewandten Ascanio und mit Dianas Bruder Germano, „Günstlinge des Vogtes“ und Jugendfreunde von Astorre,48 erklärt der entkuttete Mönch, dass es weder sein „Wunsch noch freier Entschluß“ war, „[w]iderstrebend tat ich den Wunsch eines sterbenden Vaters“.49 Ascanio spricht daraufhin von einem heiklen „Übergang“, der „sorgfältig geschont und abgestuft sein“ muss.50 Der Jugendfreund ahnt die Schwierigkeit des Codewechsels. Er rät Astorre zur Verweltlichung durch einen einjährigen Aufenthalt am Hofe des Kaisers Friedrich II. in Palermo. Dort lerne er nicht nur den „vollkommensten Ritter“ (Friedrich II.), sondern auch „die Weiber“ kennen und gewöhne sich „die Mönchsart“ ab, die Frauen 45

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Nachdem Astorre seinem Vater zusichert, dass er Diana ehelichen und seinen Gelübden abschwören werde, verlobt der alte Vicedomini das Paar, um sodann mit einem „Ausdruck triumphierender List“ dahinzuscheiden (ebd., S. 29). Diana erbittet daraufhin neun Tage von Astorre, um den ertrunkenen Umberto zu betrauern (ebd., S. 30). Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 36 Ebd.

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entweder zu „vergöttern oder geringzuschätzen“.51 Diese Empfehlung entspricht nicht Astorres Vorstellungen, was auch seine Reaktion auf Ascanios leichtlebigen Umgang mit der Tochter des Gärtners zeigt, die während des Gesprächs an den dreien vorbeiläuft. Als Ascanio die „schwellenden Lippen“ des Mädchens küsst, wendet sich Astorre „[u]nmutig“ von den „zwei Leichtsinnigen“ ab.52 Sexualität ist Astorre zwar fremd, aber nicht grundsätzlich zuwider. Vielmehr folgt er immer noch den Parametern des religiösen Codes, der ihm jegliches sexuelles, lasterhaftes Handeln untersagt. Bei ihrem eiligen Aufbruch verliert das Mädchen einige Trauben (ein Symbol der fleischlichen Verführung und Lust), die Astorre erst „unberührt“ lässt, um „dann aber gedankenlos eine saftige Beere und bald noch eine zweite und die dritte“53 zu kosten. Der Mönch Astorre ist mit dem säkularen Code konfrontiert, er hat Schwierigkeiten, sich in ihm zurechtzufinden, und lebt weiter in klösterlicher Art. Damit baut Die Hochzeit des Mönchs eine Struktur auf, die sich nicht mehr mit Roland Barthes als „code sur code“ beschreiben lässt.54 Anders als im Realismus üblich, geht es nicht um ein Auf- und Übereinanderschichten verschiedener Codes, sondern um ein textdominierendes Spannungsverhältnis zwischen dem religiösen und dem säkularen Code: „code contre code“ also.55 Dass sich der Mönch nach wie vor in der vertrauten Sicherheit des christlichen Codes einrichtet, bemerkt auch Ezzelin, der in Astorres Garten auftaucht und die Freunde unterbricht: ,Sprich, Mönch, warum vergräbst du dich in dein Haus? Du hast es noch nie verlassen seit du weltliches Gewand trägst. […] Hast du deine Braut Diana besucht? Die Trauerwoche ist vorüber. Ich rate dir: heute noch lade deine Sippen, und heute noch vermähle dich mit Diana!‘56

Dem Rat des Fürsten folgend, suchen Astorre und Ascanio den Haushofmeister Burcado auf, der den beiden die paduanische Hochzeitszeremonie erklärt.57 Dabei betont Ascanio, dass die „‚Herrinnen Canossa, die Olympia 51 52 53 54 55

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Ebd. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Vgl. Roland Barthes, S/Z, Dt. v. Jürgen Hoch, Frankfurt a.M. 1987, S. 61. Geppert, Der realistische Weg, S. 127. Geppert formuliert die Struktur Code gegen Code in Anschluss an Barthes’ bekanntes Diktum „code sur code, dit le réalisme“ (vgl. ebd., Anm. 29). Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 43. Dass die Gesetzmäßigkeiten des säkularen Codes Astorre nach seiner Entkuttung fremd bleiben, belegen zahlreiche weitere Beispiele. So spürt er zum ersten Mal den „Argwohn“ und den „Verrat der Welt“, als sich Germano aufmacht, um ein Schreiben zu überbringen, das den „Kanzler“ mit der Folter bedroht (Meyer, „Die

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und die Antiope‘“58 nicht zur Hochzeit eingeladen werden sollen. Seit der Hinrichtung ihres Mannes sei die Witwe Olympia eine „‚Törin‘“, die „‚Unheil‘“59 bringt, wo immer sie auftaucht. Ihr einziges Ziel sei es, ihre Tochter Antiope zu verheiraten, die „‚leidlich hübsch ist, […] eine gute Natur‘“60 hat und im Gegensatz zu ihrer Mutter bei Verstand ist.61 Astorre versteht nicht, warum Olympia und Antiope der Hochzeit fern bleiben müssen. Da er weiter im dysfunktionalen christlichen Code denkt, empfindet er „Mitleid und Erbarmen“62 für die Witwe und ihre Tochter. Dante spricht davon, dass sich Astorres „Antlitz“ während Ascanios Rede „verklärte“.63 Der Begriff Verklärung ist ein Schlüsselwort des Poetischen Realismus, das an dieser Stelle ein epochentypisches Textverfahren in Gang setzt. Es ist konstitutiv für poetisch-realistische Texte, dass die „‚realistische‘, kausal herleitende Narration“ – die metonymische Erzählung also – durch verklärende Erzählanteile unterbrochen wird, die den Text mit ‚poetischer Bedeutung‘ aufladen.64 Demnach changieren poetisch-realistische Texte in semiotischer Hinsicht zwischen der „Achse der Symbolisierung“ (Verklärung) und der „Achse der Metonymisierung“ (realistische Erzählung).65 Moritz Baßler hält zu dieser strukturellen Kippbewegung des Poetischen Realismus fest: Sobald sich ein individuelles Phänomen der Diegese […] zu sehr mit Bedeutung […] auflädt […], ist der realistische Charakter des Textes gefährdet und die semiotische Bewegung des Textes kippt zurück auf die Achse der Metonymisierung […].66

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Hochzeit des Mönchs“, S. 42f). Auch korrigiert Dante seinen Fürsten Cangrande, als dieser die Binnenerzählung weiterführt und Astorre mit Ascanio in die „Halle“ treten lässt. Sie „stiegen in eine Turmstube“, berichtigt Dante, denn an „die großen und prunkenden Gemächer“ musste sich Astorre erst gewöhnen (ebd., S. 44). Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Ebd. Vgl. Ascanios vollständigen Bericht (ebd., S. 47). Ebd. Ebd. Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 66. Baßler rekurriert auf Roman Jakobsons Unterscheidung von Metapher und Metonymie in Roman Jakobson, „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, in: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1979, S. 192–211. Vgl. zum Spannungsverhältnis von Metonymie und Verklärung auch Moritz Baßlers einleitenden Beitrag in diesem Band. Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 66. Ebd., vgl. auch die Visualisierung des poetisch-realistischen Strukturmodells ebd., S. 65f.

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Ascanios Bericht vom Fall des Hauses Canossa leitet in einer kausalen Verkettung der Ereignisse her, warum Olympia eine persona non grata innerhalb der paduanischen Gesellschaft ist und weshalb sie versucht, ihr Familiengeschlecht durch die Verheiratung ihrer Tochter Antiope zu retten. Ascanios Erzählung befindet sich somit auf der metonymischen Achse des Textes. Noch während Ascanio spricht, unterbricht Dante die metonymische Narration und erzählt eine tagtraumartige Erinnerung, die Astorre zeitgleich hat.67 Der Mönch denkt an die Hinrichtung des Grafen Canossa, bei der er als geistlicher Beistand zugegen war. Antiope hatte ihren Vater vor drei Jahren zum Hinrichtungsblock begleitet und selbstlos ihren „Kopf und Nacken neben den väterlichen“ gelegt.68 Astorre hat die Szene folgendermaßen vor Augen: Jetzt leuchteten die Farben so kräftig, daß der Mönch die zwei nebeneinanderliegenden Hälse, den ziegelroten Nacken des Grafen und den schneeweißen des Kindes mit dem gekräuselten goldbraunen Flaume, wenige Schritte vor sich in voller Lebenswahrheit erblickte.69

Astorres Erinnerung operiert auf der symbolischen Achse des Textes und lädt ,ein individuelles Phänomen der Diegese‘ mit Bedeutung auf. Nach der Semantik der Szene fragt bereits Astorre selbst, indem er verschiedene Beweggründe für Antiopes Opferbereitschaft abwägt.70 Im Unterschied zu den metonymischen Narrationseinheiten (Ascanios Bericht) hat die symbolisch genährte Hinrichtung eine exponierte Stellung innerhalb des Textes. Ihr kommt eine größere Qualität zu, da sie einen Sachverhalt nicht realistischmetonymisch wiedergibt, sondern symbolisch-überhöht erfasst und damit „in voller Lebenswahrheit“ (vgl. das obige Blockzitat) ausdrückt. Mit dieser symbolischen Figuration betreibt Die Hochzeit des Mönchs Verklärung im Sinne von Julian Schmidt und spürt dem „wahren Inhalt der Dinge“ nach.71 Conrad Ferdinand Meyers Novelle orientiert sich damit an den Möglichkeiten und Zielen der Poesie, wie sie Jacob Burckhardt in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen definiert. Laut Burckhardt ist die Poesie in der Lage, „ein Bild 67

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„So ging es noch eine Weile fort. Astorre aber versank in seinem Traume. So sage ich weil das Vergangene Traum ist.“ (Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 48). Ebd., S. 48f. Ebd., S. 49. „Wollte es [das Kind] das Mitleid des Henkers erwecken? Wollte es den Vater ermutigen, das Unabwendbare zu leiden? Wollte es dem Unversöhnten den Namen eines Heiligen ins Ohr murmeln? Tat es das Unerhörte ohne Besinnen und Überlegung, aus überströmender kindlicher Liebe? Wollte es einfach mit ihm sterben?“ (ebd.). Schmidt, „Schiller und der Idealismus“, S. 404.

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der Welt“ zu geben, das „frei vom Schutt des Zufälligen“ das Bedeutungsvolle „zu einer verklärenden Erscheinung sammelt“, die „selbst das Tragische […] tröstlich“ macht.72 „Tröstlich“ ist in der verklärten Hinrichtungsszene Antiopes symbolischer Akt der Selbstlosigkeit. Allerdings verbleibt Die Hochzeit des Mönchs nicht auf der Achse der Symbolisierung. Der poetisch-realistische Text bricht mit dem bedeutungsvollen Ereignis und kippt zurück auf die Achse der Metonymisierung. Erstens schwächt bereits der Status der Erinnerung die Symbolisierung der Hinrichtung. Schließlich betont Dante mehrmals, dass sich Astorre in einem traumhaften Zustand befindet und die Szene in verdichteten Ausschnitten wahrnimmt.73 Zweitens wird die Wahrhaftigkeit und Gültigkeit der Symbolisierung in Frage gestellt, wenn es heißt: Astorre bebte, das fallende Beil möchte sich irren, und fühlte sich in tiefster Seele erschüttert, nicht anders als das erstemal, nur daß ihm die Sinne nicht schwanden, wie sie ihm damals geschwunden waren, als die schreckliche Szene in Wahrheit und Wirklichkeit [Hervorhebung P. P.] sich ereignete […].74

Dante unterscheidet präzise zwischen der tatsächlich erlebten Hinrichtung und der Erinnerung an die Hinrichtung. Einerseits drückt Astorres Traum die „vollste Lebenswahrheit“ (siehe oben) aus, andererseits hebt Dante hervor, dass die traumartige Enthauptungsszene eben nicht wahr und wirklich ist. 72

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Jacob Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, in: Werke, Bd. 10, Peter Ganz (Hrsg.), München/Basel 2000, S. 349–558, hier S. 503. Monika Ritzer erläutert den bedeutenden Einfluss von Jacob Burckhardt auf Conrad Ferdinand Meyer in Monika Ritzer, „Rätsel des Daseins und verborgene Linien. Zu Conrad Ferdinand Meyers literarischer Philosophie“, in: Dies. (Hrsg.), Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst, Tübingen 2001, S. 9–33. Ritzer zufolge teilt Meyer Burckhardts Ansicht, dass nicht nur das Studium der Geschichte, sondern auch die historische Dichtung ein Erkenntnismittel des 19. Jahrhunderts sei. So kann bspw. eine historische Novelle wie Die Hochzeit des Mönchs zur Bearbeitung des epochenleitenden Konflikts zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren ideellen Gestaltungsprinzipien beitragen. Jacob Burckhardt postuliert in diesem Kontext, dass der Dichter „vergangene Freuden und Leiden Einzelner aus allen Völkern und Zeiten zum unvergänglichen Kunstwerk verklär[en]“ soll. Die historische Novelle wird also genutzt, um transhistorische Wahrheiten und Ideen zu Tage zu fördern (Burckhardt, „Betrachtungen“, S. 506). Der „Mönch sah, was er vor drei Jahren erlebt hatte: einen Block, den Henker daneben und sich selbst […] als geistlichen Tröster.“ (Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 48) Deutlich wird die Verdichtung auch, wenn Astorre nur die Hälse von Vater und Tochter sieht, bevor das Beil den Grafen Canossa enthauptet. Vgl. das Blockzitat auf S. 163. Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 49.

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Mit diesem Zwiespalt verhandelt Die Hochzeit des Mönchs die Aporie des Poetischen Realismus, der die Wirklichkeit verklärt und diese Verklärung hinterfragt, da er von der Achse der Metonymisierung dominiert ist. Astorre ist jedoch völlig von dem symbolischen Ereignis eingenommen und beauftragt den Haushofmeister Burcado, Olympia und Antiope zur Hochzeit zu laden. Wie Dante erklärt, ist Antiope für den Mönch eine „junge Märtyrerin der Kindesliebe“, „die einen himmlischen Ton […] in seinem Gemüte geweckt“75 hat. Der christliche Metacode erweist sich also auch in symbolischen Zusammenhängen als vermeintlicher Lösungsansatz, indem er Astorre ein Semantisierungsangebot macht. Astorre nutzt ihn, um die Bedeutung der Hinrichtung zu bestimmen und zu verstehen. Erst in den Parametern des Codes erhält die verklärte Opferbereitschaft für Astorre Sinn, erst in ihnen ist Antiopes Handlung der Akt einer christlichen Märtyrerin. Der Mönch Astorre operiert an dieser Stelle gegen den realistischen Weg, dessen Kennzeichen es ist, Codes zu verbrauchen und keine sinnstiftenden Metacodes zu produzieren. Vergeblich hält Astorre am christlichen Code fest, er versucht ihn zu (re-)stabilisieren und ignoriert dabei dessen Brüchigkeit.

III. Astorres symbolisch-verklärte Erinnerung an die Hinrichtung des Grafen Canossa ist der Ursprung eines folgenreichen Konflikts, der sich auf der Figurenebene zwischen Astorre, seiner Verlobten Diana und Antiope sowie auf der Codeebene zwischen dem religiösen und dem säkularen Code entwickelt. Vor dem Hintergrund einer Verkettung zufälliger Ereignisse und erheblicher Missverständnisse provoziert Olympia während Astorres und Dianas Hochzeitszeremonie den befürchteten Eklat.76 Da Diana denkt, As-

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Ebd., S. 52. Man kann von einer Folge „geradezu irrwitziger Zufälle“ sprechen, die laut Oliver Jahraus die Autorität des Erzählers Dante bekräftigen. Dante verfährt beliebig mit der Handlung seiner Geschichte und lässt auf „etwas Unwahrscheinliches“„etwas noch Unwahrscheinlicheres“ folgen (vgl. Jahraus, „Unrealistisches Erzählen“, S. 233). Am offenkundigsten ist die überstrapazierte Kontingenz der Handlung, wenn Astorre auf der Brenta-Brücke seinen Hochzeitsring fallen lässt und dieser direkt zu Antiope und ihrer Zofe Isotta rollt, die zufällig zugegen sind. Isotta steckt Antiope den Ring unüberlegt an den vierten Finger der linken Hand, womit er zum Trauring wird. Da Astorre immer noch nachdrücklich unter dem Eindruck der Hinrichtungsszene steht, kann er das Missverständnis nicht auflösen. „[I]n freudiger Verwunderung“ (Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 54)

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torre hätte sich nicht nur mit ihr, sondern auch mit Antiope verlobt, entwickelt sich ein handfester Streit, was dazu führt, dass die Hochzeit zu einem schnellen Ende kommt. Indes führt Astorre die von Diana geschlagene und gedemütigte Antiope aus dem Saal, um die Situation zu beruhigen. Innerhalb der Rahmenerzählung ist klar, dass der Mönch damit nicht allein „seine ritterliche und gastwirtliche Pflicht“77 erfüllt, wie es die umstehenden Hochzeitsgäste in Dantes Erzählung denken. „[E]r liebte Antiope“, wirft die „Freundin des Fürsten [Cangrande] mit einem krampfhaften Gelächter“78 ein. In diesem Punkt sind sich Dantes Zuhörer sicher: „‚Natürlich!‘ ‚Wie anders?‘ ‚Es mußte so kommen!‘ ‚So geht es gewöhnlich!‘ scholl es dem Erzähler aus dem ganzen Hörerkreise entgegen“.79 Dennoch schätzt die Hofgesellschaft der Rahmengeschichte die Situation nicht korrekt ein. Zwar kann sie Dantes Geschichte auf der metonymischen Achse des Textes antizipieren und fortschreiben, aber die Achse der Symbolisierung ist ihr fremd. ‚Sachte, Jünglinge‘, murrte Dante. ‚Nein, so geht es nicht gewöhnlich. Meinet ihr denn, eine Liebe mit voller Hingabe des Lebens und der Seele sei etwas Alltägliches, und glaubet wohl gar, so geliebt zu haben oder zu lieben? Enttäuschet euch! Jeder spricht von Geistern, doch wenige haben sie gesehen […].‘80

Keine gewöhnliche Liebe ist es, die Astorre für Antiope empfindet, es ist eine Liebe „mit voller Hingabe des Lebens und der Seele“. Indem Dante die Liebe als außergewöhnlich markiert, scheidet er sie von den übrigen, metonymischen Ereignissen der Erzählung. Verklärend lädt er seine Geschichte mit Bedeutung auf, um den Text auf die Achse der Symbolisierung zu kippen. Die Zuhörer haben offenbar keinen Sinn für das Symbolische,81 was erstens dem Erzähler Dante missfällt und zweitens auf eine generelle Krise

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hebt er seine Arme, was Isotta als Heiratsantrag versteht, wovon sie ihre Herrin später überzeugt. Antiopes Mutter Olympia nimmt den vermeintlichen Antrag auf der Brenta-Brücke euphorisch auf – sie hat kein anderes Ziel, als ihre Tochter zu verheiraten. Daher denkt Olympia, sie sei zu der Hochzeit ihrer eigenen Tochter geladen, und löst einen Streit aus, als sie bemerkt, dass sich Astorre und Diana vermählen wollen. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd. Schließlich wollen sie nicht mehr als „ein kurzweiliges Geschichtchen“ hören (ebd., S. 7). Sicherlich hebt Die Hochzeit des Mönchs im obigen Blockzitat auch die poetische Kraft des Dichters hervor, die als distinktive Fähigkeit fungiert. Er allein ist im Stande, die Achse der Symbolisierung zu benutzen.

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des Symbolischen innerhalb der zeitgenössischen Rezeption des Spätrealismus hindeutet.82 Die Hofgesellschaft fungiert als eine Modellleserschaft, die das Metonymische gegenüber dem Symbolischen präferiert. Durch sie wird deutlich, worauf Leser achten und wie sie Geschichten verstehen. Ganz der poetisch-realistischen Verfahrensweise folgend, bricht auch Dante mit der symbolischen Achse, wenn er der Hofgesellschaft erläutert: Ich will euch einen unverwerflichen Zeugen bringen. Es schleppt sich hier im Hause ein modisches Märenbuch herum. Darin mit vorsichtigen Fingern blätternd, habe ich unter vielem Wuste ein wahres Wort gefunden. ‚Liebe‘, heißt es an einer Stelle, ‚ist selten und nimmt meist ein schlimmes Ende‘.83

Dantes Ausführung ist in sich widersprüchlich. Der Florentiner spricht von einem „wahren Wort“, das er in einem Text gefunden hat, der ein „unverwerflicher Zeuge“ sein soll. Doch die Quelle ist per se nicht vertrauens- und glaubwürdig, da es sich um ein „Märenbuch“ (Hervorhebung P. P.) handelt. Das Scheitern des Symbolischen ist bereits in der Sentenz enthalten. Bedeutungsvolle, wahre Liebe ist „‚selten‘“ und nimmt in der Regel „‚ein schlimmes Ende‘“, sie ist also nicht lebbar und scheitert. Somit relativiert Dante die Funktionalität des Symbolischen und kippt den Text zurück auf die metonymische Achse. Nach dem Streit zwischen Olympia, Antiope und Diana ist sich Astorre mehr als zuvor sicher, dass Antiope eine aufopferungsvolle Märtyrerin ist: „Das zärtliche Haupt, das sich für den Vater bot, hat sich auch für die Mutter geboten und gegeben!“84 Ohnehin entspricht Diana von Beginn an nicht Astorres Geschmack. Sie ist für ihn „eine viel derbere und wirklichere Gestalt als die zarten Erscheinungen der Legende. Er hatte sich die Frauen weicher gedacht.“85 Die Hochzeit des Mönchs führt Diana als „wirklichere Gestalt“ (Hervorhebung P. P.) mit der metonymischen Achse des Textes eng. Die zarte und selbstlose Antiope, die in den Augen Astorres einer Heiligenlegende entstammen könnte, ist demgegenüber auf der symbolischen Achse zu ver-

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Um 1880 gerät der Poetische Realismus in eine Krise, weil er die Schwachstellen seiner Programmatik stärker reflektiert und zudem neue, frühmoderne Stilrichtungen auf den Plan treten, die seine jahrzehntelange Dominanz gefährden. Der Naturalismus verfolgt beispielsweise ein Programm, in dem die symbolische Achse kaum eine Rolle mehr spielt, da der Text vor allem auf der metonymischen Achse prozessiert. Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 63. Ebd., S. 66. Ebd., S. 31.

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orten.86 In einem Selbstgespräch sagt Astorre über Antiopes „zärtliches Haupt“: „‚Hat es mich je verlassen, seit es auf dem Blocke lag? Es begleitete mich allgegenwärtig, schwebte in meinem Gebete, strahlte in meiner Zelle […]‘“.87 Der Mönch erinnert sich an das Altarbild in seinem Franziskanerkloster, das die Enthauptung des Paulus zeigt. Darauf ist ein „‚herziges Haupt‘“ dargestellt, ein „‚weiße[s], schmale[s] Hälschen‘“, das dicht „‚neben dem des Paulus‘“88 liegt. Von jeher wunderte Astorre sich, warum das Beil „‚zuckte‘“,89 wenn er länger auf das Altarbild sah. Unter dem Eindruck von Antiopes Selbstlosigkeit erhält das längst vergangene Beichtgespräch mit dem Prior eine neue Qualität. „‚Mein Sohn‘, sagte er [der Prior, P. P.], ‚was du sahst, war ein vorausgeeiltes Kind des himmlischen Triumphzuges. Fürchte nichts! Dem ambrosischen Hälschen geschieht kein Leid!‘“90 Für Astorre ist es nun offensichtlich, dass Antiope das „vorausgeeilte Kind des himmlischen Triumphzuges“ ist und sich in der Liebe zu ihr sein eigenes Heil erfüllen kann. Mit unerschütterlichem Vertrauen in den christlichen Metacode frohlockt er, „‚[g]epriesen sei Gott Vater […], der Mann und Weib geschaffen hat!‘“91 Der Narr Gocciola, der Astorres Selbstgespräch belauscht, fragt seinen Herrn daraufhin, was er aber mit der „‚andere[n]‘“,92 mit Diana, machen wolle? „‚Welche andere?‘“, antwortet ihm der Mönch, „‚[g]ibt es ein Weib, das nicht Antiope wäre!‘“93 Bislang waren der christliche und der säkulare Code zwei präzise voneinander getrennte, nicht vereinbare Textprinzipien. Das Handeln nach dem säkularen Code (Heirat mit Diana) bedeutete das Verlassen des christlichen Metacodes, der Astorre in einen defizitären, aber lebbaren Zustand und somit an das Ende des realistischen Weges geführt hätte. Doch da Astorre die Liebe zu Antiope symbolisch überhöht und in sein religiöses Weltmodell integriert, setzt eine Amalgamierung der beiden gegensätzlichen Codes ein. Die „Säkularisierung“ des Mönchs ist also, mit Giorgio Agamben gesprochen, lediglich „eine Form von Verdrängung, welche die Kräfte weiterwirken lässt und sich auf deren Verschiebung von einem

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Die oppositionelle Gegenüberstellung eines weltzugewandten und eines symbolisch-verklärten Frauentyps ist ein charakteristisches Prinzip des Poetischen Realismus. Vgl. z. B. Judith und Anna in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich. Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 66. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 67. Ebd.

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Ort zum anderen Ort beschränkt.“94 Astorre transportiert die Parameter des religiösen Codes in den säkularen Code und lässt sie dort walten. Es ist der Versuch, den säkularen Code (Heirat, Reproduktion des Familiengeschlechts, Erhalt des Erbes, weltliches Leben) in den christlichen Metacode (Heil, Barmherzigkeit, Sinnangebote, Lebensglück) zu überführen, um diesen dauerhaft zu stabilisieren. Damit erprobt Die Hochzeit des Mönchs einen Gegenentwurf zum realistischen Weg, der kontinuierlich Codes verbraucht, bis sich die Protagonisten leidenschaftslos in einer suboptimalen Existenz einrichten. Die Reaktion des Narren Gocciola zeigt derweil, dass die Codeüberführung ein Phantasma ist und Astorre jeglichen (metonymischen) Wirklichkeitsbezug verliert, da er extensiv auf der symbolischen Achse operiert. Am Ende des Gesprächs ist sogar der Narr sprachlos und schaut Astorre „erschreckt“ an („Dies war selbst dem Narren zu stark“95). Auch Ascanio erscheint mit den Worten: „‚Erwache Traumwandler!‘“96 Er erinnert Astorre daran, dass er bereits mit Diana vermählt ist, dass ein Bruch mit ihr desaströse Folgen hätte, und bemüht sich erneut, die symbolisierten Zufälle der Diegese in eine metonymisch-kausale Erzählung zu übersetzen.97 Aber erst als Germano vorschlägt, dass er Antiope heiratet, um ihre Ehre wieder herzustellen,98 besinnt sich Astorre auf die Urkomponente des christlichen Codes. „Der Wille seine himmlische oder irdische Lust tapfer zu überwinden erstarkte in dem Mönche. […] Wir verzichten alle! Entsagung und Kasteiung in der Welt wie im Kloster!“99 Doch da Astorre die Prinzipien des weltlichen und des christlichen Codes vermischt, ist eine ausschließlich monastischentsagende Existenz nicht mehr im Stande, einen lebbaren Metacode zu bilden. Ein weiteres Mal verklärt Die Hochzeit des Mönchs Antiope nach den Parametern des christlichen Codes, als Germano um ihre Hand anhält. Am Fenster sitzend, umgibt Antiope „ein Bogen […] voller Abendglorie“.100 Ihre gezauste Haarkrone ähnelte den Spitzen eines Dornenkranzes, und die schmachtenden Lippen schlürften den Himmel. Das geschlagene Mädchen lag 94 95 96 97

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Agamben, „Profanierung“, S. 74. Meyer, „Die Hochzeit des Mönchs“, S. 67. Ebd. „‚Wenn du wie erst dein Gelübde, jetzt dein Verlöbnis brichst, brichst du Sitte, Pflicht, Ehre und den Stadtfrieden.‘“ (ebd., S. 67) Die Regelverletzung innerhalb des säkularen Codes wäre nicht mit dem Bruch der Gelübde zu vergleichen. Sie hätte weitreichende und gesellschaftlich spürbare Konsequenzen, wie Ascanio betont. Vgl. ebd., S. 69. Ebd. Ebd., S. 71.

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müde unter dem Druck der erduldeten Schande, […] aber in der Stille ihres Herzens frohlockte sie und pries ihre Schmach, denn diese hatte sie mit Astorre auf ewig vereinigt.101

Dante fragt an dieser Stelle, „‚entzündet sich nicht heute noch und bis ans Ende aller Tage aus tiefstem Erbarmen höchste Liebe?‘“102 Germanos Heiratsantrag ist indes derart metonymisch-pragmatisch,103 dass Astorre seinem Schwager helfen möchte. Doch Antiope entgegnet ihm, „‚[f]ür wen wirbst du, Astorre?‘“104 Germanos Werbeversuch scheitert, Astorre wirbt hingegen für sich selbst und ist erfolgreich. Er und Antiope sind fortan von der Idee eines weltlichen Metacodes christlicher Liebe geblendet, der sich aus Barmherzigkeit und Mitgefühl speist und dessen gesellschaftliche Missbilligung vorgezeichnet ist. Eros und Caritas, die hier enggeführt werden, lassen sich nicht vereinbaren, da sie entgegengesetzten Codebereichen zugehören.

IV. Mit Astorres Ehebruch kommt es zu einem Prozess unter Vorsitz des Tyrannen Ezzelin. Dort verschiebt sich das ursprünglich monastische Prinzip der Entsagung in den säkularen Code. Als Entschädigung für die Ehrverletzung muss Astorre der Familie Pizzaguerra die Bergwerke aus dem Erbe seines Vaters überlassen.105 Der Verzicht, der topisch am Ende des poetisch-realistischen Textes steht, betrifft somit keine ideellen Werte, sondern ökonomische Güter, die die Stabilität des Metacodes nicht gefährden.106 Ein symbolisch genährter Code, der die Verklärung in die metonymische Wirklichkeit integriert, wirkt hier ein letztes Mal lebbar. Doch der hoffnungsvolle Eindruck wird enttäuscht, denn von Germano und vor allem von Diana geht

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Ebd. Ebd., S. 71. „‚Ohne Vater und mit einer solchen Mutter, bedürfet ihr einer männlichen Hut. […] Gebet Euch mir, wie ihr seid und ich schirme Euch vom Wirbel bis zur Zehe!‘ Germano dachte an seinen Panzer.“ (ebd., S. 73). Ebd. Vgl. ebd., S. 87. Daher ist Astorre überaus freigebig, was das Erbe seines Vaters betrifft. „Nimm meine Perlfischereien dazu!“ (ebd., S. 87), ruft er, als er merkt, dass er zusammen mit Antiope leben kann. Die Ehre des Mönchs ist durch den Bruch der Gelübde und des Ehegelöbnisses sowie durch den Prozess irreparabel beschädigt. Die Paduaner bezeichnen ihn als den „Ruchlose[n]“ und als „gierige[n] Raubvogel“ (ebd., S. 81). Eine Möglichkeit, ehrbar mit Antiope verheiratet zu sein, besteht nicht.

Der einzige Weg

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eine erhebliche Bedrohung für den Metacode aus.107 Dianas Ehre ist nach dem Ehebruch nicht wieder herzustellen, weshalb ein Leben innerhalb der Gesellschaft für sie unmöglich wird. Dass ihr nur noch die endgültige Entsagung im Kloster bleibt, ist sowohl Ascanio als auch ihr selbst bewusst.108 Ohne Aussicht auf funktionierende Codes steht sie am Ende des realistischen Weges und damit in Opposition zu Astorre und Antiope. Die Hochzeit des Mönchs endet nicht wie Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe mit einer Apotheose der Liebe durch den Freitod der Protagonisten. Astorre und Antiope sterben gewaltsam, da sie den realistischen Weg verlassen. Sie versuchen, geistliche und weltliche Prinzipien zu einem lebbaren Metacode zu amalgamieren, und verstoßen damit sowohl gegen den säkularen (Bruch des Ehegelöbnisses) als auch gegen den christlichen Code (Bruch der Gelübde). In dem Moment, in dem Diana ihren Finger krümmt, um Antiope daran zu hindern, Astorres Ehering an sich zu nehmen, ist der individuelle Widerstand gegen den Metacode christlicher Liebe performativ sichtbar.109 Die Übergabe des Rings würde die Stabilität des Codes bedeuten. Aber die betrogene und entwürdigte Diana verweigert Antiope den Ring und macht das Gelingen des Metacodes von nur einem gekrümmten Finger abhängig. Sie tötet Antiope und arretiert damit endgültig die Unlebbarkeit des Metacodes christlicher Liebe. Die Hochzeit des Mönchs bietet folglich keinen Gegenentwurf zum realistischen Weg. Im Gegensatz zu Antiope, Astorre und Germano überlebt Diana als Einzige die Hochzeitsmorde. Sie ist die entsagende Protagonistin des realistischen Weges, die den Text zu einem nicht-symbolischen, metonymischen Ende führt. Auch für die paduanische Stadtgesellschaft ist Astorres doppelter Codebruch inakzeptabel, er ist ein Verstoß gegen die „Sitte“110 und muss verurteilt werden. Von Antiopes verklärter Gestalt ist das Volk hingegen beeindruckt („‚Ach wie schön ist sie!‘“111). Dante erklärt, dass es nicht „der Reiz ihres Antlitzes allein, noch die Jugend ihres Wuchses, sondern das volle Spiel der Seele, […] der Atem des Lebens“ 107

108

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Germano erklärt Ezzelin, seinem Herrn: „Es ist des Platzes auf der Erde zu wenig für den Mönch und mich.“ (ebd., S. 88) Der Tyrann appelliert daraufhin an Germanos Gehorsam und verbietet ihm jegliche Gewalt gegen Astorre. „‚Diana hat einen Unstern, zwei Männer hat sie verloren […]. Sie geht ins Kloster. Was bliebe ihr sonst?‘“ (ebd., S. 83), „‚Ich bin nicht wert, dass mich die Sonne bescheine. Für solche ist die Zelle!‘“ (ebd, S. 90). Diana bemerkt gegenüber Antiope, dass sie immer noch Astorres Ehering trage. Um die erste Ehe offiziell zu lösen, soll Antiope den Ring bei ihrer Hochzeit mit Astorre „demütig und reuig“ (ebd., S. 90) von Dianas Finger ziehen. Ebd., S. 67. Ebd., S. 84.

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Philipp Pabst

war, „was die Menge entwaffnete und hinriß“.112 Antiope ist also auch für die Paduaner die personifizierte Verklärung. Die Symbolisierung, das „volle Spiel der Seele“ (Hervorhebung P.P.), verlischt jedoch mit ihrem Tod. Als „Entseelte“113 findet sie der fassungslose Astorre vor. Mit Antiope stirbt das symbolische Moment des Textes. Vor dem Palast der Vicedomini hat sich die paduanische Stadtgesellschaft versammelt, um die Hochzeit des Mönchs zu feiern. Hämisch ist ihre Reaktion auf Astorres und Antiopes Tod. Durch ein offenes Fenster hören die Hochzeitsgäste „fernes Gelächter“ und eine „mißtönig[e]“ Stimme: „‚Jetzt schlummert der Mönch Astorre neben seiner Gattin Antiope.‘“114 Astorres Tod stellt den status quo der paduanischen Gesellschaft wieder her, die den Mönch verlacht, statt um ihn zu trauern. Ebenso konsolidiert der Tod den status quo des Poetischen Realismus: Er arretiert die Unlebbarkeit des Metacodes und weist den realistischen Weg als alleinigen Weg aus.115

112 113 114 115

Ebd. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Im Falle der Hochzeit des Mönchs ist es demnach nicht korrekt, dass sich Meyer, wie Markus Zenker befindet, „der literarischen Moderne“ nähert, da er sich „von einem Realismus programmatischer Provenienz entfernt“ (Markus Zenker, „Conrad Ferdinand Meyers erzählte Welt. Sein Ort im Realismus des 19. Jahrhunderts“, in: Euphorion, 100/2006, S. 225–243, hier S. 243). Meyers Novelle dehnt das poetisch-realistische Programm zwar bis an seine äußerste Peripherie, ohne es jedoch zu verlassen und alternative Schreibweisen produktiv zu machen. Dass der Spätrealismus bei Conrad Ferdinand Meyer keine protomodernen Verfahren entwickelt, bestätigt auch Oliver Jahraus. Jahraus verdeutlicht, dass das poetischrealistische Erzählen ein „Nachläufer der Goethezeit“ und kein „unmittelbare[r] Vorläufer des Naturalismus“ ist (Jahraus, „Unrealistisches Erzählen“, S. 235). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Rosmarie Zeller, die der These, dass Meyers Texte dem Symbolismus zuzurechnen seien, eine Absage erteilt (vgl. Rosmarie Zeller, „Meyer im Kontext. Blicke auf die Forschung“, in: Dies. (Hrsg.), Conrad Ferdinand Meyer im Kontext, S. 1–26).

Zwischen Realismus und Moderne

Intermedial reflektiertes Erzählen um 1900

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Fabian Lampart (Freiburg i.Br.)

„ … das Sprachvermögen der Musik in’s Unermessliche vermehrt …“ Intermedial reflektiertes Erzählen um 1900

Die Literatur der Jahrhundertwende ist geprägt von Versuchen und Experimenten, die man als Suche nach neuen kulturellen und ästhetischen Orientierungen verstehen kann. Was sich den Zeitgenossen als schwer überschaubare Gleichzeitigkeit von Programmen und Neuansätzen dargestellt haben mag, ist aus heutiger Perspektive ein literarhistorischer Übergangsraum. Es geht um das Austesten und Aushandeln literarischer Möglichkeiten, die in ihrem Selbstverständnis als Alternativen zu den dominanten realistischen Poetiken konstituiert werden. Freilich kann man dieses Nebeneinander von Ansätzen nicht gleich auf die literarhistorische Moderne beziehen, auch wenn sie dann natürlich in diesem Zusammenhang wirksam werden konnten.1 Die Neuorientierungen stehen oftmals in einer Beziehung mit Bereichen, die außerhalb der Literatur angesiedelt ist.2 In der literaturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte hat man darauf reagiert, indem man sich auf die Anregungen aus den anderen Wissensbereichen, besonders aus den Naturwissenschaften konzentriert hat. Sie lieferten, oftmals in popularisierten Versionen, Muster für ästhetische Strategien, die sowohl in ihren wissensgeschichtlichen Bezügen als auch in den schwerer zu analysierenden Konsequenzen hinsichtlich der Faktur literarischer Texte Gegenstand der Forschung sind.3 Vielleicht gerät dabei mitunter ein wenig in den Hintergrund, dass auf der von einzelnen Autoren durchaus bewusst betriebenen 1

2

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Vgl. dazu Ralf Simon, „Übergänge. Literarischer Realismus und ästhetische Moderne“, in: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 207–223. Vgl. dazu grundlegend Horst Thomé, „Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de Siècle“, in: York-Gothart Mix (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. 1890–1918. München, Wien 2000, S. 15–27. Für einen aktuellen Überblick vgl. Philipp Ajouri, Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus, Berlin 2009, S. 33–38. Vgl. dazu Horst Thomé, Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993.

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Fabian Lampart

Suche nach einer Modifizierung textueller Verfahren die Orientierung an anderen medialen Darstellungsformen weiterhin eine entscheidende Rolle spielt. Dass die Musik eine dieser Orientierungen ist, überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass im Rahmen der Wandlung des traditionellen Gattungssystems um 1900 die Annäherung an ästhetische Effekte, die anderen literarischen Gattungen oder Medien zugeschrieben werden, in verschiedensten Formen zu beobachten ist. Anführen lassen sich dabei Hugo von Hofmannsthals ‚lyrische Dramen‘ oder die ‚Lyrisierung‘ der Prosa in Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.4 Aber auch die Lautpoesie der Dadaisten oder Hofmannsthals Wendung zum Libretto sprechen dafür, dass die Musik bei der Umschaltung medialer Leitorientierungen um 1900 eine wichtige Rolle spielt.5 Die These, die im Folgenden zur Diskussion gestellt wird, bezieht sich auf die Erzählliteratur: Die Musik, genauer: die Adaption als musikalisch verstandener ästhetischer Effekte in die Literatur ist einer der Faktoren, die für die Erschließung eines Schreibens jenseits realistischer Poetiken um 1900 zentral sind. Sie wird in drei Schritten verfolgt. (1) Zunächst wird kurz die Frage behandelt, ob man in poetologischen und programmatischen Überlegungen des Realismus und der Jahrhundertwende von wechselnden Konjunkturen der Orientierung an nicht-sprachlichen Medien sprechen kann. (2) Zweitens muss bei der Untersuchung musikalischer Bezüge die Funktion der Wagner’schen Musik angedeutet werden.6 In Deutschland werden die Impulse, die aus der Diskussion um Wagner literarisch produktiv gemacht werden können, vor allem von Nietzsche vorbereitet. Ähnliche Ansätze sind freilich bereits Ende der 1880er Jahre im Umfeld der Zeitschrift Revue Wagneriènne in Frankreich zu beobachten. (3) Drittens sollen mit einem Blick auf den französischen Schriftsteller Édouard Dujardin, vor allem aber anhand der poetologischen Selbsterkundungen des jungen Thomas Mann, zwei Varianten der Reflexion literarischer Schreibweisen im Zeichen des Musik-Bezugs erläutert werden.

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5

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Zusammengefasst bei Ajouri, Literatur um 1900, S. 18f. Ludwig Völker spricht sogar von der Lyrik als „Paradigma der Moderne“ (Ludwig Völker, „Lyrik als ‚Paradigma der Moderne‘?“; in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 3/1993, S. 487–500). In Fragen der Intermedialitätsdebatte beziehe ich mich auf die Begrifflichkeiten, die Irina Rajewski (Intermedialität, Tübingen/Basel 2002) ausgeführt hat. Grundlegend dazu: Dieter Borchmeyer, „Richard Wagner und die Literatur der frühen Moderne“, in: Mix (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus, S. 207–218.

Intermedial reflektiertes Erzählen um 1900

I.

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Konjunkturen medialer Orientierung?

Mediale Orientierungen im Realismus sind dominiert von Bildmedien. Das gilt sowohl affirmativ in Bezug auf die Malerei als auch in eher polemischer Abgrenzung in Bezug auf die „Herausforderung der Photographie“ – so die Formulierung von Gerhard Plumpe.7 Im programmatischen Realismus werden Analogien zu den Bildmedien zur Charakterisierung poetologischer Verfahrensweisen herangezogen. In den Bezügen auf Bildmedien werden vorwiegend in polemischem Gestus negative, aber auch positive Konnotationen betont. Hier sei vor allem die diagnostische Funktion dieser Bezüge unterstrichen. Sie zeigen, dass eine konstitutive Selbstbeschreibung realistischer Ästhetik in Begrifflichkeiten stattfindet, die der Malerei oder der Photographie entlehnt sind. In den programmatischen Poetiken des Realismus geht es bekanntlich nicht um die detailgetreue Nachahmung, sondern um die ‚Verklärung‘, ‚Läuterung‘ oder ‚Idealisierung‘ der „sinnlich erfahrbaren Welt“.8 Deren „kontingente Oberfläche“ soll der Blick des Künstlers durchdringen, „um sie als ‚Erscheinung‘ eines ‚tieferen‘ Seins zu enthüllen oder als leeres und zufälliges Phänomen der Wesenlosigkeit preiszugeben“.9 Diese Welt ist zunächst immer als eine sichtbare, visuell überprüfbare Wirklichkeit gedacht. Fontane spricht vom Realismus als „Widerspiegelung alles wirklichen Lebens […] im Elemente der Kunst“,10 Julian Schmidt bezieht sich, bei aller Betonung der ‚Ideen‘, die dem ‚wahren Realismus‘ zugrunde liegen müssen, auf eine Begrifflichkeit des Sehens – Goethe habe „[d]ie Urpflanze […] nirgend gesehn“, aber das „Bild seines Geistes war ihm höhere Gewißheit als das Zeugnis seiner Sinne“.11 Das programmatische Selbstverständnis der Realisten ist von begrifflichen Bezügen auf Visuelles geprägt. Die Dimension reiner Sichtbarkeit soll verklärt, durchdrungen, subvertiert oder idealisiert wer7

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9 10

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Vgl. Gerhard Plumpe, „Einleitung“, in: Edward McInnes/Gerhard Plumpe (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, München/Wien 2000, S. 17–83, hier S. 57–61. Textdokumente in: Gerhard Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 2005, S. 161–183. Vgl. auch Sabina Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges. Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter, München 2010. Zusammengefasst bei Claudia Stockinger, Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus, Berlin 2010, S. 10. Vgl. Plumpe, „Einleitung“, S. 55. Theodor Fontane, „Realismus“ [1853]; in: Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 140–148, hier S. 147. Julian Schmidt, „Wahrer und falscher Realismus“ [1858], in: ebd., S. 119–121, hier S. 18f.

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Fabian Lampart

den, aber man kommt dabei ohne Bezüge auf eine ästhetikgeschichtlich seit der Romantik mit der Musik assoziierte subjektive Introspektion aus. Geradezu inszeniert wird diese Konkurrenz der medialen Orientierungen in Stifters Erzählung Zwei Schwestern, in der die Violin-Virtuosin Camilla und ihre pragmatische Schwester Maria, die ein landwirtschaftliches Gut im Gebirge kultiviert, als Lebensentwürfe einander gegenübergestellt werden.12 Die psychisch zerstörerische Wirkung der Musik wird inszeniert als die ‚wahre‘, den Tiefendimensionen der Musik interpretatorisch gerecht werdende Virtuosität der Violinistin Camilla. Die andere Schwester, Maria, vertritt die kultivierende Pflege der wilden Natur, womit die musikalische Subjektivität und ihre gefährlichen emotionalen Wirkungen ästhetisch relationiert und reguliert werden.13 Freilich endet auch schon Stifters Erzählung, in der Buch- deutlicher als in der Journalfassung markiert, in einer jener für das poetisch-realistische Programm charakteristischen Entsagungsformationen, die Moritz Baßler unlängst beschrieben hat.14 Bezogen auf die medialen Orientierungen, die in Zwei Schwestern durchgespielt werden, kann man in der engen Verknüpfung der mit Attributen der Landschaftsmalerei konnotierten Naturpflege durchaus auch eine implizite Infragestellung des auf Visualität orientierten ästhetischen Paradigmas erkennen – die freilich bei Stifter eher noch weniger zu einer Veränderung der „aporetischen Logik des realistischen Modells“15 führt als bei anderen realistischen Autoren16 und möglicherweise als eine jener „latenten Protoformen“ gelten kann, in denen nach Ralf Simon „schon früher vorhanden sein [kann], was dann als reale und wirkliche Form der Modernität nach außen treten wird“.17 12

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15 16

17

Adalbert Stifter, Die Schwestern [1845] / Zwei Schwestern [1850], in: Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1.3: Studien. Journalfassungen. Dritter Band / Bd. 1.3: Studien. Buchfassungen. Dritter Band, Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald (Hrsg.), Stuttgart/Berlin [u. a.] 1980/1982, S. 139–234; S. 215–378. Vgl. dazu ausführlich Fabian Lampart, „Erzählte Musik, erzählte Bilder. Zur Reflexion medialer Konjunkturen in Adalbert Stifters ‚Zwei Schwestern‘ (1845/1850)“, in: Wolf-Gerhard Schmidt/Stefan Keppler-Tasaki (Hrsg.), Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815–1848, Berlin/ Boston [vor. 2014]. Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2010, S. 63–80 (besonders S. 65–67). Ebd., S. 67. Zur Nähe Stifters zum Realismus vgl. Christian Begemann, „Adalbert Stifter und die Ordnung des Wirklichen“, in: Ders., Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 63–84 (besonders S. 73f). Simon, „Übergänge. Literarischer Realismus und ästhetische Moderne“, S. 223.

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Realistische Poetiken tendieren dazu, mit einer Orientierung an visuellen Medien verknüpft zu sein, begleitet von einer Abkehr vom – nach Julian Schmidt – „subjektiven Idealismus“18 der Romantik. Reflexionen dieser medialen Orientierung finden statt, werden aber in den diskursiven Konstellationen realistischen Erzählens geglättet. Der spezifische Charakter der ästhetischen Produktion von Wirklichkeit in realistischen Poetiken wird reguliert und geordnet mit Bezug auf bildmediale Verfahrensweisen.

II. Die Herausforderung Wagner Diese Regulierungsfunktion visueller Medialität im ästhetisch-poetologischen Selbstverständnis des Realismus wird in der Zeit um 1900 in Frage gestellt und versuchsweise durch andere Orientierungen ersetzt. Einer dieser Versuche läuft darauf hinaus, die Musik als Orientierungsmedium produktiv zu machen. Die diskursive Neuausrichtung ist vermittelt über die Wahrnehmung der Musik Wagners als einer wirkungsästhetischen Herausforderung, die auf seiner Ästhetik der Medienkombination basiert. Im französischen Kontext wurde die ästhetische Attraktivität des Wagner’schen Modells – bzw. dessen, was man darunter jeweils verstand – früh diskutiert. Baudelaire erkennt bereits 1861 im Aufsatz Richard Wagner et „Tannhäuser“ à Paris in Bezug auf das Lohengrin-Vorspiel eine wirkungsästhetisch hervorgerufene Verbindung zwischen Klängen, Farben, Melodie und Gedanken. […] car ce qui serait vraiment surprenant, c’est que le son ne pût pas suggérer la couleur, que les couleurs ne pussent pas donner l’idée d’une mélodie, et que le son et la couleur fussent impropres à traduire des idées; les choses s’étant toujours exprimées par une analogie réciproque, depuis le jour où Dieu a proféré le monde comme une complexe et indivisible totalité.19

18

19

Julian Schmidt: „Die Reaktion in der deutschen Poesie“ [1851], in: Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 91–99, S. 91f. Charles Baudelaire, Curiosités esthétiques, l’art romantique et autres oeuvres critiques, Henri Lemaître (Hrsg.), Paris 1962, S. 689–728, hier S. 696f. (dt.: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke / Briefe, Bd. 7: Meine Zeitgenossen. Armes Belgien!, Darmstadt 1992, S. 416–431, hier S. 97: „[…] denn es wäre in der Tat überraschend, wenn der Klang nicht imstande wäre, die Farbe zu suggerieren, wenn die Farben nicht imstande wären, die Vorstellung einer Melodie zu vermitteln, und wenn Klang und Farbe ungeeignet wären, Gedanken wiederzugeben, da die Dinge sich doch immer in wechselseitigen Analogien mitgeteilt haben, seit Gott die Welt durch sein Wort als ein vielfaches und unteilbares Ganzes hervorgebracht hat.“)

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Zwanzig Jahre später, zwischen 1885 und 1887, findet in der Zeitschrift Revue Wagnérienne unter der Herausgeberschaft von Èdouard Dujardin eine regelrechte Erkundung Wagners und seines Werks durch symbolistische Essayisten und Literaten statt – mit dem erklärten Ziel, Wagners Konzept des musikalischen Dramas praktisch und theoretisch zu erläutern und in Bezug auf die anderen Künste zu diskutieren.20 Die Art der Texte variiert, aber fast immer steht der intermediale Charakter als Faszinosum der Wagner’schen Ästhetik im Mittelpunkt. Das geschieht zum einen „in dichterischen Paraphrasen Wagnerischer Musik“,21 aber auch in teilweise recht ausführlichen theoretischen Abhandlungen, die vor allem von Téodore de Wyzéwa und von Dujardin selbst stammen. Wyzéwa versuchte, unter den Stichworten La peinture wagnérienne, La litterature wagnérienne und La musique wagnérienne, eine Neubestimmung der ästhetischen Qualitäten der Künste auf der Basis der Wagner’schen Medienkombination. Die Literatur habe demnach gegenwärtig genau die Funktion, die Wagner erkannt habe, nämlich die Schaffung einer ‚höheren Realität‘‘ und eines ‚künstlerischen Lebens‘: La littérature, art des notions, eut toujours […] une même destination, la destination reconnue par Wagner à toute forme de l’Art: elle voulut créer, au dessus de la réalité habituelle, la réalité supérieure et plus réelle d’un vie artistique […]22

Zudem wird eine Fortführung der Wagner’schen Kombination der Künste propagiert, die diesmal allerdings von der Literatur ausgehen solle. Unter dem Schlagwort „gefühlsbetonte Künste“ (‚arts émotionnels‘) überschreite die Literatur in der sprachlichen Fundierung nicht nur die gattungsinternen Grenzen – Epos, Drama, Roman –, sondern auch die einzelnen medialen Systeme, und zwar ebenso, wie das in der Malerei geschehe: „la littérature a produit un art symphonique, la Poésie, évoquant l’émotion par l’agencement musical des rythmes et des syllabes.“23 Stephane Mallarmé publiziert in der 20

21

22

23

Vgl. dazu Louis de Fourcaud, „Wagnérisme“; in: Revue Wagnérienne, I/1885, S. 3–8. Fourcaud formuliert als Leitfragen der Revue: „Qu’a été Richard Wagner? Qu’a-t-il voulu faire! Qu’a-t-il fait? Quelle est son influence sur la musique dramatique?“ (S. 3) Es gehe um den Künstler Wagner, die Genese seiner Werke, aber auch um „l’examen des procédés techniques – surtout des moyens expressifs […].“ (ebd., S. 4). Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle, Berlin/New York 1973, S. 75 (vgl. ebd. einführend zur Revue Wagnérienne S. 74–78). Téodore de Wyzéwa, „Notes sur la littérature Wagnérienne et les livres en 1885–1886“, in: Revue Wagnérienne, V/1886, S. 150–171, hier S. 161. Ebd.

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Revue das Prosagedicht Richard Wagner: rêverie d’un poëte français,24 das argumentativ zwar eine Distanzierung von Wagner ist, aber doch zugleich eine Auseinandersetzung mit dessen Ästhetik als Modell für eine neue Kunst enthält.25 Parallel formuliert Mallarmé sein Konzept einer nach dem Vorbild der Musik weitgehend entsemantisierten und resakralisierten Sprache. Das ist der Hintergrund für die in Deutschland etwas später einsetzenden Überlegungen zur Revision realistischen Schreibens in Bezug auf das Modell der Wagner’schen Musik. Wie in der Revue Wagneriénne gibt es auch hier eine Art Vorbereitung für die Verwertung Wagners in literarischen Selbsterklärungsdiskursen. Das geschieht exemplarisch in Friedrich Nietzsches Der Fall Wagner (1888), derjenigen Schrift, die eine der wichtigsten Bestimmungen der ‚literarischen Décadence‘ enthält.26 Wagner nimmt in diesem Zusammenhang eine wichtige Systemstelle ein. Von den französischen Wagnéristes unterscheidet Nietzsches Ansatz sich zunächst darin, dass er den von Wagner theoretisch postulierten Anspruch auf Medienkombination im Sinne der größtmöglichen Wirkung nicht ernst 24

25

26

Stéphane Mallarmé, „Richard Wagner: rêverie d’un poëte français“, in: Revue Wagnérienne, VII/1885, S. 195–200. „[…] Modell einer den neuen Wahrnehmungsweisen […] angepaßten Kunst.“ (vgl. Bettina Rommel, „Subtext, Kontext, Perspektiven. Mallarmés kritische Schriften“, in: Stéphane Mallarmé, Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, Gerhard Goebel/Bettina Rommel (Hrsg.), Gerlingen 1998, S. 315–380 (besonders S. 347–349; Zitat S. 348). Vgl. außerdem: Bettina Rommel, „Mallarmé – Wagner. Korrespondenz und Konkurrenz der Medien“; in: Wolfgang Storch (Hrsg.); Les Symbolistes et Richard Wagner, Hauptband und Beiheft, Berlin/Bruxelles 1991, S. 157–164 u. S. 217–228. Vgl. dazu Gotthart Wunberg, „Historismus, Lexemautonomie und Fin de siècle. Zum Décadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende“; in: Ders.: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 2001, S. 55–84 (besonders S. 73f). Vgl. auch Annette Simonis, Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000. Simonis weist darauf hin, dass es sich bei den „Auflösungserscheinungen, die Nietzsche am Dekadenz-Stil beobachtet, […] nicht um eine Umwandlung geordneter Strukturen ins Vage oder Diffuse“ handle. Vielmehr gehe das „literarische ‚Chaos‘, dem Nietzsche in der ästhetizistischen Literatur begegnet, […] aus einer genauen Berechnung hervor“. Es handle sich „noch bei den vermeintlich diffusen Beobachtungen um eine kalkulierbare, geregelte Konstruktion mit einer ihr eigenen, wenn auch schwer zu fassenden Organisationsform“ (S. 75). Diese erkenne Nietzsche in der von Wagner ‚krank‘ bzw. dekadent gemachten Musik. Zum Verhältnis Nietzsche-Wagner mit Blick auf Der Fall Wagner vgl. Hans Otto Seitschek, „Der Fall Wagner“, in: Stefan Lorenz Sorgner/James H. Birx/Nikolaus Knoepffler (Hrsg.): Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch, Reinbek b. Hamburg 2008, S. 435–440.

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nimmt.27 Wagners Vorstellung einer gleichwertigen und deren jeweilige Spezifika kombinierenden Verbindung von Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst sowie von Architektur, Malerei und Skulptur interessiert Nietzsche wenig. Stattdessen benennt er in seiner polemischen Analyse des décadent Wagner treffsicher diejenigen Qualitäten, die seine ‚Musik‘ für die Literatur ästhetisch attraktiv machen: ‚Musik‘ (in Anführungszeichen), denn Wagner ist für Nietzsche bekanntlich eben kein Musiker, sondern „Sceniker par excellence“, „unvergleichlicher Histrio, der grösste Mime“. Als solcher ordne Wagner die Musik bedingungslos der „Theater-Rhetorik“ unter: Wagners ‚Musik‘ sei „ein Mittel des Ausdrucks, der Gebärden-Verstärkung, der Suggestion, des Psychologisch-Pittoresken“.28 Wagners ‚Musik‘ ist für Nietzsche also durch ein Übergewicht semantisierender Qualitäten gekennzeichnet: Ihre Ausdrucks- und Darstellungsfähigkeit wurde erweitert und in Richtung sprachlicher Medien verschoben, damit freilich der Musik im ursprünglichen Sinne entfremdet. Wagner dürfte uns hier als Erfinder und Neuerer ersten Ranges gelten – e r h a t d a s S p r a c h v e r m ö g e n d e r M u s i k i n ’s U n e r m e s s l i c h e v e r m e h r t –: er ist der Victor Hugo der Musik als Sprache. Immer vorausgesetzt, dass man zuerst gelten lässt, Musik d ü r f e unter Umständen nicht Musik, sondern Sprache, sondern Werkzeug, sondern ancilla dramaturgica sein.29

In solchen Formulierungen wird ein Verständnis der Wagner’schen Musik als eines Mediums vorbereitet, das aufgrund seiner semantischen Vielseitigkeit zwar „einfach schlechte Musik, die schlechteste überhaupt“30 sein mag, aber auf der anderen Seite eine entsprechende Anwendung in der Literatur ge27

28

29 30

Wagner entwickelte diesen Anspruch v. a. in den ‚Zürcher Kunstschriften‘, also in Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft und in Oper und Drama (vgl. Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volksausgabe, Bd. 3, Leipzig 61912, S. 8–41 (Die Kunst und die Revolution) bzw. S. 42–177 (Das Kunstwerk der Zukunft); sowie Richard Wagner, Oper und Drama, Klaus Kropfinger (Hrsg.), Stuttgart 21994). Zur Erläuterung von Wagners aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Medien begründetem Drama vgl. grundlegend Carl Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, München 1990 [11971] (besonders S. 7–28); Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart 1982 (besonders S. 75–175); sowie Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt a.M. 1994 (besonders S. 188–202. Zur Ausrichtung der ‚Zürcher Kunstschriften‘ vgl. Jürgen Kühnel, „Wagners Schriften“ in: Ulrich Müller/Peter Wapnewski (Hrsg.), Richard-Wagner-Handbuch, Stuttgart 1986, S. 471–588; S. 498–520. Alle Zitate: Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner, kritische Studienausgabe, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Bd. 6, München 1999, S. 9–53, hier S. 30. Ebd. Ebd.

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radezu herausfordert. Nietzsches Wagner-Analyse präpariert nicht zuletzt die Versuche aus der Zeit um 1900, die Möglichkeiten von Wagners musikalischer Sprache gewissermaßen in die Literatur zu re-importieren.

III. Intermedial reflektierte Erzählpoetiken: Édouard Dujardin und Thomas Mann Wenn man über Wagner und die Folgen für die Literatur der Jahrhundertwende spricht, ist es üblich, sich auf den Komplex Wagner-Rezeption und Wagnerismus zu beziehen.31 Hier wird eine etwas anders gelagerte Frage gestellt: Worin besteht die ästhetische Attraktivität der Wagner’schen Musik für Autoren, welche Impulse können in literarischen Diskussionen aufgegriffen werden? Um sie zu beantworten, wird hier nochmals ein wichtiger Vorläufer aus dem Kreis der Wagnéristes betrachtet und dann mit Thomas Mann konfrontiert. Édouard Dujardin konzipiert in seinem Roman Les lauriers sont coupés aus dem Jahr 1887 den inneren Monolog in Entsprechung zur Wagner’schen unendlichen Orchestermelodie. Dieser Roman ist bekanntlich literarhistorisch schon allein deshalb bedeutsam, weil er eine Art Gründungsdokument des inneren Monologs ist, auf den sich später Joyce berief,32 was in den 1920er Jahren dem relativ vergessenen Dujardin einen gewissen Popularitätsschub verschaffte, vor allem aber das produktive Potential der in den Wagner-Diskussionen entfalteten ästhetischen Überlegungen für den Roman der Moderne bezeugt.33 1931 verfasste Dujardin die Abhandlung Le Monologue intérieur, in der er bekräftigt, dass der innere Monolog in Entsprechung zur Wagner’schen unendlichen Orchestermelodie entworfen worden sei.34 Michael Niehaus wies 1994 darauf hin,35 dass die Parallelität zwischen musikalischem Leitmotiv – das immer eine emotionale Bedeutung aufweise36 – und 31

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33

34 35

36

Vgl. dazu Erwin Koppen, „Der Wagnerismus – Begriff und Phänomen“, in: Ulrich Müller/Peter Wapnewski (Hrsg.), Richard-Wagner-Handbuch, Stuttgart 1986, S. 609–624. Vgl. Frank Budgen, James Joyce und die Entstehung des Ulysses, Frankfurt a.M. 1977 (James Joyce and the making of ,Ulysses‘ and other writings, London u. a. 1972), S. 107f. Vgl. Kathleen M. McKilligan/Édouard Dujardin, ‚Les lauriers sont coupés‘ and the interior monologue, Hull 1977 (besonders S. 52–85). Koppen, „Wagnerismus – Begriff und Phänomen“, S. 623. Michael Niehaus, „Die Vorgeschichte des ‚inneren Monologs‘“; in: arcadia, 29/1994, Heft 3, S. 225–239. Dujardins entsprechende Formulierung lautet: „une phrase isolée qui emporte toujours une signification émotionnelle“ (Édouard Dujardin, Le Monologue inté-

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dem Leitmotiv im inneren Monolog nach Dujardin einen textuellen Speicher des flüchtigen Figurenbewusstseins darstelle. Auf dieser Grundlage lässt sich im Detail untersuchen, wie diese Analogien zwischen Wagners musikalischem Drama und Roman funktionieren und wie somit eine von der Wagner’schen Medienkombination inspirierte Technik, die auf dem Einsatz der Musik als Ausdruck von emotionalen und psychologischen Zuständen beruht, wieder für den literarischen Text beansprucht wird. In Dujardins Roman, in dem ein eher langweiliger Tag des eher konventionellen Helden Daniel Prince im Paris des Jahres 1887 beschrieben wird,37 ist mindestens der Beginn auffällig, gerade angesichts des Kontrasts mit dem Rest des Textes. Inszeniert wird die Selbstkonstitution des Ich: Un soir de soleil couchant, d’air lointain, de cieux profonds; et des foules qui confuses vont; des bruits, des ombres, des multitudes; des espaces infiniment en l’oubli d’heures étendus; un vague soir… Car sous le chaos des apparences, parmi les durées et les sites, dans l’illusoire des choses qui s’engendrent et qui s’enfantent, et en la source éternelle des causes, un avec les autres, un comme avec les autres, distinct des autres, semblable aux autres, apparaissant un le même et un de plus, un de tous donc surgissant, et entrant à ce qui est, et de l’infini des possibles existences, je surgis; et voici que pointe le temps et que pointe le lieu; c’est l’aujourd’hui; c’est l’ici; l’heure qui sonne; et au long de moi, la vie; je me lève le triste amoureux du mystère génital; en moi s’oppose à moi l’advenant de frêle corps et de fuyante pensée; et me naît le toujours vécu rêve de l’épars en visions multiples et désespéré désir… Voici l’heure, le lieu, un soir d’avril, Paris […].38

Es wurde darauf hingewiesen, dass dieser absolute Anfang, in dem sich das „Subjekt des inneren Monologs als Unterschiedenes“ „[a]us der Ununter-

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38

rieur, son apparition, ses origines, sa place dans l’œuvre de James Joyce et dans le roman contemporain, Paris 1931, S. 55). Zur Diskussion des Protagonisten als „unvollkommener Dandy“ vgl. Stefan Buck, Edouard Dujardin als Repräsentant des Fin de siècle, Würzburg 1987, S. 66–103. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés, Paris 1968, S. 29 [dt.: „Ein Abend untergehender Sonne, ferner Luft, tiefer Himmel; und des wirren Gedränges; der Geräusche, der Schatten, der Massen; der unendlich ausgedehnten Räume; ein verschwommener Abend … / Denn unter dem Chaos der Erscheinungen, zwischen dem Dauern und den Stätten, in der Illusion der Dinge, die sich zeugen und gebären, einer unter den anderen, einer wie die anderen, verschieden von den anderen, ähnlich wie die anderen, ein nämlicher und einer mehr, aus der Unendlichkeit der möglichen Existenzen tauche ich auf; und nun präzisieren sich die Zeit und der Ort; es ist das Heute; es ist das Hier; die Uhr, die schlägt; und um mich herum, das Leben; die Stunde, der Ort, ein Aprilabend, Paris […]“ (Édouard Dujardin, Die Lorbeerbäume sind geschnitten. Eine Liebesgeschichte, Dt. v. Irene Riesen, Nachw. v. Fritz Senn, Zürich 1984, S. 7)].

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scheidbarkeit, aus dem Rauschen“39 konstituiert, dem Selbstschöpfungsakt im Vorspiel von Wagners Rheingold ähnelt. Der sprachlichen Selbstermächtigung des Subjekts folgt im Roman freilich die Unfähigkeit des Protagonisten, aus den Konventionen des eigenen Lebens und meist auch der eigenen Wahrnehmungen auszubrechen. Insofern ist Dujardins Roman auch ein Bespiel für die von Michael Titzmann konstatierte „perspektivengebundene“ „Grenzinfragestellung […] als Merkmal der Frühen Moderne“.40 Ebenso trifft auf Dujardins Roman Titzmanns Folgerung zu, dass sich den Figuren „statt disjunkter semantischer Räume quantitative Kontinua präsentieren“ und dass somit „die […] erzählte Welt [weniger] ereignishaft“ ist „bzw. […] der Rang der erzählten Ereignisse [geringer]“ wird.41 Der Heterogenität der Alltagswahrnehmungen kann der Held nicht als Handelnder begegnen, aber sie zumindest in der subjektiv gefilterten Abbildung der Wirklichkeit reflektieren. Das Subjekt kann sich in einer kontingent-vielstimmigen Wirklichkeit der Großstadt nurmehr reflexiv und in fortwährender Introspektion verorten. Diesen Prozess gestaltet Dujardin an seinem Protagonisten Daniel Prince in einer aus dem musikalischen Drama entwickelten sprachlich inszenierten Innenschau. Die Tendenz zur Ereignislosigkeit und die Entwicklung eines neuen Erzählverfahrens aus dem Horizont eines intermedialen Bezugs gehen dabei Hand in Hand. In einer weiteren Passage wird aus der synästhetisch aufgeladenen Evokation der Nacht über der Stadt eine Unterbrechung und Überschreitung der alltäglichen Gedanken des Helden geknüpft und in der Imagination erotischer Erfüllung mit seiner Geliebten ein Erfahrungshorizont angedeutet, der über die, trotz des inneren Monologs, sonst ganz auf das reale Diesseits des Stadtlebens konzentrierte Erzählung hinausreicht. La nuit mi-obscure; nuit blanchie des premières étoiles; demies ombres indistinctes; nuit claire; […] je respire largement le soir, vaguement je regarde le beau dehors; le beau, l’ombré, le mélancolique, le gracieux lointain de l’air; la beauté de la nuit; […] l’air tiède; nul vent; l’air chaud; les haleines de mai naissant; un bienêtre, chaudement, dans l’atmosphère caressante et nocturne; […] Léa, ma tendre chère, ma petite Léa, mon aimée, ma Léa! les ténèbres de la nuit emmêlent toutes les choses; […] dans cette nuit, sur le balcon fuyant, sur l’indistinct des murs lointains, da l’air tiède et nocturne, parmi l’alentour qui s’efface, tu es belle et tu es gracieuse; gracieuse divinement […] ta mince robe flotte, le crêpe crémeux, l’ondoi39 40

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Vgl. Niehaus, „Vorgeschichte“, S. 228. Michael Titzmann, „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘“, in: Lutz Hagestedt (Hrsg.), Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche, München 2010, S. 275–307, hier S. 300. Ebd., S. 301.

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ment du crêpe où tombe un ruban de soie, le crêpe aux plis ceignant tes seins et les hanches et le puéril corps, et tu meux doucement tes lèvres, mon amie; moi je t’aime; l’ombre des grands feuillages monte au ciel, très haut, mienne, tu transparais de l’ombre claire; souriante, ingénue, bonne et charmante, je te veux; moi je t’aime purement; moi je ne veux d’elle que son amour; et, son baiser, je le veux en son amour … Ah, je l’ai eue, je l’ai eue qui ne m’aimait pas! … La nuit; l’obscurité des arbres; le rayonnement des étoiles croissantes; la nuit montante […]42

Vor allem mit den Mitteln der Synästhesie und der assoziativen Wiederholung bestimmter symbolischer Leitformeln – die Nacht als Zustand der Entdifferenzierung von Formen und unverbundenen Einzelheiten der Stadtwirklichkeit, der schließlich auch imaginativ die Distanz zur geliebten Léa aufheben kann – wird eine kurzzeitige Überwindung der Realität inszeniert. Man könnte von der Schwundstufe einer Transzendenzerfahrung sprechen, die als mediale Transformation der Wagner’schen ‚unendlichen Melodie‘ in die Sprache der Erzählung projektiert ist. Darin wirkt auch der Wagner’sche Anspruch auf eine sinnstiftende, religiös-absolute Dimension nach. Sie wird im Text mit Bezug auf die Nacht- und Liebesmotivik in Tristan und Isolde reflektiert als eine in der sinnlich-ganzheitlichen Wahrnehmung der Nacht nur augenblicksweise evozierbare individuelle erotische Erfüllung. Bei Dujardin liegt die Aufmerksamkeit auf der Frage, unter welchen Bedingungen Effekte der ästhetischen Intermedialität für die Literatur, hier für die Erzählung, produktiv gemacht werden können.

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Dujardin, Les lauriers, S. 61–63 [dt.: „Die halbdunkle Nacht; von den ersten Sternen gebleichte Nacht; undeutliche Halbschatten; klare Nacht; […] ich atme den Abend tief ein, unbestimmt betrachte ich das schöne Draußen; das Schöne, das Beschattete, das Melancholische, das anmutige Ferne der Luft; die Schönheit der Nacht; […] die Luft, lau; kein Windhauch; die Luft, warm; der Atem von erwachendem Mai; ein Wohlbefinden, warm, in der liebkosenden und nächtlichen Atmosphäre; […] Léa, meine zärtliche Teure, meine kleine Léa, meine Geliebte, meine Léa! die Finsternis der Nacht vermischt alle Dinge; […] in dieser Nacht, auf dem verschwimmenden Balkon, gegen das Unbestimmte der fernen Mauern, in der lauen und nächtlichen Luft, in der Umgebung, die verblasst, bist du schön und bist du anmutig; anmutig auf göttliche Weise […]; dein leichtes Kleid schwingt, der kremige Krepp, das Wallen des Krepps, wo ein Seidenband fällt, der Krepp mit den Falten, der deine Brüste und die Hüften und den knabenhaften Körper umfängt, und du bewegst sanft die Lippen, meine Freundin; ich, ich liebe dich, der Schatten des Laubwerks steigt in den Himmel, sehr hoch; mein, schimmerst du im hellen Schatten durch, lächelnd, naiv, gut und bezaubernd; ich, ich liebe dich rein; ich will von ihr nur ihre Liebe … Ah! Ich habe sie gehabt, ich habe sie gehabt, die mich nicht liebte!… Die Nacht; die Finsternis der Bäume; das Strahlen der wachsenden Sterne; die heraufsteigende Nacht […].“ (Dujardin, Die Lorbeerbäume sind geschnitten, S. 53–57)].

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Dujardins Versuch, wirkungsästhetisch bestimmte Charakteristika der auf Medienkombination beruhenden Orchestermelodie Wagners für die Literatur zu reklamieren, liefert also ein Textverfahren der Introspektion, das Strategien interner Fokalisierung synästhetisch auflädt. Verfahrenstechnisch stellt es eine Alternative zu entsprechenden Verfahren der Introspektion in realistischen Poetiken dar. Die Konsequenzen solcher Versuche für den modernen Roman, nicht nur für Joyce, der sich explizit auf Dujardin berief, sind bekannt. Durch Nietzsches Analyse der Musik Wagners als Dekadenz-Phänomen sind die Vorzeichen etwas anders gelagert. Hier scheint die Reflexion diskursiver Fragen im Vordergrund zu stehen, die mit Bezug auf naturwissenschaftliche und medizinische Begrifflichkeiten literarisch mit Konzepten wie ‚Verfall‘, ‚Degeneration‘ und ‚Entartung‘ aufgegriffen werden. Monika Fick deutet deshalb mit Bezug auf Horst Thomé „das pathologische Moment als konstitutives Kriterium der Dekadenzliteratur“, was zu einer Lesart von „Dekadenz als Degeneration, als literarischer Gegenentwurf gegen eine medizinische Theorie der Entartung“ führt, „in welchem gleichwohl das medizinische (psychiatrische) Phänomen erkennbar ist“.43 Auf die Problematik, „[d]ie Bezeichnung ‚Décadence‘ […] materialitier […] auf Inhalte“ zu konzentrieren, hat aus anderer Perspektive auch Gotthart Wunberg hingewiesen und stattdessen ein verfahrenstechnisches Verständnis vorgeschlagen: Décadence sei „für die Literatur die Summe aller objektiven Unmöglichkeiten konsistenter, inhaltslogischer Darstellung.“44 Das hindert freilich nicht daran, dass eine Dekadenz-Diagnose von diesen diskursiven Markierungen ausgehen und dann in eine Reflexion von Verfahrensfragen umschlagen kann. Das ist der Fall bei Thomas Mann, der sein Dekadenz-Verständnis zunächst hauptsächlich über Nietzsche bezieht. Denn Nietzsche lieferte eben nicht nur die Stichworte für Wagners Wahrnehmung als decadént, sondern verbalisierte auch die ästhetische Herausforderung, vor die sich Wort-Künstler angesichts der Wirkungsqualitäten der Wagner’schen Musik gestellt sehen konnten. Dem entspricht bei Thomas Manns durch Nietzsche gefilterter Wagner-Rezeption eine Aufspaltung in „zwei Stränge: einen inhaltlichen und einen formalen“,45 von denen der inhaltliche gerade mit Blick auf das Frühwerk in der Regel zu Recht größere 43

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Monika Fick, „Literatur und Dekadenz in Deutschland“, in: Mix (Hrsg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus, S. 219–230, hier S. 224. Wunberg, „Historismus, Lexemautonomie und Fin de siècle“, S. 77. So die synthetisierende Formulierung von Kurzke (vgl. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, München 31997, S. 111).

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Beachtung findet. Seit Der kleine Herr Friedemann (1897) – nicht zufällig die Erzählung, mit der Thomas Mann selbst den Beginn seiner Autorschaft datiert, weil er erst hier „die diskreten Formen und Masken“ und damit „die Mittel […], mich auszudrücken, mich mitzuteilen“,46 entwickelt habe – fungiert Wagners Musik immer wieder als Chiffre für die Berührung mit der nicht kontrollierbaren Sphäre von Erotik und Sexualität. In rauschähnlichen Zuständen werden bürgerliche Ordnungsstrukturen in Frage gestellt und verletzt. Die formale Seite der Wagner-Rezeption verläuft dazu parallel – und Nietzsches Formulierung, Wagner habe „das Sprachvermögen der Musik ins Unermessliche vermehrt“,47 bezeichnet in diesem Prozess so etwas wie die Zielvorgabe, Wagner mit sprachlichen Mitteln einzuholen. Eine zumindest diskursiv ähnlich gelagerte Situation findet sich übrigens bei Jakob Wassermann, der am Ende seines 1904 erschienenen fiktiven Dialogs Die Kunst der Erzählung emphatisch postuliert, dass die ganze Erzählung in „eine[ ] große[ ] Harmonie“ münden und „die mannigfach geteilten Motive zur unendlichen Melodie“ vermählt werden sollten. „Alle Kunst von heute, wenn sie uns etwas sein und geben will, muß in irgend welcher Weise auf den erlauchten Namen Richard Wagners hindeuten oder auf ihn zurückzuführen sein.“48 Freilich berichtet Wassermanns Dialog, wie Dirk Niefanger anmerkte, in erster Linie „vom produktiven Umgang mit der unbändigen Lust zu erzählen“.49 Entsprechend handelt es sich beim Wagner-Bezug eher um ein rhetorisches Aufrufen des zeitgenössischen Wagner-Enthusiasmus, der eine produktive Weiterentwicklung vorwiegend in inhaltlichen Motiven findet.50 Ausführlicher reflektiert werden die produktiven Spielräume des Bezugs auf die Wagner’sche Musik beim jungen Thomas Mann. 46

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Thomas Mann, „Brief an Otto Grautoff vom 21. Juli 1897“, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Briefe I. 1889–1913, Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/ Cornelia Bernini (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2002, S. 95. Nietzsche, Der Fall Wagner, S. 30. Beide Zitate: Jakob Wassermann, Die Kunst der Erzählung. Die Literatur, Georg Brandes (Hrsg.), Bd. 8, Berlin 1904, S. 58. Vgl. dazu Dirk Niefanger: „‚Das unbezwingliche Verlangen zu erzählen‘. Wassermanns Poetik des Narrativen“; in: Ders./Gunnar Och/Daniela F. Eisenstein (Hrsg.), Jakob Wassermann. Deutscher, Jude, Literat, Göttingen 2007, S. 141–155, hier S. 143. Am ehesten wohl in Jakob Wassermann, Die Geschichte der jungen Renate Fuchs, Berlin 1902. Vgl. Nicole Plöger, Ästhet – Ankläger – Verkünder. Jakob Wassermanns literarische Anfänge 1890–1900, Würzburg 2000 (besonders S. 371f.). Vgl. aber zur gleichfalls über Nietzsche vermittelten Wagner-Rezeption Wassermanns auch ebd., S. 153ff.

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Denn die Jahre nach 1901 sind auch für Mann Jahre der Orientierungssuche und einer gewissen ästhetischen Unsicherheit. Der Autor Thomas Mann musste sich nach den Buddenbrooks neu erfinden, bis zur ‚Marke‘ Mann ist es noch ein langer Weg.51 Der zweite Roman Königliche Hoheit zeigt, unlängst im Kommentar der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe von Heinrich Detering herausgearbeitet, in besonderem Maß diesen experimentellen Charakter.52 Wagner ist einer der Pole, bei dem Orientierung gesucht wird. Freilich ist die später von Mann selbst (in den Betrachtungen eines Unpolitischen und dann vor allem parallel zu den Josephs-Romanen und zu Debatten im Exil) kanonisierte Wagner-Orientierung noch beileibe nicht fixiert.53 Insofern stellt die musikalische Orientierung um 1900 nur eines unter anderen ästhetischen Experimenten dar. So tendiert Thomas Mann 1911 in der Auseinandersetzung mit Wagner ganz dezidiert dazu, dessen Einfluss zu relativieren.54 Wagner stehe für eine jugendliche Faszination, die nicht geleugnet wird, aber überwunden sei. Der kurze Aufsatz entstand als Antwort auf eine Umfrage im Mai 1911 in Vene51

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Zur Autorschaft Thomas Manns vgl. Michael Ansel/Hans Edwin Friedrich/Gerhard Lauer (Hrsg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin/New York 2009. Thomas Mann, Königliche Hoheit, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Heinrich Detering/Stephan Stachorski (Hrsg.), Bd. 4.1 u. 4.2: Text- und Kommentarband, Frankfurt a.M. 2004. Besonders hervorheben ließen sich die Spannungen zwischen verschiedenen Genre-Konventionen (Bildungs- und Staatsroman, Märchen), ökonomiegeschichtlichen Materialien und der großangelegten KünstlerAllegorie. Bereits dieses Konglomerat ist ein Hinweis darauf, dass hier neue Möglichkeiten der Kombination von Realien aus diversen Wissensbereichen und einem Reservoir an bekannten Motiven (Künstler-Bürger-Thematik) erprobt werden. Vgl. dazu insbesondere den Kommentar von Heinrich Detering, in: ebd., Bd. 4.2, S. 9–81. Für einen grundlegenden Überblick über Thomas Manns Wagner-Rezeption vgl. Walter Windisch-Laube, „Thomas Mann und die Musik“, in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 1990, S. 327–342 (besonders S. 327–332); ebenso: Terence J. Reed, „Thomas Mann und die literarische Tradition“, in: ebd., S. 95–136 (besonders S. 122–124). Für einen Überblick über Manns diskursive Auseinandersetzung mit Wagner vgl.: Hans Rudolf Vaget (Hrsg.), Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner. Texte und Zeugnisse 1895–1955, Frankfurt a.M. 1999 (besonders S. 301–335). Zu Aspekten der komplexen Geschichte von Thomas Manns Wagner-Rezeption seit dem Ersten Weltkrieg vgl. Hans Rudolf Vaget, Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt a.M. 2006 (bes. S. 21–47, S. 97–121 u. S. 303–322). Thomas Mann, „Auseinandersetzung mit Wagner“ [1911], in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.1: Essays I. 1893–1914, Heinrich Detering/Stephan Stachorski (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2002, S. 301–304, bes. S. 302f.

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dig und wurde in Der Tod in Venedig als Erzeugnis Aschenbachs entsprechend verwendet und verklärt: Er ist das autobiographische Vorbild für „jene anderthalb Seiten erlesener Prosa […], deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte.“55 Das ist deshalb nicht nebensächlich, weil gerade im Tod in Venedig das Programm einer ‚neuen Klassizität‘ diskutiert wird. Diese wird gegen die von Wagner verkörperte Kunst des 19. Jahrhunderts auch am Ende der Auseinandersetzung mit Wagner projektiert. Um 1911 sieht Thomas Mann ein Ende der Wagner-Orientierung erreicht: Man lasse sich nicht täuschen durch den Begeisterungslärm der jungen Leute im Stehparterre. In Wahrheit ist heute in der höheren Jugend viel Wagnerkritik, viel instinktives, wenn auch stummes Misstrauen, […] viel Gleichgiltigkeit gegen Wagner vorhanden. Wagner ist neunzehntes Jahrhundert durch und durch, ja, er ist der repräsentative deutsche Künstler dieser Epoche, die vielleicht als groß und gewiß als unglückselig im Gedächtnis der Menschheit fortleben wird.56

Das neuklassische Programm für eine Kunst des 20. Jahrhunderts ist in dieser Perspektive der Kunst Wagners dezidiert entgegengesetzt: Denke ich aber an das Meisterwerk des zwanzigsten Jahrhunderts, so schwebt mir etwas vor, was sich von dem Wagnerschen sehr wesentlich und, wie ich glaube, vorteilhaft unterscheidet, – irgend etwas ausnehmend Logisches, Formvolles und Klares, etwas zugleich Strenges und Heiteres von nicht geringerer Willensspannung als jenes, aber von kühlerer, vornehmerer und selbst gesünderer Geistigkeit, etwas, das seine Größe nicht im Barock-Kolossalischen und seine Schönheit nicht im Rausche sucht, – eine neue Klassizität, dünkt mich, muss kommen.57

In kritischer Abgrenzung von Wagner wird Samuel Lublinskis in Der Ausgang der Moderne 1909 proklamierte Ablehnung der Neuromantik und das damit verbundene Programm der Neuklassik aufgegriffen.58 Wagner dient hier als Kontrastfolie für die Formulierung einer weiteren, eher kurzlebigen Neuorientierung Thomas Manns. Im ersten Teil der Auseinandersetzung mit Wagner greift Mann dagegen Gedanken aus dem 1907 entstandenen Essay Versuch über das Theater auf, um 55

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Thomas Mann, Der Tod in Venedig, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2.1: Frühe Erzählungen 1893–1912, Terence J. Reed/Malte Herwig (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2004, S. 501–592, hier S. 556. Mann, „Auseinandersetzung mit Wagner“, S. 303f. Ebd., S. 304. Vgl. dazu den Kommentar zu „Auseinandersetzung mit Wagner“ von Heinrich Detering, in: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.2: Essays 1893–1914, Frankfurt a.M. 2002, S. 417–429 (besonders S. 420). Vgl. auch Samuel Lublinski, Der Ausgang der Moderne, Dresden 1909, S. 65.

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sein Verhältnis zu Wagner und vor allem dessen produktive Funktion für die Erzählkunst zu charakterisieren. Er enthält wesentliche Ansatzpunkte zur Frage der Übersetzbarkeit der Effekte Wagner’scher Musik für das eigene Erzählen. Insofern geht es in diesen Überlegungen vor allem darum, Manns Verständnis der Wagner’schen Musik und ihrer Effekte zu rekonstruieren, um von dieser bereits literarisch diskursivierten Perspektive aus Ansätze der narrativen Funktionalisierbarkeit der Leitmotivtechnik aufzuzeigen.59 In Versuch über das Theater60 werden nicht nur die Differenzen zwischen Theater und Drama geklärt, sondern auch die Unterschiede und vor allem die Hierarchisierungen zwischen Drama und Roman kritisch hinterfragt. Thomas Mann versucht, sein Erzählen in Bezug auf das Musikdrama Wagners programmatisch zu erläutern. Vor allem geht es dabei um die Aufwertung des Romans, der in der traditionellen Gattungshierarchie – Bezug sind vor allem die Ästhetiken Hegels und Vischers – gegenüber dem Drama als nachrangig behandelt werde. Zur Aufwertung des Romans werden eine Reihe von Argumenten angeführt, die allesamt darauf hinauslaufen, dass Hierarchisierungen „im Reiche der Dichtkunst“ „heute, zur Zeit der Zwischengattungen, der Mischungen und Verwischungen“61 prinzipiell fragwürdig seien. Mann konstatiert also die Überschreitung von Gattungsgrenzen als charakteristisch für die Gegenwart und formuliert damit eine Vorstufe zur Überschreitung medialer Grenzen. Weitergeführt wird dieser Gedanke in der Aufwertung der epischen gegenüber der dramatischen Dichtung. Diese wird nicht nur in einer Widerlegung ästhetikgeschichtlich bekannter Argumente vollzogen. Die angebliche Vereinigung von Subjektivität und Objektivität im Drama, seine szenische Gegenwärtigkeit, seine „Straffheit, Konzentration und ideelle Gedrängtheit“62 werden als „akademisches Gerümpel“63 entsorgt, und das jeweils mit illustrativen Gegenbeispielen aus Wagners Musikdramen. Darüber hinaus 59

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Dieses Verfahren scheint mir den Überlegungen, die Hans Rudolf Vaget mit Blick auf die Diskussion um das musikalische und textuelle Verfahren Leitmotiv formuliert hat, gerecht zu werden. Vaget weist ausdrücklich darauf hin, dass „[d]as Leitmotiv […] in Literatur und Musik jeweils nach Maßgabe der medienspezifischen Wirkungsmöglichkeiten [funktioniert], die selbstverständlich nicht identisch sind“ (Hans Rudolf Vaget, „‚Buddenbrooks‘: Zur Phänomenologie des Wagnerismus“, in: Ders., Seelenzauber, S. 97–121 (besonders S. 100–109; Zitat S. 102). Thomas Mann, „Versuch über das Theater“ [1907]; in: Ders., Essays I. 1893–1914, S. 123–168. Ebd., S. 127. Ebd., S. 132. Ebd., S. 127.

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wird in Anlehnung an Wagners theoretische Schriften, vor allem an Oper und Drama, die Geschichte des Verhältnisses von Drama und Epos umgeschrieben – Mann bezieht sich auf Wagners eigenartige ‚These‘ der Entstehung des Dramas aus dem mittelalterlichen Epos.64 Wichtig für unseren Zusammenhang ist Manns selektiver Einsatz Wagner’scher Denkfiguren. Wagners Gattungsgeschichtsklitterung steht bekanntlich im Zeichen seiner geschichtsphilosophisch grundierten Rechtfertigung des Dramas – der ‚Handlung‘ – als Synthese sämtlicher Künste und damit auch der literarischen Gattungen; postuliert wurde das zunächst im sogenannten ‚Kunstwerk der Zukunft‘. Thomas Mann unterstreicht zwar, dass er Wagners Schriften für „haarsträubend theatromanisch“65 hält und dass man aus ihnen „nicht viel über Wagner lernen“66 könne. Aber genau das geschieht. Er ‚lernt‘ – und zwar, indem er die entsprechenden Argumente aus dem Wagner’schen Argumentationszusammenhang herauslöst, umkehrt und zugunsten der Aufwertung des epischen Erzählens bzw. des Romans adaptiert. Auch Thomas Mann kann sich den Gefahren der Plünderung eines – wenn auch noch so problematischen – Systems nicht entziehen. Ohne gewisse Implikationen ist Wagners Gattungstheorie nicht zu haben. Zu diesen gehört, dass Mann die zentrale Technik der Strukturierung und Bedeutungsaufladung der Wagner’schen Musik – das sattsam bekannte Leitmotiv – wieder für das Erzählen reklamieren und damit auch konzeptionell umdenken muss. Mann verfährt dabei ganz anders als vor ihm Dujardin. Auf der einen Seite werden Wagners Musikdramen, vor allem der Ring des Nibelungen, grundsätzlich zu einem – wenn auch szenischen – Epos umgedeutet. Wagner, so Thomas Mann, glaubte, nur dann ‚dramatisch‘ zu sein, wenn er die ganze Geschichte „zur direkten ‚sinnlichen‘ Darstellung gebracht“67 habe. Aber, so Thomas Mann, „jeder Künstler [sieht], daß nur seine motivische Technik, eine epische Technik, wie gesagt, ihm diese Ausführlichkeit wünschenswert machte“.68 Das Leitmotiv, die Wiederholung bestimmter melodisch oder harmonisch identischer oder auch nur analoger Tonfolgen, die im 64

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Die These wird in Teil II von Oper und Drama entwickelt (vgl. Wagner, Oper und Drama, S. 132–159). Zur Diskussion vgl. Dieter Borchmeyer, „Die ‚Erlösung‘ des Romans im musikalischen Drama“, in: Ders., Das Theater Richard Wagners, S. 125–151. Mann, „Versuch über das Theater“, S. 134. Mann, „Auseinandersetzung mit Wagner“, S. 303. Mann, „Versuch über das Theater“, S. 151. Ebd.

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Verlauf der szenischen Handlung zusehends mit Bedeutung angereichert werden und entsprechend variiert werden können und insofern einen Bedeutungsüberschuss produzieren, ist als Wort- oder Satzfolge Grundbestandteil des epischen Erzählens und wird als Teil der epischen Tradition reklamiert. Das Resümee dieses Gedankengangs findet sich dann wieder in der Auseinandersetzung mit Wagner: „Und wer das ‚Leitmotiv‘ als ein wesentlich dramatisches Kunstmittel ansprechen wollte, vergäße, daß es seit den Tagen Homers fast ausschließlich von Künstlern der Erzählung gehandhabt worden ist.“69 Mit dieser Argumentation schafft Mann zumindest poetologisch die Voraussetzung dafür, die Wagner’sche Erweiterung des „Sprachvermögens der Musik“ in einer Hinsicht wieder an sprachliches Erzählen zurückzubinden. Denn natürlich ist das musikalische ‚Leitmotiv‘ Wagners spätestens im Ring komplexer als seine angeblichen epischen Vorläufer, die zunächst Memorierungshilfen waren und selbst in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts, auf die sich Thomas Mann mit den Buddenbrooks bezieht, meist nicht mehr als stereotypisierende Merkmale für Figuren sind bzw. physiognomische Charakteristika markieren. Eben diesen Rahmen hatte Wagner mit seinem aus der szenischen Handlung entwickelten und je nach Konstellation variablen, zudem in seiner Semantik stets um die neu präsentierte innere und äußere Handlung amplifizierbaren Leitmotiv ja überschritten. Und eben diese Möglichkeit, auch komplexe psychologische Entwicklungen in formelhaften Wendungen anzudeuten und über die unmittelbare Verweisfunktion hinaus semantisch anzureichern, macht den Reiz des musikalischen Leitmotivs aus, dessen Übertragung auf Narrationen in Thomas Manns Wagnerschriften aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts diskursiv erkundet wird. Eine solche Anreicherung der die sichtbare äußere Handlung kommentierenden Leitmotivtechnik um eine zusätzliche, potentiell offene und auch symbolisch erweiterbare Verweisfunktion scheint es zu sein, an der Thomas Mann ‚verfahrenstechnisch‘ – er selbst spricht vom „Kunstmittel“70 – im ersten Jahrzehnt seiner Autorschaft intensiv arbeitet. Erste Versuche dazu finden sich in Buddenbrooks,71 entscheidend ist aber die Ausgestaltung zu atmosphärisch-psychologisch eingesetzten Leitmotiven in Tonio Kröger oder in Königliche Hoheit und vor allem in den symbolisch geladenen Formeln im 69 70 71

Mann, „Auseinandersetzung mit Wagner“, S. 302. Ebd. Vgl. ausführlich Vaget, „‚Buddenbrooks‘: Zur Phänomenologie des Wagnerismus“.

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Tod in Venedig. Es handelt sich um einen Prozess der Modifikation eines als realistisch verstandenen Verfahrens, aus dem sich schrittweise eine Alternative zum realistischen Erzählen entwickelt. Die folgenden Textstellen aus Buddenbrooks, Tonio Kröger und aus Der Tod in Venedig können diesen Prozess der literarischen Ausgestaltung der Leitmotiv-Technik illustrieren. Buddenbrooks (1901): „Ich weiß gar nichts von ihm –“ brachte Tony trostlos hervor […]. Ihre Oberlippe, die beim Weinen zitterte, machte einen unaussprechlich rührenden Eindruck.72 „Gewiß, Papa“, antwortete Tony. Aber das hinderte nicht, daß sie in Thränen ausbrach. […] Sie hatte noch völlig ihr Kinderweinen: ganz ungeniert und ohne Ziererei. Ihre Oberlippe machte einen unaussprechlich rührenden Eindruck dabei.73 Ihr Teint war ein wenig flaumig und matt geworden, und auf ihrer Oberlippe – der hübschen Oberlippe Tony Buddenbrooks – wuchsen die Härchen reichlicher […].74 Tonio Kröger (1903): Die Wintersonne stand nur als ein armer Schein, milchig und matt hinter Wolkenschichten über der engen Stadt. Naß und zugig war’s in den giebligen Gassen […].75 Der Springbrunnen, der alte Wallnußbaum, seine Geige und in der Ferne das Meer, […] diese Dinge waren es, die er liebte […].76 Und Tonio ging durch das alte, untersetzte Thor, ging am Hafen entlang und die steile, zugige und nasse Giebelgasse hinauf zum Haus seiner Eltern. […].77 Und er verließ die winklige Heimatstadt, um deren Giebel der feuchte Wind pfiff, verließ den Springbrunnen und den alten Wallnußbaum im Garten, die Vertrauten seiner Jugend, verließ auch das Meer, das er so sehr liebte, und empfand keinen Schmerz dabei.78 Der Tod in Venedig (1912): Es war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommer eingefallen. Der Englische Garten […] war dumpfig wie im August und in der Nähe der Stadt voller Wagen und Spaziergänger gewesen. Beim Aumeister, wohin stillere und stillere Wege ihn geführt, hatte Aschenbach eine kleine Weile den volkstümlich belebten Wirtsgarten überblickt […]79

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Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 1.1, Eckhard Heftrich/Stephan Stachorski/Herbert Lehnert (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2002, S. 113. Hervorhebungen, auch in den folgenden Zitaten, durch F.L. Ebd., S. 235. Ebd., S. 834. Thomas Mann, Tonio Kröger, in: Ders., Frühe Erzählungen 1893–1912, S. 243–318, hier S. 243. Ebd., S. 246. Ebd., S. 254. Ebd., S. 263. Mann, Der Tod in Venedig, S. 501.

Intermedial reflektiertes Erzählen um 1900

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Wie still und stiller es um ihn wurde! Nichts war zu vernehmen, als das Plätschern des Ruders, das hohle Aufschlagen der Wellen gegen den Schnabel der Barke, der steil, schwarz […] über dem Wasser stand […].80 So glitt und schwankte er denn, in weiche, schwarze Kissen gelehnt, der anderen schwarzen, geschnabelten Barke nach, an deren Spur die Passion ihn fesselte. […] Die Luft war still und riechend […].81

Die Entwicklung des Leitmotivs als Verfahren wird in der Folge der drei Beispielsequenzen erkennbar: In den Beispielen aus Buddenbrooks wird eine physiognomische Eigenschaft Tonys und deren über die Jahre immer gleiche Wirkung thematisiert – womit zugleich die relative Stabilität Tonys im Vergleich zu den männlichen, der Verfallslogik unterworfenen Familienmitgliedern markiert wird. Die Beispiele aus Tonio Kröger zeigen, wie als biographische Wahrnehmungen gefärbte atmosphärische und topographische Details durch Selektion und Wiederholung eine semantische Qualität gewinnen, die über ihre realistische Verweisfunktion hinausreicht und den Raum von Tonio Krögers Heimatstadt nicht nur charakterisieren, sondern vor allem als emotiv geladene Projektion des Protagonisten erscheinen lassen. Spätestens im letzten Zitat aus Tonio Kröger haben die wiederholten und nun auch grammatisch variierten Wortbestandteile dann auch die Funktion einer Chiffre angenommen, die die in den ersten Kapiteln erzählten Ereignisse aufruft und Tonios Distanzierung von und die damit verbundene Literarisierung seiner Heimatstadt bezeichnet. Die Aufladung einer zunächst beiläufigen adjektivischen Zuschreibung von der Chiffre zur symbolischen Markierung kann man dann an der Entwicklung der Beispiele aus Der Tod in Venedig beobachten. Das Adjektiv bzw. Adverb ‚still‘ markiert neben seinem denotativen deskriptiven Wert nun auch die jeweiligen psychischen Zustände Gustav von Aschenbachs, konkretisiert die morbide ‚Stimmung‘ in Venedig und ist zudem ein implizites Signal der Erzählerstimme, die den physischen und psychischen Verfall Aschenbachs kommentiert und reflektiert. Mit diesen Beispielen, die sich beliebig um komplexere Fälle vermehren ließen, ist der Übergang von intermedialen Reflexionen narrativer Probleme zum intermedial reflektierten Erzählen erreicht. Deshalb hier ein kurzes Resümee. Am Beispiel der diskursiven Erkundungen der durch Wagner ästhetisch erweiterten musikalischen Leitmotivtechnik kann man verfolgen, dass in den Jahren vor und um 1900 eine Diskussion ästhetischer Orientierungen über mediale Qualitäten stattfindet, die der Musik zugeschrieben werden. Sichtbar wird das im Rahmen poetologisch-programmatischer Selbsterläute80 81

Ebd., S. 524. Ebd., S. 567.

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Fabian Lampart

rungen. Dujardin geht vom Versuch aus, die kommentierende Wagner’sche Orchestermelodie in eine Textur zu übertragen, und schafft dabei mit dem inneren Monolog einen narrativen Modus der Introspektion, in dem Leitmotive eine Rolle spielen, aber für emotive Informationen reserviert sind. Mann geht den Weg einer sukzessiven Modifikation des Leitmotivs vom realistisch-physiognomischen Charakterisierungsmittel zur psychologisierendsymbolisierend einsetzbaren Strategie der Subvertierung realistischer Texturen, ohne dabei den narrativen Rahmen der Nullfokalisierung aufzugeben. Beide Ansätze sind als Alternativen zu realistischen Poetiken projektiert, die aus einer Umschaltung der medialen Orientierung vom visuellen zum musikalischen Paradigma entwickelt werden, beide Ansätze bereiten in ihrer konzeptionellen und verfahrenstechnischen Orientierung an der Wagner’schen Musiksprache wichtige Varianten modernen Erzählens vor.

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Heinz Drügh (Frankfurt a.M.)

Tiefenrealismus Zu Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel

I.

Alles Unsinn?

In einem Aufsatz zum Thema „Fontane und der Gesellschaftsroman“ hat Clemens Pornschlegel jüngst Erich Auerbachs Einschätzung in Erinnerung gerufen, dass der deutschsprachige Realismus ein vergleichsweise provinzielles Unternehmen darstelle.1 Leisteten französische Realisten wie Balzac, Stendhal oder Zola entscheidende Beiträge zur literarischen Moderne, indem ihre Texte „die ganze Wirklichkeit der zeitgenössischen Kultur [zu] umfassen“, und d. h. insbesondere: Aufmerksamkeit für die Lebensumstände der Massen zu kultivieren suchten, so hätten sich ihre deutschsprachigen Kollegen ein eher gemütliches Plätzchen im „Idyllischen oder doch wenigstens im engen Bezirk des Lokalen“ erwählt. Dort entstehe fast zwangsläufig „das Bild des Wirtschaftlichen, Gesellschaftlichen und Politischen als ein ruhendes“.2 Aber selbst das, was an Wirklichkeit Einlass in die Literatur des deutschen Realismus findet, ist Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch zu viel der Verwässerung existentiellerer Fragen: Nie wird er [der deutsche Mensch] unter dem Leben die Gesellschaft verstehen, nie das soziale Problem dem moralischen, dem inneren Erlebnis überordnen. Wir sind kein Gesellschaftsvolk und keine Fundgrube für Bummelpsychologen. Das Ich und die Welt sind die Gegenstände unseres Denkens und Dichtens, nicht die Rolle, welche ein Ich sich in der Gesellschaft spielen sieht.3

Die folgenden Überlegungen werden Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel quer zu diesen beiden Einschätzungen lesen. Es soll gezeigt werden, dass Fontanes Erzählen ebenso in seiner poetologischen wie seiner gesellschaftsanalytischen Qualität unterschätzt wäre, würde man es auf eine in ih1

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Clemens Pornschlegel, „Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans in Deutschland“, in: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epochen – Autoren – Werke, Frankfurt a.M. 2001, S. 157–172. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Zweite verbesserte und erweiterte Auflage, Bern 1959, S. 420f. u. S. 462. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt 1995, S. 27f.

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Heinz Drügh

rem Grund heitere4 und damit letztlich harmlose Rechtfertigung der bürgerlichen Existenzweise reduzieren. Im Zentrum von Frau Jenny Treibel steht vielmehr ein nicht nur differenziert gezeichnetes, sondern durchaus spannungsvolles Bild der Gesellschaft, das ferner, anders als Thomas Mann befürchtet, eine grundlegende Rolle für die Vermessung des Subjektiven spielt. Es ist freilich nicht von der Hand zu weisen, dass das Gesellschaftliche auch beim späten Fontane kaum einmal einen naturalistischen Blick auf die Niederungen des modernen Lebens impliziert. Gesellschaftliches wird in Frau Jenny Treibel vielmehr zuallererst durch jene Gesellschaften konturiert, zu der sich sowohl Besitz- als auch Bildungsbürger zusammenfinden: das Treibel’sche Diner und parallel dazu das Schmidt’sche „Kränzchen“, ferner die Landpartie, bei der sich Corinna Schmidt und Leopold Treibel verloben, sowie eine Reihe um diese Ereignisse kreisender Vor- und Nachgespräche. Deren Darstellung, die für Fontane so charakteristischen Causerien, das Geplauder nehmen einen Großteil der Romanhandlung ein. Die sanfte Ironie des dabei angeschlagenen Erzähltons, der gleichsam über den Sachverhalten zu schweben, den Figuren und ihrer Rede ganz das Wort zu überlassen scheint,5 ist neuerdings als bürgerlich-paternales Erzählen, als „herablassend

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5

Den Impuls zu dieser verbreiteten Lesart liefert Fontane selbst: „Vielleicht ist […] eine heitere, den Tagesfragen angepaßte Modernisierung des Alten das einzige, was noch gefordert werden kann“ (Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Edgar Gross (Hrsg.), München 1959, Bd. XXII/1, S. 201). Vgl. exemplarisch Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen, Bad Homburg/Berlin 1970, S. 147; Peter Wruck, „Frau Jenny Treibel. ‚Drum prüfe, wer sich ewig bindet‘“, in: Christian Grewe (Hrsg.), Fontanes Novellen und Romane. Interpretationen, Stuttgart 1991, S. 185–216, hier S. 186. De facto wird die Stilisierung dieser Rede ausdrücklich angezeigt, etwa durch die bemerkenswerte inquit-Formel, mit der Willibald Schmidts Rede zugunsten des vom Ausschluss aus dem Männerbund der Gymnasiallehrer bedrohten Friedeburg als Wortlaut des Erzählers markiert wird: „‚Seht, ihr lieben Freunde‘, so etwa waren seine Worte gewesen, ‚wenn wir unter uns sind, so folgen wir unseren Auseinandersetzungen eigentlich immer nur aus Rücksicht und Artigkeit […]‘“ (Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel oder ‚Wo sich Herz zum Herzen find’t‘, Stuttgart 2000, S. 60, Hervorh. HD). Die „Natürlichkeit“ der Rede, die Fontane in seinen poetologischen Reflexionen fordert (Sämtliche Werke, Edgar Gross (Hrsg.), Band XX/2, S. 371), die „Aufmerksamkeit darauf […], die Menschen so sprechen zu lassen, wie sie wirklich sprechen“ (Theodor Fontane, Theodor Fontanes Briefe an seine Familie, Karl Emil Otto Fritsch (Hrsg.), Berlin 1905, Band I, S. 22), ist also nichts anderes als ein Effekt künstlerischen Kalküls. Vgl. Wolfgang Preisendanz, „Zur Ästhetizität des Gesprächs bei Fontane“, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hrsg.), Das Gespräch, Poetik und Hermeneutik XI, München 1984, S. 473–487.

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und wohlwollend zugleich“6 kritisiert worden, mithin als parteiisch und einer kritischen Distanz ermangelnd. Fontane selbst ist da allerdings ganz anderer Ansicht. „Zweck der Geschichte“, schreibt er im Mai 1888 an seinen Sohn Theodor, sei es, „das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunkts zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint“.7 Schiller und Gerson – der idealistische Klassiker und das Berliner Kaufhaus – diese beiden Schlagworte bilden in der Tat Eckpunkte des erzählerischen Gefüges von Frau Jenny Treibel. Bis zum Schluss meint man, die bildungsbürgerliche Sphäre um den Gymnasialprofessor Schmidt könne noch für jene Idealisierungstendenz einstehen, die der Poetische Realismus programmatisch vertritt und durch die er die Sphäre des Bürgerlichen insgesamt legitimiert; sei es dergestalt, dass – mit Hegel gesagt – „das Kunstwerk“ die „unmittelbare[] Sinnlichkeit“ stets in Richtung des „ideellen Gedanken[s]“ transzendiere und deshalb „das Sinnliche im Kunstwerk […] selbst ein ideelles“8 sei oder – in den Worten des frühen Fontane – dass „die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst“ stets auf eine „Läuterung“ des „nackte[n], […] alltäglichen Lebens“ und somit auf das „Wahre“9 hinauslaufe. So formuliert Professor Schmidt angesichts eines empfindsamen Briefs, den Marcell, Cousin und zukünftiger Ehemann von Schmidts Tochter Corinna, an seine Braut gesendet hat, noch im sechzehnten und letzten Kapitel des Romans die Hoffnung, wahre Kunst könne nicht nur die profanen Niederungen, sondern auch jene Form bourgeoiser Alibikunst transzendieren, die wie ein Feigenblatt die Exzesse des Bürgertums, insbesondere diejenigen seiner ‚Freundin‘ Jenny Treibel verdecken soll: „Sieh, das ist das, was man das Höhere nennt, das wirklich Ideale, nicht das von meiner Freundin Jenny. Glaube mir, das Klassische, was sie jetzt verspotten, das ist das, was die Seele frei macht“.10 Das Phrasenhafte und ihrerseits verzweifelt Sinnentleerte dieser Auffassung wird vom Romanende jedoch illusionslos markiert, wenn 6

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Monika Fludernik, Erzähltheorie. Eine Einführung, 2. durchgesehene Auflage, Darmstadt 2008, S. 85. Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Walter Keitel (Hrsg.), München 1963, Bd. 4, S. 717. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Sämtliche Werke in zwanzig Bänden, Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1995, Band XXII/I, S. 67. Theodor Fontane, „Der Realismus“ [1853], in: Gerhard Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus, Stuttgart 1997, S. 140–148, hier S. 146f. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 202.

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dort der Professor reichlich angeheitert daherlallt: „Für mich persönlich steht es fest, Natur ist Sittlichkeit und überhaupt die Hauptsache. Geld ist Unsinn, Wissenschaft ist Unsinn, alles ist Unsinn. Professor auch“.11 Damit geht Fontane in der Tat – wie Moritz Baßler formuliert – an die „Schmerzgrenze“ des Poetischen Realismus, indem er dessen Ziel einer „Verklärung der bürgerlichen Welt“ durch die Figur des Professors nurmehr zitieren lässt, um sie de facto als trunkenes Geschwätz zu entlarven.12 Gerade dadurch erweist sich Frau Jenny Treibel aber als typisch realistischer Roman, verkörpert er doch dessen von Baßler so bezeichnete Eigenschaft, das Verlangen nach einem stabilen Metacode, d. h. nach einem Angelpunkt, der die kurrenten Diskurse legitimiert, der seinerseits aber ein ums andere Mal entwertet wird. Ich möchte diesem Argument eine Überlegung an die Seite stellen, welche die realistischen Verfahren des Romans, die für eine solche Entwertung verantwortlich zeichnen, genauer in den Blick nimmt und skizzenhaft auf die emphatische Moderne perspektiviert. In diesem Zusammenhang soll insbesondere nach der Rolle der von dem Begriff ‚Gerson‘ bezeichneten Sphäre gefragt werden, dem immer mächtiger werdenden Konsumismus, d. h. dem ubiquitären Verlangen nach materiellen Gütern.13 Dabei geht es nicht nur darum, ob und wie der Umgang mit materiellen Dingen für die Entleerung des idealistischen Hofs um den Realismus verantwortlich zu machen ist, sondern auch um die Art und Weise, wie dieser Konflikt produktiv für eine Poetik der Moderne wird.

II. Geld oder Liebe? Die Freuden bzw. Mühen der kulturellen Repräsentation sind im gründerzeitlichen Deutschland vom Adel, deren Privileg sie einst gewesen sind, auf das Bürgertum übergegangen, insbesondere auf das Besitzbürgertum, für das in Fontanes Roman die Familie Treibel steht. Der Bourgeoisie ist aber – 11 12

13

Ebd., S. 212. Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2010, S. 63–80, hier S. 79. Zur Genese der Konsumgesellschaft vgl.: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hrsg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.–20. Jahrhundert), Frankfurt a.M. 1997; Wolfgang König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart 2008; Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008 (besonders S. 32–34); sowie Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp, Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 2009.

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so suggeriert es die Grundstruktur des Plots – die Sphäre der Bildungsbürger entgegengesetzt, personifiziert durch den Professor Schmidt, der in der Jugend mit Jenny Bürstenbinder liiert gewesen ist. Dem Schmidt’schen Beamtengehalt hat Jenny seinerzeit aber das Vermögen des Fabrikanten Treibel vorgezogen und dadurch sogar den Titel einer Kommerzienrätin erworben. Geld und Status statt Liebe (oder zumindest statt dem, was ein Beamter wie Schmidt darunter versteht) – so die vermeintlich leitende Opposition der Romanhandlung. In der folgenden Generation scheint sich nun eine Versöhnung zwischen beiden bürgerlichen Lagern anzubahnen, und zwar durch die Beziehung von Jennys Sohn Leopold und Corinna, der Tochter des Professors. Es kommt sogar zu beider (vorübergehender) Verlobung. Das entsprechende Strukturschema kennt man aus Stifters Nachsommer: Was die eine Generation nicht zuwege gebracht hat, verwirklicht die nachfolgende an ihrer Stelle. Solch einer Auflösung der Grundopposition tritt jedoch eine Reihe von Hindernissen in den Weg: an erster Stelle die ‚dynastische‘ Erwägung der auf Vornehmheit bedachten Schwiegertochter der Treibels, Helene, einer geborenen Munk, die voller Stolz auf Vorfahren im englischen Adel zurückblickt. Helene möchte auch ihre Schwester Hildegard mit dem Treibel’schen Haus verheiratet sehen, und zwar mit Leopold, dem ein wenig kümmerlichen, indes betuchten Nachzügler. Dieser Plan gibt Anlass zu intensiven Diskussionen, die nur oberflächlich belauscht die notorische Launigkeit des ‚Fontane’schen Gesprächstons‘ verbreiten, bei näherem Hinhören aber von einem aggressiv-höhnischen Unterton geprägt sind, einem Unterton, der Jennys eigene Eheentscheidung als beständige Quelle der Frustration erahnen lässt: „Helene Munk hat unsern Otto glücklich gemacht“, sinniert der Fabrikant, und es ist mir höchst wahrscheinlich, daß Hildegard Munk unsren Leopold auch glücklich machen würde, ja noch glücklicher. Und wär’ auch keine Hexerei, denn einen besseren Menschen als unsren Leopold gibt es eigentlich überhaupt nicht; er ist schon beinah eine Suse…14

Dieses für einen jungen Mann nicht eben schmeichelhafte Lob wird durch den Mund der Mutter geradezu lustvoll weiter vergiftet: „Beinah?“ sagte Jenny. „Du kannst ihn dreist für voll nehmen. Ich weiß nicht, wo beide Jungen diese Milchsuppenschaft herhaben. Zwei geborene Berliner, und sind eigentlich, wie wenn sie von Herrnhut oder Gnadenfrei kämen. Sie haben doch beide was Schläfriges, und ich weiß wirklich nicht, Treibel, auf wen ich es schieben soll…“15 14 15

Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 94. Ebd.

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Nicht weniger ätzend kommt Jennys Urteil über die bereits etablierte Treibel-Munk-Verbindung daher: „Otto […] haben wir zu seiner eignen Temperamentlosigkeit diese temperamentlose Helene hinzugetan, und was dabei herauskommt, das siehst du nun an Lizzi, die doch die größte Puppe ist, die man nur sehen kann. Ich glaube, Helene wird sie noch, auf Vorderzähne-Zeigen hin, englisch abrichten. Nun, meinetwegen. Aber ich bekenne dir, Treibel, daß ich an einer solchen Schwiegertochter und einer solchen Enkelin gerade genug habe […].“16

Deutlich attraktiver findet Jenny, die kommunikativ ebenso „plötzlich aus dem sentimental Schwärmerischen in den Ton ausgesprochenster Wirklichkeit“17 wie wieder in die Gegenrichtung zu wechseln vermag, die Imagination ihres Sohns wenn nicht als einen „Kavalier“ oder „Sportsmann“, dann doch als einen zu heftigeren Emotionen befähigten „Menschen“:18 „Und wenn er eine Leidenschaft fassen könnte, sieh, das wäre was, das würd’ ihn rausreißen, und sosehr ich allen Skandal hasse, ich könnte mich beinahe freuen, wenn’s irgend so was gäbe, natürlich nichts Schlimmes, aber doch wenigstens was Apartes“.19 Die „Ausmalung“ einer solch ‚aparten‘, also innerhalb der Grenzen bürgerlicher Schicklichkeit verbleibenden Ausbruchsphantasie folgt erkennbar dem Schema kitschiger Liebesromanzen, womit jene für die bürgerliche Aufsteigerin typische Kulturbeflissenheit auf doppelte Weise charakterisiert wird – als ebenso systemkonform wie als Sprachrohr frustrierter Ressentiments: […] und in einem halb übermütigen Jugendanfluge gefiel sich die Rätin sogar in stiller Ausmalung einer Eskapade: Leopold, mit aufgesetztem Schnurrbart, auf dem Wege nach Italien und mit ihm eine Freiin aus einer pommerschen oder schlesischen Verwogenheitsfamilie, die Reiherfeder am Hut und den schottisch karierten Mantel über den etwas fröstelnden Liebhaber ausgebreitet. All das stand vor ihr, und beinah traurig sagte sie zu sich selbst: „Der arme Junge. Ja, wenn er dazu das Zeug hätte!“20

Hat er aber nicht, denn laut der Kommerzienrätin ist er „auch dafür zu stumpf“.21 In puncto Schwächlichkeit beinahe eine Décadence-Figur (freilich ohne jeden dandyhaften Glamour), ermannt sich Leopold schließlich doch zu einer Verlobung mit Corinna, was seine Mutter so kommentiert: „‚Du hast dich verlobt, sagst du. Wem willst du das weismachen? Sie hat sich 16 17 18 19 20 21

Ebd. Ebd., S. 135f. Ebd., S. 94. Ebd., S. 94f. Ebd., S. 95. Ebd.

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verlobt, und du bist bloß verlobt worden‘“.22 Bei allen Phantasien, denen Jenny Treibel nachhängt und in denen die beschworene Verwogenheitsfamilie ironischerweise auf den Namen Schmidt hört,23 ist ihre geflissentliche Wahrung der sozialen Schranken ebenso als der Versuch lesbar, Corinna als ihr aufstiegsorientiertes Ebenbild daran zu hindern, in puncto Wahl des Ehepartners den gleichen Fehler zu begehen wie sie selbst. So zwischen die Linien geratend, verlegt sich der konfliktschwache Leopold einstweilen darauf, Corinna mit empfindsamen Briefchen hinzuhalten, bis diese schließlich auf endogame Partnerwahl24 umschaltet und ihren Cousin Marcell als ihren Zukünftigen erwählt – einen angehenden Gymnasiallehrer und somit nichts anderes als die Kleinausgabe ihres Vaters. Letzterer ist von der Rochade alles andere als enttäuscht, hat er doch schon im Vorfeld, als sich die Annäherung zwischen Leopold und Corinna angedeutet hat, kaum etwas unversucht gelassen, um Hildegard Munk bei Jenny als die eigentlich ideale Ehefrau – „sehr hübsch und reich dazu“25 – für Leopold anzupreisen. Dies wiederum bedeutet für Jenny, so das komplizierte Schachspiel der Emotionen, eine schmerzhafte Zurückweisung durch den Verflossenen, der ihr, auch wenn ihre Beziehung ebenfalls eher einer alten Ehe gleicht, als beständige Projektionsfigur für ihre romantischen Gefühle taugt. Entsprechend heftig gerät ihre Entgegnung: „Ein unbedeutendes Ding, das nichts kennt, als mit Ponys nach Blankenese fahren, und sich einbildet, mit einem Goldfaden in der Plattstichnadel eine Wirtschaft führen oder wohl gar Kinder erziehen zu können, und ganz ernsthaft glaubt, daß wir hierzulande nicht einmal eine Seezunge von einem Steinbutt unterscheiden können, und immer von Lobster spricht, wo wir Hummer sagen, und Curry Powder und Soja wie höhere Geheimnisse behandelt – ein solcher eingebildeter Quack, lieber Willibald, das ist nichts für meinen Leopold“.26

Jenny Treibel markiert damit die Zerrissenheit ihres Standes zwischen bürgerlichen Werten wie Erziehung und Mutterschaft und jenem vom Adel übernommenen Repräsentationsanspruch, der nicht zuletzt die Kenner22 23 24

25 26

Ebd., S. 165. Vgl. ebd., S. 95. Was ironischerweise seinerseits ein Décadence-Signal ist: „Ohne Zweifel hatte der Verfall dieses alten Hauses beständig seinen Lauf genommen, hatte die Verweiblichung der männlichen Sprosse sich zunehmend ausgeprägt; und wie um das Werk der Zeiten zu vollenden, verheirateten die des Esseintes zwei Jahrhunderte lang ihre Kinder untereinander, in blutsverwandten Verbindungen des Rest ihrer Lebenskraft verbrauchend“ (Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, Walter Münz/ Myriam Münz (Hrsg., Übers.), Stuttgart 2000, S. 29). Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 137. Ebd., S. 137f.

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schaft diverser Delikatessen samt ihrer akkuraten Bezeichnung einschließt. Corinna, deren Interessen in zeitgemäßer Ausprägung ebenfalls einem begrifflich fein differenzierten Materiellen zugeneigt sind, kommt ihr indessen zu „modern“ daher, wodurch sie ihren Vater „verleugn[e]“, da dieser – so Jennys Auffassung – „immer nur in einer schönen Gedankenwelt lebt“.27 Corinna hingegen singt das Lob der Oberfläche wie dasjenige des sozialen Aufstiegs ganz ohne die gefühlsduselige Verbrämung der Titelheldin: „Aber ein Hang nach Wohlleben, der jetzt alle Welt beherrscht, hat mich auch in der Gewalt, ganz so wie alle anderen, und so lächerlich und verächtlich es in deinem Oberlehrersohre klingen mag, ich halt es mehr mit Bonwitt und Littauer als mit einer kleinen Schneiderin, die schon um acht Uhr früh kommt und eine merkwürdige Hof- und Hinterstubenatmosphäre mit ins Haus bringt und zum zweiten Frühstück ein Brötchen mit Schlackwurst und vielleicht auch einen Gilka kriegt. Das alles widersteht mir im höchsten Maße; je weniger ich davon sehe, desto besser. Ich find es ungemein reizend, wenn so die kleinen Brillanten im Ohre blitzen, etwa wie bei meiner Schwiegermama in spe…“28

Im Folgenden soll genauer untersucht werden, welche Auswirkung ein solcher ‚Materialismus‘ für die realistischen Verfahren des Romans bedeutet.

III. Effet de réel „Ach Jugend! Meine liebe Corinna, du weißt gar nicht, welch ein Schatz die Jugend ist und wie die reinen Gefühle, die noch kein rauher Hauch getrübt hat, doch unser Bestes sind und bleiben“. „Ja“, lachte Corinna, „die Jugend ist gut. Aber ‚Kommerzienrätin‘ ist auch gut und eigentlich noch besser. Ich bin für einen Landauer und einen Garten um die Villa herum. Und wenn Ostern ist und Gäste kommen, natürlich recht viele, so werden Ostereier in dem Garten versteckt, und jedes Ei ist eine Attrappe voll Konfitüren von Hövell und Kranzler oder auch ein kleines Necessaire ist drin. Und wenn dann all die Gäste die Eier gefunden haben, dann nimmt jeder Herr seine Dame, und man geht zu Tisch. Ich bin durchaus für Jugend, aber für Jugend mit Wohlleben und hübschen Gesellschaften.“29

Bei diesem Dialogausschnitt aus dem ersten Kapitel des Romans prallen Jenny Treibels und Corinnas Auffassungen in Bezug auf Konsum und materialistisch orientierten Hedonismus aufeinander. Die Ironie, die hierüber schwebt, resultiert daraus, dass Jenny Treibel, welche die Sache des reinen Gefühls vertritt, sich realiter entgegengesetzt entschieden hat, während diejenige, die offensiv über die Annehmlichkeiten einer auf den Erwerb und 27 28 29

Ebd., S. 11. Ebd., S. 58. Ebd., S. 7.

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Verzehr materieller Güter ausgerichteten Lebenseinstellung nachdenkt, dies letztlich im Bereich der Phantasie belässt. Corinnas Rede wirkt denn auch weniger programmatisch denn so, als wohne man ihrer Verfertigung bei. Die tentative Gradatio „auch gut und eigentlich noch besser“ simuliert ein performatives, sich situativ entwerfendes Sprechen. Beim Fortspinnen des Gedankens überschreibt Corinna Schmidt das Ei, Sinnbild des Ursprungs, denn auch mit Insignien der modernen, merkantilen Welt. Das Ei erweist sich nämlich als bloße „Attrappe“, in der sich Konfitüren finden (was im Zusammenhang des Osterfestes noch angehen könnte). Indes handelt es sich nicht um bloße Konfitüren, sondern um Markenprodukte des exklusiven Berliner Cafés Kranzler und der Schokoladenfabrik Hövell. Mit den Markennamen bringt Corinna typische Objekte der bürgerlichen Konsumkultur30 ins Spiel, in der aufgrund der Industrialisierung sowie des steigenden Bedarfs einer immer breiter werdenden, kaufkräftigen Bürgerschicht nicht mehr die individuelle „Kundenproduktion“ dominiert, sondern eine, wenn auch mit den Insignien der Exklusivität ausgestattete, so doch „für alle gleiche, hochstandardisierte Ware“.31 Man kann also zuspitzen: an die Stelle eines Ursprungs, wie ihn Geburt, Zeugung oder wahre Liebe markieren,32 tritt die Reproduktion durch Waren.33 30

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Zu deren Genese vgl. Gudrun König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien/Köln [u. a.] 2009. Kai-Uwe Hellmann, Soziologie der Marke, Frankfurt a.M. 2003, S. 47f. Das „magische Geburtsjahr des klassischen Markenartikels“ datiert diese Studie auf das Jahr 1890 (ebd.). Eine Parallelstelle hierzu bietet das Gespräch zwischen dem Kommerzienrat Treibel und der Gesellschaftsdame Honig, die sich darüber unterhalten, ob Treibels Enkelin Lizzi in der Tat jener „Engel“ ist, für den sie Fräulein Honig hält, oder ob dies eine bloße Phrase darstellt. Honigs metasprachliche Antwort auf die entsprechende Nachfrage („Ich glaub’ es wirklich, Herr Kommerzienrat, vorausgesetzt, daß wir uns über ‚Engel‘ einigen.“ (Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 120)) nimmt Treibel wiederum zum Anlass für einen Gang ins diskursive Paradigma zum Lemma ‚Engel‘, in dem sich eher Werbeweisheit als emphatische Gefühlsaussprache findet: „Aber, mein liebes Fräulein, Engel und Engel ist ein Unterschied, und wenn der Engel weiter nichts ist als ein Wasch-Engel und die Fleckenlosigkeit der Seele nach dem Seifenkonsum berechnet und die ganze Reinheit des werdenden Menschen auf die Weißheit seiner Strümpfe gestellt wird, so erfüllt mich dies mit einem leisen Grauen“ (ebd., S. 121). Vgl. Bettina von Arnim, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, in: Dies., Werke und Briefe in 4 Bänden, Sybille von Steinsdorff/Walter Schmitz (Hrsg.), Frankfurt 1992, Band II, S. 487: „Die Erde liegt im Äther wie im Ei, das Irdische liegt im Himmlischen wie im Mutterschoß, die Liebe ist der Mutterschoß des Geistes“. Weit entfernt aber davon, sich diametral zu widersprechen, sind die beiden Positionen vielmehr systematisch aufeinander bezogen, wie sich mit Verweis auf die Untersuchungen der Soziologin Eva Illouz pointieren lässt: „Romantische Liebe

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Was bedeutet dies in semiotischer Hinsicht? Die Markennamen nehmen dem Objekt seine allgemeine Symbolik und verorten es stattdessen in einem konkreten kulturellen Feld.34 Rhetorisch bzw. texttheoretisch gesagt, liegt dabei ein amplifizierender Gang ins textuelle Paradigma vor – nimmt man als Oberbegriff des Paradigmas die ‚exklusive Süßigkeit‘ oder einfach nur ‚Konfitüre‘, so bedeutet das Labeling ‚Hövell‘ oder ‚Café Kranzler‘ an dieser Stelle nichts anderes als eine Verfeinerung der Textkörnung. Ein solches Verfahren ist – freilich nicht nur bei Markennamen – geradezu kennzeichnend für Fontanes Prosa, und zwar in Form der Repräsentation vieler, auf den ersten Blick für die Diegese nicht konstitutiver Objekte oder Details. Dass dies nicht unbedingt zu jener von der rhetorischen Tradition35 geforderten Erhöhung der Anschaulichkeit führen muss, bemerkt Richard Brinkmann: „Welcher Leser, auch mit ‚realistischem Erwartungshorizont‘“, hält Brinkmann angesichts der vielen beiläufig erwähnten Objekte fest, „würde Lampen vermissen, wenn sie verschwiegen wären?“36 Es ist ein Kennzeichen von Fontanes Prosa, Gegenstände zu verzeichnen, die keine handlungstragende Rolle spielen und nicht einmal dazu beitragen, dass sich der Leser die erzählten Interieurs besser vorstellen kann, Gegenstände, die einfach da zu sein scheinen – wie das Leben. Hält dieses eine „ungestalte Fülle an Details“37 bereit, so wird von der Literatur üblicherweise eine Gestaltung, und d. h. eine Selektion solcher Details erwartet, etwa durch eine symbolische oder atmosphärische Aufladung der Narration. Details, die in keiner dieser Funktionen aufgehen – unbedeutende Gegenstände, das absolute Detail, kleine Gesten, die flüchtige Überleitung, redundante Worte (objets insignifiants, le détail absolu,

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ist zu einem intimen, unentbehrlichen Teil des demokratischen Wohlstandsideals geworden, das mit dem Aufkommen des Massenmarktes entstanden ist, denn sie bietet eine kollektive Utopie, die quer zu allen sozialen Teilungen verläuft und diese transzendiert. Gleichzeitig hat sich die romantische Liebe mit den in der […] Gesellschaftsstruktur vorherrschenden Mechanismen ökonomischer und symbolischer Vorherrschaft verbunden“ (Eva Illouz: Der Konsum der Romantik, Frankfurt a.M. 2007, S. 26). Vgl. Moritz Baßler, „Zur Semiotik des Markennamens in literarischen Texten“, in: Thomas Wegmann (Hrsg.), Markt literarisch, Bern/Berlin [u. a.] 2005, S. 171–181. Vgl. Fritz Graf, „Ekphrasis. Die Entstehung der Gattung in der Antike“, in: Gotfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 143–155. Richard Brinkmann, „Der angehaltene Moment. Requisiten-Genre-Tableau bei Fontane“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 53/1979, S. 429–462, hier S. 436. James Wood, Die Kunst des Erzählens, Reinbek 2011, S. 68.

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menus gestes, la parole fugitive, paroles redondantes)38 –, sind indes laut Roland Barthes nicht ganz und gar funktionslos, sondern produzieren den sogenannten effet de réel, den „Wirklichkeitseffekt“, eine „referentielle Illusion (illusion réferentielle)“, bei welcher der Eindruck entsteht, der Text beziehe sich direkt auf die Realität, bedeute eine „bloße ‚Darstellung‘ des ‚Wirklichen‘, die nackte Schilderung des ‚Seienden‘ (oder Gewesenen)“ (‚représentation‘ pure et simple du ‚réel‘, la relation nue de ‚ce qui est‘)“ oder ein „Fehlen des Signifikats zugunsten des Referenten“ (carence même du signifié au profit du seul référent).39 Nun ist die Rede von solcher Funktionslosigkeit sicher übertrieben, zumal aus der Feder eines Strukturalisten, der doch erstens als eines seiner Basistheoreme ein dreistelliges Zeichenmodell vertritt, in dem zwischen dem realen Objekt und dem Signifikanten stets eine Bedeutung, ein Signifikat, Platz findet, so dass eine sprachliche Äußerung keinen Referenten bloß an sich selbst darstellt, sondern diesen stets den Gesetzlichkeiten des Sprachlichen überantwortet. Zweitens betont der Strukturalismus aufgrund der Tatsache, dass sich Bedeutung aus der Differenz einer Äußerung zu einer anderen und nicht aus der Häufigkeit dieser Äußerung ergibt, dass jedes Detail des literarischen Textes an der Bedeutungsbildung beteiligt ist: „Von welchem Wert könnte wohl eine Methode sein, die nicht der gesamten Oberfläche des Erzählgewebes gerecht würde?“, fragt Barthes in eben jenem Text über den effet de réel.40 Es lässt sich also kaum abstreiten, „dass es eigentlich kein irrelevantes Detail im Roman gibt, selbst im Realismus nicht“.41 Worauf Barthes mit seiner Zuspitzung indes deuten möchte, ist die Tatsache, dass das realistische Verfahren prinzipiell die Dämme für eine Flut des Ephemeren öffnet. Denn „keine ‚Ansicht‘ [der Realität, HD] ließe sich vom Diskurs ausschöpfen“ (toute ‚vue‘ serait inépuisable par le discours).42 Entsprechend deutet Barthes die aufgehäuften Versatzstücke als Verschwendung, als „eine[] Art Luxus der Erzählung“ (une sorte de luxe de la narration), der jede wohlgeordnete Struktur überlastet und auf diese Weise als „skandalös[er] […] Widerstand gegen den Sinn“ (une résistance au sens)43 fungiert. Ein so 38

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Roland Barthes, „Der Wirklichkeitseffekt“[1968], in: Ders., Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 2005, S. 164–172, hier S. 169. Die Belege aus dem Französischen beziehen sich auf: Roland Barthes, „L’effet de réel“, in: Ders., Oeuvres complètes, Tome II: 1966–1973, Éric Marty (Hrsg.), Paris 1994, S. 479–484. Barthes, „Wirklichkeitseffekt“, S. 171f. Ebd., S. 164 (Hervorh. HD). Wood, Die Kunst des Erzählens, S. 87. Barthes, „Wirklichkeitseffekt“, S. 169. Ebd., S. 164f. u. S. 169.

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pointiertes realistisches Verfahren trägt also seine Überschreitung in sich selbst: In Bouvard et Pécuchet lese ich folgenden Satz, der mir Spaß macht: „Tischtücher, Laken, Handtücher hingen, mit Holzklammern an gespannten Leinen aufgehängt, vertikal herab.“ Ich genieße hier einen Exzeß an Präzision, eine Art manische Genauigkeit der Sprache, eine Beschreibungswut […]. Man beobachtet folgendes Paradox: die literarische Sprache wird genau in dem Maß erschüttert, überschritten, ignoriert, wie sie sich der „reinen“, der essentiellen, der grammatischen Sprache anpaßt […]. Die betreffende Genauigkeit resultiert nicht aus übertriebener Sorgfalt, sie ist kein rhetorischer Mehrwert, als wenn die Dinge immer besser beschrieben würden – sondern ein Codewechsel: das (unerreichte) Modell der Beschreibung ist nicht mehr der rhetorische Diskurs (es wird gar nichts „ausgemalt“), sondern eine Art lexikographischer Artefakt.44

Freilich kennt der Realismus Strategien, wie solche Formen semiotischer Wucherung oder Transgression, das Kippen des Narrativs ins Areferentielle, zu verhindern sind, nämlich durch „un choix esthétique ou rhétorique“.45 Das „ästhetische Gelingen“ eines Textes, betont Brinkmann, hängt an der „Form der Integration“ der Details in einen Frame.46 Fontanes realistische Prosa leistet eine solche, Brinkmann zufolge, dadurch, dass sie aus den Detailanhäufungen mit „Emotionen und Sehnsüchten“ aufgeladene „Genre“Bilder formt.47 „Situationen“ wie „Kur oder Bad“ erhalten dabei „Modellcharakter“, denn als begrenzte integrale „Kleinwelten“ lassen sie erkennen, wie Koordinatensysteme von vorgefundenen und mitgebrachten „Realien“ im Netzwerk von gesellschaftlichen Bezügen und Konventionen entstehen und wie sie funktionieren, wie sie in der geglückten „Identität“ […], in der gekonnten Aneignung momentane Entlastung und Befriedigung verschaffen.48

Die Lebenskunst von Connaisseuren, die mit Dingen umzugehen, diese korrekt zu benennen wissen, bedeutet zwar im Grunde nichts anderes als eine bürgerliche Version jenes Verhaltens, das Jenny Treibel bei Hildegard Munk auf die Palme treibt (und dem sie als Aufsteigerin natürlich dennoch nacheifert).49 Nach Brinkmanns Ansicht birgt dieses Verfahren aber auch die Lösung des realistischen Darstellungsproblems: 44

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Roland Barthes, Die Lust am Text, übers. v. Traugott König, Frankfurt a.M. 1974, S. 42. Barthes, „Effet de réel“, S. 482. Hornig übersetzt hier choix nicht sehr glücklich als „Vorentscheidung“. Brinkmann, „Der angehaltene Moment“, S. 433. Ebd., S. 444. Ebd., S. 448. Vgl. systematisch: Werner Sombart, Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung, Berlin 1983.

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Die Menschen in den Romanen haben ihr Vergnügen an den Sachen, an der Kennerschaft, mit der sie sie „beherrschen“. Fontane scheint sein Vergnügen an seiner eigenen Kennerschaft zu haben. Der Leser schließlich hat das seine in der Rezeption des einen wie des anderen: fast eine Sorte realistischer „Transzendentalpoesie“. […] In den Sequenzen der gravierenden Lebensereignisse werden den Menschen Moratorien gewährt, Spielräume, in denen für kürzere oder längere Augenblicke Verweilen und Sicheinrichten möglich sind, Integration, Entspannung, Genießen, in gewissem Sinne Aufheben der Zeit, Anhalten des Fortschreitens zur „Katastrophe“.50

Eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Dienstbotenschaft, der Fontane immer wieder Aufmerksamkeit widmet. So – wie es scheint, ganz in Brinkmanns Sinn – auch in Frau Jenny Treibel: Keine Spur von Aufregung gab sich zu erkennen, zu der allerdings auch keine Veranlassung vorlag. Sie [Jenny Treibel] wußte, was in einem reichen und auf Repräsentation gestellten Hause brauchbare Dienstleute bedeuten, und so wurde denn alles, was sich nach dieser Seite hin nur irgendwie bewährte, durch hohen Lohn und gute Behandlung festgehalten. Alles ging in Folge davon wie am Schnürchen, auch heute wieder, und ein Blick Jennys regierte das Ganze, wobei das untergeschobene Luftkissen, das ihr eine dominierende Stellung gab, ihr nicht wenig zustatten kam. In ihrem Sicherheitsgefühl war sie zugleich die Liebenswürdigkeit selbst. Ohne Furcht, wirtschaftlich irgend etwas ins Stocken kommen zu sehen, konnte sie sich selbstverständlich auch den Pflichten einer gefälligen Unterhaltung widmen […].51

Man kann indes kaum umhin, diese Passage als ironischen Kommentar zu dem von Brinkmann apostrophierten Realismus bürgerlichen Wohlgefühls zu lesen. In aller Deutlichkeit scheint hier zwar die Rede davon zu sein, dass beim Diner in dem „reichen und auf Repräsentation gestellten Hause“ aufgrund des Wirkens einer – ihrerseits gehegten und gepflegten – Dienerschaft „keine Spur von Aufregung […] zu erkennen“ ist, ja dass „alles wie am Schnürchen“ klappt. Die nachgestellte Bekräftigung „auch heute wieder“ verschiebt dabei den Modus zur erlebten Rede – markiert auch durch das Temporaladverb „heute“, das so nur in Bezug auf Jennys Ich-Origo Sinn macht.52 Wir erfahren das Dargestellte also nicht nur vermittelt durch eine Erzählerinstanz, sondern hören auch Jenny Treibels eigene Einschätzung der Situation. Dadurch wird die geradezu insistierend betonte Behaglichkeit, die Abwesenheit aller „Furcht, wirtschaftlich irgend etwas ins Stocken kommen zu sehen“, und die daher wie selbstverständlich wahrgenommene „Pflicht[…] einer gefälligen Unterhaltung“ weniger als objektive Feststel50 51 52

Brinkmann, „Der angehaltene Moment“, S. 460f. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 25. Vgl. Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 31977.

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lung denn als Jennys ganz persönliches Mantra kenntlich, dem der Erzähler – nun im narrativen Blick von außen – einen Akzent auf Jennys aufgeblasene Selbstgefälligkeit hinzufügt, und zwar durch die Erwähnung jenes „untergeschobene[n] Luftkissen[s], das ihr eine dominierende Stellung gab“. Fontanes eingehegter „Realismus der Oberfläche“,53 die Ordnung der Dinge im bürgerlichen Haushalt, die Brinkmann gar eine „realistische Transzendentalpoesie“ nennt, die Bedingung der Möglichkeit bürgerlicher Existenz oder vielleicht sogar Lebenskunst, ist somit doch auch wieder als „Realismus der Tiefe“ zu lesen, freilich nicht dergestalt, dass hier – wie Barthes den Begriff versteht – bürgerliche Werte affirmiert würden, indem „aus der Vielfalt der Wirklichkeit nur das [ausgewählt wird], was idealistische[] Ansprüche rechtfertig[t]“, sondern als reflexives, den eigenen poetischen Status vor der unausgeloteten Tiefe kultureller Realien,54 hier insbesondere der durch die Konsumkultur modifizierten Dingwelt, explorierendes Verfahren.

IV. Humanität und Hummer (oder Krebse)? – Fontanes Tiefenrealismus Man würde vermuten, dass die Welt der modernen Dingfetischisten mit ihrem „krankhaften Gewichtlegen aufs Äußerliche“55 diametral jener Welt des Guten, Wahren und Schönen gegenübersteht, wie sie Wissenschaft und Kunst vertreten. So lässt beispielsweise Hildegard Munk bei einem Empfang zum Tee im Haus der Treibels verlauten, kurz nachdem die Nebenbuhlerin Corinna aus dem Feld geschlagen ist und ferner auf das Genaueste instruiert von ihrer Mutter, „alles ‚himmlisch‘“ zu finden und dadurch „die Unterdrückung alles Hamburgischen und Achtung vor Berliner Empfindlichkeiten“56 zu markieren:

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Nach Roland Barthes besteht der „Realismus der Oberfläche“ im „phänomenologische[n] Ablesen der Wirklichkeit“ – etwa im Stil des nouveau roman, welcher dem bürgerlichen „‚Realismus der Tiefe‘“ ebenso entgegensteht wie dem sozialistischen „politischen Realismus“ (Roland Barthes, „Probleme des literarischen Realismus“, in: Akzente, 3/1956, S. 303–307, hier S. 306). Vgl. zu diesem methodischen Ansatz auch die Beiträge in Stephan Braese/AnneKathrin Reulecke (Hrsg.), Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010, in denen Nachrichten- und Militärtechnik, Kriminalistik, Militärwissenschaft, Medizin und Tourismus im Mittelpunkt stehen. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 199. Ebd., S. 183.

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„Eure Berliner Muster schlagen jetzt alles aus dem Felde, selbst Sèvres. Wie reizend diese Grecborte. […] Scheltet mich übrigens nicht, daß ich in einem fort von Dingen spreche, für die sich ja morgen auch noch Zeit finden würde: Grecborte und Sèvres und Meißen und Zwiebelmuster. Aber Leopold ist schuld; er hat unsere Konversation in der Droschke so streng wissenschaftlich geführt, daß ich beinahe in Verlegenheit kam; […] er sprach nur von Anschluß und Radialsystem, und ich genierte mich zu fragen, was es sei.“57

Von einer entsprechenden Ignoranz gegenüber der Warenwelt kann beim Gymnasialprofessor Schmidt jedoch keine Rede sein, mag dieser mit seinen Kollegs über Pindar und Novalis und seinem Faible für „Lyrik und Hochgefühle“ die Oberflächlichkeit der „ganz ausschließlich auf Äußerlichkeiten gestellte[n] Jenny“58 und ihrer Standesgenossen noch so sehr verurteilen. Auch wenn er, empört von Jennys standesdünkelhafter Obstruktion der Beziehung zwischen Corinna und Leopold, ausruft: „Corinna, wenn ich nicht Professor wäre, so würd’ ich am Ende Sozialdemokrat“59 (die Aufhebung der Sozialistengesetze liegt in Deutschland nicht einmal drei Jahre zurück), ist Schmidt doch alles andere als ein Kostverächter, sondern „ein liebenswürdiger Egoist“, wie die nullfokalisierte Erzählinstanz feststellt: „Wie die meisten seines Zeichens“ sei es ihm „nicht sonderlich um die Stimmung seiner Umgebung“ zu tun, „solange nichts passierte, was dazu angetan war, ihm die Laune direkt zu stören“.60 Der emeritierte Gymnasialdirektor Distelkamp kommt daher während Schmidts Abendgesellschaft zu dem Urteil: „Nun, sieh’ Schmidt, diese Herren von der hohen Finanz, darauf möcht ich mich verwetten, sprechen nicht mit halb so viel Lust und Eifer von einer Schildkrötensuppe wie Du“.61 Schmidt, der sich offenbar in geringerem Maß als sein weibliches Gegenstück Jenny Treibel an die „Pflichten einer gefälligen“, und d. h. störungsfreien und glatten „Unterhaltung“ (s. o.) gebunden sieht, produziert in seinen Verhandlungen der kulinarischen Dingwelt denn auch jene von Distelkamp sogenannten „Schmidtiana“: „Du warst immer fürs Anekdotische, fürs Genrehafte“, erklärt Distelkamp, „mir gilt in der Ge57

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Ebd. Und das, obwohl das naturwissenschaftliche Wissen im 19. Jahrhundert im Zentrum vielgestaltiger – auch literarischer – Popularisierungsversuche steht, oder, in den Worten Professor Schmidts: „Mit der geschwollenen Wichtigtuerei, mit der Pomposität ist es heutzutage nicht mehr getan. An die Stelle dieser veralteten Macht ist die reelle Macht des wirklichen Wissens und Könnens getreten“ (ebd., S. 68). Vgl. auch Eda Sagarra, „Fontane in der globalisierten Welt“, in: Braese/Reulecke (Hrsg.), Realien des Realismus, S. 15–26. Ebd., S. 175. Ebd., S. 180. Ebd., S. 194. Ebd., S. 79.

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schichte nur das Große, nicht das Kleine, das Nebensächliche“. Schmidt hingegen liebt gewagte, assoziative Gedankenketten, die ihn ohne weiteres „neben Homer und sogar neben Schliemann, mit […] Vorliebe Kochbuchliches […], reine Menufragen“62 behandeln lassen. Er ist allerdings felsenfest davon überzeugt, dass die geballte parole fugitive seiner Causerie im tiefsten Innern idealistisch perspektiviert ist: „Das Nebensächliche, so viel ist richtig, gilt nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn nichts drin steckt. Steckt aber was drin, dann ist es die Hauptsache, denn es gibt einem dann immer das eigentlich Menschliche“.63 Damit ist – durchaus unironisch – eine realistische Poetik des Romans formuliert, die einmal mehr nach einer durch Fingerspitzengefühl und eine gewisse Selbstironie zu leistenden Integration all jener verzeichneten Details zu streben scheint, die aber zudem jener unambigen Idealisierung widerstreitet, von der seit dem frühen, bürgerlichen Realismus nur noch Jenny Treibel mit ihrer verlogen-kitschigen Vorstellung vom Poetischen übrig geblieben ist. Doch sehen wir uns näher an, wie bzw. ob dieser Schmidt’sche (und damit der späte Fontane’sche) Realismus funktioniert, und zwar mit Blick auf jene Szene, als Marcell, vom Diner bei den Treibels kommend, zu den Lehrerkollegen hinzustößt. Dort wird er noch einmal zum Mitessen oder besser dazu animiert, die gereichten Oderkrebse zu verkosten: Das Besteck für Marcell kam, und als dieser, nur um des Onkels gute Laune nicht zu stören, um einen Kost- und Probekrebs gebeten hatte, sagte Schmidt: „Fange nur erst an. Artischocken und Krebse kann man immer essen, auch wenn man von einem Treibelschen Diner kommt“.

Der Luxus einer Mahlzeit nach der Mahlzeit wird von Schmidt als spezifischer Überfluss des einfacheren bürgerlichen Lebens stilisiert, ebenso aber auch als Ersatz für frühere Liebesangelegenheiten: „Ob sich vom Hummer dasselbe sagen läßt [i.e., dass man ihn jederzeit essen kann, auch wenn man bereits von einer Mahlzeit gesättigt ist, HD], mag dahingestellt bleiben. Mir persönlich ist allerdings auch der Hummer immer gut bekommen. Ein eigen Ding, daß man aus Fragen derart nie herauswächst, sie wechseln bloß ab im Leben. Ist man jung, so heißt es ‚hübsch oder häßlich‘, ‚brünett oder blond‘, und liegt dergleichen hinter einem, so steht man vor der vielleicht wichtigeren Frage ‚Hummer oder Krebse‘. Wir könnten übrigens darüber abstimmen. Andererseits, soviel muß ich zugeben, hat Abstimmung immer was Totes, Schablonenhaftes und paßt mir außerdem nicht recht; ich möchte nämlich Marcell gern ins Gespräch ziehen, der eigentlich dasitzt, als sei ihm die Gerste verhagelt. Also lieber Erörterung der Frage, Debatte. Sage, Marcell, was ziehst Du vor?“64 62 63 64

Ebd. Ebd., S. 76. Ebd., S. 78.

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Marcell ist deshalb „die Gerste verhagelt“, weil er just zuvor von Corinna erfahren hat, dass sie Leopolds Werben aufgrund ihres „Hang[s] nach Wohlleben“65 stattzugeben gedenke. So ist seine Antwort: „Versteht sich, Hummer“,66 mit einiger Bitterkeit formuliert. Die anschließende Unterhaltung und insbesondere Schmidts ausführliche Einlassungen greifen die über diesem Urteil schwebende Ironie auf – ‚versteht sich, ich ziehe Hummer vor, auch wenn er meine Niederlage versinnbildlicht‘ – und spielen das Hin und Her zwischen den unterschiedlichen Besetzungen der Phänomene Konsum und Warenkultur durch, und zwar sowohl, was den lebensweltlichen Umgang mit ihnen anbelangt, als auch ihre künstlerische Darstellung. Ein Akzent auf die „ambiguity of real life“67 ist schon früh als Charakteristikum Fontane’scher Darstellungsart markiert worden, die „Erkenntnis einer Bedingtheit aller Meinungen, aber auf Grund dessen eben auch die Freude an ihrer Diskutierbarkeit“.68 Ich möchte hier einen Schritt über diese Einschätzung hinausgehen, da sie das Verhandelte zu sehr in der Enge einer dialogischen Situation einhegt und im Geplauder dasjenige exponiert sieht, was Hans Blumenberg den „Vollbesitz der Sprache“ genannt hat, „verbunden mit der trainierten Fähigkeit, sie nichts bedeuten zu lassen“.69 Ich möchte stattdessen behaupten, dass die divergierende Besetzung des zur Debatte stehenden Phänomens – das Schwanken zwischen Ablehnung und Faszination einer um 1900 sprunghaft wachsenden Menge materieller Güter und ihrer Darstellung – nicht bloß die Startvoraussetzung für einen ebenso humorvollen wie folgenlosen Small Talk bildet, dem der Gegenstand letztlich egal sein kann, weil er, so Georg Lukács böse Bemerkung, von einem „gemütlichen ‚Alles verstehen, ist alles verzeihen‘“70 geprägt ist. Ich gehe vielmehr davon aus, dass durch die Ambivalenz – ähnlich wie Lévi-Strauss dies für die Struktur der Mythen vorgeführt hat – eine „Bewußtmachung“ von „Gegensätze[n]“71 geleistet wird, die kulturell grundlegend sind.72 Die dar65 66 67 68 69 70

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Ebd., S. 58. Ebd., S. 78. Roy Pascal, The German Novel, Manchester 1956, S. 212. Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 22. Hans Blumenberg, Gerade noch Klassiker. Glossen zu Fontane, München 1998, S. 28. Georg Lukács, „Der alte Fontane“, in: Ders., Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Berlin 1953, S. 290. Claude Lévi-Strauss, „Die Struktur der Mythen“, in: Ders., Strukturale Anthropologie I, übers. v. Hans Naumann, Frankfurt a.M. 1977, S. 226–254, hier S. 247. Ein gutes Beispiel für diesen Zwiespalt bildet Georg Simmels kleiner Text „Berliner Gewerbe-Ausstellung [25. 7. 1896]“ (in: Gesamtausgabe in 24 Bänden, Otthein Rammstedt (Hrsg.), Bd. 17: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889–1918. Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen

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gestellte Unterhaltung, und sei sie auch noch so sehr als Geplauder inszeniert, kann so zu einem „semiotisch reiche[n]“, den Gegenstand substantiell explorierenden „Gespräch“73 werden. Zunächst kontert Professor Schmidt Marcells Äußerung mit einem Zitat aus Wallensteins Tod: „Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort“, das aber nicht etwa – wie im Original – zur Vollzugsstätte idealistischer Urteilskraft wird, sondern zum Ausgangspunkt einer digressiven Rede, die in ihrer verschwenderischen Attitüde sowohl formal als auch sachlich eher an ‚Gerson‘ denken lässt denn an Schiller: „Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort. Auf den ersten Anlauf mit ganz wenig Ausnahmen, ist jeder für Hummer, schon weil er sich auf Kaiser Wilhelm berufen kann. Aber so schnell erledigt sich das nicht. Natürlich, wenn solch ein Hummer aufgeschnitten vor einem liegt und der wundervolle rote Rogen, ein Bild des Segens und der Fruchtbarkeit, einem zu allem anderen auch noch die Gewißheit gibt, ‚es wird immer Hummer geben‘, auch nach Äonen noch, gerade so wie heute …“ Distelkamp sah seinen Freund Schmidt von der Seite her an. „ … Also einem die Gewißheit gibt, auch nach Äonen noch werden Menschenkinder sich dieser Himmelsgabe freuen – ja, Freunde, wenn man sich mit diesem Gefühl des Unendlichen durchdringt, so kommt das darin liegende Humanitäre dem Hummer und unserer Stellung zu ihm unzweifelhaft zugute. Denn jede philanthropische Regung, weshalb man die Philanthropie schon aus Selbstsucht kultivieren sollte, bedeutet die Mehrung eines gesunden und zugleich verfeinerten Appetits. Alles Gute hat seinen Lohn in sich, so viel ist unbestreitbar.“74

Realismus der Tiefe? Beim genaueren Blick auf diese Passage kann mit diesem Terminus keine plakative Symbolik oder atmosphärische Strahlkraft

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1888–1920, Klaus Christian Kröhnke (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2004, S. 33–38). Angesichts der ausgestellten Warenfluten stellt Simmel dort zunächst fest: „Jeder feiner empfindliche Sinn aber wird sich durch die Massenwirkung des hier Gebotenen vergewaltigt und derangiert fühlen“ (ebd., S. 34), nur um wenige Zeilen später zu formulieren, „wie sehr die Form der modernen Cultur gestattet, sie an einem Platze zu verdichten“, so dass die Berliner Gewerbe-Ausstellung alles Recht habe, sich als „Abbild und Auszug der gewerblichen Kräfte der Culturwelt überhaupt“ zu begreifen, und so gewissermaßen zum Symbol des modernen Lebens wird. Ein solcher kulturerschließender Wert bleibt nicht einmal der einzige, den Simmel in Bezug auf die moderne Warenwelt markiert, ihm an der Seite wird auch noch die Würdigung der Warenästhetik vollzogen, die im Kampf um die Aufmerksamkeit des Kunden unter der „‚Herrschaft der freien Concurrenz‘“ gewissermaßen das „Anmuthigste aus dem Anmuthlosesten“ generiere (ausführlicher dazu: Heinz Drügh, „Einleitung“, in: Ders./Christian Metz/Björn Weyand (Hrsg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011, S. 9–44). Preisendanz, „Zur Ästhetizität des Gesprächs bei Fontane“, S. 485. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 78f.

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mehr gemeint sein. Es handelt sich vielmehr um die ebenso intensive wie spannungsvolle Verhandlung eines tiefverwurzelten kulturellen Konflikts, der in ambivalenten Modellierungen durchgespielt wird. Treffender hierfür wäre daher in Anlehnung an Paul Ricoeurs Vorstellung einer Tiefensemantik der Terminus Tiefenrealismus, geht es doch um jene in den literarischen Diskurs eingeschlossenen Bedeutungen, die eine Welt zu entfalten vermögen, d. h. eine Bedeutungs- und Beziehungsvielfalt, die über den Text hinaus die ihn umgebenden „sozialen Phänomene[]“ sondiert und die jede „bloße Situation“75 übersteigt, wie sie ein Gespräch zu haben suggeriert. So kann vermieden werden, dass die eingeschliffene Rede von Schmidts Ironie textanalytisch die Lizenz erteilt, im Zweifelsfall nicht mehr so genau aufs Detail schauen zu müssen, weil das Ergebnis ohnehin festzustehen scheint: dass einzig mit Humor die Kontingenzen und Konflikte der Moderne noch zu überstehen seien, dass „die einzelnen Positionen, die im Gespräch aufeinandertreffen, kein ‚Objektives‘ ausmachen“, dass „die einzelnen Äußerungen vielmehr in der Schwebe gehalten werden“, dass dies „das eigentlich Menschliche des Gesprächs“76 sei und dass die vielbeschworene „gute Laune“ (und sei es auf Kosten genauerer Inaugenscheinnahme des Textes) sogar ein „didaktische[s]“77 Moment im Hinblick auf allgemeine Lebensfragen besitze. Auf die Gefahr hin, als Spielverderber dazustehen, möchte ich jenseits solcher Festspiele des Humanen im Folgenden auf dem Wortlaut von Fontanes Prosa insistieren. Das von Schmidt gewählte Bild des aufgeschnittenen Hummers weist mit seinem Spiel von Oberfläche und Inhalt nicht nur auf das von Corinna Schmidt so eindringlich beschriebene, mit gelabelten Konfitüren gefüllte Osterei hin, es reflektiert erneut den Aspekt luxurierender Verschwendung und verströmender Fruchtbarkeit wie dessen Umdeutung und Reintegration in einen bürgerlichen Wertekanon – insbesondere mit Blick auf die Thematik familiärer Genealogie. Zunächst wird die symbolische Qualität des Hummers, die hier eigentlich eine metonymische ist, nämlich der anekdotische Verweis auf Kaiser Wilhelm als seinen berühmtesten Anhänger (und Vertilger), als vorschnelle Schließung des Diskurses über diese Delikatesse abgetan und durch einen empiristischen Aspekt ergänzt. Erst die genaue Betrachtung des Tiers, „wenn [es] aufgeschnitten vor einem liegt“, lässt erahnen, wie 75

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Paul Ricoeur, „Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen“, in: Ders., Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Hans-Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1978, S. 83–117, hier S. 114f. Richard Brinkmann, Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeiten des Unverbindlichen, Tübingen 21977, S. 198f. Peter Wruck, Frau Jenny Treibel. ‚Drum prüfe, wer sich ewig bindet‘, S. 187.

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„wundervoll[]“ dieses ist. Der aufgeschnittene Hummer ruft die Technik von Stilllebendarstellungen in Erinnerung, wie sie Svetlana Alpers in ihrem Buch „Kunst als Beschreibung“ analysiert hat. Im Hinblick auf Garzonis Gemälde spricht Alpers von einer Technik des „Dividieren[s]“, d. h. einer „verbreiteten Praxis, auf den Stilleben die Objekte aufzuschneiden, um ihre innere Struktur bloßzulegen“, was im Hinblick auf die Darstellung bedeutet, eine Vervielfachung der Ansichten und Oberflächen im „Spiel des Lichts“ auf den Dingen oder schlicht: „ein Fest für die Augen“, zu bereiten. Geopfert wird dabei jedoch „die Wahl einer einzelnen, hauptsächlichen oder herausragenden Ansicht“.78 Alpers erinnert in diesem Zusammenhang an John Lockes Essay concerning Human Understanding: Wenn der wichtigste unserer Sinne, das Sehen, bei einem einzelnen Menschen tausend- oder auch hundertmal schärfer wäre als das beste Mikroskop, könnte er mit bloßem Auge Dinge sehen, die einige millionenmal kleiner sind als das kleinste jetzt sichtbare Objekt, und er näherte sich der Erkenntnis der Textur und Bewegung der kleinsten körperlichen Dinge … aber dann befände er sich in einer ganz anderen Welt als andere Menschen.79 78

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Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1998, S. 175. Zit. n. ebd.

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Poetologisch gewendet heißt das, dass die Körnung des Frames zum Definiens von Welt bzw. dessen wird, was als deren realistische Darstellung gilt. Textuell wäre durch das Aufschneiden ein Gewimmel bezeichnet. An die Stelle einer ökonomisch Schritt für Schritt entwickelten Anekdote träte, mit Roland Barthes gesagt, „das Blattwerk der Signifikanz“,80 wie es auch in Schmidts wucherndem Gerede vorliegt. Der von der Textregie eingeblendete Seitenblick Distelkamps kann dabei einerseits als Signal für die Anstößigkeit solchen Schwadronierens gewertet werden. „Distelkamp sah seinen Freund Schmidt von der Seite her an“ – wäre dann ein Appell an den Leser, sich genau vor Augen zu halten, wie und was Schmidt eigentlich daherredet. Man könnte diese Geste aber andererseits auch als ein Aufmerken darauf begreifen, dass Schmidts Vortrag an dieser Stelle so gerade noch, wenn man das so salopp sagen darf, die Kurve kriegt und rechtzeitig von all den Nebensächlichkeiten in den Lobpreis des bürgerlichen Wertekanons, des von Distelkamp geschätzten „Große[n]“,81 einstimmt. Entsprechend wäre die Bemerkung „Es wird immer Hummer geben“ als symbolische Überschreibung des Wimmelns zu lesen, als Versprechen einer Genealogie, welche dem drohenden Abbruch der Familiengeschichte entgegengesetzt wird.82 Nichts Geringeres als ein solcher droht im Klima des Fin-de-Siècle sowohl formal wie inhaltlich: einerseits in Gestalt eines ziel- und sinnlosen Verströmens, der (im Grunde empiristischer oder positivistischer Exaktheit geschuldeten) Exuberanz textueller Praktiken, die als formales Grundcharakteristikum dekadenter Verfahren gilt;83 andererseits in Form jener Weigerung, in der Familienge80 81 82

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Barthes, Die Lust am Text, S. 19. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 79. Vgl. zum Thema moderner Männlichkeit im Spannungsfeld von Normen wie einer – familialen wie nationalen – Genealogie und moderner Erschöpfung und Verbrauchtheit Walter Erharts reiche Studie: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001. „Fontanes Männer-Geschichten“, schreibt Erhart, „handeln allesamt von zerstörten, fragmentarischen und abgebrochenen Familienromanen, und die ‚Halbheit‘ ihrer männlichen Figuren kündet jeweils von der Unmöglichkeit, männliche Identität durch eine dafür vorgesehene familiale Struktur zu erhalten, fortzuführen oder zum Abschluß zu bringen“ (ebd., S. 197). Vgl. zentral: Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg (Hrsg.), Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996 (besonders S. 134–159). Die Forschung zu den Décadence-Aspekten bei Fontane übersieht diesen Verfahrensaspekt bislang weitgehend (vgl. etwa die motivgeschichtlich verfahrende Studie von Isabelle Nottinger, Fontanes Fin de Siècle. Motive der Dekadenz in L’Adultera, Cécile und Der Stechlin, Würzburg 2003). Eine Ausnahme bildet: Dieter Kafitz, „Theodor Fontanes Roman ‚Der Stechlin‘ aus der Perspektive des DécadenceDiskurses der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts“, in: Gabriele Radecke (Hrsg.), ‚Die

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nealogie noch ‚seinen Mann zu stehen‘; man denke nur an den Dandy Des Esseintes, der zu Beginn des Romans À rebours zu einem Diner lädt, bei dem die „Anteilnahme an einer“, seiner, „vorübergehend verstorbenen Manneskraft“ zelebriert wird.84 Der realistische Frame wird also durch Professor Schmidts Rede ebenso betont wie überlastet, genauer: er wird in der Überlastung betont. Man kann folglich nicht sagen, dass zwischen dem vielen Gerede und der Verkündung des Wesentlichen ein klarer Wechsel der Diskursebene stattfinden würde. Vielmehr vermag es Schmidt, die Rede scheinbar launig und spontan aus ihrer Buchstäblichkeit, ihrer Materialität zu generieren und so nicht nur in der Alliteration des roten Rogens das Liebessymbol der roten Rosen mitschwingen zu lassen, sondern den Hummer auch, wie gesehen, in Form eines Homoioteleuton mit dem Temporaladverb immer sowie durch eine unorganische Paronomasie mit dem Substantiv Humanität zu verschalten. Indem Schmidt die Vergleiche solcherart an den Haaren, und d. h. hier: an der Materialität der Signifikanten herbeizieht, verkündet er noch einmal Eckpunkte des realistischen Programms. Wenn eine Rede aber ein solch überschießendes Verfahren in Anschlag bringt, wie soll man dann noch ihre Schließung zur monologischen Verkündigung eines Wertetableaus rechtfertigen? Dem zu entgegnen, dass diese Art der Rede eben gerade der Ausweis von Selbstironie und mithin einer gesteigerten Humanität sei, ist zwar menschlich gesehen nicht ohne Charme, hieße aber im Hinblick auf den Discours zu viele seiner Details zu ignorieren. Dennoch bleibt es dabei, dass Fontanes Darstellung bei all ihren Extravaganzen stets eine Tendenz zur Schließung des Rahmens behält. So nennt Schmidt die Luxusliebe seiner Tochter eine törichte „Phantasietätigkeit“,85 während – so ist impliziert – sein eigenes Verhältnis zum Materiellen auf den Füßen gesunden Realitätssinns stehe. Nicht zuletzt nach der vorangegangenen Rede muss man in Bezug auf diesen Punkt indes skeptisch sein. Denn die gegen Corinnas „dummes Vornehmtun“ und „die verdammte neue Zeit“86 überhaupt aufgeführten bodenständigen Genüsse – es gab sie noch, die guten Dinge, schon damals – sind selbstverständlich auch mit „Imaginationen“ aufgeladen, etwa das von Corinna zu Schmidts Verdruss ver-

84 85 86

Décadence ist da‘. Theodor Fontane und die Literatur der Jahrhundertwende. Beiträge zur Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft vom 24. bis 26. Mai 2001 in München, Würzburg 2002, S. 9–32. Huysmans, Gegen den Strich, S. 42. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 85. Ebd.

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schmähte Gericht „Speck und Wruken“,87 das als direktes Gegenstück zur Verschaltung Hummer und Kaiser Wilhelm mit dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. assoziiert wird – Zerebralkonsum also auf beiden Seiten. Die Oderkrebse, die bei Schmidts Kränzchen auf den Tisch kommen, fügen sich daher auch nicht einfach brav in ihre Rolle als Symbole von Wesentlichkeit und einer gewissen Erdung, sondern leisten poetologische Vermessungsarbeit im Hinblick auf den Auseinanderfall von Zeichen und Sache, wie er nicht zuletzt durch die moderne Warenwirtschaft befördert wird. So muss man sich etwa zunächst einmal darüber verständigen, ob ein Epitheton für ein Lebensmittel noch eine reale Ortsbezeichnung meint oder schon auf dem Weg zu einem Markennamen ist, der weniger für Substantielles denn für ein kalkuliertes Assoziationssystem steht: „Und nun sagen Sie, Freund, ist dies, nach Ihren persönlichen Erfahrungen, mutmaßlich als streng lokale Produktion anzusehen, oder ist es mit den Oderbruchkrebsen wie mit den Werderschen Kirschen, deren Gewinnungsgebiet sich nächstens über die ganze Provinz Brandenburg erstrecken wird.“ „Ich glaube doch“, sagte Friedeberg, „[…] daß wir auf dieser Schüssel wirkliche Oderkrebse vor uns haben, echteste Ware, nicht bloß dem Namen nach, sondern auch de facto.“88

Derart ortsangebunden werden die regionalen Genüsse ihrerseits wieder überschrieben, und zwar bemerkenswerterweise mit einem Bild des Wimmelns, das aber nicht als Überfluss oder Luxus pointiert wird, sondern als inflationäre Entwertung, ein Vorgang, der wiederum die grundbürgerliche Tugend der Sparsamkeit ins Spiel bringt: „Damals, vor hundert Jahren, oder vielleicht auch noch länger, gab es so viele Krebse, daß sie durchs ganze Bruch hin, wenn sich im Mai das Überschwemmungswasser wieder verlief, von den Bäumen geschüttelt wurden, zu vielen Hunderttausenden.“ „Dabei kann einem ja ordentlich das Herz lachen“, sagte Etienne, der ein Feinschmecker war. „Ja, hier an diesem Tisch; aber dort in der Gegend lachte man nicht darüber. Die Krebse waren wie eine Plage, natürlich ganz entwertet, und bei der dienenden Bevölkerung, die damit geatzt werden sollte, so verhaßt und dem Magen der Leute so widerwärtig, daß es verboten war, dem Gesinde mehr als dreimal wöchentlich Krebse vorzusetzen. Ein Schock Krebse kostete einen Pfennig.“ „Ein Glück, daß das die Schmolke nicht hört“, warf Schmidt ein, „sonst würd’ ihr ihre Laune zum zweiten Male verdorben. Als richtige Berlinerin ist sie nämlich für ewiges Sparen, und ich glaube nicht, daß sie die Tatsache ruhig verwinden würde, die Epoche von ‚ein Pfennig pro Schock‘ so total versäumt zu haben.“89 87 88 89

Ebd. Ebd., S. 74. Ebd., S. 74f.

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Zur Debatte steht also ein kompliziertes Verhältnis zwischen dem distinguiert exklusiven Luxusnahrungsmittel Hummer, das rar und daher wenigen vorbehalten ist, und dem einfacheren lokalen Produkt Oderkrebs, der frei zu sein scheint von hochfliegenden Projektionen. Dennoch wird der Oderkrebs mit einer Anekdote bedacht, die von Szenarien eines schlaraffenlandartigen, verschwenderischen (sich wohl nicht zufällig einer Überschwemmung verdankenden) Überflusses gekennzeichnet ist. Dieser trägt aber zur Entwertung des Produkts bei, psychologisch als Überdruss und ökonomisch als preiszerstörerisches Überangebot, was sich wiederum mit dem bürgerlichen Wert der Sparsamkeit verkoppeln lässt. Man könnte daher die These wagen, dass Fontanes Prosa mit dem Exzess, mit unkontrollierter Vervielfältigung und Überschreitung, mit der Anökonomie winkt, schließlich aber darauf bedacht ist, wieder sorgsam zu Werten wie Einfachheit und Echtheit, zu einer Ökonomie der Begrenzung zurückzufinden, die ihr Maß in nichts Geringerem als ‚der Natur‘ finden und die Konzepte Genuss und Exzess dadurch entkoppeln: „Und daß gerade das [i.e. die Oderkrebse], in der Welt des Genusses, seine besonderen Meriten hat, wer wollte das bestreiten. Es ist, sozusagen, das natürlich Gegebene. Wir haben da in erster Reihe den Säugling, für den saugen zugleich leben heißt.“90

„Laß gut sein, Schmidt“, fährt Distelkamp dieser erneut drohenden Digression ins Wort, mit der Schmidt einmal mehr übers Ziel hinauszuschießen droht, obwohl die gewählte Metaphorik auch wieder ungemein sprechend ist, gipfelt sie doch im Bild des Säuglings, für Roland Barthes Inbegriff eines genussfreien bloßen „Bedarf[s]“, der nichts mit dem Transgressiven der „Perversion“ zu tun habe.91 Bei alldem gilt es aber festzuhalten, dass Fontanes Prosa danach strebt, den realistischen Rahmen trotz aller Exuberanzen nicht zu überlasten. Solcher Widerstand gegen die Überlastung der Textur wird aber bereits kurz nach Fontane spürbar geringer.

V.

Fin-de-si-ekliger Realismus

Trotz des steten Bemühens, die Details und Nuancen zu bändigen, bleibt das Überschießende ein Charakteristikum Fontane’scher Prosa, was auch Zeitgenossen nicht verborgen geblieben ist: „Dieser Siebzigjährige gehört ja auch zu den jungen Décadents, eigentlich“, führt etwa Heinrich Mann in Bezug auf Fontane aus und spezifiziert diese Einschätzung im Hinblick auf jene 90 91

Ebd., S. 79. Barthes, Die Lust am Text, S. 10f.

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‚Seelenstände‘, dasjenige, was Hermann Bahr eine für „Stimmungen“ und „Schwingungen“ sensible „Romantik der Nerven“92 genannt hat93 und dem Hofmannsthal als Komplement eine sogenannte „Möbelpoesie“ an die Seite stellt, ein fast überstarkes Interesse an Interieurs und materieller Kultur überhaupt. Heinrich Manns Verhältnis zu der zu jener Zeit prototypisch für die Moderne stehenden Décadence ist aber gespalten. Obwohl sein erster Roman In einer Familie dem Décadence-Kritiker Paul Bourget gewidmet ist und als Antidot zu den modernen Zersetzungen plakativ mit einer Eheschließung endet, ist sich Mann der modernen Stoßrichtung seines Erzählens bewusst: „Ich will ja nicht ‚Geschichten erzählen‘, wie man’s allenfalls in der Gartenlaube tut“, erläutert er in einem Brief an Ludwig Ewers und begründet dies: „Ich spreche halt gar zu gern in Nuancen“.94 Auch hier ist es also eine Welt „ganz aus Nuancen“,95 wie sie Jules Barbey d’Aurevilly in seinem Gründungstext Du Dandysme fordert, welche die Extravaganz der Prosa begründen soll. Einen solchen Zugriff nennt Heinrich Mann im Rückblick „fin-desi-eklig“. Im Jahr 1900 nun erscheint Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten, der, wie der Untertitel anzeigt, die von Thorstein Veblen zur selben Zeit soziologisch untersuchte leisure class in den Blick nimmt. Es geht um die Geschichte vom Aufstieg (und Fall) des jungen Schönlings und MöchtegernSchriftstellers Andreas Zumsee im Geldadel der Berliner Finanzwirtschaft und seiner Blase von Bohemiens und Pseudointellektuellen, mit der Mann den entscheidenden Karriereschritt zum satirischen Chronisten der öffentlichen Seele unter Wilhelm II. (so der ursprünglich geplante Titel des Untertan) geschafft zu haben scheint.96 Eine während der Arbeit am Roman im Arbeits92

93

94 95

96

Hermann Bahr, „Die Décadence“ [1891], in: Ders., Das junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902, Gotthart Wunberg (Hrsg.), Tübingen 1976, Bd. I, S. 422–427, hier S. 423. Heinrich Mann, Briefe an Ludwig Ewers. 1888–1913, Ulrich Dietzel/Rosemarie Eggert (Hrsg.), Berlin/Weimar 1980, S. 207. Zitiert nach Manfred Flügge, Heinrich Mann. Eine Biographie, Reinbek 2006, S. 44. Jules Barbey d’Aurevilly, Über das Dandytum und über George Brummell. Ein Dandy ehe es Dandys gab, übers. v. Gernot Krämer, Berlin 2006, S. 28. Unter Verzicht auf modernistische, an die französischen Avantgarden seiner Zeit angelehnte Extravaganzen wandelt sich Mann, so die vorherrschende Ansicht in der Forschung, zu jenem bissigen Gesellschaftsanalytiker, als der er fester Bestandteil des bundesrepublikanischen Schulkanons geworden ist. Nach Renate Werners weit geteilter Einschätzung zählt „keines der Werke Heinrich Manns zu den Paradigmen spezifischer ‚Modernität‘. […] Heinrich Mann“, so Werner weiter, „ist ein ‚traditioneller‘ Erzähler […] in der Reihe der Namen Broch, Kafka,

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journal festgehaltene Notiz klingt allerdings eher danach, dass Mann seine Gesellschaftsanalyse nach wie vor mit gehöriger Décadence-Attitüde bzw. -Prätention betreibt: „Aber ce qui importe, c’est le contact de la haute vie. […] C’est un certain cadre de la vie qui (sic!) me faut. Car c’est l’air qu’on respire qui fait et modifie la sensibilité“. Auch wenn die Satire die Lizenz für die Narration gibt, schimmert bei Manns Darstellung deutlich stärker als bei Fontane das textuelle Genießen des Unbürgerlichen durch. Der entscheidende erzähltechnische Unterschied zwischen Mann und Fontane besteht nämlich darin, dass der Gesprächvirtuose Fontane weitgehend auf den dramatischen Modus direkter Figurenrede setzt, um seine Nuancierungs- bzw. Digressionsverfahren zu realisieren, während die Extravaganzen bei Mann zumeist Sache des Erzählers bleiben, wie in der folgenden Charakteristik: Claire Pimbusch trug auf dem Gipfel ihrer kunstvollen Frisur einen großen Amethyst, und der violette Stein schrie grell inmitten ihres karminroten Haares. Die blauschwarzen Wölbungen der Augenbrauen bildeten zwei Wulste, in deren Mitte, über der Nasenwurzel, eine tiefe Einsenkung, umgeben von kleinen senkrechten Falten die Stirn durchquerte. Die Stirn sah aus wie zerquält von unzüchtigen Gedanken. Es lag über ihr ein künstlicher grüner Schimmer, wie über der schlecht aufgeklebten Stirnhaut einer Theaterperücke. Ein roter Kreis zog von den oberen Lidern bis an die Backenknochen um die grünlichen, verquollenen Augen. Das Gesicht schien aufgeblasen, ohne daß Fettpolster zu entdecken waren, und an seine rosige Farbe war schwer zu glauben, weil die lange scharfe Nase mit ihren weit offenen, gierigen Nüstern und das spitze Kinn kreideweiß, gleich der Maske eines Clowns, daraus hervorragten. Die blutroten Mundwinkel krümmten sich mit merkwürdiger Beweglichkeit. Die zu kurze Oberlippe legte die weißen, spitzigen Zähne frei, zwischen denen ein wenig Flüssigkeit glitzerte […].97

Der Zerlegung des Gesamteindrucks in unterschiedlichste Details korrespondieren Dissonanzen wie jene synästhetische Prosopopoiia: „der violette Stein schrie grell inmitten ihres karminroten Haares“. Akzente gelten ferner typisch dekadenten Aspekten wie Amoralität, Künstlichkeit, schwüler Sexualität, auch in vampiristischer Pointierung, wenn am Ende in Feinoder gar Feinstjustierung der textuellen Optik Claire Pimbuschs „blutrote[] Mundwinkel“, ihre „weißen, spitzigen Zähne“ und sogar die „Flüssigkeit“

97

Musil, Thomas Mann oder Rilke pflegt er nicht genannt zu werden“ (Renate Werner, „Heinrich Mann – Zu seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland“, in: Dies. (Hrsg.), Heinrich Mann. Texte zu seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland, Tübingen 1977, S. 1–51, hier S. 5). Heinrich Mann, Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten, mit einem Nachwort von Wilfried F. Schoeller und einem Materialienanhang, zusammengestellt von Peter-Paul Schneider, Frankfurt a.M. 1988, S. 107f.

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erwähnt werden, die dazwischen „glitzert[]“. Die Hautevolee und ihre Lebensumstände werden also mit satirischer Lust an der Entlarvung dargestellt, aber ebenso berauscht sich die ziselierte Textur an sich selbst: Die Hände auf dem Rücken, in der Haltung eines Kenners, musterte Andreas die Ausstattung des Zimmers. Wandhohe Spiegel, aus deren geschliffenem Glase Kandelaber sich reckten gleich kristallenen Armen, lagen eingelassen in den Tapeten aus bordeauxrotem Damast. Dazwischen warfen die erdbeerfarbenen Vorhänge der fünf Fenster ihre seidenen Falten. Den Erard-Flügel, in der Mitte des Parketts, bedeckte eine Stickerei von schillernden Sträußen auf pfauenblauem Grunde. Die tanzenden Figuren einer großen geschnitzten Elfenbeinschale neigten sich lächelnd über ihren mattgelben Widerschein in dem dunkeln Spiegel eines Ebenholztisches. Wenige Möbel, kleine vergoldete Sofas und Sessel, standen an den Enden des Gemaches und vor dem Kamin, dessen Sims den Nacken weißmarmorner Jünglinge drückte. Droben wölbten emaillierte Vasen, mit Messing eingelegt, ihre orientalischen Bäuche, und es hingen in zart getönten Rahmen zwei spanische Gemälde darüber: eine Kirchenszene, bei der weiße Schleier und schwarze Augen, Orangenblüten, Mosaiken, Meßgewänder und Myrtenkränze in Kerzenschein und Weihrauchwolken durcheinanderflirrten, und eine Gitarrespielerin von weitgehender Natürlichkeit; an ihrem netzartigen Kleide unterschied man jeden Faden.98

Der Effekt des Flirrens entspringt hier nicht etwa mangelnder, sondern übergenauer Präzision, wie die Textualitätsmetapher zeigt, mit der die Passage endet. Der Unterschied zwischen Manns und Fontanes Nuancierungen, so ließe sich zuspitzen, besteht darin, dass Fontane die Exuberanzen der Figurenrede, prototypisch beim Professor Schmidt, von der Erzählinstanz fernhält und als ebenso schrullig wie im Letzten dann doch humanitätsverbürgend ausstellt. Bei Mann hingegen fehlt nicht nur der Metacode der Humanität, was sein Verfahren vergleichweise zynischer macht,99 der Text lässt das Spiel der Überschreitung realistischer Frames gewissermaßen vom Erzähler selbst spielen und legitimiert dies auch nicht mehr durch eine Entschuldigung oder Erklärung. Ist Jenny Treibels gefühlige Kunstbeflissenheit zwar verlogen und kompensatorisch, so deutet sie doch ex negativo, auf ein, wenn auch verstelltes, idealistisches Humanum der Kunst. Weit weniger bleibt in Manns Parodie von der entsprechenden politischen Attitüde eines naturalistischen Dramas (kaum verhohlen Hauptmanns Weber), an dem sich nurmehr die Damen der Gesellschaft aufgeilen. Entsprechend braucht sich der Text keine Schranken mehr aufzuerlegen:

98 99

Mann, Im Schlaraffenland, S. 301f. Vgl. dazu Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 79.

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Aber die meisten der fleischigen Brünetten auf den Rängen preßten, weit vorgebeugt, mit nervösen Händen die schwer arbeitende Brust. Sie schlossen die Augen in der Hingebung des Genusses, und ihre leidenschaftlichen Nüstern öffneten sich weit und schwarz in den von matter, feuchter Blässe bedeckten Gesichtern. Sie sogen, halb betäubt, den faden Blutgeruch ein, der warm durch das Haus zu schwimmen schien. Als endlich das Zeichen zum Applaus gegeben wurde, hatte die Wut ihrer aufgepeitschten Instinkte sie bereits so entkräftet, daß sie kaum noch die Hände zu erheben vermochten. An Hälsen und Nacken perlten große Tropfen, der säuerliche Duft ihrer Transpiration vermischte sich mit den schwarzen Wohlgerüchen, die den erhitzten Kleiderstoffen und den Blumen entströmten. Hier und da tönte ein schrilles, gläsernes Auflachen mit dem Klirren der Brillanten zusammen.100

Details werden hier, wenn nicht freigesetzt, so doch viel offensiver betont als bei Fontane und mit der Einlässlichkeit auf den Brodem von Blut und Transpiration mit einiger Lust an die Ekelschwelle herangeführt. Die akustischen Phänomene werden nicht nur beschrieben, sondern auch lautlich simuliert (‚schrill‘, ‚klirren‘, ‚Brillanten‘). Vergleichbare Einlässlichkeit bedarf bei Fontane der Rechtfertigung durch den Erzähler und behält zudem die Tendenz, das ephemere Detail in die allgemeine Reflexion über humane Tugenden oder zumindest Verhaltensmaßregeln zu überführen, die selbst dann nicht vollends entwertet werden, wenn sie einer Jenny Treibel eignen: Frau Jenny präsentierte sich in vollem Glanz, und ihre Herkunft aus dem kleinen Laden in der Adlerstraße war in ihrer Erscheinung bis auf den letzten Rest getilgt. Alles wirkte reich und elegant; aber die Spitzen auf dem veilchenfarbenen Brokatkleide, so viel mußte gesagt werden, taten es nicht allein, auch nicht die kleinen Brillantohrringe, die bei jeder Bewegung hin und her blitzten; nein, was ihr mehr als alles andere eine gewisse Vornehmheit lieh, war die sichere Ruhe, womit sie zwischen den Gästen thronte.101

Die erzählerische Einlassung „so viel musste gesagt werden“ bewirkt also nicht nur eine Verstärkung des Gesagten, sie gehört auch einem Legitimationsdiskurs an, den Mann hinter sich gelassen hat, weil hierfür eine satirisch-entlarvende Darstellung Lizenz genug ist, die ihrerseits nicht mehr zu einem Metacode der Humanität gestreckt werden muss. Noch weiter geht dann, und dies wäre der Hallraum der langsamen Auflösung des realistischen Verfahrens in das souverän werdende textuelle Detail, die Prosa von Carl Einsteins Bebuquin, aus dem abschließend nur noch der motivisch vergleichbare Anfang zitiert sei:

100 101

Mann, Im Schlaraffenland, S. 140f. Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 24f. Hervorh. HD.

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Die Scherben eines gläsernen Lampions klirrten auf die Stimme eines Frauenzimmers. „Wollen Sie den Geist Ihrer Mutter sehen?“ Das haltlose Licht tropfte auf die zartmarkierte Glatze eines jungen Mannes, der ängstlich abbog, um allen Überlegungen über die Zusammensetzung seiner Person vorzubeugen.102

102

Carl Einstein, Bebuquin, Erich Kleinschmidt (Hrsg.), Stuttgart 1995, S. 3.

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Konrad A. Müller

Konrad A. Müller (Münster)

Probleme mit dem Selbstbewusstsein: Von Raabe zu Husserl

„Ob du ein Philosoph bist, weiß ich nicht; aber daß du ein kluger, guter, verständiger Mann bist, das weiß ich; und so, wenn wir jetzt, wohl auf Nimmerwiedersehen, voneinander scheiden, dann gehe heim zu deiner lieben Frau und deinen lieben Kindern und erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene Trotzendorff und Velten Andres, und wie sie frei von allem Erdeneigentum ein trübselig Ende nahmen. Schreib in recht nüchterner Prosa, wenn du es ihnen, der bessern Dauer wegen, zu Papier bringen willst, und laß sie es in deinem Nachlaß finden, in blauen Pappendeckeln, wie ich sie immer noch unter deines guten Vaters Arme sehe; und da er darauf schreiben würde: ‚Zu den Akten des Vogelsangs‘, so kannst du das ihm zu Ehren auch tun, ehe du sie in dein Hausarchiv schiebst – ein wenig abseits von deinen eigensten Familienpapieren.“ – – –1

Diese aspektreiche Aufforderung richtet Helene Trotzendorff am (nun leeren) Totenlager des kürzlich verstorbenen gemeinsamen Freundes Velten Andres an Karl Krumhardt, der sich nach seiner Heimkehr vom voraussichtlich letzten Zusammentreffen mit der Kindheitsfreundin an die Realisierung der Verschriftungsvariante machen wird: Davon hat Helene offensichtlich klare Vorstellungen, die den Zweck und Inhalt der Papiere betreffen, ihre Form, ihre Adressaten, den Ort der Hortung und den Zeitpunkt der möglichen Einsichtnahme. Entsprechen wird Karl dieser Maßgabe allerdings nur mit Einschränkungen: Nicht abseits von, nein, zu seinen eigensten Familienpapieren will Krumhardt sein Erinnerungsprotokoll niederlegen, über dessen Zweck er ein ums andere Mal und bereits gleich zu Beginn seiner Arbeit reflektiert und der sich immer wieder und immer mehr als am Erzähler/Protokollanten des Textes ausgerichtet erweist als an seinen von Helene intendierten Adressaten: „Wem zum Besten, wer mag das sagen? Jedenfalls mir [d. h. Karl, K.M.] zu eigenster Seelenerleichterung und aus tiefgefühltem Bedürfnis nach einem, nach etwas, das einen ruhig anhört, aussprechen läßt und nicht eher dazu redet, bis das Ganze vorliegt.“2 In analoger Weise berichten die Akten des Vogelsangs dann auch weniger von Helene und Velten als vielmehr von Andres in Relation zu Karl bzw. der von ihm repräsentierten 1

2

Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs, in: Sämtliche Werke, Bd. 19, Karl Hoppe (Hrsg.), Freiburg i.Br./Braunschweig 1957, S. 211–408, hier S. 403f. Ebd., S. 218.

Probleme mit dem Selbstbewusstsein: Von Raabe zu Husserl

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bürgerlichen Welt. Im Hinblick auf die Textform und Schreibweise aber zeigt sich Krumhardt nachhaltig bemüht, Helenes Vorgabe umzusetzen. Und wie sollte es auch anders sein?

I. In Hegels Vorlesungen über Ästhetik wird die „feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats“, deren adäquater Vertreter Karl als Jurist, höherer Beamter, Ehemann und Familienvater in der Tat ist, als „Prosa der Wirklichkeit“ bezeichnet, welche „den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens“ der romantischen „neuen Ritter“3 mit äußerster Sprödigkeit entgegensteht. Dieser prosaischen Realität korrespondiert ein ebensolches Bewusstsein, das den Gegensatz zum poetischen darstellt4 und das „den breiten Stoff der Wirklichkeit nach dem verständigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel und sonstigen Kategorien des beschränkten Denkens“5 betrachtet. Für diese eigentümliche (und im Hinblick auf Andres’ Sphäre unzureichende) Erkenntnisweise der bürgerlichen Welt steht in Raabes spätem Roman der Ausdruck Begriff bzw. dessen Verbalform. Gleich recht am Beginn seines Aktenprotokolls beschreibt Krumhardt das nachbarschaftliche und amtliche Verhältnis von Veltens verwitweter Mutter Amalie und seinen Eltern: seiner Mutter, die ihrem Ehemann „die beste der Gattinnen [war], wenn das letztere vom vollständigen Aufgehen in den Ansichten, Meinungen, Worten und Werken des Gatten abhängig ist“,6 und seinem Vater, als dessen anerkannter Erbe und Fortführer er fungiert – und unter dessen Zeichen er immerfort an seinen Privatakten arbeitet.7 Zwischen meiner Wiege und ihrem Sarge aber haben so viele gute, liebe, lange Jahre des Zusammenlebens und Verkehrs von Haus zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zueinandergehörten, obgleich mein Vater – ihr Familienfreund war, sie

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, in: Werke, Bd. 14, Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1970, S. 219. Vgl. zum Poesie-Prosa-Antagonismus auch den Beitrag von Torsten W. Leine in diesem Sammelband. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik III, in: Werke, Bd. 15, Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1970, S. 242. Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 218. „Das Bild meines seligen Vaters aber, mit dem zu dem Landesorden hinzugestifteten Verdienstkreuz Erster Klasse auf der Brust, habe ich in Lebensgröße (nach seinem Tode nach einer guten Photographie gefertigt) über meinem Schreibtische hängen und hole mir auch von ihm heute noch Aufklärung und Rat, und nicht bloß in meinen Geschäften, sondern im Leben überhaupt.“ (ebd., S. 217).

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nur selten „begriff“, sie recht häufig sehr ängstete und dann und wann noch viel mehr ärgerte und obgleich meine Mutter in allem diesem der Ansicht und Meinung meines Vaters war und „Amalien“ fast noch weniger „begriff“ als er.8

In polemischer Abgrenzung9 zu Hegel, für den der Begriff bzw. das Denken das eigentliche Wesen der Welt ausmacht und dessen Zu-sich-selbst-gekommen-Sein das Ziel einer (umfassenden) Teleologie darstellt, spricht Schopenhauer, dessen Philosophie Raabe im Übrigen wohlbekannt war, dem Begriff einen ganz anderen, nämlich nachgeordneten, ontologischen Status zu. An verschiedenen Stellen der Welt als Wille und Vorstellung wird über Begriffe reflektiert, insbesondere aber in der ersten Betrachtung: Die Vorstellung unterworfen dem Satze vom Grunde: das Objekt der Erfahrung und Wissenschaft. Schopenhauer bestimmt sie dem formalen Aufbau seines Hauptwerks entsprechend als zur Sphäre der Vorstellung gehörig – sie geben uns niemals das eigentliche Wesen der Welt, das Ding an sich, das er Wille nennt und über das uns unser Leib analog (und weitgehend) Auskunft gibt, wenn wir diesen nicht als Objekt unter Objekten, als Objekt für ein Erkenntnissubjekt verstandesmäßig betrachten, sondern ihn von innen heraus fühlen, spüren, uns seinen Affekten und Regungen unmittelbar überlassen. Demgegenüber in mehreren Abstufungen vermittelt erscheint die Welt als Vorstellung. Dass etwas Objekt für ein Subjekt ist, dass also überhaupt eine Trennung von Objekt und Subjekt stattfindet, ein Abstand hergestellt wird, ist dabei die allgemeinste Kategorie der Vorstellung.10 Die Repräsentation allein unter dieser Kategorie der Vorstellung an sich ist die dem Ding an sich nächste und ihm adäquate Objektivation, und Schopenhauer nennt sie die Platonische Idee, welche das Objekt der Kunst bildet (nur nicht der Musik, die den Willen direkt darstellt – und deswegen in dieser Hinsicht eigentlich schwerlich als Kunst bezeichnet wer8 9

10

Ebd., S. 221. „Der von Schelling dem Spinoza entnommene, ungenaue Ausdruck [Denken und Seyn, K.M.] gab nun später dem geist- und geschmacklosen Scharlatan Hegel […] Anlaß, die Sache dahin zu verdrehn, daß das Denken selbst und im eigentlichen Sinn, also die Begriffe, identisch seyn sollten mit dem Wesen an sich der Dinge: also das in abstracto Gedachte als solches und unmittelbar sollte Eins seyn mit dem objektiv Vorhandenen an sich selbst, und demgemäß sollte denn auch die Logik zugleich die wahre Metaphysik seyn: demnach brauchten wir nur zu denken, oder die Begriffe walten zu lassen, um zu wissen, wie die Welt da draußen absolut beschaffen sei.“ (Arthur Schopenhauer, Skizze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Arthur Hübscher (Hrsg.), Mannheim 41988, S. 1–32, hier S. 30). Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I und II, München 32005, S. 240. Das Wort Vor-Stellen macht diesen Gedanken deutlich, noch eher vielleicht dessen englische Entsprechung Re-presentation.

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den kann). Sie also bringt uns der geniale Künstler in seinen Werken zur Darstellung; die Kontemplation von Ideen stellt allerdings eine absolute Ausnahmesituation dar und kann nur eintreten, wenn sich die vorstellende Erkenntnis „vom Dienste des Willens losreißt“.11 Normalerweise aber – und darin ganz im Dienste des Willens zum Leben befangen – erscheint uns die Welt als Mannigfaltigkeit von einzelnen Dingen, an denen wir als individuelle Subjekte interessiert sind. Dafür zeichnet das Principium Individuationis, Raum und Zeit, verantwortlich sowie Kausalität. Wie Kant bestimmt auch Schopenhauer sie als Transzendentalien, die als Strukturen des Bewusstseins jeder konkreten Erfahrung apriorisch zugrunde liegen. Derart besteht für und durch alle mit Verstand begabten Wesen die Welt als Vorstellung als wirkliche anschauliche und vielfältige Welt – als anschauliche Wirklichkeit, die in größerem Abstand zum Ding an sich steht als die Ideen. Doch bleibt die zunehmende Vermitteltheit des Dings an sich hier noch nicht stehen: Einen letzten Schritt stellen die (gegenüber den anschaulichen) abstrakten Vorstellungen dar, und eben diese werden als Begriffe bezeichnet. Obgleich nun also die Begriffe von den anschaulichen Vorstellungen von Grund aus verschieden sind, so stehen sie doch in einer nothwendigen Beziehung zu diesen, ohne welche sie nichts wären, welche Beziehung folglich ihr ganzes Wesen und Daseyn ausmacht. Die Reflexion ist nothwendig Nachbildung, Wiederholung, der urbildlichen anschaulichen Welt, wiewohl Nachbildung ganz eigener Art, in einem völlig heterogenen Stoff. Deshalb sind die Begriffe ganz passend Vorstellungen von Vorstellungen zu nennen.12

Sie erst sind ein Werk der Vernunft und ermöglichen, die bloße Verstandeserkenntnis in langen „Schlußketten in abstracto“ zu „fixiren, d. h. sie deutlich zu machen, d. h. sich in den Stand zu setzen, sie Anderen zu deuten, zu bedeuten“.13 Dass im Prozess der zunehmenden Abstraktion von der individuellen Anschauung auch etwas verlorengeht, betont Friedrich Nietzsche in

11 12 13

Ebd., S. 243. Ebd., S. 77. Ebd., S. 54. Entsprechend ist für Schopenhauer die Wortsprache (als Korrelat der Vernunft bzw. des Begriffs) allgemein auf dieser Vermittlungsebene anzusiedeln: „Hieraus allein ist es erklärlich, daß nie ein Tier sprechen und vernehmen kann, obgleich es die Werkzeuge der Sprache und auch die anschaulichen Vorstellungen mit uns gemein hat: aber eben weil die Worte jene ganz eigenthümliche Klasse von Vorstellungen bezeichnen, deren subjektives Korrelat die Vernunft ist, sind sie für das Tier ohne Sinn und Bedeutung. So ist die Sprache, wie jede andere Erscheinung, die wir der Vernunft zuschreiben, und wie Alles, was den Menschen vom Thiere unterscheidet, durch dieses Eine und Einfache als seine Quelle zu erklären: die Begriffe“ (ebd., S. 76f).

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seiner sprachkritischen Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne14: [J]edes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.15

Begreifen entfremdet vom individuellen Anschauen; Begriffe fixieren Anschauungen, stellen sie sozusagen fest, und garantieren so eine sanktionierbare „Wahrheit“ und damit letztlich eine geordnete Welt bzw. Gesellschaft: Der Mensch leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden, er verallgemeinert alle diese Eindrücke erst zu entfärbteren, kühleren Begriffen, um an sie das Fahrzeug seines Lebens und Handelns anzuknüpfen. Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische. Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihres Gleichen ist und deshalb allem Rubriciren immer zu entfliehen weiss, zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und athmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist. […] Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt.16

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In seinem sprachkritischen Ansatz unterscheidet sich Nietzsche von Schopenhauer. Die zunehmende und nachgeordnete Vermitteltheit von Begriffen gegenüber unmittelbareren Repräsentationen wird aber von beiden konstatiert und von Nietzsche ganz besonders betont. Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), 3. Abt., 2. Bd., Berlin/New York 1973, S. 367–384, hier S. 373f. Ebd., S. 375–376.

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II. Dass Karl Krumhardt es „nach bürgerlichen Begriffen […] zu einer soliden Existenz in der schwankenden Erdenwelt gebracht hat“17 – quasi zu einer soliden Existenz auf Nietzsches „beweglichen Fundamenten“ –, ist vor diesem Hintergrund ebenso wenig verwunderlich wie die Tatsache, dass Velten Andres aus der Perspektive dieser begriffsmäßigen und „auf bürgerlichem Ordnungssinn gegründeten Erdenwelt“18 als Bedrohung wahrgenommen und immer wieder regelrecht beschworen wird – hat der unangepasste und letztlich lebensverneinende19 Sonderling doch durch seine Lebensgewohnheit „oft den ganzen Seelenhausrat des soliden Erdenbürgers verschoben, daß kein Ding anscheinend mehr an der rechten Stelle stand“.20 Insbeson17 18 19

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Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 226. Ebd., S. 222. Vgl. etwa die Worte der Fechtmeisterin Feucht an Karl Krumhardt mit der berühmten Schlusspassage von Schopenhauers Hauptwerk: „Sehen Sie, Herr Oberregierungsrat, an meinem armen Velten habe ich erst als Neunzigjährige gelernt, daß es eine Dummheit ist, wenn man sagt: der Mensch braucht nur zu wollen. Dieser wilde Mensch konnte nicht mehr wollen“ (ebd., S. 396). Und: „Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.“ (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 528). In derselben Hinsicht korrespondieren die Akten des Vogelsangs auch Nietzsches frühem und noch nachhaltig von Schopenhauer beeinflusstem Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik; z. B., wenn Karls Frau ihrer Befürchtung des schädlichen Einflusses Veltens auf den Erstgeborenen der Familie Krumhardt Ausdruck verleiht: „So ein armes, herziges Geschöpfchen […] einen Ausbund von einem Esel, einen Narren zu nennen, der auch besser getan hätte, zu bleiben, wo er war, das schickt sich nicht“ (Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 360). Und: „Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: ‚Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.‘“ (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Oder: Griechenthum und Pessimismus, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), 3. Abt., 1. Bd., Berlin/New York 1972, S. 1–152, hier S. 31). Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 358.

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dere auf Krumhardt als den Repräsentanten der oben genannten stabilen Ordnung par excellence übt der Andere eine ebenso faszinierende wie diabolische Wirkung aus: „gespenstisch wie damals“21 ist Velten nach seinem Tode präsent und begleitet Karls Arbeit am Erinnerungsprotokoll, will „sein Hausrecht fester denn je halten: ich [=Karl] aber kann nicht länger mit ihm allein unter einem Dache wohnen. So schreibe ich weiter“.22 Offensichtlich fungiert das Schreiben für den Erzähler Karl als Therapeutikum, welches ihm „zu eigenster Seelenerleichterung“23 eine Befreiung von der prekären Präsenz, eine geregelte und sozusagen aktenmäßige Entfremdung vom andersartigen „Freund“ gewähren soll.24 Es liegt nahe, die Akten des Vogelsangs in dieser Hinsicht als Inszenierung eines realistischen Erzählverfahrens zu betrachten, wie es Claus-Michael Ort in seiner Studie Zeichen und Zeit beschrieben hat: Metaphorische25 und mit unmittelbarer Repräsentation26 verbundene Elemente werden in realistischen Texten als bedrohlich markiert und durch vermittelnde Metonymisierung, durch eine Überführung in kontige Zeichen 21 22 23 24

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26

Ebd., S. 344. Ebd., S. 358. Ebd., S. 218. Vgl. Sigrid Thielking, „Sonderbare Aktenstücke. Inszenierte Verschriftlichung bei Wilhelm Raabe“, in: Zeitschrift für Germanistik, 12/2000/H. 1, S. 25–35, hier S. 31. Die mit Velten verbundenen Gefahren der Verschiebung des Seelenhausrats des soliden Erdenbürgers (s. o.) und seiner ewigen Unberechenbarkeit (vgl. Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 266) lassen sich im Hinblick auf Metaphorizität wieder mit Nietzsches Schrift Über Wahrheit und Lüge zusammenlesen: „Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen […] ist dadurch, dass aus seinen […] Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich [sic!] seines Wirkens […] und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Fortwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch dass er neue Uebertragungen […] hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmässig folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist.“ (Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge, S. 381). Insbesondere denkt Ort an Visualitätsphänomene (vgl. Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998, S. 215). Im Rückblick auf den Todestag von Veltens Mutter erinnert sich Karl an Veltens hypnotischen Blick (vgl. dazu Thielking, „Sonderbare Aktenstücke“, S. 31): „Nun wendete er sich von der lebendigen […] Vorstadtgasse ab und gegen sein Elternhaus, sagte jedoch weiter nichts: ich aber habe oft, oft an seinen Blick und die begleitende Bewegung mit der lahmen Linken damals denken müssen, und jedesmal waren dann meine vier sicheren Wände drohend, beängstigend auf mich eingerückt, es war mir bänglich und asthmatisch zumute geworden“ (Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 365f.).

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(insbesondere durch schriftliche kontextualisierende Einordnung)27 und/ oder durch eine vorgängige metonymische Rahmung, entschärft. In der Tat erweist sich die Form des aktenmäßigen Erinnerns in dieser Hinsicht als metonymische und im obigen Sinne begriffsmäßige Strategie, das metaphorische Andere zu bannen: [D]er eigentliche Fixierungsvorgang des Aufschreibens und Aktenbündelns vollzieht die Sinnstiftung von bislang losen und kontingenten Erinnerungsfetzen, denen das Nacheinander der Verschriftlichung zu einer definitiven Abfolge und wiederverfügbaren Festschreibung, einer gleichsam zementierten Existenz durch Aktenevidenz verhilft.28

Indem Krumhardt, der Vorgabe Helenes folgend, in „recht nüchterner Prosa“ schreibt und seine ureigensten Qualitäten ausspielt, gelingt es ihm letztlich und nach Durcharbeitung besonders krisenhafter Momente (insbesondere Veltens Vernichtungsorgie und seines besitz- und willenlosen Sterbens), seine bürgerliche Identität und Welt zu retten und den Anderen als erledigten Fall „in blauen Pappendeckeln“29 ad acta zu legen: Als nicht mehr unbeschriebenes Blatt führt Krumhardt seine ungewöhnlichen Manualakten einer ordnungsgemäßen Verwahrung im eigenen Hausarchiv zu, als potentielles Auskunftsmaterial für Spätere. Das Finale des Aktenschlusses – im juristischen Fachjargon der Abschluss des Beweisverfahrens und eben auch Krumhardts tatsächliches Finis – markiert bezeichnenderweise ein österlich „lichtgrüner, schöner Frühlingstag“ (BA 19, S. 408) [= Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 408; K.M.], und allenfalls im verschimmelnden Hausarchiv schlummert noch der alte Dämon. Die Option einer Fortschreibung der Akten bleibt in Krumhardts abschließenden Erwägungen nachdrücklich ausgeschlossen30.

Und doch ist eine ganz andere Lesart des Romans möglich. Nicht allein Velten wird in der diegetischen Welt als Gefahr wahrgenommen, sondern auch die Akten in einem ganz materiellen Sinne und insbesondere für den Erzähler/Protokollanten selbst: Die „ewig von neuem sich aufhäufenden“31 „Aktenhaufen […] werden unruhig und unruhiger um mich her in ihren Fächern an den Wänden und machen mehr und mehr Miene, auf mich einzustürzen. Ich kann nichts dagegen: zum erstenmal will an diesem Schreib-

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28 29 30 31

„[I]ch kann es eben nicht genug wiederholen, daß das meiste aus dieser Vergangenheit mir selber erst klar und deutlich wird und einen logischen Zusammenhang gewinnt, wie ich diese Blätter beschreibe und – paginiere.“ (ebd., S. 292). Thielking, „Sonderbare Aktenstücke“, S. 28. Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 404. Thielking, „Sonderbare Aktenstücke“, S. 32. Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 345.

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tisch, jawohl an diesem Schreibtisch, die Feder in meiner Hand nicht so wie ich“.32 Nun legt der Erzähler nahe, dass seine Protokolle/Papiere gewissermaßen von der von Andres ausgehenden Bedrohung affiziert werden, fährt er doch in der eben zitierten Passage mit den Worten fort: „und Velten Andres ist wieder Schuld daran.“ Ganz auf der Linie der oben vorgestellten Deutung kann man insofern behaupten, dass auch dieses Problem notwendig mit Velten korreliert ist und mittels einer Rückbesinnung auf das metonymische Schreiben und seiner geregelten Durchführung durch Karl letztlich bewältigt werden kann – zumal sein Vater quasi als Schutzheiliger des Begriffs im Arbeitszimmer immer gegenwärtig ist.33 Doch müssen im Hinblick auf diese Interpretation die folgenden Worte stutzig machen: „‚Hast du heute wieder mal kein Stündchen Zeit für uns übrig gehabt, armes Männchen? Großer Gott, diese Berge von Akten! Was haben wir denn eigentlich noch von dir?‘“34 Karls scharfsinnige Frau Anna richtet sie an ihren Gatten, bevor dieser mit seiner Arbeit an den Vogelsangakten begonnen hat und bevor sie selbst über Helenes Brief an Karl in Kenntnis gesetzt worden ist: Offensichtlich sieht Anna das Gefahrenpotential von Karls Akten-Arbeit auch unabhängig von Velten Andres gegeben. Zudem ist es vielleicht plausibel, dass Veltens Präsenz für die oben erwähnte Schreibhemmung oder anders geartete Schreibproblematik verantwortlich gemacht werden kann – ist Karls Verschriftungsprojekt doch Andres’ metaphorischer Sphäre und den damit verbundenen unmittelbaren Repräsentationsformen entgegengesetzt. Doch gerade in diesem Sinne wäre es nur schwer zu verstehen, inwiefern die sich immer wieder von Neuem häufenden – also doch wohl durch Schreibarbeit entstehenden – Aktenberge auf Veltens Konto gehen sollen. Eine alternative Erklärung dieser endlosen Dokumentwucherung kann im Anschluss an einen Gedanken Frauke Berndts formuliert werden. Sie beobachtet in ihrer Studie Anamnesis, dass Raabes Text „dem Akt der Niederschrift dadurch ein besonderes Gewicht bei[mißt], daß seine Zeitlichkeit

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Ebd., S. 270. Sigrid Thielking beschreibt diese Passage treffend mit dem Ausdruck einer „surrealistischen Überwältigungsphantasie“ (Thielking, „Sonderbare Aktenstücke“, S. 29). Zwar wird Krumhardts Vater durch sein Portrait visuell repräsentiert (und somit im obigen Sinne unmittelbarer als die mit ihm verbundene Sphäre des Begriffs): Doch ist das Bild in diesem konkreten Fall bereits Ergebnis einer mehrfachen Vermittlung, hat es Karl doch nach seines Vaters „Tode nach einer guten Photographie“ (Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 217) fertigen lassen. Ebd., S. 215.

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exponiert wird“.35 Das Erinnern selbst, das mit dem metonymisch verfahrenden aktenmäßigen „Niederschreiben der Erinnerung als deckungsgleich gesetzt“36 wird, wird prozessualisiert. Das aber zeitigt eine prekäre Konsequenz (und Berndt erläutert diese anhand des Achilles-Schildkröten-Paradoxes des Zenon): Karl Krumhardt (Schildkröte) wird […] nie von seinen Erinnerungen (Achilles) eingeholt werden. Die durch Bindestriche markierte Zäsur, „– – – – – – – – – – – –“, auf der letzten Seite spart […] die potentiellen Stufen oder Abschnitte des Erinnerungsprotokolls aus, in denen sich die erzählte Zeit, die Erzählzeit und der Abstand zwischen beiden Handlungsebenen zueinander verringert. Karl Krumhardt knüpft nach dieser Zäsur mit jenem [hier bereits oben zitierten, K.M.] „lichtgrüne[n], schöne[n] Frühlingstag“ erinnernd an den Punkt an, an dem die beiden Handlungsebenen auf einen Punkt zulaufen. Gemeint ist der Punkt, „an welchem“ er „dieses zu Papiere bring[t]“ und sein Erinnerungsprotokoll mit der Erinnerung an sein Erinnern beendet. Wenn die Akten des Vogelsangs dann zu einem Ende geführt werden, so lediglich in einer formalen Pointe. Karl Krumhardt markiert den Punkt, an dem sich die beiden Zeitvektoren scheinbar überschneiden, im Schlußsatz mit Pauken und Trompeten: „aber ich schließe die Akten des Vogelsangs“ und einem Punkt – „.“. Der Logik des narrativen Arrangements folgend, ist diese Überschneidung von erinnerter Handlung und Erinnerungshandlung aber ausgeschlossen – Achilles kann die Schildkröte nicht überholen. Er kann sich ihr nur bis auf einen unendlich kleinen Abstand annähern. Innerhalb dieser Struktur bleibt daher die Option offen, das Erinnern ad infinitum fortzuführen. Deswegen kann der Protokollant im gleichen Atemzug, mit dem er das Ende seines Erinnerungsprotokolls in Aussicht stellt, im Konjunktiv einschränken, er „könnte auf dem Blatte den spätesten Nachkommen noch einmal mit hinaufnehmen auf die Bank im Sonnenschein von heute auf dem Osterberge“ [Hervorh. F. B.]37.

Dass Karl die Akten schließt, heißt somit gerade nicht, dass es nichts mehr zu schreiben gäbe. Im Gegenteil könnte er ins Unermessliche weitererzählen. Das eingangs erwähnte Bedürfnis Karls nach „etwas, das einen ruhig […] aussprechen läßt und nicht eher dazu redet, bis das Ganze vorliegt“,38 werden die Akten gerade nicht erfüllen. Sie türmen sich ewig aufs Neue auf, und Krumhardt wird auf seinem realistisch-begriffsmäßig-metonymischen Weg niemals bei sich selbst im Jetzt ankommen. Als Therapeutikum („zu 35

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Frauke Berndt, Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz – Keller – Raabe), Tübingen 1999, S. 343. Jan-Oliver Decker, „Erinnern und Erzählen. Konservieren, Transformieren und Simulieren von Realität in männlichen Erinnerungen im Realismus“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 46/2005, S. 104–130, hier S. 127. Berndt, Anamnesis, S. 345f. Das Raabe-Zitat findet sich in Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 408. Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 218.

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eigenster Seelenerleichterung“) und Bollwerk gegen den Anderen und als Garant der eigenen bürgerlichen Identität intendiert, entpuppt sich in dieser Perspektive gerade das Erinnern selbst als Gefahr für den Erinnernden: Das begriffsmäßige Schreiben in Raabes Roman baut lebensbedrohende „Berge von Akten“, die seinen Erzähler zu erschlagen drohen und als Zeichen für die metonymische Entfremdung von seiner Welt und sich selbst fungieren. „Was bis jetzt das Nüchternste war, wird jetzt zum Gespenstischsten.“39 Was aus diesem Blickwinkel betrachtet Karls Existenz rettet und der österlichen Symbolik des Schlusses entspricht, ist nicht die gelungene Entfremdung von Velten, sondern die Entsagung vom Schreiben.40 Gleich dem Wittgenstein’schen Hasen-Enten-Kopf bieten Die Akten des Vogelsangs zwei einander ausschließende Interpretationen an: Sie lassen sich lesen als eine geradezu paradigmatische Bevorzugung des Metonymischen oder als die Inszenierung der Fatalität der Bevorzugung desselben. Je nachdem, ob man Mittelbarkeit als Lösung oder als Problem auffasst, wird man im folgenden (z. T. schon zitierten) Abschnitt der Akten den Hasen oder die Ente sehen. „Was hältst du so den Kopf mit beiden Händen?“ fragte mich recht spät am Abend meine Frau, nachdem die Kinder längst gekommen waren, um mir eine gute Nacht zu wünschen. „Hast du heute wieder mal kein Stündchen Zeit für uns übrig gehabt, armes Männchen? Großer Gott, diese Berge von Akten! Was haben wir denn eigentlich noch von dir?“ Sie lehnte sich bei diesen Worten über meine Stuhllehne und legte mir ihre kühle Hand auf die Stirn. „Die bösen Akten sind es diesmal nicht, mein armes Weibchen. Es ist etwas viel Grimmigeres. Was erschrickst du denn? Dich und deine Kinder geht es nur recht mittelbar was an.“41

39 40

41

Ebd., S. 270. Vgl. dazu auch die Äußerungen Karls zur Krankheit seines Sohnes im Anschluss an die Schilderung von Veltens Zerstörungsakt: „Ich habe eine längere Pause in der Abfassung oder Niederschrift dieser Annalen und Historien des alten Vogelsangs machen müssen. Als ich das letzte Blatt zu den Akten brachte, schneite es noch […]. Wir hatten viel Sorge im Hause. Wir fürchteten, unsern ältesten Sohn, den seinerzeit Velten nicht aus der Taufe hatte heben wollen, am Typhus zu verlieren; aber der Junge ist uns erhalten geblieben und munter wieder auf den Beinen, und ich habe die Feder zum Besten seines Hausarchivs von neuem aufgenommen.“ (Raabe, Akten des Vogelsangs, S. 384f.). Im obigen Sinne ließe sich behaupten, dass der Text durch sein Verfahren suggeriert: Karls Sohn gesundet, geht nicht verloren, weil Krumhardt sein Schreiben unterbricht. Und nicht: Karl unterbricht sein Schreiben, weil der Sohn erkrankt ist. Ebd., S. 215.

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III. Wilhelm Raabes letztes literarisches Werk Altershausen, das zwischen 1899 und 1902 entsteht, aber erst 1911 posthum veröffentlicht wird, fokussiert ausdrücklich jenen Begriff, mit welchem wir – insbesondere im Hinblick auf ihren Erzähler – nun auch das zentrale und in verschiedenen Hinsichten inszenierte Problem der Akten des Vogelsangs bezeichnen können: Selbstbewusstsein. „‚Liebster Freund, haben Sie auch einmal nackt vor dem furchtbaren Geheimnis des Selbstbewußtseins gestanden? Und wenn – wie verhielten Sie sich ihm gegenüber?‘“42 Worin aber mag für Altershausen das furchtbare Geheimnis eigentlich bestehen, und wie verhält sich der Text selbst dazu? Von seinen beruflichen Verpflichtungen entbunden, beschließt der weltberühmte Psychiater Friedrich Feyerabend im Anschluss an die mit allen erdenklichen Ehrenbezeichnungen versehene Feier seines 70. Geburtstages, nach langer Zeit wieder einmal spazieren zu gehen – muss dabei aber bitter empfinden, dass nichts mehr so ist, wie es war: Seine Frau und sein Kind, mit denen er einst bei schönem Wetter promenierte, sind seit über 30 Jahren verstorben, und seine Umgebung hat sich insgesamt seit damals sehr verändert. Eine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, ein „Heimweh nach der Jugend“43 bemächtigt sich seiner und wird von sinnlichen44 assoziativen Erinnerungen an den Ort seiner Kindheit, Altershausen, und insbesondere an seinen damals besten Freund Ludchen Bock begleitet bzw. gespeist. Dessen Bild war ihm während der oben erwähnten Geburtstagsfeier nach vielen Jahren der Vergessenheit wieder vor Augen getreten. Folgendermaßen: Selbstverständlich trug das siebenzigjährige Geburtstagskind alle seine Orden. […] Und Exzellenz, der Kultusminister, hielten die Rede, die Tischrede auf den berühmten Mitbürger und sein segenreiches Erdenwallen und -wirken – so eine Rede, während welcher der Beredete nicht weiß, ob er sich aus Schämigkeit und Bescheidenheit unter der Tafeldecke verkriechen oder mit dem belorbeerten, mehr oder weniger kahlen Schädel, seines Selbstbewußtseins schon von selber voll genug, die Saaldecke durchstoßen muß. Und während dieser Rede, in einer Kunstpause dieser Rede, als alle Augen auf den Gefeierten gerichtet waren, als die Festmusik oben im Jubelbratendunst jedwedes Blasinstrument zum Tusch schon gegen den Mund hob und die Paukenschlegel zum letzten höchsten Losdonnern 42

43 44

Wilhelm Raabe, Altershausen, in: Sämtliche Werke, Bd. 20, Karl Hoppe (Hrsg.), Göttingen 1968, S. 203–312, hier S. 240. Raabe, Altershausen, S. 217. Z. B.: „Wie es dem Alten am Fenster aufklang, alles, was die Leute von Altershausen von seinem jungen Vater sagten“. (ebd., S. 225); „Wie der alte Herr das Harz an den Händen fühlte und wie er den Duft des Weihnachtsbaums in der Julisonne in der Nase hatte!“ (ebd., S. 223).

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fester in die Fäuste faßte, ist es gewesen, daß Ludchen Bock plötzlich wieder neben Fritz Feyerabend auf der Schulbank vorm alten Rektor Schuster saß, heimtückisch grinsend und zähnfletschend an seiner Schulter schnüffelte und, als ob er dem Rektor zeigen wolle, daß er aus seiner Jacke herausgewachsen und der Ärmel, vom letzten Kampf her, dazu ein Loch am Ellbogen habe, den Zeigefinger „petzend“ zum Lehrstuhl aufreckte: „Herr Rektor, Feyerabend ist unrein!“45

Feyerabend erscheint in dieser unwillkürlichen und unmittelbaren Erinnerung nicht allein der Kindheitskamerad, sondern „alles […], was damals zu ihm gehörte – die Welt von vor zwei Menschenaltern, ganz Altershausen“.46 Und da das im eben zitierten Abschnitt erstmals ausdrücklich erwähnte Selbstbewusstsein des berühmten Mitbürgers in der auf den Festakt folgenden Zeit dadurch angeschlagen ist, dass Fritz an seinem derzeitigen Wohnort, wie angedeutet, willkürlich keine Verbindung zu seinem früheren Leben mehr herzustellen vermag, trifft er die Entscheidung, eben jenen Ludchen Bock in Altershausen aufzusuchen und „dort […] das Spazierengehen wieder zu erlernen“,47 welche Tätigkeit offenkundig als Sinnbild für alle seine früheren Lebensabschnitte fungiert – insbesondere natürlich auch für die Zeit seines jungen und kurzen Familienglücks, in der Frau und Kind noch „dabei“ waren, die er aber „in der Erscheinungswelt“48 nicht mehr aufsuchen können wird.49 Das am Ende der Exposition emphatisch genannte „Ich“ Feyerabends, „der Schreiber dieser Blätter“,50 berichtet, anders als in den Akten des Vogelsangs, über seine „letzte Reise“51 von sich selbst in der dritten Person (wie auch schon über die Ereignisse der bereits wiedergegebenen Passagen).52 Und ebenfalls anders als in den Akten wird die Eingangssituation des Ich auch nicht annähernd wieder aufgenommen. Der fragmentarische Charakter des 45 46 47 48 49

50 51 52

Ebd., S. 219f. Ebd., S. 223. Ebd. Ebd., S. 222. Der Grund für Feyerabends zunächst vergebliche willentliche Suche nach seiner verlorenen Zeit dürfte also weniger in seiner pensionsbedingten Freizeit bestehen und der Gefahr, sich dabei zu „‚versitzen‘“ (ebd., S. 209), sondern eher im unmittelbaren und ungeplanten Erscheinen Ludchens als Repräsentant dieser anderen Zeit Fritzens. Ebd., S. 204. Ebd., S. 227. Der komplexen Struktur von Altershausen können diese kurzen Überlegungen, die an die Beobachtungen zu den Akten des Vogelsangs anschließen, nicht gerecht werden. Wie kompliziert die Frage nach Erzähler(n) und Stimme(n) in Altershausen ist, zeigt Heinrich Detering, Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes, Göttingen 1990 (besonders S. 245–258).

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Werks ist immer wieder zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen gemacht worden,53 muss nun allerdings keineswegs zwangsläufig als ein Mangel des Textes oder seines Autors aufgefasst werden, sondern entspricht vielmehr dem Reflexionsniveau des Romans, in dem die Gefahr eines metonymisch verfahrenden Erinnerns für das Selbstbewusstsein, welche in den Akten als eine mögliche Lesart suggeriert und inszeniert wird, explizit zum Ausdruck gebracht wird: „[W]as das Erzählen von sich selber anbetrifft, nun, wenn da mal einer erst angefangen hat, so ist gewöhnlich auf dieser Erde das Aufhören recht schwer“.54 Dementsprechend finden sich in Altershausen keine Dokumentberge, die für eine durch kontiges Erinnern bewirkte Selbstentfremdung des realistischen Erzählers stehen, denn ein solches metonymisches „Erzählen wird [hier] erzählt, aber nicht mehr realisiert“.55 Christoph Zeller schreibt dazu treffend: Der Versuch, Identität im Erzählvorgang herzustellen („Fritze erzählte ihr [d. h. Minchen; K.M.] und – sich selber mit!“ BA 20, 280 [= Raabe, Altershausen, S. 280; K.M.]), wäre ein utopisches, nie abzuschließendes Projekt, das im offenen Ende des Textes angedeutet ist. Das Aufnehmen des „Strickstrumpfes“ signalisiert die erzählerische Uneinholbarkeit des „Selbstbewußtseins“56.

Und doch endet Altershausen im Angesicht dieser und im Wissen um diese Problematik nicht schon früh im Schweigen,57 sondern inszeniert auf vielen Seiten die oben angekündigte Erinnerungsfahrt Feyerabends in die gleichnamige Stadt. Das, unserem Befund entsprechend nicht ganz lückenlose,58 Manuskript der Reise ist selbst innerhalb des späten Realismus, der vermehrt 53 54 55 56

57

58

Vgl. z. B. den entsprechenden Hinweis in Ort, Zeichen und Zeit, S. 229, Fußnote 21. Raabe, Altershausen, S. 279. Ort, Zeichen und Zeit, S. 229. Christoph Zeller, Allegorien des Erzählens. Wilhelm Raabes Jean-Paul-Lektüre, Stuttgart 1999, S. 321. Die in der Handschrift erhaltenen und von Raabe (nicht ganz) unkenntlich gemachten, von Meinerts rekonstruierten ursprünglichen Schlussworte können im Hinblick auf Fritzens und Ludchens Reaktion vielleicht als Ausdruck dieser Gefahr (oder Rettung) des Verstummens gelesen werden: „Minchen nahm den Strickstrumpf wieder auf“ (Raabe, Altershausen, S. 312) „und erzählte weiter von sich und Ludwig Bock: mit den Ellenbogen auf dem Tisch und den Kopf zwischen beiden Fäusten, doch dabei von Zeit zu Zeit meinungslos seine Zustimmung nickend, blickte das greise Kind von Altershausen auf den Greis, der in den Wonneburgen der Walchen ein Tröster, Helfer und Retter gewesen war, und ihm da mit der Stirn in der Hand gegenüber saß, meinungslos den Kopf schüttelnd.“ (zitiert nach: Karl Hoppe, „Anhang“, in: Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke, Bd. 20, S. 507). Vgl. Raabe, Altershausen, S. 230.

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individuelle Zeitinversionen zur Darstellung bringt,59 einzigartig – denn bei der Anagnorisis60 des alten Psychiaters mit dem als nahezu unverändert erscheinenden mystischen Kindheitsort setzt der Text in hohem Maße auf Unmittelbarkeit der Begegnung und entsprechende Formen der Repräsentation. Das Aufeinandertreffen von Fritz und dem greisen Knaben Ludchen,61 der gleichsam göttlich-intuitive Blick auf „alles in Altershausen“62 vom Fenster des Ratskellerzimmers, die nächtliche Traumfahrt inklusive Spitz Bollmann63 – all diese Textelemente sind durch Wahrnehmung, leiblichen Kontakt und dadurch hervorgerufene Assoziationen codiert. So werden (nicht ganz) selbständige Bilder und Szenerien generiert, die tendenziell nicht in eine abgeschlossene begriffsmäßige Narration integriert werden – und dem Text zunächst gerade dadurch geeignet erscheinen, Feyerabends Selbstbewusstsein als Selbstpräsenz zu restituieren: „Der Traum als Wirklichkeit war jetzt vollständig. Es fehlte für zehn Minuten nichts mehr dem Mann aus der großen Welt, was vordem ihm einmal gewesen war!“64 Und immer wieder wird das Mit-sich-eins-Sein vom Leitmotiv des Noch-dabei-Seins des vormals Verlorenen begleitet. Gleichwohl: Altershausen ist letztlich zu sehr dem realistischen Dispositiv verhaftet, um mit beschworener Unmittelbarkeit und Präsenz nicht doch wieder auch den alten Dämon heraufbeschworen zu haben. Dies wird an der Fortsetzung der eben zitierten Passage ersichtlich: Er war Kind mit dem Kinde, Idiot mit dem Idioten: Schulen, Universitäten, Lehrsäle, in denen man selber vom Katheder sprach, Land und See, alle Weisheiten, Herrlichkeiten und Königreiche dieser Erde, die großen Herren und die großen Menschen darin, alle trônes, principautés, archanges, séraphins et chérubins Schöpfers Himmels und der Erden, wie das alles im Selbstbewußtsein eines Gebildeten längeren irdischen Daseins Inhalt ausmacht und Formen bedingt – weggewischt! Nichts übrig als zwei Jungen auf dem Wege nach Hause – beide mit dem Gefühl, sich verspätet zu haben! …65

Der unmittelbare Kontakt mit seiner eigenen Vergangenheit als dem Anderen seines alten Selbst erweist sich hier für letzteres als lebensbedrohlich – 59 60

61 62 63 64 65

Vgl. Ort, Zeichen und Zeit, S. 226. Vgl. Eva Geulens gleichnamigen Aufsatz „Anagnorisis statt Identifikation (Raabes Altershausen)“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 82/2008/H. 3, S. 424–447. Vgl. Raabe, Altershausen, S. 233. Ebd., S. 240. Ebd., S. 242ff. Ebd., S. 251. Ebd., S. 251f.

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was selbstbewusst existiert, ist entweder der junge Fritz oder der alte Psychiater, beides lässt sich offensichtlich nicht zu einem Ganzen integrieren, auch nicht (immer nur) annäherungsweise, das ist die Kehrseite der Verabschiedung des selbst hochproblematischen metonymischen Erinnerns. „[J]e mehr Geheimrat Feyerabend sich in die Wirklichkeit und Greifbarkeit Altershausens von heute zu finden und zu vertiefen hatte, desto mehr mußte er sich selber zum Schatten, zum Gespenst werden, und – er wurde es!“66 Der letzte Traum des Textes, in dem der geheime Rat zum weihnachtlichen „Nußknacker der Familie Feyerabend“67 und schließlich gar zum „Nußknacker vom vorigen Jahr“ wird,68 der sich seinem Nachfolger gegenüber sieht, inszeniert dann in der Tat die Lebensreduktion Feyerabends „zum bloßen Zeichen – seiner selbst“.69 So lässt sich die eingangs aufgeworfene Frage, worin das furchtbare Geheimnis des Selbstbewusstseins in und für Altershausen besteht, mit der Feststellung beantworten, dass es vor dem Hintergrund der Alternativen Unmittelbarkeit/Vermittlung, Metaphorisches/Metonymisches etc. und auf dem Boden des realistischen Dispositivs aussichtslos ist, Selbstbewusstsein als kontinuierliche Selbstpräsenz zu gewährleisten. Und wie verhält sich der Text zu diesem Geheimnis? Nun, zum einen inszeniert er es, zum anderen lässt er sich davon nicht beeindrucken: Aus seinem Traum erwacht, taucht Feyerabend erneut ein in die Kindheitstraumwelt Altershausen: „Was ihm kein Traum geben konnte, lieferte ihm nun die Wirklichkeit“.70 Zwar respektiert der Text die Vorgaben des realistischen Dispositivs bis hin zum Dilemma, folgt aber doch einem eigenen Programm, das mit der dargestellten Aporie spielerisch umgeht. Und den Nussknacker hat Ludchen gerettet.71

IV. Selbstbewusstsein bleibt in den späten Romanen Raabes, wie gesehen, nicht allein ein psychologisches Problem für Figuren der Diegese. Indem die Schreibweise der Texte mit ihren erzählten Welten verflochten und als prekär inszeniert wird, führen Die Akten des Vogelsangs und Altershausen strukturell an 66 67 68 69

70 71

Ebd., S. 276. Ebd., S. 290. Ebd., S. 292. Ort, Zeichen und Zeit, S. 228. In diesem Zusammenhang kann auch das Faustzitat gelesen werden „‚Was ich besitze, seh ich wie im Weiten / Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.‘“ (Raabe, Altershausen, S. 240). Ebd., S. 299. Vgl. ebd., S. 301.

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die Grenze des Realismus. Und der Weg dahin scheint aus realistischer Perspektive in eine Sackgasse zu münden: Der Gefahr der Uneinholbarkeit metonymischen Erinnerns/Erzählens mit einer Umkodierung auf unmittelbarere Repräsentationsformen zu begegnen, führt auf dem Boden des realistischen Dispositivs zu einer Auflösung der Kontinuität der erinnernden Instanz und untergräbt dergestalt eine stabile realistische Textordnung ebenso, wie die erstgenannte Bedrohung dies tut.72 Zwei der prominentesten Diskursangebote der Jahrhundertwende legen den Akzent nun gerade auf die Aspekte, die sich am Ende des realistischen Weges, aber auch auf realistischem Wege, als unhintergehbare Barrieren aufgetürmt haben: Das Freud’sche Paradigma fokussiert das Unbewusste, das Mach’sche die (gegenüber Raabe freilich weitaus extremere) Diskontinuität oder die bloß mechanistisch-passivische Kontinuität des Bewusstseins. Doch lässt sich andererseits beobachten, dass daneben im kulturellen Feld dieser Zeit auch (dezidiert anti-atomistische) Bestrebungen im Gange sind, Präsenz des Bewusstseins und Kontinuität desselben zusammenzudenken. Versuchsweise und vorsichtig sollen im Folgenden Edmund Husserls Reflexionen über die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins als ein solcher Ansatz im deutschsprachigen Raum gelesen werden, ohne dass der Anspruch bestehen kann, der – übrigens im steten Wandel begriffenen – phänomenologischen Zeitphilosophie nur annähernd gerecht zu werden. Im „Studium der reinen Subjektivität“73 sieht Husserl die eigentliche Aufgabe der Phänomenologie als einer Wissenschaft, die nicht empirisch (synthetisch-aposteriorisch) arbeitet, sondern sich als Wesenswissenschaft, als 72

73

Kontinuität, Statik und Bewusstsein der Person werden von Michael Titzmann als grundlegende Elemente/Normen des Realismus angeführt (vgl. Michael Titzmann, „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘“, in: Hans Krah/ClausMichael Ort (Hrsg.), Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen, Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel 2000, S. 181–210, hier S. 192f). Husserliana VIII, S. 431. Mit entsprechenden Seitenzahlen versehen, werden die jeweiligen Bände der Husserliana im Folgenden als „Hu …“ zitiert. Die Husserliana ist die kritische Ausgabe von Husserls Werken. Für unseren Zusammenhang ist insbesondere Hu X von besonderer Bedeutung, die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Dieser Band enthält auch Texte, die erst nach 1905, als Husserl die Vorlesungen gehalten hat, entstanden sind. Rudolf Bernet hat neben diesem maßgeblichen Band ausgewählte Texte Husserls zum Zeitbewusstsein in einer sehr hilfreichen Sammlung zusammengestellt, die in ihrem Aufbau historischen und systematischen Gesichtspunkten folgt (Edmund Husserl, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hamburg 1985).

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eidetisch-deskriptive Wissenschaft versteht. Wenn also dergestalt von Bewusstsein die Rede ist, dann in einem strukturellen und nicht in einem empirisch-psychologischen Sinne. Insbesondere seit den Logischen Untersuchungen, also etwa seit der Jahrhundertwende, hat sich Husserl mit dieser Thematik so befasst. Und einige Jahre später hat er das Verfahren der transzendentalen oder phänomenologischen Reduktion erläutert, welches, ausgehend vom eigenen Bewusstsein, dies aber eidetisch überscheitend,74 die nicht unmittelbar zum Bewusstsein gehörige objektive Welt in einer Einstellungsveränderung einklammert, außer Kraft setzt, um so die reinen Strukturen des Bewusstseins wesensmäßig zu erfassen. [D]as ist das Eigentümliche der Phänomenologie, daß sie in der Reflexion universal und radikal ist und keine natürliche Gegebenheit in schlichter Weise hinnimmt, vielmehr jede zurückführt auf das Bewußtsein, auf das Universum wirklichen und möglichen Bewußtseins, in dem dieses natürliche Sein Bewußtes ist, Vermeintes, ev. „als wahr Ausgewiesenes“ usw., und jede nicht in gefährlicher Vereinzelung, sondern jede in eins mit jeder anderen wirklichen und möglichen – in der Einheit eines radikalen Entschlusses, kein natürliches Dasein als gegeben anzunehmen, sondern das Universum des Bewußtseins, und nur dieses, zum Thema zu machen, natürliches Dasein dann aber nur haben und betrachten zu wollen als das in diesem Bewußtsein Erfahrene.75

In diesem Zitat klingen auch die an anderen Stellen noch deutlicher formulierten Gedanken an, dass die Welt (das natürliche Dasein) vom Bewusstsein allererst konstituiert wird und als Korrelat bewusstseinsmäßiger Akte phänomenologisch untersucht werden kann, insofern sie in dieser Hinsicht mit

74

75

Vgl. Rudolf Bernet/Iso Kern/Eduard Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 1989, S. 73: „In einer von vornherein nicht vorhersehbaren Radikalität und Konsequenz gewann bzw. erneuerte Husserl die in seinem Verständnis bei Sokrates-Platon gestiftete ‚Idee der Philosophie als absoluter Erkenntnis‘, als Episteme gegenüber bloßer Doxa. Diese Episteme als wahre Idee der Rationalität der von Husserl oft beschworenen griechischen Urstiftung der europäischen Philosophie verband sich bei ihm ganz wesentlich mit der Selbsterkenntnis. ‚Vielleicht, daß es im strengsten Verstande wahr ist, daß Selbsterkenntnis, aber dann nur radikal reine oder transzendentale Selbsterkenntnis, die einzige Quelle aller im letzten und höchsten Sinn echten, befriedigenden wissenschaftlichen Erkenntnis, der philosophischen, ist […].‘ (Hu VIII, S. 167; vgl. auch S. 5). Das im Kontext, dem das Zitat entstammt, ‚rhetorisch‘ Vorgetragene war durchaus Husserls Meinung.“ Auf die zitierte Einführung in Husserls Philosophie von Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, sowie auf Bernets Einleitung in Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins stützt sich die Auswahl der Husserl-Zitate im vorliegenden Aufsatz maßgeblich. Hu VIII, S. 430.

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zum „Studium der reinen Subjektivität“ (s. o.) gehört: „Die Sachlage rechtfertigt es, das … wurzelgebende Bewußtsein als absolutes Bewußtsein zu bezeichnen im Gegensatz zum relativen Sein, das Sein nur ist in Beziehung auf Bewußtsein und zu ihm wesenhaft gehörige Gesetzmäßigkeit.“76 In dieser Analyse der apriorischen Bewusstseinsstrukturen des absoluten Bewusstseins kommt Husserl zum Ergebnis, dass das Zeitbewusstsein, also das Bewusstsein, welches Zeit konstituiert, das „fundamentalste Bewußtsein [ist], das in allen andern Bewußtseinsstrukturen und -formen vorausgesetzt ist“:77 „Im ABC der Konstitution aller bewußtwerdenden Objektivität und der Subjektivität für sich selbst als seiend liegt hier das A.“78 Historisch und systematisch gesehen sind die wiedergegebenen Gedanken Husserls zum absoluten Bewusstsein bereits auf einer fortgeschrittenen Stufe der Reflexionen über Phänomenologie zu situieren – wir werden darauf zurückkommen. Die Anfänge der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins nehmen sich demgegenüber ‚bescheidener‘ aus. In der ersten Hälfte der Nuller Jahre interessiert Husserl in Auseinandersetzung mit der Position von Meinong (und Franz Brentano) insbesondere die Frage, wie die Erfassung eines Zeitobjektes, d. h. einer Dauer oder eines zeitlichen Ablaufs, genauer zu beschreiben ist:79 Das bevorzugte Beispiel im Diskurs ist in diesem Zusammenhang die Dauer bzw. der zeitliche Ablauf einer Melodie. Es handelt sich bei einer Melodie als ganzer, als einheitlicher Kontinuität von Tönen, ja um einen Gegenstand, dem notwendigerweise eine zeitliche Erstreckung innewohnt. Die genannten Philosophen stimmen nun zunächst darin überein, dass die Zeitlichkeit des Objektes letztlich vom Bewusstsein konstituiert wird. Für Meinong ist die Auffassung der melodischen Tonfolge als einer einheitlichen zeitlichen Gestalt eine Leistung, für die das Vorstellungsvermögen unentbehrlich ist: Nach Ablauf der Töne wird ihre Einheit in einer synthetischen Vorstellung im Bewusstsein hergestellt. Dieser Konzentration auf das vorstellende Bewusstsein liegt die Annahme zugrunde, dass Wahrnehmung – also die direkteste Form der Re-Präsentation eines Gegenstandes (und Husserl spricht in diesem Fall von Präsentation80) – auf die Erfassung bzw. Konstitution eines punktuell-jetzigen Objekts beschränkt bleibt bzw. Gegenwart selbst als eine Art ausdehnungsloser mathematischer

76 77 78 79 80

Zitiert nach Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 55. Ebd., S. 96. Hu XI, S. 125. Vgl. Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 97. Der Begriff Präsentation muss auch zeitlich verstanden werden: „Im Wahrnehmen steht mir das Objekt als jetzt seiend gegenüber (Jetzt-Gegenwart).“ (ebd., S. 48).

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Zeitpunkt verstanden wird.81 Wahrnehmung kann demzufolge niemals eine Dauer umfassen bzw. konstituieren, und niemals kann Veränderung oder Kontinuität als Prozess wahrgenommen werden: Die Entsprechungen zum Ausschlussverhältnis von unmittelbarer Repräsentation und Kontinuität, das im realistischen Dispositiv so wirkmächtig ist (s. Altershausen), liegen auf der Hand. Gerade im Hinblick auf dieses die Wahrnehmung betreffende Vorurteil setzt Husserls Kritik an Meinong an: „Punkt des deutlichsten Sehens: Jetzt, usw. Nun, das mag so sein. Aber der Punkt deutlichen Sehens ist ja kein Punkt, sondern ein kleines Feld, und der Punkt Jetzt ist auch ein kleines Feld, und das allein kommt in Frage.“82 Das Jetzt hat eine Ausdehnung, und die von Husserl emphatisch beschworene das Jetzt erfassende und konstituierende Wahrnehmung hat ebenfalls eine zeitliche Extension, einen Horizont, der sowohl auf Zukünftiges (erwartend) ausgerichtet ist als auch Vergangenes im Bewusstsein hält.83 Und wie die jeweils aktuelle Jetzt-Phase der Wahrnehmung solcherart ein Kontinuum ist, so ist der Ablauf der gesamten einheitlichen Wahrnehmung (z. B. der Tonfolge einer Melodie) „ein Kontinuum dieser Kontinua, die eben stetig Phase für Phase […] sich aneinander schließen und dadurch das einheitliche Bewußtsein vom ganzen Zeitgegenstand konstituieren“.84 Genau besehen ist es das Festhalten des Vergangenen im Bewusstsein, welches diese Kontinuität ermöglicht. Husserl nennt diesen Aspekt des Zeitbewusstseins in frühen Texten primäre Erinnerung, später Retention. In ihr wird zum einen das Jetzt, welches gerade eben von einem neuen Jetzt abgelöst worden ist, in diesem neuen Jetzt als soeben vergangenes Jetzt, gleich einem Nachhall, modifiziert und unmittelbar festgehalten (daher wohl auch die Bezeichnung als primäre Erinnerung); Husserl vergleicht sie entsprechend mit einem sich an das jeweilige Jetzt anschließenden „Erinnerungsschwanz, ein[em] Kometenschweif“:85 „Urimpression [Jetzt] modifiziert sich zu Retention von Urimpression“.86 Zum zweiten aber modifiziert sich die Retention erster Stufe zur Retention zweiter Stufe und immer so 81

82 83

84 85 86

Vgl. Rudolf Bernet, „Einleitung“, in: Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. XXV–XXVII. Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 42. Darin entspricht Husserls Position dem Konzept der Präsenzzeit von L. W. Stern, das dieser bereits 1897 formuliert hat, das Husserl aber vielleicht erst 1904 – und zwar aus einem Referat von Meinong – kennengelernt hat (vgl. hierzu und im Folgenden Bernet, „Einleitung“, S. XXIf.). Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 97. Hu X, S. 377f. Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 99.

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weiter. So trägt die Retention „sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das Erbe der ganzen vorangegangenen Entwicklung in sich“.87 Und auch wenn so – was der Begriff Abschattung impliziert – das einst als aktuelles Jetzt Wahrgenommene im Verhältnis zum neuen Jetzt im Bewusstsein zunehmend dunkler wird, bleibt es doch dank der retentionalen Kontinuität irgendwie bewusst und kann von einem reproduktiven Akt sozusagen (immer) wieder und erneut ans Licht gebracht – vergegenwärtigt – werden. Diese Reproduktion nennt Husserl im Unterschied zur retentionalen oder primären Erinnerung Wiedererinnerung oder sekundäre Erinnerung. Dem Diktum der Extension des Jetzt folgend, wird darin das ganze entsprechende, stetig in die Vergangenheit gesunkene Wahrnehmungs-Zeitfeld wiedergeholt und wiederholt, also inklusive der an eine entsprechende Urimpression kontinuierlich anschließenden Retention entsprechender Stufe und der mit ihr verbundenen Spannung auf die Zukunft hin: Das derart Erinnerte ist also kein neutrales Bild, sondern die reproduzierte originäre Wahrnehmung selbst, und zwar anschaulich – allerdings ist es nicht als Gegenwart gegenwärtig, „sondern gegenwärtig als vergangene Gegenwart […], auf Abstand, ungreifbar, nicht ‚leibhaftig‘“.88 Der kategoriale und diskrete Unterschied zwischen Wahrnehmung und sekundärer Erinnerung wird so bewahrt, bei gleichzeitiger größtmöglicher Unmittelbarkeit der Repräsentation. Entlang der retentional gewährleisteten Kontinuität des Bewusstseins könnte so im Prinzip das gesamte Bewusstsein als vergangene Gegenwart wieder präsent werden. Aber ist das wieder möglich? Kostet die Erinnerung nicht Zeit, und kann die Zeit des Ablaufs der Erinnerungen die aktuelle Zeit einholen? […] Also es ist klar, eine wirkliche Reproduktion des Gesamtverlaufs des Bewußtseins bis zu einem aktuellen Jetzt ist unmöglich. Interessant. Nicht wahr. Aber nichts wie Verlegenheiten.89

Husserl formuliert im Hinblick auf Wiedererinnerung in dieser Hinsicht exakt dasselbe Problem, welches in den Akten des Vogelsangs als Problem des realistischen Verfahrens und Erinnerns inszeniert wird. Könnte man aber die diesbezüglichen „Verlegenheiten“ in gewissem Sinne dadurch umgehen, dass der Gesamtverlauf des Bewusstseins im jeweils aktuellen Jetzt immerhin immer schon retentional bewusst ist? Doch zunächst einige Bemerkungen zum Ausdruck „Gesamtverlauf des Bewußtseins“: Wie gesehen, besteht ein zentrales Interesse der frühen Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins in der Frage nach der Erfassung 87 88 89

Hu X, S. 327. Bernet, „Einleitung“, S. XL f. Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 62f.

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und Konstitution von Zeitobjekten. Das paradigmatische Bezugsobjekt, die Melodie als zeitlicher Ablauf und als Einheit, ist in der Regel ein zeitlich eng begrenzter Gegenstand. Entscheidend ist nun allerdings in erster Linie weniger die Frage, wie eng oder weit die zeitlichen Grenzen des Objekts sein können, sondern vor allem die, ob das Bewusstsein, das die Dauer/Zeitlichkeit konstituiert und somit ein zeitigendes ist, selbst eine Dauer hat und zeitlich, d. h. in der Zeit ist. Nimmt man die obigen Ausführungen über Wahrnehmung, Wiedererinnerung etc. zur Kenntnis, muss man tatsächlich genau diesen Eindruck gewinnen.90 Damit steht allerdings die fatale Gefahr des unendlichen Regresses im Raum – denn was konstituiert die Zeitlichkeit des zeitkonstituierenden Bewusstseins, usw.? Um ihr zu entgehen, postuliert Husserl in der zweiten Hälfte der Nuller Jahre die Unzeitlichkeit des zeitkonstituierenden Bewusstseins:91 Der Fluß der Bewußtseinsmodi ist kein Vorgang, das Jetzt-Bewußtsein ist nicht selbst jetzt. […] Retention, Wiedererinnerung, Wahrnehmung etc. ist unzeitlich […]. Das sind höchst wichtige Sachen, vielleicht die wichtigsten der ganzen Phänomenologie.92

Auf der anderen Seite gesteht sich der Phänomenologe wieder ein, dass er es mit dem Begriff „Fluß“ und seinen Implikationen doch wieder so benennt, als wäre es zeitlich: Aber ist nicht der Fluß ein Nacheinander, hat er nicht doch ein Jetzt, eine aktuelle Phase, und eine Kontinuität von Vergangenheiten, in Retentionen jetzt bewußt? Wir können da nicht helfen und nur sagen: Dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich „Objektives“. Es ist die absolute Subjektivität, und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als „Fluß“ zu Bezeichnenden […]. Für all das haben wir keine Namen.93

Der Fluss ist das, was Zeitlichkeit konstituiert, selbst aber nicht von etwas Anderem als zeitlich konstituiert wird – deshalb ist er mit dem eingangs erwähnten absoluten Bewusstsein gleichzusetzen. Indem er hier zugleich als „absolute Subjektivität“ bestimmt wird, rückt allerspätestens an dieser Stelle Selbstbewusstsein in einem strukturellen Sinne in die zentrale Position der phänomenologischen Reflexion.

90

91 92 93

Noch deutlicher wird dies vielleicht in der folgenden, vermutlich vor 1904/05 entstandenen (vgl. Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 101) Passage: „Es ist ja evident, daß die Wahrnehmung eines zeitlichen Objektes selbst Zeitlichkeit hat […], daß die Wahrnehmung einer beliebigen Zeitgestalt selbst ihre Zeitgestalt hat.“ (Hu X, S. 22). Vgl. Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 102. Hu X, S. 333f. Ebd., S. 371.

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Der Fluß des […] Zeit konstituierenden Bewußtseins ist nicht nur, sondern, so merkwürdig und doch verständlich geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses bestehen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein muss. Die Selbsterscheinung des Flusses fordert nicht einen zweiten Fluß, sondern als Phänomen konstituiert er sich in [sich] selbst. Das Konstituierende und das Konstituierte decken sich.94

Husserl erklärt das Selbstbewusstsein des Flusses, den obigen Ausführungen gemäß, durch seine Retentionalität: Retentional ist im jeweils aktuellen Jetzt der Fluss als Kontinuität bewusst. Insofern scheint es, als könne man auf diesem Wege die oben im Zusammenhang mit der Wiedererinnerung formulierten „Verlegenheiten“ der Uneinholbarkeit des Jetzt im – allerdings nur quasi-zeitlichen – (Selbst-)Bewusstsein tatsächlich umgehen. Doch der Schein trügt. Bei erneuter Betrachtung zeigt sich nämlich, dass die beschworene kontinuierliche Selbstpräsenz des Bewusstseins gerade an dem Konzept scheitern muss, welches sie allererst ermöglicht zu haben scheint. Denn wie gesehen beinhaltet Retentionalität immer bereits ein Moment von Nachträglichkeit gegenüber dem aktuellen Jetzt.95 Die Selbsterscheinung des Flusses hinkt dem Jetzt des Flusses immer einen Schritt hinterher. Bekanntermaßen hat Derrida dies hervorgehoben; aber auch Husserl hat diesen für seine Wesens- und Präsenzphilosophie prekären Aspekt deutlich gesehen und eingestanden. Der zuletzt zitierte Satz lautet im Ganzen: „Das Konstituierende und das Konstituierte decken sich, und doch können sie sich natürlich nicht in jeder Hinsicht decken.“ Und weiter: Die Phasen des Bewußtseinsflusses, in denen Phasen desselben Bewußtseinsflusses sich phänomenal konstituieren, können nicht mit diesen konstituierten Phasen identisch sein, und sind es natürlich nicht. Was im Momentan-Aktuellen des Bewußtseinsflusses zur Erscheinung gebracht wird, das sind […] vergangene Phasen des Bewußtseinsflusses.96

Kommt die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins nach all ihren Anstrengungen und auf Umwegen also doch wieder auf dem letzten Abschnitt des realistischen Weges in der Nachbarschaft der Akten des Vogelsangs und von Altershausen an? Das ist mitnichten der Fall. In ihrem Versuch, Kontinuität und unmittelbare (Re-)Präsentation zusammenzudenken, hat sie ein strukturelles Konzept von (nicht ganz selbstbewusstem) Bewusstsein entwickelt, welches einem quasi metonymischen, zeitlich linearen, kausalen, vermittelnden, begrenzenden, statischen und begriffsmäßigen Bewusstsein ge94 95 96

Ebd., S. 381. Vgl. ebd., S. 106f., und Bernet, „Einleitung“, S. LIIf. Hu X, S. 382.

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radezu entgegensteht. Denn das phänomenologische absolute Bewusstsein ist qua seiner retentionalen Struktur kein lineares: Umfaßt jede Retention […] den ganzen Ablauf [des absoluten Bewusstseins, K.M.], so ist die Figur von konzentrischen Kreisen oder von einer Spirale viel besser geeignet, die Kontinuität des retentionalen Bewußtseins graphisch darzustellen, als die Figur eines aufgefächerten Zusammenhangs von Geraden. Jede neue Retention bewegt das ganze Zeitbewußtsein ähnlich wie ein ins Wasser geworfener Stein.97

Die fundamentale Bewusstseinsstruktur schlechthin, das A im ABC der Phänomenologie (s. o.), ist mithin „nicht als bloße […] Form zu denken, durch die das Zeitliche gewissermaßen hindurchziehen würde“,98 sondern selbst „in beständiger Wandlung begriffen“.99 Zeitbewusstsein ist dynamisch. Vor diesem Hintergrund ist es unmittelbar einleuchtend, dass die Zeitphänomenologie, wie erwähnt – und ganz anders als das realistische Dispositiv –, am Paradigma der Musik orientiert ist, ihre Thesen wesentlich anhand der Frage nach der zeitlichen Erfassung einer Melodie gewinnt. Da Husserl das Konstituierende nach dem Konstituierten benennt (s. o.), ist man fast geneigt, das absolute Zeitbewusstsein um der Pointe willen als unendliche Melodie zu bezeichnen.100 So sehr hoffentlich deutlich geworden ist, wie die Phänomenologie mit einer zeitgenössischen kulturell manifesten Problemkonstellation ringt, die in spätrealistischen Texten als prekär inszeniert wird, so sehr dürfte klar sein, dass Textverfahren, die dem phänomenologischen Dispositiv und seinem Bewusstseinskonzept entsprechen, nicht mehr realistisch sein können.101

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Bernet, „Einleitung“, S. LI. Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 103. 99 Hu X, S. 326. 100 Schon an diesem Aspekt wird ersichtlich, wie nahe Husserl in manchen Punkten Henri Bergson steht, der z. B. in Zeit und Freiheit auf die melodische Verfasstheit des Bewusstseins Nachdruck legt (weitere damit und mit unserem Aufsatz-Thema generell eng zusammenhängende Aspekte im Gesamtwerk Bergsons wären etwa die Unterscheidung von Dauer und homogener Zeit, das Nachdenken über die Prämissen des Schildkrötenparadoxes, die Unterscheidung von Begriff und Intuition). 101 Die Rolle der Musik als neues Leitparadigma für literarische Verfahren wird in diesem Sammelband in Fabian Lamparts Beitrag betont. 98

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Robert Matthias Erdbeer

Robert Matthias Erdbeer (Münster)

Der Abschied vom inneren Himmel Entsagung und Exzess bei Herman Bang

In der Unfruchtbarkeit seines Daseins, in der er entsagt hatte, um stark zu werden, seufzte er. Herman Bang, Hoffnungslose Geschlechter „Sie geben uns, was wir haben wollen in dieser Stadt: circenses – et circenses.“ Herman Bang, Stuck

I.

Diskursverweigerung und Selbstverlust Es werden wohl Viele das Leben befragen: Wo liegt die Oase des Glücks und der Ruh? Nicht ahnend, daß Leiden und langes Entsagen Auf mühsamem Wege nur führe dazu. Agnes Franz, Gedichte

1.

Der innere Himmel Es gibt eine innere, in unserem Herzen hängende Geisterwelt, die mitten aus dem Gewölke der Körperwelt wie eine warme Sonne bricht. Ich meine das innere Universum der Tugend, der Schönheit und der Wahrheit, drei innere Himmel und Welten, die weder Teile, noch Ausflüsse und Absenker, noch Kopien der äußern sind. […] Dieses innere Universum, das noch herrlicher und bewunderungswerter ist als das äußere, braucht einen andern Himmel als den über uns und eine höhere Welt, als sich an einer Sonne wärmt.1

Die mystische Rede vom ‚inneren Himmel‘, von Jean Paul als Ausdruck einer Geisterwelt des Selbst gedeutet – in der realistischen Poetik wird sie zum zentralen Fluchtpunkt für den literarischen Diskurs. Bevor ich die Beantwortung der Frage wage, warum ausgerechnet dort, wo Realismus eingefordert wird, Romantik wiederkehrt, sei der Problemzusammenhang am praktischen Beispiel gezeigt.

1

Jean Paul, Das Kampaner Tal, 507. Station, in: Ders., Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 4, Darmstadt 2000, S. 611f.

Entsagung und Exzess bei Herman Bang

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„Wo war ein Vorwurf, wenn er das Glück in seine Arme nahm. Der Vater wollte es; sie liebt ihn und hat ihn immer geliebt, nur ihn; alle Menschen billigen, ja sie fordern es von ihm.“2 Er nimmt sie dennoch nicht. Am Ende leistet Apollonius, der sittliche Protagonist in Otto Ludwigs Roman Zwischen Himmel und Erde, auf die Einlösung der allseits warm empfohlenen Liebe Verzicht: Er [Apollonius] küßte sie leise auf die Stirn und nannte sie mit dem Namen „Schwester“. Sie verstand, was er meinte. […] Und nun begann das eigentliche Zusammenleben der beiden Menschen. Sie sahen sich wenig […]. Begegneten sich die beiden, begrüßte er sie mit freundlicher Zurückhaltung; damit entgegnete sie den Gruß. […] Kein Tag verging […] ohne stumme Zeichen achtender Aufmerksamkeit. […] Er konnte gute Partien machen; es meldeten sich stattliche Bewerber um sie. Er wies die Anträge, sie die Freier zurück.3

Warum? Man weiß es nicht. Zwar finden sich im Laufe der Erzählung Hinweise auf den neurotischen Charakter ihres Helden, die als Schuldkomplex gedeutet werden könnten; der Erzähler freilich weist die psychologische Option am Ende mit Nachdruck zurück. Stattdessen feiert er die programmatische Entsagung seines Helden als Exempel heroischer Sittlichkeit: „Der Mensch soll nicht sorgen, daß er in den Himmel, sondern daß der Himmel in ihn komme. Wer ihn nicht in sich selber trägt, der sucht ihn vergeblich im ganzen All.“4 Im ganzen All: Die Inkorporation des Makro- in den Mikrokosmos, mystisches Gedankengut der ersten Stunde, wird in Ludwigs Credo zum Profil des realistischen Subjekts geweiht. Sein Sinn ist sein Verfahren, das die Differenz von Ideal und Wirklichkeit, von physischer und metaphysischer Disposition des Selbst zum Ausgleich bringen soll.5 Die neue Sittlichkeit wird zur intimen Kosmik, die als bioethisches Regulativ die Ordnung des Subjekts vollzieht:

2

3 4 5

Otto Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, in: Sämtliche Werke, Paul Merker (Hrsg.), Bd. 3, München/Leipzig 1914, S. 1–204, hier S. 180. Ebd., S. 199. Ebd., S. 202ff. Ich habe diese Aporie der realistischen Entsagungsethik, ausgehend vom gleichen Ludwig’schen Modell, an anderer Stelle als Bestandteil eines außerfiktionalen, esoterischen Dispositivs und einer Biopolitik beschrieben, die den Körper als gestaltbare Diskursfigur entwirft. Dagegen wird im Folgenden die literarhistorische Verarbeitung, Transformation und Neudeutung des realistischen Modells an einem fiktionalen Fallbeispiel beschrieben (vgl. Robert Matthias Erdbeer, „Strategische Verklärung. Realismus, Biokosmik und die Enzyklopädik des Selbst“, in: Andreas Kilcher/Philipp Theisohn (Hrsg.), Die Enzyklopädik der Esoterik, München 2010, S. 277–308).

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Robert Matthias Erdbeer

Laß dich vom Verstande leiten, aber verletze nicht die heilige Schranke des Gefühls. Kehre dich nicht tadelnd von der Welt, wie sie ist; suche ihr gerecht zu werden, dann wirst du dir gerecht. Und in diesem Sinne sei dein Wandel: Zwischen Himmel und Erde.6

Welcher Mittelweg ist hier im Spiel, wenn die tatsächlich praktizierte Weltentsagung sich als Weltbeherrschung äußern soll? Was motiviert die realistische Askese? Warum wird die Heiligkeit der Emotion zum Auftrag aseptischer Sittlichkeit? Die Antwort, scheint es, liegt im faktenreichen 19. Jahrhundert nahe: durch die Überwältigung der plots mit zeitgenössischen Diskursen; durch den Weg des Helden, der sich in den Enzyklopädien seiner Zeit verirrt. So aber ist es nicht. Im Gegenteil. Wo die romantische Poetik in der diskursiven Fülle schwelgen und sich selbst als ‚Enzyklopädistik‘ feiern konnte, dort entwickelt der poetische Diskurs des Realismus ein Objektverhalten, das man nachgerade als Diskursverweigerung bezeichnen kann. Die Rückkehr zu den Dingen und zur Ordnung dieser Dinge, eine Forderung der Programmatiker von Stifter bis zu Spielhagen und Freytag, wird im literarischen Vollzug als Abkehr von den Gegenwartsdiskursen evident. Verklärungsunfähige Fakten sind – so Stifter – in der Dichtung „eine grobe Last“.7 Flaubert erscheint aus dieser Perspektive als versierter „Chemiker, Anatom, Physiolog“ – allein, so eine zeitgenössische Kritik, was ist dies „anderes als Mangel an moralischer Perspective?“8 Stattdessen werden in den Texten gleichsam vormoderne Wissens-, Handlungs- und Bewertungsmuster fortgesprochen. Draußen tobt der Streit um Darwins Mutationsdynamik, Stifters Nachsommer und Kuß von Sentze ventilieren Klassifikationsmodelle, die an Statik kaum zu überbieten sind. Die ökonomischen Verwerfungen des Hochkapitalismus und der Industriegesellschaft dominieren die Sozialsysteme, Gustav Freytag eruiert in Soll und Haben ein kameralistisches Wirtschaftsmodell. „Das ist doch nicht die Gesellschaft von heutzutage“, kritisiert ein Rezensent entsprechend, „sondern die von ehedem, der die eigentlichen, kennzeichnenden Beziehungen zur Gegenwart völlig abgehen.“9 6 7

8

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Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, S. 204. Adalbert Stifter, „Ausstellung des oberösterreichischen Kunstvereines“ [1867], in: Max Bucher [u. a.] (Hrsg.), Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, 2 Bde., Bd. 2, Stuttgart 1981, S. 48–50, hier S. 49. Heinrich Emil Homberger, „Der realistische Roman“ [1870], in: Bucher (Hrsg.), Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 117–121, hier S. 119. Robert Giseke, „Soll und Haben. […] Eine Charakteristik“ [1855], in: Bucher (Hrsg.), Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 336–340, hier S. 339. Diese Abstinenz des metaphysisch-idealen Realismus wird noch deutlicher, wenn man sie mit der

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Der Mangel an Diskurspoetik ist indessen kein Versagen phantasieloser Reaktionäre, sondern eine gegen den ab 1850 dominanten wissenschaftlichpopulären und „ästhetischen Materialismus“ gerichtete Diskursstrategie.10 Der realistische Roman positioniert sich dabei explizit als Gegenpol zur strengen Wissenschaft, „weil eben keine Kunst und kein anderer Zweig der Dichtkunst die furchtbare Konkurrenz der Wissenschaften so gut aushalten kann […], als eben die epische Kunst.“11 Die Konkurrenz wirkt umso schwerer, als der Gegenstandsbereich und das Beschreibungsziel der beiden epistemischen Bereiche ähnlich, wenn nicht gar identisch ist. Die realistische Poetik muss infolgedessen von den Grenzen sprechen, weil wir sie uns selbst ziehen müssen, wollen wir nicht, daß jene Aehnlichkeit, die wir im Anfang zwischen dem Mann der Wissenschaft und dem Epiker konstatirten, für uns verhängnisvoll werde. Haben wir doch jetzt mit ihm ein und dasselbe Organon, das prosaische Wort, wie wir mit ihm von Anfang an denselben Vorwurf hatten: den Menschen in der vollen Breite und Tiefe seiner Beziehungen zu seinesgleichen und zur Natur. Wie nah liegt hier die Verführung – und wie viele unterliegen ihr!12

Durch diese Dialektik von Distanz und Nähe zur exakten Wissenschaft erscheint die realistische Poetik als ästhetisches Pendant und Partner jenes Teils des Wissenschaftsdiskurses, der – als parawissenschaftlich-esoteri-

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diskursiven Lust der literarischen Alternativen: den Werken Ebner-Eschenbachs und Büchners, Oppermanns Monumentalwerk Hundert Jahre, den Abenteuerromanen Mays oder Laßwitz’ ‚naturwissenschaftlichen Märchen‘ vergleicht. Das soll nicht heißen, dass Diskurse für poetisch-realistische Texturen nicht bedeutsam wären. Das vom realistischen Dispositiv Verborgene bestimmt im Gegenteil – wie schon Ulf Eisele zu Recht bemerkt – die Poetologie und Realisation der Dichtungen entscheidend mit (vgl. Ulf Eisele, „Realismus-Problematik: Überlegungen zur Forschungssituation“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 51/1977, S. 148–174). Rudolph Gottschall, „Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik“ [1858], in: Bucher (Hrsg.), Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 112–115, hier S. 112. Damit aber werden Ansätze zur Adaption der Gegenwartsdiskurse, wie sie sich bei Ludwig oder Freytag finden, als ‚Tendenz‘ diskreditiert: „Dieser Realismus, der das deutsche Volk bei seiner Arbeit sucht, kann nur gleichzeitig die Arbeit und die Poesie verderben“ (ebd., S. 113). „Wo ist hier die Arbeit? Individuelle, der Poesie und nicht der Statistik angehörende Arbeit?“, fragt polemisch Gutzkows Rezension zu Freytags Soll und Haben: „Was soll eine dreibändige […] Philippika gegen die Verbesserung der Landwirthschaft!“ (Karl Gutzkow, „Ein neuer Roman“ [1855], in: Bucher (Hrsg.), Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, S. 324–328, hier S. 325 u. S. 327). Ein solcher Arbeits-Einsatz ist den Idealrealisten als ‚Naturalismus‘ verhasst. Friedrich Spielhagen, „Das Gebiet des Romans“ [1873], in: Ders., Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Leipzig 1883, S. 35–63, hier S. 40f. Ebd., S. 55.

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scher – im mittleren und späten 19. Jahrhundert eine Revision des szientifischen Modells erstrebt.13 Der metamaterialistischen Tendenz der Welterkenntnis, die sich dort zur Geltung bringt, entspricht im Fiktionalen das poetisch-realistische Subjektmodell. Die Realismus-Dichtung nämlich produziert ein eigenes Subjektarchiv im Rahmen einer ‚Sammlung defizienter Selbste‘, die im Gegensatz zur eigenen Verklärungsethik einen pathologischen, dysfunktionalen Typus forciert. Entworfen wird ein zwischen Apathie, pathetischem Kontrollzwang und euphorisch propagierter Sittlichkeit mäanderndes Subjekt, das gegenüber seinen exoterischen Diskursumwelten esoterisch, vor dem Hintergrund der realistischen Diskurspragmatik also untermotiviert bis unverständlich, ja asozial bis autistisch agiert.14 Die Defizienz der realistischen Agenten, ihre Einbuße an Kommunikabilität, sozialer Proliferation und ökonomischer Potenz wird freilich als Entscheidung der Subjekte, als gezielter Akt der Selbstermächtigung verklärt. So wandelt sich das „sonnenlose Leben“,15 das sich dieser Fremd- und Autorestriktion des faktisch leidenden Subjekts verdankt, zur Biomacht des autonomen, innerlich strahlenden Selbst. Die Diätetik dieser taktischen Entsagung etabliert die Ethik eines neuen, ‚sur-realen‘ Typus, dessen programmatische Askese paradoxerweise als Vitalität erscheint. In diesem Punkt begegnen sich die Helden der Moral mit ihrem amoralischen Pendant, dem Ich des Egoisten Stirner: Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!16

Tatsächlich mündet diese Selbst-Hypertrophie am Ende nicht nur in ein asoziales Postverklärungsmuster, sondern auch in den realen Selbst-Verlust.

13

14

15 16

Vgl. Robert Matthias Erdbeer, Die Signatur des Kosmos. Epistemische Poetik und die Genealogie der Esoterischen Moderne, Berlin/New York 2010. Zur pathologischen Disposition der realistischen Subjektentwürfe, die – zunächst als ‚psychologische Rätsel‘ getarnt und diegetisch auflösbar – am Ende in ‚extreme Charaktere‘ münden, vgl. Horst Thomé, Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, S. 108 u. S. 131ff. In diesem Kontext sind auch die berufsständischen oder weltanschaulichen Charaktertypen situiert, die Georg Stanitzek ‚Sozialfiguren‘ nennt (vgl. Georg Stanitzek [u. a.] (Hrsg.), Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur, Berlin 2011; sowie Eric Downing, Double Exposures, Repetition and Realism in Nineteenth-Century German Fiction, Stanford 2000). So ein treffender Novellentitel von Ottilie Wildermuth. Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum [1844/1845], Ahlrich Meyer (Hrsg.), Stuttgart 1981, S. 5.

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2.

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Das Handicap

Entsagung ist ein trauriges Geschäft – auch wenn sie wie in der poetischen Fiktion der Realisten in Erfüllung umgedeutet wird. Entsagung nämlich generiert vor allem Defizite, die sich auch im Modus der Verklärung kaum begründen (oder gar verstehen) lassen. Dennoch produziert die realistische Poetik – so die Ausgangsthese – jenseits aller diskursiver, narrativer und symbolischer Ökonomien ein Verfahren, das als ‚Handicap-Prinzip der Sittlichkeit‘ bezeichnet werden kann: Das Maß an Sittlichkeit (und mit ihm an Verklärungsfähigkeit) steigt mit dem Grad und Ausmaß der Entsagungsleistung, die den einzelnen Protagonisten möglich ist. Wer nichts (mehr) zu verlieren hat, kann nicht entsagen, denn Entsagung setzt Erfüllbarkeit voraus.17 Verklärungsfähig ist Entsagung also umso eher, je bedeutender der Gegenstand der möglichen Erfüllung und der Eigenleistungsanteil des Entsagenden erscheinen. Ein Handicap ist diese Qualität insofern, als sie relativ zur Handlungslogik – wie der Schwanz beim Pfau – dysfunktional erscheint. Die größte Leistung liegt mithin bei solchen Fällen, wo die Logik des Entsagungshandelns nicht mehr mit dem Handlungskontext (etwa als Gewinn von Ehre, als Verzicht zugunsten Dritter oder gar als metaphysische Belohnung) zu erklären ist.18 Poetisch-realistische Entsagung ist ein Akt der Freiheit, der sich ausdrücklich (und paradoxerweise) antirealistisch, nämlich als Befreiung vom Realen zeigt. Bedeutsamkeit entsteht hier allererst aus dem Zusammenwirken eines intradiegetischen Symbolsystems mit den Realien, die im Text verhandelt werden; sie muss gegen die Tendenz zur Metonymisierung (Profanierung, Bagatellisierung) der Symbolgehalte stets aufs Neue abgesichert werden. Dabei folgt der Realismus durchaus noch dem Urverfahren der Romantisierung, wenn er „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn“ verleihen will.19 Zugleich verfolgt er jene gegenläufige Bewegung des ‚Realisierens‘, die schon bei Novalis das Romantisieren ergänzt: „[U]mgekehrt gilt die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche“ – als Rückkehr zum „geläufigen Ausdruck“, der den Ort 17

18

19

Vgl. dazu programmatisch Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2010, S. 63–80. Man könnte die Entsagung daher auch als säkularisierte Form der supererogatio bezeichnen, die im Kontext christlicher Askesekonzeptionen eine über-altruistische Funktion markiert: Je weniger die Tat auf Dank und Anerkennung rechnen darf, desto sittlicher erscheint ihr Wert. Novalis, Vorarbeiten 1798, in: Schriften, Bd. 2, Hans-Joachim Mähl (Hrsg.), Darmstadt 1999, S. 334, Fr. 105.

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des ‚Gemeinen‘ markiert.20 Beide Positionen, die romantische wie die poetisch-realistische, betrachten diesen Realismus nicht als Profanierung. Während die Romantik ihn jedoch als ‚Entromantisierung‘ konzipiert, die innerhalb der Dialektik aus Symbol- und Alltagswelt die Re-Diskursivierung des Geheimnisvollen leistet und die Einheit aus Realem und Symbolischem befördert, büßt der Realismus des poetisch-realistischen Verfahrens diese Position als Spender von Diskursen ein. Die Rückkehr zum Gemeinen mündet hier in eine Form der Metonymisierung,21 die den Abbau der symbolischen Gehalte nicht durch Angebote auf der diskursiven Ebene ersetzen, kompensieren oder auch im Spannungsfeld von Alltags- und Symbolwelt diegetisch ausagieren oder gar symbolisch integrieren kann. Die realistischen Symbole sind daher, im Unterschied zum integralen und holistischen Konzept der literarischen Romantik und der sie begleitenden Naturphilosophie, ‚entarretiert‘.22 Da die romantische Verfahrensdialektik, die das Wirkliche per se bedeutsam macht, nicht akzeptabel scheint, die Profanierung des Realen aber unbedingt verhindert werden muss, bleibt somit nur der Ausweg einer Resymbolisierung mit schlechtem Gewissen. Diese wiederum erschüttert die Realienbasis, deren Restabilisierung ihrerseits zu neuer Metonymisierung führt – und so ad infinitum. Eine Lösung dieses Grunddilemmas findet der poetisch-realistische Diskurs im intradiegetischen, figurenorientierten Modus der Entsagung, der Bedeutsamkeit gerade dadurch stiftet, dass er das symbolisch Aufgeladene nicht konsumiert. Das (anti-)ökonomische Prinzip der Nichtinanspruchnahme ist insofern dezidiert nicht-‚realistisch‘, als es wertbehaftete Realien eines Narrativs (Konsumgüter wie ideelle Güter, aber auch pragmatische Diskurse oder funktionale Handlungsmuster) programmatisch meidet. Dadurch wiederum gewinnen die Protagonisten des Entsagungsmodus (und die Texte selber) auf der Basis ethischer Introspektion und Reflexion Diskurshoheit im großen Stil. Ihr untermotivierter, aber metadiskursiver Zugriff fördert ein Verfahren der Diskursverweigerung, das als ‚Poetik der Entsagung‘ nicht nur die Erzähler- und Figurenhandlung, sondern den discours der Texte, die Diskursverwaltung und die Selbstentwürfe der Autoren maßgeblich bestimmt. Ein souveräner Realist in Plot und Leben ist, wer über die Entsagung ver20

21

22

Ebd. Zur Adaption des romantischen Synthesemodells im Realismus vgl. Gerhard Plumpe, „Realismus. Literatur und Kunst“, in: Handwörterbuch der Philosophie, 8/1992, S. 169–178. Vgl. dazu Roman Jakobson, „Über den Realismus in der Kunst“, in: Juri Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1994, S. 373–391. Vgl. dazu Baßler, „Figurationen der Entsagung“.

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fügt. Ein guter Realist ist, wer mit hohem Handicap nicht nur Objekten, Perspektiven und Diskursen mit erheblichem Erfüllungswert entsagen, sondern der Entsagung auch die realistische Begründung, ja Begründbarkeit verweigern kann. Die Sonnenseite dieses ‚traurigen Geschäfts‘, das die Entsagungsplots der sittlichen Verklärung zwischen Rigorismus, Larmoyanz, Melancholie, Zynismus oder Nihilismus treiben, liegt jedoch – so meine These – nicht im Sittlichkeitsgewinn; sie liegt in ihrem (unfreiwillig) komischen, skurrilen bis absurden Potential. Dasselbe zeigt sich spätestens in solchen Texten, die das sittlich-realistische Programm verwerfen, sein Verfahren aber weiterführen. Die Diskursverweigerung der Realisten protegiert somit am Ende das, was ihre Programmatik unterbinden wollte: den ästhetischen und ethischen Exzess.

II. Postentsagung/Postverklärung. Zur Modellbildung der Bang’schen ‚Storyworld‘ „Du stürzt heut alles um, Onkel Hvide.“ „Nein“, sagte seine Exzellenz, dessen Gesichtsausdruck wechselte, „ich ordne alles“. Herman Bang, Das graue Haus

1.

Die Storyworld

Entsagung kennt man auch in Dänemark. In Dänemark jedoch gerät das Kippspiel des poetisch-realistischen Modells, das schon im deutschen Realismus an die Grenzen seiner technischen und weltanschaulichen Belastbarkeit gestoßen war,23 entschieden in den Sog der Avantgarde. In Herman Bangs Romanen wird es zur Routine einer Diegese, die in abenteuerlicher Redundanz vom immer gleichen Plot durchlaufen wird. In den hier untersuchten fünf Romanen nämlich wird dasselbe Basisnarrativ – man ist versucht zu sagen: jeweils neu gestartet; ganz als spielte man mit kaum veränderten Figuren nach vertrauten Regeln eine neue Runde des Entsagungsspiels. In dessen Zentrum steht ein Knabe, der im Zuge eines nichtgeglückten Bildungswegs die heikle Ehe seiner Eltern kommentiert. Der Sohn heißt William, Herluf oder nur „der Junge“, die Mutter heißt Stella oder Marie, der Vater ist Pastor, Bürgermeister oder Oberförster, die Freundin der Mutter 23

Vgl. Moritz Baßler, „Gegen die Wand. Die Aporie des Poetischen Realismus und das Problem der Repräsentation von Wissen“, in: Michael Neumann/Kerstin Stüssel (Hrsg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 429–442.

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heißt immer Tine, der Knecht meistens Lars.24 Bangs Erfolgsromane Stuck (Stuk, 1887) und Tine (1889), Das Weiße Haus (Det Hvide Hus, 1898) und Das graue Haus (Det graa Hus, 1901) erscheinen dabei wie ein spätes Spin-Off seines Erstlingswerks, das unter dem bedeutungsschweren Titel Hoffnungslose Geschlechter (Haabløse Slægter, 1880) den Entsagungstopos aus dem Reich der sittlichen Entscheidungen ins Tierreich biologischer Determinanten führt. Entsagung wird auf diesem Weg zur ,Postentsagung‘, die statt der poetischrealistischen Verklärung eine Strategie der ,Postverklärung‘ nach sich zieht. Sie produziert ,Routines‘. Mit frühnaturalistischer Emphase spricht bereits am Anfang der Hoffnungslosen Geschlechter ein Arzt das Urteil über den Familienvater Ludwig Hög: „Leute wie Hög dürften überhaupt nicht heiraten. Die Linie ist fertig, die Kraft verbraucht. […] Und wenn er nun schon mal heiraten wollte, so hätte er sich ein Bauernmädel nehmen sollen, da wäre gesundes, dickes Blut in die Familie gekommen […]; es ist geradezu Sünde um Stella… Sie hätte einen Kraftkerl haben müssen… Denn es ist Anlage zur Schwindsucht in ihrer Familie… Und das wird eine schlimme Geschichte, wenn die Gebrechen zusammen kommen…“25

Es wird in der Tat eine schlimme Geschichte. Dass auch soziologisch hier nichts zu gewinnen ist, bestätigt der Erzähler, der die faktische Mesalliance durch Altersunterschied und mangelnde Bekanntschaft der Partner erklärt: Bei Ehen, die nach so kurzer Bekanntschaft geschlossen werden, ist man Enttäuschungen ausgesetzt. Als Stella Frau Hög wurde, wußte sie wohl selbst nicht recht, was sie tat […]. Ludwig meinte, sich mit einem Kinde verheiratet zu haben. Er gab 24

25

Behandelt werden die Romane Hoffnungslose Geschlechter (Figuren: Vater Ludwig Hög, Bürgermeister; Mutter Stella Hög, Sohn William Hög), Stuck (Figuren: Vater Henrik Berg, Oberförster; Mutter Marie Berg, Sohn Herluf Berg, Tine), Tine (dto.), Das weiße Haus / Das graue Haus (Figuren: Vater Fritz Hvide, Pastor; Mutter Stella Hvide, Sohn William Hvide, Tine), sowie Auszüge aus Ludvigshöhe und Die Vaterlandslosen. Wie intensiv die Kenntnisnahme Bang’scher Werke bei den deutschen Zeitgenossen war, zeigt beispielhaft ein Nachruf aus dem Jahre 1912 (vgl. Hiltgart Vielhaber, „Herman Bang“, in: Sozialistische Monatshefte, 18/1912, S. 560–564). Gepriesen wird hier nicht zuletzt „die Eindringlichkeit dieser Sprache“: „Man spürte das Atemholen seiner Menschen“ (ebd., S. 562). Herman Bang, Hoffnungslose Geschlechter, in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 1, Berlin 1919, S. 26f. Zur Person Herman Bangs vgl. Joachim Kersten (Hrsg.), Herman Bang – Eines Dichters letzte Reise, Hamburg/Zürich 2009. Zur neueren Bang-Forschung vgl. insbes. Annegret Heitmann/Stephan Michael Schröder (Hrsg.), Herman-Bang-Studien. Neue Texte – neue Kontexte, München 2008; sowie Martina Chmelarz-Moswitzer, Mimesis und Auflösung der Form. Bildende Künstler und bildende Kunst in den Werken der skandinavischen Autoren Herman Bang, Henrik Ibsen und August Strindberg, Wien 2005.

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ihr alles, was er zu geben hatte, aber es waren nur Überreste. Mehr und mehr kam er selbst zu der Überzeugung, daß er ruiniert, daß sein Leben in seinen Wurzeln angenagt sei.26

Das Reich der Freiheit ist hier also deutlich eingeschränkt, um nicht zu sagen: angenagt. Die Frage, was man unter solchen Vorzeichen vom realistischen Verklärungsstil und seinem Ethos noch erhoffen darf, wird Gegenstand der folgenden Betrachtung sein. Es handelt sich um die Genese eines Textverfahrens relativ zum Einzelkorpus und im Kontext seiner literarhistorischen Transformation. An Bangs beengter Storyworld erkennt man gleichsam idealtypisch die Fortentwicklung des poetisch-realistischen Modells: spätrealistische, naturalistische, impressionistische und frühexpressionistische Variationen des zentralen Dualismus ‚Metaphorisierung contra Metonymisierung‘ und der Frage, ob und wie man katastrophische Ereignisse in defiziente, aber überlebensfähige Biographien überführen kann. Dass Bangs Romane eine Storyworld im Sinne einer nicht mehr einzeltextgebundenen, mobilen, seriellen, nicht-konsekutiven oder -linearen Diegese liefern, zeigt bereits die funktionale Teilung des Erzählinhalts und der Figurenperspektiven. Während sich die Haus-Romane vornehmlich der Kinderzeit des Helden und der elterlichen Ehe widmen, wird in Stuck der Lebensweg des Sohnes selbst verhandelt, Tine wiederum erscheint als Auskopplung aus Stuck,27 wobei die Nebenrolle Titelrang erhält, um dann im Weißen Haus erneut als Nebenrolle aufzutauchen. Die wohl avancierteste, in jedem Fall abstrakteste Metamorphose des poetisch-realistischen Modells erscheint im Weißen Haus. Die Herkunft seiner Ornament gewordenen Verfahren aus dem realistischen Dispositiv ist nur ersichtlich, wenn man den Roman im Kontext seiner Storyworld analysiert. 2.

„Unruhige Konturen“

Was wird in einem Kontext, der Entsagung als bewussten, freiheitlichen Akt des selbstbestimmten sittlichen Subjekts nicht länger denken kann, aus der Verfahrenskunst der realistischen Verklärung? Sie verwandelt sich, so meine These, in Verdrängungsaktionismus, Dogma und Klamauk. Denn um die gleichsam ‚antisittliche‘ Entsagung zu verklären, oder – diegetisch ausgedrückt – die Wirkungsmacht der Post-Entsagenden im Narrativ zu sichern, muss das realistische Verfahren überboten werden; es bedarf der immersiven 26 27

Bang, Hoffnungslose Geschlechter, S. 27f. Ein nach wie vor beliebtes Marketing-Verfahren – man denke etwa an die Auskopplung des Gestiefelten Katers aus der Animationsserie Shrek.

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Performanzen Arbeit, Krieg und Spiel. In Tine etwa wird der Leidensweg der gleichnamigen Heldin als Geliebte ihres Arbeitgebers (und des Mannes ihrer besten Freundin) durch den workload ihrer hochgelobten Haushalts-, Pflegeund Betreuungsdienste aufgeheitert, bis dann in den Kriegswirren auch dieser Flow zusammenbricht: „Freilich sah Tine selbst, wie sich im ganzen Haus der Schmutz anhäufte und wie alles abgenutzt und ruiniert war. Und doch tat sie nichts dagegen, weil es ihr einfach über den Kopf wuchs.“28 Überarbeitung ist nicht Entsagung – Tines Suizid ist somit auch die Folge des missglückten Arbeitsflows. Der Aktionismus wiederum, den Herluf Berg, verwaister Sohn des Oberförsters Berg und seiner Frau Marie aus Tine, als Theatermanager, Salonlöwe und Journalist in Stuck entfaltet, folgt der Logik eines dänisch-nationalen Verblendungszusammenhangs. Denn was Erfüllung hätte werden sollen: die Verklärung Kopenhagens zur Theaterhauptstadt Skandinaviens,29 mündet im Konkursbetrug der Kompagnons, den Herluf Berg – „der Mann der Tat von morgen“30 – weder kommen sieht, noch sehen will. Ruchbar wird die Katastrophe des Victoria-Theaters ausgerechnet am Verklärungsfest schlechthin: „‚Jetzt vor Weihnachten, jetzt vor Weihnachten‘, sagten alle. Um diesen einen Satz, der ihre Verzweiflung gleichsam verschärfte, sammelten sich alle“.31 Herluf selbst wird schließlich durch den Polizeichef aufgeklärt: „Ich habe sie noch heute abend bemühen müssen“, sagte er [der Chef] mit seiner merkwürdig gedämpften Stimme, als spräche er immer in einem Krankenzimmer. […] Und während er mit seiner Hand Bergs Rechte ergriff und sie einen Moment in der seinen behielt, sagte er: „Sie haben den Grund nicht richtig erkannt, auf dem Sie bauten, Herr Berg.“32

Der Text quittiert das Scheitern des Projekts sowohl durch seine Tropik, den latenten Krankheits- und Verfallsdiskurs, als auch semiotisch: durch die schleichende Veruneindeutigung des Zeichens ‚Dänemark‘; sie wird im Folgenden vom Leiter des Zentralbankrats geradezu erlitten: Das Licht der Straßenlaternen fiel […] über die große Karte von Nordeuropa. Er starrte lange auf diese Karte, auf Dänemark: es schien, als würden die Konturen in 28

29

30 31 32

Herman Bang, Tine, in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, München/Wien 1982, S. 286. Ausgerufen im Theater selbst, das hier geradezu als blasphemischer Ort erscheint: „[U]nd alle hoben die Hände als wollten sie schwören: Es lebe – es lebe Kopenhagen! Die beiden Frauen oben in der Loge weinten, als wären sie beim Gottesdienst.“ (Herman Bang, Stuck, in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 480). Bang, Stuck, S. 468. Ebd., S. 615. Ebd., S. 624 u. S. 627.

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dem flackernden Licht unruhig, als verwischten sie sich. Lange stand der Konferenzrat Hein vor der großen Karte, nachdenklich, mit einem Ausdruck beinahe wie von Schmerz.33

Erkennbar wird hier einmal mehr die Pathologisierung des Entsagungsmodus, die, vom späten Realismus vorbereitet, im Naturalismus medizinisch untermauert worden war. Der Gestus des Entsagens wandelt sich zum psychopathologischen Verkennen, zur bewussten oder unbewussten Preisgabe moralischer (und mit ihr ökonomischer, juridischer und kultureller) agency.34 Dem wiederum entspricht die Uneindeutigkeit der kommunikativen Akte, die sich durch die Bang-Romane zieht. Ihr Signum ist das Gegenteil des konzentrierten kommunikativen Modus der Entsagungsrede, die der Realismus stiftet: Unaufmerksamkeit. Im realistischen Entsagungsstil versteht man sich auch ohne Worte, expliziert muss hier nichts werden, da auch Andeutungen – etwa Otto Ludwigs eingangs angeführtes „Schwester“ – von den aufmerksamen, auf den hermeneutischen Bedeutungscode fixierten Helden stets verstanden werden. In der Vagheit des postrealistischen, posthermeneutischen Geredes spricht man aneinander vorbei: „Und alles zwischen ihnen blieb vage, man lebte nur mit umschreibenden Worten und Redewendungen […].“35 Wo Handlung nötig wäre, bleiben kommunikative Paradoxe übrig, die bisweilen vom Erzählerkommentar mit Abtönungspartikeln zusätzlich veruneindeutigt werden; faktisch führt dies zum Zusammenbruch der Kommunikation: „Frau Urne hatte vielleicht nicht verstanden“;36 „Doch die Mutter hatte es gewiß nicht gehört oder […] vielleicht nicht verstanden“;37 „Fräulein Erichsen sagte – aber man wußte nicht, ob sie verstanden hatte oder nicht“;38 „sie fragte Seine Exzellenz: ‚Wirst Du Hans antworten?‘ Aber er hörte es nicht. Ihre Gnaden fragte nicht mehr.“39 Poetischer Impressionismus garantiert hier weder die Untrüglichkeit der Sinne – sie sind nur noch angesichts der Katastrophe scharf –, noch auch den Sinnzusammenhang im kontingenten Wandel: „er sprach immer so viel, wenn er sich umkleidete, und niemand wußte, von welchem Zusammenhang aus.“;40 „‚Ich‘, sagte die 33 34

35

36 37 38 39 40

Ebd., S. 623. Ubiquitär sind daher Wendungen wie „ohne es zu merken“, „ohne, daß es ihm recht bewußt wurde“ etc. (vgl. ebd., S. 549). Ebd., S. 467. Vgl. auch ebd., S. 461: „Alle redeten, und keiner hörte, was der andere sagte.“ Bang, Das graue Haus, in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 1, S. 479. Ebd., S. 507. Ebd., S. 481. Ebd., S. 501. Ebd., S. 461.

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Mutter – und ihre Worte schienen keinen Zusammenhang zu haben mit allem, was gesagt worden war“.41 Auch Mimik fügt hier nichts an Zuverlässigkeit hinzu: „es war, als ob der Ausdruck ihrer Augen die ganze Zeit nicht mit ihren Worten übereinstimmte“.42 Die Sprache selbst gerät dabei bisweilen zum technischen Medieneffekt: „Adolfs Ausdrucksweise näherte sich allmählich immer mehr feldherrnmäßiger Kürze, was vielleicht damit zusammenhing, daß er im Geschäft keine andere Mitteilungsform kannte als den Telegraphen“.43 Dabei wird auf kafkaeske Weise die basale phatische Funktion der Sprache, der ‚Kontakt‘ nach Jakobson, dekonstruiert – im Folgenden mit elegantem Hinweis auf die Sprachverschiebungskraft des Unbewussten im Zustand des Somnambulismus: „Wieder wurde es still […] und Herrn Christopulos schien es, als ob der Knabe wie im Schlaf zu ihm spräche, oder wie durch ein Telephon“.44 Der Höhepunkt der Uneindeutigkeitstextur wird schließlich dort erreicht, wo fremde Sprachen aufeinandertreffen und als Signum absoluter Heimatlosigkeit die Kommunikation schon auf der Ebene des Kodes beenden; sie erlischt in sinnlosem Makkaronismus: „er […] wusste keine Gebete mehr und mischte alle Sprachen durcheinander“,45 oder löst sich auf in asemantisch reinen Klang: Er begann […] zu singen, ins Feuer hinein […]. Worte aber waren nicht dabei, denn er verstand ja kein Serbisch. […] „Nun kommen Mutters Lieder“, sagte er und mit derselben klaren Stimme begann er mit den „Dämmerungsliedern“, die die Mutter zu singen pflegte […]. Worte aber gebrauchte er auch hier nicht, denn beim Singen konnte er sich der dänischen Worte nicht erinnern.46

Zeichenerosion als Medienphänomen und sein Pendant im Narrativen: Referenzverlust, beschädigen die Kommunikations- und Handlungslogiken der Bang’schen Storyworld und torpedieren den ererbten Ausgleichsmechanismus von Entsagung und Verklärung. Denn selbst dort, wo einmal ein sprachtranszendentes, schlagartiges Einverständnis möglich wird, bleibt solches epiphanische Verstehen wort- und folgenlos: „[A]ls hätten ihre Gedanken, die eine sprengende Kraft zu besitzen schienen wie im Moment des Todes, sich ihm durch tausend elektrische Drähte plötzlich mitgeteilt, konnte er sie alle mitdenken, und er verstand sie. Und doch rührte er sich nicht, sagte nichts […].“47 In Stuck ist diese Sprach-, Gefühls- und Handlungs41 42 43 44 45 46 47

Ebd., S. 532. Ebd., S. 514. Bang, Stuck, S. 489. Herman Bang, Die Vaterlandslosen, Berlin 1918, S. 50. Ebd., S. 51f. Ebd., S. 21. Bang, Stuck, S. 573.

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armut umso problematischer, als das Projekt der Neuen Bühne explizit als Sprachvereinigungsprojekt betrieben worden war. Man höre Herluf Berg: „Von der Bühne aus wollen wir dem Norden eine Kunst vermitteln, ihn an eine Sprache gewöhnen […]. Ja, wir wollen sie [die Menschen] lehren, in einer anderen, in der verwandten Sprache, in der wir spielen, zu verstehen, zu denken und zu fühlen […]. Und die Sprachen werden nur noch wie Dialekte erscheinen gegenüber dem Gefühl der großen Einheit… So liegen die Dinge für jeden, der versteht, was Einheit der Sprache bedeutet.“48

Im Erzählerkommentar wird solches Sprachbegehren gar zum Element der Komik, etwa dort, wo die emphatische Figurenrede einer später tödlich endenden Beziehung untergraben wird: „Du“, sagte sie plötzlich und schaute zu ihm herab, fast wie ein Kind, das in der Geographiestunde zum ersten Mal so etwas wie Sewerowostotchnij ausspricht – […], „liebst Du mich?“ Erhard gab es förmlich einen Ruck […] – das Wort „lieben“ pflegten sie sonst nicht zu benutzen.49

Dort, wo ‚Sewerowostotchnij‘ und ‚ich liebe dich‘ ein Paradigma bilden, ist das Ende der Verklärungsfähigkeit – auf Zeichen-, Handlungs- und Bedeutungsebene – erreicht und der grotesken Destabilisierung preisgegeben. In der Höchstform der Bedeutungslöschung produziert auch die Erzählertropik einen spielerischen Stupor, der – wie bei der Löschung des bedeutungsvollen Namens Hvide (‚weiß‘) im Grauen Haus – bereits auf expressionspoetische Texturen verweist: „Preben schlich sich hinein, wo die Mutter am Bett bei Emmely saß, die weiß war, wie das Weiße weiß ist […].“50 Idiosynkratische Erkenntnisse beenden dabei konsequent den metaphysischen Erwartungshorizont: „,Es gibt keine Altäre […], denn es gibt keine Götter. Wir sind –‘ Er schwieg einen Moment und sein Gesichtsausdruck wechselte: ‚Die, die wir sind.‘“51 Die Reflexionsfigur, die dieser pleonastischen Textur entspricht, ist einmal mehr der Zirkel: „Da begann er die alten Gedanken wieder von vorn, nahm sich einen nach dem andern vor, suchte die gleichen Gründe vor, erwog sie und kam wieder zu dem gleichen Ergebnis. Es war beständig derselbe Gedankenkreis.“52 Im Weißen Haus erreicht die Kommunikationsdynamik beider Eltern endgültig die Strahlkraft Stifter’scher Monosemie: „Gott weiß, wie die Kinder erzogen werden“, sagte er. „Lieber Fritz“, erwiderte die Mutter, „wie soll man die Kinder auf dem Lande erziehen.“ „Wie Kinder“, 48 49 50 51 52

Ebd., S. 508. Ebd., S. 518. Bang, Das graue Haus, S. 474. Ebd., S. 480. Bang, Hoffnungslose Geschlechter, S. 120.

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sagte der Vater und versank wieder in Gedanken. […] Aber die Mutter sagte zu Lehrers Tine: „Liebes Kind, Kinder sind Kinder […]“.53

Die skurrile Metonymisierung hochsymbolischer Begriffe (wie im Folgenden der Serie Totenblume – Dichtung – Fisch) vollzieht sich im Gestus der Endgültigkeit: „Es ist eine traurige Blume“, sagte Graf Schulin und betrachtete das Brustbukett der Mutter. Die Mutter schwieg einen Augenblick und strich mit der Hand über die Stiefmütterchen. „Das ist für die Erinnerung, Schulin“, sagte sie, etwas leiser; „wissen sie nicht, Ophelia sagt es.“ Der Graf nahm eine Mundvoll Fisch.54

Auf solche Weise wird die Überdetermination bedeutungsschwerer kultureller Zeichen trivialisiert; das realistische Prinzip entwickelt sich zum zynischen Verfahren, dessen pessimistisch-nihilistische Tendenz die Würde der Entsagung korrumpiert. Gerade dort, wo der Entsagungsplot des Realismus sein figurenperspektivisch höchstes Wirklichkeitsmandat erhält, verbreitet sich im groben bis grotesken Postentsagungsduktus „ein Gefühl der Unwirklichkeit“.55 Es führt nicht nur zur kommunikativen Leere, es entwertet selbst die inhaltsreiche Kommunikation ex post: [I]m Gehen fühlten sie beide, wie sie einander von Minute zu Minute mehr entglitten, bis es ihnen zuletzt vorkam, als wären all die alten, vertrauten Worte, an deren Gebrauch sie doch mit schmerzlicher Beharrlichkeit festhielten – als ob sie Spreu durch eine Mühle jagten – immer so leer und inhaltlos gewesen wie jetzt.56

Entsprechend bündig ist die Antwort auf die Frage, was von Goethe bleibt: „Und was bleibt übrig von einem Goethe?“ Er sprach, als risse er unsichtbare Gewächse mit allen ihren Wurzeln aus der Erde: „Erst ein paar Bücher, dann ein Buch… dann ein Name und schließlich ein paar Buchstaben, deren Form keiner mehr zu deuten vermag.“57

Mit Goethe freilich wird der Angelpunkt sowohl der realistischen Poetik als auch ihrer Ideologie entwurzelt und der Boden vorbereitet für ein Textspektakel, das in dialektischer Emphase aus den Text- und Sittlichkeitsruinen der Vergangenheit vitale Ornamente baut: Routines. Bangs Variante dessen, was man heute als infinite jest bezeichnen könnte, inszeniert die vita activa der Haus-Protagonistin Stella nicht zuletzt als Entertainment des Selbst. 53 54 55 56 57

Bang, Das weiße Haus, in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 1, S. 379. Bang, Das graue Haus, S. 561. Ebd., S. 467. Bang, Stuck, S. 568. Bang, Das graue Haus, S. 537f.

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III. „Circenses – et circenses“. Dogma und Exzess im Weißen Haus Es war ein einziger Spektakel. Herman Bang, Das weiße Haus

1.

Morbider Vitalismus

Wie sieht vor diesem Hintergrund die Poetologie der Postverklärung aus? Wer der poetisch-realistischen Verklärungsstrategie entsagt und dennoch nicht – wie die Science Fiction, die sozialkritische Aufbaupropaganda oder der sozialaffirmative Trivialroman – Erfüllung feiern will, dem bleiben literarhistorisch zwei Optionen übrig: die Verwissenschaftlichung und Vergesellschaftung der überkommenen Entsagung oder ihr ästhetisches enhancement – Naturalismus oder Avantgarde. Bei Bang geraten beide literarhistorischen Optionen in ein konstruktives Missverhältnis, das sich auf der Handlungsebene als Überblendung zweier kaum vereinbarer Verhaltensweisen geltend macht: fanatische Dogmatik und infantiler Klamauk. In dieser aporetischen Gemengelage regt sich ein prekärer Vitalismus,58 der in Anlehnung an Kierkegaard zum Fatalismus neigt. In Bangs Roman Das weiße Haus geht die Entsagung – wie im späten Realismus – nicht nur der Verklärung, sondern dem gesamten Text voraus. Entsprechend düster kündigt der Erzähler „herbe Worte“ an, „wie Menschen sie sagen, welche die harte Abrechnung mit dem schweren Leben kennen“.59 Hier, im Jahre 1898, treffen sich zwei Postensagungshelden unterschiedlichster Couleur. Es sind die Eltern des Erzählers, deren gegenseitige erotische, verbale und logistische Entfremdung zwei poetisch-realistische Entsagungstypen aufgreift und ins Gegenteil verkehrt: den eifrigen Asketen und die selbstbeherrschte Leidende. Die Insolenz, die Vater Fritz verkörpert, trifft bei Stella, seiner Frau, auf eine kindliche Ekstase, die im Habitus der femme enfant auch die Aktionsmuster von femme fragile und femme fatale zusammenführt.60 Die häusliche Codierung könnte kaum binärer sein: Die stets dynamische Präsenz der Mutter trifft auf die sedierte Abstinenz des Vaters, Mutter hüpft 58

59 60

Vgl. hierzu den diskurshistorisch aufschlussreichen Ansatz von Louise Ebbesen Nielsen/Jens Lohfert Jørgensen, „In Search of Vitality. Herman Bang’s ‘Hopeless Generations’ in the Context of Contemporary Bio-political Movements“, in: Neophilologus, 94/2010, S. 177–193. Bangs Vitalismus wird hier als Hybridprodukt aus Driesch’schem Neo-Vitalismus und Nordau’schem Degenerationsdiskurs beschrieben. Bang, Das weiße Haus, S. 339. Vgl. Claudia Gremler, ‚Fern im dänischen Norden ein Bruder‘: Thomas Mann und Herman Bang. Eine literarische Spurensuche, Göttingen 2003, S. 259ff.

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und lärmt und leuchtet, Vater ‚gleitet‘, ‚treibt‘ und ‚triftet‘ und verflüchtigt sich zum düsteren Gespenst. Die mütterliche Transgressionsbewegung wird vom zirkulären Auf und Ab des väterlichen Zimmerwanderns und vom arbiträren Auf und Zu des Fensters und der Zimmertür dramatisch konterkariert: Die Mutter stand hilflos mitten in der Küche. […] Der Vater öffnete die Tür. „Stella, deine Hände.“ „Fritz, ich rühre mich ja nicht.“ Und der Vater machte die Tür wieder zu. […]. Die Mutter lief die Allee hinunter und alle Kinder hinter ihr her. „Fangt mich“, rief sie und lief voran. Der Vater öffnete sein Fenster. „Stella, deine Brust“, sagte er. „Fritz, wir laufen nur!“ Die ganze Schar jagte weiter.61

Die Pointe solcher Nichtbegegnungen besteht in der Verdeckung des Entsagungsgrundes, der die angstbesetzte Paarbeziehung als Entfremdungshandeln beider Partner konturiert. „Wie weit du dich entfernt hast“, lautet ihr Erkenntniswort:62 Man hörte plötzlich den Vater ins Zimmer kommen. „Ich bin es nur“, sagte er. Die Mutter senkte den Kopf. Gleich darauf erzählte sie weiter, aber gewissermaßen hastiger.63 „Stella, Stella!“ erklang es plötzlich vom Fenster her. „Herrgott – Fritz!“, sagte die Mutter und stand plötzlich ganz steif da. Die Mägde verschwanden in einem Nu, als hätte die Erde sie verschlungen. „Ja“, sagte die Mutter stotternd, „Fritz, ich weiß nicht, wie es gekommen ist.“64

Entsagung heißt in Bangs Erzählung ‚Opfer‘; unentschieden bleibt dagegen, wer das Opfer bringt. Und wem. Der Pastor jedenfalls erkennt in seiner Frau die Opfernde und äußert „aufgeregt“: „glaubst du denn, ich weiß nicht, daß dein ganzes Leben eine einzige Aufopferung ist?“ In Stellas Antwort wird das realistische Verklärungsideal zur leeren Formel: „Fritz, wenn man sich über die Leere des Lebens klar geworden ist, muß man es mit etwas … Gleichgültigem füllen.“ „Ist denn die Aufopferung auch etwas Gleichgültiges?“ „Ja – vollkommen. […] Oder“, sie sprach ruhig, wie jemand, der eine letzte Frage stellt, „macht zum Beispiel meine Aufopferung Dein Leben wirklich reicher?“65

Damit freilich wird die Qualität (nicht die Funktion) der realistischen Entsagung radikal negiert; das „Scheinleben“,66 das sie hervorbringt und auf Dauer stellt, ist immer schon defizitär. Die Vorstellung, man könne das prekäre Kippspiel zwischen metaphorischer Bedeutungsstiftung (Liebesideal) 61 62 63 64 65 66

Bang, Das weiße Haus, S. 411. Ebd., S. 407. Ebd., S. 354. Ebd., S. 413. Ebd., S. 408. Ebd., S. 409.

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und metonymischer Beziehungswirklichkeit durch ein Verfahren der Entsagung (‚Opfer‘) lösen, das verklärungsfähig ist (‚das Leben reicher macht‘), wird hier nicht nur als Aporie der realistischen Modellbildung verhandelt, sondern negativ entschieden. Diese intradiegetische, auf der Figurenebene verhandelte Entscheidung invertiert zudem die stumme Sittlichkeit tradierter Genre-Helden. Gegen die Verschwiegenheit des realistischen Entsagungshandelns nämlich wird hier die traumatische Beziehungsferne ausdrücklich als Sprechakt zelebriert. Im Grauen Haus gleicht dieser Sprechakt einem Absagedekret der Mutter Stella: „Ich“, sagte sie, „habe viele Jahre lang nur an eins gedacht. […] Und jetzt habe ich es zu Ende gedacht. […] Darum möchte ich gern mit Dir sprechen.“ Der Vater hatte in dem Halbdunkel, in dem er stand, eine Bewegung mit der Hand gemacht. „Du meinst, warum von Dingen sprechen, die so ganz vorbei und so lange her sind? Aber ich muß sprechen, […] um mich zu verteidigen. […] Ich weiß, ich habe Dir viel unrecht getan. Du bist nicht dafür geschaffen, Menschen gern zu haben. Es ist Dir gegeben, einen Menschen zu lieben – – und trotzdem hast Du mich unendlich gern gehabt. Aber für den, der liebt, ist es so schwer, neben dem herzugehen, der nur gern hat. Darum konnte ich nicht einmal Deine Güte entgegennehmen.“67

Damit gibt es also zwei Entsagende, die ihre Liebesfähigkeit der schweigsamen Konsensgemeinschaft opfern. Diese aber kann nicht länger Gegenstand poetischer Verklärung sein, da ihre ethische Funktion – die Güte des Konsenses – faktisch aufgekündigt ist. Es ist ein Scheinkonsens. Auf der Figurenebene wird dieser Wertverlust zunächst als Mangel der Entsagungsqualität gedeutet: Stella übt sich hier im Sinn des Handicap-Prinzips – in Selbstkritik und sinnt auf eine zweite, effizientere Entsagungsform: „‚Ich bin selbstsüchtig gewesen, ich weiß es jetzt‘, sagte sie […], ‚aber ich werde es nicht länger sein, und die höchste Kraft deines Lebens soll nicht mehr brachliegen.‘“68 Auch dieses zweite, vitalistisch inspirierte Opfer führt jedoch zu keinem Zustand, der im Sinne der poetisch-realistischen Entsagung auf Verklärung hoffen darf: Der Vater stand im Dunkeln. „Was, willst Du, soll ich Dir antworten?“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Du sollst mir nicht antworten“, sagte sie, „ich habe nicht gesprochen, um eine Antwort zu bekommen, sondern um gesprochen zu haben.“ Einen Augenblick war es still. […] „Und jetzt, sagte sie, werden wir nie mehr miteinander reden – nicht einmal an dem Tage, wo wir sterben.“ […] Das Gesicht des Vaters zitterte. „Und Du?“, sagte er, und seine Stimme war kaum vernehmbar, „kannst Du nie froh werden?“ Die Mutter wandte ihm flüchtig das schöne Ge-

67 68

Bang, Das graue Haus, S. 553. Ebd.

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sicht zu. „Hättest Du mich geliebt, wenn ich es könnte?“, sagte sie. Und der Vater ging.69

Es bleibt der Eindruck einer idiosynkratischen Beziehungskündigung, komplex im Ausdruck, sittlich schwierig, atmosphärisch aussichtlos. Und doch auch schwanger von Bedeutsamkeit insofern, als der Postentsagungsgestus eben jene Don’ts der realistischen Poetik wieder aufruft, deren Ziel der Abbau (trivial-) romantischer Exzesse war: „es gibt im Leben nur zwei Dinge – die Liebe und den Tod.“70 Das dritte ist die realistische Entsagung, die hier nochmals als – vergebliche – Beherrschungsleistung aufgerufen wird: Die Mutter erhob sich. Die Tränen wollten aus ihren Augen hervorbrechen. Aber sie bezwang sie. Und während sie ihre beiden Hände an dem schwarzen Seidenkleide hinabgleiten ließ, reckte sie den Körper wie unter einer Rüstung. Dann klopfte sie an die Tür des Vaters: „Wollen wir hinuntergehen?“ sagte sie.71

Die melodramenartige Lizenz zum Ehebruch, die Stella Fritz gewährt, nutzt allerdings erst Henrik Berg in Tine, dem wohl düstersten Roman der Bang’schen Storyworld. Der Oberförster Berg (die Reinkarnation der Väter Hög und Hvide) ist zwar seiner kriegsbedingt verschickten Frau Marie (dem Double Stellas) noch in Liebe zugetan, beginnt jedoch mit ihrer (resp. Stellas) Freundin Tine eine dürftige Affäre, die mit seinem kriegsbedingten Tod und Tines Selbstmord endet. Der Diskurs des Krieges destabilisiert hier – ähnlich wie in Raabes Odfeld – das Verklärungspotential der realistischen Askese und verschärft zugleich das Missverhältnis der Subjektentwürfe, dem schon Stella Hög erlegen war.72 Die traurigsten Stellen in Kürze: Sie [Tine] hörte nicht mehr, was er [Berg] sagte, während er auf dem Fußweg hinter ihr ging. Auch seine Stimme hörte sie nicht mit Bewußtsein. In ihrer Verzweiflung dachte sie immer nur eins: Er liebt mich nicht mehr! […] Allmählich wurde Berg es müde, immer zu reden, ohne Antwort zu bekommen, und während er hinter ihr herschritt – sie ging so schwerfällig, mit halbgesenktem Kopf –, fragte er sich, was er eigentlich jemals an diesem Menschenkind begehrenswert gefunden hatte.73 69 70 71 72

73

Ebd. Bang, Das weiße Haus, S. 395. Bang, Das graue Haus, S. 554. Cornelia Blasberg hat die intrikate Kooperation von Krieg und Sexualität in Tine am Konzept der weiblichen Adoleszenz diskutiert. Es führt den aufkeimenden Nationaldiskurs mit der Geschlechterproblematik krisenhaft zusammen und zeigt damit auch diskurshistorisch, wie bei Bang das realistische Beherrschungsparadigma unterlaufen wird; die Rückkehr der Diskurse führt zu einer – literarhistorisch progressiven – Destabilisierung des Selbst (vgl. Cornelia Blasberg, „Jugend in Zeiten des Krieges. Überlegungen zu Wilhelm Raabe und Herman Bang“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 44/2003, S. 57–76). Bang, Tine, S. 342f.

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Abschluss dieser Nichtbegegnung ist Bergs Todesstunde nach der Rückkehr aus der Schlacht am Danewerk: Tine saß, als sei dies ihr Platz, dicht an seinem Bett […]. Für sie gab es nur noch eine einzige Hoffnung: daß er sie wiedererkenne. Aber als der Sterbende die Augen aufschlug, blickte er auf sie wie auf eine leere Wand. „Marie, Marie!“ rief er mit leiser, schwacher Stimme […]. Tine rührte sich nicht. Eine Stunde saß sie da. Sie wartete darauf, daß er ihren Namen nenne, sei’s auch nur mit einer Verwünschung, die ihre Schande offenbarte. Aber er erinnerte sich nicht mehr an sie.74

Entsagung wird hier abgelöst von antisittlichem Vergessen und verklärungsfreiem Sühnetod. Doch auch die Überbietung der Entsagung, welche Stella, die verschmähte Liebende des Grauen Hauses, bis zur Selbstverleugnung ausagiert, ermöglicht keinen realismusadäquaten Sittlichkeitsgewinn. Das Phänomen, von seinem ethischen Beziehungsrahmen abgekoppelt, wird zu einer zweifelhaften, quasi-virtuosen Gabe, die soziale oder psychologische Verwerfungen nicht länger kompensieren kann. Im Opfercode der Postentsagungshelden heißt es dazu lapidar: „Er hätte ihr alles opfern können…, denn opfern konnte er, nur lieben nicht…“75 Dass Tine ihren Oberförster wirklich liebt, ist offenkundig; Stellas tragisches Entsagungsethos wird dagegen von der Storyworld als ganzer subvertiert. So heißt es in den Hoffnungslosen Geschlechtern zum dritten Jahr ihrer Ehe: „Da auf einmal verliebte sich Stella. Der Gegenstand ihrer Liebe war der Freund ihres einzigen Bruders und mit ihr ungefähr gleichaltrig. Was vorging, weiß kein Mensch; aber eines Tages reiste Ludwig Hög mit seiner Frau ins Ausland.“76 Das, was in den späten Texten aus komplexer Innenperspektive psychologisch dunkel, tiefsinnig, bisweilen auch grotesk erscheint, erhält im Bang’schen Frühwerk seine extradiegetische Erläuterung. Der Abschied vom Modell der realistischen Entsagung wird hier gut naturalistisch, sprich: entwicklungspsychologisch und paarsoziologisch lanciert:

74 75 76

Ebd., S. 358. Bang, Stuck, S. 466. Bang, Hoffnungslose Geschlechter, S. 29. Im Grauen Haus wird überdies ein verunglücktes Liebesverhältnis des Vaters Fritz alludiert – auch hier im Kontext allgemeinen Nichtverstehens: „,Harriette hatte doch wohl immer Fritz geliebt. Sie haben sich ja von Kind auf gekannt. Aber dann verliebte Fritz sich ja in Stella […]. Und jetzt kommt sie zurück und sieht, wie alles geworden ist.‘ ‚Wie ist es denn geworden‘, sagte die Baronin, die, ohne zu verstehen, ihren Oberkörper ganz vorgebeugt hatte. ‚Ach‘, sagte Gräfin Schulin […], ‚Sie sind ein Kind. Aber […] Sie werden noch viel vom Leben lernen‘.“ (Bang, Das graue Haus, S. 576).

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In den ersten Jahren ihrer Ehe spielte Stella noch mit Puppen, oder sie führte Theaterstücke vor Hög auf. […] So lebten sie am Anfang. Doch nach und nach, als Stella älter wurde, sah sie langsam, aber sicher ein, daß ihre Ehe eine ungleiche Beziehung sei, daß er alt und sie jung war, und daß das, was ihr Mann ihr gab und womit sie sich begnügen mußte, wohl eigentlich nicht mehr als eine apathische, ab und zu durch einen kurzen fieberhaften Anfall von Verliebtheit gewürzte Freundschaft war.77

Apathische Freundschaft – in der realistischen Poetik ein erstrebtes Liebesziel – bewirkt im Narrativ des Weißen Hauses die subtile Destruktion der Zeichen. Der Schauplatz ist das Gartenhaus, das Stella Hvide nach dem Ende ihrer Geburtstagsfeier betritt: Still schritt sie hinein und öffnete den Brief, den der Vater auf ihren Tisch gelegt hatte. Langsam faltete sie den Brief auseinander und las: „Dir Glück zu wünschen, kommt mir so wunderlich vor. Aber ich wünsche Dir das Beste, was das Leben Dir geben kann. Dein Fritz.“ Die Mutter senkte wieder den Kopf. Sie wußte selbst nicht, daß ihre Hände allmählich den Blumennamen auf dem Tischtuch zerstörten. Da sah sie den Vater, der von der Hecke her auf sie zukam: „Danke, mein Freund“, sagte sie und faßte seine Hand. Und einen Augenblick standen sie da vor den vielen Gaben – beide schweigend. Dann verschwand der Vater in der Richtung nach dem Wäldchen.78

Die Mimikry der realistischen Poetik liefert nicht mehr länger einen inneren, erkämpften Himmel, sondern dient zum Auftakt einer Storyworld-Dynamik, die sich sukzessive von der Klarheit ihrer realistischen und naturalistischen Quellen entfernt. Sie spekuliert bereits mit jener ominösen ‚Kraft des Lebens‘, die im Grauen Haus aus der Konkursmasse der liebefreien Ehe an den Ehemann zurückerstattet werden soll. Der Bang’sche Frühnaturalismus wandelt sich dabei vom extradiegetischen Begründungsnarrativ zur psychologischen und weltanschaulichen Disposition der Helden, wo er als dualer Vitalismus aufersteht und zwei konträre Performanzen liefert: Dogmatik und Klamauk. 2.

Routinen des Klamauks

Im Weißen Haus gerät der Feier-Flow der Mutter Stella zum Manöver eines Décadence-Verfahrens, das mit der Lizenz des Spielens nichts Geringeres als Dostojewskis tomber en enfance inszeniert: den kindischen Exzess. „Die Mutter lacht wie toll“; „Es war ein einziger Spektakel“; „Sie sprang auf bloßen Füßen auf den Boden und donnerte an die verschlossene Tür. ‚Jetzt will ich 77 78

Bang, Hoffnungslose Geschlechter, S. 28f. Bang, Das weiße Haus, S. 417f.

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hinaus!‘ rief sie. Und sie donnerte noch stärker.“79 Stella selbst ist der Familie größtes Kind: „Die Mutter flog von Scholle zu Scholle, während sie mit den Armen schlug wie ein Vogel, der sich zum Fliegen anschickt.“80 Diese Autoinfantilisierung nimmt in Bangs groteskem Vitalismus die Systemstelle der realistischen Verklärung ein. Das Handicap der Bang’schen StoryworldAgenten ist (im realistischen Verständnis) nicht verklärungsfähig, weil der Habitus der Charaktere den erforderlichen Ernst vermissen lässt. Unübersehbar ist dagegen – Thomas Manns Herr Friedemann lässt hier schon grüßen – die prekäre Nähe zur Figur des Freak. Die Rede ist von William, Stellas Sohn: Sein Gang war ungleich und absonderlich. Er konnte, leise mit sich selbst redend […], langsam an den Häusern entlangschlendern […] mit geducktem Kopf, krummen und schlenkernden Armen. Dann plötzlich stolperte er über seine eigenen Beine, die er beständig einwärts setzte, und fing zu laufen an. Wie er aussah, wenn er lief! Man dachte unwillkürlich an die kleinen mißgestalteten Trolle mit ihren unverhältnismäßig großen Köpfen, die zusammengedrückt in Schachteln liegen und aufspringen, wenn man diese öffnet.81

Bang zieht (wie sein dichterischer ‚Bruder im Süden‘ Thomas Mann)82 aus dieser dekadenten Defizienz ein anti-realistisches, circensisches Moment der Komik, das die Storyworld als ganze infiltriert und auch noch ihre düstersten Momente überformt. Poetologisch relevant wird der Klamauk, wenn der Erzähler selbst als William in Erscheinung tritt: „Die Mutter liebte es, ihren ältesten Sprößling schwatzen zu lassen. Er sprach ganz wie sie, mit denselben Ausdrücken, in der gleichen Wortstellung, mit einer altklugen Wichtigkeit, die wie Weisheit wirkte.“83 Damit allerdings erhält die mutterlastige Erinnerungstextur im Weißen Haus den Anstrich ungeahnter Authentizität: Hier spricht die Mutter praktisch zweimal – intradiegetisch und im extradiegetischen Erzählerstil. Die Mutter aber, heißt es, „erzählte und dichtete um“.84 Die Genealogie-Emphase, die die Storyworld durchzieht, wird hier in Abkehr von der realistischen Entsagungsprosa zur Beschwörung eines 79 80

81 82

83 84

Ebd., S. 389, S. 413 u. S. 415. Ebd., S. 401. Zur Theatralität des Bang’schen ‚scenic writing‘ vgl. auch Beverley R. Driver, „Herman Bang’s Prose: The Narrative as Theatre“, in: Mosaic, 4/1971, S. 79–89, hier S. 79: „It was Bang’s expertise in stage direction which formed the basis of his own special brand of narrative impressionism.“ Bang, Hoffnungslose Geschlechter, S. 44. Zur Bang-Rezeption Thomas Manns vgl. Gremler, ‚Fern im dänischen Norden ein Bruder‘. Bang, Das weiße Haus, S. 377. Ebd., S. 364.

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neuen Sprechens, das – wie bald darauf in Rilkes Malte – den Klamauk erst ansatzweise von der Ebene der histoire auf den discours verlagert. Hinter Bangs vitaler Komik lauert zwar der Tod, vor allem aber lauert dort ein pessimistischer Determinismus, der sich auf der Höhe zeitgenössischer Diskurse dezidiert biologistisch gibt. Die Quellen dieser Weltanschauung spiegeln sich in Stellas exzessivem „Leseraptus“:85 „Sie las wie ein Trinker, der sich berauscht und sich wieder berauscht und seinen Rausch verlängert und nicht erwachen will.“ „Sie las über Naturwissenschaft und Dogmatik“.86 In der Tat verwandelt sich der mütterliche Vitalismus in der Folge zum dogmatischen Biologismus, dessen Vehemenz die Positionen eines Büchner, Vogt und Moleschott zu harmlosen Offerten macht: „Ja – die Begierde … denn das ist das Geheimnis: es gibt nichts als den Trieb, er allein ist Herr und Meister… Der Trieb brüllt zum leeren Himmel hinauf – er allein.“87 Der Proliferationsgedanke, der die Storyworld fast manisch dominiert, erhält hier seine explizit an Haeckels Popularisierungsstil geschulte Rigidität: „Das Unglück ist wohl, daß die Natur so grausam gewesen ist, Tiere zu schaffen, die denken. Erst paart das Tier sich, und nachher ekelt sich der Mensch.“88 Allein: Der Triebgedanke mischt sich hier mit der Bergson’schen Neuerfindung der tradierten Lebenskraft, die überdies als partyökonomische Potenz erscheint: „die Hauptsache ist, Lebenskraft zu haben – viel zu erleben bei geringer Einbuße von Lebenskraft.“89 Im Weißen Haus neigt die Spektakelhaftigkeit bereits dazu, als Textverfahren autonom zu werden und den degenerativen Plot ästhetisch aufzuwerten90 – zum vitalen, selbstbezüglichen und auch semantisch vielschichtigen Ornament. Das aber ist ein Fortschritt gegenüber der Option, die in Bangs Erstlingswerk zum Tragen kommt und alle Unklarheiten konsequent beseitigt. In ihm mündet die noch ganz materialistisch aufgefasste Triebdynamik in den Lieblingshabitus der naturalistischen Prosa: Krankheit, Trunksucht, Wahnsinn, Tod. Der Vater nämlich, Ludwig Hög, ist nach dem Tod der schwindsüchtigen Mutter Stella wahnsinnig geworden:

85 86 87 88 89 90

Ebd., S. 398. Ebd., S. 397. Ebd., S. 399. Ebd., S. 430. Bang, Hoffnungslose Geschlechter, S. 316. Vgl. hierzu auch den Beitrag Susann Cokals, die das Phänomen des PathologischExaltierten als Inspirationsmoment des ‚Diskursmodells Tuberkulose‘ beschreibt (Susann Cokal, „Infectious Excitement. Disease, Desire and Communicability in ‘Niels von Lyhne’ and ‘Ved Veyen’“, in: Scandinavian Studies, 71/1999, S. 167–190).

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Er versuchte das Hemd zuzuknöpfen, aber seine Hände zitterten, er hatte die Herrschaft über sie verloren. „Das kommt vom Champagner“, sagte er. William stand wie angenagelt […]. Er starrte einige Augenblicke wie festgebannt auf das Gesicht des Wahnsinnigen. Dann lachte er plötzlich unbewußt laut auf: Sein Grauen machte sich in einem gellenden Lachkrampf Luft. Hög sah ihn erst einen Moment verdutzt an, dann lachte er mit. Sie standen sich gegenüber und lachten beide, Vater und Sohn, wie Wahnsinnige.91

Der Grund für diesen Wahnsinn wird dem Sohn nicht nur nicht vorenthalten, er bekommt ihn als Pamphlet diktiert: „Du mußt schreiben“, sagte er [Hög], „meine Hand zittert etwas… da will ich diktieren…“ […] Er [William] setzte sich an den Schreibtisch und öffnete das Manuskript. Er dachte nicht mehr, die Buchstaben tanzten in dem Nebel vor seinen Augen, und das Blut sauste ihm in den Ohren. „Die Enthüllung eines Denkmals“ stand da mit großen verschnörkelten Buchstaben. William schauerte zusammen, und er schlug um.92

Im pathogenen Schreibakt zwischen Sohn und Vater generiert sich schließlich nichts Geringeres als jene pseudo-darwinsche Dogmatik, die bereits für Stellas Weltbild symptomatisch war. Hier wird sie allerdings, im Vorgriff auf die Positionen Nietzsches und v. a. Weiningers, auch misogyn: „Denn wenn wir sie alle in Käfige sperrten, diese Tiere, die nur dazu geschaffen sind, zu zerstören, deren ganzes Wesen nur aus Trieben besteht, aus Trieben, die nur Verderben und Elend bringen – handelten wir recht […]. Denn das Weib ist nichts Besseres wert“, diktierte Hög, „der Mann ist der Herr und kann sie ohne Verantwortlichkeit zugrunde richten […]. Ohne Verantwortlichkeit“, wiederholte der Kranke. „Denn wer sich nicht zum Herren macht, wird Sklave […]. Wer nicht andere zugrunde richtet, wird selber zugrunde gerichtet werden… Denn noch nie hat jemand das Tier im Weibe bezwungen.“93

Diesem Ausbruch philosophischer Finesse folgt die Auflösung im Sinne der persönlichen Entsagung, der hier freilich keine dauerhafte Sublimierung möglich war: „Deine Mutter war besser“, sagte er plötzlich in einem neuen Gedankengang, „sie liebte einen andern, weißt Du… ihren Vetter…“ William drehte sich um und sah in namenlosem Entsetzen den Vater an. […] „Aber sie kam zu mir und sagte es mir“, fuhr der Kranke fort […], „bat mich, daß wir fortreisen möchten, damit der Kampf mit ihrer Leidenschaft ihr leichter würde…“94

91 92 93 94

Bang, Hoffnungslose Geschlechter, S. 121. Ebd., S. 123. Ebd., S. 123f. Ebd., S. 125.

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Was im Realismus noch diskret verklärt – und das heißt immer auch: verschlüsselt – wurde, wird im Postverklärungsduktus zum geschwätzigen, verqueren coming out mit trivialer Pointe. Auf den Sohn jedoch, den Zwangsvertexter dieser pathologischen Dogmatik, wird das Trauma stilgerecht vererbt. Dies wiederum erkennt am Ende eine Freundin: „‚Übrigens verstehe ich es gut‘, sagte sie. Er blickte auf. ‚Daß Sie Darwinist geworden sind‘“.95 Zum echten Darwinismus reicht es freilich nicht; der Held erscheint vielmehr als Konsument im Rahmen einer dekadenten Wissenspopularisierung, der er sein entwicklungsbiologisches Fanal entnimmt. Die Folge ist ein Materialismus der schlichtesten Art: Er las wieder Darwin. Aber er kam durch keins der Bücher hindurch; sein Interesse wurde nicht gefesselt durch die gewissenhaften Untersuchungen des Gelehrten […]; er wollte nur Resultate, entweder in der Form der Gewißheit oder besser des Gegebenen – mit der Gewißheit nahm er es nicht so genau. Haeckel sagte ihm zu. William nahm wie die meisten den Darwinismus praktisch, sah nicht viel anderes als die Vererbungslehre und nannte das Darwinismus. […] Die Hypothese reizte ihn auf: er begrub darin sich selbst als eins der überwundenen Individuen…96

IV. Statistische Heiterkeit – Verklärung im Postrealismus „Ja, ich kann mir’s denken“, sagte William. Er hätte ebensogut Abracadabra sagen können. Herman Bang, Hoffnungslose Geschlechter

Die Bang’sche Grenztextur im Zwischenraum von Realismus, Naturalismus, Décadence und Avantgarde ist allerdings nicht nur zu Dogma und Klamauk, sie ist auch zu subtilen Pointen fähig. So geschehen in der melancholischen Erzählung Ludvigshöhe, die das epistemische Verhältnis von Genie und Wahnsinn mit dem sittlichen Verfahren von Entsagung und Verklärung eindrucksvoll zusammenführt. Der tragische Beziehungsplot spielt in der Psychiatrie. Am Rande der enttäuschten Liebe zwischen Krankenschwester Ida und dem adligen Opportunisten Karl erscheint in einer Nebenrolle das Modell der Zukunft. Sein Prophet, ein namenloser Psychiatrieinsasse, ist Statistiker; er arbeitet an einem Weltmodell, das nicht nur die tradierte Realismus95 96

Ebd., S. 151. Ebd., S. 297. Vgl. dazu auch Klaus Bohnen, „Mit den ‚Augen‘ Darwins gegen den Darwinismus: Zum Verhältnis von Wissenschaftsmethode und Literaturanspruch in Herman Bangs ‚Hoffnungslose Geschlechter‘“, in: Text & Kontext, 20/1984, S. 111–127, sowie die Überlegungen in Nielsen/Jørgensen, Search of Vitality, S. 188f.

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Ethik aus Entsagung und Verklärung,97 sondern auch die Spannung aus Dogmatik und Klamauk der Postverklärungsprosa im Phantasma eines kosmischen Determinismus löscht: Der Herr von A saß am Tisch und blickte nur kurz auf, um gleich wieder auf seinem großen Bogen weiterzuschreiben. Es waren Zahlen und nochmals Zahlen, er schrieb sie so langsam, als malte er sie. […] „Was hat er da immer zu rechnen?“ fragte Fräulein Petersen […]. „Doktor Qvam sagt“, antwortete Ida, „daß er die Gesetze finden will…“98

Es geht um das Gesetz des Ganzen, das den Modus der bewussten sittlichen Entsagung durch die Auslöschung des freien Willens tilgt. An seine Stelle rückt die Kontingenz des Unvermeidlichen, der antimetaphysischen und außersittlichen Routine, die zugleich zur zwingenden Prognostik wird – im trivialen wie im existentialen Bereich: „Ja“, sagte Qvam […], „er ist doch Statistiker […]. Und da hat er sich an dem Unvermeidlichen versehen – dem Gesetz des Unvermeidlichen […]. Er will, sehen Sie, das Ganze ausrechnen… Wenn zum Beispiel faktisch jedes Jahr ungefähr die gleiche Anzahl korrespondierender Wesen bei der Adresse eine Sieben statt einer Neun auf den Briefumschlag schreibt, ebenso wenn jedes fünfte Jahr die gleiche Anzahl ertrinkt, weil sie über zu dünnes Eis geht…, dann geschieht das, weil sie es tun müssen, genauso wie diejenigen, die sich erhängen, sich erhängen müssen und sich nicht erschießen dürfen, wenn sie sich das Leben nehmen wollen…“99

Man könnte dieses Zwangssystem im Grenzbereich von Paranoia und Neurose als Vollendung des poetisch-realistischen Modells verstehen, insofern die Wieder-Arretierung der semiotischen Prozesse hier zum absoluten Endpunkt kommt. Wo nichts mehr zu entscheiden ist, kann nichts misslingen; Sittlichkeit als Strategie des freien Willens wird durch die abstrakte Logik eines außersittlichen Systems, Dynamik durch Statik ersetzt. Denn dass es hier um eine höhere Entsagungsform (Entsagung zweiter Ordnung) geht, ergibt sich aus der antirealistischen (und amimetischen) Verweigerung, durch die sich der Statistiker gegenüber dem Doktor erklärt: „Ihre Welt reizt mich nicht.“100 97

Vgl. dazu auch Bangs Hinweis auf das ‚Missverständnis‘, das den Realismus nicht als ‚Kunstform‘ erkennt. Ohne dieses „würde man Begriffe wie Realismus und Tendenz, Realismus und Moral und dergleichen völlig heterogene Dinge überhaupt nicht miteinander vermischen und wäre jedenfalls niemals in den Irrtum verfallen, der Realismus sei eine ethische Überzeugung und nicht eine ästhetische Theorie.“ (Herman Bang, „Etwas über dänischen Realismus“ [1879], in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 3, München/Wien 1982, S. 291–298, hier S. 293). 98 Herman Bang, Ludvigshöhe, in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, München/Wien 1982, S. 23. 99 Ebd., S. 161. 100 Ebd., S. 269.

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Zugleich wird diese höhere systemische Entsagung auch durch eine höhere systemische Verklärungsform ergänzt. Auf der Figurenebene erscheint die höhere Statistik daher als ein gleichermaßen epistemisches wie ethisches Problem des Nicht- bzw. Sur-Realen – als Wahrheit und als Glück: Qvam schwieg eine Weile. „Und das wäre dann doch ein bißchen stark“, sagte er, „wenn man nicht einmal die Waffe wählen dürfte.“ „Aber ist das denn nicht wahr?“, fragte Ida. „Ja, das ist das Problem“, sagte Qvam […]. „Es wäre doch ganz nett, wenn man wüßte, für welche Rubrik man auf die Welt gekommen ist.“ „Warum?“ sagte Ida nur, aber ihre Stimme klang beinahe, als empfände sie irgend eine heimliche Freude. […] Und kurz darauf fügte sie hinzu, denn die Gedanken blitzten nur so in ihrem sonst so langsamen Hirn: „Doktor, eigentlich müßten alle Menschen glücklich sein.“101

Hier scheint die Überwindung des poetisch-realistischen Modells zugunsten einer Strategie zu stehen, die auf die statistische Befreiung vom Entsagungsdruck und seiner aporetischen Struktur verweist und neben Dogma und Klamauk noch eine dritte Postentsagungsvariante bietet: statistische Heiterkeit. Die Arretierung des symbolischen Prozesses im abstrakten Zeichen ‚Zahl‘ eröffnet so den Spielraum einer Metonymisierung, die als literarische Routine auf die Möglichkeit der asemantischen Textur verweist. Der Plot scheint dieser These Recht zu geben: Der Statistiker, so lernen wir, war gar nicht wahnsinnig; er ist es, der am Ende aus der Psychiatrie entlassen wird und die versehrte, aber unverklärte Ida als Relikt poetisch-realistischer Emphase erkennt. Das ethisch-realistische Modell weicht einer neuen Form der intensiven, gleichsam plotlosen Askese, die in der statistischen Erfassung ihre Wahrheit – das Reale – findet und verklärt. Es scheint, als habe der Statistiker mit dieser Lösung einen großen Vorläufer beim Wort genommen, der die Ethik des statistischen Diskurses freilich noch im Modus der ironischen Distanz verklärt. In seiner Abhandlung zum Angstbegriff verhandelt nämlich Søren Kierkegaard nichts weniger als das Zentralphantasma der poetischrealistischen Verdrängungslogik im Verbund mit ihrer wissenschaftlichen Erläuterung – die menschliche Sündhaftigkeit: Wenn man statistische Übersichten über das Verhalten der Sündhaftigkeit liefert, Landkarten davon zeichnet, wo man mit Farben und Erhöhungen sofort dem Auge zur Übersicht verhilft, dann macht man einen Versuch, die Sünde als eine Naturmerkwürdigkeit zu behandeln, die nicht zu beheben ist, sondern zu berechnen, wie der atmosphärische Druck und die Regenmenge; und der Mittelwert, die Durchschnittszahl, die herauskommt, ist in einem ganz anderen Sinne Nonsens als in jenen rein empirischen Wissenschaften. Das würde doch ein sehr lächerliches Abrakadabra werden, wenn einer im Ernst sagen würde, daß im Durch101

Ebd., S. 161.

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schnitt auf jeden Menschen dreidreiachtel Zoll Sündhaftigkeit kämen oder daß in Südfrankreich nur zweieinviertel, in der Bretagne aber dreisiebenachtel auf ihn kämen.102

Bei Bang ist dieser Ansatz, die Statistik, ein subtiles Strategem des neuen Realismus, der die neue Wirklichkeit erschließt, wenn nicht erschafft. Verklärung als statistischer, dogmatischer Klamauk, als „lächerliches Abrakadabra“, ist dann in der Tat „in einem ganz anderen Sinne Nonsens als in den empirischen Wissenschaften“ – und als in den Aporien der poetisch-realistischen Textur. Der programmatische Verklärungsstil der Realisten ließe sich aus dieser Perspektive selber als gescheiterte Komödie deuten, die den aporetischen Charakter ihrer Zeit und ihrer selbst nicht länger abbilden kann. Symbol für dieses Scheitern könnte die „Komödie“ sein, die „Seine Exzellenz“, der Stammvater des Hauses Hvide, seit Jahren zu schreiben versucht: „Hast du an der Komödie geschrieben, Großpapa?“ „Ja. Lies vor.“ Der Enkel setzte sich […] und fing an zu lesen – sehr laut, damit Seine Exzellenz ihn hören konnte. „Was, sagst Du, steht da?“ rief seine Exzellenz. Der Enkel las lauter und bemühte sich, die unleserliche Schrift zu ergänzen, wo Buchstaben vergessen und Sätze ausgefallen waren. „Was steht da?“ Der Enkel las weiter. „Nein“, rief seine Exzellenz, „laß mich selbst.“ Er ergriff die Bogen. Und zornig und zum Licht vorgebeugt, versuchte er selbst, alle die Sätze zu lesen, die er schon vergessen hatte. „Nein“, sagte er plötzlich, „ich kann nicht. Die Augen sind schuld. Die Augen wollen nicht.“ Er legte das Manuskript aus der Hand.103

Die Auflösung, die hier verhandelt wird, markiert den Abschied von der realistischen Textur und ihrem Sittlichkeitskonzept des inneren Himmels. Die Textur, die hier als dekadenter Ausfall aller Fremd- und Selbstverständigung, der Weltenschau im Sinn der Göttlichen Komödie und der Sittlichkeit, die sie gewährt, erscheint, markiert die Ablösung des klassischen Verklärungsstils zugunsten der Routines. Aus Zeichenerosion und Referenzverlust, den ständigen Begleitern dieser neuen, zwischen Postentsagung und -verklärung schwankenden Textur, entsteht ein vitalistisches bzw. ein ‚statistisches‘ Spektakel, das für expressive wie für populäre Wirklichkeitskonzepte anschlussfähig wird.104 Im Zugriff auf die defizienten Existenzen, die der Realismus ethisiert, der ‚konsequente Realismus‘ karikiert und der impressionistische Diskurs ästhetisiert, ‚verklären‘ Bangs Romane ihre tragikomischen Figuren und die Dogmen, die sie leiten, im Spektakel ihrer Storyworld. Der Abschied 102

103 104

Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst [1844], Lieselotte Richter (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1984, S. 59. Bang, Das graue Haus, S. 449. Man denke etwa an das expressionspoetische Konzept der ‚Primärwirklichkeit‘ oder an den partizipativen Wirklichkeitsbegriff der Performanzkultur.

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vom inneren Himmel protegiert in Bangs Epochenamalgam die Rückkehr jener lebensweltlichen Diskurse (Sexualität, Ökonomie und Wissenschaft), die von der realistischen Fiktion gekonnt verborgen wurden, und bereitet sie für die Genese eines neuen, routinierten Selbst strategisch vor.105 In diesem Sinne ist die Bang’sche Décadence-Erzählung auch ein Beitrag zur Befreiung von der realistischen Persona, deren Spielraum aus Entsagung und Verklärung eng geworden war. So könnte ein lakonischer Erzählerkommentar zu einem Ausspruch Williams, der als letzter Spross die Hoffnungslosen Geschlechter beerbt, zugleich (in Anlehnung an Kierkegaards Bonmot) als Auftrag an die Erben Stellas gelten: „Er hätte ebensogut Abracadabra sagen können.“ Dieser Platzhalter des sinnentleerten und subjektgefährdenden Diskurses steht zugleich an der Systemstelle des neuen, von der Rückkehr der Diskurse animierten Sprechens, das sich einerseits – im Sinne Rilkes – als sprachmagische, zum anderen als populärpoetische Latenz bemerkbar macht. Sie wird zum Ausgangspunkt für neue wirklichkeitskonstituierende Verfahren, die alsbald ihr nicht zu überhörendes ‚Abracadabra‘ in die Dichtung der Moderne sprechen. Dogma und Klamauk, der schon im Habitus poetisch-realistischer Entsagungshelden angelegte double bind aus ethischer Verbissenheit und pathologischer Aktion, wird im Verlauf der Literarhistorie typisiert, ästhetisiert und noch im expressionspoetischen Zerschlagungsmodus als Konzept der realistischen Entsagung wachgehalten;106 in der Bang’schen Übergangstextur wird dieser double bind jedoch bereits für eine neue, nachavantgardistische Verwendung frei. So führt die Fluchtlinie der Bang’schen Prosa literarhistorisch nicht nur zu den experimentellen Form-Routinen der Emphatischen Moderne und der DADA-Performanzkultur. Im seriellen, akkumulativen oder auch statistischen Charakter dieser Storyworld wird ebenso wie im emplotment von Klamauk und Dogma vielmehr ein markanter Zug zur Popularisierung deutlich, der sich nicht umsonst ‚circensisch‘ nennt. ‚Dogmatisch‘, also lehrhaft oder schlicht: diskursaffin wird dieser neue Realismus dort, wo Gegenwartsdiskurse mit dem persistenten ethischen Dispositiv ‚spektakulär‘ verbunden (also auch – wie in der sozialistischen Erbauungsvariante – zum politischen Programm erhoben) werden, und ‚klamaukhaft‘, wo das literarische Subjekt zum Dogma einer ethiktransgressiven Inszenierung wird. Aus dieser gegenläufigen Bewegung, – der Dogmatisierung des Klamaukhaften 105 106

Dies ist fraglos auch Bangs journalistischer Praxis geschuldet. Man denke etwa an den Benn’schen Helden Rönne oder an Paul Adlers Paul, die dem bereitgestellten Selbstentsagungsplot (dem Selbstverwirklichungsverzicht in Liebe und Beruf) am Ende nur durch produktiven Wahn entkommen.

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und der ‚Klamaukisierung‘ des Dogmatischen, bestimmt sich nicht zuletzt auch das ironische Erzählverfahren Thomas Manns; es wird zum Signum jenes postavantgardistischen Erfolgsrealismus, der bis heute zwischen Dogma und Klamauk strategisch schwankt. Man könnte diese Form diskurshaltiger Prozessierung der modernen Lebenswelt und ihres Selbst auch einen ‚routinierten Realismus‘ nennen, der aus dem verlorenen ,inneren Himmel‘ einen populären, diskursiven Himmel macht. Bangs Leistung liegt darin, schon früh gezeigt zu haben, dass sich diese vom Entsagungs- und Verklärungsmodus freigewordene diskurshaltige Reanimation von Welt und Selbst nicht nur avantgardistisch, sondern auch in einem zeitgemäßen realistischen Dispositiv erzählen lässt. Bang selbst hat die Heraufkunft dieses Stils und seiner Performanzen schon im Jahre 1879 annonciert – als Ankunft eines neuen Realismus: „Die Formen der Kunst wechseln wie die Formen des Lebens, und der Tag wird kommen, da auch der Realismus einer neuen Form weicht, die sich leichter als ein gutsitzendes Gewand um die Gedanken der Zeit schmiegen wird.“107

107

Bang, „Etwas über dänischen Realismus“, S. 298.

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Claus-Michael Ort

Claus-Michael Ort (Kiel)

Realistische re-entries Thesen zur ‚realistischen‘ Episteme und zu ihrer Transformation um 1900

I.

Selbstreferentialität und Metonymisierung

Wenn mit Niklas Luhmann gilt, dass Literatur die Unterscheidung von ‚Zeichen‘ und ‚Realität‘ in sich hineinkopiert und dieses re-entry innerdiegetisch verhandelt, um ‚Umwelt‘ beobachten zu können,1 und wenn ferner gilt, dass der literarische (deutschsprachige) Realismus dies auf spezifische Weise tut, dann liegt erstens der Vorschlag nahe, die sich wandelnden literaturinternen Relationen von Selbst- und Fremdreferenz als Kriterium langfristigen Wandels zu nutzen, und dann muss es zweitens verwundern, dass die erkennbare ‚semiologische Wende‘ in der Realismus-Forschung bislang wenig zur Modellierung der Transformationsschwellen zwischen ‚Romantik‘ und ‚Realismus‘ und zwischen ‚Realismus‘ und ‚Früher Moderne‘ beigetragen hat.2 Die 1

2

Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, zur Unterscheidung von „realer Realität und semiotischer Realität“ (S. 218): Dass „man diese Unterscheidung von realer Realität und semiotischer Realität in die Welt einführen muss, damit überhaupt etwas – und sei es die semiotische Realität – als real bezeichnet werden kann“ (S. 218f.), ermöglicht es der fiktionalen, insbesondere ‚realistischen‘ Literatur, eine Position einzunehmen, „von der aus Realität als Realität bezeichnet, das heißt unterschieden werden kann.“ (ebd.). Literatur, die ‚Wirklichkeit‘ zu beobachten beansprucht, ohne ihren Status als Kunstliteratur einzubüßen (siehe Gerhard Plumpe, „Einleitung“, in: Ders./Edward McInnes (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, München/Wien 1996, S. 17–83, hier S. 47–50, und schon Ulf Eisele, Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des ‚Deutschen Museums‘, Stuttgart 1976, S. 61), ist somit darauf angewiesen, die Beobachtung von ‚Realität‘ und die Produktion von ‚Zeichen‘ intradiegetisch zu unterscheiden, diese Differenz also in ihre dargestellten Welten einzuführen. Gemeint sind – nach Ansätzen bei Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des 19. Jahrhunderts (1957), Tübingen 21966; Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg 1968; Ulf Eisele, Der Dichter und sein Detektiv. Raabes ‚Stopfkuchen‘ und die Frage des Realismus, Tübingen 1979 und Walter Gebhard, Der Zusammenhang der Dinge. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewusstsein des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1984 – u. a. Hans Vilmar Geppert, Der rea-

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folgenden skizzenhaften Überlegungen gehen – im notwendig selektiven und exemplarischen Bezug auf Primär- und Sekundärliteratur – von zwei Tendenzen ‚realistischer‘ Semiose aus, nämlich zum einen von der Metonymisierung des Metaphorischen und zum anderen von der Domestizierung des als gefährlich eingestuften Ikonischen durch Kontiguisierung. Beide Aspekte hängen logisch zusammen (Metonymie/Kontiguität – Metapher/ Similarität/Ikonizität), letzterer geht jedoch nicht in ersterem auf, sondern offenbart vielmehr einen impliziten Widerstreit beider Tendenzen: Obwohl der ‚Realismus‘ metaphorisierende Semiose zur ‚symbolischen‘ Überhöhung und Integration seiner ‚metonymisierenden‘ Diegesen benötigt, wertet er zugleich ikonische Ähnlichkeit ab und sieht in ihr eine Bedrohung für seine innerdiegetische Unterscheidung von ‚Zeichen‘ und ‚Realität‘, der nur durch konsequente Kontiguisierung von Bildern (durch Verschriftung, Rahmung, Temporalisierung, Syntagmatisierung) begegnet werden kann. Diesem Wilistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994; Christian Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart/Weimar 1995: Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998; Helmut Pfotenhauer, „Bild und Schrift. Zur Funktion von Medienwechseln in der realistischen Literatur: Stifter, Keller“, in: Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/Roger Paulin (Hrsg.), Das schwierige 19. Jahrhundert, Festschrift für Eda Sagarra, Tübingen 2000, S. 207–217; sowie Ders., „Zeichenversessener Realismus. Fontanes ‚Stechlin‘“, in: Ders., Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert, Würzburg 2000, S. 187–206; und Lars Korten, Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848–1888. Stifter, Keller, Meyer, Storm, Tübingen 2009. – Leider marginalisieren auch noch jüngere Beiträge zur literarischen ‚Selbstreferentialität‘ (z. B. Janine Hauthal/Julijana Nadj/Ansgar Nünning/Henning Peters (Hrsg.), Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen, Berlin/New York 2007) den ‚Realismus‘ und bleiben auf ‚Romantik‘ und ‚(Post)Moderne‘ fixiert. Ältere Versuche, den Wandel vom ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne‘ zu modellieren, vernachlässigen dagegen die Relationen von Selbst- und Fremdreferenz, so z. B. Marianne Wünsch, „Vom späten ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne’. Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels“, in: Michael Titzmann (Hrsg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 187–203; sowie Dies., „Experimente Storms an den Grenzen des Realismus: neue ‚Realitäten‘ in ‚Schweigen‘ und ‚Ein Bekenntnis‘“, in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, Bd. 4/1992, S. 13–23; Michael Titzmann, „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘“, in: Hans Krah/Claus-Michael Ort (Hrsg.), Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen, Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel 2002, S. 181–20; oder Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 105–137, der dem Realismus „bei selbstverständlich kontinuierlich weiterlaufender Systemreferenz“ primär „Umweltreferenz“ zuschreibt (ebd., S. 107).

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derspruch scheinen auch diejenigen Fälle geschuldet, in denen metonymische Zeichen selbst wiederum zur Quelle von Traumbildern oder (scheiternder) Bildkunst werden, deren Auswirkungen also eher noch verstärken denn begrenzen. Darin Anzeichen für das Ende der ‚realistischen‘ Episteme oder zumindest für eine Erweiterung ihres meta-semiotischen Problem- und Lösungsspektrums zu erblicken, liegt nahe.

II. Metonymisierungen des Metaphorischen (W. Raabe, W. Jensen) ‚Realistische‘ Diegesen lassen laut Baßler eine „aporetische Logik“3 zwischen ‚Ideal‘ und ‚Wirklichkeit‘, ‚Allgemeinem‘ und ‚Besonderem‘ erkennen, die sich in der Korrelation der vertikalen Achse der ‚Symbolisierung‘ – hier gleichbedeutend mit ‚Metaphorisierung‘4 – und der horizontalen Achse der ‚Metonymisierung‘5 manifestiert und durchaus als goethezeitliches Erbteil in der Programmatik des ‚poetischen Realismus‘ anzusehen ist.6 Die Vermittlung von metaphorischer, bedeutungsstiftender und metonymischer, eher bedeutungsreduzierender Achse erweist sich als poetologisch leichthin formulierbares Ziel, an dessen narrativer Realisierung sich die Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch varianten- und finessenreich abarbeitet. So strebt Otto Ludwig die ‚Vereinigung‘ der „Mannigfaltigkeit“ des „Naturalisten“ (metonymische Achse) mit der „Einheit“ des

3

4 5 6

Moritz Baßler, „Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2010, S. 63–80, hier S. 67. Vgl. den Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band. Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 65–67. Die Vorliebe des literarischen ‚Realismus‘ für metonymische Zeichen konstatiert schon Roman Jakobson, „Über den Realismus in der Kunst“ (1921), in: Jurij Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1969, S. 373–391. Vgl. dazu auch Ders., „Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik“ (1956), in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 1: Grundlagen und Voraussetzungen, Frankfurt a.M. 1971, S. 323–333; sowie mit Bezug auf Charles S. Peirce ebenfalls Geppert, Der realistische Weg; und Ort, Zeichen und Zeit, zu ‚realistischen‘ Strategien der ‚Kontiguisierung‘. Werner Hofmann, Das Atelier. Courbets Jahrhundertbild, München 2010, erkennt vergleichbare Probleme der ‚allegorischen‘ Integration, die an der syntagmatischen ‚Verkettung des Heterogenen‘ zu scheitern droht, in der Malerei des Realismus und interpretiert exemplarisch Gustave Courbets Gemälde L’Atelier du peintre. Allégorie Réelle […] (1855) (siehe bei Hofmann u. a. S. 13, S. 74 zur ‚wirklichen Allegorie‘ sowie S. 111).

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„Idealisten“ (metaphorische Achse) im „künstlerischen Realismus“ an,7 und Theodor Fontane fordert für den ‚poetisch verklärenden‘ „Realismus“ als „Kunst“8 zwar „die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst“, postuliert dann aber hegelianisch: „Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt […]; er will […] das Wahre“.9 Das ‚Begehren‘ nach ‚verklärender‘, kohärenzstiftender Re-Semantisierung und symbolischer Integration der kontiguisierten, entropisierten und temporalisierten Elemente ‚realistischer‘ Diegesen und ihres effet de réel10 schlägt allerdings immer wieder in erneute De-Semantisierung um und droht, diejenigen innerdiegetischen clôtures zu behindern, die die infinite Dynamik der Zwei-Achsen-‚Kippfigur‘ anhalten könnten.11 Wie Baßler unterstreicht,12 manifestiert sich Letzteres im Ausgang des ‚Realismus‘ besonders radikal und explizit in Wilhelm Raabes Fragment Altershausen (1899/1902; ED 1911)‚ wo die ‚verklärend‘ erinnerte und erträumte Vergangenheit der Kindheit des Ich-Erzähler-Mediziners Feyerabend mit dem Freund und „alte[n] blödsinnige[n] Stadtkind“13 Ludchen Bock konfrontiert wird, der als Zwölfjähriger vom Baum gestürzt und seitdem im Kind-Stadium verblieben ist. Dieser kann – Ingo Meyer weist darauf hin14 – nachgerade als Inkarnation des semiotischen Dilemmas ‚realistischer‘ Zeichenbildung selbst gelten: Als gespenstisch verkörpernde Metapher der irreversibel vergangenen Kindheit und zugleich als metonymisches Relikt seines Sturzes und Repräsentant seiner Lebensgeschichte blockiert Bock die Balance zwischen vertikal-zeichenhafter (‚metaphorischer‘) und horizontalkontiger (‚metonymischer‘) Achse. Er verschärft das Problem, zwischen beiden Achsen in vergegenwärtigendem (historischen) Erzählen ohne Verstoß 7

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Otto Ludwig, „Der poetische Realismus“ (1872), in: Gerhard Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1985, S. 148–150, hier S. 149. Theodor Fontane, „Realismus“ (1853), in: Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 140–148, hier S. 142. Ebd., S. 147. Zum ‚poetischen Realismus‘ und seinen idealistischen Ingredienzien siehe resümierend Ort 2007, S. 14–23. Vgl. Roland Barthes, „L’effet de réel“, in: Communications, 11/1968, S. 84–89. Vgl. den Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band. Siehe dazu im Anschluss an Geppert, Der realistische Weg; sowie zur Schließungsfigur der ‚Entsagung‘ Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 66. Vgl. Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 78. Wilhelm Raabe, Altershausen (1899/1902), in: Sämtliche Werke, Braunschweiger Ausgabe, Bd. 20: Hastenbeck – Altershausen – Gedichte, Karl Hoppe (Hrsg.), S. 201–312, hier S. 234. Ingo Meyer, Im ‚Banne der Wirklichkeit‘? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien, Würzburg 2009, S. 545.

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gegen Realitätspostulate zu vermitteln – die Geschichte also narrativ abzuschließen, ohne dass Altershausen zur okkulten Wiedergänger-Geschichte oder zum fiktional inszenierten ‚Dokument‘ des Realitätsverlustes eines senilen Träumers geriete. Eine metonymische Real-Verkörperung temporalen Stillstandes oder temporaler Inversion ist unter ‚realistischen‘ Prämissen tatsächlich nur mithilfe der menschlichen ‚Ruine‘ des infantil gebliebenen Unfallopfers Ludchen Bock möglich. Insofern zieht Altershausen mit dem Abbruch des Erzählens eine radikale Konsequenz aus innerdiegetisch noch ‚lebbarer‘ „Entsagung“ als „Lösung eines Strukturproblems“.15 Mag Feyerabends Vergangenheits- und ‚Verklärungs‘-Begehren innerdiegetisch ‚lebbar‘ sein oder nicht – zu Ende erzählbar ist es offenkundig ebenso wenig wie die damit zugleich unterbrochene Lebensgeschichte seiner an das Schicksal von Ludchen gefesselten Jugendfreundin Minchen Ahrens.16 Wilhelm Jensens spätes „pompejanisches Phantasiestück“ Gradiva (1903) verhandelt ein vergleichbares implizites Dilemma aus phantastischem und psychologischem Erzählen. In diesem Fall entscheidet sich die Diegese aber – der Jugend ihres Helden geschuldet – für eine dritte (‚realistische‘) Lösung, die ‚Kunst/Zeichen‘ und ‚Wirklichkeit/Referentin‘, Symbolisierung (die antike anonyme Ideal-‚Gradiva‘ des Steinreliefs) und Metonymisierung (die ‚vergessene‘ und wiedergefundene Jugendfreundin Zoë Bertgang) konfliktfrei vermittelt. Das ‚Phantasiestück‘ harmonisiert kreative (Phantasie-)Überproduktion und die wissenschaftliche Rezeption des antiken Reliefs der ‚Schreitenden‘, indem es die verführerische Ähnlichkeit zwischen ‚totem‘ Kunstwerk und potentiellen lebenden ‚Modellen‘ auf die Teilähnlichkeit der unveränderten Fußhaltung der jungen und der erwachsenen Zoë mit derje15 16

Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 66f. Ob die Figur des Ludchen Bock den Erzählabbruch innerdiegetisch hinreichend motiviert, bleibe dahingestellt. Vgl. dazu schon Horst Thomé, Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘: Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, S. 151–168, und zur signifikanten Nussknacker-Traum-Episode Ort, Zeichen und Zeit, S. 228–230; sowie Baßler, „Figurationen der Entsagung“, S. 78, der in der Begegnung Feyerabends mit dem puer senex Ludchen Bock die „ergreifendste Gestaltung jener Aporie“ des „poetisch-realistischen Projektes“ erblickt, die „die Literatur eines halben Jahrhunderts geprägt hat“ (ebd.). Vgl. resümierend auch Torsten Voß, „Narrative des Alters: Wilhelm Raabes ‚Altershausen‘. Erzählerische Kompensationsstrategien des Zeit- und Präsenzverlustes“, in: Dirk Göttsche/Ulf-Michael Schneider (Hrsg.), Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes. Anlässlich des 100. Todestages, Würzburg 2010, S. 215–230, hier S. 218, Fußnoten 10 u. 11, der Altershausen eine „(de)narratologische Selbstauflösung, allegorisch verkörpert durch den schwachsinnigen Ludchen Bock“, zuschreibt (ebd.).

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nigen der Relieffigur reduziert, partielle Similarität also zur Synekdoche metonymisiert. Hanold agiert bis zum Schluss in einer ‚realistischen‘ Diegese, die weder zur Gespenstergeschichte noch zur Pathographie eines halluzinierenden Archäologen mutiert. Er begegnet in den Ruinen von Pompeji weder nur eigenen Phantasie-Projektionen noch einer realen antiken Wiedergängerin, sondern einer Mischfigur aus Unbekanntem und Vertrautem, aus (biographischer) Vergangenheit und Gegenwart, nämlich seiner ‚vergessenen‘ und nur synekdochisch wiedererkennbaren Jugendfreundin Zoë Bertgang, die dem antiken Relief ähnelt und dennoch realiter zu ehelichen ist. Den Auslöser von Hanolds Ähnlichkeitsmanie und seiner zwanghaften Suche nach Ex-post-Referentinnen des pompejanischen Reliefs bildet die erst am Ende als solche erkannte, synekdochische Fuß-Ähnlichkeit zwischen der noch erinnerten kindlichen Zoë, der nicht mehr erkannten erwachsenen Frau und dem Reliefkunstwerk selbst; und genau dieser semiotische Dreischritt limitiert am Ende auch die pygmalionisch gefährlich ausufernden Ähnlichkeitsphantasien Hanolds und führt sie wieder auf ihre ungefährliche – synkedochische – Basis einer reduzierten und metonymisierten Ähnlichkeit zurück.17 Mit nicht oder nur temporär lebbaren und eigentlich auch nicht erzählbaren, sondern allenfalls verbalisierbaren Erzählunterbrechungen spielt darüber hinaus nicht nur der mittlere und späte ‚Realismus‘ (z. B. in Raabes Zum wilden Mann, 1874, oder in Das Odfeld, 1888), sondern auch schon der frühe, wenn, wie in der Rahmenhandlung von Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters (1847) Sammler- und Archivar-Figuren in übervollen Räumen vermeintlich zweckfrei tote Dinge akkumulieren, die als Relikte ihre Vergangenheit und zugleich als synekdochische ‚Denkmäler‘ ihre fehlenden Gebrauchszusammenhänge repräsentieren. Auch in Gustav Freytags Soll und Haben. Roman in sechs Büchern (1855)18 stimuliert das „Chaos“19 im überquellenden Warenmagazin die Phantasie Anton Wohlfarts und erweist sich als Raum einer „eigenthümlichen Poesie“20 des Exotischen und Fremden: Wie 17

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Zum sträflich vernachlässigten Œuvre Wilhelm Jensens siehe Michael Rohrwasser/Gisela Steinlechner/Juliane Vogel/Christian Zintzen (Hrsg.), Freuds Pompejanische Muse. Beiträge zu Wilhelm Jensens Novelle ‚Gradiva‘, Wien 1996; sowie Nicholas Saul, „Das Unbewusste und die Bilder bei Wilhelm Jensen“, in: Sabine Schneider/ Barbara Hunfeld (Hrsg.), Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, Würzburg 2008, S. 333–346; zur Gradiva vgl. ebenfalls schon Ort, Zeichen und Zeit, S. 221–225. Zitiert nach: Gustav Freytag, Soll und Haben. Roman in sechs Büchern (1855), Leipzig 151870. Ebd., 1. Bd., S. 64–67, hier S. 65. Ebd., S. 64.

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die zeitweise dem Handelsverkehr entzogenen Waren entzieht sich auch Anton kurzfristig dem Arbeitsablauf, unterbricht sein ‚Tagtraum‘21 den Fortgang der Erzählung. Zukünftig wird Anton das gefährliche innere ‚Arbeiten‘ solcher ‚Poesie‘ allerdings zugunsten der sinnvollen, äußeren Zusammenhang stiftenden „Poesie des Geschäfts“22 unterdrücken. Solche verschrifteten Akkumulationen erscheinen im discours als ausufernde Digressionen, die als „Moratorien des Augenblicks […] quer zur Finalität der Handlung“ stehen und die Narration ‚durchkreuzen‘.23 Ähnliches gilt auch für die enzyklopädisch katalogisierenden Auflistungen in Friedrich Theodor Vischers Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (1879),24 in denen sich die Narration streckenweise in bloßer Syntagmatik erschöpft und die erzählerische Kohärenz torpediert.25 Noch bedienen sich die Texte zwar vielfach einer ‚Diätetik‘ des Ausgleichs zwischen (Binnen-)Rezeption und (Rahmen-)Produktion, Internalisierung und Externalisierung, zwischen ‚Erinnern‘ und ‚Vergessen‘, zwischen ‚Zuviel‘ und ‚Zuwenig‘, Anhäufung und Entleerung (vgl. das ‚Autodafé‘ in Raabes Die Akten des Vogelsangs, 1896), die Raabe in Stopfkuchen (1891) zu ‚unbehaglich‘ gestörten Prozessen des Verdauens metaphorisiert. Kontingenz-Abstürze in überfüllte innere und äußere Stauräume von Objekten und Bildern gefährden das Subjekt und ‚stauen‘ das Erzählen jedenfalls nicht nur bei Stifter und Raabe; sie lassen das Versagen diätetischer Regulierungsphantasien und der selbstwidersprüchlichen ‚Arbeit‘ des ‚realistischen‘ Erzählens an Sinnstiftung, Kohärenzsicherung und Harmonisierung ahnen.26 21 22 23

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Ebd., S. 66 Ebd., S. 370. Sabine Schneider, „Vergessene Dinge. Plunder und Trödel in der Erzählliteratur des Realismus“, in: Dies./Hunfeld (Hrsg.), Die Dinge und die Zeichen, S. 157–174, hier S. 158 u. S. 161. Zitiert nach: Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (1879), Berlin 1925. Vgl. hierin S. 15 zur „Tücke des Objekts“ und S. 278–308 zum „System des harmonischen Weltalls“. Vgl. auch die „tausend Gemsgehörne, eines neben dem anderen, Reihe unter Reihe“ in Ludwig Ganghofers Schloß Hubertus (1895), in: Ders., Gesammelte Schriften. Volksausgabe. Erste Serie in zehn Bänden, Erster Band, Stuttgart 1906, I, S. 87. – Zur Funktion ‚historistischer‘ und ‚rhetorischer Katalogtexturen‘ in der ‚Frühen Moderne‘ siehe v. a. Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthard Wunberg, Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S. 134–149 (zu Vischer: ebd., S. 137–140). Siehe am Beispiel des Stopfkuchen Claus-Michael Ort, „‚Stoffwechsel‘ und ‚Druckausgleich‘. Raabes Stopfkuchen und die ‚Diätetik‘ des Erzählens im späten Realismus“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2003, S. 21–43 (mit einem Seitenblick auf Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel, 1888).

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III. Gefahren des Ikonischen und das Ähnlichkeitsdilemma Wie sich auch noch in Jensens Gradiva zeigt, problematisiert ‚realistisches‘ Erzählen das Verhältnis von Zeichen und innerdiegetisch bezeichnetem Real-Referenten mit Vorliebe anhand der Beziehung von (mimetischer) Bildkunst und Modell und inszeniert die als gefährlich tabuisierte und umso lustvoller beschworene Ko-Präsenz von Bild und Vorbild, die zeitlich begrenzt bleiben muss, soll sie nicht zur Tilgung des Bildes oder zum Lebensentzug des Modells führen.27 Beinahe zwanghaft perhorresziert und immer wieder durchgespielt werden darüber hinaus die Gefahren, die von einer gesteigerten Similarität zwischen ikonischen Zeichen – Gemälden, Skulpturen – und ihren Referenten auszugehen scheinen. Einerseits liegt ein Abgleich zwischen Bild und Modell, sei es menschlich belebt oder – wie in Stifters Nachkommenschaften (1864) – belebte und unbelebte Natur, im Interesse der Motiviertheit ‚realistischer‘ Zeichenbildung und garantiert deren Realitätsbindung (‚Motiviertheitspostulat‘);28 andererseits ist „semiotische Funktionalität nur durch die Absenz des Referenten gewährleistet, der durch zeichenhafte Repräsentanten gerade substituiert werden soll“ (‚Funktionalitätspostulat‘).29 Beide Anforderungen sind nur im Nacheinander erfüllbar, was die Präferenz des ‚Realismus‘ für temporalisierte Zeichenbeziehungen, also für Repräsentationen des individuell oder kollektiv Vergangenen, des Toten und von Geschichte, plausibilisiert. Zu lange Ko-Präsenz-Phasen etwa des Modellstehens oder -sitzens oder auch der Selbstrezeption des Modells lassen die Repräsentation von Wirklichkeit als funktionslos, weil verdoppelnd und zugleich zum Verwechseln übermotiviert, erscheinen (Verstoß gegen das ‚Funktionalitätspostulat‘),30 gänzlich fehlende Ko-Präsenz reduziert dagegen die Realitätsbindung des damit autonomisierten und ‚unrealistisch‘ unter- oder unmotivierten Zeichens (Übererfüllung des ‚Funktionalitätspostulats‘, Verstoß gegen das ‚Motiviertheitspostulat‘).31 Insbesondere Phasen der Ko-Präsenz von Bild und Modell bei Prozessen der Kunstproduktion befördern eine vorübergehende, manchmal letale Lebensreduktion des Modells und hinterlassen semisch ‚fressende‘, täuschend lebensechte Bilder, die die für den ‚Realismus‘ unverzichtbare Unterscheidung von ‚Kunst‘ und ‚Wirklichkeit‘ erschweren – paradox noch gesteigert 27 28 29 30 31

Vgl. dazu ausführlich Ort, Zeichen und Zeit. Vgl, ebd., S. 126–148. Vgl., ebd., S. 100. Vgl., ebd., S. 102–125. Vgl., ebd., S. 126–148.

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durch das Bildsujet des Todes oder Sterbens (letal bei Edgar Allan Poe, Life in Death/The Oval Portrait, 1842/45; Émile Zola, L’Œuvre, 1886; Franz von Gaudy, Das Modell, 1838; Richard Voß, Maria Botti, 1882; temporär z. B. bei Theodor Storm, Aquis submersus, 1876, vgl. ebd. auch anhand von Johannes’ Sohn die Variante des bereits toten Modells). Ist das ‚Modell‘ – wie das Dachsteingebirge oder die Moorlandschaft im Falle von Stifters Nachkommenschaften – allerdings nicht durch ein Bild substituierbar, ist umgekehrt die Zerstörung des Bildwerkes die Konsequenz. Auch die Rezeption der eigenen Abbildung führt zu partieller, aber schockartiger Mortifikation (‚Starre‘) des Betrachters und gewinnt vielfach die Qualitäten einer lebensgefährlichen Doppelgänger-Begegnung (stellvertretend seien genannt: Storm, Psyche, 1875; Eekenhof, 1879; Raabe, Frau Salome, 1875; Nataly von Eschstruth, Der Irrgeist des Schlosses, 1886). Festzuhalten ist, dass der ‚Realismus‘ die Ko-Präsenz von ‚Realität‘ und ‚Kunst‘ bzw. von ‚Referent‘ und ‚Zeichen‘ mit der semantischen Achse von ‚Tod‘ und ‚Leben‘ kreuzt und darüber hinaus latent tabuisiert, insofern er zwischen den oppositionellen Polen beider Achsen destruktive Exklusionsverhältnisse annimmt, die zwischen Modell und Bild innerdiegetisch jeweils nur instabile Mikro-‚Syntagmen‘ zulassen. In diesen werden ‚Bilder‘ (Zeichen) und abgebildete ‚Realität‘ (Bezeichnetes), die in (metaphern-analogen) Ähnlichkeitsrelationen stehen, im wörtlichen, weil räumlichen Sinn ‚kontiguisiert‘ – benachbart –, so dass Transformationen von ‚Leben‘ zu ‚Tod‘, von ‚Realität‘ zu ‚Zeichen‘ für einen begrenzten Zeitraum reversibel werden, ‚tote‘ Kunst also ihrerseits revitalisiert zu werden vermag. Anhand dieser temporär begrenzten Ko-Präsenz-Phasen, die andernfalls mit der Tilgung des Zeichens oder des Referenten endeten, verhandeln die Texte außerdem mythologisch vorkodierte Themen, deren Literarisierung sich nicht auf den ‚Realismus‘ beschränkt.32 Als Komplement zur Mortifikation des lebenden Modells erweist sich spätestens seit Ovids Metamorphosen die pygmalionische Belebung des ‚toten‘ Bildwerkes, das unter den begehrlichen Blicken des Betrachters zum Leben erweckt wird – sei es der Künstler selbst oder nicht (letzteres in der ‚Meretlein‘-Episode in Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich [2. Fassung, 1879/80]).33 Auch Kellers Das Sinngedicht (1882) und bereits Karl Leberecht Immermanns Der neue Pygmalion (1824) 32

33

Vgl. nur Mathias Mayer/Gerhard Neumann (Hrsg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg i.Br. 1997. Vgl. auch den Bilderkuss in Storms Im Schloß (1862), und die intrikaten Varianten in Paul Heyse, Kleopatra (1865), wo das belebte Bild der absenten eifersüchtigen Ex-Geliebten mit der Ehefrau konkurriert.

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spielen auf das Pygmalion-Narrativ mehr oder weniger explizit an. Das Begehren des männlichen Künstlers, (meist weibliche) Modelle zu finden und in ‚tote‘ Kunstwerke zu transformieren, deren (und sei es metaphorische) ‚Belebung‘ dann erneut gewünscht wird, thematisieren vor allem diejenigen Narrationen, deren Maler-Helden ihr geliebtes Modell zuvor nicht nur aus Todesgefahr und ‚Scheintod‘ erretten (wie in Gaudys Das Modell, 1838, und in Storms Psyche, 1875), sondern sich darüber hinaus die paradoxe Aufgabe stellen, Augenblicke des oft gewaltsamen Todes in mythologischen oder historischen Sujets ‚lebensecht‘ abzubilden (z. B. den Tod der Virginia in Gaudy, Das Modell, 1838, oder den Tod der Lucrezia in Richard Voß, Maria Botti, 1882) – was wiederum durch den rechtzeitigen Eifersuchtsmord am Modell selbst erleichtert wird und die vollständige Substitution von ‚Leben‘ durch ‚Kunst‘ besiegelt.34 Auch das im ‚Entsagungs-Realismus‘ nur selten suspendierte Exklusionsverhältnis von Sexualität bzw. natürlicher Prokreation und Kunstproduktion bildet ein Problem, dessen Thematisierung sich nicht auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränkt und spätestens seit Ovid mit Orpheus assoziiert ist: Dieser entwickelt sich bekanntlich erst nach dem Verlust seiner Gattin Eurydike zum emphatischen Künstler, dessen Gesang Eurydike aus dem Totenreich befreien kann und dessen späterer Status als zölibatärer Fortpflanzungsverweigerer eine weitere Steigerung seiner gottgleichen Kunstausübung ermöglicht. Liebesbeziehungen und Eheschließungen zwischen (weiblichem) Modell und (männlichem) Maler, die nicht zu Einbußen an sexueller oder künstlerischer Potenz führen, bleiben im ‚Realismus‘ in der Tat eher die Ausnahme, während die ‚Romantik‘ offenkundig nur selten die Ko-Präsenz von Kunstwerk und geliebtem Modell problematisiert.35 34

35

Zu ‚Wiederbelebung‘ und ‚Mortifikation‘ in ‚Neoromantik‘ und Fin de siècle vgl. Georg Leisten, Wiederbelebung und Mortifikation. Bildnisbegegnung und Schriftreflexion als Signaturen neoromantischer Dichtung zwischen Realismus und Fin de Siècle, Bielefeld 2000. Für den Zeitraum zwischen ‚Klassik‘ und ‚Realismus‘ vgl. exemplarisch Christian Begemann, „Kunst und Liebe. Ein ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus“, in: Michael Titzmann (Hrsg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 79–112, zu Gaudy ebd., S. 102f. Übrigens lässt schon Heinrich Heines Statuenund Bilderliebhaber in Florentinische Nächte (1837) kaum eine mortifizierende, nekrophile und pygmalionische Variante aus; komparatistisches Belegmaterial versammelt Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994. Vgl. aber E. T. A. Hoffmanns ‚Nachtstück‘ Die Jesuiterkirche in G. (1817), wo die Kunstproduktion erst nach der rätselhaften Tilgung der Frau wieder aufgenommen wird.

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Ausnahmen bestätigen indessen die Regel: Sowohl in Storms Psyche (1875) als auch in Eschstruths Roman Der Irrgeist des Schlosses (1886) glückt die Ehe zwischen dem Bildhauer und seinem ‚Modell wider Willen‘ nicht nur, sondern in beiden Fällen substituiert das Bildwerk die Geliebte nur vorübergehend und katalysiert schließlich deren Liebesbeziehung zum Bild-Produzenten, dem sie im Falle Storms darüber hinaus ihre Errettung vor dem Tod durch Ertrinken verdankt. Bei Eschstruth zertrümmert der Urheber einer verhüllten Marmorbüste der unerreichbar geglaubten Geliebten zwar eigenhändig das funktionslos gewordene Surrogat nach dessen heimlicher Entschleierung durch die schockierte Geliebte, aber auch in diesem Fall fungiert das ehemalige Modell zukünftig als ‚belebende‘ Muse für die künstlerische und natürliche (Re-)Produktion. In der Novelle Madonna (1896) von Max Grad (d.i. Maria Bernthsen, geb. Haubenschmied), die den Exklusionspostulaten des ‚Realismus‘ offenkundig nicht mehr unterliegt, produziert dagegen ein ‚Heiliger Geist‘ genannter und auf sakrale Sujets spezialisierter Maler Franz Xaver Geist nicht nur eine lebensecht erotisierte ‚Maria Empfängnis‘, sondern zeugt mit seinem Modell Maria darüber hinaus den Sohn Georg, der wiederum als Dreijähriger zusammen mit seiner Mutter einem Freskenmaler und Schüler Geists als Vorbild für dessen Bild der ‚Heiligen Jungfrau‘ dient. In diesem verschmelzen das ‚Ideal‘-Modell der ‚Heiligen‘ und die reale, auch diesmal erfolgreich umworbene und freizügig modellsitzende Geliebte („in meinen wirren Träumen vermengte sich die ‚Heilige Jungfrau‘ mit den irdischen Begriffen menschlicher Glückseligkeit“36). Die „ganze Verkörperung [seiner] Ideale“ des ‚Heiligen‘ und ‚Reinen‘ stimuliert das körperliche Begehren des Malers,37 mündet jedoch nach der (sexuellen) ‚Entweihung‘ des ‚Ideals‘ in „Reue“, „Schamgefühl“ und „Trauer“.38 Bildet die Harmonisierung ‚realistischer‘ (hoch mimetischer) Kunstproduktion mit sexueller Reproduktion für den älteren Maler kein Problem und erweist sich als lebbar, wie seine frivole Offenheit und seine amoralischen Tröstungen dem Jüngeren zu erkennen geben, so bleibt deren Erfolg bei diesem zweifelhaft. Schuldbewusst hat er Marien ex post entsagt und deren Bilder zu metonymischen Mahnmalen seiner und ihrer Unmoral stilisiert. Grads Novelle, die als Anstoß zu Thomas Manns Gladius dei (1902) gilt, nimmt somit eine zu Jensens Gradiva konträre Position am Ende des idealisierenden ‚poetischen‘ Realismus ein, dessen Postulate sie zwar – im Gegensatz zu Gradiva – einen jungen Maler immer36 37 38

Max Grad, Madonna, in: Neue deutsche Rundschau, VII/1896, S. 988–996, hier S. 993. Ebd., S. 994. Ebd., S. 995.

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hin durchbrechen lässt, ihn aber gleichwohl noch mit Entsagung und Schuldgefühlen bestraft.39 Demgegenüber beschreitet Das Geheimnis der Nürnberger Madonna. Eine seltsame Geschichte von Franz Hermann Meißner ([o. J.], nach 1921) eher die semiotischen Wege von Jensens Gradiva und führt vor Augen, auf welche Weise die Episteme des ‚poetischen Realismus‘ im frühen 20. Jahrhundert noch umfunktioniert und eingesetzt wird. Meißners ‚Geschichte‘ verfängt sich in einer Serie pygmalionisch phantasierter Ähnlichkeiten und rezeptiver und produktiver Bild-Belebungen und erzählt als Binnennarration einen Bildersturm auf die lasziv-erotisch geratene, betende Madonna eines jungen, sein Modell liebenden Nürnberger Schnitzers und Dürer-Zeitgenossen. Zwar sitzt auch hier die Angebetete bereitwillig Modell und scheut ihren eigenen Anblick im Kunstwerk nicht; da Dürer jedoch das ‚laszive‘ Sakralkunstwerk vor Ikonoklasten schützt, verschiebt sich die Aggression auf das lebende Urbild, das bei der entfesselten Hexenjagd zu Tode kommt. Modell und Bildwerk koexistieren also – anders als bei Grad und noch gut ‚realistisch‘ – nicht dauerhaft. Dies gilt darüber hinaus auch für die Rahmenerzählung in der Gegenwart, da es sich bei der Binnengeschichte lediglich um die atavistische Erzählung eines selbst nur halluzinierten Reisegefährten handelt, der wie ein Wiedergänger des Künstlers die tragische Produktionsgeschichte der Nürnberger Madonna enthüllt. Als Phantasien des zunächst noch vergeblich liebenden Rahmen-Protagonisten, der die nur visuell Geliebte similar und sukzessive pygmalionisch belebend auf seine Nürnberger ‚Lieblingsmadonna‘ projiziert, erfüllen sie gleichwohl ihren Zweck: Auch phantasierte oder erzählte Bildkunst führt – wie bei Jensen – zum eigentlich geliebten Ex-post-Urbild zurück. Und auch bei Meißner wird die phantastisch-okkulte Erzählvariante – trotz eines vage spiritistischen Deutungsangebotes – vermieden, nicht aber die pathologisierende: Der offenkundig 39

Der religiös, paranoid und misogyn eingefärbte Ikonoklasmus, wie er sich im Pseudo-Savonarola von Thomas Manns Gladius dei (1902) andeutet und in Georg Heyms Novelle Der Dieb (1911) am ‚irren‘ Protagonisten manifestiert, der als ‚Nachfolger‘ Christi die Welt vom weiblichen Bösen erlösen will und in metaphorischer Substitution deshalb die entwendete Mona Lisa Leonardo da Vincis mit dem Messer traktiert, dann aber zusammen mit dem Gemälde im selbst verursachten Feuer verbrennt, kann durchaus als post-‚realistische‘, weil nicht lebbare, autodestruktive Radikalisierung der latenten Bilderfeindlichkeit des ‚Realismus‘ interpretiert werden (zu den Erzählungen Thomas Manns unter diesem Aspekt siehe Claus-Michael Ort, „Körper, Stimme, Schrift: Semiotischer Betrug und ‚heilige‘ Wahrheit in der literarischen Selbstreflexion Thomas Manns“, in: Michael Ansel/Hans-Edwin Friedrich/Gerhard Lauer (Hrsg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin/New York 2009, S. 237–271).

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psychisch erkrankt aus (dem realen oder ebenfalls nur imaginierten?) Nürnberg zurückkehrende ‚Held‘ vermag nämlich nur durch die semiotisch unverdoppelte Realpräsenz der inzwischen glücklicherweise verwitweten, nun erfolgreich begehrten Frau geheilt zu werden. Minimal variierte ‚realistische‘ Strukturen, so ist festzuhalten, werden innerdiegetisch zu literarisch induzierten („Eichendorff oder Heyse“40) und selbsttherapeutisch wirksamen Imaginationen des Protagonisten umfunktioniert, der als von Nervenfieber und – wie Jensens Hanold – von Phantasieüberschuss geheilter nun ganz un-pygmalionisch mit der schon längst gekannten Frau ehelich vorliebnimmt. Führt in Gradiva der Umweg also vom realen Relief-Kunstwerk über die gesuchte phantasierte Referentin zur realen Ehepartnerin, so sind es bei Meißner vor allem phantasierte Kunstwerke und eine als mündlich imaginierte ‚realistische‘ Binnenerzählung, die zur eigentlich begehrten Frau zurückführen. Im Unterschied zu Meißners Binnenerzählung und zu den erwähnten Erzählungen von Voß und Gaudy, in denen das Leben der Geliebten der Kunst geopfert wird oder zumindest, wie in Storms Aquis submersus, die Liebesbeziehung scheitert, so dass auch in diesem Fall die Geliebte nur ikonisch zeichenhaft präsent bleibt, werden in der Rahmenerzählung Meißners umgekehrt die ikonischen Repräsentanten der Frau nach Erfüllung ihrer therapeutischen Ersatz- und Umwege-Funktion zwar marginalisiert (wie schon in Immermanns Der neue Pygmalion, in Storms Psyche oder in Jensens Gradiva), nicht aber materiell zerstört (wie allerdings in Stifters Nachkommenschaften und in Eschstruths Irrgeist des Schlosses). Ohne vor diesem Hintergrund die Kriterien für epochale Differenzen zwischen ‚Romantik‘, ‚Biedermeier‘, ‚Realismus‘ und ‚Früher Moderne‘ schon entscheidend schärfen zu können, ist allerdings zu vermuten, dass nicht so sehr die je verhandelten ‚Gefahren‘ ikonischer Verdoppelungen und imaginierter Bildbelebungen – erinnert sei nur an deren Variationen in E. T. A. Hoffmanns Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus eines Capuziners (1815/16) – den ‚poetischen Realismus‘ sowohl gegenüber der ‚Romantik‘ als auch gegenüber der ‚Frühen Moderne‘ abgrenzen, sondern vielmehr die jeweiligen Strategien der Vermeidung dieser semiotischen ‚Gefahren‘ sowie die eindeutig negative Bewertung und latente Tabuisierung der innerdiegetischen Ko-Präsenz von Zeichen und Referent. Die Gegenmittel, mit denen der ‚Realismus‘ die Gefahren hoch-mimetischer Bildlichkeit zu bannen versucht, also Strategien der Kontiguisierung von Bildern – allen 40

Franz Hermann Meißner, Das Geheimnis der Nürnberger Madonna. Eine seltsame Geschichte (o. J., nach 1921, Leipzig (o. J.), S. 3.

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voran Temporalisierung, Rahmung, Syntagmatisierung und Verschriftung41 – sind vor 1830 kaum in dieser Funktion zu beobachten und büßen nach 1900 entweder an Wirkung ein oder werden anders bewertet. Indikatoren hierfür sind u. a., so ist weiter anzunehmen, die in allen drei Phasen je unterschiedlich bedeutungstragenden und unterschiedlich stark präferierten, reversiblen oder irreversiblen Medienwechsel zwischen Sehen und Hören, von inneren oder äußeren Bildern zur Musik, von Musik zum Bild, von beiden zu hörbar mündlicher oder sichtbar schriftlicher Verbalisierung, sowie der damit korrelierte Funktionswandel erzählter Bilder und erzählten Erzählens.42 Darüber hinaus dürfte sich um 1900 ein veränderter Umgang mit metonymischen und vor allem synekdochischen Zeichen beobachten lassen. Zwar bevorzugen ‚realistische‘ Texte die über jeden Ähnlichkeitsverdacht erhabenen und metonymisch hoch motivierten ‚Relikte‘ und ‚Überreste‘, die pars-pro-toto-Relationen zum je fehlenden Ganzen oder zum je verlorenen Gebrauchskontext unterhalten und in denen ‚Zeichen‘ und ‚bezeichnetes‘ Ganzes einerseits temporal distanziert bleiben und andererseits doch partiell identisch sind. Zugleich spielt der ‚Realismus‘ aber auch mit deren Potential, das Fehlende imaginär zum vollständigen Bild zu ergänzen, metonymische Zeichen also zu re-ikonisieren und aus ihnen Ähnlichkeit mit dem synekdochisch repräsentierten Ganzen zu generieren – was nicht erst Hanolds archäologische Phantasien in Jensens Gradiva (1903) belegen, sondern auch schon in der Jevershallig-Episode in Storms Der Schimmelreiter (1888) anhand eines Pferdegerippes erprobt wird. In Felix Dahns historischem Roman Felicitas (1882) wird stattdessen die Binnengeschichte als Verschriftung eines konjekturalen Traumes der Historiker-Erzählinstanz inszeniert, die über einem unter Moos entdeckten, beschrifteten antiken Tonfragment ein-

41 42

Siehe dazu im Detail Ort, Zeichen und Zeit, S. 149–176. Auch dies kann hier nicht vertieft werden (vgl. dazu aber Carina Caduff, Die Literarisierung von Musik und bildender Kunst um 1800, München 2003; und zur literarischen Ekphrasis Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995). Dass ein harmonisch potenziertes, nicht-destruktives Verhältnis zwischen ikonischem Erzählanlass und narrativer Bildinterpretation ersteren zugleich zur Illustration der letzteren degradiert, verdeutlicht Georg Ebers’ Erzählung Eine Frage. Idyll zu einem Gemälde seines Freundes Alma Tadema, 1881 (zit. nach Stuttgart/Leipzig 51887): Ab der vierten Auflage erscheint die Erzählung mit „einer von Alma Tadema dem Ebersschen Idyll angepaßten neuen Darstellung seines Gemäldes ‚Eine Frage‘“ (Titelblatt), welches Lawrence Alma-Tadema mit den von Ebers erfundenen, griechischen Namen der Protagonisten ‚beschriftet‘ hat – Ebers’ Text kommt als Schrift synekdochisch ins Bild, und das Bild beglaubigt die Erzählung.

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schläft. Die Bildphantasie des Wissenschaftlers wird also von genau demjenigen Medium, nämlich Schrift, stimuliert, das ansonsten gerade zur Domestizierung innerer und äußerer Bilder eingesetzt wird.43 Wilhelm Jensens Novelle Der rote Schirm (1892) schließlich führt akribisch vor, wie der Protagonist über den metonymischen ‚Fetisch‘-Objekten der befreundeten Frau, die sie bei einem Stelldichein in der verwilderten Burgruine auf einer Steinbank vergisst (Handschuh) und wegwirft (eine stark duftende Orchidee), zunächst in Trance verfällt und sodann auf einem halb halluzinierten, halb real beschrittenen Weg nach unten in die „Trümmer-“ und „Unterwelt“ der Ruine gerät. Diese ist als Raum der Vergangenheit und der Toten semantisiert und re-präsentiert ihm bildlich die gespensterhafte Erscheinung seiner vergessenen, früh verstorbenen Kinderliebe.44 Die bedrohliche Grenzerfahrung de-vitalisiert den heiratsfähigen ehemaligen Offizier nach Rückkehr in die ‚reale‘ Welt zum lebenden ‚Toten‘: Als Dichter widmet er seine Kunst nun dem Totengedenken und bindet sich an die nekrophil imaginierte Tote („Ich liebe eine Tote, […]. Denn sie lebt in mir fort, […].“45), die er durch seine Dichtung zugleich zu ‚beleben‘ sucht.46 Der Text spielt erkennbar mit den okkulten und psychologischen Grenzen des ‚Realismus‘ und nutzt metonymische Zeichen als Katalysatoren für similare Phantasie-Bildproduktion. Umso konsequenter erzwingt er aber auch den semiotischen Rückweg vom inneren Bild in das ‚realistisch‘ favorisierte Zeichenparadigma ‚Verschriftung‘. Dass diese dabei als Medium nekrophiler ‚Belebung‘ fungiert, wird mit der partiellen Lebensreduktion des Lebenden ‚bezahlt‘.

IV. Gefährliche Wege nach ‚oben‘: Probleme der Metaphorisierung und Metonymisierung in Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde (1856), Wilhelm Jensen: Auf dem Vestenstein (1912) und Ludwig Ganghofer: Schloß Hubertus (1895) Da die erzählende Literatur an den zeitlichen Rändern des ‚Realismus‘ die vertikale (paradigmatisch ‚metaphorische‘) Achse der Semiose und ihr horizontales (syntagmatisch ‚metonymisches‘) Gegenstück innerhalb ihrer dargestellten Welten auch topographisch realisiert, das Zeichen-Kalkül des 43 44

45 46

Vgl. dazu auch Ort, Zeichen und Zeit, S. 219–221. Wilhelm Jensen, Der rote Schirm, in: Ders., Übermächte. Zwei Novellen, Berlin 1892, S. 1–115, hier S. 66–80. Ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 114.

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‚poetischen Realismus‘ also auf oppositionelle Positionen im Raum projiziert, liegt es nahe, die Verräumlichung semiotischer (metaphorischer oder metonymischer) Beziehungen auf ihre meta-semiotische Lesbarkeit und ihre Signifikanz für die jeweiligen Epochengrenzen hin zu befragen. Eine instabile, aber hochgradig ereignishafte Synthese aus symbolischer Überhöhung (Metaphorisierung) und ‚realistischer‘ Metonymisierung inszeniert in der Frühzeit des ‚Realismus‘ die Binnenerzählung in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde (1856), für die die Erzählinstanz des Rahmens „einunddreißig Jahre zurück[blättert]“,47 um mitzuteilen, was der alte Dachdecker Apollonius Nettenmair vom „schiefergedeckten Turmdach von Sankt Georg“48 ‚abliest‘ („jetzt liest er seine Vergangenheit davon ab“). Der räumlich dominante, panoptisch und akustisch beinahe allgegenwärtige Glockenturm von Sankt Georg49 unterliegt nach dem Todessturz von Apollonius’ Bruder Fritz bei der Reparatur des Kirchendachs einer Bedeutungsverschiebung zum schriftanalog ‚lesbaren‘ und metonymischen – individualisierten, temporalisierten – Zeichen. Dieses erinnert zunächst den überlebenden, von Schuldgefühlen traumatisierten Apollonius an seinen auf dem Turmdach manifest gewordenen handwerklichen Fehler und repräsentiert später, nach dessen Korrektur und nach erfolgreicher Rettung der Stadt vor Feuersbrunst, die problembeladene Lebensgeschichte des Retters – also auch die Binnenerzählung selbst. Am Ende versucht die Rahmenerzählinstanz eine säkularisierende und psychologisierende Re-Semantisierung des Kirchturmes, die sich allerdings erst nach der Lektüre der Binnenerzählung erschließt. Erst dann „kannst du es“ auch „[auf dem Turmdach von Sankt Georg] lesen“,50 welche quasi-emblematische Bedeutungsanreicherung der Turm innerhalb seines narrativen Kontextes erfährt: Wie die subscriptio des Rahmenerzählers „Und in diesem Sinne sei dein Wandel: Zwischen Himmel und Erde!“51 ex post postuliert, repräsentiert der religiös de-semantisierte Kirchturm nun nicht mehr ein metaphysisch aufgeladenes ‚Zwischen-Himmel-und-Erde‘, sondern als Metonymie der Geschichte des alten Apollonius nur mehr eine innerweltliche und subjektivierte, also ‚realistisch‘ reduzierte Lesart: Nicht der Himmel bringt das Glück; der Mensch bereitet sich sein Glück und spannt seinen Himmel selber in der eigenen Brust. Der Mensch soll nicht sorgen, 47 48 49 50 51

Otto Ludwig, Zwischen Himmel und Erde (1856), Stuttgart 1977, S. 9. Ebd., S. 9. Vgl. etwa ebd., S. 9, S. 10, S. 11, S. 21, S. 29 u. S. 79. Ebd., S. 259. Ebd.

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daß er in den Himmel, sondern daß der Himmel in ihn komme. Wer ihn nicht in sich selber trägt, der sucht ihn vergebens im ganzen All.52

Zwischen Himmel und Erde verzichtet zwar nicht auf generalisierbare Bedeutungszuschreibungen, mündet aber gleichwohl im metonymischen Bedeutungsverlust eines zunächst noch religiös konnotierten Bildbereichs. Der Umbau vom metaphorischen zum metonymisch profanierten Zeichen, das die Geschichte dieser semiotischen Transformation selbst und eine weltimmanent zur Ethik abgeschwächte ‚Moral‘ repräsentiert, die der Rahmenerzähler aus dem tödlichen Ende des Bruderzwists und der Lebensgeschichte des introvertiert anankastischen Triebunterdrückers und Ordnungsfetischisten Apollonius ableitet, kündigt sich jedoch schon sehr viel früher an. Zwar werden anfangs die Glockentöne, die metonymisch für ‚Heimat‘ stehen, mittels Vergleich zum machtvollen Bild der ‚Mutter‘ hochstilisiert und zu similaren Signifikanten umdefiniert („die Klänge der St. Georgenglocken aus der tief unten liegenden Stadt steigen herauf […] und dringen durch Baum und Busch unhemmbar wie eine Mutter, die dem kommenden Liebling entgegenfliegt. Heimat!“53), und eine metaphorische ‚Himmel-Hölle‘-Bildlichkeit54 semantisiert die ‚Himmel-Erde‘-Opposition religiös.55 Der Dachdecker wird zudem zur Allegorie der conditio humana aufgewertet: „Zwischen Himmel und Erde ist des Schieferdeckers Reich. Tief unten das lärmende Gewühl der Wanderer der Erde, hoch oben die Wanderer des Himmels […]“.56 Der manifesten metaphysischen Allegorisierung und Idealisierung des Schieferdeckers – „weil der Schieferdecker das sichtbare Bild ist, wie die Fürsehung den Menschen in ihren Händen hält“57 – unterlegt die Binnenerzählung jedoch spätestens dann metonymische Zeichen, als Apollonius im „Kampfe seines Gewissens mit den Bildern seines sündhaften Traums […] in seiner Zerstreuung“58 auf dem Turmdach von St. Georg eine Bleiplatte 52 53 54 55 56

57 58

Ebd. Ebd., S. 10 (Hervorh. CMO). Vgl. ebd., S. 85, S. 133, S. 152 u. S. 174. Vgl. ebd., S. 150, S. 153, S. 170 u. S. 204: „Teufel“ und „Engel“. Ebd., S. 57–60, hier S. 57. Vgl. auch die gefährliche Kehrseite von Similarität in der rekurrenten Metaphorisierung von ‚Spinnengewebe‘ (zuerst S. 10f.; u. a. S. 48: „wie ein schmutziges Spinnengewebe“) und von „Nebel“, der die Unterscheidung von Außenwelt und Innenwelt erschwert – als „Bild dessen, was in Fritz Nettenmairs Seele vorging, ein so ähnlich Bild, dass er nicht wusste, sah er aus sich heraus oder in sich hinein“ (S. 128, Hervorh. CMO). Siehe auch S. 215f.: „Nebelmänner“ und „Nebelleichen“. Ebd., S. 166 (Hervorh. CMO) [ähnlich: S. 151]. Ebd., S. 208.

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einzusetzen vergisst59 – als „hämmerte er einen bösen Zauber zurecht, und die Arbeit könnte nicht taugen“.60 Als die Konkurrenz der Brüder nach dem unmittelbar folgenden Angriff von Fritz mit dessen Sturz vom Turm61 tödlich endet, „wohnt zu Sankt Georg der Schwindel“,62 wodurch vor allem der Aufstieg zur Turmspitze für Apollonius ein lebensgefährliches Risiko birgt, so dass er die Korrektur seines sichtbaren Fehlers aufschiebt. Die Vergleiche dieses Fehlers mit einem ‚bösen Fleck‘, mit ‚offener Wunde‘ und ‚leerem Grab‘ bedienen sich bereits metonymischer Zeichen (‚Fleck‘, ‚Wunde‘, ‚Grab‘) und unterstreichen, dass der Kirchturm und sein Glockengeläute durch die fehlerhafte und zu schließende Dach-‚Lücke‘ für Apollonius selbst zum metonymischen materiellen Zeichen (präsente Wirkung) seiner Schuldgefühle und seines Fehlers (vergangene Ursache) wird und ihn als dessen Verursacher stigmatisiert und pathologisiert („für seine Krankheit gab es keinen Arzt. […] In dem Augenblick, wo der Bruder neben ihm vorbei in den Tod stürzte, hatten die Glocken unter ihnen zwei geschlagen. Von da an erschreckte ihn jeder Glockenton.“63): Tag und Nacht verfolgte ihn das Bild der Stelle, wo er die Bleiplatte einzusetzen und den Zierat festzunageln vergessen. Die Lücke war wie ein böser Fleck, ein Fleck, wo eine Untat begonnen oder vollbracht ist und kein Gras wächst, kein Schatten wird; wie eine offene Wunde, die nicht heilt, bis sie gerächt ist; wie ein leeres Grab, das sich nicht schließt, eh’ es seinen Bewohner aufgenommen hat. War nur die Lücke geschlossen, dann hatte der Zauber keine Macht mehr. […]. Die Lücke rief nach ihm, und nur er konnte sie schließen […].64

Die ‚Lücke‘ bedroht also nicht nur die räumliche Unversehrtheit des Turmes und die ‚syntagmatische‘ Kohärenz seines Daches, sondern transformiert den Kirchturm zugleich irreversibel zum metonymisch temporalisierten und ‚lesbaren‘ Zeichen, das zunächst auf Apollonius’ Fehlleistung verweist, nach der dramatischen Schließung der Lücke aber pars pro toto die gesamte Geschichte seiner Rettungstat und Selbstheilung repräsentiert. Als sich Apollonius’ Befürchtung während eines winterlichen Gewittersturmes, es könne „in den Turm […] von Sankt Georg [einschlagen], dort in die Lücke, und [er] müßte hinauf und es schlüge zwei und – “,65 bewahrheitet („‚Fort nach Sankt Georg! Jo! Hilfe! Feuerjo! […]‘. […]. ‚Wo ist der Netten59 60 61 62 63 64 65

Vgl. ebd., S. 209. Ebd. Vgl. ebd., S. 211. Ebd., S. 225. Ebd., S. 224. Ebd., S. 225f. (Hervorh. CMO). Ebd., S. 235.

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mair? Kann einer helfen, ist’s der Nettenmair. […]. Auf Sankt Georg!‘“66), wird ein Alptraum des Dachdeckers wahr.67 Unter den Augen von ‚Hunderten‘ von Zuschauern68 erweist sich die öffentliche Fremd- und Selbstrettungstat des Apollonius, die ihn selbst therapiert und zugleich Kirche und Stadt vor einer Feuersbrunst bewahrt,69 als ein Wunder ‚zwischen Himmel und Erde‘, also als „etwas, das ein Traum wäre und doch Wirklichkeit zugleich“.70 Die Utopie des ‚poetischen Realismus‘, Zeichen und Realität zumindest für den Moment eines semiotischen kairos zur Deckung zu bringen, wird jedoch nicht nur rezeptionsästhetisch mise en abyme mit Hilfe der dargestellten Zuschaueraffekte abgesichert und integriert nach überstandener Gefahr die Stadt kurzzeitig zu einer quasi-religiösen Gemeinschaft („Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche und Sturm und Donner die riesige Orgel darin“71). Diesen kairos, in dem räumliche Höhe und symbolische Überhöhung mit der gefährlichen und profanen Arbeit des Feuerlöschens an der metonymischen ‚Lücke‘ zusammenfallen, inszeniert der Text auch in der Darstellung der Rettungstat selbst und verknüpft dabei mythologische und sexualsymbolische Bedeutungen auf subtile Weise, so dass an dieser stark ereignishaften Textstelle nicht nur Sakralisierung und Sexualisierung, sondern auch Metaphorik („Traum“) und Metonymik („Wirklichkeit“) enggeführt werden.72 Nettenmairs Arbeit gegen das sich ausbreitende Feuer weist nämlich nicht nur sexuelle Konnotationen auf, sondern teilt darüber hinaus Merkmale mit der Ikonographie eines prominenten Vorgängers als Stadt- und Lebensretter, der als Namenspatron der Pfarrkirche und legendärer Drachentöter von Anfang an zeichenhaft präsent ist. Dies stiftet einen sakralen Konnotationshorizont, dem nicht nur Fritz Nettenmairs jüngster Sohn, der „kleine Georg“,73 angehört, sondern der die Rettungstat des Dachdeckers Apollonius ‚auf Sankt Georg‘ implizit zum metaphorischen Äquivalent der Erlösungstat des Heiligen Georg hochstilisiert.74 Apollonius als metaphorischer ‚Georg 66 67 68 69 70 71 72 73 74

Ebd. Vgl. ebd., S. 243 u. S. 245. Ebd., S. 247. Siehe ebd., S. 242 u. S. 248. Ebd., S. 247. Ebd., S. 248. Ebd., S. 247. Ebd., S. 203. Schon zuvor erscheint Apollonius seiner Schwägerin Christiane „wie ein Heiliger“ und „wie in einer Gloriole“ (ebd., S. 131). Und insofern sich Apollonius zum Mörder seines Bruders träumt, mit dem er um Christiane konkurriert (ebd., S. 207–208; S. 230), träumt er sich auch zu ihrem Befreier, der sie vom gewalttäti-

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auf Sankt Georg‘ befindet sich zwar in einer metonymisch räumlichen Beziehung zum Kirchturm von St. Georg, der seinerseits metonymisch auf den Heiligen Georg verweist. Er steht aber zugleich auch in semantischen Ähnlichkeits- und Analogie-Relationen zur Tötung des Drachens mit Hilfe der Lanze, löscht er den Brand doch mit Schlauch und Feuerspritze, deren Strahl sich unter die Schiefer ‚einzwängt‘ und in das Innere des Turmes eindringt, so dass sich eine Homologie zwischen Drachentötung und Feuerlöschen ergibt (Drache ~ Feuer / Lanze ~ ‚Rohr‘ des ‚Schlauchs‘ / Lanzenspitze ~ ‚Strahl‘ der ‚Spritze‘): Er ergriff das Rohr des kürzesten Schlauchs, dessen unteres Ende der Zimmermann einschraubend an der Spritze befestigte, und wand sich den obern Teil um den Leib.75 Apollonius zog die Klaue aus dem Gürtel; wenig Stöße mit dem Werkzeug, und die Schiefer fielen in die Tiefe. […]. Zwei Züge an dem Schlauch, und die Spritze begann zu wirken. Er hielt das Rohr erst gegen die Lücke, um die Verschalung oberhalb des Brandes noch geschickter zum Widerstande zu machen. Die Spritze bewies sich kräftig; wo ihr Strahl unter den Rand der Schiefer sich einzwängte, splitterten diese krachend von den Nägeln. Die Flammen des Brandes knisterten und hüpften zornig unter dem herabfließenden Wasser; erst dem unmittelbar gegen sie gerichteten Strahl gelang es, und auch diesem mehr durch seine erstickende Gewalt als durch die Natur seines Stoffes, die hartnäckigen zu bezwingen.76

Der elementare Kampf der Naturgewalten ‚Wasser‘ und ‚Feuer‘ lässt darüber hinaus unverhohlen sexuelle – phallisch-orgasmische – Konnotationen erkennen, die ebenfalls in eine Kette metonymischer Verweise integriert sind, so dass die metaphorische Semiose für einen Augenblick mit der metonymischen zur Deckung kommt: Einerseits bildet die Sexualsymbolik genau dasjenige metaphorisch ab, worauf Apollonius gegenüber der von ihm begehrten Schwägerin Christiane auch dann noch verzichtet, als sie zur Witwe geworden ist; andererseits bekämpft er im lodernden Feuer Auswirkungen seiner Leidenschaften, die indirekt und metonymisch von ihren Spätfolgen

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gen Ehemann und Totschläger der Tochter (ebd., S. 134 u. S. 139) erlöst – wie der Heilige Georg die Prinzessin vom Untier. Fritz’ Mordabsichten gegenüber Apollonius werden dagegen auf einen alttestamentlichen Konnotationsraum verpflichtet (ebd., S. 172: „‚Kain, wo bist du?‘“). – Zur Legende und Ikonographie des Heiligen Georg siehe Sigrid Metken, „Den Drachen besiegen – Engel und Heilige im Kampf gegen das Böse“, in: Diözesanmuseum Freising (Hrsg.), Sanct Georg. Der Ritter mit dem Drachen, Lindenberg 2001, S. 38–42, und Sylvia Hahn, „Die Ikonographie des hl. Georg“, in: ebd., S. 77–91. Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, S. 242 (Hervorh. CMO). Ebd., S. 244 (Hervorh. CMO).

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repräsentiert werden. Der Brand an dieser Stelle des Daches verweist als Wirkung auf eine seiner Ursachen, also auf die handwerkliche Fehlleistung Apollonius’, die ebenfalls ihre Ursache bezeichnet, nämlich die affektive ‚Zerstreutheit‘ des Dachdeckers, der das metaphorische ‚Feuer‘ seiner „Gemütsbewegungen“77 – ‚böse Gedanken‘ gegenüber dem Bruder, begehrliche gegenüber Christiane („sündhafter Traum“78) – nicht zu unterdrücken vermag. Der Lanze des Drachentöters, die die animalische und destruktive Macht des Untieres bricht, entsprechen hier also ‚Schlauch‘, ‚Rohr‘, ‚kräftige Spritze‘ und starker ‚Strahl‘, mit denen Apollonius die brennende Turmspitze kühlt, das Feuer löscht und dabei „das Rohr gegen die Lücke hält“79 – also gegen ein selbstproduziertes Symptom seines Seelenzustandes. Erst die äußerlich sichtbare Auswirkung seines durch unterdrücktes erotisches Begehren verursachten Fehlers, das durch Blitzschlag in der ‚Lücke‘ entzündete Feuer, kann Apollonius realiter besiegen – allerdings nur in einem sexuell konnotierten eruptiven Akt, der das zu tilgende ‚Feuer‘ in der ‚Lücke‘ zugleich erotisch auflädt und die auf metonymischen Umwegen ‚verdrängte‘ Trieb-Ursache metaphorisch vergegenwärtigt. Die Pflichterfüllung des ‚Löschens‘, das den Naturgewalten trotzt und sie in die Schranken weist, bezeichnet also zugleich noch ihr Gegenteil, nämlich den dadurch substituierten Sexualakt. Die Doppeldeutigkeit der Szene beruht auf der gleichzeitigen Anwesenheit sexueller und mythologisch-sakraler Analogien und metonymischer Ursache-Wirkung- und Teil-Ganzes-Beziehungen.80 Gerade metonymische Substitutionen transportieren jedenfalls, so ist festzuhalten, eine similare Symbolik, die genau das weiterhin repräsentiert, was hinter räumlichen und kausalen Kontiguitäten zu verschwinden droht. Zwar ermöglicht allein der metonymische Umweg über das selbstgeschaffene fehlerhafte ‚Werk‘ des Turmdaches und dessen Reparatur die langsame Selbstheilung Apollonius’ und die selbsttherapeutische Erzählung seiner 77 78 79 80

Ebd., S. 224. Ebd., S. 226. Ebd., S. 244. Damit scheint auch der Zielkonflikt zwischen semiotischer ‚Motiviertheit‘ und ‚Funktionalität‘ (siehe Ort, Zeichen und Zeit, S. 95–102) zumindest temporär suspendiert: Insofern der Text an dieser Stelle nämlich ‚realisiert‘, was er bedeutet, sind die rudimentären Referenten dieses ‚Bedeutens‘ einerseits semisch noch präsent genug, um motivierte Bezeichnung (aber ohne Duplikation) zu ermöglichen, und zugleich auch absent (d. h. implizit) genug, um die Funktion der Zeichenbildung – Repräsentation absenter Realität – sicherzustellen (zur partiellen similaren Motiviertheit von Namen in Fontanes Cécile (1886) vgl. auch ebd., S. 162–165.

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„innere[n] Geschichte“81 gegenüber dem Bauherrn.82 Zugleich erweisen sich aber Heilung und Verbalisierung als Folgen einer ambivalenten Krisis, die sich metaphorische Sexualität einmalig und nur dann zugesteht, wenn diese paradoxerweise im Dienste ihrer zukünftigen und endgültigen Unterdrückung steht – das ekstatische Löschen des Feuerbrandes ist sexuell konnotiert, das zu Löschende jedoch ebenfalls.83 Die Korrektur von Apollonius’ Fehler und die erfolgreiche Bekämpfung seiner Folgen tilgen schließlich auch das sichtbare Zeichen seiner vermeintlichen Schuld am Tode des Bruders und seines ‚unmoralischen‘ Begehrens Christianes, so dass das nun ‚lückenlos‘ wiederhergestellte „Turmdach von Sankt Georg“84 nur mehr als ein Zeichen unter vielen metonymisch auf Apollonius’ Triebunterdrückungs-, Symptombildungs- und Heilungsgeschichte verweist. Die temporären metaphorischen (sexuellen, sakralmythologischen) Überkodierungen des Turmes von Sankt Georg werden am Ende vom Rahmenerzähler ausgeblendet und behindern dessen abschließendes Postulat einer säkularisierten Ethik der Selbstverantwortlichkeit nicht mehr.85 Die vertikale Achse ‚zwischen Himmel und Erde‘ verliert ihre

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Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, S. 255. Dass nicht nur die „Georgenglocken“ mit einer „Mutter“ (ebd., S. 10) verglichen werden, sondern auch der väterliche Bauherr, der den unterkühlten Apollonius nach seiner Heldentat in der „Türmerstube“ sich auszuziehen nötigt und „wie eine Mutter an seines Lieblings Bett“ sitzt (ebd., S. 250), sollte nicht zu psychoanalytischen Spekulationen verleiten; inzestuöse Zusatzbedeutungen werden allerdings schwerlich auszublenden sein. Dass zumindest der frühe Realismus noch zu implizit paradoxen, weil eruptiven Verfahren der Triebunterdrückung nach Art des alchemistischen similia similibus solvuntur tendiert, mag die Selbsttilgung der auf einem Dampfboot fliehenden Verbrecher in Friedrich Gerstäckers Die Flußpiraten des Mississippi (1848) illustrieren, die einer selbst verschuldeten Kesselexplosion zum Opfer fallen; die führerlose „wilde zuchtlose Schar“ versagt auch bei der „Leitung dieser Maschinen“ (zit. nach: Friedrich Gerstäcker, Die Flußpiraten des Mississippi [1848], Frankfurt/M. 1980, S. 519), so dass der Verlust moralischer und sozialer Kontrolle durch ein technisches Steuerungsdefizit sowohl metaphorisch abgebildet als auch final (metonymisch) ‚kuriert‘ wird; zur vitalistischen und psychologischen Semantik der physikalischen Bildlichkeit von ‚Überdruck‘ und ‚Druckausgleich‘ im Realismus vgl. Ort, „‚Stoffwechsel‘ und ‚Druckausgleich‘“, S. 32–39 u. S. 42f. Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, S. 259. Vgl. ebd. – Dazu und zum Verhältnis von Moral und Psychologie siehe auch schon Jörg Schönert, „Otto Ludwig: ‚Zwischen Himmel und Erde‘ (1856). Die Wahrheit des Wirklichen als Problem poetischer Konstruktion“, in: Horst Denkler (Hrsg.), Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 153–172, besonders S. 157–160 u. S. 164–167. Zur Säkularisie-

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metaphysische oder religiöse Bedeutung zugunsten einer psychologisch internalisierenden: „dein Wandel: Zwischen Himmel und Erde! [sei] [in diesem Sinne]“86 – ein weltimmanenter, innerpsychischer und selbstverantwortlicher. Zwar „[kennt] der Leser alles, was […] durch Herrn Nettenmairs Seele geht“ und was er „abliest vom Turmdache von Sankt Georg“,87 wenn er nach einunddreißig Jahren hinaufsieht. Was aber das Leser-„du“ in Kenntnis der Binnengeschichte auf „dem Turmdach von Sankt Georg [lesen] [kann]“,88 vermitteln auch andere metonymische und synekdochische Repräsentanten der ‚Welt‘, ist also semiotisch nicht mehr ausschließlich an den Sankt-Georgs-Turm gebunden. Dieser rückt vielmehr in eine heterogene Serie nonverbaler Bedeutungsträger ein, deren syntagmatische Aufzählung zwar noch die Vielfalt der Welt ahnen lässt, deren Semantisierung zu ‚rufenden‘, ‚singenden‘, ‚flüsternden‘, ‚sagenden‘ und implizit ‚schreibenden‘ Medien ethischer Botschaften jedoch den Preis bloßer Metaphorik zahlt: Die Glocken rufen es, das Grasmückchen singt es, die Rosen duften es, das leise Regen durch das Gärtchen flüstert es, die schönen greisen Gesichter sagen es, auf dem Turmdach von Sankt Georg kannst du es lesen: […].89

Auch im letzten, posthum erschienenen Roman von Wilhelm Jensen – Auf dem Vestenstein. Ein historischer Roman (1912)90 – kulminiert die im Südtirol der Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts angesiedelte histoire in einem hochrangigen Ereignis „zwischen Himmel und Abgrund“,91 das eine ekstatische („wie ein Nachtwandler“;92 „einem Irrsinnigen gleich“93), die Grenze von ‚Leben‘ und ‚Tod‘ berührende, übermenschliche vertikale Grenzüberschreitung des Protagonisten Willanders94 mit einer altruistischen Rettungstat verbindet.95 Durch das Herablassen der Zugbrücke von innen öffnet er für die

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rung christlicher Inhalte in Zwischen Himmel und Erde vgl. ebenfalls Heinz Wetzel, „Otto Ludwigs ‚Zwischen Himmel und Erde‘: Eine Säkularisierung der christlichen Heilslehre“, in: Orbis Litterarum, 27/1972, S. 102–121. Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, S. 259. Ebd., S. 253. Ebd., S. 259. Ebd. Im Folgenden zitiert nach Wilhelm Jensen, Auf dem Vestenstein. Ein historischer Roman (1912), Hamburg (o. J.). Ebd., S. 201. Ebd., S. 220. Ebd., S. 210. Vgl. ebd., S. 196–208. Vgl. ebd., S. 210.

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Verbündeten die auf der unzugänglichen Felsnadel des Vestensteins situierte Flucht- und Raubburg, so dass nicht nur sein dort gefangener Ziehvater, sondern auch das Gemeinwesen von der auf Vestenstein ansässigen Raubrittersippe der Übelhörs und Teitenhofens befreit werden kann. Übelhörs werden als Nachkommen der vermeintlich hässlichen, libertinen Gräfin Margarete von Tirol, genannt „Maultasche“,96 frühzeitig moralisch diskreditiert und seit der Heirat von Katharina Übelhör mit dem zwielichtigen, verarmten Junker Christoph ‚Stott‘ Teitenhofen auch diabolisiert („‚Junker Voland‘“97). Wie der verteufelte Fritz Nettenmair stürzen Katharina und Christoph nach Streit und Zweikampf angesichts ihrer Verhaftung gemeinsam über die Brüstung in die Tiefe. Im Gegensatz zur Selbstheilung des erwachsenen Apollonius handelt es sich hier allerdings um die Mannbarkeitsprobe des adoleszenten Willanders, eines illegitimen Enkels Erzherzog Sigismunds und Nachkommen von Oswald von Wolkenstein, der seit Kindheit von Träumen des Hinaufkletterns und Abstürzens verfolgt wird („zwischen Himmel und Abgrund“98) und dessen Schwindelattacke in der Steilwand von der „Traumerscheinung“99 seiner Kinderliebe Luitgard beendet wird, deren „Gestalt“ und „Antlitz“ vor „seinen geschlossenen Augen wie greifbar [steht]“.100 Willanders verfällt nach seiner Tat in einen todesnahen, bewusstlosen Zustand,101 aus dem er jedoch erwacht, um – im Unterschied zu Apollonius – Luitgard, die verstoßene Nichte Katharina Übelhörs, zu heiraten. Statt einer ‚Reparatur‘ am Sakralsymbol, das danach zum schriftanalogen, weil ‚lesbaren‘ Zeichen von Nettenmairs Geschichte herabgestuft wird, inszeniert Auf dem Vestenstein als Folge von Willanders’ wagemutiger Steilwandkletterei die fast vollständige Tilgung und radikale Metonymisierung der Burg auf dem Vestenstein, die zum Synonym für kriminell gesteigerte feudale Ausbeutung geworden ist. Sie endet als synekdochisches Relikt ihrer selbst: „als vollständige Trümmerstätte, […] Mauerreste und ein übriggebliebenes Bergfriedstück steigen noch in die Luft auf“.102 Und wie die Rettungstat des Apollonius wird die übermenschliche ‚Arbeit‘ des Aufstiegs zur Burg mit similaren Zeichen korreliert, die jedoch als ‚Traumbilder‘ und Erinnerungen dem Bewusstsein des Protagonisten selbst entspringen; des96 97 98 99 100 101 102

Ebd., S. 84. Ebd., S. 43. Ebd., S. 104. Vgl. ebenfalls ebd., S. 119f. u. S. 201. Ebd., S. 202. Ebd. Vgl. ebd., S. 201 u. S. 218–220. Vgl. ebd., S. 234 (ähnlich schon ebd., S. 12f.).

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sen unwiederholbar singulärer Aufstieg erweist sich so als ein Weg der (Selbst-)Erkenntnis und Selbstinterpretation, auf dem Metaphorisierung und Metonymisierung vorübergehend zusammenfallen.103 Was Apollonius ex post vom Georgsturm ‚abliest‘, erschließt sich Willanders bereits auf seinem Initiationsweg ‚nach oben‘, der zugleich als ein sprachanaloges Syntagma inszeniert wird, dessen Leerstellen und Erinnerungslücken sukzessive gefüllt werden.104 Kognitive, genealogische und topographische ‚Lücken‘ zu schließen, Kohärenz zu sichern, das Unverbundene zu verbinden, unzugängliche Räume zu öffnen, um deren Ereignishaftigkeit ebenso zu tilgen wie ihre metaphorische (hier diabolische) Überhöhung – also eine kohärente, aber vergängliche ‚Welt‘ ohne dauerhafte similar-symbolische Integration ihrer kontingenten Zeiten und Räume –, erscheint als angestrebter Soll-Zustand der ‚Welt‘ und

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Parallelen zu Robert Musils Novelle Die Portugiesin (in: Drei Frauen [1924], zit. nach: Gesammelte Werke, Bd. 6: Prosa und Stücke, Adolf Frisé (Hrsg.), Reinbek 1978, S. 252–270) drängen sich auf: Der kränkelnde Südtiroler Schloßherr von Ketten verwirklicht seinen phallischen ‚Knaben‘- und Mannbarkeitstraum, die „unersteigliche Felswand unter dem Schloss hinauf[zu]klettern“ (ebd., S. 268), verspätet, als ein „Gottesurteil“ (ebd.) und beinahe unbewusst: „er musste […] ein Drittel der Wand schon unter sich haben. Da wachte er […] auf und wusste, was er getan hatte“ (ebd., S. 269). Er verlässt die „auf einer fast freistehenden lotrechten Wand“ liegende Burg (ebd., S. 252) allerdings nur zum Zweck seiner wunderbaren Selbstrettung (ebd., S. 268f.), um unten als „Toter“ oder oben als Gesundeter und „Teufel“ (ebd., S. 269) wiederzukehren („begannen bei diesem Kampf mit dem Tod Kraft und Gesundheit in die Glieder zu fließen“, ebd.) und als gottgleich ‚Auferstandener‘ seine ihm entfremdete, portugiesische Ehefrau zurückzugewinnen. Im Unterschied zur ‚realistischen‘ Episteme sind von dieser mutwilligen Grenzüberschreitung jedoch weder metonymische bzw. synekdochische Zeichen betroffen, noch problematisiert der Text deren Verhältnis zu Prozessen der Metaphorisierung. Er forciert stattdessen die metaphorische Semantisierung von Kettens als ‚Teufel‘ (ebd., S. 258 u. S. 270) und bietet einen blasphemisch pervertierten (ebd., S. 270: „Gotteslästerung“), christologischen Deutungsrahmen für das Geschehen an (ebd., S. 268: „Das Zeichen war dagewesen, aber wie war es zu deuten, und was sollte geschehen?“). Die christusanaloge „Menschwerdung“ (ebd., S. 267) und das „Martyrium“ (ebd., S. 266) der kranken und vom Knecht erschlagenen Katze (ebd., S. 268) nimmt mit der wundersamen Wiederkehr Kettens eine heilsgeschichtliche und erlösende Wendung, die ihm und seiner Frau eine lebbare Zukunft zu eröffnen scheint: „Nicht er, sondern die kleine Katze aus dem Jenseits würde diesen Weg wiederkommen, schien ihm.“ (ebd., S. 268) und: „‚Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Katze werden‘, sagte die Portugiesin“ (ebd., S. 270). Solch indirekte Apotheose widerfährt weder Apollonius noch Willanders. Vgl. Jensen, Auf dem Vestenstein, S. 196–210.

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als das Ergebnis von Willanders Ankunft auf dem Vestenstein. Dies mutet – am Ende des ‚Realismus‘ – noch resignativer an als der Ziel-Zustand in Zwischen Himmel und Erde, zumal die rahmende und kommentierende Erzählinstanz bei Jensen auf jegliche ethisch verallgemeinernde subscriptio verzichtet und stattdessen mit der zukünftigen Spurlosigkeit des Geschehens und Überlieferungslücken kokettiert („keine Chronik meldet davon“, „keine Überlieferung“)105 und im letzten Satz Gedächtnisverlust spekulativ unter Hinweis auf die Lotophagen der Odyssee mythisiert.106 Zugleich steht – allerdings weniger konsequent als in Raabes Altershausen – die Kohärenz sprachlicher Welt-Repräsentation zur Disposition. Die Parallelisierung der vertikalen Achse in der histoire und des horizontalen Syntagmas im discours spielt nicht nur mit der „Unmöglichkeit“,107 den Aufstieg zu vollenden – jeder Schritt könnte der letzte sein –, sondern auch mit einem Ich- und Bewusstseinsverlust Willanders’. Die verbalisierte inkohärente Begleitstimme, die seinen inneren Erkenntnisweg beschreibt, rettet ihn zwar schlussendlich vor tödlichem Absturz, zunächst aber folgen die disparaten Inhalte seiner Gedankenrede nur syntagmatisch (‚metonymisch‘), also ohne garantierte semantische Anschlussfähigkeit aufeinander.108 Räumliche Kohärenzsicherung – Willanders knüpft sich kurz vor dem Ziel einen lebensrettenden Strick aus Streifen seines Wamses –, gedankliche ‚Verknüpfung‘ und die Schließung von Wissenslücken fallen zusammen – Sprache wird verräumlicht, Raumüberwindung versprachlicht, ‚Denken‘ und ‚Klettern‘ unterbrechen und ergänzen einander: er hatte […] einen Strick. Mit Blitzkürze knüpfte sich ihm der Gedanke dran, sie war damals auch jung gewesen, und er wusste auf einmal, sie müsse die Mutter Frau Helenas [der Mutter Luitgards; CMO] sein. Doch weiter ging sein Denken nicht, er schwebte schon an dem Flechtwerk.109

In Ludwig Ganghofers Schloß Hubertus. Roman in zwei Bänden (1895)110 scheitert dagegen nicht nur der Aufstieg des jagdbesessenen alten Grafen Egge

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Vgl. ebd., S. 7, S. 10, S. 12 u. S. 234. Vgl. ebd., S. 235. Ebd., S. 205. Vgl. die elliptischen Sprechakte ebd., S. 187 sowie S. 196: „das war ein abgerissener Faden in der Luft“; S. 198: „Ihn verließ das Bewusstsein“; S. 200: „Ihm war’s, als habe jemand ein Wort gesprochen“; S. 205: „– hier begann die Unmöglichkeit. –“; S. 207: „etwas anderes schoss ihm dabei ins Gedächtnis“. Ebd., S. 207 (Hervorh. CMO). Ludwig Ganghofer, Schloß Hubertus. Roman in zwei Bänden (1895), in: Ders., Gesammelte Schriften. Volksausgabe. Erste Serie in zehn Bänden, Bd. 1, Stuttgart 1906.

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über zusammengefügte Leitern in die schwindelnden Höhen einer Felswand (der „‚Hangenden Wand‘“;111; „ich muss hinauf! Ich muss!“112), um aus dem unzugänglichen Adlerhorst die Jungen ‚auszuheben‘113 und die proleptisch zeichenhafte Lücke zu schließen, die Krankheit und Tod eines der fünf im Käfig im Schlosspark gefangen gehaltenen Adler hinterlassen hat.114 Damit scheitert zugleich auch der Versuch einer metonymischen Zeichenbildung, die nicht nur ‚Zeichen‘ und ‚Realität‘ im lebenden Trophäen-‚Kunstwerk‘ zur Deckung bringen sollte, sondern auch als Metapher der mutwilligen Verfügungsmacht des Grafen über die Natur, über Leben und Tod und über das ‚symbolische Kapital‘ des Wappentiers hätte fungieren können. Als finales Zentralereignis des Romans führt dieses doppelte Scheitern nicht nur zum Tod Graf Egges, sondern erweist sich auch meta-semiotisch als höchst signifikant. Zunächst fungiert auch hier der wagemutige Aufstieg Egges noch als selbsttherapeutischer Akt, der ihm „das verstockte Blut wieder aufmischen“115 soll und seinen Körper zu ‚verjüngen‘ scheint,116 aber von den Helfern auch als „Uebermut“117 und ‚Versuchung Gottes‘ empfunden wird („‚das heißt ja Gott versuchen!‘“118). Nachdem die Augen des Grafen beim Griff in den Horst von Adlerlosung verätzt werden und die Leitern beim Abstieg unter dem dauerhaft Erblindeten zusammenbrechen, rettet ihn das Sicherungsseil. Todbringend wirkt sich in der Folge die Blutvergiftung aus, die er sich bei seiner im Schlosspark simulierten „‚letzten Jagd‘ […] ‚Adlerjagd!‘“119 durch die Handverletzung zuzieht, welche dem Blinden die Reflexbewegung der ‚Klauen‘ des letzten von ihm erschossenen Käfigadlers zugefügt hat.120 „‚Dieser verwünschten Brut [hat er sein] Unglück zu danken‘“,121 weshalb er die gefangenen Adler als metonymische Repräsentanten seines

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Ebd., I, S. 192. Ebd., I, S. 193. Ebd., II, S. 192. Vgl. ebd., II, S. 169f. u. S. 164. Den „‚leeren Streif‘“ an der Wand (ebd., I, S. 88) in Egges Geweih- und Gehörnsammlung – sein „‚Allerheiligstes‘“ (ebd., S. 86) – noch ‚ausfüllen‘ zu können, bezeichnet Sohn Tassilo als „‚heißeste Sehnsucht‘“ seines Vaters (ebd., S. 88). Ebd., II, S. 198f. Ebd., II, S. 199. Ebd., II, S. 201. Ebd., II, S. 202. Ebd., II, S. 240. Vgl. ebd., II, S. 240–243. Ebd., II, S. 240.

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Scheiterns zu töten beabsichtigt.122 Anstatt sich also, wie Apollonius in Sichtweite des Kirchturmes, resignativ auf die Rezeption der Erinnerungszeichen des eigenen Tuns zu beschränken (im Falle Egges in Hörweite der Käfigadler), verletzt sich Egge beim (erfolgreichen) Versuch, genau solche metonymischen Real-Zeichen zu tilgen und in pseudo-similare, aber stumme, ‚nekrosemiotische‘ Trophäen zu transformieren.123 Erblindete Augen und eine schmerzhaft entzündete Hand sind somit die eigentlichen Symptom-‚Trophäen‘,124 die Egge als an den ‚jagdnotwendigen‘ Körperteilen Gezeichneter davonträgt125 und die seinen Tod ankündigen.126 Metonymische Zeichenbildung – einschließlich inner-metonymischer Zeichentilgung – erweist sich, so ist festzuhalten, nicht nur als lebensgefährlich und mortifiziert in Graf Egge sukzessive einen manischen Jäger und fetischistischen Trophäen-Sammler, der nekrosemiotische – metonymische und synekdochische – Zeichen (Geweih und Gehörn) bevorzugt und für diese destruktive, „wilde, verzehrende Leidenschaft“127 tödlich bestraft wird: „Bös hat sie mich zugerichtet … die Jagd! […]. Meine Kinder hat sie mir genommen, meine Kraft, meine Augen, meine Hand, und jetzt frißt sie mich auf mit Haut und Haaren! […]. […] [I]ch war ein Nimmersatt […].“128

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Auch der schuldbeladene Jäger und skrupellose Intrigant Schipper unterliegt wie die Adler der Verteufelung (ebd., II, S. 227) und wird als Entdecker des Adlerhorstes (Kontiguität) von Egge als sein ‚Verführer‘ und metaphorischer ‚Adler‘ stigmatisiert (Similarität; vgl. ebd., II, S. 240: „‚Der hat meine Augen auf dem Gewissen‘“; ebd., S. 280: „‚Der Kerl hat Aasgeruch an sich, wie der Horst in der Hangenden Wand … und hat Fänge wie mein letzter Adler! Das zuckt nur ein wenig […] … und bist vergiftet!‘“ (Hervorh. CMO). Vgl. ebd., II, S. 173: „ausgestopfte Adler“ an der Zimmerdecke. Zu den Funktionsvarianten und Problemen „nekrosemiotischer Repräsentation“ im ‚Realismus‘ siehe Ort, Zeichen und Zeit, S. 177–205. – Als höchst zeichenhaft mise en abyme erweist es sich vor diesem Hintergrund, dass und wie die erste Zerstörung eines synekdochischen Zeichens, die dem erzürnten Egge mit einem „abnormen“ Rehbock-Gehörn unterläuft (ebd., II, S. 131), noch behoben werden kann: Die fragmentierte „Hirnschale“ (ebd., II, S. 132) wird als Synekdoche zweiten Grades, d. h. als metonymisches Zeichen ihrer eigenen Destruktion, ‚zusammengeflickt‘ und verweist durch ein aufgemaltes „schwarzes Kreuz“ (ebd., II, S. 137) nicht nur redundant auf ihre nekrosemiotische Funktion, sondern meta-semiotisch zugleich auf das sich abzeichnende Ende metonymischer Semiose überhaupt. Ebd., II, S. 255 u. S. 265. Siehe auch ebd., II, S. 182f. und S. 276. Vgl. ebd., II, S. 272. Ebd., I, S. 73. Ebd., II, S. 276.

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Dass Akkumulationen metonymischer Relikte im ‚Realismus‘ beliebte und potentiell die Person und die narrative Kohäsion gefährdende Extreme bilden, die jedoch meist mit ‚realistischen‘ Problemlösungen erfolgreich bearbeitet werden, ist mehrfach beschrieben worden. Was Schloß Hubertus aber zum meta-semiotischen Grenzfall erhebt, der die ‚realistische‘ Episteme mit ihren eigenen Mitteln desavouiert, ist die Art und Weise, wie im Roman erstens metonymische und nekrosemiotische Zeichenproduktion pathologisiert und selbst als ‚tötend‘ ad absurdum geführt wird und wie stattdessen zweitens ikonische Zeichen – die Gemälde von Egges späterem Schwiegersohn Hans Forbeck – als ungefährlich ‚sanfte‘ Repräsentanten von ‚Wirklichkeit‘ etabliert werden, die ohne risikoreiche Eingriffe in letztere auskommen und nicht zuletzt vom erblindeten Egge selbst beglaubigt werden (Graf Egge: „‚der zeichnet ja, wie ich schieße‘“129). Gerade die ansonsten durch Metonymisierung domestizierten Bilder erscheinen nun als bevorzugte Zielmedien einer poetischen Mimesis von ‚Realität‘130 und läuten den Abschied von einer nunmehr als gefährlich und lebensbedrohlich stigmatisierten, metonymisch ‚realistischen‘ Semiose ein – von Zeichen also, die der poetische ‚Realismus‘ gegen die heraufbeschworenen Gefahren des Ikonischen einerseits überbeansprucht und andererseits als Surrogate scheiternder similar-‚symbolischer‘ Bedeutungsstiftung allenfalls asketisch und resignativ akzeptiert.

V.

Jenseits der ‚realistischen‘ Episteme? Ikonen des Metonymischen in Richard Dehmel: Das Gesicht (1908) und Stanislaw Przybyszewski: Der Schrei (1918)

Ob und wie die dargestellten Probleme der ‚realistischen‘ Episteme an den Grenzen des späten ‚Realismus‘ auch als Indizien eines meta-semiotischen ‚Paradigmenwechsels‘ von metonymischen zurück zu ikonischen re-entries interpretiert werden können, ist im gegebenen Rahmen nicht hinreichend zu klären. Ein Seitenblick auf zwei Texte, die zweifellos nicht mehr dem ‚Realismus‘ zugerechnet werden können‚ mag abschließend aber exemplarisch illustrieren, wie die Literatur der ‚Frühen Moderne‘ das Problempotential der ‚realistischen‘ Episteme aufgreift und ikonische Zeichen innerdiegetisch umfunktioniert.

129 130

Ebd., II, S. 264. Siehe z. B. ebd., I, S. 91–94; S. 92: „‚Das ist Wirklichkeit zum Kunstwerk erhoben‘“; sowie S. 136f., S. 138f., S. 154 sowie ebd., II, S. 251.

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Richard Dehmels Das Gesicht. Eine halbe Stunde Seelenleben (1908)131 bietet eine signifikante Variante des Problems der vom ‚Realismus‘ als potentiell bedrohlich eingestuften Ko-Präsenz von Zeichen und Referent, Bild und Modell. Zwar leben Maler und Geliebte auch nach der Vollendung ihres mit symbolischen Attributen ausgestatteten Portraits („Narzisse“, „Myrtenbaum“)132 weiterhin zusammen, und das Bild vermag das Geheimnis seiner emphatischen Liebe zu ihr noch immer nicht physiognomisch vollständig zu ‚enträtseln‘.133 Die exklusive Konkurrenz zwischen Bild und Modell scheint trügerisch abgemildert und lebbar geworden zu sein: Ob Liebe Sünde war? Nicht überhaupt, aber für Ihn: Sünde gegen die Kunst! Übermannung! – Denn es war ja nicht gleich so gewesen; was ging ihn ihre Seele an. Aber allmählich – […]. […]. Und so war’s denn geworden: das Modell zum Weibe, der Leib zum Wesen, und immer gegenseitiger dem Künstler ihre Schönheit, und immer gegenseitiger dem Menschen ihr Geschlecht.134

Die als euphorisch erlebte Simultan-Präsenz von Modell, Maler und Bild, das sie nun „fast enträtselte“,135 so dass er sie in ikonischem und erotischem Begehren „hochgerissen hatte mit tollen Armen, schreiend vor Lust und doppeltem Glücksgefühl“,136 schädigt den Maler jedoch körperlich und erweist sich als Ursache eines folgenreichen Knöchelbruchs beim Sprung über einen Schemel. Diese Verletzung verlangt seiner schönen Geliebten nach Ausbruch eines Wohnungsbrandes nämlich genau die Rettungstat ab, die ihr beim Versuch, nach dem Maler auch noch ihr Porträt vor den Flammen zu retten, zum Verhängnis wird137 und die histoire zunächst auf ‚realistische‘ Lösungen zurückverpflichtet. Von Brandwunden entstellt, „zerstört“, „von Narben zerrissen“138 und in „quälende[r] Häßlichkeit“139 büßt die Geliebte als „tote Schönheit“140 ihre Funktion als Modell und Referent ihrer Abbildung ein. Sie ähnelt dem Portrait nicht mehr, und beide werden zu metonymischen Zeichen eines vergangenen Zustandes temporalisiert, der nur mehr 131

132 133 134 135 136 137 138 139 140

Richard Dehmel, Das Gesicht. Eine halbe Stunde Seelenleben (1908), in: Ders., Gesammelte Werke in 10 Bänden, Bd. 7: Lebensblätter. Novellen in Prosa, Berlin 1908, S. 87–96. Vgl. ebd., S. 88f. Vgl. ebd., S. 87f. Ebd., S. 89. Ebd. Ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 90f. Ebd., S. 88. Ebd., S. 93. Ebd., S. 90.

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synekdochisch durch die Geliebte mit verändertem Gesicht und durch das in der Gegenwart referenzlos gewordene Bild repräsentiert und erinnert werden kann („War nicht alles bloß Erinnerung?“141). Sowohl ihr Tod („wenn sie doch gestorben wäre; […], Dann würde er zu ihr beten können, […]; ruhig, traurig, wie als Kind zur Jungfrau Maria. Nein, Maria Magdalena […].“142) als auch die Zerstückelung des Bildes („Wenn er das Bild in Stücke zerschnitte, die Erinnerung blieb, solange sie selbst blieb“;143 „er haßte es schon“144) werden als Möglichkeiten im Rahmen des ‚realistischen‘ Modells imaginiert, erweisen sich für den Maler jedoch – anders als von der semiotischen Episteme des ‚Realismus‘ vorgesehen – als nicht lebbare Lösungen. Weder die Brandkatastrophe („ob sich das wohl malen ließe: feurige Flügel? Nein, Narrheit“145) noch „die Erinnerung ließ sich […] malen“.146 Was im ‚Realismus‘ nur höchst selten glückt, scheint sich jedoch „in einer halben Stunde Seelenleben“ zu einem auf Psychologisierung beruhenden semiotischen Kompromiss zu entwickeln, der es dem Maler ermöglicht, seine sich erneut opfernde Geliebte („‚Ich werde gehen‘“147) wieder als Modell von allerdings synekdochisch eingeschränkt ähnlichen Bildern zu nutzen. Ko-Präsenz wird nun an reduzierte Similarität zwischen Bild und Referent gebunden, äußeres durch inneres ‚Sehen‘ abgelöst und das verwundete und unkenntliche Modell seiner früheren Bilder – als fleischgewordene Metonymie der Vergangenheit – zu innerer, seelischer ‚Schönheit‘ transformiert und sakralisiert: Und Er – sah sie an – an – und seine Augen wurden immer weiter, daß sie nicht loskonnte – immer sehender – und seine Finger tasteten und griffen: es zu fassen, zu halten: das Unerkannte, Letzte, Eine: das heilige Wunder: Das, was ihn zu ihr in die Kniee riß, warum er sie umklammerte – weinend – „Offenbarung“ stammelnd –: ihre große Sittlichkeit! die Schönheit ihrer Erschütterung! […]: […]. Und er küßte die gestaltlosen Lippen, und schlang die Hände um den haarlosen Kopf, und hielt sie von sich, schauend, schauend –.148

‚Geoffenbartes‘ inneres Sehen und die Engführung von Psychologisierung und Sakralisierung einer ikonographisch ‚modernisierten‘ Bildkunst ermöglichen nun, so scheint es, auch erotische Beziehungen zum metonymisch ‚ge141 142 143 144 145 146 147 148

Ebd. Ebd., S. 92. Ebd. Ebd., S. 94 Ebd., S. 91. Ebd., S. 92 (Hervorh. i. Orig.). Ebd., S. 95 (Hervorh. i. Orig.). Ebd. (Hervorh. CMO).

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zeichneten‘, physiognomisch verwüsteten Modell. Eine lebbare Zukunft der Triade aus Maler, geliebtem Modell und ihren früheren und neuen Bildern lässt zumindest der Schluss der Novelle ahnen – post-‚realistisch‘ und symbolisch (‚sittlich‘) überhöht: […] als […] der breite Sonnenstrahl auf der Palette blitzte, nach der Wand hinüber, nach dem Myrtenbilde: da stieg es vor ihm auf, neu und mächtig: „Weißt du, wie ich dich malen werde? – Sturm und Nacht – Fackelbrand – nur Auge und Bewegung –: Magdalena, beglückt den Gekreuzigten tragend!“ „Vom Kreuz wegtragend“ – sprach ihre Seele.149

Die konnotierte imitatio Christi des sich über das Bildsujet zum gottgleichen, aber gekreuzigten Erlöser stilisierenden Malers, der seinerseits als Verletzter von der Geliebten vor dem Feuertod gerettet und von ihr als ‚Magdalena weggetragen‘ worden ist, evoziert zugleich eine ‚allegorische‘ (similare) heilsgeschichtliche Konfiguration. In deren Deutungshorizont – die ,sprechende Seele‘ der Geliebten legt es nahe – lässt sich die Rettungstat der sich für Künstler und Werk opfernden Geliebten auf die Zeit zwischen Kreuzabnahme und Auferstehung projizieren, ermöglicht die ‚Magdalena‘ des Malers diesem doch eine zumindest lebensinterne ‚Auferstehung‘, physisch und als Künstler.150 Dagegen verfolgt der Bohémien, Geiger und Kunstmaler Gasztowt in Stanislaw Przybyszewskis Roman Der Schrei (dt. 1918; polnisch Krzyk, 1917)151 sehr viel anspruchsvollere semiotische Ziele, an denen er nur scheitern kann. Gasztowt, der sich u. a. mit Hieronymus Bosch, Francisco de Goya, James Ensor, Félicien Rops, Honoré Daumier152 und Eugène Delacroix153 vergleicht und dem seine eigenen Bilder in der Ausstellung gleichwohl als „blödsinniges, lächerliches Chaos“154 erscheinen, arbeitet sich erfolglos bis zur Selbstauslöschung daran ab, das inkohärente ‚syntagmatische‘ Nacheinander metonymisch-synekdochischer Außen- und Innenwelt-Re149 150

151

152 153

154

Ebd., S. 96. Zur christlich überhöhten ‚Auferstehung‘ des Grafen von Ketten in Robert Musils Die Portugiesin s. o., Fußnote 103. Zitiert nach: Stanislaw Przybyszewski, Der Schrei (1917/1918), in: Studienausgabe. Werke, Aufzeichnungen und ausgewählte Briefe in acht Bänden […], Bd. 4: Erdensöhne. Das Gericht. Der Schrei, Walter Olma/Michael Matthias Schardt (Hrsg.), Paderborn 1992, S. 231–307. Vgl. ebd., S. 251. Vgl. ebd., S. 253. Verwundern mag, dass Edvard Munch unerwähnt bleibt, dessen zwischen 1893 und 1910 entstandene Schrei-Bilderserie mehrfach ekphrastisch konnotiert wird (vgl. ebd, S. 238 u. S. 244). Ebd., S. 234.

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präsentation – das „ganze Leben“155 – im ‚Symbol‘ der ‚Straße‘ ikonisch zu fixieren: Er hatte eine gewaltige Synthese der Straße schaffen wollen, ihre Ewigkeitssymbole, ihre schauerlichen Geheimnisse offenbaren: sie in ihrem grausigen Umfang erschöpfen – all das Gewaltige und Schändliche, das in der menschlichen Seele lebt, […], – all das in sie hineinprojizieren: das ganze Leben hatte er in einem riesigen Symbol wiedergeben wollen: der Straße!156

Nicht nur das gescheiterte Projekt des poetischen ‚Realismus‘ wird unter umgekehrten Vorzeichen wiederbelebt, auch Lessings Laokoon-Problem (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, 1766) scheint von neuem literarisch verhandelt zu werden: Nehmen ‚realistische‘ Diegesen häufig mit temporalisierten und metonymisierten Repräsentationen vorlieb, da sie zur symbolischen Überhöhung und sinnhaften Integration einer zusammenhanglos kontingenten ‚Welt‘ nicht mehr in der Lage sind, versucht Gasztowt umgekehrt, das heterogene unabschließbare ‚Syntagma‘ der ‚Straße‘ in ein dauerhaft starres Bild zu zwingen und metonymischen (synekdochischen) Zeichen ikonische Kohärenz abzuringen: niemand hatte bis jetzt die Straße gemalt, zu malen vermocht!157 Die Straße zu malen! O Seligkeit, o unsagbare Schönheit!158 erhabene Synthese159 majestätische Synthese160 mit diesem einen, aus tausend Komponenten zusammengesetzten Sinn, die ganze Welt umfassen […] – […] – Die Straße!161 Die Straße! Gibt es ein mächtigeres Symbol des menschlichen Lebens162 den übermächtigen Tausendfüßler, den Beherrscher der Straße, […] – er hatte das fürchterliche Symbol des kalten, gleichgültigen Lebens erblickt: das tausend- – nein! Das myriadenfüßige Elend!163

Trotz dieser emphatischen Postulate belegt Przybyszewskis Text selbst einmal mehr, was Lessing und die ‚Realisten‘ immer gewusst haben: Was sich eher für sprachlich-syntagmatische, also raum-zeitlich fortlaufende Repräsentation eignet, kann im statischen Bild nur verfehlt werden. Gasztowt scheitert aber auch – unter den Voraussetzungen der ‚realistischen‘ Episteme 155 156 157 158 159 160 161 162 163

Ebd. Ebd. Ebd., S. 253. Ebd., S. 254. Ebd., S. 259. Ebd., S. 293. Ebd., S. 290. Ebd., S. 255. Ebd., S. 289.

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und ihrer meta-semiotischen Erblast – an den synästhetisch postulierten Medienwechseln der ‚Romantik‘. Besonders deutlich wird dies an seiner Besessenheit, nicht nur ‚Sprache‘ zu malen („er würde die Sprache der Straße malen“) und seine Bilder „sprechen und schreien zu lassen“, so dass sie „zu leben beginnen“.164 Darüber hinaus nimmt noch ein weiteres aus der Wirklichkeit entnommenes, unmögliches Bildsujet als idée fixe von ihm Besitz, nämlich der plötzliche, offenkundig unwiederholbare Schrei einer von ihm geretteten, zur Geliebten und zum (akustischen) Modell165 erkorenen Selbstmörderin, die am Ende von Gasztowt nur deshalb – vergeblich! – von der Brücke gestoßen wird,166 um bei ihrem erneuten Fall den transitorischen Todesschrei noch einmal zu hören („Aber er hörte keinen Schrei.“167): ‚[ich] habe nach dir gesucht nur deswegen, um deine Stimme zu malen. Ich habe nämlich ein Bild gemalt, wie kein Mensch es gewagt hätte zu malen – das heißt – ich habe es nicht gemalt, aber ich wollte und hätte es gemalt, wenn ich nur Deine Stimme zu hören bekommen hätte. Ich wäre dann bis in die geheimsten Tiefen der rätselhaften Seele der Straße eingedrungen, […] die Farbe und die Form wäre zur Sprache geworden, […] – die Form, die Farbe, das Wort: dies alles eine göttliche Einheit, hätte das gewaltige Mysterium erschlossen, das mit dem Worte allein nicht zu erfassen ist… […].‘168

In einer Art unio mystica von Sprache und Bild treffen sich Sakralisierung und Psychologisierung. Da sich Gasztowt aber – noch immer ‚realistischen‘ Positionen verpflichtet – der Forderung nach einer, in diesem Falle absurden, mimetischen Wirklichkeitsbindung unterwirft und den ‚Schrei‘ nur malen kann, wenn er ihn ein zweites Mal hört, ist sein ‚romantisches‘ Projekt a priori zum Scheitern verurteilt, und seine an Edvard Munchs Schrei-Bilder (1893– 1910) erinnernden, expressionistischen Imaginationen bleiben ungemalt: Und plötzlich hörte er einen gräßlichen Schrei – nein, er hörte nichts, er sah nur einen lautlosen Schrei – sah ihn deutlich – sah, wie die Atmosphäre barst, als ob ein Feuerpflug eine flammende Furche in ihr aufgerissen hätte […].169 [E]r sah jetzt den Schrei als einen gewaltigen Blitz, der die Luft in Fetzen riß […]. So! Ja! So mußte der Himmel schreien!170

Wie selbstzerstörerisch und blasphemisch der Versuch inszeniert werden kann, die resignativen ‚realistischen‘ Strategien der Metonymisierung und 164 165 166 167 168 169 170

Ebd., S. 255. Vgl. ebd., S. 248. Vgl. ebd., S. 295. Ebd. Ebd., S. 285. Ebd., S. 238 (Hervorh. CMO). Ebd., S. 244.

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Verbalisierung des Ikonischen umzukehren, führt vor dem Hintergrund der als lebbar und geglückt postulierten Problemlösung in Dehmels Das Gesicht umso mehr Przybyszewskis Der Schrei vor Augen: Weder die Ikonisierung des Metonymischen noch deren symbolische und kunstreligiöse Überhöhung gelingt. Beide Versuche werden stattdessen pathologisiert und führen zur Selbsttilgung des emphatischen Künstlers. Gasztowt flüchtet sich in die schizoide Phantasie eines Teufelspakts mit seinem eigenen Doppelgänger Weryho („sah er ihn wirklich und leibhaftig: Sich selbst!“171), der als Mäzen und Rezipient von Gasztowts Malerei auftritt, als sein Verfolger und ‚Führer‘ den Selbstmordversuch der Schreienden beobachtet und ihn bedrängt, den ‚Schrei‘ zu malen.172 Weryho verführt Gasztowt zur tödlichen Hybris eines gottgleichen Künstler-Schöpfers, dessen synästhetische ‚Werke‘ mit der ‚Welt‘ zusammenfallen („‚Versprechen des Satans: Eritis sicut Deus!‘“;173 „‚daß Sie Gott werden und das erschaffen werden, woran noch kein Mensch je zu denken gewagt hat‘“174). Erst beim Versuch Gasztowts, sich als der „‚mißlungene Herrgott, der ich bin‘“175 von seinem diabolischen alter ego zu lösen,176 erschießt er sich in Weryho selbst und hört als Sterbender endlich den ersehnten – seinen eigenen? – ‚Schrei‘, der ihm ein letztes Mal vorgaukelt, dass „er [jetzt] das Bild malen [würde]“.177 Selbstapotheose und Selbstdiabolisierung münden im Selbstmord des Bildkünstlers, der den „‚unerhörten Höllenschrei‘“178 und den Moment des (eigenen) Todes niemals, auch nicht um den Preis der Persönlichkeitsspaltung, ikonisch wird festhalten können. Stattdessen scheint am Ende des discours sprachlich zu gelingen, was der Malerei versagt bleibt, fallen doch nicht nur Schreien und Hören, Selbst- und Fremdrezeption, sondern auch Bezeichnung und ‚Realität‘, Rede und Redegegenstand – erzählter erinnerter ‚Schrei‘ und vergegenwärtigter geschriener ‚Schrei‘ – im achsensymmetrischen Syntagma des letzten Satzes des Textes zusammen und positionieren sich, wie ‚erlebte Rede‘ ohne Anführungszeichen, zwischen Erzählinstanz und Figurenrede („Der Schrei – jetzt – jetzt – dieser Schrei …“179). 171

172 173 174 175 176 177 178 179

Ebd., S. 296. Vgl. auch ebd., S. 271, S. 299 u. S. 306: „Satan“; sowie S. 301: „‚Sie sind mein Gefangener‘“. Vgl. z. B. ebd., S. 279 u. S. 300. Ebd., S. 299. Ebd., S. 300. Siehe auch ebd., S. 302, S. 303 u. 306: „‚verfluchter Satan!‘“ Ebd., S. 305. Vgl. ebd., S. 306. Ebd., S. 307. Ebd., S. 299. Ebd., S. 307.

Thesen zur ‚realistischen‘ Episteme und zu ihrer Transformation um 1900

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‚Leben‘ und ‚Kunst‘, ‚Realität‘ und ‚Zeichen‘ stabil und dauerhaft innerdiegetisch zu unterscheiden und in ein Verhältnis der Nachträglichkeit zu setzen, scheint als Erbe des ‚Realismus‘ in der ‚Frühen Moderne‘ ex negativo gerade in den Fällen durch, wo deren Nicht-Unterscheidbarkeit entweder als selbst- und fremdzerstörerisch psycho-pathologisiert wird oder im Genre der Fantastik als Selbstfindung und Erweiterung der ‚Person‘ zelebriert wird.180 Versuche, das Problempotential der ‚realistischen‘ Episteme um 1900 auszuschöpfen, die von ihr beschworenen ‚Gefahren‘ und ihre destruktiven Konsequenzen zu Ende zu phantasieren, ohne die Lösungen des ‚Realismus‘ zu übernehmen, kündigen sich, wie außerdem exemplarisch anzudeuten war, bereits im ‚Realismus‘ und insbesondere an seiner Epochengrenze um 1900 an. Auf welchem Abstraktionsniveau jedoch die Konstanz meta-semiotischer re-entries oder ihr Wandel um 1900 modelliert werden kann, ob und – wenn ja – auf welche Weise Strukturen und Funktionen literarische Selbstreferentialität also heuristisch fruchtbare Kriterien für den Wandel vom ‚Realismus‘ zur ‚Moderne‘ abgeben können, wird nur auf der Basis eines umfänglicheren Textkorpus zu klären sein. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die ‚realistische‘ Episteme zumindest für weite Teile der Erzählprosa ein auch noch im 20. Jahrhundert gültiges, meta-semiotisches Problempotential bereitstellt, dessen Variationsspektrum literarisch realisierter oder nicht-realisierter ‚Lösungen‘ oder ‚Nicht-Lösungen‘ sich um und nach 1900 deutlich erweitert.181

180

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Zur impliziten ‚Fantastik‘ des ‚Realismus‘ siehe z. B. Gregor Reichelt, Fantastik im Realismus. Literarische und gesellschaftliche Einbildungskraft bei Keller, Storm und Fontane, Stuttgart/Weimar 2001. Zum impliziten ‚Realismus‘ der ‚Fantastik‘ siehe auch Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen, München 1991, S. 17–25. Vgl. dazu schon Michael Titzmann, „Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung“ (1983), in: Ders., Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte, Wolfgang Lukas/Claus-Michael Ort (Hrsg.), Berlin/New York 2012, S. 31–65. Zur ‚Systematizität‘ literarischen Wandels, zur Theorie problemfunktionalistischer Modelle, die Wandel als Wandel von ‚Lösungen‘ relativ konstanter Bezugsprobleme konzipieren, siehe Michael Titzmann, „‚Problem – Problemlösung‘ als literarhistorisches und denkgeschichtliches Interpretationsinstrument“, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften, 14/2010, S. 298–332, und im historisch-systematischen Überblick auch Dirk Werle, „Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie“, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften, 13/2009, S. 255–303.

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Claus-Michael Ort

Routines der Frühen Moderne

Textverfahren der Copia um 1890

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Über Fülle/Überfülle Textverfahren der Copia um 1890

I. In den Überlegungen zur Verfahrensgeschichte der Literatur des 19. Jahrhunderts hat der Naturalismus bislang keine nennenswerte Rolle gespielt. Das hat mehrere Gründe. Zum einen gehört der Naturalismus an der Seite anderer synchroner Teilentwicklungen (Ästhetizismus, Dekadenz, Impressionismus, Fin de Siècle etc.) in ein schwer zu überschauendes Transformationsfeld zwischen Realismus und emphatischer Moderne; für diesen Problemzusammenhang hat sich der Begriff der ‚frühen Moderne‘ als hilfreich erwiesen, ohne dass damit allerdings bereits eine verlässliche literaturgeschichtliche Modellbildung bereitstünde. Zum anderen neigt die Literaturwissenschaft dazu, den literarischen Modernisierungsprozess an einem Phasenschema zu orientieren, das sie weitgehend Hermann Bahrs Proklamationen zur Überwindung des Naturalismus (1890) nachgebildet hat. Es besagt, dass der Naturalismus, kaum dass er die ‚Moderne‘ etabliert hat, hinter den erreichten Stand zurückfällt und die Moderne damit in eine evolutionär beschleunigte, d. h. ‚reife‘, ‚emphatische‘ oder ‚klassische‘ Phase eintreten ließ.1 Erklärungsansätze dieser Art sind allerdings schon deswegen untauglich, weil sie ein Element der Objektsprache metasprachlich funktionalisieren. Vor allem aber hat diese vermeintliche (Selbst-)Überwindung des Naturalismus dazu geführt, dass Verfahrensfragen an den Naturalismus in aller Regel nicht herangetragen worden sind. Offenbar musste der Naturalismus aus der literarischen Moderne zunächst ausscheiden, da-

1

Vgl. Hermann Bahr, „Die Überwindung des Naturalismus“ [1891], in: Ders., Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg, Stuttgart/Berlin u. a. 1968, S. 33–102. Zu den literaturgeschichtlichen Nachbildungen dieses historischen Schemas vgl. Helmut Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 30; Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende, München 1998, S. 113; Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890–1933. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 1998, S. 86–88.

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mit sie – nach dem Realismus – verfahrensgeschichtlich erneut relevant werden konnte. Zum dritten schließlich scheint der Naturalismus eine gesonderte analytische Anstrengung nicht erforderlich zu machen, da die relevanten Verfahren – radikale Mimesis bzw. ‚konsequenter Naturalismus‘ – bereits in seinen Programmdiskursen bereitliegen; tatsächlich hat Arno Holz ja betont, „daß der Naturalismus eine Methode ist, eine Darstellungsart und nicht etwa ‚Stoffwahl‘“.2 Wie suggestiv dieser ‚methodische‘ Impuls gewesen ist, lässt sich daran ablesen, dass der Naturalismus phasenweise vollständig im ‚konsequenten Naturalismus‘ aufging,3 wobei diese Übergeneralisierung forschungsgeschichtlich bis heute leidvoll spürbar ist: Weder stehen verlässliche Deutungsschemata für jenen ‚anderen‘ Naturalismus zur Verfügung, der nicht im ‚konsequenten Naturalismus‘ aufgeht,4 noch ist es der Literaturwissenschaft bisher überzeugend gelungen, den Eigensinn der Texte gegen ihre vermeintlich vorgängige Theorie zur Geltung zu bringen. Tatsächlich besteht die jahrzehntelange Verlegenheit im Umgang mit dem Naturalismus auch darin, ihn zu einseitig von Konzepten her verstanden zu haben, die primär seinen theoretischen Reflexionsdiskurs bestimmen. Genau hier wäre ein verfahrensgeschichtlicher Einsatzpunkt markiert: Unter Verfahren sollen die – textinternen, nicht im Literaturprogramm vorab gegebenen – ‚Darstellungsregeln‘ verstanden werden, die einen Text bzw. ein größeres historisches Textkorpus realisieren. Für den Naturalismus ist daher Zurückhaltung gegenüber den im weitesten Sinne mimetischen Programmen geboten, die zwar breit im naturalistischen Theoriediskurs verankert sind, die aber nicht umstandslos auf die Verfahren der Texte schließen lassen. Zudem hat auch der Naturalismus Anteil an der zentralen realistischen Aporie, die sich aus der Einsicht ergibt, dass die realistische Mimesis in ihrer radikalen Ausprägung nur um den Preis entreferentialisierender Tendenzen zu haben ist. Die traditionelle Berufung auf das Mimesis-Konzept leidet genau an dieser Schwäche: Es neigt dazu, dieses Kippmoment zu verdecken und eine referentielle Illusion aufrechtzuerhalten, der die naturalistischen Texte kaum mehr gerecht werden. Aus diesem Grund ist eine andere, text-

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Arno Holz, „Die neue Wortkunst. Eine Zusammenfassung ihrer ersten grundlegenden Dokumente“, in: Das Werk von Arno Holz, Bd. X, Berlin 1925, S. 271. Vgl. die Arbeiten von Hanno Möbius, Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz, München 1980; Ders., Der Naturalismus. Epochendarstellung und Werkanalyse, Heidelberg 1982. Vgl. für einen Überblick über die faktische Breite des Materials Ingo Stöckmann, Naturalismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 2011.

Textverfahren der Copia um 1890

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nahe Verfahrensrealität anzusetzen. Copia – Fülle – wäre versuchsweise der Name dieser Verfahrensrealität.5 Gegenüber dem ‚Bürgerlichen‘ oder ‚Poetischen‘ Realismus bedeutet das eine in doppelter Hinsicht veränderte Verfahrenslogik. Hatte der Realismus – erstens – noch erkennbar restriktiv auf die Vielfalt möglicher Sujets reagiert,6 so führt der Naturalismus einen Diskurs, der Restriktionen dieser Art nicht mehr zulassen will und sich dem Realen in seiner Fülle öffnet. Fülle, so ließe sich vorläufig sagen, ist die dem Naturalismus gegebene diegetische Realität und zugleich das Problem seiner Selektivität. 1882 formulierten die Brüder Hart in diesem Sinne: „Was der Dichter darstellt ist ganz gleichgültig, es kommt allein darauf an, dass er es als Dichter darstellt“.7 „[R]ein stofflich betrachtet“, so betonte Conrad Alberti 1889, „steht jedes natürliche Objekt, jeder Vorgang gleich hoch […]“.8 Der zweite Gesichtspunkt betrifft die auffällige Spaltung der semiotischen Praxis. So scheint die für den Naturalismus bezeichnende Hypertrophie der descriptio, die gegenüber der narratio die Oberhand gewinnt, die Bedeutung der außertextuellen Referenz gegenüber dem Textuellen bzw. ‚Romanesken‘ hervorzuheben. De facto aber bewirkt sie insofern gerade das Gegenteil, als diese hypertrophe Fülle der Zeichen die Beschreibung verselbständigt; die Romane Zolas wären das prominenteste Beispiel, aber auch zahlreiche Texte deutscher Naturalisten wären hier zu nennen. Überhaupt ließe sich behaupten, dass die in den Beschreibungen, vor allem in den Katalogen des Naturalismus aufgerufenen Realienströme wie ein Reales wirken, das der fiktiven Welt äußerlich bleibt und in seiner (ästhetisch nicht konvertierbaren) Insistenz zugleich die Schließung auktorialer Ordnungen bedroht. Genau dieses Kippmoment in der Texturierung soll die Copia bezeichnen.

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Vgl. für eine noch zu schreibende Verfahrensgeschichte der Copia/Fülle vorerst Art. „Copia“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2: Bie–Eul, Darmstadt 1994, Sp. 385–393; Volkhard Wels, Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 7, S. 164 und S. 170; sowie Terence Cave, The cornucopian text. Problems of writing in the French Renaissance, Oxford 1979. Vgl. Hermann Korte, Ordnung und Tabu. Studien zum poetischen Realismus, Bonn 1989. Heinrich Hart/Julius Hart, „Für und gegen Zola“, in: Dies., Kritische Waffengänge [1882–1884]. Mit einer Einführung von Mark Boulby, New York/London 1969, S. 44–55, S. 47. Conrad Alberti, „Die zwölf Artikel des Realismus. Ein literarisches Glaubensbekenntnis“, in: Ders., Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses, Leipzig 1889, S. 311–320, S. 319.

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II. 1890 publiziert Wilhelm Bölsche einen kleinen Beitrag unter dem Titel Poesie der Großstadt. Bemerkenswert an diesem kurzen Text, der zu den frühesten Programmen einer urbanen Dichtung in Deutschland gehört, ist nicht sein vordergründiger Anti-Hegelianismus, der in der Prosa des „großstädtischen Treibens“ einen „poetischen Stimmungsgehalt“9 ausmachen will. Tatsächlich kreist der Text um ein Symbolisches, das den ‚reinen‘ Funktionalismus der modernen Stadt letztlich in einer auf Totalität zielenden Zusammenschau beruhigt. Bemerkenswert ist vielmehr, dass die synthetischen Intentionen dieses Symboldenkens von einer anderen Seite her gefährdet sind. „Wenn ich“, so Bölsche, die Stadt durchwandere, vom Zentrum mit seinem wilden Strudel bis hinaus zur stillen Vorstadt […], so habe ich in mir nur ein Gefühl, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser Fülle des poetischen Stimmungsgehaltes, dieser Ueberfülle, die fast erdrückt, die in ihrer Größe nur einem gleicht, nämlich der Riesenstadt selbst.10

Die Formulierung markiert ein epistemologisches Kerndilemma der naturalistischen Stadtdarstellung. Es gründet in einer überwältigenden copia rerum und macht deutlich, dass das Reale aufgrund seiner phänomenalen Fülle bereits selbst als Ästhetisches auftritt und daher die Qualität des ‚nur‘ Referentiellen nicht besitzt. Wenn die realistische Epistemologie traditionell von der Vorstellung einer Selbstpräsenz der Dinge in den Zeichen lebt, dann präsentiert sich die naturalistische Wirklichkeit als dichte Textur ihrer Verweisungen und Relationen: Diese Realität ist selbst schon ein ‚Superzeichen‘, ein Höchstmaß an Bezüglichkeiten und Analogien: bare „Ueberfülle“. Sichtbar wird in Bölsches Poesie der Großstadt daher keine naturalistische Mimesis, sondern eine Schreibweise der Fülle. Bezeichnenderweise ist dieser poetologische Impuls in Wilhelm Bölsches 1891 erschienenem Roman Die Mittagsgöttin einem eigenwilligen mythologischen Subtext anvertraut. Im Zentrum des Romans steht der zivilisationsmüde Intellektuelle Wilhelm, der aus der Großstadt Berlin in den Spreewald flieht und hier die Bekanntschaft eines Grafen macht, der sich zum Spiritismus bekennt und sich Wilhelm recht bald als Mentor zur Verfügung stellt. „Wenn um die Mittagszeit“, so erläutert der Graf inmitten der üppig wogenden Spreewald-Natur, 9

10

Wilhelm Bölsche, „Die Poesie der Großstadt“ [1890], in: Manfred Brauneck/ Christine Müller (Hrsg.), Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900, Stuttgart 1987, S. 253–259, S. 253 und S. 255. Ebd., S. 253.

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die glühend heiße Sonne brennt, naht sich dem habgierigen Bauern, der auch in dieser Zeit […] des großen Naturschlafes sich beim Flachsbau müht, eine weiße Gestalt […]: Pschipolniza, die Göttin der Mittagsstille. Sie legt ihm Fragen über sein Werk vor, und wenn er nicht antworten kann, haucht sie ihn an, daß er krank wird, oder würgt ihn zu Tode. […] Heute glaube ich […], es kommt […] hauptsächlich auf die Antwort an, die man ihr giebt. Weiß man die rechte, so ist die Fragerin kein böses Ungeheuer mehr […], sondern eine schöne, sanfte Flurgöttin, die unser Feld segnet, unsere Arbeit gedeihen macht.11

Die Erläuterungen des Grafen besitzen eine doppelte Funktion. Zum einen dienen sie dazu, Wilhelm in die spiritistische Welt des Spreewalds zu initiieren. Zum anderen rufen sie einen Mythenkomplex auf, in dem antike Vorstellungen der copia (bzw. cornucopia) und ihre Personifikationen des Reichtums und des Überflusses ebenso aufgehoben sind wie die alttestamentarische Gestalt des daemonium meridianum und ihre volksmythologischen Filiationen.12 Wie das Zitat belegt, besitzt diese Mythologie der Fülle eine doppelte Dimension: Einerseits figuriert sie als ‚weibliche‘ Natur, deren „unerhörte Fruchtbarkeit“13 geschützt werden muss; andererseits folgt sie einer ‚männlichen‘ Ökonomie, die in die Natur eingreift und die als Unermüdlichkeit der Produktion und der Verwertungen vor Augen tritt. Wie die Ausführungen allerdings deutlich machen, kann sich die Pschipolniza auch in eine „sanfte Flurgöttin“ verwandeln: Wenn der Mensch der Natur nicht mehr als „habgieriger Bauer“14 entgegentritt, sondern sich unterordnet unter das, was ihm die Natur von sich aus gibt, erscheint die Mittagsgöttin als diejenige, die die Arbeit in der Fülle der Natur segnet und gedeihen lässt. Anders als es die Forschung nahe legt, ist Bölsches Mittagsgöttin kaum mehr mit dem Schema des frühen Großstadtromans und seinen ‚expressiven‘ Leitdifferenzen ‚Stadt vs. Land‘, ‚Individuum vs. Masse‘ in Einklang zu bringen.15 Zwar gibt es eine Reihe genretypischer Signale, aber sie bleiben

11

12

13 14 15

Wilhelm Bölsche, Die Mittagsgöttin. Ein Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart, 2 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1902, Bd. I, S. 170f. Vgl. Dietrich Grau, Das Mittagsgespenst (daemonium meridianum). Untersuchungen über seine Herkunft, Verbreitung und seine Erforschung in der europäischen Volkskunde, Siegburg 1966, S. 8 und S. 98. Vgl. zur Verwandtschaft der Mittagsgöttin mit der römischen Ops, der Göttin des Überflusses und des Erntesegens, M. C. Howatson (Hrsg.), Reclams Lexikon der Antike, Stuttgart 1996, S. 451; Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Altertum, Bd. 8: Mer–Op, Stuttgart/Weimar, Sp. 1267f. Bölsche, Die Mittagsgöttin [1902], Bd. I, S. 151. Ebd., S. 170. Vgl. Christof Forderer, Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne, Wiesbaden 1992, S. 29–106; Klaus R. Scherpe, „Ausdruck, Funktion, Medium. Transformationen der Großstadterzählung in der

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doch schematisch. So ist der Text wie in den entsprechenden Großstadtromanen Max Kretzers oder Conrad Albertis in einem tiefenstrukturellen „Grundgesetz“16 fundiert – dem Kampf ums Dasein –, das er fortwährend in den Erzähldiskurs transkribiert. Und so entfaltet auch Bölsche das Geschehen letztlich mit den Restbeständen des Bildungsromans: Am Ende, nachdem Wilhelm aus den elementaren Kämpfen der Großstadt in die Natur geflüchtet ist, lässt ihn der Text als einen Anderen, Gewandelten nach Berlin zurückkehren, der die gefahrvolle Natur überwunden hat und sich (wenn auch entsagungsvoll) an die Rationalität der Moderne übergibt. Unübersehbar erzählt Bölsches Text hier in den Spuren eines zivilisationsgeschichtlichen Narrativs, das von der Gefährdung durch die mythische Natur und ihrer schließlichen Abwehr berichtet, und er kann dies, weil er vordergründig ‚reine‘ Erfahrungsräume – hier die versteinerte Stadt, dort die üppige Spreewaldnatur – gegeneinandersetzt. Auf der Ebene der Zeichenpraxis dagegen zerläuft die Unterscheidungsreinheit des Romanschemas, weil beide Erfahrungsräume aus derselben Zeichenökonomie der Fülle erzeugt sind. Insofern zielt die gesamte Beschreibungsarbeit, die Bölsches Text um die Spreewald-Natur versammelt, auf die Veranschaulichung reiner Fülle. Fülle ist sie durch die flächenhaft expandierenden Detailbeschreibungen wie durch die fortwährende Erzeugung dichter Texturen und vegetativer Geflechte. Sie lassen die beschriebene Natur restlos in ihrem Verschlungensein aufgehen. Im Gegenzug zu den Schreibordnungen des Poetischen Realismus gestattet sie damit keinen Durchblick mehr auf eine Tiefendimension: Weil der Text die ornamentalen Elemente der Ranken, Linien und Arabesken aus ihrer dekorativen Funktion auslöst und in das Textzentrum ‚einwandern‘ lässt, häufen sie sich aufeinander und bilden ‚dichte‘ Texturen.17

16

17

deutschen Literatur der Moderne“, in: Götz Großklaus/Eberhart Lämmert (Hrsg.), Literatur in einer industriellen Kultur, Stuttgart 1989, S. 139–161, hier S. 146f. Conrad Alberti, Mode. Roman, Berlin 1893 [Der Kampf ums Dasein, Band 4], „Statt einer Vorrede“, unpag. Vgl. Bölsche, Die Mittagsgöttin [1902], Bd. I, S. 187: „Die üppigen Baumkronen über den winzigen Fußpfaden feierten wahre Orgien der unentwirrbarsten Verschlingung, tiefrote Blutbuchen und silbergraue Weiden mit lichtgrünen amerikanischen Eichen und Tulpenbäumen durch Hopfenguirlanden und geschmeidiges Gaisblatt ineinander verwebt, Goldregen und Jasmin in schweren Büschen zwischen die Stämme gepreßt über einem Rasen von kriechendem Epheu, daneben wieder die roten Weihnachtskerzen der Kastanien herabschattend auf die Moospolster, aus denen die wilden Maiglöckchen und große, gespenstisch wunderliche Waldorchideen sproßten.“ Vgl. auch ebd., S. 154f. Zu diesem Jungendstil-Prinzip des ‚Füllens‘ (im Gegensatz zum ‚Rahmen‘) vgl. Ernst H. Gombrich, Ornament und

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Entsprechend ist im „wendischen Spreewald“18 alles reine „Verschlingung“19 und „tolle Arabeske“.20 Allerdings bedeutet die Abwesenheit dieser traditionellen Tiefenepistemologie nicht, dass in den Verschlingungen der Deskription jeder Sinn verloren ginge. Vielmehr wirkt hier eine copia, die den Reichtum der ornamentalen Verwebungen in einer intransitiven, die Verweisungsfunktion des Zeichens in sich einstülpenden Bewegung selbst als ihren Sinn konstituiert: Gerade in der Abwesenheit einer nicht mehr auszumachenden Tiefe findet sich ihr Sinn in der Verschlingung und der Verflechtung selbst. Nicht weniger als diese Reichhaltigkeit ist auch der städtische Erfahrungsraum ein Effekt der copia. Zwar verankert der Text den Weg des Protagonisten durch das großstädtische Berlin immer wieder in der realen Topographie, so dass eine gegenüber den fließenden „Wogen“ und „Wellen“ des Spreewaldes andere, stärker von Zäsuren geprägte Bewegung sichtbar wird. Dennoch fungieren diese Hinweise lediglich als Haltepunkte im Erzählprozess. Sind diese Haltepunkte erreicht, entlädt sich der Text in einen Beschreibungsrausch, der die Vielzahl der optisch-akustischen Impressionen zu einem Bild intensiver Reichhaltigkeit zusammentreten lässt: Welch ein Bild – dieser Wirbel des großstädtischen Arbeitsmeeres. […] Und diese Fülle der Farben. Der kolossale Platz gerade vor mir braunschwarz, naß, hier und da, wenn die Wolken sich zerteilten, mit lichtblauem Reflex. Die Linien der Pferdebahngeleise scharf, dunkel, gleich Einschnitten im Grund. Gegenüber, wie ein Loch ins Unendliche des Raumes graublau verdämmernd, die Riesenperspektive der Leipzigerstraße.21

Wenn es auch zutrifft, dass sich einzelne architektonische Ensembles immer wieder zu Sinnbildern moderner Erfahrungsgehalte verdichten,22 so ist doch auffällig, dass sie insbesondere dort, wo sie die „Öde“23 der Stadt veranschaulichen sollen, in einer paradoxalen Struktur ‚reicher Leere‘ münden. Leere, Entzug, Abwesenheit ist im Erzählen Bölsches lediglich eine semantische Setzung, die an der Fülle, mit der sie im Text realisiert wird, vorbeispricht. Wenn sich Wilhelm nach seiner Rückkehr aus dem Spreewald durch die depressive Leere der Stadt bewegt und im „kalten“ Räderwerk der Rat-

18 19 20 21 22 23

Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart 1982, S. 87. Bölsche, Die Mittagsgöttin [1902], Bd. I, S. 151. Ebd., S. 187. Ebd., Bd. II, S. 3. Ebd., S. 126. Vgl. Forderer, Die Großstadt im Roman, S. 52. Bölsche, Die Mittagsgöttin [1902], Bd. II, S. 305.

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hausuhr das „Nichts“24 der modernen Welt erblickt, entlädt sich der Text in die Fülle parataktischer Beschreibungen und Hyperbeln, die die Leere semiotisch so intensiviert, dass sie nicht eigentlich mehr ‚leer‘ wirkt.25 Eine Leere dagegen, die als Aussparung, als Ellipse im Zeichenstrom denkbar wäre, kennt der Text nicht. Weil Bölsches Erzählen in die Fülle wie in die Leere seiner Gegenstandswelt immer nur denselben Reichtum an Zeichen und Benennungen investieren kann, ist es immer wieder damit befasst, Leere in Fülle und Abwesenheit in Präsenz zu verwandeln. Wie in einem horror vacui treibt das Erzählen eine Bewegung an, die die copia buchstäblich als Auf-Füllung entleerter Räume einsetzt und so sukzessive die Straßenfluchten ‚von unten nach oben‘ anreichert. Was im Blick des depressiven Subjekts als „Öde“ beginnt, mündet in ein „Panorama“, in dem der Text allmählich sichtlenkende Horizonte aufeinander lagert und damit den perspektivisch begrenzten Blick in die Raumtiefe auffüllt: Eine einsame Droschke rollte mit lautem Hall dem Bahnhof zu. Gerade vor mir, im Osten, färbte sich der Himmel glühend rot, und in seinem Scheine wuchs langsam, langsam das große Panorama von Berlin zu mir herauf, wie es sich von meinen hohen Fenstern so entzückend überschauen ließ. Zwischen den tiefgrünen Akazienkronen der riesige Exerzierplatz noch wie ein dämmerndes Nebelfeld, über das die Baumgruppen jenseits sich wie bläuliche Inseln einer fernen Welt emporhoben. Links ein mehr und mehr aufglühender Purpurblock: die Artilleriekaserne mit ihrer Sandsteinverkleidung, geradeaus die schwere rote Dächermasse und gelbe Fensterwand des Invalidenhauses, weiter rechts das grünliche Dach des Lehrter Bahnhofs […], endlich in tiefem Schwarzblau die Kuppel des Ausstellungsgebäudes. Fern aber über allem […] die zarte Silhouette der eigentlichen Weltstadt […]. Jetzt zeigte sich in glühender Rundung die Sonnenscheibe selbst, ihr roter Feueratem blitzte durch das durchbrochene Pfeilerwerk der […] Zionskirche hindurch und dann in goldenem Riesenfächer über das ganze Panorama hin.26 24 25

26

Ebd., Bd. I, S. 262. Zudem sind beinahe alle Kulturphänomene aus der Copia erzeugt. So wirkt die spiritistische Bibliothek des Grafen wie ein endloses Neben- und Beieinander der Texte: „Vor meinem Auge erschien die schier unglaublich riesige Armee der alten und neuen Vorkämpfer des Spiritismus. Namen um Namen strahlte aus den Goldlettern der Buchrücken, Bibel an Bibel, Evangelium an Evangelium, Kirchenvater an Kirchenvater der rätselhaften Geheimlehre drängte sich von den Regalen mir zu: alle die dickleibigen Verteidigungsschriften, die endlosen Jahresfolgen der deutschen, französischen, englischen und russischen Journale […]“ (ebd., S. 218). Die spiritistische Lehre erscheint Wilhelm entsprechend als „Überfülle von Anregung“ (ebd., Bd. II, S. 112). – Umgekehrt werden auch die Bilder organischen Verfalls unter der Hand zu Bildern der Fülle. Vgl. etwa ebd., S. 70. Bölsche, Die Mittagsgöttin [1902], Bd. I, S. 306f.

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Darin folgt der Text einer Zeichendynamik, die fortwährend Erinnerungen, Wiedererkennungen und Übertragungen aktiviert. In diesem Sinne fungiert die Copia wie eine semiotische Anamnesis: Fast alles, was Wilhelm in den Blick rückt, erweist sich als bereits Gesehenes bzw. kann – über die Phänomene und ihre ursprünglichen Besetzungen hinweg – erinnert und schließlich umbesetzt werden. In dieser Möglichkeit, Bilder, Impressionen, Wahrnehmungen übertragen zu können, erweist sich die gesamte Phänomenwelt der Erzählung als Welt eines ungeschiedenen phänomenalen Reichtums. Hatte schon das Spreewalderlebnis einzelne Figuren so in die Naturfülle hineingestellt, dass ihre ‚graphische‘ Kontur verschwimmt und sie als derart Ent-Zeichnetes in die Reichhaltigkeit ihres ‚Hintergrundes‘ eintreten,27 so setzt eine Varietéveranstaltung, die Wilhelm besucht, einen assoziativen Prozess des Wiedererkennens und der Gestaltähnlichkeiten frei.28 Bezeichnenderweise ist es eine „hellblaue Ecksäule mit vergoldeten Ornamenten“, die in der Wahrnehmung Wilhelms ein Spiel von „Ähnlichkeiten“29 und gestalthaften Analogien auslöst, in deren Konsequenz die Varietéartistin und das begehrte Medium der Erzählung, Lilly Jackson, in einem „Doppelbild“30 zusammentreten; ein Doppelbild, das zu einer einzigen Gestaltwahrnehmung verschmilzt.31

III. Auf den ersten Blick steht Michael Georg Conrads Münchener Romanzyklus Was die Isar rauscht der andachtsvollen Weltfülle Bölsches nicht nahe. Conrads Texte sind vielmehr unmittelbare Reflexe eines thermodynamischen Wissens, das im ausgehenden 19. Jahrhundert zu den großen kulturellen Symbolspendern aufrückt und auf diesem Weg in die literarische Imagination einwandert.32 „‚Was die Isar rauscht‘“, so hatte Conrad 1888 vor diesem Hintergrund erklärt, 27

28 29 30 31

32

Vgl. ebd., S. 155. Vgl. zu diesem Jugendstil-Motiv Cornelia Blasberg, „JugendstilLiteratur. Schwierigkeiten mit einem Bindestrich“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 72/1998, S. 682–711, hier S. 695f. Bölsche, Die Mittagsgöttin [1902], Bd. II, S. 192f. Ebd., S. 201. Ebd., S. 199. Auffälligerweise wird Lilly zu Beginn im Modus des Wiedererkennens eingeführt. Bevor Wilhelm sie leibhaftig erblickt, erscheint sie ihm auf einer Tischphotographie des Grafen. Vgl. ebd., Bd. I, S. 143. Entsprechend ist der Maler Frey immerfort damit beschäftigt, Lillys Porträt zu malen. Bei einem Besuch in dessen Atelier erblickt Wilhelm „wenigstens dreißig Porträtköpfe von Lilly“ (ebd., Bd. II, S. 35). Vgl. Elizabeth R. Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850–1915, Freiburg i.Br./Berlin 2006.

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ist sozusagen ein Expositions-Roman […], d. h. der Wurzelboden, aus dem eine ganze Serie Münchener Romane rasch nacheinander hervorschießen wird. Eine Reihe von Personen […] – sie alle haben ein so tüchtiges Stück Leben im Leibe, daß sie erst vollkommen zur Ruhe kommen können, wenn sie sich in ihrem Kraftbereich auf irgend einem Schaffensgebiete kämpfend ausgewirkt haben.33

Durch die drei Einzeltexte des Zyklus hindurch wirkt eine Poetik des Verbrauchs und der Verausgabung, die den thermodynamischen Mythos vom Erlahmen aller energetischen Prozesse in ein buchstäbliches Aus-Wirken, in einen ‚Wärmetod‘, des romanhaften Erzählens umgestaltet. Entsprechend ist die entropische Erzähllogik der Romane bereits in den Äußerlichkeiten ihrer arabesken Komposition bemerkbar. Zunächst kombinieren die Texte Material ganz unterschiedlicher Herkunft – Briefwechsel, Figurenreflexionen, die zu veritablen Essays auswachsen, eingelegte Novellen und ‚Realien‘ aller Art, darunter Zeitungsinserate und Reklametexte –, die nur schwach in den Erzählverlauf integriert sind. Sodann fällt es recht schwer, eine thematische Klammer auszumachen. Zentrum des ersten Romans ist ein Spekulationsobjekt – ein Ufergebiet der Isar –, auf dem symbolisch die kulturpolitischen Grabenkämpfe des Zweiten Reiches ausgetragen und die in einen an verbaler Drastik einzigartigen Diskurs über charakterliche ‚Entartungen‘ und gründerzeitliche ‚Kulturlügen‘ versponnen werden. Von besonderer Bedeutung ist schließlich das Schlussstück des Isar-Zyklus, Die Beichte des Narren (1893), das den gesamten Erzähldiskurs von der Symptomatik der Aphasie her gestaltet und schließlich zum Verlöschen bringt.34 Vor diesem Hintergrund wirkt in Conrads Erzählen ein Stil der Copia, der den Verausgabungssinn des Textes nicht eigentlich thematisch erzählt, sondern figurativ und rhetorisch ‚zeigt‘. Copia ist hier als ‚Ordnung‘ von Zeichen zu entziffern, die aus ihrem angestammten Bezeichnungszusam33

34

Michael Georg Conrad, „Vom Werktisch. Fragmente eines Briefwechsels“, in: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst, 2/1888, S. 819–822, hier S. 821. – Der Romanzyklus war ursprünglich auf zehn Bände bemessen. 1888 erschien unter dem Titel des Gesamtzyklus der erste Roman der Reihe, 1890 der zweite (Die klugen Jungfrauen), 1893 der dritte (Die Beichte des Narren). Die geplanten Folgeromane sind nicht mehr erschienen. Vgl. Gerhard Stumpf, Michael Georg Conrad. Ideenwelt, Kunstprogrammatik, literarisches Werk, Frankfurt a.M./Bern/New York 1986, S. 356. Vgl. Michael Georg Conrad, Die Beichte des Narren. Roman, Leipzig 1894, S. 3. Die im Text erwähnte Symptomatik – die „Erkrankungen der linksseitigen dritten Hirnwindung“ (ebd.) – entspricht der ‚motorischen Aphasie‘, wie sie 1861 erstmals von Paul Broca beschrieben wurde. Conrads Roman korrespondiert mit einer ab Mitte der 1870er Jahre sprunghaft ansteigenden aphasiologischen Forschung.

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menhang (‚Realismus‘) heraus- und in einen Zustand der Zerstreuungen, Dissipationen, Wucherungen und Vervielfältigungen eingetreten sind. Ablesbar ist das vor allem an Verfahren der Hyperbolisierung und der Häufung. Conrads gesamter Zyklus folgt einer Dynamik zwanghafter Wiederholungen, die in immer neuen Anläufen den Materialismus und die Repräsentationssucht der Gründerzeit umstellt. „Kein Wunder“, heißt es in der Beichte des Narren, dass nun Alles gerechtfertigt und modern ist: Unehrlichkeit, Beutegier, Habsucht, Gewaltthätigkeit, Grausamkeit, Mordlust, Riesenschwindel, Kriegspektakel, Großkapitalismus, Großmilitarismus. Daneben Fressgier, Trunksucht, Frechheit, Neid, Zerstörungswut, Größenwahn.35

In der Summe solcher Übertreibungen und Aufzählungen tritt nicht nur eine ‚abjekte‘ Physiologie der Gründerzeit hervor, die sich vollständig von organischen Prozessen des ‚Fressens‘, Verschlingens, Verdauens und Ausscheidens her bestimmt; entsprechend verdichtet sich die gesamte negative Anthropologie des Textes im „Drei-Stationen-Mensch: Gurgel, Magen, After“.36 Der Erzähldiskurs geht zudem fast restlos in der Überfülle seiner Akkumulationsfiguren (congeries, expolitio) auf. Sie verantworten eine sprachliche Energie, die in immer neuen Wendungen der Verworfenheit der Zeit habhaft werden möchte. Zugleich setzen sie eine befremdliche Selbstneutralisierung ins Werk, weil sich die zahllosen Invektiven wechselseitig lähmen und ihrer rhetorischen Energie berauben. „Wartet nur, Schlammbeißer!“, heißt es, „Es soll Euch noch barbarisch über die Schnauze gefahren werden“ – „Dämon! Du Hund von einem Dämon – Hurensohn – Lügner –“.37 In gewisser Weise durchläuft der Text so immer wieder denselben ‚argumentativen‘ Sachverhalt: als Gesetz einer Repetition, die das immer Gleiche durch das immer Gleiche hindurch sagt. Vor allem aber Techniken der enumeratio und der Katalogbildung verbannen bei Conrad das traditionelle diegetische Erzählen in eine Breitenamplifizierung, an der nur mehr die Akte und Verzeichnung von sprachlichen Einheiten wesentlich ist: Die Mauerwand war mit bunten Zetteln, roten, gelben, grünen, blauen, oft in Riesengröße und mit fußhohen Buchstaben bedruckt […]. Was wurde da nicht um die Wette annonciert! Konzerte, Bälle, Wurstwaren, Kirchenbaulotterien, Schuhfabrikate, Zwerg-Ausstellung, Gemälde-Auktion, Einberufung der Ersatz35 36

37

Conrad, Die Beichte des Narren [1894], S. 44. Ebd., S. 54. Vgl. zur Psychologie des ‚Abjekten‘ Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M. 1999, S. 516f. Conrad, Die Beichte des Narren [1894], S. 23 und S. 91.

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mannschaften, Staatsanleihen, Rudersport, Bycicle-Klub, Vegetarianismus, Tanzunterricht, Ausverkauf, Zwangsversteigerung, Abzahlungs-Geschäft, Verein für deutsche Interessen im Auslande, Dampffschiffahrt [sic] auf dem Starnberger See, Münchner Kindl-Brauerei, Viehmarkt, Pferderennen, Orpheum, Westendhalle, Kils Kolosseum, Nähmaschinen, Zirkus, Kirchweihe, Schuhmacher-Innung, Militärmusik, Kinderbewahranstalt, Veteranen-Verein […].38

Die „Treue zum Detail“,39 die mit Blick auf derartige Kataloge ausgemacht worden ist, darf nicht als Bild der modernen Lebenswelt oder als erzählerische Illusion verstanden werden.40 Der Sinn der zitierten Passage liegt auch hier in der textuellen Faktur selbst, d. h. in der Auftrittslogik eines Realen, die nur mehr Materialien anhäuft, ohne dass diese Anhäufung aber noch deckend in den Erzählprozess integriert wäre. Entsprechend kennzeichnet den ersten Isar-Roman eine abundante Schriftlichkeit. Beide Romanteile beginnen mit umfänglichen, rund 40 Druckseiten umfassenden Briefen, und beide Briefe bilden in ihrer schweifenden essayistischen Faktur eine Digression, die – wie der Schreiber im Text vermerkt – die „Syntax“ „schände[t]“.41 Noch der im Text ausgetragene Kampf gegen das moderne Zeitschriftenwesen als Ort einer unablässigen semiologischen Produktion bricht sich an dem Umstand, dass der Text selbst in jene Fülle verstrickt ist, gegen die er anschreibt. In ihrer Summe versammeln Conrads Texte damit Teilmomente einer um 1890 aufbrechenden narrativen Krisensituation, mit der der Naturalismus die Möglichkeiten eines im weitesten Sinne ‚diegetischen‘ Erzählens bestreitet. In der Beichte des Narren erfährt auf diesem Weg noch das naturalistische Milieu eine Entleerung: Wenn das Interieur bislang als Zeichenraum fungierte, an dem die determinierende Kraft des Milieus abgelesen werden konnte, dann verwandelt es sich hier in einen wahnhaften Raum, der durch Lautäußerungen, Luftbewegungen und Farbspiele verstörende Momente in die Wahrnehmung einbrechen lässt. Was dem Aphasiker Alexander von Zwerg inmitten seiner Artikulationsverluste entgegentritt, sind plötzliche Konkretionen einer Außenwelt, die eine ebenso verschwörerische wie irrlichternde Sprache unterhalten. „Da kommt’s wieder“, heißt es, „[d]er 38

39

40

41

Michael Georg Conrad, Was die Isar rauscht. Münchner Roman, 2 Bde., Leipzig 1888, Bd. I, S. 150f. Eva-Maria Siegel, ‚High-fidelity‘. Konfigurationen der Treue um 1900, München 2004, S. 226. Vgl. zur Katalogbildung Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S. 134f. Conrad, Was die Isar rauscht [1888], Bd. I, S. 10.

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schreckliche Misston aus der Wand. Ganz plötzlich. Hier an dieser Stelle. Ich bohre hinein. Ich drücke den Finger darauf.“42 So wie hier die Indexikalität der naturalistischen Semiose in sich zerfällt, so endet der Text in einer psalmodierenden Rede, die den Erzähldiskurs buchstäblich ‚verschluckt‘ und zu Ende bringt.43

IV. Lassen sich aus den Befunden an dieser Stelle Einsichten für eine veränderte literaturgeschichtliche Modellbildung ableiten? Was die Texte Bölsches und Conrads anbelangt, so scheint es in ihnen eine Art ‚Verfahrensbewusstsein‘ zu geben, d. h. eine in die semiotischen Prozeduren eingelagerte Reflexion auf die Bedingungen der eigenen Modernität. So ist für Bölsches Mittagsgöttin festzuhalten, dass der Text nicht mehr in der Lage ist, das angestammte Gattungsschema der ‚expressiven‘ Stadtdarstellung zu reproduzieren. Offenkundig weiß sich der Text als ‚später‘ Text; als Text am historischen Ende eines Erzählschemas, das er in dieser nur mehr rudimentären, weil semiotisch überwucherten Form ‚ein letztes Mal‘ erzählt, und er tut dies, um die Stadt als eine literarische Hinterlassenschaft kenntlich zu machen, für die künftig neue und andere Darstellungsverfahren gefunden werden müssen. Bölsches Großstadt-Erzählung läuft auf eine Zukunft des Erzählens zu, die sie selber nicht mehr gestaltet. Bedenkt man Bölsches programmatische Überlegungen zur Poesie der Großstadt, so hat man es hier mit einer Selbstrücknahme der naturalistischen Darstellungsansprüche zu tun: Sie sind, kaum dass der Naturalismus dem Großstadt-Thema eine auf dem Niveau der modernen Industriegesellschaft angesiedelte poetologische Kontur gegeben hat, bereits in den Bann einer Substitution geraten, die die (Über-)Fülle des Realen in der Fülle der Zeichen hat aufgehen lassen. – Ähnliches ist für Conrads Erzählen zu konstatieren. Wenn es zu den hergebrachten Ambitionen des naturalistischen Erzählens zählt, in der Detailtreue zu einem Realen eine epische Illusion zu bewahren, dann markiert Conrads Isar-Zyklus insofern bereits deren Grenze, als in ihm die überlieferten referentiellen Ansprüche des Erzählens zurücktreten. Ganz im Gegenteil verschlingt das figurale Arsenal seiner Häufungen, Enumerationen, Digressionen und Kataloge den naturalistischen Standpunkt der Referentialität und der Wirklichkeitstransparenz. Im Ergebnis hat man es mit der Aufkündigung konstitutiver Bedingungen des Erzählens zu tun. Sie beruhen auf den Analogien, die sich zwi42 43

Conrad, Die Beichte des Narren [1894], S. 2f. Vgl. ebd., S. 367.

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schen Sprachzeichen und Vorstellung, zwischen Erzählen und erinnernder Vergegenwärtigung und zwischen Perzeption und Perzipiertem üblicherweise herstellen, und genau diese Analogien werden von Conrad – zumal dort, wo die Texte Einsichten der zeitgenössischen Psychopathologie mitschreiben (Die Beichte des Narren) – nachhaltig zerbrochen. Naheliegenderweise könnte man Texte dieser Art – um einen Vorschlag zur Systematisierung der Befunde zu machen – als Copia-Texte bezeichnen. Ihre Einheit finden diese Texte darin, dass sie das naturalistische Gebot der Fülle auf der diegetischen wie auf der semiotischen Ebene übertreten und damit das Verhältnis von Referenz und Texturierung als einen doppelten textuellen Darstellungsanspruch problematisch werden lassen. Naturalistisch sind diese Texte nicht, weil sie einem referentiellen Gehalt detailmimetisch zu seiner Darstellung verhelfen (das entspricht eher einer konventionalisierten Ansicht des Naturalismus), sondern weil sie diegetisches Erzählen und semiotische Produktion fortwährend alternieren bzw. das diegetische Erzählen unter den Wucherungen der Zeichen gewissermaßen versteppen lassen. Von nichts anderem erzählen die wohl prominentesten Copia-Texte der Zeit, Zolas Romane Le Ventre de Paris (1873) und Au Bonheur des Dames (1883). Diegetisch-realistische einerseits, dereferentialisierend-formale Verfahren andererseits sind daher auch keine vermittlungslosen Systemalternativen der Literatur im ausgehenden 19. Jahrhundert,44 sondern markieren ein aus dem Innenbereich der naturalistischen Texte hervorbrechendes Verfahrensspektrum (mit Einschränkungen gilt dies schon für den Realismus). Dass die Texte diesen doppelten Verfahrensstand nicht narrativ vermitteln, sondern ihn gemäß einer mehrheitlich seriellen narrativen Strukturierung eher in die Breite erzählen als verdichten, erklärt ihre ästhetische Schwäche. Man kann diese Beobachtungen nicht beschließen, ohne einem naheliegenden Missverständnis zu begegnen. Verfahrensgeschichtlich geht der Naturalismus nicht im Copia-Text auf, wie er überhaupt von einem verfahrensgeschichtlichen Gesichtspunkt her nicht angemessen verstanden werden kann. Dem Copia-Text sind zwei weitere Verfahrensgesichtspunkte an die Seite zu stellen. Der erste entspräche jener homogenen, aber an der normativ gesetzten ‚Realität‘ bemessen idiosynkratischen Diskursivierung, zu deren

44

Vgl. bei genauer Rekonstruktion der realistisch-naturalistischen und ästhetizistisch-dereferentialisierenden Systemalternativen schon Gerhard Plumpe, „Systemtheorie und Literaturgeschichte. Mit Anmerkungen zum deutschen Realismus im 19. Jahrhundert“, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M. 1985, S. 251–264, hier S. 256.

Textverfahren der Copia um 1890

333

Bezeichnung der Begriff der ‚Routines‘ vorgeschlagen wurde.45 Tatsächlich sind gewisse Teile der naturalistischen Texturierung hiermit zutreffend erfasst, freilich sind dies in der Hauptsache Verfahren, die der ‚konsequente Naturalismus‘ ausgebildet hat, so dass die Rede von den ‚Routines‘ die Kanonisierungseffekte der älteren Forschung wiederholt. Gleichwohl darf man hier eine der literaturgeschichtlichen Leistungen des Naturalismus sehen, nämlich Erzähldiskurse hervorgebracht zu haben, die ihr Einheitsprinzip nur noch in ihren – (psycho-) pathologischen, ästhetisierten oder sonst wie idiosynkratischen – Aussagemustern finden und daher im partikularen Wahrnehmungsraum der sie tragenden Erzählsubjekte aufgehen; dies wäre neben den Exempeln des ‚konsequenten Naturalismus‘ für Conrads Beichte des Narren nachzuweisen, die mit den Mitteln des inneren Monologs und der erlebten Rede die Symbolisierungsverluste eines Aphasikers aufzeichnet, oder für den Versuch Hermann Conradis, buchstäblich psychophysisch zu erzählen (Adam Mensch, 1889). Freilich verantwortet dies zugleich eine eigentümliche Doppelstellung der naturalistischen ‚Routines‘: Zwar wird in ihnen keine idealisierte ‚Realität‘ mehr mitgeschrieben, dennoch gibt es in beiden Fällen einen wissenschaftlichen Metasignifikanten (Aphasie, Psychophysik), der das Erzählte wieder an kulturell codierte Semantiken und Diskursregeln rückbindet.46 Wie das Verhältnis von ‚Routines‘ und positiven Wissenschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert im Detail beschaffen ist, wäre vermutlich noch zu klären. Der zweite Verfahrensgesichtspunkt besteht im Fortwirken der idealrealistischen Epistemologie und ihrer Verklärungsdogmatik bzw. ihrer Orientierung an einem zentrierenden Metacode.47 Diese Ausrichtung an einem Metacode ist schon deswegen nicht auf den Bürgerlichen oder Poetischen Realismus zu beschränken, weil das entsprechende (tiefen-)epistemologische Schema primär formal bestimmt ist und insofern keine Präferenz 45 46

47

Vgl. den einleitenden Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band. Während Conrads Beichte des Narren an den Diskurs der Aphasiologie rückgebunden ist, greift Conradis Roman psychophysische Erklärungsmuster auf. Bezeichnenderweise zielt der Text auf ein Kulturprojekt, in dem, wie es heißt, die „Psychophysik […] Gemeingut“ (Hermann Conradi, Adam Mensch. Roman, Leipzig 1889 [Nachdruck, Karben 1997], S. 106) werden soll. Vgl. Ingo Stöckmann, „Psychophysisches Erzählen. Der Wille und die Schreibweise der Nerven bei Hermann Conradi“, in: Maximilian Bergengruen/Klaus Müller-Wille/Caroline Pross (Hrsg.): Neurasthenie. Die moderne Krankheit und die Literatur der Moderne, Freiburg i.Br. 2010, S. 289–312. Vgl. die klassische Rekonstruktion durch Ulf Eisele, „Realismus-Theorie“, in: Horst Albert Glaser (Hrsg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 7: Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus 1848–1880, Reinbek 1982, S. 36–46.

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Ingo Stöckmann

auf die Art und Weise des Metacodes selbst besitzt. Anders formuliert: Dass der realistische Metacode mit den Mitteln einer ent-historisierten Umschrift der Hegel’schen Ästhetik als ‚Verklärung‘ bzw. ‚Idealisierung‘ gedacht wird,48 ist eine semantische Bestimmung, die aus der (ihrerseits transsemantischen) Struktur des Modells selbst nicht herleitbar ist. Tatsächlich erzählen weite Teile der naturalistischen Romanliteratur in den Bahnen gerade dieses Schemas; dies gilt vor allem für die sozialen Romane Max Kretzers aus den 1880er Jahren (Die beiden Genossen, 1880; Die Betrogenen, 1882; Meister Timpe, 1888), aber auch für Texte von Max Nordau (Die Krankheit des Jahrhunderts, 1888), Kurt Grottewitz (Eine Siegernatur, 1892) oder Felix Hollaender (Sturmwind im Westen, 1892). In allen Fällen handelt es sich um ein tiefenepistemologisches Erzählen, in dem alle ‚Erscheinungen‘ auf einen fundierenden Metacode hin ausgerichtet werden, der sie zentriert und als dessen ‚oberflächenhafte‘ Transkription sie erscheinen.49 Gegenüber dem realistischen Metacode hat hier lediglich eine Substitution semantischer Art stattgefunden: Statt ‚Verklärung‘ machen die Zeichen im Text nun den naturalistischen Metacode der ‚Verelendung‘ sichtbar. Vermutlich sind die Beobachtungen wenig dazu geeignet, die ohnehin schwer zu überschauende, weil überaus vielstimmige Situation der frühen Moderne vordergründig überschaubarer zu machen. Sie könnten aber verdeutlichen, dass der Naturalismus nicht mit den binären Phasenkonstruktionen der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung und ihren ‚Überwindungs‘-Schemata erfassbar ist. Verfahrensgeschichtlich hat er vielmehr wie ein doppeltes Reservoir der literarischen Moderne gewirkt; zum einen in einem rückwirkenden Sinn, indem er die realistische Orientierung an einem Metacode für die eigene tiefenepistemologische Schreibpraxis aufbewahrt und aktualisiert hat; zum anderen in einem horizontbildenden Sinn, indem er die diegetisch-realistischen Darstellungsansprüche des 19. Jahrhunderts wie der eigenen Programmatik in der Flut idiosynkratischer oder beschreibender Zeichen aufgezehrt hat. In dieser Selbstverfehlung besteht die diskrete Modernität des Naturalismus.

48

49

Vgl. Gerhard Plumpe, „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1985, S. 9–40. Vgl. Ingo Stöckmann, Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900, Berlin/New York 2009, S. 41–137.

Mosaik und Doppelung

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Peter Sprengel (Berlin)

Mosaik und Doppelung Trunkenheits-Darstellung bei Liliencron, Holz, Gerhart Hauptmann und Scheerbart

Rausch und Trunkenheit sind – man denke nur an die Tradition der Anakreontik – ein uraltes Thema der Poesie. Die literarische Moderne um 1900 greift es gemäß den ihr eigenen Voraussetzungen auf, indem sie eine jedenfalls in der Konsequenz des Verfahrens neuartige mimetische Annäherung an das subjektive Empfinden erprobt. Das soll im Folgenden an vier bewusst gattungsübergreifend ausgewählten Texten diskutiert werden: • Liliencrons Gedicht Betrunken aus den Neuen Gedichten (1892) • ein Gedicht aus Holz’ Phantasus (2. Heft, 1899) mit der Anfangszeile „Gottseidank“, das in der erweiterten Fassung von 1916 ganze 93 Folioseiten ausfüllt • Gerhart Hauptmanns Drama Schluck und Jau, das im Februar 1900 seine Uraufführung erlebte • und Paul Scheerbarts „arabischer Kulturroman“ Tarub. Bagdads berühmte Köchin (erschienen 1897) Dabei geht es nicht um die inhaltlichen Implikationen der dargestellten Problematik und den Zusammenhang mit zeitgenössischen Diskursen wie der Abstinenzbewegung oder Eugenik;1 auch von den autorpsychologischen oder autobiographischen Dimensionen des Themas wird weitgehend abgesehen. Im Vordergrund soll die Frage nach den literarischen Techniken stehen, mit denen höchst unterschiedliche Autoren der vorletzten Jahrhundertwende den Zustand der Trunkenheit evoziert haben. Dabei lassen sich Muster der Textstrukturierung und Verknüpfung beobachten, die wohl auch über den gegenständlichen Anlass hinaus Relevanz für die Literatur der frühen Moderne beanspruchen. Das gilt schon für den Gattungscharakter von Liliencrons Betrunken. Mit seinen freirhythmischen Versen ließe sich das Gedicht auch wie eine Ich-Erzählung in Prosa und gegen Ende wie ein großer Monolog lesen: 1

Vgl. beispielsweise Bernhard Tempel, Alkohol und Eugenik. Ein Versuch über Gerhart Hauptmanns künstlerisches Selbstverständnis, Dresden 2010.

336 Ich sitze zwischen Mine und Stine, Den hellblonden hübschen Friesenmädchen, Und trinke Grogk. Die Mutter ging schlafen. Geht Mine hinaus, Um heißes Wasser zu holen, Küss’ ich Stine. Geht Stine hinaus, Um ein Brötchen mit aufgelegten kalten Eiern Und Anchovis zu bringen, Küss’ ich Mine. Nun sitzen wieder beide neben mir. Meinen rechten Arm halt’ ich um Stine, Meinen linken um Mine. Wir sind lustig und lachen. Stine häkelt, Mine blättert In einem verjährten Modejournal. Und ich erzähl’ ihnen Geschichten. Draußen tobt, höchst ungezogen, Unser guter Freund, Der Nordwest. Die Wellen spritzen, Es ist Hochflut, Zuweilen über den nahen Deich Und sprengen Tropfen An unsre Fenster. Ich bin verbannt und ein Gefangener Auf dieser vermaledeiten, Einsamen kleinen Insel. Zwei Panzerfregatten Und sechs Kreuzer spinnen mich ein. Auf den Wällen Wachen die Posten, Und einer ruft dem andern zu, Durch die hohle Hand, Von Viertel- zu Viertelstunde, In singendem Tone: Kamerad, lebst du noch? Wie wohl mir wird. Alles Leid sinkt, sinkt. Mine und Stine lehnen sich An meine Schultern. Ich ziehe sie dichter und dichter An mich heran. Denn im Lande der Hyperboreer,

Peter Sprengel

Mosaik und Doppelung Wo wir wohnen, Ist es kalt. Ich trank das sechste Glas. Ich stehe draußen An der Mauer des Hauses, Barhaupt, Und schaue in die Sterne: Der winzige, matt blinkende, Grad über mir, Ist der Stern der Gemütlichkeit, Zugleich der Stern Der äußersten geistigen Genügsamkeit. Der nah daneben blitzt, Der große, feuerfunkelnde, Ist der Stern des Zorns. Welten-Rätsel. Die Welt – das Rätsel der Rätsel. Wie mir der Wind die heiße Stirn kühlt. Angenehm, höchst angenehm. Ich bin wieder im Zimmer. Ich trinke mein achtes Glas Nordnordgrogk. Kinder, erklärt mir das Rätsel der Welt. Aber Mine und Stine lachen. Das Rätsel, bitt’ ich, Das Rätsel der Welt. Ich trinke das zehnte Glas. Tanzt, Kinder, tanzt, Ich bin der Sultan, Ihr seid meine Georgierinnen, Ich liebe euch, Geht mit mir zu Bett. Ich kann nicht tanzen mehr? Wie sagte doch der Sultan Im Macbeth? Ich meine Shakespeare: Trunkenheit reizt zur Liebe, Aber die Beine, Oder was sagte er, Möchten gern, aber sie können nicht. Mädchens, unterstützt mich, Hebt mich, Ich will eine Rede reden: Die Welt ist das Thal der Küsse, Die Welt ist der Berg des Kummers, Die Welt ist das Wasser der Flüssigkeit, Die Welt ist die Luft des Unsinns.

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Peter Sprengel

Was sagte ich? Ich setze mich. Noch ein Glas Grogk. Vorwärts! Die Langeweile, Verzeiht, Mächens, An eurer Seite, Schändlich, das zu sagen, Die Welt ist das Thal, das, Das Thal der Langenweile. Jetzt ist Macbeth, Ich lieb’ euch, Mächens, Ich bin der Sultan, Gebt mir Pantherfelle. Die Sklaven, die Sklaven her! Zum Donner, wo bleiben die Schufte! Auf mein Lager tragt mich. Ich will schlafen. So, Macbeth, Tanzen, tan-zen. Gu’ Nacht, Ich wer’ mü-de, Gu’ Nach… Wie-e?2

Die erste Strophe führt uns jenen sensualistischen Ansatz von Liliencrons Lyrik vor Augen, den Hartmut Marhold zur Grundlage seiner entschiedenen Inanspruchnahme dieses Autors als Hauptvertreter des deutschen Impressionismus (in einem sehr wörtlichen, an das Vorbild der französischen Malerei angelehnten Sinne) genommen hat.3 Wie in der ersten Strophe von Liliencrons Gedicht Four in hand positioniert sich das lyrische Ich mit Hilfe räumlicher Bestimmungen, die unmittelbar aus einer nachvollziehbaren Perspektive gesprochen sind: Vorne vier nickende Pferdeköpfe, Neben mir zwei blonde Mädchenzöpfe, Hinten der Groom mit wichtigen Mienen, An den Rädern Gebell.4

2

3

4

Detlev von Liliencron, Neue Gedichte, Leipzig [1892], S. 103–106. Derselbe Band erschien 1895 mit neuer Verlagsangabe bei Schuster & Loeffler, Berlin. Eine erweiterte Neuausgabe erfolgte 1900 unter dem Titel Nebel und Sonne; danach die Einordnung in: Gesammelte Werke, Bd. 1–5, Berlin 91921, Bd. 3, S. 81–85. Hartmut Marhold, Impressionismus in der deutschen Dichtung, Frankfurt a.M. [u. a.] 1985. Liliencron, Adjutantenritte und andere Gedichte, Leipzig [1883], S. 46.

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In unserem Fall ist es die Zwischenstellung des männlichen (und seine Männlichkeit betont auslebenden) Sprechers zwischen den sich reimenden Schwestern Mine und Stine, aus der sich das erotische Versprechen des Gedichts ergibt: Wie ein Don Juan scheint der Grog-Trinker die Gunst sowohl der einen als auch der anderen Blondine in Anspruch nehmen zu dürfen. Was anfangs noch in bescheidenem Rahmen im Wechsel geschieht, nämlich wenn jeweils die andere Schwester das Zimmer verlässt („Küss’ ich Stine“, „Küss’ ich Mine“), wächst sich im Verlauf des Grogabends zu einer regelrechten Haremsphantasie aus, bei der der Sultan beide Konkubinen gleichzeitig zu sich ins Bett lädt. Dafür, dass diese Phantasie Phantasie bleibt, sorgt, wie wir noch sehen werden, derselbe Alkohol, der sie hervorlockt. Doch nicht nur! Denn schon die 1. Strophe macht deutlich, dass sich das erotische Begehren in der hier geschilderten Konstellation wesentlich auf den Trinker selbst beschränkt: „Stine häkelt, / Mine blättert“ – dieser letzte und vielleicht auffälligste von zahlreichen teilweise durch Reim oder Assonanz hervorgehobenen Zweier-Parallelismen der ersten Strophe stellt hinreichend von Anfang an klar, dass der bürgerliche Anstand in diesem Gedicht keine ernsthafte Gefährdung erleidet. Die binäre Struktur, die mit der Stine-Mine-Balance in der 1. Strophe etabliert wurde, setzt sich fort, wenn das idyllische Glück des Trinkers in der 2. und 3. Strophe gegen einen doppelten Kontrast abgesetzt wird: zunächst gegen die Bedrohungen von Meer und Wetter, dann gegen die Zumutungen des preußischen Militärs, dem Liliencron selbst lange genug als Offizier angehört hatte (bis er es wegen zu hoher Schulden verlassen musste). Auch beim nächsten Anlauf zu einer bürgerlichen Erwerbstätigkeit, auch im preußischen Verwaltungsdienst, der ihn 1882 als so genannten Hardesvogt auf die Nordseeinsel Pellworm führte, und auf eben dieses Intermezzo wird in unserem Gedicht offensichtlich angespielt, fühlte sich Liliencron regelrecht bestraft und „verbannt“, wie ein Beuteinsekt von übermächtigen Spinnen eingefangen. Übrigens kann man wohl sicher sein, dass nie ein preußischer Posten den anderen mit der Parole „Kamerad, lebst du noch?“ angeredet hat. Wir dürfen in dieser Erfindung eine satirische Spitze sehen, die der Abneigung des Verfassers gegen den lebensfeindlichen Militärdienst entspringt, und zugleich wohl auch das erste Signal einer verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung infolge des Alkoholkonsums, für die sich in den nachfolgenden Strophen noch handfestere Beispiele finden lassen. Strophe 4 bringt zunächst einen Höhepunkt des Glücksempfindens. Das Sprecher-Ich fühlt sich, fraglos unter der Wirkung des einsetzenden Alkoholrausches, in weitgehender Harmonie mit der Welt: „Alles Leid sinkt, sinkt“. Eine ähnliche Verdoppelung findet sich drei Zeilen später:

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Peter Sprengel

„dichter und dichter“ zieht der Sprecher die beiden Schwestern an seine Schultern. Dieser Glückszustand lässt sich allerdings nicht lange festhalten: Schon das sechste Glas treibt den Grogtrinker vor die Haustür. In Parenthese sei nur festgestellt, dass wir solchen Zählungen getrunkener Gläser auch bei Arno Holz begegnen werden. Sie enthalten eine Information für den sachkundigen Leser, mit welcher Einschränkung der rationalen Kontrolle er etwa bei der Erzählinstanz zu rechnen hat, und verleihen dem Text selbst zugleich ein gewisses serielles Moment: Das Subjekt ist angezählt, wenn man so will, der Text ist das Protokoll und Produkt seiner Veränderung durch den Rausch. „Und ich erzähl’ ihnen Geschichten“, hieß es am Ende der ersten Strophe. Die Geschichte, die uns der solchermaßen durchgezählte, fast nummerierte Text erzählt, ist der Prozess einer wachsenden Benebelung. Wir haben es also, narratologisch gesprochen, mit einem zunehmend unzuverlässigen Erzähler zu tun – einem Markenzeichen der heraufziehenden Moderne. Wie sich aber noch die meisten expressionistischen Autoren (etwa Georg Heym in Der Irre) erfolgreich um eine Balance bemühen zwischen der notwendigen Orientierung des Lesers und der Vergegenwärtigung subjektiver Wahnvorstellungen, so stellt auch Liliencron eine Art Grundversorgung des Publikums sicher: etwa durch die Nummerierung der Gläser bis hin zum zehnten Glas Grog (das wohl nur wenige Trinker als solches noch identifizieren können) oder durch kleine Regieanweisungen, die den fortan in den Vordergrund tretenden Monolog des betrunkenen Ich unterbrechen. Zunächst sieht das Ich zwei Sterne, von denen die Astronomie nichts weiß: den „Stern der Gemütlichkeit“, in der Werkausgabe durch einen neu eingefügten Vers als „Der Skatstern“ definiert, und den Zornstern – auch hier setzt sich das System der dualen Struktur fort. Von den Sternen lässt sich der Sprecher zu Meditationen über das Rätsel der Welt inspirieren, die man für eine Parodie auf Ernst Haeckels Monismus halten würde, wüsste man nicht, dass dessen „gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie“ mit dem Haupttitel Die Welträthsel erst 1899 erschienen sind – also sieben Jahre nach Liliencrons Gedicht. Dennoch ist der Anklang kein Zufall. Der Berliner Naturforscher Emil du Bois Reymond hatte 1880 in seiner Leibniz-Rede die Entstehung des organischen Lebens als unlösbares Rätsel bezeichnet, als eines der so genannten sieben Welträtsel, nach denen er seine Rede auch benannt hatte,5 und Haeckel war gegen diese resignative Haltung schon in einer früheren Schrift von 1892 (also 5

Emil Du Bois-Remond, Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträthsel. Zwei Vorträge, Leipzig 1882.

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etwa zeitgleich mit der vermutlichen Entstehung des Gedichts) zu Felde gezogen.6 Liliencron bezieht sich somit auf einen hochaktuellen7 Weltanschauungsdiskurs der Zeit. Andererseits dürfte ein solches Stammeln über letzte, allzu allgemein und direkt gestellte Fragen zu den typischen Symptomen eines alkoholisierten Sprachverhaltens gehören, das hier recht treffend karikiert wird. Es handelt sich demnach um eine Karikatur mit doppeltem Boden: Der Sprecher erweist sich durch seine Frage nach dem „Rätsel der Welt“ als Trinker und zugleich (wenn auch mit parodistischem Akzent) als Teilhaber an den führenden philosophischen Diskursen seiner Zeit. Ein solches Spiel mit doppeltem Boden erlaubt sich der Autor erst recht mit der Shakespeare-Allusion, die sich zu einem Leitmotiv des Schlussteils entwickelt und in der Tat, wie sich bei näherem Hinsehen zeigt, einen Schlüssel zum Verständnis des ganzen Gedichts enthält. Dreimal wird der Titel „Macbeth“ genannt (einmal sogar in direkter Anrede). Primären Anlass bildet das Versagen der Beine des Trunkenen beim Versuch, einen tanzenden Sultan zu spielen und die schon erwähnte Harems-Phantasie in die Wirklichkeit zu übertragen. Stammelnd schließt das Literaturzitat an: Wie sagte doch der Sultan Im Macbeth? Ich meine Shakespeare: Trunkenheit reizt zur Liebe, Aber die Beine, Oder was sagte er, Möchten gern, aber sie können nicht […]

In der Zweiten Szene des Zweiten Aufzugs ergibt sich in Shakespeares Macbeth folgender Dialog zwischen Macduff und dem Pförtner (hier zitiert nach der Übersetzung von Schlegel/Tieck): Macduff: Was sind denn das für drei Dinge, die der Trunk vorzüglich befördert? Pförtner: Ei, Herr, rothe Nasen, Schlaf und Urin. Buhlerei befördert und dämpft er zugleich: er befördert das Verlangen, und dämpft das Thun. Darum kann man sagen, daß vieles Trinken ein Zweideutler gegen die Buhlerei ist: es schafft sie, und vernichtet sie: treibt sie an, und hält sie zurück; macht ihr Muth, 6

7

Ernst Haeckel, Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntniss eines Naturforschers, Bonn 1892, S. 23, S. 38 u. S. 44. Als Anspielung auf ihn ist vielleicht auch der Schulaufsatz des Ich-Erzählers in Panizzas Erzählung Der Korsetten-Fritz (1893) zu werten. Er beginnt mit dem Satz: „Die Bestimmung des Menschen ist, die Rätsel, mit denen ihn diese Welt umgibt, zu lösen […]“ (Oskar Panizza, Die Menschenfabrik und andere Erzählungen, Berlin 1984, S. 88).

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und schreckt sie ab; heißt sie, sich brav halten, und nicht brav halten; zweideutelt sie zuletzt in Schlaf, straft sie Lügen, und geht davon.8

Mit dem Einschlafen des betrunkenen Mannes endet auch Liliencrons Gedicht, das sich als Ganzes als ein Exempel auf die Weisheit des Shakespeare’schen Pförtners lesen lässt: Der Alkohol erzeugt erotische Phantasien von geradezu orientalischen Dimensionen und steht zugleich ihrer Umsetzung im Wege. Denn gewiss sind es nicht nur die Beine beim Tanzen, die dem Sprecher hier den Dienst versagen. Bevor das lyrische Ich definitiv die Kontrolle auch über die Hochsprache verliert, ins Plattdeutsche zurückfällt, das sich zuvor schon in der Anrede „Mächens“ ankündigt, und quasi naturalistische Gedankenstriche für Sprechpausen produziert, hält es jedoch noch eine Rede über das oder die Rätsel der Welt: Die Welt ist das Thal der Küsse, Die Welt ist der Berg des Kummers, Die Welt ist das Wasser der Flüssigkeit, Die Welt ist die Luft des Unsinns.

Das letzte Wort hat natürlich besonderes Gewicht. Als eine Art Metakommentar qualifiziert es diese symmetrisch und somit poetisch gebauten Sätze – gerade Liliencrons Lyrik arbeitet ja in sehr auffälliger Weise mit Symmetrien und Parallelismen – als schlichte Unsinnspoesie. Die Trunkenheitslyrik des impressionistischen Zeitalters greift hier gleichsam schon auf Morgenstern oder DADA voraus. Arno Holz hat nicht nur Liliencron allgemein, sondern besonders sein Gedicht Betrunken sehr geschätzt. In einem Brief an Dehmel vom Oktober 1896 bezeichnet er Liliencron, und das bedeutet zweifellos eine große Anerkennung, als „gebornen Mosaikarbeiter“ – wohl mit Rücksicht auf die Zusammengesetztheit weiter Teile seiner Lyrik aus einzeln identifizierbaren Sinneseindrücken. Als Mosaik von (sprachlich suggestiv imitierten) Eindrücken und Empfindungen ist – nach seiner Emanzipation aus dem Buch der Zeit (1884) und der damit verbundenen radikalen Neustrukturierung – auch Holz’ Phantasus angelegt. In seiner Selbstanzeige (1898) und der darauf basierenden programmatischen Schrift Revolution der Lyrik (1899) kommt Holz nochmals auf Liliencron, und zwar speziell auf das hier behandelte Gedicht zurück. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der freien Rhythmen erklärt er dort:

8

William Shakespeare, Macbeth, in: Ders., Dramatische Werke, übers. v. August Wilhelm Schlegel/Ludwig Tieck, Bd. 12, Berlin 1840, S. 298.

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von Allen, die in Deutschland bisher Verse geschrieben, weiß ich nur Einen: Liliencron! Man lese sein Lyrikon Betrunken. Da ist alles bereits erreicht. Aber er wußte offenbar selbst nicht, was ihm gelungen war, und die Wunderthür, die seine Wünschelruthe schon gesprengt hatte, fiel, ohne daß er Dessen, wie im Märchen, gewahr wurde, wieder hinter ihm ins Schloß. Er war zu sehr Dichter, „nur“ Dichter, um zu ahnen, welchen seltsamen Dingen er bereits auf der Spur gewesen.9

Vielleicht hängt es mit Holz’ Verehrung für Liliencrons Trunkenheits-Poem zusammen, dass er in die erste Buchfassung seines Phantasus (1898/99) gerade kein vergleichbares Gedicht über einen Alkoholrausch aufgenommen hat, so nahe dergleichen angesichts der Konzeption dieses Zyklus vielleicht gelegen hätte. Denn grundsätzlich schildern Holz’ Phantasus-Gedichte ja immer wieder die Erweiterung bestimmter Sinnenreize, konkreter sinnlicher Wahrnehmungen zu imaginären Vergegenwärtigungen auch zeitlich und räumlich entfernter Stadien oder Teile der Welt. Typisch dafür ist das Gedicht mit der Anfangszeile „Gottseidank!“, bei dem allerdings nur Nikotin statt Alkohol ins Spiel kommt. Auch hier begegnet uns der bei Liliencron vorgegebene, in der vorangegangenen Literaturepoche vor allem von Raabe kultivierte10 Gegensatz zwischen schlechtem Wetter draußen und behaglichem Wohlsein im Innenraum; im Motiv des Schlafrocks wird er geradezu philiströs ironisiert: Gottseidank! Die Hausthür ist zu, mich kann Niemand mehr besuchen. Ich öffne ein Päckchen ‚Blaubienenkorb‘ und stopfe die lange Pfeife. Es regnet so schön. In den Schlafrock gewickelt, die Tapete entlang, fährt sichs jetzt prächtig nach alten Ländern. Alles versinkt! Aus einem stillen, himmlisch blauen Wiesenwässerchen mit bunten, gespiegelten Blumen und Wolken lande ich in ein Städtchen. Die dünnen Gräserchen über die bröckelnde Rundmauer blinken noch, jedes sich drehende Wetterfähnchen erzählt mir eine Geschichte.11 9 10

11

Die Zukunft, 30. April 1898, S. 210–219, hier S. 216. Man denke vor allem an den Anfang der Chronik der Sperlingsgasse (1856) und der Erzählung Zum wilden Mann (1874). Arno Holz, Phantasus, verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung, Gerhard Schulz (Hrsg.), Stuttgart 1978, S. [74].

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Einen Anklang an Liliencron, dessen Gedicht Betrunken ja ausdrücklich vom Geschichten-Erzählen spricht, könnte man vielleicht in der letzten Zeile vermuten („erzählt mir eine Geschichte“). Doch gewinnt diese Parallele eigentlich erst dann eine gewisse Plausibilität, wenn man weiß, dass Holz in späteren Fassungen des Gedichts tatsächlich das Motiv der Alkoholisierung einführt. Im so genannten „Elephantasus“, der stark erweiterten Folio-Ausgabe des Phantasus von 1916, wird aus der ursprünglich in 15 Zeilen umrissenen Traum-Situation ein 93 Großseiten umfassendes Miniatur-Epos entwickelt, das als Teil V auch äußerlich hervorgehoben ist. Beschrieben wird darin vorwiegend die imaginäre Reise ins Morgenland, zu der sich der Träumer durch die Muster seiner Tapete anregen lässt, mit vielen recht absurden, humoristisch geschilderten Abenteuern. Für so viel Phantasie-Aufwand bedarf man wohl stärkerer Drogenzufuhr, als es ein Päckchen „Blaubienenkorb“-Tabak gewährt, und so wird hier, nach einem besonders strapaziösen orientalischen Phantasie-Abenteuer, erst einmal ein regelrechter CherryBrandy-Punsch hergestellt und konsumiert – wiederum mit Zählung der Gläser à la Liliencron: Das erste Glas, dem Spiegel vis-à-vis, den Schlafrock, ein mir liebend verehrungsvoll überwiesnes Relikt „aus einer von wallonischen Reitern gesprengten Truhe eines spanisch-maurischen Minoritenklosters des siebzehnten Jahrhunderts“, Absenderin Rosamindchen, halb Fausts Mantel, halb Franziskanerkutte, romantisch malerisch drapiert, den Fez, trotz annoch und gottseidank mangelnder Glatze, herausforderndst stillvergnügt, im Genick, – alle verehrten Anwesenden werden gebeten, sich dabei gebührend von ihren Sitzen, Sesseln, Schemeln, Stühlen, Pritschen, Plüschbänken und Polstern zu erheben – andächtigst, ehrfurchtsvollst, feierlichst, wird s t e h e n d getrunken!12

Die Stärkung besteht offensichtlich nicht nur aus geistigen Getränken, sondern auch aus weltliterarischen Autoritäten wie dem Volksbuch vom Doktor Faust und Shakespeares Wie es euch gefällt (Rosaminde/Rosalinde). Diese können jedoch nicht verhindern, dass Holzens Phantasus-Ich am Ende seiner morgenländischen Reise-Aventiuren regelrecht betrunken heimkehrt. Die

12

Arno Holz, Phantasus, Leipzig 1916, S. 175f.

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Darstellung dieser Trunkenheit füllt die vorletzte Seite des 5. Phantasus-Kapitels von 1916 und ist engstens mit der imaginären Rückfahrt aus dem Morgenland verbunden: – Prost! Skal! Ex! Der letzte Troppen! Jetzt wird’s Zeit ins Bett zu hoppen! – die ganzen, sojenannten Morjenländer – Nanu? Mein Stuhl! Was ful … das ful! Wat … schreegt de Uhl? De Aben … kuhl? Halt’s Mul! Halt’s Mul! – die janzen, sojenannten Morjenländer – Up?! – hab ich jetzt gründlich dick und satt! Durch den Suezkanal, Kreta entlang, – das schwanke, wanke, blanke Dielendeck unter mir schaukelt, mir wird ganz bang – um die alte Halbinsel des Pelops herum, Sizilien im Rücken, sardinienwärts, Minorka, Majorka, Tanger vorbei, wieder, hurrah, in die grüne Atlantis! Da ich den Weg auf meiner alten, verzauberten Wundertapete, als welche jetzt mein ganzes Zimmer figuriert, das jetzt rund um mich rotiert, jetzt, gottseidank, ganz genau kenne, – Da das olle, wurmstichige, wacklige Rokokokommodoïd! Hier die Bibliotheka pauperis! Dort die Penne! – geht es erheblich … beschwingter! Die Bretagne vorbei, durch das Skagerrak, die Kutte fliegt auf das Sofawrack, der Lammfellfez, da lieg’, du Hund, mitten ins gelbe Lampenrund, zwischen Schweden und Seeland durch den Öresund, ritsch ratsch, bumms, da, schon mein Bett, ritsch ratsch, bumms, das nenn’ ich nett, ei, wie liegt sich’s hier adrett, – Was? du brennst noch, altes Biest? Wie mich dieses baß verdrießt! Weil dein Schein mich ganz begießt! „Pphh!!“ Aus!! Nacht!! Der Tebel lacht!! – ritsch ratsch, bumms, wieder in die Baltis! Buchenwälder, Kreidefelsen, die so schnöde verlassne Heimat! „Nord, Ost, Süd, West – to Hus is best!“ Schon halb im Schlaf, ich reiße den Rachen sperrangelweit wie ein Nilpferd und huhjane, huhjane, der Tebel hol mer, ich fange wirklich an ehrlich müde zu werden, ich liege längst in meiner Kabache, ich glaube fast beinah, ich habe eklig einen zu sitzen, in einem vergoldeten Nußschälchen, durch einen Wald von Vergißmeinnicht, oder ist es ein Pampuschen? ein Pantoffel? Ein verwunschner, silberner Kanonenstiebel, oder ein gläserner Galoschen?

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Peter Sprengel – aus Palmen Erlen, statt Paradiesvögel Finken, Strohdächer blinken, alte süßselige, buntglitzernde, vergessne, längst schon verloren geglaubte Erinnerungsbilder winken – ample, hample, jample, strample, kample ich mich, durch das webende, bebende, schwebende, wogende, rauchende Dunkel, noch immer weiter, weiter, weiter, weiter und weiter! … Raumwärts! … Raumwärts! … Traumwärts!13

Der Witz dieser Schilderung liegt nicht zuletzt in der Verbindung, die zwischen dem Schwanken einer Seefahrt bei stärkerem Wellengang und dem schwankenden Gang eines Trunkenen hergestellt wird. Der Säufer-Träumer findet über „das schwanke, wanke, blanke Dielendeck“ nur noch mit Mühe ins Bett zurück, die Möbel seines Zimmers verwandeln sich gleichsam in zu umschiffende Inseln („um die alte Halbinsel des Pelops herum, Sizilien im Rücken“) oder maritime Gegenstände („Sofawrack“). Wie bei Liliencron bildet sich der zunehmende Verlust der rationalen Kontrolle in wachsender Nähe zum Dialekt, als eine Rückkehr zur sprachlichen Heimat ab. Das beginnt mit der Serie: „Die ganzen, sogenannten Morgenländer“ – „die ganzen, sojenannten Morjenländer! – „die janzen, sojenannten Morjenländer“. Erkennen wir hier noch Holz’ Wahlheimat Berlin, so tritt im Folgenden das Plattdeutsche seiner ostpreußischen Herkunft in den Vordergrund („to Hus ist best“, „der Tebel hol mer“). Diese sprachliche Wende passt natürlich bestens zur inhaltlichen Wende, von der das Großgedicht zeugt: zur Abkehr vom Morgenland und zur Hinwendung zu den Kindheitserinnerungen, die ja schon den Schluss der Kurzfassung von 1899 bilden. „Raumwärts … Traumwärts“: Der Schlaftraum, mit dem Holz’ Darstellung endet (während Liliencron an der Schwelle zum Schlaf abbricht), hat als Rückkehr nach Rastenburg eine räumliche Orientierung und scheint in seiner konkreten Anschaulichkeit übrigens nicht mehr von der Bewusstseins- oder Wahrnehmungstrübung tangiert, die die Rückkehr des Träumers ins Bett so ausgesprochen „beschwingt“ gestaltete. Man vergleiche die Füllung der Langzeilen. Die Adjektivreihe „über der alten, krummpumplig biedern, feldsteinbunt niedern, mörtelmorsch mürben, bröckelnden Rundmauer“ ist bestimmt von dem Bemühen um subtile Differenzierung, wogegen die zwei- oder mehrtei13

Ebd., S. 204f.

Mosaik und Doppelung

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ligen, vielfach in sich gereimten Langzeilen der Trunkenheitsdarstellung eine Tendenz zum sprachlichen Leerlauf, zur Verselbstständigung der Lautebene bezeugen: • Nanu? Mein Stuhl! Was ful … das ful! Wat … schreegt de Uhl? De Aben … kuhl? Halts Mul! Halt’s Mul! • ritsch ratsch, bumms, da, schon mein Bett, ritsch ratsch, bumms, das nenn’ ich nett • Was? du brennst noch, altes Biest? Wie mich dieses baß verdrießt! Weil dein Schein mich ganz begießt! Arno Holz, der ja eigentlich ausgezogen war, den Reim aus der Lyrik zu vertreiben, hat in den späten Phantasus-Fassungen und mehr noch im anderen lyrischen Großunternehmen seiner Spätzeit, der Blechschmiede, ganze Monumentalgirlanden von Reimen installiert – nicht ohne sprachspielerischen Narzißmus, letztlich aber doch mit parodistischer Tendenz, um die Nichtigkeit und Unverbindlichkeit dieser lyrischen Technik ad oculos zu demonstrieren. In diesem Sinne dürften auch die Reime unseres betrunkenen Morgenland-Heimkehrers aufzufassen sein. In ganz anderer Weise verknüpft sich in Gerhart Hauptmanns Scherzspiel Schluck und Jau der Dialekt mit der Trunkenheitsdarstellung. Das Stück beginnt mit folgendem Dialog zwischen den beiden Titelfiguren, zwei notorischen Taugenichtsen und Trunkenbolden, wobei Jau eine Zigarrenkiste mit gefüllten Pfefferminzschächtelchen am Riemen bei sich führt: Jau Jingerla, Jingerla, Jingerla, Jingerla. Halt, Jingerla, ufgepoaßt, Jingerla. Asu kumma mir nich zupasse mitnander. Ee Fafferminzkichla! zwee Fafferminzkichla! drei Fafferminzkichla! doas sein ees, zwee, drei Fafferminzkichla. Nu? hoab’ ich ni recht? Dreimoal ees ist drei! dreimoal drei ist neune! Oabgemacht, oabgemacht, sela. Gleebst de’s nu, Jingerla? Schluck Nee, sieh ock, sieh ock, recht huste schonn, oaber gib amoal Obacht: – Luß gutt sein, luß gutt sein! Ee Fafferminzkichla! zwee Fafferminzkichla! und doas sein achte und zwee sein zahne, und zahne, doas is ane groade Zahl. Nee, sprich ock ni erschte! schoad’n ju nischt. Ich geh’ schonn und hull a. A Viertelsquoart. Jau Ee Fafferminzkichla! zwee Fafferminzkichla! und dreie sein neune und sechse sein viere, und wenn de ni gleich uf der Stelle gehst, doa mach’ ich dir Beene, Jingla, verstanda? Schluck Nee, bis ock du stille, ich geh’ ja schonn.

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Peter Sprengel

Jau A Viertelsquoart, und glei uf d’r Stelle. Ee Fafferminzkichla! zwee Fafferminzkichla! – und wenn de und stehst noch amoal bei mem Weibe, und stehst bei mem Weibe, wenn ich ni doa bin, und kommst zu mem Weibe, wenn ich ni derheeme bin, und leist bei mem Weibe, wenn ich ni derheeme bin, doa schmeiß’ ich dich heilig de Stiege nunder!14

Auch hier sprachlicher Leerlauf. Eingeleitet mit dem vierfachen „Jingerla“ (was so viel wie „Junge“ oder „Jungejunge“ bedeutet) formuliert Jau, der hier wie ein Pfefferminzbonbon-Verkäufer auftritt, weitgehend zweckfreie Rechenaufgaben auf dem Niveau eines Schulanfängers, in die Schluck scheinbar einsteigt, deren eigentlicher Sinn aber offenbar ein ganz anderer ist: nämlich den Saufkumpan zur Beschaffung von Alkoholnachschub zu bewegen. Das Zählen der Pfefferminzbonbons ist eine Art Countdown, der das ungeduldige Verlangen nach flüssigem Nachschub signalisiert, und damit grundsätzlich vergleichbar mit dem Gläser-Zählen in den schon betrachteten Texten von Liliencron und Holz. Im Hervortreten der Zahlen spiegelt sich die Unstillbarkeit des Durstes, die Unendlichkeit des alkoholischen Begehrens. Der Scherz, den sich eine höfische Jagdgesellschaft in den folgenden Akten oder „Vorgängen“ mit den beiden Vagabunden erlaubt, führt zunächst scheinbar von der Phänomenologie des Rausches fort. Wie im Vorspiel zu Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung wird dem Bettler, hier Jau, suggeriert, er sei der Fürst; Schluck muss in Frauenkleidern die Fürstin spielen. Jau enthüllt alsbald ein tyrannisches Talent, das einem Großfürsten alle Ehre machen würde; zugleich mischt er die Hofgesellschaft in einer Weise auf, die fast anarchische oder revolutionäre Momente zeitigt. Noch bevor das kleine Sozialexperiment abgebrochen wird, erst recht aber danach kommt Jau der Kontrast zwischen den Lebensformen zum Bewusstsein, in die er in Realität oder Spiel hineingestellt ist. Das Fazit liefert sein Dialog mit Schluck am Schluss, als die beiden von der Hofgesellschaft wieder ausgestoßenen Vagabunden Kurs auf das nächste Wirtshaus nehmen: Jau Kumm, Briederla, kumm! mir gehn nieber eis Wirtshaus. Doa will ich dir ane Foahrt derzahlen … Schluck Ich au! Jau … doa will ich dir ane Foahrt derzahlen: doa sollst du Maul und Noase ufreißa! 14

Gerhart Hauptmann, Schluck und Jau, in: Sämtliche Werke, Hans-Egon Hass [u. a.] (Hrsg.), Bd. 1–11, Frankfurt/Berlin/Wien 1966–1974, Bd. 1, S. 1015.

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Mosaik und Doppelung Schluck Ich au! ich au!

Jau Nu ebens! ich soa ju: Maul und Noase. Ich bin getuppelt – doas kannst du mir gleeba. Ich bin hie – ich bin doa –: ich bin getuppelt! Ich sitze eim Wirtshaus – ich sitze ein Schlusse. – Schluck Ich woar au ein Schlusse. Jau Gleebst d’ es ernt nee? ich liege derheeme uf ’m Ufabänkla und reite mittlerzeit uf Joagd! Ich schitt’ mir sauer Bier ei a Bauch: dermitte schlampamp’ ich a blanker Schlampanjer! Ich soa dirsch: ich bin getuppelt, Schluck! Ich bin a Ferscht – und ich bin halt o Jau. Woas – hoa ich ni recht? Schluck Nu Teifel! doa luß mich amoal sim’lieren – Jau Ich soa dirsch: ich bin getuppelt, Schluck! Ich bin a Ferscht – und ich bin halt o Jau. Kumm, Briederla, kumm – wenn ich au a Ferscht bin: mir giehn itze nieber uf Bolkenhain, und doa setz’ ich mich zu eefacha Leuta – und doa bin ich siehr imgänglich, siehr gemeene. Schluck Nu freilich, freilich: du bist schun a Kerl.15

„Getuppelt“ oder gedoppelt sind ja auch die Trinker-Subjekte bei Liliencron und Holz. Das lyrische Ich bei Liliencron, eingesperrt auf einer unwirtlichen Nordseeinsel, trinkt sich zum Selbstgefühl und den vermeintlichen erotischen Möglichkeiten eines Sultans empor – bevor es in Schlaf fällt. Das trunkene Ich des Phantasus-Dichters reist in einer großen schwankenden Bewegung auf der Tapete seines Zimmers um ganz Europa herum, bis es aus dem imaginären Morgenland mit seinen vielfältigen Gefahren wieder im trauten Ostpreußen angelangt ist – und legt gleichzeitig den Weg vom Sessel zum Bett zurück. Deutlich ist gleichwohl, dass Hauptmann mit seinem Hinweis auf die Doppelheit etwas Grundsätzliches über die menschliche Existenz aussagen will – etwa in dem Sinn, dass der Mensch nicht in seinem sozialen Status aufgeht, dass beispielsweise eine Putzfrau (wie er es ein Jahrzehnt später in den Ratten vorführt und formuliert16) sich ebenso zur tragischen Heldin eignet wie eine Lady Macbeth. Diese generelle Ambi- oder Polyvalenz des Menschen kommt in Hauptmanns Drama zwar weniger durch die Trunkenheit selbst als durch den mit ihr verknüpften, den Vollrausch des Trinkers ausnutzenden Streich zu Tage; dennoch stellt sie sich als eine Erkenntnis dar, die einem nüchternen Bewusstsein kaum zugänglich wäre. 15 16

Ebd., Bd. 1, S. 1109f. Ebd., Bd. 2, S. 778.

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Peter Sprengel

Insofern ist ein grundsätzlicher Zusammenhang zu vermuten zwischen dem „Getuppelt“-Sein des Trinkers und der umfassenden Doppelstruktur, die Hauptmanns Scherzspiel charakterisiert: hier die im schlesischen Dialekt befangenen Vagabunden, dort die Hofgesellschaft und die ihr zugeordnete neuromantische, oft auch Shakespeare nachempfundene Verssprache. Die Doppelung, von der die ‚Moral‘ des Stücks handelt, ist nicht nur ein anthropologisches, sondern auch ein poetologisches Phänomen, in ihr spiegelt sich die Konkurrenz zwischen realistisch-naturalistischen und symbolistisch-ästhetizistischen Schreibweisen in Hauptmanns eigenem damaligen Werk, wie in der europäischen Literatur um 1900 überhaupt. In Jon Rands Rede an die Tagediebe gleich zu Beginn des I. Akts spricht sich diese poetologische Metaebene unüberhörbar aus: Ist nicht die breite Heerstraß’ breit genug? Landstreicher! trunkne Buben! müßt ihr denn zu meinen Tulpenbeeten schleppen euren Rausch und eure wüsten, vollen Leiber werfen in Sidselills Gärten, die so lieblich blühn?17

Man kennt die Abgrenzung von der „breiten Straße“ als poetologisches Argument seit der hellenistischen Dichtung eines Kallimachos.18 Im Kontext der 1890er Jahre kann sie sich nur auf eine Abgrenzung vom Naturalismus beziehen, und insofern ist es völlig konsequent, dass Jon Rand gleich anschließend das Leitsymbol der antinaturalistischen Strömungen, nämlich den „totgesagten Park“ des Ästhetizismus, bemüht. So gesehen, reflektiert das Drama Schluck und Jau die „Doppelung“ der Literatur um 1900 allgemein und seines Autors Hauptmann insbesondere. Einer der eigenwilligsten Vertreter des Antinaturalismus in der damaligen Erzählprosa war Paul Scheebart. Mit dem „arabischen Kulturroman“ Tarub. Bagdads berühmte Köchin (1897) erschloss er sich die Welt des Orients als Folie zur Gestaltung zeitloser Haltungen und zugleich zur Einkleidung sehr zeitgenössischer und auch persönlicher Tendenzen oder Erlebnisse. Denn unschwer sind in der titelgebenden Köchin Scheerbarts eigene Lebensgefährtin und im trinkfreudigen, ja phasenweise dem Trunk ergebenen Dichter Safur ein idealisiertes Abbild des Verfassers selbst zu erkennen. Welche Bewertung aber erfahren Trinken und Trunkenheit in diesem Roman? Auf der einen Seite lesen wir von manchen durch Alkoholexzesse bedingten Konflikten zwischen den „lauteren Brüdern“ der Dichter- und Künstlerge-

17 18

Ebd., Bd. 1, S. 1019. Vgl. Aitia, I, 25ff.

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meinschaft am Ufer des Tigris, in der Scheerbart die Gruppenbildung in der ihm selbst bestens vertrauten Berliner Boheme verbildlicht. Auch wird die stark durch materiell-körperliche Abhängigkeit bestimmte Beziehung Safurs zur bärenstarken Tarub durch seine Trinkeskapaden nachhaltig beschädigt. Vom Ende des Romans her, dem Freitod, mit dem Safur zur idealen Geliebten, dem Wüstengeist der Dschinne, durchdringen will, kann diese Loslösung aus bestehenden sozialen Bindungen oder Fesseln jedoch auch eine positive Bewertung erfahren. Dann wäre die große Vision, die Safur im so genannten „Säuferwahnsinn“ zuteil wird, vielleicht die Epiphanie einer übermenschlichen Wahrheit? Mit ihrer Beschreibung, die in Scheerbarts Roman das 9. Kapitel eröffnet, wird hier der Vergleich zwischen verschiedenen Trunkenheitsdarstellungen in der Literatur um 1900 beendet: Wie nun wiederum der Morgen graute, stand der Dichter Safur am Tigris und starrte nach Osten. Berauscht sah der Dichter Safur nicht aus – aber – ein wenig verwüstet und ein wenig verkommen; das dünne Gewand war seltsamerweise nicht zerrissen – ganz wars geblieben – indessen – schrecklich schmutzig wars geworden – Blut, Wein, Milch, Staub, Blumensaft und Straßenpfützen hatten die braun und blau gestreifte Baumwolle höchst unregelmäßig gemustert. Und Safur starrt – halb blöde, halb verträumt – nach Osten. Da wirds über den breiten spiegelhellen Wassern des Tigris immer bunter. Die Sonne geht auf. Langsam hebt sich die brennendrote Scheibe aus den Fluten des Tigris raus. Und der Tigris glänzt jetzt auch brennendrot. Safur starrt in die heiße Farbenpracht und sieht plötzlich über der roten Sonne in den glühenden Wolken ein schwarzes Gesicht – das schwarze Dschinnengesicht, das er bei der Sareppa sah, als ihm dort die Beduinen von den Schrecken der Wüste berichteten… Purpurne und goldene Wolken umrahmen wunderlich das schwarze Gesicht, das nun die großen blauen Augen weit aufreißt. Der Blick der Dschinne ist furchtbar. Safur taumelt zurück. Dabei bemerkt er aber, daß rechts von der Sonne noch zwei Dschinnengesichter vorkommen und links von der Sonne gleichfalls. Die neuen Gesichter sind etwas zur Seite gelehnt, daß alle fünf Gesichter wie ein Kranz die Sonne einschließen. Und die Gesichter sehen ganz gleich aus. Ihre blaßbläulichen schmalen Lippen öffnen sich ein wenig und zeigen weiße, fest zusammengepreßte, kleine Zähne. Safur traut kaum seinen Augen, blickt in den höher gelegenen Himmel hinauf – Doch da beginnt er zu zittern, dort höher oben zeigt sich ein zweiter Gesichterkranz; die Gesichter sind nur viel größer und viel schrecklicher. Und über dem zweiten zeigt sich ein dritter Gesichterkranz – der ist noch größer – fast noch einmal so groß.

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Peter Sprengel

Der ganze Himmel füllt sich mit schwarzen Dschinnengesichtern, die langsam aus dem dunklen Himmelsblau herauskommen und auf den Safur zuzustreben scheinen. Ganz oben am Himmel sind die Gesichter riesengroß – die schwarzen Haare flattern wild um die schwarzen Ohren und um die schwarzen Stirnen – – – doch so wie die Haare an dem einen Gesichte flattern – genau so flattern sie auch an dem andern. Und den Dichter packt die Angst. Ihm schlottern die Kniee. Er sieht plötzlich nichts mehr. Ihm wird schwindlig, und er bricht bewußtlos zusammen. Nach einer Weile hört er dann ein gellendes Pfeifen, als wenn ein schneller Wind vorübersause. Gleichzeitig wird vor seinen Augen alles rot … Der Dichter will die Augen öffnen, kanns aber nicht – er glaubt, er sei blind geworden. Er ringt die Hände und schreit. Dadurch kommt er wieder zu sich, seine Augen öffnen sich, und – Bagdad mit dem Tigris liegt vor ihm. Drüben am Ufer erhebt sich der Garten des reichen Battany. Safur befindet sich auf einer Anhöhe und kann weit herumblicken. Der Himmel ist tiefblau. Die schwarzen Gesichter sind fort. Safur aber hat die Gesichter nicht vergessen, er springt auf, blickt sich scheu um und rennt wie ein Rasender nach Battanys Landhaus.19

Wieder können wir die Relevanz von Zahlenreihen für die literarische Vergegenwärtigung des Alkoholrausches konstatieren: eine Dschinne plus zwei Dschinnen rechts plus zwei Dschinnen links machen einen Dschinnenkranz, über dem ein zweiter, größerer und ein dritter, doppelt so großer erscheint. Die 15 Dschinnengesichter, auf die wir damit mindestens kommen, werden durch zahlreiche weitere Gesichter ergänzt, so dass schließlich der ganze Himmel mit schwarzen Dschinnen ausgefüllt ist. Die binäre Struktur, die uns erstmals bei Liliencron begegnete und bei Hauptmann mit dem Gesichtspunkt der Doppelheit philosophisch aufgeladen wird, ist hier also weit überboten durch Verfünf- und Verdreifachung. Gleichzeitig wird die Farbsymbolik virulent. Am Anfang steht die Wahrnehmung des „brennendroten“ Tigris, am Ende wird vor Safurs Augen „alles rot“, dazwischen entfaltet sich eine Komposition aus Purpur, Gold, Blau und immer wieder Schwarz, von der ein erhebliches Bedrohungspotential ausgeht. Dabei wird man auch die unterschwellige Medusen-Symbolik einbeziehen müssen: „Der Blick der Dschinne ist furchtbar“, heißt es wörtlich, und ebenso: „die schwarzen Haare flattern wild“ – wie die Schlangenhaare der Meduse, deren Blicke auch dann noch töten, wenn Perseus ihr Haupt längst abgetrennt hat. Safurs 19

Paul Scheerbart, Tarub. Bagdads berühmte Köchin [1897], in: Ders., Dichterische Hauptwerke, Stuttgart 1962, S. 105–107.

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Dschinnen- oder Medusenvision ist ein Blick in das Geheimnis einer letztlich tragischen Welt. Es ist eine Erkenntnis, aus der man zwar vorübergehend wieder in den Alltag des Bagdader Lebens zurückkehren, letztlich aber nicht mehr heimfinden kann. Diesem ultimativen Charakter einer letzten Erkenntnis entspricht auch die statische Ordnung der in mehreren Ringen sich aufbauenden Epiphanie. Von der Trunkenheit und den mit ihr einher gehenden Begleiterscheinungen wie Bewusstseinstrübung, Schwindel etc. ist hier nichts mehr zu merken; derlei gehört in den Bereich der Vorstufen der Erkenntnis. Diese selbst ist absolut und daher nur im Stil einer absoluten aus Zahl, Farbe und mythischem Symbol generierten Dichtung darzustellen. Der Romancier Scheerbart unternimmt denn auch gar keinen ernsthaften Versuch, die Wesensschau des trunkenen Helden mit der fiktiven Wirklichkeit seines Lebens zu vermitteln; vielmehr dürfen wir Safurs späteren Selbstmord als logische Verlängerung seiner Vision verstehen: als Heimkehr des Dichters zum Ideal. Aus der Sicht der anderen Personen, selbst der Freunde Safurs in der Welt der Bagdader Boheme, ist seine Dschinnen-Schau schlicht „Säuferwahnsinn“.20 Der Held bekommt Belehrungen zu hören, wie sie dem Trinker Scheerbart wohl selbst oft genug entgegengeklungen sind; so wirft der reiche Astronom Battany ihm sogleich seinen „liederlichen Lebenswandel“ vor: Mein lieber Safur! Mit Dir ist wirklich nichts mehr anzufangen. Du kannst das Trinken nicht mehr lassen. Du wirst noch ganz und gar verkommen. Ich verstehe Dich nicht. Du kannst nie aufhören. Du bist eben ein Gewohnheitssäufer geworden. Kannst Du Dich denn nicht daran gewöhnen, mit den Andern nach Hause zu gehen? Mußt Du immer so lange trinken, bis Du im Rinnstein liegst? Du hast das doch garnicht nötig!21

Beim Stichwort „Rinnstein“ stellt sich natürlich sogleich die Verbindung zum als Rinnsteinkunst beschimpften zeitgenössischen Naturalismus ein.22 Was Scheerbart hier wie in seinen anderen Werken intendierte, war allerdings das glatte Gegenteil davon. Er entnimmt dem Naturalismus eines von dessen geläufigsten Sujets und polt es gleichsam um (als Zugang zu einer absoluten Kunst), kaschiert jedoch die Radikalität dieser Option durch die humoristische Relativierung von Safurs Gesicht als „Säuferwahnsinn“. 20

21 22

Vgl. ebd., S. 109 (aus Battanys Perspektive): „Säuferwahnsinn hat den Dichter gepackt – Säuferwahnsinn!“ Ebd., S. 110. Vgl. Jürgen Schutte/Peter Sprengel (Hrsg.), Die Berliner Moderne 1885–1914, Stuttgart 1987, S. 63 u. S. 573.

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Peter Sprengel

Wenn abschließend der Versuch gewagt werden darf, die erhobenen Befunde auf die Begrifflichkeit zu beziehen, die Moritz Baßler zur Beschreibung von Erzähltexten des Realismus und der frühen Moderne in Vorschlag gebracht hat, so ist zunächst eine evidente Affinität festzustellen zwischen den von Liliencron und Holz zur Beschreibung der Bewusstseinszustände von Trinkern entworfenen Sprachmosaiken und den partikulären Masken oder Routines, wie sie sich etwa in Papa Hamlet (Holz/Schlaf), Der KorsettenFritz (Panizza) oder Leutnant Gustl (Schnitzler) studieren lassen. Hier wie dort findet eine markante Einschränkung des Bewusstseins statt, aus dessen Perspektive maßgeblich erzählt wird. Allerdings wird diese Darstellung nicht konsequent gehandhabt: Indem Liliencron auf ein Shakespeare-Zitat anspielt, dessen vollständige Gestalt dem alkoholisierten Bewusstsein des IchErzählers nicht mehr zur Verfügung steht, veranlasst er den Leser zur Ergänzung und Korrektur seiner Diegese. Auch der Schluss von Holz’ (Ele-)Phantasus-Passage kann als Korrektur der trunkenen Wahrnehmung gelesen werden, insofern der Kindheitstraum die Werte der Heimat und einen gewissen Realismus der Wahrnehmung wieder zu ihrem Recht bringt, die in der Orient-Orgie zuvor unter Drogeneinfluss verloren gingen. Die Doppelperspektive dagegen, die Scheerbart auf dasselbe Thema eröffnet – hier Bewusstseinserweiterung und Wesensschau, dort die Alkoholexzesse eines Gewohnheitstrinkers –, schließt grundsätzlich an erzählerische Dichotomien der Romantik, insbesondere E. T. A. Hoffmanns an. Die Diskrepanz zwischen Wunderbarem und Wirklichkeit verschärft sich zur Antithese zwischen Symbolismus und Naturalismus. In dessen Tradition steht Hauptmann, dessen Darstellung in der Krassheit, mit der hier die Reduktion betrunkenen Sprechens exponiert und gemäß den Regeln der Dramatik von außen gezeigt wird, noch weit über die Versuche der Kollegen hinausgeht. Gleichzeitig setzt sie den Alkoholiker als Sprachrohr einer übergreifenden nicht nur anthropologischen Erkenntnis ein: nämlich der Doppelheit, verstanden als Spannung zwischen der menschlichen Würde oder den in jedem Menschen angelegten Möglichkeiten und der äußeren Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft. Als formales Prinzip ließ sich eine solche Doppelheit schon bei Liliencron und Holz studieren: als binäres Gliederungsprinzip oder als Ambivalenz zwischen der Bedeutung, die einzelnen Gegenständen in der imaginierten Traumreise bzw. als reales Requisit zukam. Diese Doppelheit gewinnt jetzt programmatische Bedeutung und beeinflusst unsere Rezeption wie natürlich auch den Standort von Schluck und Jau in einer Verfahrensgeschichte des Übergangs vom Realismus zur Moderne. Wenn das reduzierte Subjekt eines betrunkenen Bettlers eigentlich etwas viel Höheres verkörpert, also teilhat am Mensch-Sein

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schlechthin, tritt es aus dem Partikulär-Idiosynkratischen heraus und gewinnt Anspruch auf unsere Empathie. Das Verklärungsmodell des Poetischen Realismus ist damit gar nicht so fern, wie es angesichts der äußeren Verstöße gegen seine Regeln den Anschein hat. Gilt Ähnliches nicht aber auch für die Mosaik-Experimente von Holz und Schlaf, wenn man nämlich das Ich näher betrachtet, das hier einer momentanen Veränderung seines Bewusstseins ausgesetzt wird? Liliencron, der immer wieder auf den Begriff des unmittelbaren Erlebens pochte und damit nicht zuletzt die naturalistische Literaturkritik beeindruckte,23 packt auch hier genug von seiner persönlichen Lebensgeschichte in das Gedicht, um den Leser beim Trinker an den Verfasser selbst denken zu lassen. Holz’ Phantasus arbeitet zwar in geringerem Ausmaß mit autobiographischen Referenzen, wertet das Ich seiner ins Unendliche wachsenden Großdichtung aber offensichtlich zu einer monistischen Zentralsonne auf, deren Strahlen noch in die letzten raumzeitlichen Winkel der Welt hineinleuchten. Die Tendenz zur Überwindung des Partikulären ist daher auch bei ihm mehr als offensichtlich. Müssen wir damit nicht, vom Begriff der ‚Routine‘24 ausgehend, auch Holz attestieren, was dieser von Liliencron sagte:25 „Da ist alles bereits erreicht. Aber […] die Wunderthür, die seine Wünschelruthe schon gesprengt hatte, fiel, ohne daß er Dessen, wie im Märchen, gewahr wurde, wieder hinter ihm ins Schloß“?

23

24 25

Vgl. Johannes Schlaf: „Detlev von Liliencron. Ein litterarisches Bild“, in: Die Gesellschaft, März/1887, S. 226–230. Schlaf zufolge ist Liliencrons Schaffen „ein reiner, ungetrübter Widerhall erlebter Dinge“ (S. 228). Vgl. den einleitenden Beitrag von Moritz Baßler in diesem Sammelband, S. ##. S. o. mit Anm. 9.

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Melanie Horn

Melanie Horn (Münster)

Überschreibungen des Realismus Richard Dehmels Prosatexte als Wegbereiter der Frühen Moderne

I.

Zur Prosa Richard Dehmels „Nichts wirkt Bestimmender als das Unbestimmte.“1 Richard Dehmel: Die gelbe Katze (1896)

Wenn Marek Fialek den zu seiner Zeit sowohl in literarischen Kreisen als auch öffentlich gefeierten Lyriker Richard Dehmel (1863–1920) bereits im Buchtitel2 als ‚Vergessenen‘ der Literaturgeschichtsschreibung apostrophiert, ist das gewiss keine Geste der Übertreibung. Wurde Dehmel zu Lebzeiten von literarischen Größen wie Rilke, Hesse oder Thomas Mann redigiert und verehrt,3 versetzt die unbedarfte Frage nach dem ‚dunklen Kiefernfürst‘4 bzw. einer Richard-Dehmel-Gesamtausgabe gegenwärtig mitunter auch den geschulten Antiquar in hilfloses Schweigen. Was für den Lyriker Dehmel gilt, gilt erst recht für den Prosaiker: An die Prosastücke Richard Dehmels hat sich die literaturwissenschaftliche Forschung bislang nur zögerlich herangewagt. Mehrere mögliche Gründe lassen sich für dieses Forschungsdesiderat ins Feld führen. Zum einen mögen die geringe Popularität des emphatisch-pathetischen Jugendstil-Dichters und die damit einhergehende mangelnde Verfügbarkeit geeigneter Textausgaben eine Rolle spielen – bis dato existiert keine kritische Gesamtausgabe seiner Werke.5 Zum 1

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Der Satz fungiert als narrative Klammer der Erzählung, siehe Richard Dehmel, „Die gelbe Katze“, in: Gesammelte Werke von Richard Dehmel. In zehn Bänden, Bd. 7: Lebensblätter. Novellen in Prosa, Berlin 1908, S. 138–146; S. 138 u. 146. Marek Fialek, Dehmel, Przybyszewski, Mombert. Drei Vergessene der deutschen Literatur, Berlin 2009. Vgl. Björn Spiekermann, Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels, Würzburg 2007, S. 16. So Else-Lasker-Schüler in einem Brief an Richard Dehmel (vgl. Barbara Beßlich, „‚Corrector Germaniae‘. Naturalismus-Kritik, Schönheitsstreben und Nationalpädagogik bei Richard Dehmel“, in: Jan Andres [u. a.] (Hrsg.), ‚Nichts als die Schönheit‘. Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt/New York 2007, S. S. 146–165, hier S. 146f. Vgl. Spiekermann, Literarische Lebensreform, S. 18.

Richard Dehmels Prosatexte als Wegbereiter der Frühen Moderne

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anderen umfasst das prosaische Gesamtwerk6 nur wenige, formal und inhaltlich jedoch vergleichsweise disparate Erzählungen, die sich nahezu programmatisch gegen eine stimmige Gesamtinterpretation sperren. Ja, bereits die Zuordnung der einzelnen Texte zu einer literarischen Gattung bleibt uneindeutig: Kurze Novelle? Burleske? (Psychologische) Skizze?7 Wenn jedoch Moritz Baßlers These zutrifft, dass die experimentelle Prosa-Literatur der Nuller-Jahre insofern den ‚missing link‘ zwischen Realismus und Moderne darstellt, als idiosynkratische ‚Routines‘8 durchgespielt werden, so wird die diagnostizierte Heterogenität des Textmaterials als poetisches Verfahren lesbar. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass unter genannter verfahrensgeschichtlicher Prämisse eine strukturanalytische Revision des vielschichtigen Dehmel’schen Prosakorpus in Abgrenzung zu (spät)realistischen Erzählverfahren gewinnbringend und im Grunde überfällig ist. Anhand der kurzen Erzähltexte9 Die drei Schwestern, Das Gesicht und Die Gottesnacht soll demonstriert werden, wie Dehmels Prosa-Texte das poe6

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Neben einigen Märchen umfasst das Gesamtwerk neun längere Erzählungen in Prosa, die allesamt im siebten Band Lebensblätter [1907] der 1906–1909 erschienenen 10-bändigen Gesamtausgabe enthalten sind: Die drei Schwestern und Das Gesicht sowie der Hamburger Lästerbrief (später: Ein Veilchenstrauß) und Die Rute erscheinen erstmals 1893 im Rahmen des Gedichtbandes Aber die Liebe; die Burleske Die gelbe Katze wird im Juli 1896 als Vorabdruck in der Zeitschrift Simplicissimus (1/1896, 16, S. 2) veröffentlicht und noch im selben Jahr als Schlussstück in das Gedichtbuch Weib und Welt [1896] aufgenommen. Die Erzählungen Die Gottesnacht, Der lachende Erbe, Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht und Der Werwolf entstehen zwar teilweise bereits am Ende des 19. Jahrhunderts, werden aber erst 1907 im Rahmen der Gesamtausgabe veröffentlicht. Hinzu kommt die ‚Visionäre Skizze‘ Der Wettlauf, die allerdings nur wenige Seiten umfasst (vgl. auch Julius Bab, Richard Dehmel. Die Geschichte eines Lebens-Werkes, Leipzig 1926, S. 283f.). Der Eindruck der (programmatischen) Gattungs-Heterogenität der Prosastücke wird weiter forciert durch fantasievolle ‚Gattungsbezeichnungen‘ in den Untertiteln wie Lästerbrief, Erlebnis, bedenkliche Geschichte, einfache Erzählung, visionäre Skizze etc. Zum Begriff der ‚Routines‘ siehe Moritz Baßlers einleitenden Beitrag in diesem Sammelband. Baßler definiert ‚Routines‘ dort als „Textproduktion[en] nach willkürlich gesetzten Spielregeln“ (S. ##). Die Erstausgabe des Bandes Aber die Liebe (Richard Dehmel, Aber die Liebe. Ein Ehemanns- und Menschenbuch, München 1893, S. 61–78) enthält bereits eine Version von Das Gesicht in ungebundener Versform (Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Sphinx, 7 (1892/1893), Bd. 15, H. 84, S. 361–366), die sich von der späteren Prosafassung nur unwesentlich unterscheidet. Die im selben Band erschienene Erzählung Die drei Schwestern (ebd., S. 19–56) wird für die Gesamtausgabe ebenfalls sprachlich überarbeitet. Die vorliegenden Analysen beziehen sich auf die späteren Textfassungen der Gesamtausgabe.

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tisch-realistische Erzählparadigma in laufend wechselnden narrativen Versuchsanordnungen modulieren und ‚überschreiben‘.

II. Die drei Schwestern. Parodistisches Erzählen Prima facie könnte die Novelle Die drei Schwestern. Eine Erzählung mit Zuhörern (1893) noch am ehesten für eine späte poetisch-realistische Rahmennovelle herhalten – versammelt sie doch die typischen Ingredienzien jener Prosatexte. Nicht nur setzt die, mit Barthes gesprochen: ‚lesbare‘,10 Textur der Lektüre keine nennenswerten Widerstände entgegen, indem sie auf die traditionellen Codes, Frames und deren Kontiguitätsbeziehungen innerhalb des sprachlichen Referenzsystems zurückgreift: Auch auf der Ebene des Plotting wird, zumindest vermeintlich, auf Altbekanntes (im Sinne genuin realistischer Verfahrensregeln) gesetzt. Den seiner großen Liebe entsagenden Rahmenerzähler, der seine Memoiren zum Ausgangspunkt der Geschichte nimmt, treffen wir ebenso an wie die durch und durch tugendhafte, ja engelsgleiche Angebetete (Marie) und den romantisch-träumerischen Anti-Helden (Heinz), der gesellschaftlichen und ökonomischen Konventionen und Obliegenheiten schon aufgrund seiner angeborenen Dispositionen nicht gerecht werden kann.11 Zudem wird der Kumulationspunkt der dramatischen Ereignisse einmal mehr auf das paradigmatische Fest des Poetischen Realismus verlegt: den Weihnachtsabend.12 Gleichwohl wird in Dehmels Prosastück das realistische Masternarrativ keineswegs fortgeschrieben, sondern vielmehr offen karikiert, indem über dem Text ein Programm abgespult wird, das Lesererwartungen systematisch frustriert. Der parodistische Effekt wird hier eben nicht, wie in Texten des späten Realismus üblich, durch eine leichte Überzeichnung und eine nur für den ‚Eingeweihten‘ lesbare selbstreflexive Offenlegung des realistischen Verfahrensmodells13 erzeugt, sondern 10 11

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Vgl. Roland Barthes, S/Z, Frankfurt a.M. 1974, S. 8. Beispiele für diesen Typus lassen sich im poetischen Realismus einige benennen, u. a. der draufgängerische Heinrich in Storms Carsten Curator, der träumerische Künstler Reinhard in Storms Immensee oder der unangepasste Lebenskünstler Velten in Raabes Akten des Vogelsangs. Der Weihnachtsabend spielt in vielen klassischen Texten des Poetischen Realismus eine Rolle; häufig fungiert er als sentimentale Leerstelle für das Immer-SchonVergangene wie – ironisch auf die Spitze getrieben – in Raabes Zum wilden Mann. Das realistische ‚Kippmodell‘, das in unserem Münsteraner Forschungsseminar entwickelt wurde, kann als Ent-Arretierung des Goethe’schen Symbolbegriffs verstanden werden: Die notwendige Verklärung der prosaischen Wirklichkeit wird zwar angedeutet, anschließend aber in eine kontige, metonymische Erzählung rückgeführt, die in Figurationen der Entsagung gipfelt.

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vielmehr mittels kühner (Genre-)Brechungen und Hyperbeln. Anders ausgedrückt: Die drei Schwestern ist keine poetisch-realistische Rahmennovelle, sie imitiert lediglich Teile des realistischen Erzählparadigmas, um an ihnen Anfänge einer idiosynkratischen Routine zu erproben. Was dabei herauskommt, ist zwar kein avantgardistischer Grenztext, lässt sich jedoch als StilExperiment bzw. als Genre-Parodie interpretieren. Diese funktioniert, soweit ich sehe, vor allem über zwei dominante Textstrategien: eine Parodie der poetisch-realistischen Erzählsituation und eine parodistische Aneignung des realistischen ‚Kippmodells‘. Parodie der klassischen Erzählsituation Mit der Rahmenhandlung der Drei Schwestern zeigt sich der Literaturkritiker Julius Bab 1926 mehr als unzufrieden. Zählt er die „Geschichte, wie drei seelenlos selbstgerechte Frauenzimmer […] ein armes, wehrlos dumpfes Mädchen in den Tod hetzen“,14 noch zum episch Besten, das Dehmel je hervorgebracht hat, so wünscht er sich doch, dass „einmal ein epischer Künstler von großem Takt diese Geschichte aus ihrem störenden Rahmen“15 brechen möge, der darüber hinaus „an sich ohne künstlerischen Wert“16 sei. Aus heutiger Sicht ist der originelle erzählerische Rahmen jedoch eher ein Glücksfall: Durch ihn wird eine ironische und moderne Ebene in die Erzählung eingezogen, die dergestalt erst als Realismus-Parodie lesbar wird. Bereits mit dem Einsetzen der Rahmenerzählung, wenn der hagere, kleine Amtmann Furchenrat seinen drei verschrobenen Zuhörern, namentlich: dem grobschlächtigen Förster, dem altklugen Buchhändler und dem behäbig-verträumten Wirt, mit „fadenscheinige[r] Stimme“17 eine bedeutende Erzählung ankündigt, beginnt die Dekonstruktion der klassischen poetischrealistischen Erzählillusion – und zwar nicht nur, indem seitens des intradiegetischen Erzählers auf die subjektiv-beschränkte Erzählperspektive verwiesen wird. Derartige Legitimationsstrategien kennen wir ja bereits aus zahlreichen realistischen Rahmennovellen.18 Bemerkenswert ist, dass in den Drei 14 15 16 17

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Bab, Richard Dehmel, S. 133. Ebd. Ebd. Richard Dehmel, „Die drei Schwestern“, in: Gesammelte Werke von Richard Dehmel. In zehn Bänden, Lebensblätter. Novellen in Prosa, Bd. 7, Berlin 1908, S. 10–55, hier S. 11. So heißt es paradigmatisch in Storms Der Schimmelreiter: „[I]ch kann daher um so weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen als, wenn Jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, dass ich sie seit je-

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Schwestern die qualitative Unzulänglichkeit des Erzählens explizit im Figurendiskurs verhandelt wird. So gibt der Amtmann als Rahmenerzähler ex ante vor allem seine begrenzte narrative Kompetenz zu bedenken: „Ja – also –: die Geschichte, die ich heute erzählen will“, fing der kleine Amtmann bedächtig an, „müsste sich eigentlich so ein richtiger Geschichtenschreiber vornehmen, wenn’s was Orndtliches [sic!] werden sollte. Und da ich sie obendrein nur stückweise selber mit durchgemacht habe, das meiste von Andern gehört, so werde ich wohl den Karren nur mühsam vorwärts schieben können.“19

Als gewiefter Rezipient qua Profession ‚durchschaut‘ der Buchhändler diese vermeintliche Geste der Bescheidenheit postwendend als Teil der erzählerischen Inszenierung und quittiert sie souverän: „Willst wohl Spannung erregen, Furchenrat? Kunstkniffe, Freundchen! Kennt man, zieht nicht. Und wenn du noch soviel dazudichtest.“20

Entgegen den Erwartungen seiner Zuhörer entfaltet der Amtmann jedoch kein exzeptionelles erzählerisches Talent; im Gegenteil: Im Verlauf der Erzählung versuchen die Zuhörer mehrfach, sich durch Zwischenfragen in den Gang der „umständlichen“,21 im Protokollstil vorgetragenen22 Erzählung einzuschalten, werden jedoch wiederholt vom eifrigen Erzähler ausgebremst – bis der Wirt die ungelegenen Zuhörerkommentare schließlich durch „röchelnde Rachentöne“23 auf die Spitze treibt: Er ist über die langatmige Erzählperformance eingeschlafen. Hernach bedarf es einiger Überredungskünste, den schwer gekränkten Erzähler zur Fortsetzung seiner Geschichte zu animieren. Offenkundig werden an dieser Stelle nicht nur die Figur des wenig souveränen Erzählers und somit das initiale Moment realistischer Erinnerungsprosa, sondern zugleich die erzählerischen Rahmenbedingungen profanisiert und karikiert. Weder bildet die verräucherte Bierstube einen angemessenen

19 20 21 22 23

ner Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe.“ (Theodor Storm, Der Schimmelreiter, in: Sämtliche Werke in vier Bänden, Novellen 1881–1888, Bd. 3, Ernst Laage/Dietrich Lohmeier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1988, S. 634–756, hier S. 634). Auch der Erzähler in Raabes Chronik der Sperlingsgasse bekennt: „[I]ch schreibe, wie das Alter schwatzt.“ (Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse, in: Sämtliche Werke, Braunschweiger Ausgabe, Bd. 1, Karl Hoppe (Hrsg.), Göttingen 1965, S. 9–171, hier S. 15). Dehmel, „Die drei Schwestern“, S. 10. Ebd. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 19. Ebd., S. 21.

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räumlichen Rahmen für substantielle erzählerische Konfessionen, noch stellen die einfältigen, dem Plot oft nur selektiv folgenden Rezipienten ein qualifiziertes Publikum dar. In ‚gläubiger‘, d. h. in diesem Fall: poetisch-realistischer Lesart stellt sich die Binnengeschichte dem impliziten Leser nämlich eigentlich als bittere Tragödie dar: Das sowohl gutherzige als auch gutgläubige Dienstmädchen Marie trifft auf dem väterlichen Hof des Erzählers ihre große Liebe, den charismatischen Sonderling Heinz, den seine drei Schwestern – zwecks Aneignung ökonomischen Grundlagenwissens – auf ebendiesem Gut untergebracht haben. Freilich erweist sich Heinz für dieses Studium als durchweg ungeeignet und so beschließt das eigentümliche Pärchen nach kurzer Zeit, an den Hof der drei Schwestern zurückzukehren. Die durchtriebenen Schwestern verstehen es jedoch, die Liebenden binnen kürzester Zeit zu entzweien und den unerwünschten Familienzugang letzten Endes in den Tod zu treiben. Eine unerhörte Begebenheit, sollte man meinen. Hellhörig wird einer der Zuhörer hingegen erst, als das Wort ‚Bildung‘ im Vortrag zur Sprache kommt. Der Erzähler erwähnt die überflüssige, weil seichte „Bildung und Wohlredenheit“ der Schwestern, um ihre mangelnde Herzens- bzw. Charakterbildung zu apostrophieren. Der bildungsbürgerlich geprägte Buchhändler sieht sich daraufhin zu massivem Widerspruch genötigt: „Hör mal, erlaube mal, nimm mir’s nicht übel!“ überstürzte er sich und würgte die Worte wie etwas Grätiges heraus, das ihm schon lange im Halse stak: „aber wirklich, es scheint tatsächlich du willst hier gegen Bildung sprechen! – Und die Schwestern – na ja: entschuldige – aber da bist du doch auch nur Partei und hast dir das alles zusammenklaviert!“24

In der Logik der Erzählung übernimmt der Hinweis auf die geringe humanistisch-moralische Bildung der titelgebenden Schwestern die Funktionsstelle einer biografischen bzw. psychologischen Motivierung für das skrupellose Verhalten der drei Antagonistinnen – ein wenig plotrelevantes Detail, in dem sich der Buchhändler als dilettantischer Zuhörer jedoch postwendend verliert. „[H]alb spöttisch, halb grimmig“25 entlarvt der an einer Unterbrechung seiner Geschichte wenig interessierte Amtmann die sich hier offenbarende mangelnde Unterscheidungskompetenz zwischen außerliterarischem (Bildungs-)Diskurs und innerliterarischem Erzählelement: „Die Bildung geht ihren eigenen Gang. Ich meinesteils erzähle ja blos (sic!).“26 24 25 26

Ebd., S. 39. Ebd. Ebd.

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Die hier zur Sprache gebrachte Verweigerung eines stabilen Metacodes ließe sich darüber hinaus als poetologisches Bekenntnis zu moderner Partikularität lesen: Nicht Risiken und Chancen der Bildung für die charakterliche Entfaltung (Stichwort: Bildungsroman) sind Thema – erzählt wird eine individuelle, kaum je generalisierbare Begebenheit. Quer zu dieser Lesart steht allerdings die Rezeptionsgeschichte, die im Lyriker Dehmel stets den großen Sinnstifter und Verklärungs-Apologeten erkennt. „Das Leben lässt sich stets nur stückweis fassen,/ Kunst will ein Ganzes ahnen lassen“,27 heißt es exemplarisch in den Erlösungen. Ein Ganzes ahnen lassen – mit dieser Wendung wird in Tat auf ein Programm rekurriert, das unter dem Stichwort der ‚Verklärung‘ und seinen zahlreichen Synonymen die Poetik des Realismus maßgeblich bestimmt. In den Drei Schwestern wird dieser gemäßigte Totalitätsanspruch zwar konsequent der Lächerlichkeit preisgegeben und in seinem Scheitern vorgeführt, jedoch letztlich nicht ganz aufgegeben. Trotz parodistischer Überzeichnung ‚funktioniert‘ die vom Binnenerzähler im Modus des Tragischen vorgetragene Erzählung, indem sie die Zuhörer – für einen kurzen Moment – in ihren Bann zieht („Aber es lachte diesmal Keiner“;28 „Keiner schien zu atmen“29). Denkt man die bisher verfolgte Lesart der Drei Schwestern als Realismus-Parodie konsequent weiter, so lässt sich folgern: Die prototypische realistische Erzählung spannt den Bogen des plakativ Tragischen bis zum Äußersten – aber sie verfehlt ihre Wirkung nicht. Wenn der Wirt am Ende der Erzählung mit dem Satz „Die Herren haben ihr Bier ganz warm werden lassen!“30 das letzte Wort erhält, wird diese Ambivalenz noch einmal amplifiziert: Gleichzeitig mit der Rückkehr in den profanen erzählerischen Raum erfolgt der Hinweis auf das Vergessen ebendieses Raumes. Nichtsdestotrotz gewinnt das Moment der Verklärung nie die Oberhand über den Text, da ebendieser Satz bereits wieder in seinem dominanten humoristischen Kontext gelesen werden muss. „Dem Wirt aber fiel etwas Wichtiges ein, nach seinem Minenspiel zu schließen; denn er ließ die Unterlippe hängen, wie wenn ein Eierkuchen übern Pfannenrand kippt“,31 heißt es dort wenige Zeilen zuvor. Dieser wenig schmeichelhafte Vergleich bleibt kein Unikum – konsequent und mit einer Vorliebe für Tier- bzw. Insekten-

27

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Die Textstelle ist entnommen aus dem poetologischen Gedicht „Inhalt der Kunst“ aus dem Band Erlösungen, in: Gesammelte Werke von Richard Dehmel, Bd. 1: Erlösungen. Gedichte und Sprüche, Berlin 1908, S. 139. Dehmel, „Die drei Schwestern“, S. 51. Ebd., S. 53. Ebd., S. 55. Ebd.

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Metaphern32 führt der Text nicht nur den Erzähler, sondern auch seine extra- sowie intradiegetischen Figuren vor. Während dem klassischen, entsagenden Erzähler im Poetischen Realismus oft nur das Erzählen selbst als einzig bedeutsames Sinnsubstitut bleibt, wird die Möglichkeit einer Verklärung des selbst-vergewissernden Erzählens in Dehmels Prosatext von vornherein unterbunden. Parodie des poetisch-realistischen Strukturmodells Der zur Narrenfreiheit gelangte Text nutzt die dem Realismus inhärente dynamische Kippbewegung (Symbolisierung/Metonymisierung)33 als Strukturmodell für die Erzeugung satirischer Effekte bzw. Pointen, die über ein Auseinanderdriften symbolisierend-verklärender Passagen und ihrer profanen, metonymischen Enträtselung generiert werden. Ein Beispiel soll zur Illustration dienen: Als das Mädchen Marie eines Tages vor der Tür des väterlichen Hauses des Protagonisten steht, „wußte niemand so recht, von wannen sie stammte; unsere Leute sagten immer, sie sei vom ‚leewen Godd‘ gekommen“.34 Das kryptische Zeichen ‚Marie‘, das von den Bewohnern der Kleinstadt in keinen kontigen Narrationszusammenhang überführt werden kann, wird augenblicklich mit einem sakralen Code belegt und als Gottestochter verklärt. Tatsächlich stellt sich die ‚sakrale Herkunft‘ wenig später als zutreffend heraus, jedoch in einem anderen Sinne als anfänglich gedacht: Am anderen Tage hatte dann aus einem katholischen Nachbardorf ein Pfarrer ihre Habseligkeiten geschickt; und ab und zu erkundigte er sich, ob sie brav und anstellig wäre. Und so wurde denn in der ersten Zeit mancherlei unter den Leuten geredet, wenn auch nie, wie sonst gewöhnlich, spitz und hämisch, sondern immer fein bedeutsam und ins Fromme deutsam, bis man sie zuletzt das Herrgottskäferchen nannte […].35

Wie diese Textpassage zeigt, bleibt die profane metonymische Auflösung des Rätsels um die Herkunft des Mädchens (‚heimliche Priestertochter‘) dem Leser oder dem Erzähler nicht exklusiv vorbehalten. Vielmehr steht die Verklärung selbst bereits in Anführungszeichen: Die Bewohner des Städtchens wissen sehr wohl um die Ambiguität des Wortes „Herrgottskäferchen“ und 32

33 34 35

So wird der Erzähler mit einer „Grille im Sandloch“ (ebd., S. 11), Marie mit einem Käfer (ebd., S. 12) bzw. einer „Schnecke, der man die Fühler betasten will“ (ebd., S. 14), verglichen und Heinrich Wendel kriechen „für gewöhnlich die Worte so sichtesachte aus dem Munde wie die Regenwürmer aus der Erde“ (ebd., S. 14). Vgl. den Beitrag von Moritz Baßler in diesem Band. Dehmel, „Die drei Schwestern“, S. 11. Ebd., S. 12.

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haben offensichtlich Freude daran, ihre diesbezügliche Rede „deutsam“ und „bedeutsam“ zu gestalten und auszulegen. In diesem Sinne ist die Verklärung bereits Strategie und steht im Modus der Uneigentlichkeit. Im weiteren Verlauf der Erzählung stellt sich nicht nur die prekäre Herkunft des Mädchens, sondern auch Marie selbst als wenig verklärungsfähig heraus. Während der Erzähler sie in poetischer Überhöhung wahlweise als Heilige oder als Märchenprinzessin stilisiert, bei der „Entschlossenheit und Schüchternheit, Besonnenheit und Zagheit […] nebeneinander [lagen] wie Fäden, die nicht vollkommen zu einem festen Band verflochten waren“,36 hält es der Leser doch eher mit dem vorlauten Buchhändler und möchte ausrufen: „‚Natürlich! du warst wohl schön verschossen!“37 Zwar ist das stille, folgsame Mädchen der Aufgabe der Dienstmagd durchaus gewachsen, offenbart sich jedoch außerhalb der schützenden Mauern des Landgutes als kindlich-naiver und wenig lebenstüchtiger Charakter. Weder ist Marie „bewandert mit der Feder“,38 noch ist sie in der Lage, sich selbstbewusst und eloquent gegen die Machenschaften der drei Schwestern zu behaupten, was sich formal in der Tatsache niederschlägt, dass sie als „arm slicht Wiew“39 nur des Niederdeutschen mächtig ist.40 In den meisten Fällen regelt der Text die Divergenz zwischen symbolischer Überhöhung und metonymischer Trivialisierung allerdings über die Erzählebene. So werden intradiegetische Textabschnitte, die weitestgehend von Romantisierungen getragen sind und potentiell schwere Bedeutungen transportieren, häufig durch eine plötzliche Fokalisierung auf die Rahmenerzählung eingedämmt bzw. in den humoristischen Bezugsrahmen re-integriert. Sehr explizit zeigt sich dieser Mechanismus an folgender Textstelle. Als die sorglosen ‚Königskinder‘ den Hof verlassen, Heinz mit einem selbstgeschnitzten Wanderstab und Marie mit einem „kleine[n] bunte[n] Bündel am Arm“, assoziiert der Erzähler: da fiel mir auf einmal die Volksweise ein – von dem Schäfer und der verwunschenen Königstochter – und dann der Ausgang des alten Liedes – wie eine finstere Prophezeiung, die mir das Herz erstarren machte. Und so – ja – schritten sie da36 37 38 39 40

Ebd., S. 14. Ebd., S. 13. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49. Den aufmerksamen Leser mögen bereits die ersten Annäherungsversuche Maries an das Objekt ihrer Begierde misstrauisch gemacht haben: Um Heinz für sich zu gewinnen, schneidet Marie heimlich den Bommel seiner Pudelmütze ab und hütet ihn fortan wie einen Schatz.

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von – in den brennenden Abendhimmel hinein schattenhaft schwarz wie ein Wandelbild – bis der Wald sie verschlang.41

Der Text generiert hier einen Zeichenüberschuss, der über die plakative Apokalypse-Symbolik Bedeutsamkeit suggeriert. Um dieses Zuviel an symbolischem Aufwand wieder auf ein Normalmaß zurückzustutzen, wird die Entgleisung des Textes als Entgleisung des Erzählers ausgestellt, i.e. als narrativer Exzess perspektiviert: Der Amtmann schüttelte sich auf aus seiner seelischen Entrücktheit; eine dicke Schweißperle war ihm langsam die Backenfurchen heruntergerollt. Er musterte hastig die Mienen der Andern, und sein Blick ging unsicher durch den Raum, als besänne er sich mit Unwillen auf ihre leibliche Gegenwart.42

Die „dicke Schweißperle“, die dem Amtmann mit dem sprechenden Namen Furchenrat über die Backenfurchen rinnt, markiert den modus procedendi und erdet die vorangegangene, mythisch angereicherte Untergangsszene im profanen Raum. Traditionell wird die Pendelbewegung zwischen den Polen des metonymisch-reihenden und des symbolisch-transzendierenden Erzählens in der poetisch-realistischen Rahmennovelle durch Figurationen der Entsagung still gestellt. Auf diese Weise lässt sich die angestrebte Bedeutsamkeit zumindest als Leerstelle aufrecht erhalten: Zwar ist das Modell der romantischen Liebe – um das eingängigste Beispiel zu nennen – realiter in einer Vielzahl der Texte zum Scheitern verurteilt, es bleibt jedoch als Ideal erhalten, ohne anderen, pragmatischeren Beziehungsformen zu weichen. Was bleibt, ist die (erzählte) Erinnerung. In den Drei Schwestern wird die Figur des entsagenden Erzählers ebenfalls aufgegriffen, allerdings in modifizierter Form. Nicht nur erzeugen Aussehen und Habitus des kleinen, wichtigtuerischen Männchens komische Effekte und vereiteln somit die funktionell relevante Verklärung des Erzählers, auch die biografische Nähe zum Erzählten bleibt fragwürdig. Was erzählt wird, ist keine selbst erlebte Liebesgeschichte, sondern lediglich die aus eigener und fremder Beobachtung zusammengetragene Geschichte eines Mädchens, in das der Erzähler heimlich verliebt ist. Dennoch ‚gesteht‘ der Amtmann „als ein Mann, der seine Rechnung fertig hat und ruhig vom Leben sprechen kann“,43 dass er nach Marie nie wieder eine Liebesbeziehung eingegangen ist, und stilisiert sich als Mann, „der aus Liebe einsam geblieben war“.44 Tatsächlich – so lässt sich spekulieren – ist die dargebotene Erzäh41 42 43 44

Ebd., S. 32. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd.

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lung jedoch nicht von einem authentischen Wunsch nach biografischer Selbstvergewisserung getragen, sondern dient vielmehr als willkommene Rechtfertigung für die ansonsten etwas monotone und somit wenig erzählenswerte Lebensgeschichte des Erzählers. Während der gerührte Buchhändler der Selbstinszenierung seines Freundes kritiklos Glauben schenkt, vermutet der Leser bereits eine hyperbolische Finte und fragt sich zu Recht, ob hier nicht vielmehr etwas anderes vorliegt: eine gelungene Genre-Parodie.

III. Das Gesicht: Erzählte Innerlichkeit „Es war ein Wehklagen des Künstlers im Naturalismus, weil er dienen musste; aber jetzt nimmt er die Tafeln aus dem Wirklichen und schreibt darauf seine eigenen Gesetze“,45 proklamiert Hermann Bahr 1893, das allgemeine Stimmungsbild im Künstlermilieu des Jungen Wien um 1900 aufgreifend. Die Suche nach neuen, autonomen Ausdrucksformen jenseits der als einengend empfundenen mimetischen Abbildungsverhältnisse bestimmt den künstlerischen Diskurs der Zeit und wird literarisch anders ‚beantwortet‘ als noch im Poetischen Realismus. Die kurze Erzählung Das Gesicht liest sich diesbezüglich wie ein poetologischer Diskurs-Kommentar bzw. ein fiktiver literarischer Gründungsmythos. Gezeigt wird die Entwicklung eines Künstlers von der Einsicht in das Ungenügen seiner bisherigen gestalterischen Mittel bis hin zum initialen Moment der künstlerischen Offenbarung, der zur Genese neuer Ausdrucksformen führt.46 Während sich der Künstler zu Beginn der Erzählung noch geniert, das detailgetreue Portrait seiner Geliebten öffentlich zu präsentieren, weil sich „das letzte Rätsel ihres Gesichtes“47 – ein bestimmter Ausdruck zwischen sexueller Begierde und unschuldiger Sittlichkeit – der naturalistischen Darstellung entzieht, wird er am Schluss von der Idee einer neuen Darstellungsform geradezu überwältigt: 45

46

47

Hermann Bahr, „Die Überwindung des Naturalismus“, in: Kulturprofil der Jahrhundertwende. Essays von Hermann Bahr, Heinz Kindermann (Hrsg.), Wien 1962, S. 150–154, hier S. 154. Dehmel verkündet diesen Paradigmenwechsel bereits 1891 in seinem Gedicht „Kunst und Leben“: „Natur trieb oft ihr Spiel mit dir,/nun, Künstler treib dein Spiel mit ihr.“ (in: Ders., Erlösungen, S. 138). Die künstlerische Metamorphose des Malers ist in der Erzählung an das Ideal einer geistig-seelischen Transzendierung der erotischen Liebesbeziehung gekoppelt und partizipiert durch die „Dominanz der Seelenproblematik“ erkennbar am spiritistischen Diskurs um 1900 (Peter Sprengel, „Seelenwanderung oder Seelenwandlung? Wilbrandt, Dehmel, die Sphinx und die Entgrenzung des Ich um 1890“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 53/2012, S. 355–379, hier S. 378). Richard Dehmel, „Das Gesicht“, in: Gesammelte Werke von Richard Dehmel. In zehn Bänden, Bd. 7: Lebensblätter. Novellen in Prosa, Berlin 1908, S. 87–96, hier S. 88.

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da stieg es vor ihm auf, neu und mächtig: „Weißt du, wie ich dich malen werde? – Sturm und Nacht – Fackelbrand – nur Auge und Bewegung […]48

Bereits der Untertitel der Erzählung, Eine halbe Stunde Seelenleben, verweist auf das entsprechende literarische Programm: eine tendenziell expressionistische Routine, die, im Gegensatz zu poetisch-realistischen Prosatexten, psychische Vorgänge konsequent abbildet. Zwar ist die Künstlernovelle auch im poetischen Realismus kein Unikum,49 die programmatische Wahl einer Innensicht im Sinne einer tentativen Erprobung neuer Erzählperspektiven ist jedoch keine erstrebenswerte Option. Anders das Textverfahren bei Dehmel: Erlebte Rede, die bereits sehr nah an den inneren Monolog heranreicht, Parataxen, Ellipsen und eine Vorliebe für Ausrufe und Wiederholungsstrukturen (Wörter, Satzstrukturen, Phrasen) konstituieren eine experimentelle Textur der Innerlichkeit, die vom Leser fraglos einige Rekonstruktionsarbeit verlangt, grundsätzlich aber lesbar, und in diesem Sinne realistisch, bleibt. Ausgehend von einer indexikalischen Zeichenkette ‚Bild‘/‚Geräusche aus dem Nebenzimmer‘/‚Brandflecken auf dem Teppich‘ wird assoziativ eine Mixtur aus erzählend-erinnernden, expressiven und reflexiven Textpassagen generiert, die sich gegen Ende der Erzählung zu einem panoramatischen Gesamtbild fügt. Bei einem Brand, so realisiert der Leser sukzessive, rettet die Frau – zugleich Muse, Geliebte und Modell – nicht nur den körperlich versehrten Künstler aus den Flammen, sondern bringt in einem Akt der Selbstaufopferung auch das Kunstwerk in Sicherheit; wird dabei jedoch selbst unwiederbringlich entstellt. Fortan ringt der Künstler in einem kathartischen Selbstgespräch um eine Möglichkeit, den erlittenen Schicksalsschlag künstlerisch zu transzendieren. Letztlich mit Erfolg: In symbolischer und religiöser Überhöhung imaginieren sich die Liebenden im Schlussbild als Jesus und Maria Magdalena, die den Gekreuzigten auf ihren Armen vom Kreuz (seiner früheren Verblendung/künstlerischen Beschränktheit) wegträgt. „Auge und Bewegung“;50 so die entlastende Formel. Doch wie lässt sich dieses Postulat 48 49

50

Ebd., S. 96. Zu den poetisch-realistischen Novellen, die „den Künstler […] als Zentralgestalt behandeln und das künstlerische Sein als zentralen Konflikt beinhalten“, zählen nach Christine Anton Franz Grillparzers Der arme Spielmann (1847), Theodor Storms Immensee (1849/50), Eine Malerarbeit (1867), Pole Poppenspäler (1874) und Ein stiller Musikant (1874/75), Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe (1860) und Herr Jacques – Züricher Novellen (1877), Adalbert Stifters Nachkommenschaften (1863/64), sowie Marie von Ebner-Eschenbachs Ein Spätgeborner (1874/75) (Christine Anton, Selbstreflexivität der Kunsttheorie in den Künstlernovellen des Realismus, New York/Frankfurt a.M. 1998, S. 24). Dehmel, „Das Gesicht“, S. 96.

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literarisch ‚übersetzen‘ und löst die Erzählung ihre poetologischen Forderungen ein? Überdies: Welche dahinter liegende Problemkonstellation wird hier eigentlich verhandelt, worauf ‚antwortet‘ der Text? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt ein Seitenblick auf vergleichbare Anordnungen in realistischen Erzähltexten und Künstlernovellen. In seiner semiotischen Studie Zeichen und Zeit weist Claus-Michael Ort bereits auf das Interesse poetisch-realistischer Texte an ikonischer Rezeption und Produktion, genauer an Austauschprozessen zwischen ko-präsenten Zeichen, hin. Ein gleichzeitiges Vorhandensein von Signifikat und Signifikant, zum Beispiel eines Bildes mit seinem Modell über einen längeren Zeitraum hinweg, birgt ein hohes Gefährdungspotential für die realistische Semiose, weil das Zeichen dysfunktional zu werden droht: Eine Ko-Präsenz von Zeichen und bezeichnetem Referenten […] ist allenfalls als temporärer Übergangszustand bei Zeichenproduktion und Zeichenrezeption zugelassen. Wird er zum relativen Dauerzustand, bedroht er ‚Realität‘ und behindert ihre sinnvolle Signifikation: Semiose/Zeichenbildung erweist sich nämlich unter ‚realistischen‘ Prämissen nur dann als legitim, wenn Zeichen absente Realität vertreten; ansonsten wird sie zur überflüssigen Duplikation (Extremfall von Motiviertheit).51

Die redundante Zeichenproduktion oder ihr Gegenteil, die maximale Arbitrarität eines Zeichens im Sinne eines ‚Rätsels‘ oder einer ‚Leerstelle‘, setzen in den von Ort untersuchten Texten Austauschprozesse zwischen den Polen tot/lebendig in Gang, die darauf zielen, die unerwünschte Ko-Präsenz zu unterbinden: Das unbelebte Bild wirkt auf einmal seltsam lebensecht (Meretlein-Episode im Grünen Heinrich), der Porträtierte verliert auf wundersame Weise an Lebensenergie (Katharina in Storms Aquis Submersus). In Dehmels Gesicht wird ebenfalls ein ikonisches Zeichenverhältnis gestaltet; auch hier führt die Ko-Präsenz von Zeichen und Referent nahezu zur Eliminierung des Referenten, als die Geliebte ihr Portrait vor dem Verbrennen rettet und den Flammen dabei selbst zum Opfer fällt. Nur eben: nahezu. Noch ganz im poetisch-realistischen Erzählparadigma verhaftet, beklagt der Künstler zunächst die ausbleibende Zeichen-Tilgung: Wenn sie doch gestorben wäre; wirklich gestorben, nicht bloß in ihm. Dann würde er zu ihr beten können, sein ganzes Leben lang […]52

Tatsächlich schreibt sich an dieser Stelle unvermittelt ein dynamisches Zeichenverhältnis in den Text ein, das das statische Modell des Poetischen Rea51

52

Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998, S. 47. Dehmel, „Das Gesicht“, S. 92.

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lismus substituiert und in der Folge ein echtes Problem für den neu zu schreibenden Text darstellt. Während das prekäre ikonische Zeichen im Realismus durch eine Kette metonymischer Zeichen narrativ ‚eingeholt‘ bzw. ‚syntagmatisiert‘ wird und somit eine Art Endpunkt der Narration konstituiert, wird der noch lebendige Referent hier selbst so weit transformiert, dass es eines neuen Zeichens bedarf, um seinen alten Platz in der Narration behaupten zu können. Zunächst, auch da ganz Kind der ‚alten‘ Zeit, befürchtet der Künstler hinter dem Unfall der Geliebten (= Transformation des Referenten) eine metaphysische Strafe für das Ausleben seiner erotischen Begierde. Ob es wohl Strafen gab? Strafen der Kraft? aus sich selbst? – Hatte er deshalb den Fuß gebrochen? Ob Liebe Sünde war? Nicht überhaupt, aber für Ihn: Sünde gegen die Kunst?53

Warum sollte die Liaison mit dem Modell derart desaströse Folgen für den Künstler haben? Zum einen widerspricht der Verzicht auf Entsagung – zumindest ohne entsprechende leidvolle Läuterung – dem realistischen Paradigma. Zum anderen gilt dem Künstler die gesteigerte Vitalität als ‚Übermannung‘. Das dem Realismus inhärente nüchterne Speichern und Archivieren objektiver Wirklichkeit aus der Beobachterperspektive wird durch subjektiv-emotionales Involviert-Sein des Künstlers unterminiert und somit verunmöglicht. Die entfesselte Sexualität ist nun aber keinesfalls das Skandalon des Textes; vielmehr setzt sie eine Kette von Ereignissen in Gang, die als produktiver Einbruch des vitalen Lebens in die Narration gelesen werden können. Die Schönheit der Frau schlägt um in abstoßende Hässlichkeit (entstellte Gesichtszüge, verbrannte Haut, Narben) und zwingt den Künstler nicht nur dazu, althergebrachte Produktionsweisen zu verabschieden und Grenzen des Darstellbaren zu verschieben, sondern lässt ihn darüber hinaus die Überlegenheit des neuen Verfahrens erkennen. Was innerhalb des naturalistischen Rahmens nur approximativ dargestellt werden kann, das Wesen bzw. die ‚Seele‘ hinter den Dingen (hier gleichsam zu identifizieren mit der ‚Sittlichkeit‘ der Frau), wird qua Dynamisierung sichtbar. Und Er – sah sie an – an – und seine Augen wurden immer weiter […] immer sehender – und seine Finger tasteten und griffen: es zu fassen, zu halten: Das Unerkannte, Letzte, Eine: das heilige Wunder.54

Dabei bleibt die konkrete Ausgestaltung des neuen Kunstprogramms zunächst offen: Wird zu Beginn der Erzählung noch eine an Pedanterie gren53 54

Ebd., S. 89. Ebd., S. 95.

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zende Ekphrasis des naturalistischen Portraits in den Text montiert, findet sich am Schluss lediglich ein nicht-hierarchisiertes Kaleidoskop einzelner, unverbundener Bauelemente oder Zeichen (‚Sturm‘, ‚Nacht‘, ‚Fackelbrand‘, ‚Auge‘), die ihrerseits eine kreisende, nicht still zu stellende Semiose in Gang setzen. Wichtig ist jedoch – und hierin liegt der Clou des Textes – dass mithilfe neuer künstlerischer Verfahren und Experimente ein Darstellungsproblem (Abbildung des ‚Seelenlebens‘) gelöst wird, das in der Realität selbst als weiterhin stabilem Referenzraum begründet liegt. Weder geht es um eine Ästhetik des Hässlichen noch darum, einem modernen, spielerischen, um sich selbst kreisenden l’art pour l’art das Wort zu reden.55 Vielmehr leistet die favorisierte Ästhetik der Innerlichkeit, die keine referenzlose Ästhetik der Oberfläche sein will, den Brückenschlag zwischen (künstlerischer, prozesshafter) Form und (lebensweltlicher) Substanz, in dem Allzumenschliches seinen Ausdruck findet. In der Tat lassen sich einzelne poetologische Forderungen auf die Struktur der Erzählung selbst anwenden; beispielsweise korrespondieren dem Begehren nach einer Dynamisierung der Zeichenverhältnisse (‚Bewegung‘) ein hohes Erzähltempo und ein sprunghafter, assoziativer Wechsel zwischen einzelnen Erzählelementen, die sich letztlich – gleich einem Puzzle oder Indizienteppich – zu einem einheitlichen Gefüge verdichten. Zusätzliche Dynamik erhält die Erzählung durch den hypertrophen Gebrauch von Anaphern, Parallelismen und anderen Similaritätsbeziehungen („es war ja fertig, war ja ein Bild: ein Bild, wie nur er es malen konnte“56), wodurch der Text zum einen eine Bewegung des permanenten Überschreibens imitiert, zum anderen stark rhythmisiert wird. Parenthesen, Ellipsen und Interjektionen verstärken den Charakter des Vorläufigen und Emphatischen. Was hier gestaltet wird, ist die möglichst detailgetreue Imitation einer Gedankenrede, wobei die hinter der Figur nahezu vollends zurücktretende und somit de facto überflüssige Erzählinstanz lediglich einen letzten Rest von Objektivität garantiert. Auch wenn der inhaltlichen ‚Füllung‘ der literarischen bzw. künstlerischen Form programmatisch ein hoher Stellenwert zukommt, so werden in Dehmels Prosatexten doch häufig Strukturen kognitiver und sprachlicher Repräsentation vertextet, die nicht zufällig an den Rändern des Alltäglichen positioniert sind und somit experimenteller Erzählformen

55

56

In diesem Zusammenhang fragt der Künstler: „Warum war’s ihm nicht genug an dem farbigen Witz, wie den Andern; an der Lichtflunkerei, über die er sonst spottete. Es war doch so einfach: was Neues probieren! – “ (ebd., S. 92). Ebd., S. 87.

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und -perspektiven (i.e. Routines) bedürfen: kreisende Gedanken, verworrene Träume, Suggestion.

IV. Die Gottesnacht. Wuchernde Zeichenketten Eine der wohl umfangreichsten Traumschilderungen im Poetischen Realismus findet sich bei Gottfried Keller. Im Grünen Heinrich, einem der wenigen realistischen (Bildungs-)Romane, träumt der in der Fremde gescheiterte Künstler Heinrich Lee von seiner Rückkehr in die Heimat: Ich näherte mich der Stadt, worin das Vaterhaus lag, auf merkwürdigen Wegen, am Rande breiter Ströme, auf denen jede Welle einen schwimmenden Rosenstock trug […]. Am Ufer pflügte ein Landmann mit milchweißen Ochsen und goldenem Pfluge […]. […] Der Pflug des Landmannes hatte sich inzwischen in ein Schiff verwandelt […]. Hierauf bohrte er ein Loch in den Schiffsboden; darein steckte er das Mundstück einer Posaune, sog kräftig daran, worauf es mächtig erklang gleich einem Harsthorn und einen glänzenden Wasserstrahl ausstieß, der den herrlichsten Springbrunnen in dem fahrenden Schifflein bildete.57

Freilich bleibt der Text nicht bei dieser lieblichen, wenngleich grotesken Szenerie stehen, sondern konfrontiert seinen Protagonisten fortwährend mit fantastischen Zeichen-Metamorphosen, Figurationen autopoietischer Semiose und Brüchen raum-zeitlicher Ordnungen: Körner verwandeln sich in Goldstücke, Goldstücke in sprechende Pferde, Kleider wachsen zu unkontrollierbaren Haufen an, Schauplätze, Gegenstände und Figuren (u. a. ‚Geister‘ der Vergangenheit wie die verstorbene Jugendliebe Anna) treten unvermittelt in Erscheinung oder verschwinden kurzerhand. Das realistische Wahrscheinlichkeitspostulat wird zugunsten einer prozesshaften und hochgradig symbolisch ‚aufgeladenen‘ Traumlogik – Transformationen, Substitutionen, sprunghaft wechselnde Szenen und Kulissen – außer Kraft gesetzt. Motiviert und syntagmatisiert wird die sich über zwei Kapitel erstreckende Traumsequenz in doppelter Weise: Zum einen implizit über die Einbettung ins Gesamtgefüge der Erzählung, auf die sich einzelne narrative Elemente rückbeziehen und die sie ihrerseits kommentieren, zum anderen explizit über die homodiegetische Erzählinstanz, die biographische, psychologische oder situative Erklärungsmuster parat hält, um den bedrohlich ausufernden Text gewissermaßen ‚zur Ordnung zu rufen‘. So wird beispielsweise eine unheimliche Traum-Szene, in der sich Heinrich als Bräutigam der toten Anna an eine sonntägliche Hochzeitstafel imaginiert, durch ein außer-traumwelt57

Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Zweite Fassung, in: Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 3, Peter Villwock (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1996, S. 703f.

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liches physisches Bedürfnis legitimiert: Heinrich sei schlicht „im Schlafe wieder hungrig geworden“.58 Als Heinrich bewusst wird, dass er „schließlich immer nur von Gold und Gut, Kleidern und Essen“ träumt, bricht er „über diese Erniedrigung neuerdings in Tränen aus“.59 Der realistische Text nutzt die phantastische Traumwelt folglich in erster Linie als sekundären Kommentarraum neben der realistischen Diegese, der substantiell auf diese bezogen bleibt.60 Liest man Dehmels Erzählung Die Gottesnacht. Ein Erlebnis in Träumen vor diesem Hintergrund, so lässt sich zeigen, dass und inwiefern die narrative Versuchsanordnung hier bereits über die Ränder des Realismus hinausweist. Ähnlich wie im Grünen Heinrich werden die distinkten Traumsequenzen in der Gottesnacht zunächst doppelt gerahmt: Diegetisch durch ritualisierte Aufwach- und Einschlafphasen, in denen das Erlebte (halbbewusst und bewusst) kommentiert und rationalisiert wird, auf Textebene durch die formelle und optische Gliederung in einzelne Kapitel. Wenngleich Rahmenhandlung und Binnenerzählung – wie oben gezeigt – de facto auch im Grünen Heinrich interagieren, ist das Netz der Austauschbeziehungen in der Gottesnacht engmaschiger und erhält eine selbstreflexive Pointe. Die Binnenerzählung generiert ihre Symbolik in zweifacher Hinsicht über paradigmatische Ähnlichkeitsbeziehungen zu Elementen der Rahmenerzählung. Zum einen greift der Text ebenfalls auf das Konzept der aus der Freud’schen Traumtheorie bekannten ‚somatischen Traumquellen‘61 zurück: Die bis zur Eskalation vorangetriebene, expressionistisch inspirierte Phan-

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Ebd., S. 708. Ebd. Gleichwohl kann hier lediglich Schadensbegrenzung geleistet werden: Was bleibt, ist ein nicht-auflösbarer Rest, der sich u. a. in minutiösen Beschreibungen von phantastischen Landschafts- oder sonstigen ‚künstlichen‘ Ordnungsformationen niederschlägt. Nicht umsonst ist Keller häufig eine „überbordende[…] Fabulierkunst“ an den Grenzen des Realismus attestiert worden (Dominik Müller, „Gottfried Kellers Erzählungen und Romane“, in: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 85–102, hier S. 91). Müller bezieht sich an dieser Stelle auf die Geschichte des Albertus Zwiehan in Buch IV, die den beiden Traumkapiteln ‚Heimatsträume‘ und ‚Weiterträumen‘ unmittelbar folgt. „Hinter der Aufstellung dieser Begriffe [= Traumreize und Traumquellen] verbirgt sich eine Theorie, die den Traum als Folge einer Störung des Schlafes erfasst. Man hätte nicht geträumt, wenn nicht irgendetwas Störendes im Schlaf sich geregt hätte, und der Traum ist die Reaktion auf diese Störung.“ (Sigmund Freud, „Die Traumdeutung [1900]“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Anna Freud/Adolf J. Storfer (Hrsg., unter Mitwirkung des Verfassers), Leipzig/Wien/Zürich 1925, S. 25).

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tastik (u. a. das „bis über die Sterne […]spritz[ende]“62 Gehirn des Protagonisten) der Traumwelt wird metadiegetisch metonymisiert, indem sich die Traumbilder als äußerlich, d. h. ‚objektiv‘ verursacht herausstellen. Post festum erklärt sich die Traumerscheinung einer gefiederten Wolke, die dem Träumenden das „Leben weg[zu]schaukeln“63 droht, beispielsweise durch eine aus dem Kissen herausstechende Feder; das aus dem Kopf des Protagonisten spritzende „himmlische[…] Licht“64 verdankt sich der Reflexion einer versehentlich brennen gelassenen Kerze im Schlafzimmerspiegel usf. Obwohl sich das Verfahren der nachträglichen Rationalisierung und Profanisierung des Geträumten nicht grundsätzlich vom Hungertraum des Heinrich Lee unterscheidet, ist der Kontrast zwischen der bizarren Festtagstafel im Grünen Heinrich und dem ins All spritzenden Gehirn des Protagonisten in der Gottesnacht evident. Offenbar muss die schmale ‚realistische‘ Rahmenerzählung bei Dehmel bereits ein Mehr an Drastik und Absurdität eindämmen. Dass dies nicht immer gelingt und folglich das nicht näher zu bestimmende ‚Andere‘ der Traumwelt mitunter in die realistische Sphäre hineinragt, zeigt folgende, der Rahmenerzählung entnommene, Textstelle: Durch die dunkle Stube lag ein schmaler Streifen Mondlicht grell bis auf mein Bett; er zuckte. Ich sah zum Fenster; da war kein Spalt. Ich wandte den Blick ab; der Streifen glitt mit. Ich weiß nicht, was für ein Licht so zuckte.65

Zum anderen – und hier erweist sich Die Gottesnacht erzähltechnisch als überaus innovativ – verschaltet der Text die Erzählebenen auch in sprachlich-ästhetischer Hinsicht, wobei er unmittelbar, nämlich im Akt der Verfertigung des Syntagmas, auf die poetische Funktion nach Jakobson verweist: Die Achse der Selektion fällt mit der Achse der Kombination in eins. Die Wahl der Bilder bzw. Zeichen folgt einem über sprachliche Similaritätsbeziehungen geschalteten Automatismus: Ich hörte beseligt den Drosselgesang, der aus dem Wort Erdrosselung klang, und wunderte mich über die Bilder, die sich aus jedem Satzglied entpuppten. Da stand sie vor mir: die rätselhafte Gliederpuppe. Wie war sie nur in mein Zimmer gekommen?66

Die Zeichen der Traum-Diegese entstammen somit zunächst einmal keiner unabhängigen psychologischen Tiefendimension wie die sich in Goldmün62

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Richard Dehmel, „Die Gottesnacht“, in: Gesammelte Werke von Richard Dehmel. In zehn Bänden, Bd. 7: Lebensblätter. Novellen in Prosa, Berlin 1908, S. 149–188, hier S. 155. Ebd., S. 178. Ebd., S. 155. Ebd., S. 160. Ebd., S. 149.

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zen verwandelnden Getreidekörner im Grünen Heinrich. Vielmehr verselbständigt sich die sprachliche Ebene zu einer Art Bildgenerator, wobei die wuchernden (= sich ‚verpuppenden‘) Zeichen erst in einem zweiten Schritt mit psychologischen und biographischen Fragmenten verkoppelt werden.67 Obgleich der Text über dieses Verfahren selbstreferentiell auf seine Künstlichkeit verweist und darüber hinaus retrospektiv erzählt wird, hält er den Leser keineswegs auf Distanz. Am Übergang zwischen Schlaf- und Wachbewusstsein wird ein Wechsel von indirekter zu erlebter Rede installiert, der mit einer Abnahme von Mittelbarkeit einhergeht. Die lyrisierte Sprache mit ihren klanglichen Analogien und monotonen Rhythmen gestaltet das langsame Eindämmern darüber hinaus mehr, als dass sie erzählt. Hinzu kommt innerhalb der erlebten Rede ein unvermittelter Übergang der Erzählzeit vom Präteritum ins Präsens („Ich wollte wegblicken – da blickt sie mir nach.“68), der den Abstand zum Plot weiter reduziert. Die Architektur des Traums bei Dehmel steht in scharfem Kontrast zum realistischen Verfahren im Grünen Heinrich: Ein stabiler Erzählmodus und eine souveräne Erzählinstanz regieren dort den Text; zu keinem Zeitpunkt wird die Erzählung von der Flut der phantastischen Szenen und Bilder infiziert, die sie hervorbringt. Der bedrohlichen Materialfülle wird zudem eine kompensatorische Textstrategie des akribischen Archivierens und Beschreibens entgegengesetzt. „Das Wunderbare war nur, dass man auch die allerfernsten Vögel deutlich erkannte und ihre Gestalt und Farben unterscheiden konnte“,69 bemerkt Heinrich. Was zunächst wie eine zusätzliche Kapriole des verworrenen Traum-Erlebens daherkommt, entpuppt sich auf den zweiten Blick als impliziter Kommentar auf das erzählerische Verfahren. ‚Wunderbar‘ ist die Über-Schärfe der Wahrnehmung nämlich in einem zweifachen mimetischen Sinn: Zum einen widerspricht sie den physikalischen Gesetzen der realistischen Diegese, zum anderem steht sie den Regeln der Traumlogik entgegen, die ja ihr unheimliches Potential erst über rätselhafte Bilder und den Verlust einer deutlichen Wahrnehmung generiert. Nimmt der realistische Text die narrativen ‚Kosten‘ eines solchen Verfahrens – den Verstoß gegen das Wahrscheinlichkeitspostulat – in Kauf, um Lesbarkeit und Erzählhoheit zu gewährleisten, wird in der Gottesnacht bereits der missglückte Versuch vorgeführt, das Wuchern der Zeichen und Traum67

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So wird die über sprachliche Äquivalenzen aufgerufene Gliederpuppe nachträglich als Weihnachtsgeschenk der Mutter des Erzählers an dessen Kinder entschlüsselt und somit doppelt motiviert. Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 151. Keller, Der grüne Heinrich, S. 699.

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bilder erzählerisch zu bewältigen. Deutlich wird dies unter anderem durch die mangelnde Rekonstruierbarkeit des realistischen Plotkerns, auf den sich die geträumten Ereignisse im Sinne einer Art Traumabewältigung rückbeziehen lassen. Der Protagonist erhält zu Beginn der Erzählung wenige Stunden vor dem Einschlafen die Todesnachricht einer „junge[n] Selbstmörderin“.70 Der hermeneutische Code71 ist initiiert. Denkt man die weitere Entwicklung des Plots von einem poetisch-realistischen Frame aus, so wäre eine kontinuierliche Auflösung des Rätsels (In welcher Relation steht der Protagonist zur Selbstmörderin? Warum hat sie sich umgebracht?) im Fortgang der Narration erwartbar. Entgegen dieser Erwartung kommt es jedoch nicht zu einer finalen clôture der hermeneutischen Phrase; stattdessen lässt sich der im Hintergrund mitlaufende realistische Bezugsrahmen bestenfalls erahnen: Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei der Selbstmörderin um die Geliebte des Erzählers handeln könnte. De facto integriert der Text jedoch vor allem eine Reihe lose verbundener, opaker Traum-Sequenzen, die thematisch um Tod, Suizid, Mord, Schuld und Glauben kreisen und lediglich durch ein dichtes Verweisnetz zyklisch wiederkehrender, symbolisch übercodierter Zeichen (‚Rubinring‘, ‚Perlen‘, ‚Göttin der Barmherzigkeit‘ usf.) zusammengehalten werden. In diesem Labyrinth aus ineinander übergehenden erinnerten und imaginierten Zeichen ringt der Erzähler wiederholt vergeblich um erzählerische Souveränität und raum-zeitliche Orientierungspunkte („ich musste mich nur recht erinnern“,72 „Ich träume ja nur! will ich mir einreden“,73 „das war wohl viele hundert Jahre her“74) – ist letztlich aber nicht in der Lage, die exzessive Zeichen-Genese und das temporeiche Verwirrspiel aus Analogien, Ersetzungen und In-eins-Setzungen narrativ einzuholen. Im ersten (Alb-)Traum erscheint dem Protagonisten eine lebensgroße Gliederpuppe: Da stand sie zwischen Tür und Schrank mit ihrem wachsbleichen Gesicht wie eine Auferstandene […]. Ja, sie war tot; tot wie die schönen phantastischen Blumen dieses alten indischen Tempelmantels, der sie bis zu den Füßen hinab verhüllte. Zwischen solchen Blumen spielte ich einst und pflückte einen Strauß davon; für ihre bleichen gefalteten Finger. Damals hatte ich sie noch angebetet. Denn sie thronte auf einem vergoldeten, mit Rubinen und Perlen geschmückten Altar und 70 71

72 73 74

Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 149. Der hermeneutische Code nach Barthes umfasst die „Gesamtheit aller Einheiten, deren Funktion darin besteht, auf verschiedene Weise eine Frage, die Antwort und die verschiedenen Zufälle zu gliedern, die die Frage vorbereiten oder die Antwort verzögern können oder auch ein Rätsel formulieren oder seine Dechiffrierung herbeiführen“ (Barthes, S/Z, S. 21). Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 149f. Ebd., S. 151. Ebd., S. 150.

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war die Göttin der Barmherzigkeit; das war wohl viele hundert Jahre her. Warum sah sie mir nun so starr ins Herz, als ob ich sie getötet hätte? Sie hatte sich wohl selbst entleibt!75

Deutlich entgleitet dem Protagonisten hier die erzählerische Übersicht; übergangslos inszeniert der Text drastische, offenbar assoziativ motivierte Bild- und Zeitsprünge. So verwandelt sich die unheimliche Zombie-Puppe nicht nur in die vor Urzeiten angebetete indische „Göttin der Barmherzigkeit“,76 sondern wird später in ständigem Wechsel als Mutter des Erzählers, „Mutter [s]einer Kinder“77 sowie als Selbstmörderin, Geliebte und englische Königin identifiziert. Als weiteres Mittel zur Destabilisierung der Erzählinstanz sowie zur Evokation eines Unmittelbarkeitseffekts nutzt der Text Überschreibungen in Form von Revisionen des just Erzählten im Modus der erlebten Rede. Das liest sich dann folgendermaßen: Ach ja: ich wollte sie ja erdrosseln. Ich höre wieder den Drosselgesang […]. Nein, es ist ferner Flötenklang. Nein, eine Geige jubelt bang.78

Wieder ist die poetische Funktion an dieser Stelle durch phonetische und morphologische Äquivalenzen (‚drossel‘) und die Reimform (‚gesang‘/ ‚klang‘/,bang‘) deutlich exponiert, wodurch der Text auf seine Artifizialität verweist; gleichzeitig haben die Interjektionen und Parataxen als Mündlichkeitsmarker jedoch eine immersive Funktion, mittels deren die Distanzierung zurückgenommen und eine Unmittelbarkeitsillusion erzeugt wird. Die permanenten Korrekturen des vom Erzähler Wahrgenommenen (hier: Gehörten) beschleunigen das Erzähltempo und erfordern zugleich eine aufmerksame, verlangsamte Textlektüre. Im Gegensatz zu den geschlossenen Weltmodellen vieler realistischer – aber auch phantastischer – Texte, bei denen sich der Leser nach dem ‚Einlesen‘ in die jeweilige Diegese entspannt zurücklehnen und auf den Verlauf des Plots konzentrieren kann, erfindet die Gottesnacht ihre Räume und Regeln immer wieder neu. So führt der Erzähler Zeichen, Handlungssequenzen oder Settings ein, nur um diese kurze Zeit später zu revidieren bzw. zu eliminieren. Die hier beschriebene Sprunghaftigkeit der Erzählinstanz lässt sich meines Erachtens jedoch nicht als unzuverlässiges bzw. unverlässliches Erzählen klassifizieren, das aus einer Inkongruenz von Welt und Figurenerleben resultiert, sondern ist vielmehr in zwei75 76

77 78

Ebd., S. 149f. Höchstwahrscheinlich eine Anspielung auf die buddhistische Göttin Kwan Yin (Guanyin), die im südostasiatischen Raum als Göttin der Barmherzigkeit (= Die die Laute/das Leid der Welt Hörende) bekannt ist. Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 151. Ebd., S. 151f.

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facher Hinsicht Resultat der experimentellen Erzählanlage. Zum einen kommt der Traum-Welt in Bezug auf die diegetischen Regeln ein Sonderstatus79 zu, da das narrationslogische Erzählprivileg einzig beim Träumenden liegt, zu dem es in Bezug auf wahrheitsfähige bzw. mimetische Sätze innerhalb der erzählten Welt kein Korrektiv gibt. Zum anderen sind die permanenten Revisionen und Infragestellungen einem synchronischen Erzählverfahren geschuldet: Das unmittelbar Gesehene, Gehörte, Gedachte usw. wird simultan in erlebte Rede ‚übersetzt‘, ohne zuvor den Filter einer ordnenden Instanz zu durchlaufen. Wenn man so will, ist also nicht die Erzählinstanz unzuverlässig (die ja mit seismographischer Genauigkeit jede Veränderung des äußeren und inneren Geschehens aufzuzeichnen versucht), sondern vielmehr die sich fortwährend verändernde erzählte Traum-Welt, die narrativ für den Erzähler kaum mehr einzuholen ist und ihm daher regelmäßig entgleitet.80 Dieser Punkt ist für die Interpretation des Textes als ‚Routine‘ 79

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Manfred Jahn nennt drei Bereiche, aus denen der Leser Unverlässlichkeitsindizien und Korrektivinformationen rekonstruieren kann: den „intratextuellen Bereich (Subjektivismen, eklatante Realitätsverluste, unbeabsichtigte Inkonsistenzen usw.), de[n] peritextlichen Bereich (distanzierende Titel, Einleitungen, Vorworte u. a.) und de[n] außertextlichen Bereich (Weltwissen des Lesers, Gattungskonventionen, Stellungnahmen und Intentionskundgebungen des Autors usw.)“ (Manfred Jahn, „‚Package Deals‘, Exklusionen, Randzonen: das Phänomen der Unverläßlichkeit in den Erzählsituationen“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998, S. 81–106, hier S. 83). Die auf eine intradiegetische Reflektor-/Erzählerfigur fokalisierte Traum-Erzählung, auf die Jahn in seinem Beitrag nicht explizit eingeht, stellt insofern einen Spezialfall dar, als radikale Subjektivierung, phantastische Elemente, Inkonsistenzen usw. im diesbezüglichen Gattungs-Frame geradezu erwartbar, mindestens aber möglich sind. In diesem Sinne kann weder von einer ‚Irreführung‘ noch von einer ‚Fehldeutung‘ der Sachverhalte und Ereignisse die Rede sein. Als Idealfall eines reliable narrator versteht Jahn mit Rimmon-Kenan einen Erzähler, der weder des Irrtums noch der Irreführung oder Fehldeutung der Sachverhalte und Ereignisse der von ihm berichteten Story überführt werden kann (vgl. Jahn, „‚Package Deals‘“, S. 82f.). Freilich ließe sich argumentieren, dass dem Erzähler in der Gottesnacht ständig Irrtümer und Fehldeutungen unterlaufen, wenn er beispielsweise die dritte, aussätzige Hand des Apostels Thomas in der heimatlichen Kirche auf den zweiten Blick als harmlose Falte des Mantels entlarvt. Tatsächlich bleibt für den Leser unentscheidbar, ob es sich bei der zusätzlichen Hand um eine Unschärfe der Sinneswahrnehmung oder eine tatsächlich existente Erscheinung gehandelt hat. Da die Szene aber in toto als Traum-Erzählung und somit in einem anderen Modus gelesen werden muss, fallen hier beide Phänomene in eins: Das vom Erzähler Beobachtete ist gleichzeitig ‚real‘ (als Traumbild) und ‚irreal‘ (in Bezug auf die Rahmenhandlung).

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von entscheidender Bedeutung: Die Erzählung fokussiert nicht auf einen überspannten Erzähler, zu dem sie eine ironische Distanz aufbaut, sondern erprobt neue, artifizielle Textverfahren, die auf eine literarische Mimikry des idiosynkratischen Traumerlebens abzielen. Kurz: Der Orientierungsverlust des Erzählers bezeugt nicht dessen krankhaften Geisteszustand, sondern ist Text gewordener (Alb-)Traum. Insofern wird die Zuverlässigkeit des Erzählers nicht einmal durch die Tatsache angetastet, dass sich dessen Position (im Sinne von Figuren-Identität oder figuraler Materialisierung im Traum) unentwegt verschiebt und somit als radikal instabil erweist. Dennoch – wenn dieser bei seiner Begegnung mit der englischen Königin erstaunt ausruft: „Das ist mein Freund nicht, das bin ich selbst […]“81 oder in einer paradoxen Vermischung von Subjekt und Objekt einen Satz wie „Meine starren Augäpfel sehen mich zucken; in weiter Ferne“82 produziert, erreicht die narrative Desorganisation die elementare Erzählebene und stiftet Konfusion. Wer spricht hier? Zunächst ließe sich eine Verdoppelung der Erzählinstanz denken: Der Erzähler steht gewissermaßen neben sich und kommentiert von diesem Beobachterstandpunkt aus das figurierte ‚Ich‘. De facto verbleibt der Text aber nicht bei einer solchen erzählerischen Anordnung; vielmehr schaltet die Erzählposition zwischen Innenperspektive („Ich fühle ein heftiges Zittern“83), einfacher Ich-Erzählung und der (versuchsweise so genannten) personalen Ich-Erzählung („ich höre ihn [=mich] mit beklommener Stimme […] erzählen“84) hin und her. Die Dezentrierung der Erzählinstanz kulminiert schließlich auf der Figurenebene in einer dreifachen Auffächerung. So begegnen dem Erzähler im dritten Traum sein vergangenes und sein zukünftiges Selbst, wobei das zukünftige Ich „aus sich selbst heraus[tritt]“85 und zunächst verschwindet, um kurz darauf, zunächst unerkannt, als greiser Führer wiederzukehren: „Ich ahne dunkel, ich selbst bin der Greis“.86 Doch nicht nur die einzelnen Figuren als Zeichen bzw. Elemente der Erzählung inklusive der Erzählinstanz changieren, sondern auch die Verknüpfungsregeln werden lediglich angedeutet: Hat sich die Selbstmörderin „selbst entleibt“,87 wurde sie vom Ich-Erzähler ermordet oder hat der Erzähler ihren Tod immerhin herbeigewünscht? Statt an einer schrittweisen 81 82 83 84 85 86 87

Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 152. Ebd. S. 157. Ebd., S. 159. Ebd., S. 158. Ebd., S. 169. Ebd., S. 170. Ebd., S. 150.

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Auflösung dieser Fragen zu arbeiten, verrätselt der Text den realistischen Plot zunehmend. Die Einführung weiterer Figuren wie der des toten Jugendfreunds und Geigenspielers aus dem heimatlichen Wald oder die Auftritte Shakespeares und der Königin Elisabeth öffnen zwar potentielle intertextuelle Räume und schichten so einzelne Deutungsangebote als mögliche Kontexte übereinander – gleichwohl ohne disambiguierende Funktion. Mit der Phantasmagorie der Königin Elisabeth I. beerbt der Text beispielsweise eine der historisch mächtigsten, aber auch ambivalentesten Frauenfiguren – ihres Zeichens zugleich Kriegstreiberin und Kunst-Mäzenin, Willkürherrscherin und Opfer zahlreicher Mordkomplotte – inklusive ihrer marienhaften ikonischen Selbst- und Fremdinszenierung – und verschaltet diese mit der bereits eingeführten barmherzig-grausamen Mutterfigur. Gleichzeitig ruft der verwandte Hamlet-Intertext die blutige Legende um Mord, Selbstmord, Verrat und die Geister der Vergangenheit auf, suggeriert also (historisch-literaturgeschichtliche) Bedeutsamkeit, lässt darüber allerdings nahezu vergessen, dass sich die Fabel als so radikal modifiziert präsentiert, dass die eingeführten Figuren der Weltgeschichte und -literatur auf den Status von Statisten herabgestuft werden. Letztlich kreist die Semiose in sich selbst: Der Wahnsinn Hamlet-Shakespeares resultiert in der Gottesnacht aus der bereits bekannten Dreier-Konstellation Protagonist (Geiger-Hamlet-Shakespeare) – grausame Frauenfigur (Königin-Göttin Elisabeth) – unschuldige Frauenfigur (Kammerdame-Waldfee-Reh).88 Statt an der Auflösung des ‚Rätsels‘ mitzuwirken oder neue Deutungshorizonte zu öffnen, referieren die neuen Signifikanten offenbar auf das immer gleiche Signifikat und transportieren somit bei Lichte besehen kaum zusätzliche Information. Zusätzlich konturiert der Intertext jedoch – und hierin liegt der eigentliche Mehrwert – einmal mehr den spielerisch-artifiziellen Charakter der Erzählung, indem sich der Wahnsinn als bewusst kalkulierte Inszenierung präsentiert: Ebenso wie Hamlet ‚spielt‘ der Text lediglich verrückt; getreu dem Motto „Though this be madness, yet there is method in’t“ (Hamlet, Akt II, Szene II). Wenn es wenig später heißt Ich will ihr [der Königin] den Hut vor die Füße werfen und stehe erstarrt: Der Hut hat schwarze Drosselflügel und fliegt zurück auf meinen Kopf.89 88

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Selbiges Verfahren wird auf den ‚Venus und Adonis‘-Intertext angewandt: Die Geschichte um die Göttin der Liebe, die ihren Geliebten trotz wiederholter Warnungen bei der Jagd verliert und daraufhin alle Liebenden zu großem Leid verflucht, wird anzitiert, allegorisiert und ebenfalls in eine Dreiecks-Beziehung überführt: Die Königin (Venus) begehrt Shakespeare (Adonis), der wiederum die Kammerdame (Reh auf der Jagd) liebt. Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 153. Hervorh. d. Verf.

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so bringt dieses Bild ebendiese Methode oder Verfahrensregel des Textes präzise auf den Punkt. Jedes neu eingeführte Zeichen erweist sich buchstäblich als ‚alter Hut‘, um im Bild des Textes zu bleiben. Im Sinne einer narrativen Schleife (der auf den Kopf zurückfliegende Hut) werden in ständigem Wechsel neue Symbole generiert, von altbekannten Zeichen und Wortfeldern (-drossel-) abgelöst bzw. überschrieben und schließlich in anderen Kontexten wieder aufgenommen: Obwohl die Menge der im (Text-)Spiel befindlichen Zeichen auf diese Weise kontinuierlich zunimmt, lässt sich der ‚Wahnsinn‘ einer unkontrolliert wuchernden und somit radikal unverständlichen Semiose durch die rekurrente Textstruktur zumindest eindämmen. Besagtes zyklisches Verfahren, das der Text folglich immer schon mitreflektiert, erinnert an Nietzsches Idee der Ewigen Wiederkunft: Nicht zufällig nehmen zirkulare Symbole wie die drei Ringe (Rubinring, Trauring, Ring des Vaters) oder die buddhistische – und somit für den Kreis der Wiedergeburten stehende – Göttin der Barmherzigkeit eine zentrale Rolle in der Erzählung ein. Der Effekt dieser Verfahrensregel ist ein unheimlicher: So nimmt die ständige Wiederkehr einer blutüberströmten Kinderhand – beim Schlachter, in der Frühstückshalle und auf der Leinwand des Malers – Bezug auf das Genre der Schauergeschichte. Der Protagonist ‚erinnert‘ im Traum seine angebliche Vorgeschichte als schwedischer Kürassier, der im Krieg ein Kind in einem Dorfteich ertränkt, woraufhin ihn das Symbol seiner Schuld unablässig verfolgt. Die Persistenz des Zeichens wirkt bedrohlich – unter anderem, weil unter der Bedingung der Zirkularität kein Entkommen möglich ist; der Träumende bleibt in einer mise en abyme-Struktur befangen: Ich möchte gerne aufwachen aus diesem Traum; ich glaube mich doch genau zu erinnern, dass ich in Wirklichkeit niemanden umgebracht habe, weder die Eine noch die Andre; aber ist das auch wirklich die Wirklichkeit? Ich bin ja schon öfters im Traum erwacht, und dann war’s trotzdem nur wieder geträumt.90

Im vierten Traum greift das repetitive Grundmuster schließlich auch auf die räumlichen Ordnungsstrukturen des Textes über. Der Protagonist findet sich in einem artifiziellen Labyrinth aus spärlich beleuchteten Grabkammern und gleißend hellen Luftschächten wieder, dem er vergeblich zu entkommen versucht. Jeder neue Gang und jede neue Tür stellen sich als bereits durchschritten heraus: „ich stehe abermals in dem Kristallsaal […]: ich bin im Kreise herumgeirrt.“91 Wenn diesbezüglich von einer „Richtschnur“92 die Rede ist, an der sich der Protagonist entlanghangelt, um in den labyrinthi90 91 92

Ebd., S. 167. Ebd., S. 176. Ebd.

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schen Strukturen nicht umzukommen, dann besteht kein Zweifel daran, dass hier immer zugleich der um Textverstehen (ergo den ‚roten Faden‘) bemühte Leser mitgemeint ist, der eine Entwicklung der Figur(en), des Plots etc. erwartet. Realiter muss dieser aber durch das oben beschriebene zirkuläre Textverfahren gleich dem Erzähler ‚auf der Stelle treten‘ und wird zudem durch die ständigen szenischen, perspektivischen und figurativen Wechsel und Revisionen Schwierigkeiten haben, dem verworrenen Plot (= dem verwirrten Erzähler) zu folgen. „[O]b Bücher krank werden können“, fragt sich der Ich-Erzähler an früherer Stelle.93 In der Tat ließe sich die Gottesnacht als psychotisch infizierte Narration interpretieren – wären da nicht das ‚realistische‘ Framing, das den vermeintlichen Wahnsinn als Reaktion auf eine persönliche Krisensituation (Selbstmord einer nahe stehenden Person) ausweist, und die den Aufwachphasen angehängten lyrischen ‚Zwischenspiele‘, die vornehmlich eine generalisierende Funktion haben. „Kein Spiegel wird uns je klar machen, welche Augen in unserm Schlaf erwachen“, heißt es in der ersten Gedichtpassage.94 Oder, an anderer Stelle, unter impliziter Ansprache des Lesers: „kennst du dieses Grauen?“.95 Die hier geleistete und durch die lyrische Form exponierte Verallgemeinerung der Traumerfahrung lässt sich wiederum als Lektüreanweisung deuten, die sich unter dem Stichwort ‚Verklärung‘ als Erbe des Poetischen Realismus zu erkennen gibt. Wenn Adalbert Stifter den verklärenden Idealismus als „eben jenes Göttliche“96 würdigt, das die Kunst von der Naturwissenschaft abhebt, so wird die poetologische Implikation verständlich, die bereits der Titel Gottesnacht enthält. Die vergebliche Suche nach einem poetischen Gesetz, das auch nach Romantik und Realismus noch intakt ist, gipfelt in einer zynischen Manier, die einige der Dehmel’schen

93 94 95

96

Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Hervorh. d. Verf. Ebd., S. 161. Unentscheidbar bleiben freilich die Fragen nach dem Urheber und dem Adressaten der kryptischen Zeilen. Spricht hier der Erzähler selbst oder eine ihm neben- bzw. übergeordnete Kommentar-Instanz? Gegen erstere Möglichkeit spricht, dass der überlegene, distanzierte Duktus in einem Spannungsverhältnis zum oben explizierten Erzählstil steht und die Erzählerfigur die erhabene Rede erzähllogisch inmitten einer Einschlafphase hervorbringen müsste. Folglich sind die teils explanativen, teils appellativen lyrischen Parenthesen höchstwahrscheinlich einer Erzählstimme aus dem ‚Off‘ zuzuschreiben, die, so lässt sich explizieren, weder einer göttlichen Sphäre angehört („uns Menschen“ (ebd., S. 155)), noch allwissend ist („ahn’ ich“ (ebd.); „ich glaube, er würde“ (ebd., S. 179)). Adalbert Stifter, „Die Kunst und das Göttliche“, in: Sämtliche Werke, Bd. 14: Vermischte Schriften, Adalbert Horcicka (Hrsg.), Prag 1901, S. 229.

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Melanie Horn

Texte durchzieht97 und dem Verklärungsbegehren eine radikale Absage erteilt: Wenn über unsern tiefsten Verzweiflungen/[…] stets eines Gottes herzliche Teilnahme schwebte –:/ ich glaube, er würde vor Lachen sterben …98

Die disparaten, rätselhaften Einschübe zwischen den Träumen halten die funktionale Systemstelle der poetischen Verklärung nur mehr als formale Leerstelle offen – die vermeintlich auktoriale Instanz deutet an, fragt, vermutet oder beschwört, formuliert jedoch kein allgemeines Ordnungsgesetz. Zum Vergleich sei die Schlusspassage von Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde zitiert: Von Glück und Unglück reden die Menschen, das der Himmel ihnen bringe! Was die Menschen Glück und Unglück nennen, ist nur der rohe Stoff dazu; am Menschen liegt’s, wozu er ihn formt. Nicht der Himmel bringt das Glück; der Mensch bereitet sich sein Glück und spannt seinen Himmel selber in der eigenen Brust. […] Kehre dich nicht tadelnd von der Welt, wie sie ist; suche ihr gerecht zu werden, dann wirst du dir gerecht. Und in diesem Sinne sei dein Wandel: Zwischen Himmel und Erde!99

Wenn im finalen Dialog der Gottesnacht von den zahlreichen „goldne[n] Wunderwelten“ die Rede ist, die „in uns glühn“,100 so ist hier sicher kein Ludwig’scher Himmel gemeint, den der freie Mensch im Sinne einer Selbstermächtigung in seiner Brust spannt. Intratextuell nimmt die Passage Rekurs auf das erste lyrische Zwischenspiel, in dem der Erzähler die Unergründlichkeit der „Geister hinter jedem Geist“101 konstatiert. „Wer bist du?“,102 fragt die Erzählinstanz ihren, wohl göttlichen, Dialogpartner. Im größtmöglichen Kontrast zur (v)erklärenden Emphase bei Otto Ludwig antwortet das Gegenüber: Lebst wohl im Lichtstrahl still?/ Wohl auch im Staubgewühl!/ Bürst mein Hütlein,/ klopf dein Kittlein,/ so kannst du merken, wer ich bin,/ wieviel goldne Wunderwelten in uns glühn! –103

In gewisser Weise hält der Text den Leser zum Narren: Nicht eine lebenspraktische Direktive („suche [der Welt] gerecht zu werden“104) oder ein sta97 98 99

100 101 102 103 104

Vgl. Der lachende Erbe und Der Werwolf. Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 179. Otto Ludwig, „Zwischen Himmel und Erde“, in: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 1, Wilhelm Greiner (Hrsg.), Leipzig 1956, S. 387–629, hier S. 629. Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 188. Ebd., S. 155. Ebd., S. 188. Ebd. Ludwig, Zwischen Himmel und Erde, S. 629.

Richard Dehmels Prosatexte als Wegbereiter der Frühen Moderne

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biler Metacode (‚Arbeit‘, ‚Liebe‘ usw.), sondern ein Rätsel- oder Zauberspruch („Bürst mein Hütlein […]“) beschließt die Erzählung, in der kurz zuvor noch von einer, wohlgemerkt durch Sperrung hervorgehobenen, zappelnden „Weltseelensohle“105 die Rede war. Durch die Verschmelzung antithetischer metaphorischer Vorstellungsbereiche (Gott = Staub, äußerlich, grau, bewegt; aber auch Gott = Licht, innerlich, golden, still) verweigert der Text darüber hinaus bewusst jegliches Angebot einer außer-ästhetischen Sinnzuschreibung und mündet erkenntnistheoretisch in ein skeptizistisches, wenn nicht gar nihilistisches Programm, das quer zum poetisch-realistischen Verklärungsideal steht:106 Ich wusste nicht, sollte ich wie ein Kind ein dankbares Morgengebet verrichten, oder Gott, Welt und Leben zum Teufel wünschen. Ich weiß es noch heute nicht […]107

Festzuhalten bleibt: In der Gottesnacht tritt die literarische Textur bereits deutlich über die realistischen Ufer. Nicht nur ist der weitgehend stabile ‚realistische‘ Rahmen um die Traumerzählung ständig vom Einbruch des Metaphysischen, Chaotischen und Phantastischen bedroht, sondern traditionelle Regeln ‚realistischen‘ Erzählens (Plotlastigkeit, starkes realistisches Framing, Existenz einer souveränen Erzählinstanz, Vorhandensein einer kausallogischen Zeichenabfolge, Verklärungspostulat) werden auch zu Gunsten originärer Erzählformen außer Kraft gesetzt bzw. überschrieben. Der narrative Gesamtentwurf fokussiert mit seinen experimentellen Verfahren – wie dem oben nachgewiesenen ‚Wuchern‘ und ‚Kreisen‘ der Semiose – und der Negierung eines beständigen Metacodes vor allem auf seine formalen und singulären Konstruktionsprinzipien und präsentiert sich somit nahezu paradigmatisch als Routine. Damit erschreibt sich Dehmel eine Textur, die als literarische Antwort auf die poetologische Suche nach der anderen Ausdrucksweise in der Erzählung Das Gesicht fungiert. Der Text als originäre Replik auf ein Darstellungsproblem – diese Denkfigur unterscheidet Dehmels Grenztexte deutlich von ihren poetisch-realistischen Vorgängern, die, um hier noch eine letzte These zu wagen, bereits in den Drei Schwestern als 105 106

107

Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 187. Wenn Dehmel in der literaturwissenschaftlichen Forschung zuweilen dennoch als großer Verklärungs-Apologet ausgestellt wird, dann ist hier eine ästhetizistisch gewendete Form der literarischen Verklärung gemeint, die als „Verschönerung und Verunklarung der Realität“ (Beßlich, „‚Corrector Germaniae‘“, S. 156) nicht auf ein ordnendes Prinzip hinter den Erscheinungen der Natur verweist, sondern „Kunst als Lebens- und Sinnsubstitut“ (ebd.) feiert. Dehmel, „Die Gottesnacht“, S. 188.

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Melanie Horn

große Märchenerzählungen enttarnt werden.108 Dem starren formellen wie inhaltlichen Schematismus der realistischen Rahmennovelle mit ihren aus ethischer Integrität und Prinzipientreue entsagenden Figuren setzt Dehmel Schwellentexte zur literarischen Moderne entgegen, die das an sein vorläufiges Ende gelangte Paradigma auf verschiedenen Ebenen überschreiben.

108

Die augenfällige Häufung märchentypischer Elemente, wie z. B. die in der Märchenzahl ‚Drei‘ auftretenden hexenartigen Schwestern oder die Charakterisierung der Protagonistin als eines Mädchens, deren „Tun und Gang und Wesen war, wie man es in den alten Märchen liest“ (Dehmel, „Die drei Schwestern“, S. 11) lassen sich als Indizien heranziehen.

Epilog

Ist literarischer Realismus entpolitisierbar?

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Christa Karpenstein-Eßbach (Mannheim)

Ist literarischer Realismus entpolitisierbar? Historische Stationen einer Idee

In der Zeitschrift kultuRRevolution findet sich im ersten Heft des Jahres 2008 als Schwerpunktthema „Rückkehr der Realismen“. Sein Titelbild provoziert eine Reihe bemerkenswerter Resonanzen. Auf nahezu monochromem rotem Hintergrund ist die Puppe Ken abgebildet: blond und blauäugig, im Stechschritt von links nach rechts marschierend, das linke Bein rechtwinklig zum rechten erhoben, der Körper in strammer Haltung von der Seite sichtbar, während der Kopf dem Betrachter frontal zugewandt ist. Bekleidet ist Ken mit einer schwarzen Hose, schwarzen Reitstiefeln, einem leicht schimmernden, im Stoff fließenden weißen Hemd und einer Weste, deren vordere Hälfte in einem intensiven Gelb leuchtet. Gesetzt als Fraktur in einem unteren Halbkreis, der vom rechten Stiefel unterbrechend gegliedert wird, ist in Kleinschreibung der Text zu lesen: „neues wissen – neuer realismus“, versehen mit einem Fragezeichen, das sich, auf den Kopf gestellt, über der Stiefelspitze des linken erhobenen Beines findet. Während der rote Hintergrund auf die politische Konnotation mit der Linken verweist, verbinden sich die Farbkombination von Schwarz-Rot-Gelb (Gold) und die deutsche Fraktur mit Assoziationen an die nationale politische Rechte, und der militärische Habitus evoziert eine Logik der Konfrontation. Diese blonde, blauäugige Gestalt mit makellosem Gebiss ist zugleich eine amerikanische Spielpuppe für Kinder, die – im Verein mit Barbie – die Träume vom schönen Leben ebenso transportiert, wie sie Nachstellungen eines wie immer denkbaren „real life“ ermöglicht. Ken ist ein den Kinderschuhen anderer Puppen entwachsenes, massenkulturelles Artefakt mit Wirklichkeitsreferenz aufs Leben, transnational einsatzfähig und eher frei von politischer Lagerzugehörigkeit. In der Gesamtkomposition des Bildes wird deutlich, dass es sich angesichts des Realismus jedoch um eine gerade auch politische Frage, durchaus mit Bezügen auf einen deutschen Hintergrund handelt. Wenn eine „Rückkehr der Realismen“ oder ein „neuer Realismus“ zu diagnostizieren ist, so soll es in diesem Beitrag darum gehen, an die Tiefenstrukturen der Politisierung von „Realismus“ in historisch relevanten Situationen und Konstellationen zu erinnern, um Konturen des gegenwärtigen Interesses freizulegen.

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Dabei bereitet der Begriff Realismus bekanntlich von vornherein einige Probleme. Zum einen benutzt als Epochenname der Literaturgeschichte, bezeichnet Realismus zugleich einen Stil, eine Schreibweise oder poetische Praxis, die transepochal zur Verfügung steht. Des Weiteren ruft der Terminus Vorstellungen von Verhältnissen zur Wirklichkeit auf, die dieser auf besondere Weise nahe kommen, ein ausgeprägtes Wissen von ihr oder eine besondere Wahrheit über sie zum Ausdruck bringen. Schließlich lässt sich in methodischer bzw. ästhetiktheoretischer Hinsicht jeder Typus von Literatur, sei sie nun realistisch im Sinne des Stils oder nicht, auf den in ihr sedimentierten außerliterarischen, historischen Wirklichkeits- oder Erfahrungsgehalt hin befragen. Dieses Quartett der Begriffsprobleme lässt sich systematisch gut trennen, doch in den Strategien der Politisierung von Realismus tritt es als eine Melange mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen auf. Die weit über die sogenannte Epoche des Realismus hinausreichende Politisierbarkeit seines Begriffs haftet am besonderen Anspruch, den der Realismus, anders als andere Kunstprogrammatiken, transepochal mit sich führt: nämlich Wirklichkeitsnähe und Wesentlichkeit miteinander zu verbinden. Die Bedingungen solcher Verbindungen fallen historisch – nicht zuletzt durch medial vermittelte Verschiebungen in den Verhältnissen zu Wirklichkeit – unterschiedlich aus. Entscheidend ist aber, dass der Realismusanspruch Werturteile darüber herausfordert, was denn als das Wesentliche in Hinsicht auf gegebene Wirklichkeiten ausgezeichnet werden soll. Eben dies ist eine Frage, die angesichts von Irritationen oder Umbruchserfahrungen in der jeweiligen Gegenwart nicht nur besonders virulent wird, sondern das Politisierungspotential im Realismusbegriff im Kern ausmacht. Realismus-Diskussionen sind in politische Wertsetzungen eingebunden, und Karl Eibl hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass über allen literaturwissenschaftlichen Bemühungen um die Klärung dieses Begriffs seine politische Funktion in den Blick zu nehmen sei.1 Wegen seiner Bindung an das Wesentlichkeitsargument hat Realismus die Tendenz zum schlagenden Argument, das kultur- und literaturpolitisch zum Einsatz gebracht werden kann. Dass „der Realismus fortlebte“2 und fortlebt, verdeutlicht das Titelbild der kultuRRevolution mit 1

2

Karl Eibl, „Das Realismus-Argument. Zur literaturpolitischen Funktion eines fragwürdigen Begriffs“, in: Poetica, 15/1983, H. 3/4, S. 314–328. Bernd W. Seiler, „Das Wahrscheinliche und das Wesentliche. Vom Sinn des Realismus-Begriffs und der Geschichte seiner Verundeutlichung“, in: Christian Wagenknecht (Hrsg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Würzburg 1986, Stuttgart 1988, S. 374.

Ist literarischer Realismus entpolitisierbar?

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seinem marschierenden Ken. Um eine Archäologie der „Wiederkehr des Realismus“ in unserer Gegenwart zu betreiben, sollen drei Stationen seiner Politisierung im historischen Rückgang skizziert werden: nach 1989, nach 1945 und nach 1918 – also Lagen besonderer Umbruchs- und Krisenerfahrungen, um schließlich auf die Gegenwart zurückzukommen.

I.

Verwischte Spuren. Realismus nach 1989

Im Oktober 1992 notiert Matthias Altenburg in seinem Artikel „Kampf den Flaneuren“ so provokativ wie programmatisch und zugleich vorsichtshalber die Klammer verwendend: „ein Realismus (da haben wir das Wort)“.3 Ein Jahr zuvor wird „die kritische Überprüfung und Korrektur […] der Rolle der Literatur, der Schriftsteller und Intellektuellen in einem Prozeß zunehmender Selbstillusionierung“ gefordert – ein Prozess, der „als Ausdruck wachsenden Wirklichkeitsverlustes“ zu verstehen sei, und der Realismus wird zum geradezu existentiellen Antidot gegen den „lange Zeit nicht wirklich ausgetragenen Widerspruch zwischen den eigenen, subjektiven Wirklichkeitsansprüchen und der Realität der wirklichen Verhältnisse“ erklärt.4 Im Juli 1991 hatte Maxim Biller ein „Grundsatzprogramm“ formuliert und begründet, „warum die neue deutsche Literatur nichts so nötig hat wie den Realismus“.5 Man sieht, der Begriff Realismus ist von seiner Konnotation mit ‚sozialistisch‘ frei geworden. „Der Zusammenbruch des Sozialismus hat die letzten Autoren alten Schlages […] aus dem Paradies der Freund/Feindverhältnisse vertrieben. […] Die Räuber-und-Gendarm-Jahre sind vorbei“.6 Während der investigative journalistische Realismus z. B. eines Günter Wallraff ehedem unter den Auspizien einer Rechts-links-Ordnung wahrgenommen wurde, hat die Debatte um den neuen Realismus nach dem Ende des Ost-West-Schismas ihre politische Einkleidung abgelegt und erscheint allenfalls als eine Frage des Stils, mit dem Literatur der Wirklichkeit habhaft wer3

4

5

6

Matthias Altenburg, „Kampf den Flaneuren. Über Deutschlands junge, lahme Dichtung“, in: Der Spiegel, 12. 10. 1992, sowie in: Franz Josef Görtz/Volker Hage/ Uwe Wittstock (Hrsg.): Deutsche Literatur 1992. Ein Jahresüberblick, Stuttgart 1993, S. 290–295, hier S. 293. Frank Hörnigk, „Verlust von Illusionen – Gewinn an Realismus“, in: German Studies Review, 14/2001, S. 313–324, hier S. 315. Maxim Biller, „Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel“, in: Die Weltwoche, 2. 5. 1991, sowie in: Görtz/Hage/Wittstock (Hrsg.), Deutsche Literatur 1992, S. 281–289. Bodo Kirchhoff, „Das Schreiben: ein Sturz. In der Wüste des Banalen – zur Lage des Schriftstellers in glücklicher Zeit“, in: Die Zeit, 6. 11. 1992, sowie in: Görtz/ Hage/Wittstock (Hrsg.), Deutsche Literatur 1992, S. 299.

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Christa Karpenstein-Eßbach

den soll. Aber es handelt sich um eine komplexere Lage, in der einige Linien zurückführen in ältere Debatten um den Realismus, andere nicht. Unüberhörbar ist der Überdruss angesichts einer postmodernen Haltung, die sich auf einem „strukturalistischen Hermetikolymp“ eingerichtet habe7 und Dichter hervorbringt, die flanieren und mit der Sprache spielen.8 Im Gegenzug zur (post-)strukturalistischen Analyse, Kritik und Dekonstruktion von totalisierbaren Ordnungskonzepten der Platzierung von Differenzen, aber ebenso im Gegenzug zur Trivialisierung systemtheoretischer Leitdifferenzen entsteht hier ein Verlangen nach dem Realen, das nun gar nicht mehr das Lacan’sche Unmögliche ist, sondern die mögliche Wiederkehr des Wirklichen als Substanz. Während der sprachverliebte Flaneur ziellos schlendert, besitzt der neue Realist „drive“ mit Ziel. In diese Bruchlinie zwischen Sprache und Wirklichkeit wird in der Folge von 1989 eine andere eingetragen: die zwischen Literatur und Politik. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, dass mit dem Realismusanspruch ein explizit gemachter politischer einhergeht, vielmehr ist es die postmoderne Haltung, die als entpolitisiert gilt. Die „postmodernen Positionen [sind] sowohl gesellschaftsanalytisch als auch in der politischen Theorie zu schwach und einseitig“.9 Der Vorwurf, der im Vorwort des Bandes „Von Poesie und Politik“ formuliert wird, läuft auf „gelähmt[en] Fatalismus, eine fatale Gelähmtheit“ hinaus. Zwar lässt sich von realistischer Literatur kaum behaupten, dass sie per se politisch ist – sie kann ebenso gut unkritisch und unpolitisch sein – aber im diskursiven Verbund von Postmoderne-Kritik und Depolitisierungsdiagnose wächst dem Realismus, der Logik dieser Konstellation entsprechend, sein politisches Potential zu, während die Postmoderne als ein Phänomen erscheint, dessen Aufwertung des Ästhetischen einem l’art pour l’art besonders nahe steht. Dass Realismus, von seinem Prädikat ‚sozialistisch‘ abgelöst, zu einer neuen Option werden kann, ist darüber hinaus der Effekt einer neuen Diskussion um den Totalitarismus, die die alten Unterscheidungen von Rechts und Links nachhaltig tangiert und beide Totalitarismen als unheilvolles prometheisches, terroristisches und modernistisches Projekt eines neuen Menschen versteht. Zwar ist die Kritik des Totalitarismus schon seit 1968 und seit der Postmoderne-Diskussion mit ihrem selbstreflexiven Blick auf die 7 8 9

Biller, „Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel“, S. 283. Altenburg, „Kampf den Flaneuren“, S. 290. Helmut Fahrenbach, „Ist ‚politische Ästhetik‘ – im Sinne Brechts, Marcuses oder Sartres – heute noch relevant?“, in: Jürgen Wertheimer (Hrsg.), Von Poesie und Politik. Zur Geschichte einer dubiosen Beziehung, Tübingen 1994, S. 355–383, hier S. 377.

Ist literarischer Realismus entpolitisierbar?

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Moderne zu datieren, aber diese ältere Schicht scheint vergessen zu sein, und die Lage nach 1989 unterscheidet sich darin, dass die neue TotalitarismusKritik auch das Konzept der Avantgarde einbezieht. Am „Ende des utopischen Zeitalters“10 fällt der Blick zurück auf eine Moderne, deren Konzepte einer neuen Gesellschaft gründlich diskreditiert sind, weil ihre Avantgarden jeglicher Couleur mit an der Wiege des Totalitarismus gestanden haben. Damit hat sich das Urteil gerade auch über die auf Realismus und Naturalismus antwortende literarische Moderne verändert, denn sie gerät nun unter den Generalverdacht eines programmatischen Fundamentalismus, in dem sich die Spielarten der Avantgarden mit dem Totalitarismus verschwistern, die Verbindung von Kunst und Leben ebenso problematisch wird wie ein radikaler Ästhetizismus und Künstler und Diktatoren in verwandtschaftliche Nähe geraten.11 So können dann die als anti-realistisch bzw. anti-naturalistisch verstandenen Literatur- und Kunstformen zum Sündenfall der Moderne gehören, und aus der Melange aus Totalitarismuskritik, Utopieaversion und Korrektur des Avantgardeverständnisses lässt sich die Wiederkehr eines Realismus komponieren, der seine Politisierung mit Versicherungspolicen versehen kann. Die Opposition von Avantgarde und Masse, von Alt und Neu spielt hier weiterhin eine wichtige Rolle, aber die Positionen werden anders besetzt. Der neue Realismus soll sich, anders als im Fall des „defätistischen, uninspirierten Avantgardistendenk[ens]“, der „breit[en] Masse der Leser“ zuwenden und „mit seinem Publikum kommunizieren“.12 Ein „Wechsel ästhetischer Paradigmen“ hat stattgefunden, jetzt [werden] als überkommen empfundene ästhetische Konzepte abgehalftert, werden ausgediente Formalismen in den einstweiligen Ruhestand versetzt. […] Das Konzept ‚Avantgarde‘ hat sich auf der Spielwiese der Postmoderne ein vorerst letztes Mal verausgabt, doch deren Totenredner wissen nicht so recht, wie es weitergehen wird, ja, man zögert gar, zu sagen, wie es nun genau weitergehen soll.13

Zum „Konzept Avantgarde“ bleibt hier allerdings zu ergänzen, dass seine „Verausgabung“ keineswegs allein die „Postmoderne“ betrifft, sondern auch jene sozialistisch-leninistischen Literaturprogramme, die gleichermaßen ihren avantgardistischen Anspruch geltend gemacht haben. 10 11

12 13

Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991. Tzvetan Todorov, „Künstler und Diktatoren“, in: Lettre international, 85/2009, S. 67. Biller, „Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel“, S. 282f. u. S. 288. Ulrich Baron, „Abgehalftert oder Die Zeiten ändern sich mal wieder“, in: Christian Döring (Hrsg.), Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter, Frankfurt a.M. 1995, S. 120–126, hier S. 125.

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Nach 1989 geht es nicht zuletzt um die Neuaufteilung des deutsch-deutschen Literaturmarktes, nachdem Kassandra nicht mehr ruft, die Frage „Was bleibt?“ mehr als nur den Streit um ein Buch dieses Titels betrifft und die auf bundesrepublikanischer Seite schon lange gewohnte oder ertragene Konkurrenz zwischen Literatur und Medien nun angesichts der von Schriftstellern, Lesern, aber auch Zensurbehörden geteilten Wertschätzung von Literatur in totalitären Gesellschaften dazu provoziert, die Frage zu diskutieren, welche Leser von der Literatur auf dem Markt überhaupt erreicht werden.14 Zur Medienkonkurrenz kommt die Konkurrenz aus der alten DDR hinzu. Deshalb steht, weil Literatur keine Sache für enthobene Eliten sein soll, auch die massentauglichste der literarischen Gattungen, der Roman, im Zentrum der Realismusforderungen, durchaus in Resonanz zu den alten Realismuskonzepten eines Georg Lukács, für den ebenfalls der Roman Modell stand. Dies Literaturkonzept, das vor einer Massentauglichkeit der Literatur keine Angst mehr hat, wird vorwiegend von einer jüngeren Schriftstellergeneration formuliert und gegen den elitären Ästhetizismus, wie er den älteren Vertretern des Literaturbetriebes in der Bundesrepublik zugeschrieben wird, in Stellung gebracht. So wirft Maxim Biller „Heinrich Böll und sein[en] ‚Gruppe 47‘-Kameraden“ das „Versteckspiel mit der unverstellten Realität“ vor, das sich dann „als das ästhetische Vorspiel zu dem romantischen Hakenschlagen“ etwa von Handke, Strauß, Hettche oder Jelinek herausstelle.15 Darin liegt auch eine Antwort auf eine frühere literaturpolitische Verortung des Realismus, die vielleicht in der Tat erst über fünfzig Jahre später formulierbar werden konnte. Überhaupt richtet sich anlässlich des Jahres 1989 der Blick zurück auf Korrespondenzen und Resonanzen zur Situation nach 1945, und zwar auf die Literatur ebenso wie auf die Literaturwissenschaft und die Literaturprogramme in der deutsch-deutschen Konstellation, in der der Streit um den Realismus eine bevorzugte Stellung einnimmt.16 14

15

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Siehe hierzu, auch mit Blick auf die Realismus-Frage: Helmut Böttiger, „Konsumentenvergnügen. Literarisches Rendezvous auf dem Couchtisch“, in: Frankfurter Rundschau, 29. 7. 1993; auch in: Franz Josef Görtz/Volker Hage/Uwe Wittstock (Hrsg.), Deutsche Literatur 1993. Jahresüberblick, Stuttgart 1994, S. 322–325. Zum Zusammenhang zwischen Realismus-Forderung und literarischem Markt siehe auch: Eibl, „Das Realismus-Argument“. Maxim Biller, „Unschuld mit Grünspan. Wie die Lüge in die deutsche Literatur kam“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 2. 1998, S. 39. Zur Literatur: Tilo Köhler/Rainer Nitsche (Hrsg.), Stunde 1. Oder die Erfindung von Ost und West, Berlin 1995. Zur Literaturwissenschaft: Klaus R. Scherpe, „Die Renovierung eines alten Gebäudes. Westdeutsche Literaturwissenschaft 1945– 1950“, in: Walter H. Pehle/Peter Sillen (Hrsg.), Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945?, Frankfurt 1992, S. 149–163; sowie Manfred

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II. Anschlussprobleme. Realismus nach 1945 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geht es zunächst noch nicht um eine Realismusforderung, sondern um die historische Aufgabe von Schriftstellern in ihrer kulturpolitischen Funktion. Auf dem ersten, aber auch einzigen gesamtdeutschen Schriftstellerkongress von 1947 besteht nicht nur Einigkeit über die Notwendigkeit der deutschen Einheit, sondern auch darüber, dass Literatur das wesentliche Medium ihrer Herstellung, der Geburtshelfer eines neuen Deutschland ist. Den Dichtern kommt die schwere „Aufgabe der geistigen Führung“ zu,17 aber während die „Einheit des Wortes, der Sprache“ verwirklicht werden soll, scheint „irgendeine Macht […] uns aber doch daran gehindert zu haben“.18 Eggebrecht spricht am Ende dieses Kongresses „mit Nachdruck“ von den „beiden Seiten der verfluchten geheimen Front“.19 Dieses gesamtdeutsche Schriftstellertreffen mit seinem ungeheuren Anspruch fungiert als Katalysator literaturpolitischer Debatten mit einem Tableau von Konfliktzonen, die den Modus der Politisierung von Realismus konturieren. Dabei gibt es einige Themen, die Resonanzen zur Lage nach 1989 aufweisen. Zunächst ist das die Frage nach der Sprache. Zwar gilt: „Die Heimat des Dichters ist die Sprache“, aber der Nationalsozialismus hat sie dem Dichter genommen durch „das Aufgeblähtwerden der Sprache in neuen Bildungen, die allesamt einem Klappertopf und einer Kuhschelle gleichen: hohl, nichtssagend und vollkommen wertlos […]. Die Sprache verlumpte und verlodderte“.20 Hier ist es jedoch nicht die spielerische Sprachverliebtheit, sondern die missbrauchte, geschändete und entleerte Sprache einer todernsten Ideologie, die dazu herausfordert, eine neue, wahre Sprache zu finden, wobei der Prozess der „Reinigung“ der Sprache wiederum Gefahr läuft, zu einem „Ver-

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Naumann, „Literaturgeschichte oder Politästhetik? Erinnerungen an die Literaturwissenschaft nach 1945 in der Ostzone“, in: ebd., S. 164–176; und: Joachim Lehmann, Die blinde Wissenschaft. Realismus und Realität in der Literaturtheorie der DDR, Würzburg 1995. Ricarda Huch, „Begrüßung (zum ersten deutschen Schriftstellerkongreß)“, in: Alfred Kantorowicz (Hrsg.), Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit 1947–1949, H. 4/1947 [vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1947–1949, Königstein/Ts. 1979], S. 25–28, hier S. 25. Axel Eggebrecht, „Kritik und Verbindlichkeit“, in: Kantorowicz (Hrsg.), Ost und West, S. 52. Ebd., S. 55. Siehe auch: Waltraud Wende-Hohenberger, Ein neuer Anfang? Schriftsteller-Reden zwischen 1945 und 1949, Stuttgart 1990. Elisabeth Langgässer, „Schriftsteller unter der Hitler-Diktatur“, in: Alfred Kantorowicz (Hrsg.), Ost und West, S. 38.

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lust an welthafter Breite“ zu führen.21 Auf Ideologie und falsche Idylle antwortet „höchste, unerbittliche Klarheit, Redlichkeit und Moralität“,22 auf „Phrase und Schablone“ eine „reale konkrete Menschengestaltung“.23 So virulent das Thema Sprache auch hier ist – es führt aus anderen Gründen dazu, den Bezug zum Realen für die Dichtung einzufordern. Zum Rahmen der Politisierung von Realismus gehört auch hier die Frage des Stils, allgemeiner die nach den Gewichtungen im Verhältnis von Form und Inhalt, oder anders gesagt: von Struktur und Gehalt. 1947 notiert Alfred Andersch in seinem Beitrag zur Tagung der „Gruppe 47“: Diese Untersuchung […] wird nämlich erweisen, welch enger Zusammenhang zwischen der literarischen Form, dem künstlerischen Gehalt der Literatur, und ihrer Beteiligung oder auch ihrer Nicht-Beteiligung an den Phänomenen des deutschen Irrtums besteht.24

Zwischen Politik und Stil gibt es einen engen Zusammenhang, d. h., es ist eine eminent politische Frage, wie die Präferenzen zwischen Form und Inhalt verteilt werden. Formprobleme sind Wertprobleme. Die Prädominanz der Form in Sinne eines l’art pour l’art wird auch hier zurückgewiesen, man hat „gewiß nicht als Ästhet gesprochen […] nicht gepredigt, daß man in den Elfenbeinernen Turm zurückkehren soll“, während aber zugleich auch eine weltanschauliche Programmatik für Literatur problematisiert wird.25 Beides hat eine literaturgeschichtliche Tiefendimension. Zwar herrscht Einigkeit über die Verpflichtung der Schriftsteller zum Engagement für ein neues Deutschland, doch gerade an der Form-Inhalt-Frage brechen die Kontroversen darüber auf, welche literaturgeschichtlichen Traditionen hierfür mobilisiert werden sollen. In der späteren DDR wird zum einen das Erbe der Klassiker gepflegt, die als „Kämpfer für den Fortschritt“ gelten, während deren Verehrung durch das Bürgertum nur „am Äußeren, am Formellen, am Zeitgebundenen [haftete]“.26 Zum anderen geht es um den Abweis avantgardistischer Ismen. Denn 21 22 23

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Ebd., S. 39. Ebd. Johannes R. Becher, „Vom Willen zum Frieden, Berliner Schriftstellerkongreß 1947“, in: Waltraud Wende-Hohenberger (Hrsg.), Quo vadis, Deutschland? Zur literarischen und kulturpolitischen Situation der Jahre zwischen 1945 und 1949, Siegen 1991, S. 33. Alfred Andersch, „Deutsche Literatur in der Entscheidung“, in: Wende-Hohenberger (Hrsg.), Quo vadis, Deutschland?, S. 43f. Wilhelm Emmanuel Süskind, „Wandlung des Schriftstellers. Frankfurter Schriftstellerkongreß 1948“, in: Wende-Hohenberger (Hrsg.), Quo vadis, Deutschland?, S. 85. Wilhelm Pieck, Um die Erneuerung der deutschen Kultur, Berlin 1946, S. 10f.

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es genügt, einmal gewisse Gemäldeausstellungen zu besuchen, um die bedauerliche Feststellung treffen zu müssen, daß mitunter Ismen gewählt werden, die schon nach dem ersten Weltkrieg versucht worden sind und heute offensichtlich nichts Besseres hervorzubringen vermögen als damals.27

Der Streit dreht sich (auch hier) im Kern um die Frage, ob die Moderne nun nicht als Vorläufer eines Gesamttotalitarismus, sondern als Wegbereiter des Nationalsozialismus zu verstehen ist, was u. a. auch im Blick auf den Expressionismus debattiert wird.28 Die östliche Antwort lautet schon 1946: die Kunst ist „ihrem Inhalt nach sozialistisch, ihrer Form nach realistisch“, und sie wird 1951 mit dem „Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur“ und der Fixierung des sozialistischen Realismus als allein verbindlicher Methode in der DDR festgeschrieben, weil Formalismus mit Zersetzung und Zerstörung gleichzusetzen ist.29 Auf westlicher Seite hingegen heißt es: „Kunst ist Form“,30 es wird betont, dass „von der Form her eine Absicht verfolgt wird“ und „Schöpfung eine Kategorie des Ästhetischen ist“.31 Das Programm in der späteren Bundesrepublik folgt vor allem den Prädikaten: modern, absolut, abstrakt, wie es u. a. im ersten Aufsatz des ersten Bandes der nach 1945 wieder erscheinenden Deutschen Vierteljahrs-

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Anton Ackermann, „Unsere kulturpolitische Sendung“, in: Ders./Wilhelm Pieck, Unsere kulturpolitische Sendung. Reden auf der ersten Zentralen Kulturtagung der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 3. bis 5. Februar 1946, Berlin 1946, S. 25–47, hier S. 45. Neben der Literatur war es insbesondere das Gebiet der Malerei, auf dem die Avantgarde propagiert oder angefeindet wurde (siehe Enrico Crispolti, Europäische Avantgarde nach 1945, München 1974). Die erste documenta hatte hier programmatischen Charakter, während anlässlich der documenta V von einem „neuen Realismus in der Kunst“ gesprochen wird (siehe Peter Sager, Neue Formen des Realismus. Kunst zwischen Illusion und Wirklichkeit, Köln 1974). Siehe Kurt Kusenberg, „Barbarischer Expressionismus?“, in: Merkur, 1/1947, S. 460–463. Vgl. Ackermann, „Unsere kulturpolitische Sendung“, S. 45; sowie: „Der Kampf gegen den Formalismus in Literatur und Kunst für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Entschließung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf der Tagung am 15., 16. und 17. März 1951“, in: Fritz J. Raddatz (Hrsg.), Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden, Bd. III, Reinbek 1969, S. 96–109. Der Begriff „sozialistischer Realismus“ wird Maxim Gorki zugeschrieben, und zwar seiner Rede auf dem I. Unionskongress der Sowjetschriftsteller 1934 (siehe Raddatz (Hrsg.), Marxismus und Literatur, Bd. I, S. 335–346). Siehe auch die Anmerkung zur Rede Gorkis in Bd. III, S. 363, wonach Gorki 1933 einen Aufsatz mit dem Titel „Über sozialistischen Realismus“ geschrieben hat. Kusenberg, „Barbarischer Expressionismus?“, S. 462. Max Bense, „Über den Essay und seine Prosa“, in: Merkur, 1/1947, S. 414–424, hier S. 415.

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schrift reaktiviert wird.32 Die Betonung der Form wie das Bestreben, an die Spielarten der Avantgarden nach ihrer Verfemung durch den Nationalsozialismus wieder anzuknüpfen, gehören dann seit den fünfziger Jahren mit in das Schaufenster des Westens und zur Politisierung einer Traditionsbildung, in der sich z. B. Stifter und Mallarmé als gegenpolige Bezugsgrößen finden.33 Für die Reaktivierung des Realismus nach 1945 ist eine grundsätzliche Orientierung von Denkhaltungen relevant, die, soweit ich sehe, nach 1989 keine Rolle spielt. In die Forderung nach Wesentlichkeit und Wahrheit wird der Gegensatz von Idealismus und Materialismus eingetragen. Zur materialistischen Überzeugung, wonach es keinen Ursprung der Idee aus sich selbst, sondern nur aus den Erfahrungs- und Lebensumständen von Menschen in konkreten historischen Situationen gibt, gehört die Option für den Realismus, für den, so Johannes R. Becher, Gottfried Keller zitierend, alle Dinge des Lebens Politik sind, „von dem Leder an unseren Schuhsohlen bis zum obersten Ziegel am Dach, und der Rauch, der aus den Schornsteinen steigt, ist Politik und hängt in verfänglichen Wolken über Hütten und Palästen“.34 Am Gegenpol begegnet der Einwand, der sich mit Giorgio Agamben als Reduktion auf das nackte Leben formulieren lässt. Im Merkur von 1948 findet sich dafür der Begriff des „Tierromans“, womit gemeint ist, dass mit der Ausrichtung der Literatur auf die elementaren Seiten des Lebens und seine Realistik die Orientierung an einer bloß „animalen Ordnung“ einhergeht. Der Beitrag über „Die Schriftsteller heut“ erinnert daran, dass es diese Lösung schon einmal gab: nach dem Ersten Weltkrieg, als die „ins Chaotische sich auflösende Welt […] als letzte ‚Einheit‘ ihre Vordergründigkeit, ihre Oberfläche, die Faktizität [behielt]“.35 Doch schon in den zwanziger Jahren wurde die Literatur „aus ihrer Wiederentdeckung der Realität und des Realismus sehr rasch selbst von dieser Seite her zu ihrer eigentlichen Not geführt, der Frage nach der geistigen Ordnung.“36 Am 32

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Werner Günther, „Über abstrakte Poesie“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 23/1949, S. 1–32. Siehe auch: Georg Scheja, „Zur Erkenntnis und Wertung der modernen Kunst“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 25/1951, S. 250–265. Einen die „antipathy towards realism“ und die noch 1985 vorhandene „general opposition to realist writing“ beklagenden Überblick gibt Keith Bullivant, Realism Today. Aspects of the Contemporary West German Novel, Leamington Spa/Hamburg/ New York 1987 (Zitate S. 209 u. S. 241). Johannes R. Becher, „Unsere Ziele – unser Weg“, in: Der erste Bundeskongreß. Protokoll der ersten Bundeskonferenz des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands am 20. und 21. Mai 1947 in Berlin, Berlin 1947, S. 27. Rudolf Schneider-Schelde, „Die Schriftsteller heut“, in: Merkur, 2/1948, S. 442– 446, hier S. 443. Ebd., S. 444.

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Grunde der Konfrontation von Materialismus und Idealismus liegen verschiedene Leidfiguren und Erlösungshoffnungen: Während der eine die Reduktion auf tierische Animalität fürchtet, um auf den Geist zu setzen, fürchtet der andere die Selbstverkennung des Geistes im enthobenen Denken, um dem Konkretum des Lebens zu seinem Recht zu verhelfen. Generell gilt, dass der Rekurs auf lebendige Erfahrung einen Vorteil gegenüber all den toten Schriftstellerkollegen verschafft, die von diesen Erfahrungen noch nicht schreiben konnten. In dieser Polarität hat der Realismus das Votum des Lebens für sich. Aus dem großen Auftritt, mit dem die Führungsrolle der Schriftsteller bei der Neugründung deutscher Literatur und Kultur als gemeinsame Aufgabe formuliert wurde, entsteht mit beachtlicher Geschwindigkeit innerhalb sehr weniger Jahre ein Feld von Gegnerschaften, in dem der Realismus sein besonderes deutsches politisches Gewicht erhält.37

III. Scheidewege. Realismus nach dem Ersten Weltkrieg Um die Debatten über Realismus in der Folge des Ersten Weltkrieges zu verstehen, reicht der Blick auf Deutschland nicht aus. Hier gibt es unmittelbar nach dem Ende des zwischenstaatlichen Krieges noch keine Realismusforderung, sie wird vielmehr im Zuge der über das eigentliche Kriegsende fortdauernden innerstaatlichen revolutionären Kämpfe des europäischen Bürgerkrieges in Deutschland allmählich politisch aufgeladen. Es handelt sich um ein Phänomen, an dem eine internationale Intelligenz beteiligt ist, die den Realismus schließlich in national-revolutionären Frontstellungen zum Einsatz bringt. Zwei Themenkomplexe sind hierfür besonders relevant: zum einen das virulente Verhältnis zur Avantgarde und die Bedeutung der bürgerlichen Kultur, zum anderen der Modus der literarischen Referenz auf Wirklichkeit und deren angemessene Erkenntnis. Hinzu kommt die sogenannte Parteilichkeit der Literatur. Lenin notiert 1923, was „sich viele unserer jungen Literaten und Kommunisten ordentlich hinter die Ohren schreiben“ sollten. Es gilt, sich gegenüber denen zu wappnen, die sich allzu viel und allzu leicht zum Beispiel in Reden über ‚proletarische‘ Kultur ergehen: für den Anfang sollte uns eine wirk37

Über die Realismus-Diskussion der fünfziger Jahre informiert Fritz Martini, „Deutsche Literatur in der Zeit des ‚bürgerlichen Realismus‘. Ein Literaturbericht“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 34/1960, S. 581–666, über die der sechziger und siebziger Jahre vgl. Ulf Eisele, „Realismus-Problematik: Überlegungen zur Forschungssituation“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 51/1977, S. 148–174.

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liche bürgerliche Kultur genügen […] In den Fragen der Kultur gibt es nichts Schädlicheres als Hast und Fixigkeit.38

Adressiert ist die Warnung an den „Proletkult“, eine in Sowjetrussland von 1917 bis 1925 von Intellektuellen und Künstlern getragene kulturrevolutionäre Bewegung, die nicht an die bürgerliche Kultur und Kunst anschließen, sondern aus eigener Kraft die Elemente einer neuen sozialistischen erproben und entwickeln will. Die an die Mitgliederzahlen der Kommunistischen Partei heranreichende Organisation des „Proletkult“ trifft auf die zunehmende Feindschaft der Bolschewiki, die um den eigenen kulturellen Führungsanspruch fürchten.39 1922 schreibt Jakov Jakovlev, nachdem er sich zuvor bei Lenin, Stalin und Bucharin über die richtige Parteilinie belehren ließ, über den „Proletkult“, der eine falsche proletarische Kultur propagiere und, anders als die richtige, zudem einem l’art pour l’art nahe stehe: Was wir aber sehen, sind Blüten der dekadenten Kunst, Nachahmung des Futurismus ohne seine Meisterschaft, Zeitungschronik statt Tragödie, Possenreißereien des nach neuen Verfahren suchenden Schauspielers statt der Einführung der Masse in die Bühnenhandlung.40

Während der Proletkult den antibürgerlichen Spielarten der Avantgarde, die auf eine Zerstörung der überkommenen Kunst und Literatur hinauslaufen, assoziiert wird, geht es am Gegenpol um die Bewahrung der bürgerlichen Kultur. Hierfür ist das Proletariat vorgesehen. Selbstverständlich ist das Proletariat nicht das Bürgertum, dagegen spricht jede Klassenanalyse. Die neue Klasse ist vielmehr eine Art Inkorporation des Bürgertums, die Transsubstantiation seiner Kultur in einem neuen Träger, nachdem der alte seine Ideale verraten hat und so degeneriert ist, wie es an seiner irre gewordenen Kunst augenfällig wird. Das Bürgertum muss also erstens heruntergekommen, zweitens einmal besser gewesen sein, um drittens so beerbt werden zu können, dass es seinen Nachfolger nicht beschämt. Anti-Bürgerlichkeit als Zerfallsform des Bürgertums zersetzt das Proletariat und dessen Erbschaft. Dies ist die weltrevolutionäre Szene, in der die Realismusforderung geboren werden wird, aber vorerst noch nicht unter dem Namen des „Realismus“. 38

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Wladimir Iljitsch Lenin, „Lieber weniger, aber besser“, in: Ders., Über Kultur und Kunst. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin 1960, S. 457. Siehe Richard Lorenz (Hrsg.), Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrussland (1917–1921). Dokumente des ‚Proletkult‘, München 1969. Jakov Jakovlev, „Über die ‚proletarische Kultur‘ und den Proletkult“, in: Peter Gorsen/Eberhard Knödler-Bunte (Hrsg.): Proletkult 1. System einer proletarischen Kultur. Dokumentation, Stuttgart/Bad Cannstatt 1974, S. 207–227, hier S. 224. Neben den beiden von Gorsen und Knödler-Bunte hrsg. Bänden zum Proletkult siehe auch: Boris Arvatov, Kunst und Produktion, München 1972.

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Im ersten Heft der Linkskurve, der Zeitschrift des 1929 gegründeten Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, wird angesichts der aufkommenden Konjunktur der Kriegsliteratur festgestellt: „Der nötige Abstand ist gewonnen, an die Stelle des ekstatischen Geschreis ist die Gestaltung des Tatsächlichen getreten.“41 Eingefordert und begrüßt wird die Zentralstellung des Wirklichen. Im zweiten Heft desselben Jahres wird das Theater Piscators mit Nachdruck verurteilt, und zwar insbesondere „dieser Zwiespalt von Form und Inhalt, diese Verselbständigung der an sich leeren, vom dürftigen Inhalt unabhängig gewordenen Form, dieses Überwuchern des Inszenierens, das je mehr betont desto nichtssagender wird“ – Sätze im Übrigen, denen man ja auch heute immer noch begegnen kann. Piscator, so die damalige Diagnose, folge hier einer „Entwicklungslinie, die in der bürgerlichen Kunst nicht nur möglich, nicht nur zwangsläufig, sondern vielleicht auch gewollt ist“.42 Das „Aktionsprogramm“ des Bundes proletarischrevolutionärer Schriftsteller hingegen betont „gegenüber dem bürgerlichen Kunstbetrieb den Vorrang des Inhalts vor der Form“ und lehnt „alle Literaturrichtungen ab, die sich höchst ‚revolutionär‘ dünken, weil sie die bestehenden Formen umstürzen oder auf den Kopf stellen.“43 Diese Argumentation führt zu gewissen Schwierigkeiten, Frontlinien klar zu ziehen, weil sich im Begriff der bürgerlichen Literatur eine Spaltung eingenistet hat – wie im Übrigen auch in dem der proletarischen Kultur, die ja dem „Proletkult“ gegenübergestellt wird. Es gibt eine Kunst und Literatur, die geradezu historisch „zwangsläufig“ bürgerlich ist, dies aber in einem falschen Sinne, und eine andere, die im Sinne Lenins eine „wirkliche bürgerliche“ ist, weil sie nicht im falschen, sondern im richtigen Sinne „revolutionär“ ist. Aus den möglichen Kombinationen von „bürgerlich“ und „proletarisch“ müssen zwei ausgeschlossen werden: die bürgerlich-bürgerliche Literatur, und die proletarisch-proletarische Literatur, während die Kombination der proletarisch-bürgerlichen Literatur ihr zukunftsträchtiges Potential besitzt, weil hier die Formfrage, die eine der Parteilichkeit ist, ihre angemessene Lösung findet. Die Umkehrung: bürgerlich-proletarische Literatur ist eine Sache des 41

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Herbert Herenius, „Der Krieg“, in: Die Linkskurve, 1/1929, Nr. 1 [Nachdruck Frankfurt 1971], S. 31. Zweifellos trägt die Kriegsliteratur dieser Zeit mit ihrer Konjunktur noch einmal besonders zur Realismus-Diskussion bei; Ludwig Renn wird hier zum Maßstab in der Linkskurve. N., „Lenin und die Literatur der Arbeiterklasse“, in: Die Linkskurve, 1/1929, Nr. 2, S. 5. Ebd. Der vollständige „Entwurf zu einem Programm des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ findet sich in: Raddatz (Hrsg.), Marxismus und Literatur, Bd. II, S. 235–245.

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Revisionismus und eine Problematik der Klassenlage einer kleinbürgerlichen Intelligenz. Diese diskursive Lage, in der politische Frontstellungen ausgeschrieben werden, provoziert die Bereinigung der Literaturgeschichte, die mit Georg Lukács’ Aufsatz „‚Größe und Verfall‘ des Expressionismus“ von 1934 einsetzt. Das Wort ‚Realismus‘ fällt hier nur an einer Stelle, an der die „radikale Ablehnung eines jeden Realismus“ kritisiert wird, während der „‚Realismus‘ der ‚neuen Sachlichkeit‘ […] offenkundig apologetisch [ist] und […] so deutlich von der dichterischen Reproduktion der Wirklichkeit weg[führt], daß er ins faschistische Erbe einzugehen vermag“.44 Der Expressionismus wird zum Kulminationspunkt, von dem aus die verschiedenen Verfallserscheinungen der bürgerlichen Kunst und Literatur in ihrer imperialistischen Epoche (Impressionismus, Symbolismus, Naturalismus, Aktivismus, Simultaneismus) ausgemustert werden, um ihnen die „Lösungsversuche der revolutionären Periode der bürgerlichen Klasse“ gegenüberzustellen.45 1938 geht aus dieser Deutung der Literaturgeschichte, an deren Wiege die leninistisch-stalinistische Verfolgung des „Proletkult“ steht, das literaturpolitische Programm des Realismus hervor: Die „wirkliche Avantgarde der Literatur [können] nur die bedeutenden Realisten bilden“.46 Die „sogenannte Avantgarde vom Naturalismus bis zum Surrealismus“47 hat ihre Vorreiterrolle an die realistischen Romanciers abgegeben, wie sie als Traditionsbestand des 19. Jahrhunderts in der Zukunft des 20. und für sie zu beerben sind. Diese kulturpolitische Realismusforderung wird – weit über Stilfragen und die Umbesetzung in der avantgardistischen Behandlung der Form-Inhalt-Frage hinaus – von Lukács mit einer weitreichenden Erkenntnispotenz verbunden und aufgeladen. Den Realismus zeichnet eine Beziehung auf Wirklichkeit aus, in der die „Einheit von Wesen und Erscheinung“ im dargestellten Lebensausschnitt zutage tritt, weil die bloße Erscheinung der Oberfläche des Wirklichen mit all seinen „Zersetzungen“ hin zur Darstellung des „objektiven gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs“ durchstoßen wird.48 Der Realismus dringt sozusagen zu einer wirklicheren Wirklichkeit 44

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Georg Lukács, „‚Größe und Verfall‘ des Expressionismus“, in: Internationale Literatur, Heft 1, Moskau 1934, in: Fritz J. Raddatz (Hrsg.), Marxismus und Literatur, Bd. II, S. 7–42, hier S. 41. Ebd., S. 20. Georg Lukács, „Es geht um den Realismus“, in: Das Wort, 6/1938, in: Raddatz (Hrsg.), Marxismus und Literatur, Bd. II, S. 60–86, hier S. 77. Wirkliche Realisten sind z. B.: Thomas Mann, Balzac, Dickens, Tolstoi. Ebd., S. 61. Ebd., S. 61 u. S. 64.

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vor und garantiert deren Erkenntnis.49 Statt inszenierter Spielerei gehört zu der mit der Kraft der Erkenntnis unterfütterten und durch sie aufgewerteten Literatur nicht nur die wohlbekannte Verschränkung des Guten mit dem Schönen,50 sondern auch die mit dem Wahren. Insofern geht in dieser Politisierung des Realismus die stalinistische Bereinigung der Literatur und ihrer Geschichte mit dem Konzept einer bestimmten bürgerlichen Literatur eine innige Verbindung ein.

IV. Neue Felder für Realismus heute Gegenwärtig kann man wohl feststellen, dass die politischen Aufladungen der Realismusforderungen in ihren historischen Stationen fast vollständig in Vergessenheit geraten sind. Aber „Realismus“ ist dennoch ein Thema mit Konjunktur. Das gilt zunächst einmal für die Schriftsteller. In „der Debatte um Realismus und Erzählen hat nämlich eine neue Runde begonnen“, wird anlässlich eines veranstaltungsreichen Schriftstellertreffens in der Bretagne 2007 festgestellt, auf dem „Weltoffenheit und Welthaltigkeit der Literatur“, eine „sachliche Erzählkunst“ mit ihrer „Beziehung zur Realität der Welt“ gefordert und den „erzählfeindlichen Formalisten, die Sprachkunst um den eigenen Nabel der Literatur selbst drehen“, eine Absage erteilt wird.51 Im Juni 2005 fordern Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm unter dem Titel „Was soll der Roman?“ einen „relevanten Realismus“ ein.52 Hierzu stellt Gerhard Plumpe nach einem kurzen Abriss der langen Geschichte des Streits um den Realismus, der von Homers „Odyssee“ über Platon, Aristoteles bis hin zum Sozialistischen Realismus reicht, fest: „Die vier Autoren des Zeit-Artikels vom 23. Juni 2005 würden über diese Genealogie ihrer Postulate wahrscheinlich erstaunt sein. Man benutzt Begriffe aber nicht unschuldig, ihre Geschichte ist in ihnen kondensiert.“53 49

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Zu den ausgezeichneten Zonen besonders wirklicher Wirklichkeiten siehe: Christa Karpenstein-Eßbach, „Abschwellende Diskurse: der Arbeiter, die Frau“, in: Ästhetik und Kommunikation, 24/1995, H. 89: Die Machtlücke, S. 107–113. Bekanntlich werden die Facetten des Hässlichen als Gestaltungsmittel der Literatur vom Realismusprogramm abgelehnt. Klaus Zeyringer, „Rückkehr der Literatur auf die Wege der Welt. Etonnants voyageurs: Eine neue Runde in der Realismusdebatte“, in: Literatur und Kritik, 42/2007, H. 413/414, S. 29–35. Martin R. Dean/Thomas Hettche/Matthias Politycki/Michael Schindhelm, „Was soll der Roman?“, in: Die Zeit, 23. 6. 2005. Gerhard Plumpe, „Der Widerstand der Welt. Realismus und Literatur der Moderne“, in: Alexandra Kleihues (Hrsg.), Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentation des Alltäglichen im 20. Jahrhundert, München 2008, S. 13–23, hier S. 16.

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Der programmatische Aufsatz der Schriftsteller hebt – durchaus in der Tradition älterer Realismuskonzepte – die Kategorie des „Wesentlichen“, also die Überwindung der bloßen Zufälligkeiten oberflächlicher Wirklichkeitssegmente, hervor, um sich gleichzeitig auch gegen die „Sprachartisten“ zu wenden, formuliert seine Forderung aber ohne jede Referenz auf politische Fraktionierungen. Der Antagonismus von Rechts und Links, der dem Realismus immer wieder seine spezifische politische Kraft einspeiste, spielt keine Rolle, vielmehr wird mit dem wiederkehrend gebrauchten Begriff der „Mitte“ operiert, die wiederzugewinnen sei. So wenig wie der Bezug auf die politischen Radikalismen spielt auch der auf die Avantgarde eine Rolle. Wer sich in der Mitte bewegt, ist weder Vor- noch Nachhut, und die Referenz auf Wesentlichkeit kommt ohne geschichtsphilosophische Unterfütterung des literarischen Anspruchs aus. Insofern hat die literaturpolitische Realismusforderung ihren dramatischen Gestus verloren. Dass damit die Dimension des Politischen nicht kurzerhand eskamotiert wird, sondern in der Distanz oder im Vergessen ihrer historischen Erblasten eine andere Kontur gewinnen kann, wird noch zu zeigen sein. Literaturwissenschaftlich gesehen, haben sich die „Probleme des Realismus“ gehalten, aber sie werden anders behandelt. Nicht die Auseinandersetzung mit dem Realismus-Begriff selbst, die in früheren Diskussionen eine beachtliche Rolle gespielt hat, steht im Zentrum, sondern das Interesse, das vertraute Epochenbild neu zu befragen. Der Entdramatisierung politischer Schismen im Streit um die avantgardistisch zu besetzenden Positionen korrespondiert eine Historisierung des Realismus, die den Antagonismus gesellschaftskritischer und formalästhetischer Schreibweisen verabschiedet, um eine neue Haltung gegenüber der Epoche zu gewinnen. Es zeichnet sich darin wiederum eine Revision der Literaturgeschichtsschreibung ab, die zu den älteren Bereinigungsstrategien implizit oder explizit auf Distanz geht. Die Anzahl der neueren Einführungen, die nun nicht mehr nur die Abgrenzung der Epoche des Realismus von vorhergehenden bzw. nachfolgenden Literaturen, sondern gerade auch die Berührungen und Gemeinsamkeiten mit der ästhetischen Moderne betonen, ist immerhin beachtlich.54 Es sind 54

Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900, Tübingen 2003; Bernd Balzer, Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus, Darmstadt 2006; Hugo Aust, Realismus, Stuttgart 2006; Marianne Wünsch, Realismus 1850–1890. Zugang zu einer literarischen Epoche, Kiel 2007; Claudia Stockinger, Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus, Berlin 2010. Zur Eingliederung des Realismus in die „longue durée der Moderne seit 1800“ siehe auch: Sabine Schneider/Barbara Hunfeld (Hrsg.), Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, Würzburg 2008.

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Problemhorizonte und Erfahrungen unserer Gegenwart, die zu einer neuen theoretischen bzw. literaturwissenschaftlichen Perspektivierung der Epoche beitragen und damit gerade diese „abgegrenzte“ Epoche wiederum in eine neue Nähe des Interesses rücken. Das gilt selbst dort, wo die Epoche selbst – angesichts der ihrer Literatur bescheinigten Weltlosigkeit und „massiv[en] Blindheit gegenüber dem Sozialen“ – grosso modo verabschiedet wird, weil „der Realismus buchstäblich ‚ausklingt‘: Realistische Darstellungsversuche von Totalität überzeugen nicht mehr oder sind nicht mehr zu leisten“.55 Denn trotz dieses Ausklingens bleibt festzuhalten, dass über den Realismus einer Trivialliteratur hinaus dieser „historische Realismus“ von neuem beerbt wird und immer wieder möglich ist, wobei das Problem des Realismus: „Darstellung von Totalität im Gesellschaftsroman […] das gleiche [bleibt]“.56 Die historische Distanzierung einer möglicherweise an ihren eigenen Ansprüchen gescheiterten Epoche legt den Realismus ebenso wenig ad acta wie seine vorsichtige Eingliederung in den Moderne-Komplex. Im Zuge dieses neuen literaturgeschichtlichen Interesses wird der Realismus nun alle ihn schmückenden Beiwörter verlieren. Wie in der Folge von 1989 das Attribut „sozialistisch“ wegfiel, so nun auch sein bisheriges Pendant: „bürgerlich“. Die Klassenlage ist kein literaturpolitisches Instrument. Hugo Aust hebt hervor, dass für die Kennzeichnung des deutschen Realismus kein explizit bürgerliches Attribut notwendig ist. […] Im Interesse der europäischen Relevanz des Realismus-Begriffs und angesichts der neuerdings betonten Integrierbarkeit des deutschen Realismus in die europäische Szene erübrigen sich die attributiven Zusätze.57

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Ingo Meyer, Im ‚Banne der Wirklichkeit‘? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolischen Strategien, Würzburg 2009, S. 19 u. S. 550. Ebd., S. 551. Hugo Aust, „Probleme des Realismus – gestern und heute“, in: Der Deutschunterricht, 6/2007: Realismus, S. 2–15, hier S. 4. Den Realismus als deutsches Problem hatte James M. Ritchie 1961 noch anders gesehen: „Man möge den Argwohn des nicht-deutschen Kritikers entschuldigen, doch scheint es, als liege diese Abneigung, einen so wenig exakt definierten Begriff zu gebrauchen, nicht der ihm eigenen Vieldeutigkeit, sondern der für die deutsche Literatur des ‚Realismus‘ wesentlichen Ambivalenz zugrunde, besonders dann, wenn man findet, daß andere deutsche Kritiker ohne Zögern den Begriff auf andere Länder und Epochen anwenden.“ (James M. Ritchie, „Die Ambivalenz des ‚Realismus‘ in der deutschen Literatur 1830–1880“, in: Richard Brinkmann (Hrsg.), Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, Darmstadt 1974, S. 376–399, hier S. 378f.). 1987 erscheint dieser Band in der dritten erweiterten Auflage und dokumentiert damit das fortlaufende Interesse an der Auseinandersetzung mit der Problematik „Realismus“ als Begriff.

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Die älteren Verbindungen des Realismus sowohl mit Bürgerlichkeit wie mit einer spezifisch deutschen Problematik – sei es mit der gescheiterten bürgerlichen Revolution, sei es mit dem Verrat des Bürgertums an seinen eigenen Idealen – treten deutlich zurück.58 Der interessierte Zeitgenosse findet allerdings in einer Nische unter dem nostalgischen Titel „Vom Erbe des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts“ eine Reihe von Vorträgen, die die Interpretation einzelner Werke betreiben, um den realistischen Gehalt daraufhin zu befragen, „ob die historischen Kämpfe in seinen Werken ihren Niederschlag finden“.59 Die bekannten Interpretamente von Lukács greifen hier, ohne dass es überhaupt zu einer Auseinandersetzung mit deren Implikationen und (literatur-)politischer Geschichte kommt. Insofern kommen sie ohne ein politisches Gegenwartsbewusstsein aus. Es ist dennoch zu fragen, ob nach dieser ganzen Geschichte literarischer Realismus erneut politisierbar ist. Die „Um- und Neubesinnung“ in der „permanent[en] Umbaulandschaft“ Realismus60 kommuniziert heute mit gegenwartsdiagnostischen Problemstellungen und Fragen, die nicht nur den Realismus im engeren Sinne betreffen, sondern aus anderen Gebieten auf die Realismus-Diskussion übergreifen. In der Distanz der Historisierung der Epoche lässt sich geradezu eine neue Aktualität entfalten. Verschiedene Momente seien vorab kurz skizziert. Die zu bemerkende, wenn auch vorsichtige Loslösung von der strikten Fixierung auf den Roman (und die Novelle), verbunden mit der gestiegenen Aufmerksamkeit für Lyrik und Dramatik rückt das Interesse an den poetischen Strategien des Realismus ins Zentrum und ermöglicht es, nach Affinitäten und Resonanzen zu den als nicht- bzw. antirealistisch rubrizierten epochalen Strömungen, insbesondere der historisch nachfolgenden ästhetischen Moderne Ausschau zu halten. Insofern geht es um eine erweiterte Archäologie unserer Moderne. Die Frage der Wirklichkeitsverhältnisse wird zum einen in die Problematik von Medienkonkurrenzen übersetzt, zum anderen in eine anthropologische Frage, die die Sinnestätigkeit unter den Bedingungen ästhetisch bzw. instrumentell vermittelter Wahrnehmung betrifft. Die alte Opposition von Materialismus und Idealismus gewinnt eine neue Kontur angesichts von Diagnosen, die die „Entma58

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Bemerkenswerterweise werden „Bürgertum“ und „Bürgerlichkeit“ zur gleichen Zeit zu Reflexionskategorien in der Kultursoziologie (siehe Heinz Bude/Joachim Fischer/Bernd Kaufmann (Hrsg.), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum, München 2010). Gerhard Wagner, „Warum Realismus? Kulturelle Kontexte einer Jahrhundertfrage“, in: „Helle Panke“ e.V. (Hrsg.): Vom Erbe des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Tagung anlässlich des 200. Geburtstages von Fritz Reuter und des 100. Todestages von Wilhelm Raabe, Berlin 2010, S. 12. Aust, „Probleme des Realismus“, S. 2.

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terialisierung unseres Alltagslebens“ beklagen, um stattdessen „Wege in die Realität“ zu bahnen.61 Das Erkenntnispotential von Literatur schließlich lässt sich neu fassen im Verhältnis von Literatur, Wissen und Wissenschaft. Anders als in der Umbruchssituation von 1989, aber auch im Unterschied zu den achtziger Jahren, trägt die Medienproblematik zur Neukonturierung von Realismus bei. Medien hatten in ihrer berichterstattenden Funktion einen maßgeblichen Anteil am Ende der Ost-West-Konstellation, sie ließen sich als Katalysatoren grundlegender historischer Veränderungen begreifen und konnten in ihrem Realitätskontakt wahrgenommen werden. Zuvor in den achtziger Jahren hatte überhaupt erst eine breitere medienanalytische Reflexion mit kulturtheoretischer Orientierung eingesetzt, die das Wirklichkeitsverhältnisse formierende Potential von Medien, aber auch den materialistischen Kern medientechnischer Verfasstheiten herausstellte. Dreißig Jahre später werden diese Debatten in der Realismusdiskussion virulent, weil sie die Problematik von Erkenntnis und Bezügen auf Wirklichkeiten noch einmal verschärfen. Der Realist muss das „Simulakrum“, das ihm medienvermittelt vor Augen liegt, „aufbrechen“, denn das, was anfänglich als Abzubildendes bzw. Widerzuspiegelndes und somit objektiv Gegebenes oder als System Zugrundeliegendes in den Blick zu rücken pflegte, verflüchtigt sich unter semiotischem Zugriff zu bloßen, oft leeren Zeichen für grundsätzlich Abwesendes.62

Auf realistische Erzähltexte lässt sich dann, angesichts akuter gewordener Medienkonkurrenzen, eine semiotische Perspektive richten, die in ihnen „die Differenz von Zeichen und Realität selbst internalisiert“ sieht, weshalb die „Mimesis von Wirklichkeit […] eben diese zu ersetzen [droht], die ‚Zeichen‘ für ‚Realität‘ […] in der ‚Realität‘ der ‚Zeichen‘ auf[gehen].“63 Man könnte geradezu auf den Gedanken kommen, die Realisten des 19. Jahrhunderts hätten von jenem Verschwinden des Realen geschrieben, von dem hun-

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Hans Ulrich Gumbrecht, „Diesseits des Sinns. Über eine neue Sehnsucht nach Substantialität“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 59/2005, H. 9/10, Sonderheft: Wirklichkeit! Wege in die Realität, S. 751–761, hier S. 760. Das Sonderheft geht dieser Wiederkehr in verschiedenen Bereichen nach: Philosophie und Erkenntnistheorie, Realpolitik, Soziologie, Geschichte, Literatur und Medien. Realismus und Substantialität sind auch hier Gegengifte gegen die „Entwertung von Wirklichkeitserfahrung überhaupt, wie sie in vielen Versionen postmoderner Theorie und des Dekonstruktivismus auftritt“ (S. 749). Aust, „Probleme des Realismus“, S. 8 u. S. 12. Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998, S. 8f.

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dert Jahre später des Öfteren die Rede sein wird.64 Wenn sich dem Realisten das, worauf es ihm ankommt: die Erkenntnis lebendiger Wirklichkeit, unter der Hand entzieht, so ist dies den verstellenden Effekten von Medien geschuldet, deren Darstellungen allenfalls Simulationen vorstellen. Allerdings wird man gegenüber kurrenten atmosphärischen Rückgriffen speziell auf die Medientheorie Jean Baudrillards, die im Übrigen sehr verschiedene Typen von Simulakren kennt, einwenden müssen, dass es gerade Simulationen sind, die von einer besonderen Nähe zum Realen leben, weil sie nur funktionieren, wenn sie möglichst wirklichkeitsgetreu sind und sich nicht in der Fiktion des als solches kenntlich gemachten Als-ob bewegen.65 Nicht Wirklichkeit oder Dinge verschwinden – und niemand würde das ernsthaft behaupten –, vielmehr führen die medientechnischen Möglichkeiten der Simulation zu einer Verdopplung, einer Potenzierung des Realen, von Baudrillard deshalb treffend als Hyperrealität bezeichnet. Medien bedrohen den Realismus nicht, weil sie Wirklichkeit verstellen, sondern weil sie übersteigerte Realitätseffekte erzeugen. Deshalb findet die Realismus-Debatte der Gegenwart in der Medienkritik ein neues kulturpolitisches Profil. Die zweite Neuformulierung der Erkenntnisfrage betrifft das Wissen, das in Literatur zu finden bzw. aufbewahrt ist. Es handelt sich hier um eine vorwiegend methodologische Frage, die an die ältere nach dem Erkenntnispotential von realistischer Literatur zwar anschließt, aber nicht auf diesen Typus von Literatur beschränkt bleibt. Wenn aus wissenschaftstheoretischer Perspektive längst klar ist, dass die empirische Welt nicht vollständig beschrieben werden kann, wachsen der Literatur besondere Kräfte zu: „‚hardcore-science‘ zu sein“.66 Ob esoterische Werke oder spät-engagierte Literatur: […] [sie] eröffnet systematisch abweichende Beobachtungen vertrauter und eingespielter Sachverhalte. Es ist […] die Funktion von sog. schöner Literatur, etablierte und anerkannte (z. B. common-sense- oder wissenschaftliche) Diskurse mit alternativen Realitätsversionen zu konfrontieren.67

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Hier instruktiv: Christiane Arndt, Abschied von der Wirklichkeit. Probleme bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen literarischen Realismus, Freiburg 2009. Siehe Christa Karpenstein-Eßbach, „Vom Verschwinden der Dinge. Baudrillard revisited“, in: Martin Ludwig Hofmann (Hrsg.), Design im Zeitalter der Geschwindigkeit, München 2010, S. 119–129; sowie Dies., Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien, München 2004. Jochen Hörisch/Thomas Klinkert, „Vorbemerkung zur Schriftenreihe: Das Wissen der Literatur“, in: Frank Degler/Christian Kohlroß (Hrsg.), Epochen/Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie, St. Ingbert 2006, S. 7–13, hier S. 13. Ebd., S. 9f.

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Dieser Bezug von Literatur zu Wissen lässt sich dann auch für den heutigen Realismus noch einmal besonders stark machen: Wenn (moderne realistische) Literatur sich auf eine ‚Realität‘ bezieht, so bezieht sie sich auf eine diskursiv produzierte ‚Realität‘, und zwar produziert durch einen bzw. mehrere Spezialdiskurse oder einen bzw. mehrere (nicht-literarische, z. B. massenmediale) Interdiskurse.68

Insofern konkurriert die „realistische Literatur zunächst mit den RealitätsAnsprüchen der Wissenschaften und des Journalismus“, um dagegen „ihren eigenen residualen Realitätseffekt [zu behaupten]“.69 Die Verschiebung des älteren Erkenntnisinteresses der realistischen Literatur zum neuen Literatur-Wissen-Verhältnis läuft im Kern auf das Konzept einer literarisch induzierten Störung geläufiger Wirklichkeitsverhältnisse hinaus. Insofern weist diese Profilierung von Realismus bemerkenswerte Parallelen zu jenem Wirklichkeitsverhältnis auf, das Hans Blumenberg an der „Erfahrung des Widerstands“ und einer im Ganzen unverfügbar gewordenen Wirklichkeit orientiert sieht.70 In diesen zunächst eher methodologischen Fragen nach den „in literarischen Texten codierten Wissens-Inhalt[en]“71 dürfte eine neue Möglichkeit der Politisierbarkeit des Realismus liegen, die direkt auf die Verfasstheit unseres Wissens zielt. Dass dies dann – in der Folge auch wissenschaftspolitisch – über das in Literatur sedimentierte und möglicherweise auch verstörende Wissen hinausgetrieben werden kann, zeigt sich in der methodologischen Umkehrung der Fragerichtung. Denn angesichts der Zweifel am sicheren Objektivitätsvermögen der Wissenschaften können deren „Spezialdiskurse“ mit jenen philologischen Methoden, die einmal vornehmlich für die Welt der Literatur reserviert waren, untersucht und auf ihre Erkenntnisstrategien, Modellierungen und Deutungen von Wirklichkeiten hin interpretiert werden, um sie des Weiteren mit Literatur zu kontextualisieren.72 Die gegenwärtige Realismusforderung ist in 68

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Jürgen Link, „‚Wiederkehr des Realismus‘ – aber welches? Mit besonderem Bezug auf Jonathan Littell“, in: kultuRRevolution, 54/1/2008, S. 6–21, hier S. 10. Ebd., S. 12. Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik I, München 1964, S. 9–27. Hörisch/Klinkert: „Vorbemerkung zur Schriftenreihe: Das Wissen der Literatur“, S. 13. Siehe die Forschungen des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, insbesondere dessen Zeitschrift Trajekte. Vgl. ebenfalls beispielhaft: Bernhard J. Dotzler/Sigrid Weigel (Hrsg.), ‚fülle der combination‘. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005; Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hrsg.), Lesbar-

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diese Debatten um die denkgeschichtlich wirksamen Grenzen und Potenzen der Diskurse des Wissens eingebettet. Der Realismus hat bekanntlich seit langem einen ausgeprägten Bezug zum Roman, eben jener Gattung, die zwar die formloseste unter den übrigen ist, in die aber alle Empirizitäten der Welt Eingang finden können. Mit der Wirklichkeitsaffinität des Romans lassen sich nun die Wahrheitspotentiale literarischer Erkenntnis und die Thematisierungen von (alternativen) Wissensbeständen vorzugsweise verknüpfen. Nicht nur im Fall des Altvaters der Theorie des Realismus, Georg Lukács, sondern bis heute gilt für Schriftsteller wie für die literaturwissenschaftlichen bzw. -geschichtlichen Transformationen des Realismuskonzepts diese Fixierung auf den Roman. Für „das, was heute Realismus heißen kann“, werden weiterhin Romane herangezogen – neben anderen z. B. von Bodo Kirchhoff, Rainald Goetz oder Thomas Meinecke; für sie gilt offenbar, dass sie in einer besonders ersichtlichen, geradezu intimen Konkurrenznähe zu massenmedialer „Information“ stehen und „reliables Wissen tatsächlich eine Ressource“ ist, mit der der realistische Roman eben mehr anfangen kann.73 Aber die verschärfte Konkurrenz zwischen Medien und literarischem Realismus provoziert die Reflexion auf die spezifische Leistungskraft der literarischen Gattungen, Zugänge zu Wirklichkeiten zu eröffnen. Mit der „Sehnsucht nach Wirklichkeit“, die sich seit einigen Jahren in den verschiedenen politischen wie ästhetischen Diskursen ausspricht, kommuniziert nicht nur eine neue Aktualität von Realismus im Allgemeinen, sie tangiert auch seinen privilegierten Romanbezug. Wenn in den Konjunkturverläufen wissenschaftlicher Aufmerksamkeitszonen mit dem „performative turn“ die Phänomene der Präsenz, des Erscheinens und der Momentanismus wirklichkeitserfüllter Vollzüge an Relevanz gewinnen, dann muss im Blick auf den Roman auffallen, dass seine Formgestalt vergleichsweise wenig performativ ist. Mit dem Aufstieg des Interesses an Performanz kommt zu dem Realismusbezug, der sich mit dem Konnex von Literatur und Wissen als Garant für Wirklichkeitsreferenzen und Erkenntnismöglichkeiten verbindet, eine

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keit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000. In historischer Perspektive vgl.: Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt 1990. Zu den Beziehungen zwischen Literatur und Wissen in der Epoche des Realismus selbst siehe: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002. Ingo Meyer, „Die Kehrseite der Moderne. Funktionen des Realismus heute“, in: Merkur, Sonderheft: Wirklichkeit! Wege in die Realität, S. 918–929, hier S. 920 u. S. 927.

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neue Dimension hinzu: die Frage nach dem Können von Literatur, das mit den verschiedenen gattungsmäßigen Redeweisen verbunden ist. Das Theater ist hier deutlich performativer als der Roman, weil es, so die Pointe der Debatten, Realität selbst im Vollzug erlebbar macht. Gegenwärtige Theatertheorien und Inszenierungspraxen haben sich „von dem alten Verständnis des Realismus als illusionärer Wiedergabe einer – außerhalb der Bühne – fraglos immer schon vorausgesetzten Wirklichkeit [verabschiedet]“.74 Zwar mag „der Begriff Realismus […] der Theaterwissenschaft größte Schwierigkeiten [bereiten]“,75 aber die gegenwärtigen Forderungen nach einem Realismus des Theaters laufen darauf hinaus, die Referenz auf Wirklichkeit nicht so sehr im Modus der Erkenntnis zu verorten, sondern in einer künstlerisch gesteigerten Wirklichkeitserfahrung. Insofern tritt – im Zeichen des Realismus – Erleben an die Stelle von Wissen, Präsenz an die von Repräsentation.76 Wenn es ein neues Potential für die Politisierung von Realismus geben sollte, dann dürfte es dort liegen, wo die gattungsmäßig verfassten Redeweisen von Literatur mit den verschiedenen Möglichkeiten einhergehen, Realität unter den Bedingungen von Medienkonkurrenzen als Präsenzerfahrung mit erlebbaren Wirklichkeitsvollzügen aufzuladen. Dieses Potential könnte von der privaten Romanlektüre an die Öffentlichkeit des Theaters übergegangen sein. Realismus als Forderung ist, wie der Gang durch die historischen Stationen seiner Programmatiken zeigt, immer wieder transepochal politisierbar, weil er Deutungskonkurrenzen um das ins Spiel bringt, was als das Wesentliche in einer je gegebenen historisch-gesellschaftlichen Situation unter aktuellem Zeitdruck ausgezeichnet werden soll. Darin liegt sein im Kern konfliktuöses Potential: Es geht um den Streit um gesellschaftliche Relevanz, nicht nur der Literatur überhaupt, sondern von Themen und Positionen. Deshalb ist die programmatische Reaktivierung des Realismus insbesondere an zeitgeschichtliche Erfahrungsumbrüche gebunden, in denen die Gewissheiten bisheriger Wirklichkeiten fragwürdig geworden sind. Wenn im Zuge von Realismusforderungen der Vorwurf erhoben wird, es finde sich in der Lite74

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Theresia Birkenhauer, „‚Nicht Realismus, sondern Realität‘. Das Politische im zeitgenössischen Theater“, in: Alexandra Kleihues (Hrsg.), Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentationen des Alltäglichen im 20. Jahrhundert, München 2008, S. 115–133, hier S. 130. Ebd., S. 115. Dies zeigt sich in den ereignisbezogenen Inszenierungspraxen von Liveness (siehe hierzu: Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004), aber auch in Entscheidungen, z. B. die Rolle des Othello mit einem schwarzen Schauspieler zu besetzen.

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ratur zu wenig Welthaltigkeit, sie sei eben nicht realistisch genug, dann ist damit kaum ein Fehlen von Welt im Allgemeinen gemeint, sondern das Fehlen dessen, was im Augenblick als das Wichtige in der Welt zu erkennen ist, also das, was als die „wirklichen Verhältnisse“ bezeichnet wird, an denen sich die Geister scheiden können. Dass der Bezug auf den Realismus eine solche agonale Dimension nicht nur mit sich führt, sondern auch hervorbringt, führen die Debatten in der Folge des Ersten Weltkrieges und nach 1945 besonders eindrücklich vor Augen. Eine prominente Rolle für die Ordnung des Agonalen spielt die politische Tiefenstruktur eines Rechts-links-Gegensatzes, der sich über das gesamte 20. Jahrhundert hinzieht und erst gegenwärtig kraftloser dadurch zu werden scheint, dass das Konzept der Avantgarde unter den Bedingungen von Massendemokratie und gesellschaftlicher Mitte, wie gezeigt, an Attraktivität verloren hat. Die gegenwärtig sich abzeichnende Politisierung von Realismus haftet an Einforderungen des Realen überhaupt und dem Verlangen seines intensivierten Erlebens, die ihren politischen Ort noch suchen. Auffällig ist, dass die Realismusforderungen in Deutschland im Unterschied zu anderen Ländern mit einer besonderen Intensität ausgestattet sind – wie das Titelbild der kultuRRevolution besonders anschaulich vorführt und wie die Mahnung des Merkur-Sonderheftes in Erinnerung ruft, wonach „Wirklichkeitsverachtung und Realitätsflucht, das sollten gerade die Deutschen nicht vergessen, […] die allerschlechtesten Lehrmeister [sind]“.77 Der spezifisch deutsche Realismus-Komplex haftet nicht nur an der mit der literarhistorischen Epoche des Realismus verbundenen Deutungs- und Umdeutungsproblematik, wie sie von Lukács bis heute in der „permanenten Umbaulandschaft“ ersichtlich wird. Diese Intensität verdankt sich vielleicht der besonderen Stellung, die dem Dichter in Deutschland traditionell als demjenigen zukommt, der mangels politisch konstituierter Einheit der Nation über Jahrhunderte für deren literarisch-kulturelle Herstellung zuständig war.78 Gerade auch im deutsch-deutschen Verhältnis wurde diese Funktion immer wieder aktiviert, sowohl in den Schismen von Rechts und Links wie in der Reklamation der „Mitte“. Die Forderung nach Realismus kommuniziert auf ausgezeichnete Weise mit der kulturpolitischen Aufgabe der Dichtung, und dies ist bis heute so. Denn Referenz auf Realität verleiht Literatur jene Wertigkeit, die im traditionsreichen Kompositum von Dichtung und Wahrheit aufscheint und auf die Lukács mit seiner Begründung des Realismus, 77 78

In: Merkur, Sonderheft: Wirklichkeit! Wege in die Realität, S. 749. Clemens Pornschlegel, Der literarische Souverän. Studien zur politischen Funktion der deutschen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im George-Kreis, Freiburg 1994.

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wirkmächtig bis heute, zurückgegriffen hatte. Und bis heute lässt sich die Realismusforderung als ein Pharmakon gegen jene Innerlichkeitsorientierung und Subjektzentriertheit, die als politikferner Gegenpol der deutschen Dichtung gilt, geltend machen. Dass Literatur – in ihrem Stil, Wissen und Können – immer auch Züge von Realismus aufweist, mag für die Literaturen anderer Länder eine gewisse Selbstverständlichkeit sein – innerhalb der deutschen Literatur bleibt dies ein Problemkomplex mit einer langen Politisierungsgeschichte. Welche diskursiven Muster und Verschiebungen an ihr beteiligt sind, welche alten Schichten noch immer reaktivierbar sind, zeigt sich allerdings erst im Blick auf die Archäologie der immer möglichen „Rückkehr der Realismen“.

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Autoren und Werke

Autoren und Werke

Achleitner, Arthur – Familie Lugmüller 97 – Mitten im Glück 113 Adler, Paul 278 Ahlefeld, Charlotte von 74 Alberti, Conrad 321 – Mode 324 Alma-Tadema, Lawrence 293 Andersch, Alfred 394 Anonym – Doktor Faustus 344 Aristoteles, 401 Arnim, Bettina von 205 Bahr, Hermann 221, 319, 366 Balzac, Honoré de 197, 400 Bang, Herman 250–279 – Das graue Haus 257–259, 261–264, 267–270 – Das weiße Haus 258–260, 263, 265–268, 270–272 – Die Vaterlandslosen 258, 262 – Hoffnungslose Geschlechter 250, 258, 263, 269–274, 278 – Ludvigshöhe 258, 274–276 – Stuck 250, 258–260, 262, 264, 269 – Tine 258–260, 268 f. Barbey d’Aurevilly, Jules 221 Baudelaire, Charles 179 Becher, Johannes R. 394, 396 Benn, Gottfried 278 Bense, Max 395 Bergson, Henri 249, 272 Biller, Maxim 392 Blei, Franz 7 Böll, Heinrich 392 Bölsche, Wilhelm 322 – Die Mittagsgöttin 322–327, 331 Bosch, Hieronymus 311 Bourget, Paul 221 Brehm, Alfred 29 Brentano, Franz 244 Broch, Hermann 221

Büchner, Georg 253 Büchner, Ludwig 272 Bürger, Gottfried August – Die Entführung 65 Burckhardt, Jacob 153, 163 Burroughs, William S. – Queer 15 Callot, Magdalene Freiin von 74 Claesz, Pieter 216 Conrad, Michael Georg – Was die Isar rauscht 327–333 Conradi, Hermann – Adam Mensch 333 Courbet, Gustave 282 Da Vinci, Leonardo 291 Dahn, Felix – Felicitas 293 f. Dante Alighieri – Göttliche Komödie 277 Darwin, Charles 252, 273 f. Däubler, Theodor 6 Daumier, Honoré 311 Dauthendey, Max 13 Dean, Martin R. 401 Dehmel, Richard 7, 13, 342, 356–384 – Aber die Liebe 357 – Das Gesicht 308–311, 314, 357, 366–371, 383 – Der lachende Erbe 357 – Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht 357 – Der Werwolf 357 – Der Wettlauf 357 – Die drei Schwestern 357, 358–366, 383 f. – Die gelbe Katze 356 f. – Die Gottesnacht 357, 371–384 – Die Rute 357 – Ein Veilchenstrauß 357 – Erlösungen 362, 366 – Inhalt der Kunst 362

432 – Kunst und Leben 366 – Lebensblätter 357 – Weib und Welt 357 Delacroix, Eugène 311 Dickens, Charles 400 Döblin, Alfred 63 Dostojewki, Fjodor 270 Driesch, Hans 265 Du Bois-Reymond, Emil 340 Dürer, Albrecht 291 Dujardin, Édouard 176, 180, 183–187, 192 – Les lauriers sont coupés 183–186 Ebers, Georg – Eine Frage 293 Ebner-Eschenbach, Marie von 253 – Das Gemeindekind 158 – Ein Spätgeborner 367 Eckstein, Ernst – Arzt und Autor 103 f. – Das Kind 110 f. – Die Sturmnacht 104–106 – Die Zwillinge 109 f. – Donna Lucretia 97 – Nervös 108 f. – Roderich Löhr 88 f. – Willbald Menz 100–102 Eichendorff, Joseph Freiherr v. 50, 292 Einstein, Carl 6 – Bebuquin 224 f. Ensor, James 311 Eschstruth, Nataly von – Der Irrgeist des Schlosses 288, 290, 292 Ewers, Ludwig 221 Fitger, Arthur 70, 87 Flaubert, Gustave 252 – Bouvard et Pécuchet 208 – Madame Bovary 11 Fontane, Theodor 3, 5, 48–69, 87, 122, 125, 177, 283 – Cécile 300 – Effi Briest 133–138, 142 – Frau Jenny Treibel 35, 48–69, 197–225 – Geschwisterliebe 71 f. – Graf Petöfy 70 f. – L’Adultera 70, 86, 112

Autoren und Werke – Mathilde Möhring 102 – Von Zwanzig bis Dreißig 57 – Vor dem Sturm 70 Fourcaud, Louis de 180 Franz, Agnes 250 Freud, Sigmund 242, 372 Freytag, Gustav 252 – Soll und Haben 53, 115, 252 f., 285 Froberg, Regina 74 Ganghofer, Ludwig – Schloß Hubertus 286, 294, 305–308 Garzoni, Giovanna 216 Gaudy, Franz von 292 – Das Modell 288 f. Gerstäcker, Friedrich – Die Flußpiraten des Mississippi 301 Goethe, Johann Wolfgang von 7, 9, 13, 16, 25 f., 45, 50, 52–54, 74, 75, 85, 94, 177, 264, 358 – Der Gott und die Bajadere 109 – Die Leiden des jungen Werther 49 – Die natürliche Tochter 75 – Wilhelm Meisters Wanderjahre 41 f. Goetz, Rainald 408 Gorki, Maxim 395 Gotthelf, Jeremias 79 – Das Erdbeerimareilli 79–82 Gottschall, Rudolph 253 Goya, Francisco de 311 Grad, Max (Bernthsen, Maria) 209 – Madonna 290 Grillparzer, Franz – Der arme Spielmann 367 Grottewitz, Kurt – Eine Siegernatur 334 Gutzkow, Karl 253 Haeckel, Ernst 272, 340 Handke, Peter 392 Hauptmann, Gerhart 352, 354 – Bahnwärter Thiel 10, 286 – Die Ratten 349 – Schluck und Jau 335, 347–350, 354 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 51 f., 65, 74, 75, 158, 199, 227 f., 334

433

Autoren und Werke Heine, Heinrich – Florentinische Nächte 289 Hesse, Hermann 356 Hettche, Thomas 392, 401 Heym, Georg – Der Dieb 291 – Der Irre 340 Heyse, Paul 151, 292 – Beppe der Sternseher 111 f. – Der verkaufte Gesang 112 – Kleopatra 288 – Unvergeßbare Worte 49, 60, 64, 88 Hille, Peter 7 Hoffmann, E.T.A. 354 – Die Jesuiterkirche in G. 289 – Elixiere des Teufels 292 Hofmannsthal, Hugo von 176, 221 Hollaender, Felix – Sturmwind im Westen 334 Holz, Arno 6, 13, 320, 335, 342, 355 – Buch der Zeit 342 – Die Blechschmiede 347 – Papa Hamlet 10, 14 f., 16, 354 – Phantasus 335, 342–347, 349, 354 Homer 212, 401 – Odyssee 401 Horaz 57 Huch, Ricarda 393 Husserl, Edmund 242–249 Huysmans, Joris-Karl 6 – A Rebours/Gegen den Strich 19, 203, 218 Immermann, Karl Leberecht – Der neue Pygmalion 288, 292 Jean Paul – Das Kampaner Tal 250 Jelinek, Elfriede 392 Jensen, Wilhelm 282 – Auf dem Vestenstein 294, 302–304 – Der rote Schirm 294 – Gradiva 284 f., 287, 290–293 Joyce, James 183, 187 Kafka, Franz 221 Kallimachos 350 Kant, Immanuel 111, 229

Keller, Gottfried 3, 35, 151, 396 – Das Sinngedicht 288 – Der grüne Heinrich 8–10, 94, 155, 168, 288, 368, 371–374 – Der Narr auf Manegg 92 – Die Leute von Seldwyla 35 – Die mißbrauchten Liebesbriefe 35, 152, 367 – Hadlaub 113 – Herr Jacques 367 – Kleider machen Leute 86, 113f – Romeo und Julia auf dem Dorfe 26, 171 Kierkegaard, Søren 265, 276, 278 Kirchhoff, Bodo 408 Kretzer, Max 324 – Die beiden Genossen 334 – Die Betrogenen 334 – Meister Timpe 334 Kusenberg, Kurt 394 Langgässer, Elisabeth 393 Lasker-Schüler, Else 6 Laßwitz, Kurd 253 Lebald, Fanny 75 Lenin, Wladimir Iljitsch 397–399 Lessing, Gotthold Ephraim – Laokoon 302 Liliencron, Detlev von 6, 13, 348 f., 352, 354 f. – Betrunken 335–343, 344 – Der Mäcen 18 f. Lindau, Paul – Hängendes Moos 106–108 – Helene Jung 84 f. Locke, John 216 Lohmann, Emilie 75 Lublinski, Samuel 190 Ludwig, Otto 18, 25 f., 73, 78, 85, 87, 113, 122 f., 253, 261, 282 f. – Zwischen Himmel und Erde 10–13, 25, 78, 80, 82–84, 113, 115, 155, 251 f., 294–305, 382 Mach, Ernst 242 Mallarmé, Stephane 180 f., 396 Mann, Heinrich 220–224, – Der Untertan 221 – Im Schlaraffenland 221–224,

434 Mann, Thomas 176, 183, 187–196, 189 f., 197, 222, 279, 356, 400 – Buddenbrooks 189, 193 f., 195, – Der kleine Herr Friedemann 10, 188, 271 – Der Tod in Venedig 72, 190, 194 f. – Gladius dei 290 f. – Joseph und seine Brüder 189 – Königliche Hoheit 189, 193 – Tonio Kröger 193 f., 195 May, Karl 253 Meinong, Alexius 244 f. Meißner, Franz Hermann – Das Geheimnis der Nürnberger Madonna 291 f. Meinecke, Thomas 408 Meyer, Conrad Ferdinand 151–172 – Die Hochzeit des Mönchs 151–172 – Die Richterin 158 – Plautus im Nonnenkloster 158 Moleschott, Jakob 272 Morgenstern, Christian 7 – Galgenlieder 20 Mörike, Eduard 50 Munch, Edvard 311, 313 Musil, Robert 222 – Die Portugiesin 304, 311 Nietzsche, Friedrich 176, 187 f., 229–232, 273, 380 – Der Fall Wagner 181–183 Nordau, Max 265 – Die Krankheit des Jahrhunderts 334 Novalis 211, 255 Oppermann, Heinrich Albert – Hundert Jahre 253 Ovid – Metamorphosen 288 f. Panizza, Oskar 13 – Der Korsettenfritz 10, 17 f., 341, 354 Pindar 57, 211 Piscator, Erwin 399 Platon 401 Poe, Edgar Allen – Life in Death 288 – The Oval Portrait 288

Autoren und Werke Politycki, Matthias 401 Prutz, Robert 72 Przybyszewski, Stanislaw – Der Schrei 308, 311–314 Raabe, Wilhelm 3, 5, 25–47, 125, 242, 282–286 – Abu Telfan 10 – Altershausen 5, 155, 237–241, 245, 283 f., 305 – Das Odfeld 35, 268, 285, – Der Hungerpastor 27, 36 – Der Lar 46 – Die Akten des Vogelsangs 125, 158, 226–237, 238 f., 241, 246, 286, 358 – Die Chronik der Sperlingsgasse 36, 153, 343, 360 – Drei Federn 27 – Ein Frühling 132 f. – Else von der Tanne 25, 27–35, 37, 39, 44 – Frau Salome 288 – Hastenbeck 27 – Pfisters Mühle 46 – Stopfkuchen 25, 39–47, 125, 286 – Villa Schönow 35–39 – Zum wilden Mann 86, 139–141, 142, 285, 343, 358 Renn, Ludwig 399 Reuter, Gabriele – Der Lebenskünstler 99 f. Riehl, Wilhelm Heinrich – Abendfrieden 103 – Amphion 92 – Der Fluch der Schönheit 73 f. – Der Stadtpfeifer 90–92 Rilke, Rainer Maria 222, 278, 356 – Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge 176, 272 Rops, Félicien 311 Rückert, Friedrich 89 f. Saar, Ferdinand von 70 – Das Haus Reichegg 95 – Innocens 93–95 – Schloß Kostenitz 95 f. Scheerbart, Paul 7, 20, 354 – Tarub. Bagdads berühmte Köchin 335, 350–353

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Autoren und Werke Schiller, Friedrich 25, 50, 54, 57, 199, 214 – Das Lied von der Glocke 50, 54 – Die Kraniche des Ibykus 46 – Wallenstein 214 Schindhelm, Michael 401 Schlaf, Johannes 355 – Papa Hamlet (s. Holz, Arno) Schmidt, Julian 13 f., 25 f., 29, 52, 73, 130, 153, 163, 177, 179 Schnitzler, Arthur 13 – Andreas Thameyers letzter Brief 16 – Fräulein Else 16 – Leutnant Gustl 10, 15 f., 354 Schopenhauer, Arthur, 228 f., 231 Schopenhauer, Johanna 75 Schoppe, Amalia 74 f. Schreyvogel, Josef 75 Scott, Walter 64 Shakespeare, William 354 – Der Widerspenstigen Zähmung 348 – Hamlet 379 – Macbeth 341 Simmel, Georg 213 f. Spielhagen, Friedrich 26, 252 f. – Clara Vere 90 – Die Sphinx 87–89 Stendhal 197 Stern, Louis William 245 Stifter, Adalbert 3, 115–129, 252, 263, 286, 381, 396 – Der beschriebene Tännling 126 f. – Der fromme Spruch 119, 121, 124 – Der Hagestolz 117 f. – Der Kuß von Sentze 252 – Der Nachsommer 10, 76, 86, 94, 113, 122, 127, 201, 252 – Der Waldbrunnen 127 f. – Die Mappe meines Urgroßvaters 285 – Kalkstein 118 – Nachkommenschaften 287 f., 292, 367 – Zwei Schwestern 119 f., 178 Stirner, Max 254 Storm, Theodor 3, 151 – Am Kamin 132 – Angelica 85 f.

– Aquis submersus 8, 153, 288, 292, 368 – Bulemanns Haus 132 – Carsten Curator 10, 114, 358 – Der Schimmelreiter 141–150, 153, 293, 359 f. – Die Regentrude 132 – Eekenhof 288 – Ein Fest auf Harderslevhuus 142 f. – Eine Malerarbeit 367 – Ein stiller Musikant 367 – Immensee 94, 155, 358, 367 – Im Schloß 86, 92 f., 288 – Pole Poppenspäler 367 – Psyche 288–290, 292 Strauß, Botho 392 Süskind, Wilhelm Emmanuel 394 Telmann, Konrad – Unheilbar 98 f. Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 400 Veblen, Thorstein 221 Vischer, Friedrich Theodor 131 – Auch Einer 115, 286 Vogt, Carl 272 Voß, Richard – Maria Botti 288 f., 292 Wagner, Richard 176, 179–196 Walser, Robert 6 – Fritz Kochers Aufsätze 19 Wassermann, Jakob 188 Weininger, Otto 273 Weißenthurn, Johanna Franul von 74 Wichert, Ernst – Der Schaktarp 86, 97 f. Wildermuth, Ottilie 254 Wittgenstein, Ludwig 236 Wyzéwa, Téodore de 180 Zenon 235 Zola, Émile 197, 321 – Au Bonheur des Dames 332 – L’Œvre 288 – Le Ventre de Paris 332 – Rougon-Macquart 13