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German Pages [477] Year 2020
Friedenstheorien
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Alfred Hirsch / Pascal Delhom (Hg.)
Denkwege des Friedens Aporien und Perspektiven Erweiterte Neuausgabe
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820773
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Alfred Hirsch Pascal Delhom (Hg.) Denkwege des Friedens
ALBER FRIEDENSTHEORIEN
A
https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Alber-Reihe Friedenstheorien Band 4
Herausgegeben von: Pascal Delhom, Alfred Hirsch, Christina Schües Wissenschaftlicher Beirat: Robert Bernasconi, Claudia von Braunmühl, Gertrud Brücher, Hauke Brunkhorst, Monique Castillo, Hajo Schmidt, Eva Senghaas, Christoph Weller
https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Alfred Hirsch / Pascal Delhom (Hg.)
Denkwege des Friedens Aporien und Perspektiven Erweiterte Neuausgabe
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Alfred Hirsch / Pascal Delhom (Eds.) Thinking Paths of Peace Aporias and Perspectives Given the experience of the horror, but also the hopes, of the 20th century as well as with a view to current developments of politics and of our global society, it is vitally important for philosophy to consider peace in a new light. All contributions of this volume hence have three objectives: – To ask the question of peace in contemporary philosophy again and with rigour. – To question and possibly replace the tradition of our thought of peace that originates with the Greeks and that is reinforced especially by the theories of state of Hobbes and Kant. – To encourage a philosophical reflexion regarding the forms and categories of thinking itself so that this thinking takes the task of peace seriously. Last but not least the volume attempts to reflect on the potential violence of thinking itself and also on the presuppositions of a thinking that takes the challenge of peace seriously. The Editors: Prof Dr Alfred Hirsch studied German studies in Münster, Hamburg, Paris, Bochum and New York. He teaches Philosophy at the University of Witten/Herdecke. Dr Pascal Delhom studied philosophy and Roman studies at the Universities of Genf and Bochum. He teaches philosophy at the University of Flensburg.
https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Alfred Hirsch / Pascal Delhom (Hg.) Denkwege des Friedens Aporien und Perspektiven Vor dem Hintergrund der Erfahrung des Grauens, aber auch der Hoffnung im 20. Jahrhundert sowie in Anbetracht der neuen Entwicklungen der Politik und der Gesellschaft in der globalisierten Welt ist es für die Philosophie eine wichtige Aufgabe, den Frieden erneut und in mancher Hinsicht neu zu denken. Die in diesem Buch versammelten Aufsätze verbinden daher drei gemeinsame Anliegen: – Die Frage des Friedens in der heutigen Philosophie erneut und verstärkt zu stellen. – Die Tradition, die unser Denken des Friedens seit den Griechen und besonders seit dem Denken des Staates und des Rechts nach Hobbes und Kant prägt, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu erneuern. – Eine philosophische Reflexion über die Formen und die Kategorien des Denkens selbst anzuregen, die der Frage des Friedens angemessen sein können. Nicht zuletzt geht es darum, die mögliche Gewalt des Denkens und entsprechend auch die Voraussetzungen eines Denkens, das auch für sich die Aufgabe des Friedens ernst nimmt, zu reflektieren. Die Herausgeber: Prof. Dr. Alfred Hirsch studierte Philosophie und Germanistik in Münster, Hamburg, Paris, Bochum und New York. Er Lehrt Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Dr. Pascal Delhom studierte Philosophie und Romanistik in Genf und Bochum. Er lehrt Philosophie an der Universität Flensburg.
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© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wü nnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48890-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82077-3
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Inhalt
Einleitung Alfred Hirsch, Pascal Delhom
Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
Pascal Delhom, Alfred Hirsch
Vielfältiger Frieden. Aporien – Perspektiven – Denkansätze .
14
Sektion 1: Kritik des Friedensdenkens Lothar Brock, Hendrik Simon
Turmbau zu Babel? Friedensarchitekturen in kriegerischer Zeit
26
Robert Bernasconi
Ewiger Friede und totaler Krieg . . . . . . . . . . . . . . . .
50
Lutz Schrader
Die »dual use capacity« von Friedenstheorien. Das Beispiel der liberalen Theorie des »demokratischen Friedens« . . . .
71
Sektion 2: Kritisches Denken des Friedens Werner Stegmaier
Zum zeitlichen Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
7 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Inhalt
Gertrud Brücher
Frieden als Gegenmythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Wulf Kellerwessel
Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte als unabdingbare Bedingung des Friedens . . 143
Sektion 3: Krieg und Frieden Monique Castillo
Den Krieg kennen, den Frieden denken . . . . . . . . . . . . 168 Petar Bojanic
Die Übertragung des Krieges in Frieden: Mit Frieden vergelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Henrique Otten
Friedens-Einsprüche. Hinweise am Beispiel Friedrich Wilhelm Foersters . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Sektion 4: Frieden mit den anderen Bernhard Waldenfels
Friedenskräfte und Friedenszeichen . . . . . . . . . . . . . . 256 Hajo Schmidt
Das Eigene und das Fremde. Friedensphilosophie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Christina Schües
»Freiheit« denken in Zeiten des Friedens . . . . . . . . . . . 293
8 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Inhalt
Sektion 5: Friedenskrfte Alfred Hirsch
Frieden und globale Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . 320 Antje Kapust
»Sprachen« des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Pascal Delhom
Das Wagnis des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
Sektion 6: Hospitalitt Iris Därmann
Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Burkhard Liebsch
Frieden durch Recht und Gastlichkeit? Gedanken aus der Ferne – mit Kant und Derrida . . . . . . . 415 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
9 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Einleitung
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Vorwort zur zweiten Auflage Alfred Hirsch, Pascal Delhom
Dieses Buch erschien zum ersten Mal vor elf Jahren. Es wurde damals als Anregung konzipiert, neue Ansätze des Friedensdenkens zu entwickeln sowie kritische Auseinandersetzungen mit bereits existierenden Ansätzen zu fördern. Es versuchte, unterschiedliche Diskurse der Sozial- und politischen Philosophie mit solchen der Friedens- und Konfliktforschung in einem weiten Sinne in Verbindung zu bringen. Es gab allerdings noch keinen privilegierten Ort, an dem ein solches Buch veröffentlicht werden sollte. Nun erscheint die zweite, um einen Text erweiterte Auflage als vierter Band der Reihe »Friedenstheorien«, die 2015 von den Herausgebern zusammen mit Christina Schües ins Leben gerufen wurde. Sie bietet einen geeigneten Rahmen, um das ursprüngliche Vorhaben fortzuführen. In der philosophischen Landschaft hat sich allerdings seitdem wenig geändert. Trotz aller spürbaren Dringlichkeit ist der Frieden kein prominentes Thema geworden. In der Friedens- und Konfliktforschung, die sich zunehmend als empirische Forschung versteht, sind wiederum kaum neue Denkansätze entstanden, die nach den immer noch und zu Recht viel diskutierten Ansätzen etwa von Galtung oder Senghaas den Friedensdiskurs fortführen und erneuern. Dies steht in einem starken Kontrast zu neuen Entwicklungen der Gewalt und der internationalen Politik, die ein Nachdenken über die Bedingungen des Friedens geradezu zu fordern scheinen. Einerseits entstehen neue Formen des Krieges und der Gewalt, denen nicht ohne weiteres mit den alten europäischen Mitteln der Zivilisierung begegnet werden kann. Europa und besonders Deutschland beteiligen sich auch zunehmend an Kriegen, kriegerischen Interventionen, Maßnahmen einer weitgehend militärisch verstandenen Sicherheitspolitik, und entwickeln parallel zu dieser Neuorientierung der Außenpolitik einen starken Diskurs der Rechtfertigung und der Legitimierung der eigenen Gewalt. Andererseits scheint der Friedensdiskurs, der als 12 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Vorwort zur zweiten Auflage
Leitgedanke des europäischen Zusammenschlusses nach dem Ende des zweiten Weltkrieges fungierte, immer mehr an Anziehungskraft zu verlieren. In Zeiten der Krise wird aber das Denken politisch relevant, wie Hannah Arendt beteuerte. (Arendt 1979, 191) Das Nachdenken über die Bedingungen des Friedens – in Kriegs- und auch in Friedenszeiten – ist mehr als eine bloße theoretische Frage. Es hat – als Theorie! – eine praktische Relevanz, die nicht vernachlässigt werden sollte. Die Neuauflage dieses Bandes kann und soll also durchaus weiterhin als Anregung verstanden werden, über den Frieden nachzudenken, Aporien zu markieren und Perspektiven zu eröffnen. In diesem Sinne haben wir dem Band einen neuen Text hinzugefügt, der einerseits eine geschichtliche Entwicklung des Friedensdenkens thematisiert, andererseits dessen Relevanz für die Art und Weise aufzeigt, wie wir uns heute den Frieden vorzustellen bzw. wie wir ihn zu realisieren vermögen. Lothar Brock und Hendrik Simon rekonstruieren nicht nur viel detaillierter, als wir es in unserer Einleitung sehr kursorisch getan hatten, wichtige Etappen des Friedensdenkens in Europa bis zu Kant. Sie zeigen auch die Relevanz des kantschen Ansatzes für die politische und rechtliche Entwicklung einer internationalen Ordnung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute und zeigen auch, mit welchen Herausforderungen sie sich auseinandersetzen müssen. Wir danken dem Verlag Karl Alber für den Vorschlag, den Band neu aufzulegen und in unserer Reihe aufzunehmen. Aachen und Hamburg, Dezember 2018
Literatur: Arendt, A. (1979): Vom Leben des Geistes, Bd. I: Das Denken, aus d. Amerikanischen v. H. Vetter, München/Zürich: Piper.
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Vielfltiger Frieden. Aporien – Perspektiven – Denkanstze Pascal Delhom, Alfred Hirsch
Einige Schlaglichter auf die Geschichte des Friedensdenkens Selten ist in der philosophischen Tradition explizit vom Frieden gesprochen worden. Die wenigen großen Autoren und die wenigen – zumeist kurzen – Texte sind uns bekannt. Von Augustinus über Erasmus von Rotterdam bis hin zu Kant ist schnell ein Bogen geschlagen, ohne dass wir es hier mit einer inhaltlich intensiven Anknüpfung und Diskussion zu tun hätten, wie das in anderen begrifflichen Zusammenhängen der Philosophiegeschichte geschehen ist. Und doch ließe sich mit einem gewissen Recht behaupten, dass es in der Philosophie stets ein Ringen um entscheidende Elemente und Aspekte des Friedsamen, Friedlichen und des Friedens gab. Ein früher und entscheidender Bezugspunkt des Nachdenkens über den Frieden ist das XIX. Buch der ›De Civitate Dei‹ von Augustinus. Er entwirft darin ein ontologisches Konzept des Friedens, welches er von seinen theologischen Vorstellungen über den ›irdischen‹ und den ›himmlischen Frieden‹ sondert. Einerseits betrachtet er den Bereich der ›physis‹ und fragt danach, was Frieden bei Dingen und Lebewesen heißt. Und andererseits wendet er seine Bestimmung des Friedens auf das Zusammenleben der Menschen an. Im Bereich der ›physis‹ demonstriert Augustinus seine Vorstellung vom Frieden am Beispiel einer verkehrt herum aufgehängten Person. Die Verkehrtheit stört den »Frieden des Leibes« und wird daher als »peinlich empfunden«. Augustinus schreibt: »Da die Seele mit ihrem Leib von Haus aus in Frieden lebt und um sein Wohlergehen besorgt ist, so empfindet sie jetzt Schmerz. Aber auch wenn sie, durch solche Störung ausgetrieben, entweicht, ist doch der zurückbleibende Leib, solange das Gefüge der Glieder erhalten bleibt, nicht ohne einen gewissen Frieden der Teile, folglich ein hängender Körper immer noch da« 14 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Vielfltiger Frieden
(XIX, XII). 1 Nahezu übergangslos lässt sich dieser Wunsch nach dem Wohlergehen des Körpers auf das menschliche Zusammenleben übertragen. Was Augustinus zu der Folgerung veranlasst, dass alle Menschen den Frieden wollen. Selbst der Krieg wird um Willen des Friedens geführt. Selbst die Räuber wollen mit ihresgleichen im Frieden leben – wenn auch nur, um den Frieden der anderen besser angreifen zu können. Die Dinge und Wesen existieren auf der Grundlage des Friedens. Der Frieden eines Dinges oder eines Lebewesens ist die »Ruhe der Ordnung« (»tranquilitas ordinis«) schreibt Augustinus. Alles, was ist, existiert in einer bestimmten Ordnung, die dessen Frieden ist. Frieden wird als die spezifische Struktur eines Lebewesens, durch die es in seiner Eigenart existiert, gedacht. Dieser Frieden kann gestört und beeinträchtigt, aber niemals zerstört werden, es sei denn durch die Vernichtung. Naturen können, so Augustinus, »keinesfalls existieren, wenn nicht irgendwie auf der Grundlage des Friedens«. 2 Das heißt, um friedsam zu existieren, muss ein Lebewesen nicht bewusst tätig werden. Frieden ist Voraussetzung und nicht Gegenstand der Lebensführung. Zu Bewusstsein kommt der Frieden, die ungestörte Ordnung erst dann, wenn die Ruhe der Ordnung gestört wird. Eine solche Störung des Friedens kann beseitigt werden und der Frieden wieder hergestellt werden. Dies gilt allerdings nur so lange, wie es noch Leben im Körper, es einen Rest an ungestörter Ordnung gibt. Frieden wird in diesem ontologischen Sinne bei Augustinus als ein Zustand noch jenseits der Unterscheidung von Gut und Böse eingeführt. Augustinus kann daher von einem ›gerechten‹ und ›ungerechten‹ Frieden sprechen: Der sündige Hochmut »hasst […] den gerechten Frieden Gottes und liebt seinen eigenen ungerechten Frieden«. Letzterer bleibt aber dennoch Frieden, er stellt somit ein ›Gut‹ dar. Die ungestörte Ordnung ist nicht identisch mit einer ›guten Ordnung‹. Frieden ist für Augustinus als Fundament des Daseins aller Werthaftigkeit voraus und ist daher nicht normativ zu verstehen, er ist die notwendige und hinreichende Bedingung des Lebensvollzuges. Diese dem 5. nachchristlichen Jahrhundert entstammende wahrhaft kosmologische Friedensphilosophie beeindruckt durch ihre Grundsätzlichkeit und ihre enorme Ausdehnung. Gleichwohl bleiben das Wodurch und das Wie des Friedens zwischen den Menschen und Augustinus: Vom Gottesstaat. Band II. dt. von Wilhelm Thimme. Zürich 1978. Buch XIX. 12/551. 2 Augustinus: Vom Gottesstaat. a. a. O. Buch XIX. 13/553. 1
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Pascal Delhom, Alfred Hirsch
Ländern noch weitgehend ungedacht. Machen wir einen Sprung zu einem Denker und einem Denken am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, für diesen ist der Frieden bereits ein, wenn nicht gar das höchste Gut der Menschen. Erasmus von Rotterdam personifiziert den Frieden in seinem Text ›Querela pacis‹, die ›Klage des Friedens‹, und lässt den personifizierten Frieden durchs Land, in die Dörfer, in die Städte und in die Königshäuser ziehen. Nirgendwo ist er wohl gelitten und – erstaunlicherweise – auch dort nicht, wo man über ihn nachdenkt, in den Universitäten selbst. Erasmus beschreibt diesen Zustand universitärer Friedlosigkeit sehr anschaulich. Der Frieden selbst beklagt hier seine Zurückweisung in den unterschiedlichsten politischen und sozialen Kontexten. Nachdem er sowohl zwischen den Staaten als auch im Innern des Staates und weder bei den Armen noch bei den Reichen Ruhe und eine Heimstadt hat finden können, wendet er sich den Orten der Gelehrsamkeit und der Theologie zu: »Bei der Schar der Gebildeten will ich Zuflucht suchen. Die Wissenschaft schafft Menschen, die Philosophie Menschen höherer Art, die Theologie Heilige. Es wird mir sicher gegeben werden, bei ihnen Ruhe zu finden, nachdem ich auf so vielen Irrwegen umhergetrieben wurde. Aber, o Schmerz! Siehe, hier gibt es eine andere Art von Kriegen, zwar weniger blutig, aber trotzdem nicht weniger unsinnig. Eine Schule liegt mit der anderen im Streit, und wie die Wahrheit sich mit dem Ort veränderte, so überqueren manche Ereignisse nicht das Meer, andere übersteigen nicht die Alpen, wieder andere kommen nicht über den Rhein hinüber, ja sogar in derselben Universität streitet der Rhetor mit dem Dialektiker, mit dem Rechtsgelehrten der Theologe. Aber sie streiten sogar in derselben Fakultät: der Thomist mit dem Scotist, der Realist mit dem Nominalisten, der Platoniker mit dem Peripatetiker, und sie streiten so sehr, dass sie nicht einmal in den unbedeutendsten Kleinigkeiten übereinstimmen und sehr oft heftig um ein Nichts kämpfen, bis die Hitze des Streites von Argumenten zu Beschimpfungen, von Beschimpfungen zu Fausthieben führt, und wenn der strittige Punkt nicht mit Fausthieben und Lanzen ausgehandelt wird, durchbohren sie sich mit Griffeln, die in Gift getaucht sind, sie zerfleischen sich gegenseitig auf dem Schreibpapier, und jeder schleudert auf den anderen tödliche Pfeile des Wortes.« 3 Die Vertrautheit dieser Beschreibungen akaErasmus von Rotterdam: Querela Pacis. dt. von Gertraud Christian. In: Werner Welzig (Hg.): Ausgewählte Schriften. 8 Bd. Darmstadt 1968. Bd. 5. 374.
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Vielfltiger Frieden
demischen Streits lässt uns für einen Augenblick vergessen, dass sie aus dem Jahr 1516 stammen und einen durchaus fremden institutionellen Rahmen voraussetzen. Die ›Klage des Friedens‹, ›Querela Pacis‹, des Erasmus umreißt aber zugleich auch einen Frieden, der sich nicht allein auf das Verhältnis zwischen den Staaten bezieht. Sie bezieht sich auf den Zwist und Gewaltzustand zwischen Menschen, Gruppen und Staaten und vermeidet damit die moderne Einengung auf einen allein zwischenstaatlichen Konfliktzustand, dem der Frieden dann symmetrisch entgegenzusetzen wäre. Auch scheint in den Beschreibungen Erasmus’ Frieden in die vielen Abstufungen des Friedsamen eingelassen zu sein. So wie es ein Mehr oder ein Weniger an friedsamem Verhalten gibt, gibt es auch ein Mehr oder Weniger an Gewaltsamkeit. Aber eine Gewaltsamkeit, die im sprachlichen und schriftlichen Streit zu bemerken ist, muss nicht mit einem körperlichen Schlagabtausch oder einem kriegerischen Kampf gleichgesetzt werden. Der klagende Frieden des Erasmus scheint jedoch eine solche Vereinheitlichung vorzunehmen. Er ist noch weit entfernt von der inhaltlich positiven Bestimmung des Konflikts, von produktiver Differenz und Pluralität als Konstitutivum ordinalen Werdens und Vergehens, die im 18. und 19. Jahrhundert einsetzt. Offensichtlich umfasst der Frieden des Erasmus mehr als unser moderner Friedensbegriff und auch zugleich weniger. Denn wenn er sich einerseits auf interindividuelle, interkollektive und internationale Verhältnisse bezieht, so engt er den Zustand der friedsamen Beziehungen auf Einklang und Versöhnung ein, der keinen Raum für Streit und Auseinandersetzung lässt. Nahezu sämtliche Begriffe und Konzeptionen des modernen Friedens unterscheiden sich gerade in dieser Hinsicht von den Ausführungen des Erasmus. Vermutlich erschöpfen sich aber schon in diesem Punkt die Gemeinsamkeiten der modernen Ansätze. Wesentlich geprägt und vorbereitet wird die friedenstheoretische Debatte des 19. Jahrhunderts von den Traktaten des Abbé SaintPierres und Jean-Jacques Rousseaus ›Sur la paix perpetuelle‹ (›Über den ewigen Frieden‹), dessen Titel dann auch in dem berühmten Text des Spätwerks Kants Zum ewigen Frieden Aufnahme findet. Kant geht allerdings, anders als Rousseau jedoch wie Hobbes, von der Annahme des ursprünglichen Krieges, vom Krieg als Normalzustand, aus. Kant: »Der Friedenszustand unter den Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der viel17 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Pascal Delhom, Alfred Hirsch
mehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch von Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben«. 4 Nach Kant geht aus dieser Feststellung die Forderung hervor: »Er (der Frieden) muss also gestiftet werden.« Die Herstellung eines dauerhaften Zustands des Friedens gelingt nach Kant nur unter der Bedingung, dass der Frieden auf drei verschiedenen Ebenen durch das Recht gewährleistet wird. Das Recht soll nicht nur den Frieden innerhalb der Staaten sichern, wie bei Hobbes, aber auch nicht primär zwischen den Staaten wie bei Saint-Pierre und Rousseau, sondern auch in der Beziehung zwischen Menschen und Staaten, denen sie nicht angehören. Beachtlich ist, dass schon die innerstaatliche Rechtsordnung für den Frieden zwischen den Staaten sorgt: Kant plädiert hier für ›republikanische‹ Verfassungen, denn es sei kaum vorstellbar, dass die Bürger so verfasster Staaten die »Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen« würden. 5 Dabei ist es nicht im Sinne Kants, die ›republikanische‹ Verfassung der Staaten mit der ›demokratischen‹ gleichzusetzen. Denn diese stütze sich auf das Prinzip ›alle Gewalt geht vom Volke aus‹, das der republikanischen Gewaltenteilung gerade zuwider laufe. Die Teilung der Gewalten, d. h. der Machtbefugnisse ist für Kant das entscheidende Merkmal des republikanischen Staates. Auf der zweiten Ebene ist das Völkerrecht zwischen den Staaten, auf das heute oft verwiesen wird, zusammen nur ein Surrogat für eine internationale Rechtsordnung, die mit der Souveränität der Staaten nicht vereinbar wäre. Und auf der dritten Ebene macht Kant als eine der wichtigsten Voraussetzungen des Friedens das ›Weltbürgerrecht‹ und hier besonders das Besuchsrecht geltend, das nicht nur in seiner Zeit eine deutlich antikolonialistische Spitze enthält. Die Friedenskraft der allgemeinen Hospitalität geht aber auch über diese Kritik hinaus, wie die Texte von Iris Därmann und Burkhard Liebsch in diesem Band zeigen. So neu die Idee des Friedens in der Philosophie Kants war, so deutlich bleiben doch auch in seinem Denken Spuren von Gewaltrechtfertigungen. 6 Im Rahmen seiner Fortschrittsphilosophie beharrt er daImmanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In: W. Weischedel (Hg.): Werke in zehn Bänden. Darmstadt 1983. Bd. 9. 203. 5 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 205. 6 Vgl. Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? Spuren und Elemente philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004. 54 ff. 4
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Vielfltiger Frieden
rauf, dass Krieg noch das Mittel ist, durch das letztlich das kosmopolitische Ganze zur Verwirklichung strebt. Und doch legte die Schrift Kants ›Zum ewigen Frieden‹ erste Ausblicke auf eine philosophische Friedensethik frei.
Herausforderung des Denkens Nach dem 200. Jubiläum der Kantschen Schrift 1995 wurde sehr viel über ihre philosophische und politische Aktualität gesprochen und geschrieben. Das Leitwort des ›Friedens durch Recht‹ 7 sowohl innerhalb der Staaten wie auch zwischen ihnen und sogar in der Beziehung zwischen Individuen und Staaten im Weltbürgerrecht wird nicht nur als philosophische Erneuerung und Krönung einer Denktradition anerkannt, die seit Hobbes das Europäische Denken des Friedens – und der Politik überhaupt – prägt, sondern auch als beachtenswertes Modell der internationalen Institutionen, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind. Nun muss sich das Recht auch gegen diejenigen durchsetzen, die es missachten könnten bzw. die es bereits verletzt haben. Auch wenn es zwischen Hobbes und Kant eine wichtige Verschiebung der Gewichtung zwischen der terrorisierenden Gewalt des Leviathan-Staates und der rechtlichen Ordnung einer Republik und einer Föderation freier Staaten gegeben hat, ist für beide das Recht notwendig mit einem Monopol der legitimen Gewalt verbunden. Insofern ist die Verbindung zwischen Frieden und Recht immer zugleich eine Rechtfertigung bestimmter Formen der Gewalt. Robert Bernasconi vertritt sogar in diesem Band die These, dass die Idee eines ewigen Friedens als Ziel der Geschichte, wie sie Kant entwickelt, im Prinzip jede Form der Gewalt zu rechtfertigen vermag, die zu diesem Ziel führt, sei es ein Krieg, seien es rassistische oder imperialistische Gewalt. Dies gilt auch für Formen der Gewalt, die Kant ausdrücklich verwirft, und zwar besonders, wenn eine politische, religiöse oder militärische Macht von sich behauptet, sie hätte einen privilegierten Zugang zum wahren Frieden und entsprechend einen besonderen Auftrag, ihn durchzusetzen. In einem ähnlichen So der Titel eines von Matthias Lutz-Bachmann und James Bohman herausgegebenen Bandes: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung. Frankfurt a. M. 1996.
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Pascal Delhom, Alfred Hirsch
Sinne fragt sich Lutz Schrader, inwiefern die Theorie des demokratischen Friedens, nach der Demokratien unter sich keinen Krieg führen, nicht nur fraglich ist, sondern auch zur Rechtfertigung von Kriegen gebraucht wird, die durch Demokratien gegen nicht-demokratische Staaten geführt werden, um Demokratie durchzusetzen. Die Kantsche Idee der rechtlichen Sicherung des Friedens schreibt sich auch in einer Denktradition ein, die die Moral und die Stiftung einer politischen Ordnung als Kontrolle, als Beherrschung der Gefühle und Leidenschaften durch die Vernunft definiert. Außer Rousseau scheinen alle Vertreter der politischen Vertragstheorie, und vielleicht sogar der modernen politischen Philosophie insgesamt, diese Beherrschung als ein zentrales Element einer geregelten politischen Ordnung zu sehen. So setzt auch Dieter Senghaas neben Rechtstaatlichkeit und Gewaltmonopol die Affektkontrolle als Kernelement seiner Theorie der Zivilisierung der Konfliktbearbeitung. 8 Doch die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat auf erschreckende Weise vorgeführt, wie gerade Nationalstaaten, die den Frieden bewahren sollten, sowohl nach innen wie nach außen Formen der Gewalt entwickelt und ausgeübt haben, die bei weitem alles überschritten, was Menschen in weniger zivilisierten Zeiten anderen Menschen angetan hatten. Dabei zeigte sich auch, wie die Gefühllosigkeit einer kalten und kalkulierenden Vernunft (oder die Gefühlsbeherrschung durch dieselbe) die Bedingung einer erhöhten Wirksamkeit in der Durchführung des Verbrechens sein konnte. Die Grausamkeit des Krieges und der totalitären Repression waren nicht die Rückkehr der Menschen in einen Naturzustand, aus dem sie dank der Zivilisation ausgetreten waren, sondern die Kehrseite ebendieser Zivilisation, die darin ihre finsterste Seite ans Tageslicht brachte und das seit der Aufklärung so positiv besetzte ›Licht‹ (les Lumières) verdunkelte. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts entfalteten aber auch seit den achtziger Jahren Möglichkeiten der Konfliktlösung. Das Ende des kalten Krieges und die weitgehend gewaltfreie Transformation vieler Gesellschaftsordnungen im Osten Europas, das weitgehend gewaltfreie Ende von Diktaturen und menschenverachtenden Regimes in Südamerika und Südafrika, die Wirksamkeit von Institutionen wie die OSZE, die Sicherheit durch Zusammenarbeit eher als durch Abschreckung und Repression zu erreichen sucht, die Erfindung oder Vgl. u. a. Dieter Senghaas: Frieden – Ein mehrfaches Komplexprogramm. In: Dieter Senghaas (Hg.): Frieden machen. Frankfurt a. M. 1997. 560–575. Hier besonders 571 ff.
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Vielfltiger Frieden
Aktualisierung anderer Formen der Konfliktlösung wie etwa die Wahrheitskommissionen (bei denen Gefühle eine wichtige Rolle spielen), 9 all dies waren politische Erfahrungen, die nicht in Kategorien des Gewaltmonopols und der Gefühlskontrolle gedacht werden können, die sich auch nicht auf das Paradigma der Rechtstaatlichkeit reduzieren lassen. Sowohl die negativen Erfahrungen des Grauens wie auch die positiven Entwicklungen der gewaltfreien politischen Transformationen sind für die Philosophie eine Einladung, ja eine Forderung, die Frage des Friedens am Anfang des 21. Jahrhunderts erneut und vielleicht neu zu stellen. Und dies nicht, obwohl viele Staaten und vor allem viele Demokratien seit fünfzehn Jahren scheinen, die Tugenden des Krieges wiederentdeckt zu haben und ihn im Namen der Demokratie, der Freiheit, der eigenen Verantwortung oder gar eines Ideals des zukünftigen Friedens zu legitimieren, sondern gerade weil wir uns fragen sollten, ob diese Denkweise nicht gefährlicher ist als die Übel, die sie zu bekämpfen vorgibt. 10 Im Zeitalter der Globalisierung verändern sich nicht nur die politischen, ökonomischen und religiösen Ordnungen und die Beziehungen zwischen ihnen. Es gibt nicht nur Verschiebungen, partielle Aufhebungen und zugleich, woanders oder in anderer Hinsicht, Verstärkungen der Grenzen zwischen Staaten, Völkern, Kulturen oder gesellschaftlichen Gruppen. Auch die Formen des Umgangs der Menschen und der Völker miteinander, die Regeln ihres Zusammenlebens sowie die Formen ihrer Konflikte und ihrer Regelung ändern sich (Vgl. zum letzten Punkt besonders den Beitrag von Monique Castillo). In Anbetracht dieser Veränderungen ist die grundsätzliche Frage der Friedensforschung nicht, oder nicht nur, wie Frieden gemacht, sondern wie er gedacht werden kann. Und dieses Denken könnte uns auch dahin führen, (u. a. mit Bernhard Waldenfels) zu fragen, ob Frieden gemacht werden kann, wie Krieg gemacht wird. Den Frieden denken 11 ist also für die Philosophie in einem beVgl. u. a. Sandrine Lefranc: Politiques du pardon. Paris 2002. Lefranc verbindet eine Analyse der politischen Transformationsprozesse in Südafrika, Argentinien, Uruguay und Chile mit einer kritischen Reflektion über Philosophien der Vergebung. 10 Dass Freiheit und Verantwortung in Zeiten und unter den Zeichen des Friedens anders gedacht werden können und wohl auch müssen, zeigen die Beiträge von Christina Schües und Alfred Hirsch. 11 Dies ist auch der Titel eines von Dieter Senghaas herausgegebenen und interdisziplinär angelegten Bandes: Frieden Denken. Si vis pacem, para pacem. Frankfurt a. M. 1995. 9
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Pascal Delhom, Alfred Hirsch
sonderen Sinne eine Herausforderung. Es ist eine Aufgabe des Denkens, das auf eine bestimmte Dringlichkeit antwortet. Dass sich uns allerdings der Frieden als etwas gibt und aufdrängt, was zu denken ist, gibt uns wenig Auskunft darüber, was gedacht werden soll und wie wir es zu denken haben. Wir können nicht von einem bestimmten Gegenstand oder von einer eindeutigen Frage ausgehen, sondern müssen im Denken selbst den Gegenstand sowie die Kategorien dieses Denkens finden oder erfinden. Ist der Frieden das Ende der Gewalt und des Krieges, die ihm immer und vielleicht sogar von Natur aus vorausgehen, oder ist er eine ursprüngliche Form des Zusammenlebens, die immer wieder von Gewalt und Kriegen unterbrochen wird? Ist der Frieden ein Zustand, ein Ereignis, ein Werk, eine Aufgabe? Ist er ein ontologisches, ein moralisches, ein politisches, ein zwischenmenschliches Phänomen, wenn er überhaupt ein Phänomen ist? Kann man von dem Frieden sagen, dass es ihn gibt, dass er entsteht, dass er gemacht wird und immer wieder werden muss, dass er uns leitet oder dass er unmerklich da ist, wenn ihn nichts stört? Kann der Frieden als ein eigenständiger Gegenstand gedacht werden oder nur in Bezug auf die Gewalt, den Krieg, die Unruhe, den Feind, denen er sich entgegensetzt? 12 In all diesen und in vielen anderen Fragen taucht der Begriff »Frieden« nicht als einheitliches Objekt der Fragestellung, sondern als definitorischer Spielraum, den es noch zu bestimmen gilt, auf. Und es ist nicht einmal sicher, ob es angemessen ist, von einem Spielraum im Singular zu sprechen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es möglich ist, den Begriff des Friedens inhaltlich derart zu bestimmen, dass diese Bestimmung nicht zur Quelle neuer Gewalt wird. Die Bestimmung des Friedens ist paradox, so Werner Stegmaier, weil sie nur in Bezug auf Gewalt oder Krieg erfolgen kann und weil sie darüber hinaus ohne Streit über die Bestimmung selbst kaum möglich ist. Die Philosophie Die vertretenen Philosophen sind Bloch, Jaspers und Marcuse. Ihre Texte waren schon 1995 mindestens 25 Jahre alt. Seitdem wurde sehr viel über Kant und in Anschluss an seine Abhandlung Zum ewigen Frieden geschrieben. Neuere philosophische Denkansätze sind selten. 12 Auch wenn der Frieden nicht unabhängig von der Frage der Gewalt und des Krieges gedacht werden kann (vgl. den Beitrag von Monique Castillo), müssen wir uns fragen, ob er nicht mindestens gleichursprünglich ist mit der Gewalt und entsprechend mit eigenen Kategorien des zwischenmenschlichen und des sozialen Lebens gedacht werden soll, die nicht nur die Umkehrung der Kategorien der Gewalt sind.
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Vielfltiger Frieden
des Friedens wäre entsprechend eine Geschichte von Versuchen der Entparadoxierung. Nach Gertrud Brücher verweisen allerdings all diese Versuche auf eine Präferenzstruktur, die immer eine Seite der – paradoxen – friedensrelevanten Unterscheidungen markiert, und die selber eine andere Quelle haben muss als diese Unterscheidungen. Wäre dann ein Denken des Friedens nicht primär ein Nachdenken über das Vorziehen des Friedens? Anhand solcher Gedanken wird besonders deutlich, dass ein Denken des Friedens die Bestimmung seines Objekts mit derjenigen seiner Herangehensweise unlösbar verbinden muss. Insofern ist die Dringlichkeit seiner erneuten Entfaltung in unserer Zeit nicht nur mit den historischen und politischen Veränderungen des letzten Jahrhunderts verknüpft, sondern auch mit den neueren Entwicklungen der Philosophie in den letzten Jahrzehnten: sei es mit der Kritik und mit Ansätzen der Überwindung der Moderne, sei es mit der Entstehung, in Anschluss an die Moderne, neuer Fragen und neuer Schwerpunkte, unter anderen in den Bereichen der Sprach-, der Kommunikations- und der Sozialphilosophie. Dies bedeutet nicht, dass die philosophische Tradition, die unser Denken des Friedens seit den Griechen und besonders seit dem Denken des Staates und des Rechts bei Hobbes und Kant prägt, außer Acht gelassen werden oder gar als überwunden gelten darf. Sie muss berücksichtigt, aber auch zum Teil neu beleuchtet, in vieler Hinsicht geprüft und kritisiert werden. Auch der Bezug auf Kant ist und bleibt eine bedeutende Referenz, wie Hajo Schmidt am Anfang seines Beitrags anmerkt. Er ist es als Quelle neuer Interpretationen und Hervorhebungen (Vgl. Iris Därmann oder Robert Bernasconi); er ist es auch für diejenigen, die von Kant ausgehen und sich dann anderen Ansätzen widmen (etwa Alfred Hirsch, Burkhard Liebsch oder Werner Stegmaier). Doch sind es weitgehend neue Ansätze des Denkens, zumindest in Bezug auf das Denken des Friedens, die bei den meisten Autoren des vorliegenden Bandes im Vordergrund stehen. So wird der Frieden in Zusammenhang mit einem Denken des Fremden (Henrique Otten) und des Eros (Hajo Schmidt) bzw. des Fremden und der Responsivität (Bernhard Waldenfels, Antje Kapust), der Hospitalität (Iris Därmann, Burkhard Liebsch), der Menschenrechte (Wulf Kellerwessel), der Übertragung und der Vergeltung (Petar Bojanic), der Freiheit (Christina Schües), der Verantwortung (Alfred Hirsch) und des Vertrauens (Pascal Delhom) gedacht. Die schon von Kant geprägte Frage der Beziehung zwischen Frieden und Moral spielt auch hier 23 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Pascal Delhom, Alfred Hirsch
unter Berufung auf so verschiedene Autoren wie Nietzsche (Werner Stegmaier), Lévinas (Robert Bernasconi, Alfred Hirsch) oder Habermas (Wulf Kellerwessel) eine wichtige Rolle. Für viele Autoren bilden nicht so sehr politische Strukturen und Institutionen oder soziale Systeme und Funktionen den Kern eines Denkens des Friedens, auch wenn sie notwendig berücksichtigt werden müssen, sondern die Menschen, die miteinander leben, sprechen, handeln (Antje Kapust spricht in diesem Sinne von einem »Faktor Mensch«). Und dies gilt unabhängig davon, ob diese Autoren den Frieden mit Derrida, der Systemtheorie, Arendt, Lévinas, der Phänomenologie oder der Psychoanalyse zu denken versuchen. In diesem Sinne sind die hier gesammelten Texte und Ansätze eines Denkens des Friedens absichtlich nicht einheitlich, auch nicht innerhalb der Sektionen, die zum Teil sehr unterschiedliche Texte zusammenbringen. Ihre Vielfalt geht auf die Pluralität der Menschen ein, die nicht ohne oder gegeneinander, sondern nur mit den anderen Menschen, im Respekt ihrer Andersheit Frieden machen bzw. in Frieden leben können, sowie auf die Pluralität ihres Denkens. Dies soll weder zu einem minimalistischen Konsens noch zu einem Relativismus der Positionen führen, sondern gleichzeitig zur Differenzierung der unterschiedlichen Ansätze und zur Möglichkeit eines Gesprächs zwischen ihnen. Der vorliegende Band zur Philosophie des Friedens geht auf eine Tagung zum Thema »Frieden, eine philosophische Herausforderung?« zurück, die die Herausgeber in Februar 2005 in Aachen organisiert haben. Die meisten Texte des Bandes sind damals vorgetragen, einige im Nachhinein hinzugefügt worden. Für die redaktionelle Arbeit an den Texten sei an dieser Stelle Nora Drees, Judith Schild und Christian Strauch (Kulturwissenschaftliches Institut Essen) ausdrücklich gedankt. Ebenso gilt unser Dank dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und der Deutschen Stiftung Friedensforschung für die großzügige Unterstützung.
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Sektion 1: Kritik des Friedensdenkens
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Turmbau zu Babel? Friedensarchitekturen in kriegerischer Zeit 1 Lothar Brock, Hendrik Simon
»Jede gewaltsame Reform verdient getadelt zu werden, weil sie das Übel nicht bessern wird, solange die Menschen so bleiben, wie sie sind, und weil die Weisheit Gewalt verschmäht.« – Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden, 1868/69. »Nur sanft sein, heißt noch nicht gut sein.« – Ernst Bloch, Widerstand und Friede, 1968. »Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Wenn im Zivilisationsprinzip selbst die Barbarei angelegt ist, dann hat es etwas Desperates, dagegen aufzubegehren.« – Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, 1966.
Für die Friedensforschung ist die Trennung von Krieg und Frieden konstitutiv. »Krieg« und »Frieden« treten damit terminologisch auseinander, sie sind unvereinbar – wo Frieden ist, kann kein Krieg sein (et vice versa). Gleichzeitig aber besteht tiefer Zweifel, ob es sich bei der Dichotomie von »Krieg und Frieden« wirklich um eine theoretisch stimmige Unterscheidung handelt. Denn allzu häufig scheinen die »harten Tatsachen der Politik« (Brock 2004), historisch betrachtet, eher für ein kontinuierliches Verschwimmen der Grenzen zwischen Krieg und Frieden 2 – und vielleicht sogar für die Charakterisierung der Krieg-Frieden-Dichotomie als politische oder juristische Fiktion – zu sprechen. (Vgl. Münkler 1992, 11) Auch unser heutiges Nachdenken über den Frieden ist stets eingebunden in die Erfahrung des Krieges. (Cortright 2008; Brock 2009) Heute ist es die »aus den Fugen geratene Welt«, das »globale Chaos« (Zumach 2015), es sind die mörderischen Exzesse der Gewalt in Irak 1 2
Überarbeiteter Vortrag aus Anlass des 75. Geburtstages von Dieter Senghaas. Vgl. etwa J. Galtung 1998, 43 ff.; siehe unten.
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Turmbau zu Babel?
und Syrien, aber auch in der zentralafrikanischen Republik, im Südsudan oder in Nordnigeria, es ist das Elend der Flüchtlinge, die erneute militärische Konfrontation zwischen Ost und West im Gefolge des Ukraine-Konflikts und es ist das Säbelrasseln Chinas im südchinesischen Meer sowie die Aufkündigung aller bisher so verstandenen Standards angemessenen Verhaltens durch die gegenwärtige US-Administration, die unser Denken herausfordern. 3 Wir leben in rauen Zeiten und müssen uns darauf einstellen, dass es so bald nicht besser werden wird. Das Auswärtige Amt stellt sich bereits darauf ein. Es hat beschlossen sich umzuorganisieren. Eine von drei Abteilungen befasst sich fortan mit der Frage, wie mit den Krisen der Welt umgegangen werden soll und kann; denn die Krise, so der damalige Außenminister und jetzige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2015, »wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren der Normalzustand sein«, nicht die Ausnahme. (Sattar 2015) Müssen wir also davon ausgehen, dass der Friede in der Zukunft das sein wird, was er in der Vergangenheit stets war (vgl. E. Jahn 2012, 10): eine regional begrenzte Zwischenkriegszeit, die mal kürzer, mal länger dauert, aber nie lange genug, um die Menschen das Kriegführen verlernen und schließlich sogar vergessen zu lassen? Steht der Friede in diesem Sinne auch weiterhin unter dem Vorbehalt des Krieges? Und muss in einer unfriedlichen Welt die Vorbereitung auf den Krieg immer noch als die beste Friedensstrategie betrachtet werden, wie dies auch in den liberalen Demokratien wieder in zunehmendem Maße (und zuweilen auch schon wieder mit Begeisterung) geschieht? »Si vis pacem, para bellum« steht über dem Tor zum großen Arsenal in Venedig: »Wenn Du den Frieden willst, rüste zum Krieg«. Das ist eine Maxime, die der römische Staatsmann und Denker Cicero im Jahre 43 vor Christus im Kampf um die Erhaltung der römischen Republik ausgab. (Vgl. Stroh 2008, 114 f.) Diese Maxime hat Schule gemacht. Sie ist in verschiedenen historischen Kontexten ausbuchstabiert worden. (Czempiel 1998, 155) Mit der Politik der nuklearen Abschreckung wurde sie ins Monströse gesteigert. Die nukleare Abschreckung als »Friedensstrategie« 4 brachte die Menschheit mehrfach an den Rand der Selbstvernichtung, und sie hat nicht verhindert, dass – während die Waffen in 3 4
Vgl. den Friedensgutachten 2015; siehe auch Roth et al. 2015. Ebd., 13 ff., 229; zur Thematik vgl. auch Müller 2014.
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der großen Konfrontation zwischen Ost und West schwiegen – viele kleine Kriege ausgetragen wurden, die gleichwohl katastrophale Folgen für die Betroffenen und gravierende Auswirkungen auf die Weltpolitik hatten (Verschärfung der Ost-West-Konfrontation). 5 Einige dieser kleinen Kriege endeten, als der Ost-West-Konflikt zu Ende ging, andere gingen unbeeindruckt weiter und wieder andere entbrannten neu. 6 Heute jedoch rückt als eine mögliche Folge der globalen Machtverschiebungen auch wieder der große Krieg ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. War Kant für die Katz?
Die normative Verknpfung von Krieg und Frieden Die Idee des Friedens entspringt der Geschichte des Krieges: In diesem Sinne ist der Krieg dem Frieden also nicht äußerlich, sondern vielmehr ein ihm inhärentes Movens. 7 Die Idee einer progressiven Kraft des Krieges hatte auch Immanuel Kant 1784, man könnte sagen: im dialektischen Vorgriff auf Hegel, eingeräumt, und zwar in dem Sinne, dass die Barbarei des Krieges Anlass für die Rückbesinnung des Menschen auf seine Vernunft – und damit auf den Frieden – sein könne. 8 Die Beobachtung dieser Dialektik von Krieg(serfahrungen) und Frieden(skonzeptionen) kann natürlich auch etwas hoffnungsfroher gelesen werden, nämlich so, dass die Idee des Friedens aller Kriegserfahrung standgehalten hat; und mehr noch – aber schon wieder bedenklich – dass die Mehrzahl der Kriege (zumindest in der Neuzeit) im Namen des Friedens, im Namen seiner Wiederherstellung oder Bewahrung, geführt wurden. 9 Darin liegt auch das zentrale Problem: Die allgemeine Wertschätzung des Friedens ist offenbar kein Grund, auf den Krieg zu verzichten. Im Gegenteil: Sie kann sogar dazu dienen, Kriege zu Vgl. Daase 1999; Greiner et al. 2008. Vgl. Kaldor 2000; Münkler 2002; zur Debatte, ob es sich dabei wirklich um »neue Kriege« oder nicht eher um neue (oder erneute) Wahrnehmungen handelt, siehe Geis 2006. 7 Vgl. Joas 2000; Münkler 1992; Brock 1996; Brücher 1996. 8 Vgl. Kant 1912/23 (1784), 25 f.; Siehe zur Bedeutung von Krieg bei Kant und Hegel auch Schoch 2004, 18 f., 29. 9 Vgl. Hirsch 2004, 326 f.; Koppe 2001, 46; Siehe auch Brock 2002, 100. 5 6
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rechtfertigen. Damit das Wort die Gewalt suspendieren könne, so Alfred Hirsch in Rückgriff auf Derrida, müsse es selbst eine gewisse Gewaltsamkeit besitzen. 10 Wenn der Friede das höchste Gut ist, darf man, ja muss man dann nicht vielleicht sogar mit Waffengewalt für ihn eintreten? In diese Richtung wies auch Ernst Blochs Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels von 1967, die er mit den Worten einleitete: »Nur sanft sein, heißt noch nicht gut sein.« (Bloch 1968; Zimmermann 2016) Das Gute tun kann also die (zumindest vorübergehende) Suspendierung des Sanften sein. Das bedeutet, dass das dem Krieg zugrundeliegende Übel durch Gegen-Gewalt beseitigt, oder jedenfalls eingedämmt werden muss. Das Unbehagen, das solche Annahmen auslösen, hat Leo Tolstoi seine Romanfigur Pierre Besuchow 1809 in Petersburg mit den Worten ausdrücken lassen, jede »gewaltsame Reform« sei zu tadeln, »weil sie das Übel nicht bessern wird, solange die Menschen so bleiben, wie sie sind.« (Tolstoi 1922, 270) Diese für die Friedenstheorie 11 und Friedensethik so zentralen Fragen führen uns, man ist intuitiv geneigt zu sagen: paradoxerweise, zur Lehre vom »gerechten Krieg« (bellum iustum), die seit den 1990er Jahren im Zusammenhang mit »humanitären Interventionen« und dem »Krieg gegen den Terrorismus« wieder starkes Interesse findet – besonders in der Version, die der Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus Anfang des 5. Jahrhunderts im Kontext der Konstantinischen Neuordnung des römischen Reiches formuliert hat. Die Urchristen waren bekanntlich konsequente Pazifisten. Aber in dem Maße, in dem sie in die spätrömische Gesellschaft integriert wurden und auch in den Dienst des Staates traten, stellte sich die Frage, ob ihnen damit nicht auch eine direkte oder indirekte Beteiligung am Krieg erlaubt sein müsse. Augustinus lieferte eine bis heute viel diskutierte Antwort. 12 Er argumentierte, dass eine Kriegsbeteiligung der Christen dann zulässig sei, wenn der Krieg auf die Wiederherstellung oder Bewahrung des Friedens gerichtet sei und der christliche Soldat folglich im Krieg dem Frieden diene. Das war keineswegs nur zynisch. ZuminVgl. Hirsch 2004, 327; siehe auch Schoch 2004, 18 f. Zur Debatte um »enge« und »weite« Friedensbegriffe vgl. Chojnacki, Namberger 2011; zur Anfälligkeit des »weiten Friedens« für Gewaltlegitimationen vgl. auch Brock 2002, 100; Brücher 1996. 12 Vgl. Walzer 1977; Neff 2014, 67. Siehe auch das jüngst erschienene Sonderheft von Ethical Perspectives, 24 (2017). 10 11
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dest theoretisch erhöhte die augustinische Verknüpfung von Krieg und Frieden die Anforderungen an die Rechtfertigung von Gewalt. Zugleich erweiterte sie aber auch das Spektrum möglicher Rechtfertigungen des Krieges. In dieser Gleichzeitigkeit der Legitimation und Limitation des Krieges liegt das grundlegende Dilemma der Lehre vom »gerechten Krieg« wie auch des Völkerrechts. (Simon 2016) Dieses Dilemma versuchte Thomas von Aquin einige hundert Jahre später durch eine Ausdifferenzierung der Kriterien einzugrenzen, unter denen Krieg erlaubt sein soll: das Vorliegen einer Rechtsverletzung, die Ausrichtung des Krieges auf die Wiederherstellung des Rechts, die Verhältnismäßigkeit der Mittel, eine rechtmäßige Befugnis zur Entscheidung über die Anwendung von Waffengewalt und die Aussicht auf Erfolg. (Beestermöller 1990) Damit wurden die Anforderungen an die Rechtfertigung von Gewalt weiter erhöht, aber die Möglichkeit, die Lehre für die Rechtfertigung von Gewalt zu nutzen (statt für die beabsichtigte Begrenzung), blieb bestehen.
Vom Kriegs- zum Friedensrecht: Eine Fortschrittserzhlung Mit der Herausbildung des neuzeitlichen Staatensystems stellte sich die Frage, ob die Lehre vom »gerechten Krieg« nicht zu einem unauflösbaren Knäuel rivalisierender Gerechtigkeitsansprüche führen müsste, in dem es prinzipiell unmöglich wäre, die Zulässigkeit von Gewalt nach der Lehre vom »gerechten Kriege« zu beurteilen. (Vgl. O’Connell 2014; Neff 2014) Bei diesem Problem setzte das moderne Völkerrecht an. In der Tendenz ersetzte es das moralische Abwägen über die Anwendung von Gewalt durch die Vorgabe rechtlicher Normen und Verfahren für die Anwendung von Gewalt. Allerdings trat das Völkerrecht zunächst nur in höchst bescheidener Form in Erscheinung. Es kümmerte sich mehr um die Ausarbeitung des Rechts im Kriege (ius in bello) als um die Kritik des Rechts zum Kriege (des ius ad bellum). Mit der zunehmenden Monopolisierung der Gewalt in den modernen Staaten wurde vielmehr, in Teilen der Völkerrechtstheorie, weniger jedoch in der politischen Praxis, 13 das »freie Recht zum Krieg« (liberum ius ad bellum) ein In frühneuzeitlichen Kriegserklärungen wurde weiterhin auf den »gerechten Krieg« verwiesen, siehe Tischer 2012.
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wirksames machtpolitisches Rechtfertigungsnarrativ. Deshalb nannte Immanuel Kant die Väter des modernen Völkerrechts lauter »leidige Tröster«, die mit ihren Regeln für den Krieg nur immer neue Möglichkeiten seiner Rechtfertigung schüfen, so dass man sich wundern müsse, dass in diesem Zusammenhang überhaupt noch von »Recht« gesprochen werde. (Kant 1912/23b, 355) Tatsächlich hatte Kant damit einen kritischen Punkt in der Geschichte des Völkerrechts getroffen, nämlich die konstitutive Verflechtung seiner Herausbildung als normative Ordnung mit der Legitimation von Krieg, Imperialismus und Kolonialismus: Das Völkerrecht formierte sich entlang der Dichotomie von »Innen« und »Außen« (Vec 2016), und unterschied dabei noch im 19. Jahrhundert zwischen »zivilisierten«, europäischen Staaten, und »unzivilisierten« Entitäten. Das Völkerrecht war damit Teil der Geschichte gewaltsamer »Zivilisierungsmissionen« (Barth, Osterhammel 2005), denen es Gewalt legitimierendes Vokabular zur Verfügung stellte. (Fisch 1984; Anghie 2004) Kant selbst forderte dagegen in seiner Friedensschrift sowie in seiner Rechtslehre einen radikalen Perspektivwechsel: weg von der Freiheit der Staaten, über die Anwendung von Gewalt eigenmächtig zu entscheiden, weg auch von der völkerrechtlich verbrämten imperialistischen Landnahme, 14 hin zu einer internationalen Rechtsordnung, die ein friedliches Zusammenleben aller ermöglichen würde. (Ebd.) Kants Friedensplan setzte keineswegs einen neuen (guten) Menschen voraus. Kant war in diesem Punkt Realist. Sein Menschenbild entsprach dem von Thomas Hobbes. (Dazu Mendieta 2004) Trotzdem kommt er zu einem ganz anderen Ergebnis als Hobbes: Kant argumentiert bekanntlich als Mensch der Aufklärung, dass sein Friedensplan einem universellen Vernunftgebot entspräche. (Vgl. Colomer 2015) Selbst in einer Welt von Teufeln, so Kant, würde der von ihm propagierte Weg eingeschlagen, sofern diese Teufel bereit wären, sich dem zu unterwerfen, was die Vernunft (also das wohlverstandene Eigeninteresse) gebiete. Weil aber das Vernünftige nicht immer als das Richtige erkannt und noch viel weniger befolgt werde, sei es von zentraler Bedeutung, dem Verhalten der Menschen wie der Staaten durch eine gute Verfassung auf die Sprünge zu helfen. Zu diesem Zweck propagierte Kant eine Demokratisierung der Staaten, die die Kriegslust ihrer Re14
Zu Kants Kritik am Kolonialismus siehe jüngst Williams 2014.
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gierungen dämpfen, einen Staatenbund, der einer Vertrauensbildung unter den Staaten dienen und die Schaffung einer weltbürgerlichen Verfassung, die Freizügigkeit in wechselseitigem Respekt für die Lebensinteressen des Anderen ermöglichen würde. 15 Der Form nach sind die Grundvorstellungen Kants seit Mitte des 19. Jahrhunderts in erstaunlichem Umfang in die Entwicklung des Völkerrechts und die Institutionalisierung internationaler Zusammenarbeit eingegangen. Seit Ausgang des 18. und quer durch das 19. Jahrhundert vollzogen sich nicht nur große politische Umbrüche, denen bis in die Gegenwart mehrere Wellen der Demokratisierung folgten; es gab auch die erste und zweite industrielle Revolution mit der Folge, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer enormen Verdichtung der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung kam. Diese Entwicklung verlangte nach neuen Formen der Regelung von Kommunikation und Verkehr. (Vec 2006) Zu diesem Zweck wurden neuartige Einrichtungen geschaffen: die ersten internationalen Organisationen wie der Weltpostverein, die Internationale Telegraphenunion oder das Handelsbüro der Amerikanischen Republiken (die spätere Pan American Union und heutige Organisation Amerikanischer Staaten). Diese Ansätze einer organisierten und normierten internationalen Zusammenarbeit waren in ihren Anfängen eher technisch ausgerichtet. Politische Kooperation blieb in der Gestalt des mit dem Wiener Kongress 1814/15 geschaffenen »Europäische[n] Großmächtekonzert[s]« den fünf europäischen Großmächten vorbehalten. (Zamoyski 2007; Brock/Simon 2016) In dieser Eigenschaft diente das Mächtekonzert ansatzweise aber auch dem Konfliktmanagement. (Schulz 2009) Ende des 19. Jahrhunderts gewann dann auch Kants Idee einer rechtlichen Verbindung zwischen den Staaten an Bedeutung. Der Grund hierfür war, dass die politische Sprengkraft der gesellschaftlichen Umbrüche innerhalb der europäischen Staaten zum Teil nach außen abgeleitet wurde, und zwar in Form eines militanten Nationalismus, der den ideologischen Raum für einen verschärften Wettlauf der europäischen Staaten um Macht (in Gestalt der Aufrüstung) und um Ressourcen (in Gestalt des Kolonialismus) bot. Es gab also beides: ein zunehmendes Bewusstsein für die Einheit der Welt, das sich in 15
Kant 1912/23b; Habermas 1995; Brock 2004.
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den ersten Weltausstellungen manifestierte, und zugleich eine wachsende Machtkonkurrenz unter den damaligen Weltmächten, also den europäischen Staaten, in der sich die Gegenwart des Krieges in der Moderne manifestierte. (Knöbl/Schmidt 2000) Unter dem Eindruck dieser brisanten Entwicklung begannen die Völkerrechtler zu Beginn des 19. Jahrhunderts an der Umwandlung des Völkerrechts von einem Kriegs- zu einem Friedensrecht zu arbeiten. (Brock 2012) Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, der unter dem Eindruck konkurrierender Gerechtigkeitsansprüche begonnen worden war, stellt eine Zäsur im zeitgenössischen Völkerrechtsdiskurs dar: 16 Einerseits bot das Deutsche Kaiserreich den Nährboden für jenes Denken, das in enger Nähe zum Militär und unter dem prägenden Einfluss Carl von Clausewitz’ den Krieg als Fortsetzung der Politik in anderer Form definierte, und, davon ausgehend, ein »freies Recht zum Krieg« postulierte; denn Krieg sei, so der deutsche Jurist Karl Lueder, eine historische Tatsache, eine lex lata naturae. Auf der anderen Seite argumentierten liberale Juristen wie Johann Caspar Bluntschli gegen die juristischen Clausewitzianer. Krieg sei als politisches Instrument verwerflich – und damit auch das vermeintliche »freie Recht zum Krieg«. Ausgehend von der Kriegserfahrung von 1870/71 setzten diese Völkerrechtler auf ein Recht gegen den Krieg (ius contra bellum). Diese Bemühungen fanden ihren ersten Ausdruck in den beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Auf diesen Haager Friedenskonferenzen wurde das vermeintliche, von Clausewitzianern behauptete und sich bis heute als Mythos in der Völkerrechtsgeschichte haltende »freie Recht zum Krieg« (ebd. 82 f.) vorsichtig in Frage gestellt und mit einer allgemeinen Friedenspflicht konfrontiert. Die Völkerrechtler wurden so zu »sanften Agenten der Zivilisierung«, wie das Martti Koskenniemi ausgedrückt hat. (Kostenniemi 2001) Wie der Ausbruch des Ersten Weltkrieges sowie die zahlreichen Verletzungen des ius in bello (von Hull 2014) belegen, waren die völkerrechtlichen Zivilisierer nicht erfolgreich. Aber ihre Ideen wurden durch den Weltkrieg nicht ausgelöscht. Im Gegenteil: Aus ihm ging die von Kant geforderte allgemeine Internationalen Organisation hervor, der Völkerbund. Wurde damit der von Kant geforderte Paradigmenwechsel doch noch vollzogen? 16
Zum folgenden Absatz Simon 2017.
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In konzeptioneller Hinsicht ja: Der Völkerbund sollte die Bündnispolitik, die dem alten Kriegssystem entsprach, durch kollektive Friedenssicherung ersetzen; die eigenmächtige Anwendung von Gewalt durch einzelne Staaten und Bündnisse sollte durch kollektiven Widerstand der übrigen Staaten verhindert oder eingedämmt werden. Im Briand-Kellogg Pakt von 1928 und dann vor allem in der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 wurde diese Idee verstärkt. Der Briand-Kellogg-Pakt verbietet den Angriffskrieg; die Charta spricht ein allgemeines Gewaltverbot aus und verbindet die kollektive Friedenssicherung mit der friedlichen Streitbeilegung auf globaler und regionaler Ebene. In diesem Sinne kann man von der ansatzweisen Herausbildung einer Friedensarchitektur sprechen, die darauf ausgerichtet ist, das alte System imperialer Ordnungspolitik durch kollektives Handeln und eine organisierte Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, sozialem, ökologischem und kulturellem Gebiet zu ersetzen. Aufs Ganze betrachtet kann man also festhalten, dass die Entwicklung des Völkerrechts ganz im Sinne Kants zu einer fortschreitenden Einschränkung der rechtlich zulässigen Anwendung von Gewalt geführt hat: von der Infragestellung des »Rechts zum Kriege« über die Etablierung einer allgemeinen Friedenspflicht bis zum allgemeinen Gewaltverbot, wie es die UN-Charta in Art. 2/4 ausspricht.
Von der Friedenshoffnung zur Friedensstiftung Ein Durchbruch zu der von Kant intendierten Friedensordnung wurde damit aber, wie wir täglich sehen, nicht erreicht: Der Friede als Norm hat zwar an Gewicht gewonnen, aber trotzdem werden Kriege geführt, wobei die rechtliche Einhegung der Gewalt durch die Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg sogar konzeptionell wieder in Frage gestellt wird. 17 Damit droht der von Kant geforderte und in der bisherigen Völkerrechtsentwicklung vollzogene Paradigmenwechsel sogar in sich zusammenzubrechen. Mit den Worten des Frankfurter Völkerrechtlers Michael Bothe: »Clausewitz lebt. (…) Hier stoßen wir an die Grenzen des Diskurses, der das Gewaltverbot letztlich trägt.« (Bothe 2010, 69 f.)
17
Chesterman 2002; vgl. Brock 2004; B. Jahn 2012.
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Also doch wieder: Kant für die Katz? War tatsächlich alles vergeblich? Oder gibt es historische Erfahrungen, die uns ermutigen, trotz allem an der Idee einer Zivilisierung des Umgangs der Menschen miteinander festzuhalten? Wie schon Günter Anders zehn Jahre zuvor, stellten Dieter und Eva Senghaas dem kriegerischen »Si vis pacem, para bellum« in den 1990er Jahren die Friedensmaxime »Si vis pacem, para pacem« entgegen – »Wenn Du den Frieden willst, dann schaffe Frieden«. (Senghaas u. Senghaas 1992) Zu diesem Zweck warf Dieter Senghaas in den 1990er Jahren zwei viel diskutierte Thesen in die Debatte über eine neue Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (Senghaas 1995; 1998): Die erste These lautet im Anschluss an Norbert Elias, 18 dass die Zivilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht nur eine Idee ist, die in den Köpfen der Philosophen spukt, sondern dass sie sich in zahlreichen modernen Gesellschaften bereits vollzogen habe. Die zweite These lautet, dass die Zivilisierung zwischengesellschaftlicher Beziehungen keineswegs an kulturellen Differenzen oder Konflikten zwischen den unterschiedlichen Kulturen scheitern muss; denn der von Samuel Huntington diagnostizierte »Zusammenstoß der Kulturen« (Huntington 1998) sei in Wahrheit ein Zusammenstoß der jeweiligen Kulturen mit sich selbst. Zur ersten These: Sie bezieht sich auf das von Dieter Senghaas entwickelte »zivilisatorische Hexagon«. In diesem Hexagon werden sechs Anforderungen an ein friedliches Zusammenleben formuliert. Diese Anforderungen entspringen nicht einem akademischen Modelldenken, sondern sind, so Senghaas, aus der realhistorischen Entwicklung von Zivilisierungsprozessen (in Europa) abgeleitet. Senghaas’ sechs Eckpunkte einer funktionierenden Friedensordnung konnte in den 1990er Jahren jeder Studierende auswendig. Für die später Geborenen seien sie wiederholt: ein funktionierendes Gewaltmonopol des Staates, die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und von demokratischer Partizipation, komplexe Lebenszusammenhänge, die eine Kontrolle der eigenen Affekte verlangen, die von allen geteilte Aussicht auf mehr soziale Gerechtigkeit und die Fähigkeit zum Kompromiss als Kern einer friedensdienlichen Kultur des Umgangs mit Konflikten. (Senghaas 1995, 198–209)
18 Zum paradoxen Verhältnis von Gewalt und Ordnung bei Norbert Elias siehe Elias 1977, 451 f.
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Wo sich diese Verfahrensmuster und Fähigkeiten der Einzelnen und der Gruppen herausbilden, so die These, sind sie das Ergebnis langwieriger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Sie fallen also nicht vom Himmel, sondern sind hart erkämpft und müssen immer wieder neu gefestigt werden. Zivilisierungsprozesse verlaufen dementsprechend weder gradlinig noch unumkehrbar. Aber sie sind real, sie haben zu einer Befriedung jener Gesellschaften geführt, die wir heute zum globalen Westen, also zur OECD-Welt zählen, und sie haben auch das Verhältnis zwischen diesen Staaten nachhaltig befriedet (Demokratischer Friede 19 ). Aber wie steht es mit dem Verhältnis der OECD-Welt zu den übrigen Staaten, die bisher keine dem Westen vergleichbaren Umbrüche erlebt haben, und wie ist die neuerliche Virulenz von Nationalismus und Chauvinismus, von Missgunst, Hass und Gewaltphantasien in den liberalen Demokratien selbst einzuschätzen? Was zunächst das Verhältnis zwischen OECD-Staaten und dem »Rest der Welt« betrifft, so kommt hier Senghaas’ zweite These ins Spiel.
Die Gegenwart des Krieges Dieter Senghaas verbindet seine Vorstellung von Zivilisierung mit einem makrotheoretischen Denkansatz, nämlich dem der Modernisierungstheorie. Zivilisierung hat es demnach mit dem Übergang von einer traditionalen in eine moderne Gesellschaft zu tun. Modernisierung begünstigt, so folgt aus diesem Zusammenhang, die Etablierung einer Ordnung, in der Konflikte ohne Rückgriff auf eigenmächtige Gewalt ausgetragen werden: Der »Gegenwart des Krieges« (Knöbl/Schmidt 2000; Joas 2000) steht so die Zukunft des Friedens gegenüber. Diese Sichtweise verbindet sich mit der Annahme, dass nach und nach alle Staaten mit den Anforderungen einer modernen Gesellschaft konfrontiert werden. Das löst in all diesen Staaten innergesellschaftliche Konflikte aus, bei denen die Herrschenden sich gern als Sachwalter der Kultur des jeweiligen Landes zu legitimieren versuchen. Ein aktuelles Beispiel dafür bietet die kulturelle Selbst-
Die Literatur dazu ist inzwischen kaum noch überschaubar. Eine interessante Perspektive entwickelt Anna Geis (2013).
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abgrenzung Russlands gegenüber westlichen Werten, die von Putin bekanntlich als degoutant und dekadent geschmäht werden. Solche aggressiven Abgrenzungen sind aus demokratisierungstheoretischer Perspektive wie sie Senghaas vertritt nicht Ausdruck unaufhebbarer kultureller Differenzen, sondern Teil der notwendigen Auseinandersetzung der jeweiligen Gesellschaften mit den eigenen Kulturtraditionen. In diesem Sinne schrieb die Süddeutsche Zeitung zu den politischen Unruhen im heutigen Afrika, bei diesen Unruhen gehe es um einen »Aufstand Afrikas gegen sich selbst«, gegen seine Unfähigkeit, auch 50 Jahre nach der Entkolonialisierung die eigenen kolonialen Denkweisen und Verhaltensmuster zu überwinden. (Zick/Neshitov 2015) Diese Argumentation müsste man dann aber heute auch auf die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den »modernen« Gesellschaften beziehen, also vor allem auf den sich ausbreitenden autoritären Populismus und Nationalismus in den liberalen Demokratien. Soweit modernisierungstheoretische Ansätze hier versagen, dürfte das auch deren Erklärungswert für die Entwicklungen in anderen Teilen der Welt schmälern. Außerdem liegt hier eine Rückfrage nahe: Ist es mehr als »leidiger Trost«, um mit Kant zu sprechen, wenn man feststellt, dass die Auseinandersetzungen im globalen Süden in erster Linie Auseinandersetzungen der betroffenen Gesellschaften mit sich selbst sind? Denn wenn dem auch so sein sollte, so haben diese Auseinandersetzungen doch erhebliche internationale oder sogar weltpolitische Folgen. In Europa haben die innergesellschaftlichen Kämpfe im Prozess der »Modernisierung« jedenfalls zu erheblichen Spannungen zwischen den Staaten und schließlich sogar zu zwei Weltkriegen geführt. (Tilly 2000; Joas 2000) Mit der Feststellung, die Kulturen lägen mit sich selbst im Konflikt, ist in friedenspolitischer Hinsicht offenbar weniger gewonnen, als diese Feststellung verspricht. Hier kommt eine weitere Frage ins Spiel: Sind die kulturell definierten Abgrenzungstendenzen in weiten Teilen des globalen Südens und in Russland nicht auch Ausdruck der Widersprüche, mit denen die Politik der liberalen Demokratien gegenüber diesen Staaten behaftet ist? Wir möchten hier nicht als Putin-Versteher argumentieren. (Peters 2014) Aber Putins Strategie, die eigene Herrschaft unter anderem mit einer militanten kulturellen Abgrenzung gegenüber dem Westen zu stabilisieren, funktioniert offenbar auch deshalb so gut, 37 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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weil der Westen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts schlechten Gebrauch von seiner hegemonialen Stellung gemacht hat. 20 Und angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in den USA und in Europa besteht derzeit wenig Anlass zur Hoffnung auf Besserung. Statt an der Friedensarchitektur der Vereinten Nationen konsequent weiterzuarbeiten, sind westliche Staaten zwischenzeitlich eher der Versuchung erlegen, sich auf einen Multilateralismus à la carte zurückzuziehen. Das trifft nicht nur, aber in besonderer Weise auf die USA nach 1990 zu. Mit dem Ende des Kalten Krieges waren die USA die einzige verbliebene Supermacht. Der dementsprechende »unipolar moment« (Charles Krauthammer) wurde nicht zum Ausbau des UN-Systems genutzt, sondern zur Ausweitung des eigenen Handlungsspielraumes. Wie etwa Richard K. Betts es formuliert hat: »When the United States became more secure, it became more forceful.« (Betts 2012) Allerdings gilt das nicht umgekehrt: Als die Bedrohungsvorstellungen nach den Terroranschlägen von 2001 rapide zunahmen, führte das keineswegs zu einem stärkeren Engagement für den Multilateralismus, sondern zu noch deutlicheren Alleingängen im Rahmen von informellen »Koalitionen der Willigen« (Afghanistan, Irak). Die unter Präsident Obama sich andeutenden Rückzugstendenzen aus dem zuvor praktizierten Interventionismus kamen den UN ebenfalls kaum zugute. Unter der gegenwärtigen Präsidentschaft dienen sie einem militanten Unilateralismus, der an die in den 1930er Jahren praktizierte Politik der Kostenabwälzung (»beggar thy neighbour«-Politik) erinnert, jetzt aber kombiniert mit einem New Deal für Investoren statt für sozialen Ausgleich wie unter Franklin D. Roosevelt.
Demokratischer Frieden. Demokratischer Krieg – einerlei und zweierlei Die Frage, inwieweit liberale Demokratien eher als Nicht-Demokratien bereit sind, sich in internationalen Organisationen zu engagieren und sich an die Normen einer kooperativen internationalen Ordnung zu binden, wurde in den vergangenen Jahren intensiv im Zusammenhang mit dem Theorem des »demokratischen Friedens« 20
Hyland 1999; Czempiel 2002; Robert 2006.
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diskutiert. Es beruht auf der Beobachtung, dass Demokratien untereinander (fast) keine Kriege führen. Dafür gibt es ganz unterschiedliche, sich immer auch auf Kant berufende Erklärungen. (Hayes 2011) Im Mittelpunkt der neueren Forschung steht allerdings die Frage, warum die Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien genauso gewaltsam auftreten wie andere Nicht-Demokratien und warum Demokratien sogar besondere Gründe für die Anwendung von Gewalt haben, die so bei Nicht-Demokratien nicht gegeben sind (Durchsetzung humanitärer Grundnormen, erzwungene Demokratisierung). Mit Blick auf solchen Gewaltgebrauch kann man von »demokratischen Kriegen« sprechen. 21 Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung hat das in einem umfangreichen Forschungsprogramm untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Demokratien im Umgang mit Nicht-Demokratien sogar besonders aggressiv sein können, weil sie in ihnen einen von Kant so bezeichneten »ungerechten Feind« sehen. (Geis et al. 2006; Geis et al. 2007) Was aber ist ein ungerechter Feind? Nach Kant ist das eine Regierung oder ein Machthaber, deren bzw. dessen »öffentlich […] geäußerter Wille einer Maxime folgt, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich wäre, sondern der Naturzustand verewigt werden müsste«. 22 Die Regierung George W. Bushs war bekanntlich sehr rührig bei der Identifizierung solcher ungerechter Feinde in Gestalt von »Rogue States«, also Schurkenstaaten. Und sie war nicht zimperlich im Umgang mit ihnen. Die Bush-Administration war in diesem Zusammenhang auch nicht zimperlich im Umgang mit dem Völkerrecht. Putin hat zwar Unrecht, wenn er sich bei der Rechtfertigung der Annexion der Krim auf das westliche Verhalten im Kosovo-Konflikt beruft. 23 Aber wenn der Westen sich heute über die russische Völkerrechtspolitik beklagt, dann klingt das angesichts der eigenen Völkerrechtspolitik der vergangenen Jahre doch ein bisschen schlitzohrig. Schließlich kann, wie von einigen Kritikern angeführt, in der hochgradig selektiven Gewaltanwendung westlich-liberaler Demokratien auch eine Renaissance jener imperialistischen »Zivilisie21 22 23
Siehe hierzu auch den Beitrag von Lutz Schrader im vorliegenden Band. Kant 1977, 473; dazu Müller 2006. Putin 2014; siehe Dembinski et al. 2014, 6.
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rungsmissionen« gegenüber »Nicht-Demokratien« gesehen werden, die für die Herausbildung der »liberalen« Politik und seines Völkerrechts im 19. Jahrhundert so zentral waren. (Jahn 2012; Anghie 2004) Gleichwohl ist hier einzuwenden, dass sich unter dem Begriff »des Liberalismus« auch zurückhaltende, nicht-interventionistische Linien erkennen lassen. Fassen wir also bis hierhin zusammen: Die Geschichte zeigt eine Reihe erfolgreicher innergesellschaftlicher Zivilisierungsprozesse, die auch dem Frieden zwischen den Staaten dienen. Solchen Zivilisierungsprozessen stehen keine essentiellen, unaufhebbaren Kulturkonflikte entgegen. Der Kampf Afrikas oder der arabischen Welt ist aber ein Kampf mit gravierenden internationalen Folgen und dies auch deswegen, weil weder die afrikanische noch die arabische oder irgendeine andere Welt sich in der Vergangenheit isoliert vom Rest der Welt entwickelt hat. Der Kampf der Kulturen mit sich selbst ist daher immer zugleich ein Kampf mit jenen Deformationen, die sie in ihren Beziehungen mit den jeweils dominanten Gesellschaften erfahren haben. Der Kampf der Kulturen mit sich selbst hat schließlich auch erheblichen Einfluss auf ihr internationales Umfeld, ja sogar – wie der Sicherheitsrat mehrfach festgestellt hat – für den Weltfrieden. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich die Gefahr einer immer neuen Militarisierung der internationalen Politik.
Worauf darf gehofft, woran sollte gearbeitet werden? Überall in der Welt scheinen heute Abrisskolonnen unterwegs zu sein, die die Errungenschaften von Aufklärung und Modernisierung demolieren – und zwar nicht nur dort, wo der »Islamische Staat« wütet, sondern weit darüber hinaus: in Russland, in der Ukraine, in China, in Mexiko, wo in den vergangenen zehn Jahren 60 000 bis 80 000 Menschen im Drogenkrieg ums Leben gekommen sind, aber eben auch in Europa und den USA. Von Finnland bis Frankreich, von Norwegen bis Ungarn gewinnen rechtskonservative politische Parteien an Einfluss. Es wachsen Nationalismus und Chauvinismus, Wut und Hass. Kurzum: Das Projekt Europa wankt. Und in den USA wird gerade jener Albtraum zur Realität, den der US-amerikanische Schriftsteller Sinclair Lewis 1935 beschrieb. »It Can’t Happen Here«, war der Titel des Buches. Seit Oktober 2016 40 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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wissen wir: Es kann hier geschehen, es ist hier geschehen, dass ein alle Errungenschaften der liberalen Welt verachtender Demagoge zum Präsidenten des mächtigsten Landes der Welt gewählt worden ist. Dieser Albtraum kann noch gesteigert werden, nämlich in Form einer offensichtlich nicht ganz unbegründeten Mutmaßung, dass die Populisten im Westen ein Produkt des dort vorherrschenden Liberalismus sind. So fällt es von Tag zu Tag schwerer, sich anhand von Kants Fragen nach dem, was man wissen kann, tun soll und hoffen darf, eine belastbare Orientierung im Umgang mit den täglichen Hiobsbotschaften über die Entwicklung der Weltverhältnisse zu verschaffen. Wir wissen aus der europäischen und nicht nur aus der europäischen Geschichte, dass die Zivilisierung des Umgangs mit Konflikten möglich ist. Neuerdings gibt es Studien, die noch weiter gehen. So vertritt der amerikanische Autor Steven Pinker die These, dass die Anwendung von Gewalt im Laufe der Menschheitsgeschichte an Bedeutung für die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse verliert. (Pinker 2011) Ähnlich hat der norwegische Friedensforscher Nils Petter Gleditsch schon vor Jahren gestützt auf umfangreiches statistisches Material argumentiert. (Gleditsch 2013) Beruht also die gegenwärtige Aufregung über die aus den Fugen geratene Welt (Schäfer 2014) nur auf unserer historischen Kurzsichtigkeit? Keineswegs. Das Problem besteht darin, dass langfristige Trends wenig über die Wahrscheinlichkeit kurzfristiger Schwankungen im Prozess der übergreifenden Veränderung aussagen. Man darf die Geschichte des Völkerrechts durchaus, wie es hier geschehen ist, als Geschichte des Fortschritts vom Kriegs- zum Friedensrecht erzählen. (Brock 2012) Aber die entscheidenden Durchbrüche in dieser Geschichte (das allgemeine Gewaltverbot und die Formulierung einer allgemeinen Friedenspflicht) sind das Produkt zweier Weltkriege! Wenn wir das wissen, ist zu fragen, ob wir hoffen dürfen, dass ein nächster Lernschritt auf dem Wege zur Einhegung der Gewalt und der Verbreitung der Gerechtigkeit ohne eine weitere große Katastrophe gemacht werden kann (mal abgesehen davon, dass nach einer solchen Katastrophe auf lange Zeit mit keinerlei Lernschritten mehr zu rechnen wäre). Die Forschung zum »demokratischen Frieden« ist in den Jahren nach dem Kalten Krieg davon ausgegangen, dass zunehmende Interdependenz, der Ausbau internationaler Organisationen und die Verbreitung der Demokratie zu einer fortschreitenden Befriedung der 41 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Welt führen würden. (Russett/Oneal 2001) Diese Annahmen begegneten Anfang der 2000er Jahre zwei wesentlichen Einschränkungen: Die von Samuel Huntington so genannte dritte Welle der Demokratisierung begann zu verebben und der demokratische Frieden (zwischen den liberalen Demokratien) war von »demokratischen Kriegen« zwischen ihnen und Nicht-Demokratien begleitet. (Geis et al. 2006; Kurki 2013) Damit wurde der Optimismus, der mit dem Theorem des demokratischen Friedens einhergegangen war, nachhaltig erschüttert. Immerhin blieb es zunächst bei einer Kritik des hegemonialen Kosmopolitanismus der liberalen Demokratien. Heute wird dieser Kosmopolitanismus selbst von innen her (durch die allgegenwärtigen populistischen Bewegungen) in Frage gestellt. Hinzu kommt die Sorge über die politisch-militärischen Folgen der sich gegenwärtig vollziehenden globalen Machtverschiebungen. Und schließlich ist die Vorstellung, durch Auf- und Ausbau einer »Friedensindustrie« ein routinemäßiges Konfliktmanagement schaffen zu können, angesichts zahlreicher unlösbar erscheinender Konflikte (Syrien, Südsudan, Somalia, Nigeria, Mali etc.) heute starken Belastungen ausgesetzt. Was soll man i. S. Kants angesichts der wenigen Hoffnungen, die noch bleiben, tun? Die einen sagen, wir müssen uns auf raue Zeiten einstellen, entsprechend aufrüsten und gegebenenfalls Bündnisse neu schmieden, wenn die alten nicht mehr halten. Die anderen fordern das Gegenteil: eine konsequente Wiederbelebung der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik in Verbindung mit einem Ausbau der Vereinten Nationen, die Erneuerung der Vertragsdiplomatie zwischen Russland und dem Westen und ihre Ausweitung auf alle anderen wichtigen »Spieler«, die Verbesserung der materiellen Friedenssicherung (Ausbau des globalen Handelssystems, Nachhaltigkeit als Universalmaxime zur Eindämmung des Klimawandels, sozialer Ausgleich, kurz: gefordert wird als Alternative zur Aufrüstung die Verteidigung und der Ausbau bestehender Ansätze einer kooperativen Weltordnung). Welchen Weg man propagiert (und damit die Frage »Was sollen wir tun?« beantwortet), hängt offenbar stärker von theoretischen Präferenzen und emotionalen Dispositionen der Beobachter ab als von neuen Erkenntnissen in einem freien Austausch begründeter Argumente. Das ist ziemlich niederschmetternd und kann zum Defaitismus verleiten. Aber gerade Defaitismus würde dazu beitragen, jenes Verhängnis herbeizuführen, das er antizipiert. 42 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Was bleibt? Fest steht immerhin: Es ist offensichtlich nicht die menschliche Natur als solche, es sind vielmehr die konkreten Fehler und Versäumnisse einer allzu selbstgefälligen Politik des globalen Westens, die in Wechselwirkung mit den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Umbrüchen im globalen Süden zum gegenwärtigen Debakel beigetragen haben. Wenn dem aber so ist, und wenn wir wissen, dass Zivilisierung dennoch grundsätzlich möglich ist, dann dürfen wir auch hoffen, dass die katastrophalen Ausschläge in der Zivilisierungsgeschichte (in Gestalt zweier Weltkriege, des Holocaust und zahlloser »kleiner« Kriege) ihrerseits keiner Gesetzmäßigkeit unterliegen – etwa nach dem Muster, dass jede globale Machtverschiebung zum großen Krieg zwischen den aufsteigenden und den absteigenden Weltmächten führt. 24 Es gibt immer Spielraum für Politik. Dafür seien hier abschließend drei (hoffentlich nicht allzu fromme) Leitsprüche formuliert: Erstens, wir müssen lernen, unsere eigene – europäische – Geschichte so zu verstehen, dass sie nicht zum Hindernis für eine Verständigung mit den Anderen wird, sondern uns zu solcher Verständigung befähigt. Das Völkerrecht, das die UN-Charta prägt, erscheint in historischer Perspektive als eine der vielversprechendsten Ansätze dafür, universale Fortschrittsvorstellungen zu entwickeln. Zwar ist, wie Martti Koskenniemi schreibt, die UN-Charta »keine Bibel. Manchmal ist sie hilfreich, manchmal nicht und manchmal sogar die Ursache des Problems. Derzeit allerdings ist das Völkerrecht weitaus hilfreicher als alles andere.« (Koskenniemi 2004; vgl. Brock 2004) Es formiert, bei allen institutionellen Schwächen, eine einheitliche, gemeinsame Sprache, einen »heuristischen« (Vec 2011) Prozess, der es Menschen in aller Welt – jedenfalls theoretisch – möglich macht, Rechtsbrüche öffentlich zu thematisieren und zu kritisieren. Wir müssen uns in diesem Sinne zweitens des eigenen Anteils an den Konflikten und Kriegen im globalen Süden bewusst werden, die wir heute als Bedrohung unserer eigenen Sicherheit und unseres Wohlstands betrachten. Zwischen der europäischen Zivilisierungsgeschichte und der Legitimation von Krieg, Imperialismus und Kolonialismus besteht ein historischer Zusammenhang. (Fisch 1984; Anghie 2004) Die Einsicht in die »schicksalhafte« Fortsetzung der 24
Zur historischen Dimension globaler Ordnungsbildung siehe Menzel 2015.
43 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Gewalt in der Ordnung (Benjamin 1965) darf in der Theoriebildung und politischen Praxis also nicht ausgeblendet, sie muss vielmehr in diese integriert werden. Wir konstatieren dementsprechend den Imperativ einer reflexiven Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, die eine stetige, öffentliche Auseinandersetzung mit dem Recht und seiner »geronnenen« Willkür in Aussicht stellt, (Menke 2012, 7 f.) ohne damit die pazifizierende Kraft der Legalität als solche in Frage zu stellen. Wir müssen schließlich drittens lernen, unsere eigenen Bedürfnisse, Präferenzen und Wahrnehmungen mit den Lebensinteressen der Anderen zu verbinden. Es bedarf dabei einer Sensibilisierung für die Diversität kultureller, soziopolitischer und ethnischer Lebensund Erfahrungsräume. Das Nachdenken über Gemeinsamkeiten in der Differenz erscheint besonders dringlich angesichts nationalistischer Bestrebungen, die Entgrenzung der Welt durch gewaltsame Begrenzung und Abschottung rückgängig zu machen. Zu fragen ist dabei, inwieweit öffentliche Hassbekundungen und Fremdenfeindlichkeit ihrerseits auf die Erfahrung mangelhafter Teilhabe, Emanzipation und diskursiver Anerkennung (Honneth 2013) zurückzuführen sind. (Foucault 1999) Das bedeutet, im Streben nach einer friedenstiftender Universalisierung von Ordnungsvorstellungen die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. (Rajagopal 2003) Ansonsten droht, wie die Rechtfertigung des »demokratischen Krieges« jüngst gezeigt hat, allzu schnell die Legitimation willkürlicher Gewalt und Herrschaft im Namen des »Fortschritts«. Das Streben nach universellem Recht als Friedensstrategie wäre dann mit dem biblischen Turmbau zu Babel vergleichbar, im Übermut errichtet und mangels Legitimität und immer neuer Kriegserfahrungen stets einsturzgefährdet. (Carty 2007) All das sollte uns helfen, die Ermahnung zu beherzigen, die Teddy Kollek als Bürgermeister von Jerusalem in die folgenden Worte gefasst hat: »Es ist ein Fehler, nicht jedem kleinen Anzeichen von Friedensmöglichkeiten mit großem Ernst nachzugehen.« Solche Fehler können wir uns nicht mehr erlauben. Aber: Teddy Kollek war Bürgermeister in einer geteilten und in Teilen okkupierten Stadt. Die Realisierung der Friedensmöglichkeiten, die er ins Auge fassen konnte, blieb dem das Ganze umfassenden Konflikt verhaftet. 25 Nach Adorno bringt die Zivilisation immer auch Anti-Zivilisationen her25
Zu diesem Einwand Senghaas-Knobloch 2015.
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vor (Adorno 1970) und wir wissen oft nicht, wo wir selbst mit unserer Suche nach Friede verortet sind.
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1. Der berühmte britische Kriegshistoriker Michael Howard begann »Die Erfindung des Friedens« mit einer Beobachtung des Juristen Sir Henry Maine aus dem 19. Jahrhunderts, der Folgendes behauptete: »Der Krieg scheint so alt wie die Menschheit, aber der Frieden ist eine moderne Erfindung.« 1 Nach einigem Zögern unterschrieb er Maine’s Behauptung und fasste sie sogar präziser. Howard argumentiert, dass »wenn also jemand als Erfinder eines Friedens gelten kann, der mehr als bloß ein frommer Wunsch ist, dann ist es Kant«. 2 Freilich vernachlässigte Howard, Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau zu erwähnen, immerhin zwei Denker, die Kant selbst in seiner »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« erwähnt und die allein schon aus diesem Grund einen Platz in der Genealogie der Idee des Friedens erhalten sollten, der mehr sei als ein Beenden des Krieges. 3 Doch selbst nachdem wir deren Rolle als Vorgänger Kants zugegeben haben und selbst wenn wir zugeben, dass Kant nur einer von mehreren Autoren war, die den Frieden seinerzeit diskutiert haben, 4 kann man immer noch sagen, dass Kants Idee des Friedens neu war. Seine Originalität bestand nicht in seinem Vorschlag, Frieden durch eine staatliche Föderation zu begründen, sondern in der Tatsache, dass er Frieden am Höhepunkt einer Fort-
Michael Howard: Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung der Welt. Aus dem Engl. v. Michael Haupt. Lüneburg 2001. 9. 2 Michael Howard: Die Erfindung des Friedens. A. a. O. 36. Siehe auch Michael Howard: War and the Liberal Conscience. New Brunswick. 1994. 25. 3 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. VIII, Berlin 1968. 24. (AA VIII). 4 Siehe Anita/Walter Dietze (Hg.): Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800. München 1989. 1
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schrittsphilosophie in der Form einer »vollkommenen bürgerlichen Vereinigung in der Menschengattung« verortete (AA VIII, 29). Eine Konsequenz von Kants neuem Konzept ist, dass man in seinen Texten nicht, wie es noch in Rousseaus Werken war, die Angst findet, dass die Idee des ewigen Friedens womöglich Krieg hervorrufen könnte. Rousseau drückte für die Idee von Henry IV, ein christliches Bündnis, das den Frieden erhalten würde, in Europa einzuführen, Bewunderung aus, aber gleichzeitig vermutete er, dass es niemals verwirklicht werden könnte. Denn die Mittel, die hierfür notwendig wären, würden so gewalttätig sein, dass es wirklich wenig Hoffnung für die Durchsetzung gäbe: »Man sieht, daß sich föderative Bündnisse nur durch Umwälzungen bilden, und wer von uns könnte infolgedessen zu sagen wagen, ob dieser europäische Bund zu wünschen oder zu fürchten ist? Er würde vielleicht mit einem Schlage mehr Unheil anrichten, als er für Jahrhunderte verhindern könnte.« 5 Man kann sich natürlich immer fragen, ob Rousseaus Zögern in einem politischen Klima, das vielleicht nicht gerade offen für solche Ideen war, ehrlich oder strategisch war, aber was deutlich wurde, ist, dass Kant Rousseaus Zögern nicht teilte. Bevor ich eine allgemeine Diskussion über die Gefahren, die sich aus einem Fehlen dieser Sorgen ergeben, beginne, will ich zeigen, dass man erklären kann, wie Kant sich von der Überlegung befreite, ob Frieden den Preis wert war, den man für ihn zahlen müsste, weil seine Friedenskonzeption in der Idee einer allgemeinen Geschichte begründet wird. Deshalb muss man Zum ewigen Frieden immer im Kontext seines Aufsatzes von 1784 der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« lesen, wo wir die erste Geschichtsphilosophie finden, die das Ende der Geschichte als Bedeutungsquelle betrachtet. In der Kritik der reinen Vernunft identifiziert Kant das Fehlen eines Beweises für die Existenz der äußeren Welt als den Skandal der Philosophie und der menschlichen Vernunft im Allgemeinen. 6 In der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« beschreibt er einen anderen Skandal: nämlich die Tatsache, dass überall in der Natur eine Ordnung erscheint, die einem natürlichen GeJean-Jacques Rousseau: Urteil über Saint-Pierre: Urteil über den ewigen Frieden 1756/1782. In: Kurt von Raumer (Hg.): Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Freiburg/München 1953. 378. 6 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. III. Berlin 1968. 433. (AA III, 23). 5
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setz unterworfen werden kann, mit Ausnahme der menschlichen Angelegenheiten, sie erscheinen als eine bloße Kette von Ereignissen, und in dieser Hinsicht richtungslos. Das heißt, dass Kants Reflektionen über die Geschichte nicht durch eine Weigerung motiviert sind, die Gewalt seiner Zeit zu akzeptieren, sondern durch eine Weigerung, die Idee eines Organismus ohne Zweck innerhalb des Kontexts einer teleologischen Naturtheorie zu akzeptieren (AAVIII, 18). Kant drückte den »Unwillen« aus, den jedermann angesichts der Leerheit und Zerstörungskraft menschlicher Handlungen fühlen müsse. Dennoch war er in seinem Versuch, eine »Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge« zu entdecken, durch die Heraufkunft der neuen Wissenschaft der Statistik ermutigt, deren jährliche Tabellen die Eheschließungen, Geburten und Todesfälle in bestimmten großen Ländern aufzählten, und damit eine Gewissheit bezüglich einer Regelmäßigkeit der menschlichen Angelegenheiten brachten, die vorherige Generationen nicht hatten. 7 Die Frage der Bedeutung menschlicher Existenz wurde von der Theologie getrennt und der Geschichte überantwortet. Kant schlug vor, der Philosoph solle die ganze menschliche Geschichte anschauen und versuchen, in ihr die Gewissheit eines graduellen Forschritts in Richtung der Bedingung eines Kosmopolitismus zu finden. Geschichte sei jetzt mit diesem Leitfaden zu schreiben. Doch eine besondere Konsequenz dieser durch Kant eröffneten neuen Perspektive, die sogar er als verwirrend erkannte, war, dass Natur als Anruf einer jeden Generation zu verstehen sei und dass sie für das Wohl späterer Generationen zu sorgen hätte (AA VIII, 20). Um diese Idee seinem Publikum schmackhaft zu machen, argumentierte Kant, sei es eine notwendige Konsequenz der Annahme, einer nachlassenden Vorsehung, dass »eine Thiergattung […] Vernunft haben [soll] und als Klasse vernünftiger Wesen, die insgesammt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist, dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwicklung ihrer Anlagen gelangen« (AA VIII, 20). Dies erzählt uns einiges über die Annahme und Verbreitung von Vorstellungen, so dass wir dazu tendieren, Kants Schlussfolgerung als selbstverständlich anzunehmen, nämlich dass jede Generation sich für spätere (AA VIII, 18). So weit ich weiß ist die direkte Quelle dieser Sichtweise nicht nachgewiesen worden, aber es scheint sehr gut möglich, dass er die Arbeit von Johann Peter Süssmilch: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts. Berlin 1741, im Sinn hatte.
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aufopfert, während wir gleichzeitig die Annahme ablehnen, auf die er diese Idee gründete (AA VIII 30). In der Tat ist der Rekurs auf eine Idee der Vorsehung heutzutage in intellektuellen Kreisen so diskreditiert, dass die meisten Philosophen, die über Kant schreiben, alles daransetzen, ihre Rolle zu minimieren. Kant glaubte, dass Kriege, die Gemeinschaften und sogar ganze Gesellschaften zerstörten, Mittel der Vorsehung waren, die die menschliche Gattung dazu führen würde, ihre vollen Anlagen zu erfüllen. Das heißt, dass Antagonismen, also die menschliche ungesellige Geselligkeit, erstmalig als das von der Natur gewählte Mittel gesehen wurde, das der Gesellschaft eine gesetzmäßige Ordnung bringt (AA VIII, 20). Kant wiederholte das Argument in der Kritik der Urteilskraft, als er darauf beharrte, dass obwohl Krieg unvermeidlich ist, außer ein kosmopolitisches Ganzes existiert, Krieg auch das Mittel ist, durch das dieses kosmopolitische Ganze verwirklicht wird: Krieg ist »ein unabsichtlicher (durch zügellose Leidenschaften angeregter) Versuch der Menschen, doch tief verborgener, vielleicht absichtlicher der obersten Weisheit ist, Gesetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten und dadurch Einheit eines moralisch begründeten Systems derselben, wo nicht zu stiften, dennoch vorzubereiten«. 8 Doch in seinem fortschreitenden Versuch, im scheinbar sinnlosen Ganzen der menschlichen Angelegenheiten eine Bedeutung zu finden, kam Kant der Beihilfe zur Rechtfertigung von Gewalt gefährlich nahe. Wie wir später sehen werden, hatten nachfolgende Autoren, besonders Politiker, keinerlei Schwierigkeiten, diese Lücke zu schließen. Kant hatte augenscheinlich übersehen, dass, indem er der historischen Erzählung die Rolle gab, eine Ordnung sichtbar zu machen, die vorher unsichtbar war, er damit Individuen oder Nationen die Tür öffnete, den Anspruch zu erheben, Vertreter des Prozesses zu sein, der zum Frieden führt. Wenn die bisher unverdächtigen Absichten einer Vorhersehung unsere Absichten werden, dann können wir in Selbstgerechtigkeit und Überzeugung handeln, die keinen Präzedenzfall kennen. Während man vormals in den Krieg zog, weil man mögliche Änderungen, die die Einstellung der Feindseligkeiten herbeiführen könnten, erwartete, so konnte man jetzt in den Krieg gehen, um die Menschheit einen Schritt weiter auf dem Pfad hin zum ewigen Frieden zu führen. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. V. Berlin 1968. 433. (AA V).
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Es ist nicht nur die Rolle der Vorhersehung in Kants Geschichtsphilosophie, die heutzutage übersehen wurde, sondern auch die Tatsache, dass Kant die Vorhersehung als eine Richtung zur vollkommenen Entwicklung der menschlichen Anlagen verstand. Kant-Gelehrte vergessen fast immer zu erwähnen, dass die Sprache der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« auch eine Sprache einer Naturgeschichte ist: Kant erwähnt Keime fünf Mal und Naturanlagen oder Neigungen fünfzehn Mal auf nur zehn Seiten. Was dieses für gegenwärtige Auslegungen eines Kant’schen Kosmopolitismus problematisch macht, ist, dass die Sprache von Kants Rassentheorie, für die die Verwirklichung von Keimen und Naturanlagen durch das Klima und die Umwelt bestimmend ist, jeder Rasse dadurch ihre eindeutigen und bleibenden Eigenschaften gibt, und zwar sowohl physisch als auch »moralisch«. 9 Doch Kant behauptete, dass nur die weiße Rasse allein mit allen Trieben und Talenten ausgestattet ist (AA XXV/2, 1187). Das erklärt, warum die vollkommene bürgerliche Vereinigung die Angleichung an europäische Ideen in sich enthält. Wie Kant es ausdrückte, »unser Welttheil« – Europa – wird die Gesetze all anderen Welttheilen geben (AA VIII, 29). Kant ist überzeugt, dass der Antagonismus, der in jedermanns Ungeselligkeit wurzelt, der Entwicklung der eigenen natürlichen Fähigkeit dient und dass, wo er abwesend ist, die Keime schlummernd liegen (AA VIII, 20). Aber er löst nicht das uns so offenbar vorliegende Problem, das von der ungleichen Verteilung dieser Anlagen über unterschiedliche Rassen herrührt. Kant scheint kaum unsere Empfindlichkeiten bezüglich dieser Angelegenheiten zu teilen, wenn er in der Kritik der Urteilskraft, wo er »den Menschen« als letzten Zweck der Natur darstellt, zugibt, dass Ungleichheit notwendig sei, wenn einige die Möglichkeit haben sollen, bestmöglichst ihre Naturanlagen zu entwickeln (AA V. 429 f.). Nachdem Kant eine neue Darstellung einer Rassenhierarchie formuliert hat, in der die Unterschiede zwischen den Rassen bleibend sind, und nachdem er die Rassenvermischung als mögliche Lösung zur Frage, ob die angeblich niedrigeren Rassen sich in die kosmopolitische bürgerliche Gesellschaft einpassen können, abgelehnt hat, hinterlässt er nachfolgenden Generationen folgendes Rätsel: Wenn die Bedeutung der menschlichen Existenz in der Geschichte liegt und Siehe Robert Bernasconi: Who Invented the Concept of Race? In: Robert Bernasconi (Hg.): Race. Oxford 2001. 11–36.
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wenn bestimmte Völker oder Rassen nicht an der Geschichte teilhaben können, warum existieren dann diese Völker? 10 Kant stellt genau diese Frage in einer anonymen Rezension von Herders Ideen zur Geschichte der Menschheit: »Meint der Herr Verfasser wohl: daß, wenn die glücklichen Einwohner von Otaheite, niemals von gesittetern Nationen besucht, in ihrer ruhigen Indolenz auch tausende von Jahrhunderten durch zu leben bestimmt wären, man eine befriedigende Antwort auf die Frage geben könnte, warum sie denn gar existieren und ob es nicht eben so gut gewesen wäre, daß diese Insel mit glücklichen Schafen und Rindern, als mit im bloßen Genusse glücklichen Menschen besetzt gewesen wäre?« (AA VIII, 65. Recensionen von I. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Theil 1.2. (Heinrich Maier). Die Tatsache, dass Kant sein Argument gegen Herder richtete, ist besonders bedeutsam, weil gerade Herder ein Verfechter der Idee war, dass jedes Volk etwas Wesentliches zur Menschheit beizusteuern hätte. Kants Widerspruch gegen Herder im Hinblick auf dieses Thema wird auch durch sein in anderen Texten formuliertes Beharren unterstützt, dass die Welt nichts verlieren würde, wenn Tahiti zerstört wäre (AA XV, 785). Obwohl Kants rhetorische Frage zu implizieren scheint, dass es dennoch das Beste sei, was den glücklichen Einwohnern von Tahiti passieren könnte, wenn sie von zivilisierteren Staaten besucht würden, die sie verbesserten, macht diese daraus hervorgehende Verbesserung ihrer Anlagen sie immer noch nicht den Weißen gleich. Kants Rassentheorie hat die Vorstellung zur Folge, dass sich vier Rassen ursprünglich als ein Ergebnis des Klimas und anderen Umweltfaktoren entwickelten und dass damit die Zukunftsmöglichkeiten dieser Rassen als bleibend gesetzt wurden. Kant wendet dieselbe Perspektive auf amerikanische Ureinwohner an und kommt zu gleichen Ergebnissen: »Daß aber ihr Naturell zu keiner völligen Angemessenheit mit irgend einem Klima gelangt ist, läßt sich auch daraus abnehmen, daß schwerlich ein anderer Grund angegeben werden kann, warum diese Rasse, zu schwach für schwere Ar10 Zu Kants Antipathie zur Rassenvermischung siehe R. Bernasconi. In: Julie K. Ward, Tommy L. Lott (Hg.): Kant as an Unfamiliar Source of Racism, Philosophers on Race. Oxford 2002. 145–166; Will the Real Kant Please Stand Up. Radical Philosophy. 117. 2003. 10–19. Über Kants Einschätzung unterschiedlicher Rassen of different Rassen, siehe die gesammelten Bemerkungen von Robert B. Louden. In: Kant’s Impure Ethics. Oxford 2000. 98–100.
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beit, zu gleichgültig für emsige und unfähig zu aller Kultur, […]« ist. 11 Die Konsequenz der Vorstellung, dass im Verlauf der Geschichte die Gattungen ihre Anlagen zur Vervollkommnung entwickeln sollten, war, dass sich der Fokus auf die weiße Rasse richtet, die angeblich all die Talente hat, und dass die anderen Rassen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Während es Rousseau möglich schien, dass der Preis für einen ewigen Frieden doch zu hoch sei, so zeigte Kant keine solchen Gewissensbisse. Wir können jetzt erklären warum: Für Kant haben Rechnungen über die Höhe des Preises für Frieden, keine Rolle zu spielen, weil die bürgerliche Vereinigung, die Frieden einführt, der Ort ist, an dem die menschliche Gattung Vollkommenheit erfährt. Frieden ist ein wesentlicher Bestandteil der bloßen Bedeutungsmöglichkeit menschlicher Angelegenheiten. Es gibt keine zu rechtfertigende Alternative, insofern als Frieden allein, trotz aller Gewalt, die seine Umsetzung auch nach Kant mit sich bringt, Ordnung in die menschlichen Angelegenheiten bringen kann, eine Ordnung, die der ähnelt, die auch in der Natur zu finden ist. Als Rousseau einen immerwährenden Frieden als Rechtfertigung für Krieg vorstellte, vermochte er immer noch zu sagen, dass der Preis zu hoch sein könnte. Das ist nicht mehr wahr für Kant, weil die bloße Bedeutung menschlicher Existenz das ist, was in diesem Prozess auf dem Spiel steht. Dies beinhaltet eine Konsequenz, die bei Kant selbst noch nicht völlig deutlich wird, aber von einigen seiner Nachfolger erwähnt wird: dass wer diesem Prozess entgegensteht oder sich ihm widersetzt, Partei gegen die Menschheit ergreift. Sogar die Weigerung, sich voll zu verpflichten, heißt, gegen den menschlichen Prozess Partei zu ergreifen. In einem Krieg, der in diesen Begrifflichkeiten vorgestellt wird, kann es keine neutrale Partei geben. Die Logik dieser neuen Art von Frieden, die bereits durch Kant eingesetzt wurde, impliziert, dass die Weigerung, für die Akteure der Geschichte Partei zu ergreifen, die gleichzeitig die Wortführer der menschlichen Angelegenheiten sind, gleichermaßen bedeutet, auch für das Unmenschliche Partei zu ergreifen. Und das heißt, gegen die Zukunft zu sein, die allein aus der augenscheinlichen Unordnung der menschlichen Angelegenheiten Sinn stiftet. Vor Kant wurde Frieden vorrangig als einfache Alternative zum Immanuel Kant: Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. VIII. 175–76. (AA VIII).
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Krieg gedacht: man war entweder im Krieg gegen seine Nachbarn oder im Frieden mit ihnen, und man zog in den Krieg, um einen oft nur zeitlich begrenzten Vorteil ihnen gegenüber zu erlangen, wie beispielsweise die Ausweitung seines Gebiets. Doch nach Kant stelle Krieg einen Naturtrieb jenseits irgendwelcher Absichten der Teilnehmer dar, der dazu dient einen andauernden Zustand des Friedens herbeizuführen. Seit allerdings der Prozess einer allgemeinen Geschichte durch Kant bewusst gemacht wurde, sind Kriege für den Frieden, auch für Humanität und für alles, was dafür steht, wie Freiheit und Demokratie, geführt worden. Später werden wir sehen, dass die zukünftigen Generationen Kants Frage nach der Rolle, die die minderwertigen Rassen für die zukünftige Menschheit spielen würden, breiter auslegten, als er beabsichtigte. Kant wies die Idee eines »Ausrottungskrieges« ausdrücklich zurück (AA VIII, 346), auch wenn er die Möglichkeit begrüßte, dass die amerikanischen Ureinwohner sich gegenseitig vernichten würden (AA XXV/2, 840). Nichtsdestotrotz, wenn man liest wie Charles Dilke die Sachsen als die einzige Rasse, die andere ausrottet, feiert, dann findet man eine Antwort auf Kants Frage nach dem Platz von rückwärtsgewandten Rassen, sogar wenn es eine Antwort ist, die Kant deutlich zurückgewiesen hätte, genauso wie er die Form des Imperialismus, die Dilke vorgeschlagen hat, abgelehnt hätte. 12 Es liegt in der Natur von Ideen und insbesondere in der Natur von Fragen, dass ihre Autoren nicht kontrollieren können, wohin sie führen werden.
2. Kants Glaube an einen Frieden im Sinne eines Höhepunktes der menschlichen Geschichte und nicht der Suche nach Aspekten des Übereinkommens, die Staaten erlauben könnten, zusammen zu leben, ist fähig Feinde zu erfinden, wo keine sind. Folglich betrachten heute manchmal die Vereinigten Staaten von Amerika Nationen als ihre Feinde, die nicht als demokratisch gelten oder aber nicht dem freien Handel verpflichtet sind: Sie werden beurteilt wie jemand, 12 Charles Wentworth Dilke: Greater Britain: A Reward of Travel in English-speaking Countries during 1866 and 1867. London 1869. Bd. 1. 308–309. Ich entwickele diese Perspektive auf Kant weiter in »Why Do the Happy Inhabitants of Tahiti Bother to Exist at All?« In: John K. Roth (Hg.): Genocide and Human Rights. New York 2005. 139–148.
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der sich gegen eine Zukunft wendet, die die einzige Zeit ist, in der Frieden gesichert werden kann. Die Vereinigten Staaten können sich so verhalten, weil sie allein die Vorhut des Friedens sind. Sie sind die Repräsentation der Zukunft in der Gegenwart; sie sind das Morgen von heute. Indem sie sich als Darstellung der Zukunft verkünden, beanspruchen die Vereinigten Staaten für sich das Recht, die Rechtsprechung über die Geschichte auszuüben: das Recht, andere Völker und Regierungen zu beurteilen, entsprechend dem, was sie zur Durchsetzung des Ziels eines Kosmopolitismus beigetragen haben, das Recht, dieses Urteil wenn notwendig mit Gewalt durchzusetzen, und das Recht, frei zu sein in der Beurteilung anderer, weil sie alleine die Zukunft repräsentieren. Dies mag weit entfernt von dem sein, was Kant beabsichtigte, als er verkündete, dass zukünftige Generationen Völker und Regierungen danach beurteilen werden, was sie dafür getan haben, um das Ziel eines Kosmopolitismus zu befördern oder zu behindern (AA VIII 31). Isoliert gelesen könnte Kants Behauptung als aufschiebendes Urteil verstanden werden. Sie würde dann dazu führen, Zweifel über die gegenwärtigen Angelegenheiten auszudrücken. Nur von einer weit entfernten Zukunft kann ein Urteil erlassen werden. Nur die Zukunft wird sagen, was niemand in der Gegenwart in der Lage ist zu geben – eine retrospektive Rechenschaft. Doch seit Kant haben wir zu erkennen gelernt, dass das Aufschieben von Urteilen mit dem Gedanken, dass die Geschichte uns beurteilen wird, nur einen Weg bahnt für diejenigen, die behaupten, die Geschichte auf ihrer Seite zu haben, und zwar so, als ob sie die Akteure der Geschichte seien und für sich selbst die moralische Überlegenheit annehmen. Das trägt dazu bei, den Kampf für Frieden jenseits der Sphäre von Moralität zu verorten, weil die Versuchung unmittelbar entsteht, dass man alle Befangenheit in der Gegenwart ablegen solle, um die Bedingungen der Zukunft, in der Moralität triumphieren wird, zu sichern. Diese Logik ist oft mit Formen des Marxismus assoziiert worden, aber sie ist auch heute wirksam und zwar nicht nur indem uns weisgemacht wird, dass wir entweder mit den Vereinigten Staaten von Amerika sind oder gegen sie, sondern sogar spezieller, dass uns weisgemacht wird, dass die Behandlung, die diejenigen nötig haben, die als die Gegner des Friedens beschrieben werden, nicht mit den menschlichen Grundwerten übereinstimmen muss, nämlich den Werten, für die man kämpft. Das ist auch der Grund, der es erlaubt, Todesfälle von Zivilisten so leicht zu ignorieren. Solche Tode sind 58 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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bloß Kollateralschäden. In einer Welt, in der nur Statistiken die Ordnung gewährleisten, ist keine offizielle Statistik über diese Todesfälle geführt worden. Sie sind ungezählt hinterlassen worden, weil sie nicht zählen. Die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, um einen Präventivkrieg zu rechtfertigen, ist für dessen Anhänger in der gleichen Logik zu betrachten. Ein Präventivkrieg kann für eine mächtige Nation als rechtmäßig erscheinen, wenn sie sich selbst als maßgeblicher Akteur der Geschichte versteht, weil sich nämlich die wirkliche Rechtfertigung für andere erst nachträglich ergibt. Für eine Darstellung wie eine Friedenslogik funktioniert, die Krieg aus der Perspektive einer Philosophiegeschichte rechtfertigt, kann man die folgende Aussage von Madeleine Albright, der Staatssekretärin von Präsident Clinton, untersuchen. In einer Ansprache im Februar 1998, während einer, nachträglich betrachtet, scheinbar eher ruhigen Periode amerikanischer Außenpolitik, rechtfertigte sie einen Raketenangriff auf den Irak mit folgenden Worten: »Wenn wir Gewalt gebrauchen, ist das, weil wir Amerika sind. Wir sind die unumgängliche Nation. Wir stehen aufrecht und wir sehen weit voraus in die Zukunft.« 13 Die Vereinigten Staaten von Amerika besetzen hier den Platz, den Kant Europa gab, aber weil durch Kant die unbewussten Motive, die die Geschichte antreiben, bewusst wurden, stellt diese Nation, die sich selbst schon lange als das Land der Zukunft versteht, die Zukunft der Menschheit dar. Ihre Handlungen sind deshalb nicht von anderen Nationen zu beurteilen. Die Anderen sind nicht in der Lage vorher zu urteilen, denn ein Urteil kommt aus der Zukunft. Betrachten wir ein anderes Beispiel, das zeitlich weiter entfernt liegt, aber nach wie vor höchst bedeutsam ist. 14 Als die Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg eintraten, verkündete Präsident Woodrow Wilson, dass seine Handlung nicht nur »zur Ver13 Mitschnitt von NBC’s Today. February 19. 1998. Zitiert von Emmanuel Todd: After the Empire. Übers. von C. Jon Delogu. New York 2003. 204. 14 Der Erste Weltkrieg wurde oft der Krieg der Philosophen genannt. Er führte allein in Deutschland zu über 13.000 philosophischen Pamphleten. Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Berlin 2000. 11. Siehe auch Peter Hoeres: Krieg der Philosophen, Paderborn 2004. Der Krieg gegen Terrorismus, wie auch der Krieg im Irak, trotz seiner scheinbaren Unterscheidung von ihm, ist oft als der Krieg philosophischer Ideen dargestellt worden, da er ein Konzept von Freiheit und der Demokratie beschwört, um ihn voranzutreiben. Doch im Vergleich zur Zeit des Ersten Weltkrieges sind heutzutage Philosophen als Philosophen relativ still. Dieses Versagen lässt die philosophischen Systeme, die solche Argumente stützen, größtenteils ungeprüft gewähren.
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teidigung der amerikanischen Ehre und des amerikanischen Rechtes sei«, sondern auch »ein Kampf um die Welt, […] ein Kampf von Männern, die überall Freiheit lieben«. Amerika wurde »geboren, um der Menschheit zu dienen«. 15 Diese Auffassung verleitete Wilson, auf die harten Bedingungen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurden, zu beharren: »Die Abmachung muss entgültig sein. Es darf keinen Kompromiss geben. Keine halbherzige Entscheidung darf toleriert werden. Keine halbherzige Entscheidung ist vorstellbar.« 16 Dies war eine Konsequenz der Aufopferungen, die die Vereinigten Staaten erbracht hatten, und die Überzeugung, die in den Vereinigten Staaten weitverbreitet ist, dass nur der Gesamtsieg zum Gesamtfrieden führen könne. Wilson stellte Krieg als einen Kampf für die nationale Existenz der Vereinigten Staaten dar, der durch »Aufopferung, wie sie die Welt vorher noch nicht gekannt hat« unterstützt wird. 17 Die Rhetorik, die Woodrow Wilson benutzte, zeigt einen geschickten Gebrauch einer bestimmten kosmopolitischen Sprache, um die Taten seines Landes zu rechtfertigen: Die Vereinigten Staaten seien ein Mittel für einen höheren Zweck, der sich mit dem der Menschheit im Großen und Ganzen überschneidet. Doch, wenn man sich an eine Ansprache erinnert, die Wilson am 22. Januar 1917 gehalten hat, dann ist es offensichtlich, dass der Wortlaut sehr unterschiedlich war, bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten: Damals beharrte er darauf, dass die Liberalen und Freunde der Menschheit in jeder Nation »Frieden ohne Sieg« begehren sollten, »ein Friede zwischen Gleichen«. 18 Wilson erklärte in einer Ansprache im September 1918, dass das amerikanische Volk während des Kriegsverlaufs seine Meinung darüber, was durch den Krieg vollbracht werden sollte, geändert hat, und zwar genau deshalb, weil es ein »Volkskrieg« war, in dem für einen »andauernden Woodrow Wilson: »Memorial Address at Arlington National Cemetery«. May 30, 1917. War and Peace. New York 1927. Bd. 1. 52–53. 16 Zitiert von Michael Howard: War and the Liberal Conscience. New Brunswick 1986. S. 82. 17 Woodrow Wilson: Four-Minute Address by the President. Read by Four-Minute Men. July 4, 1918. War and Peace. Bd. 1. 236–37. 18 Woodrow Wilson: Address to the United States Senate. January 22. 1917. In: Ray Stannard Baker, William E. Dodd (Hg.): The New Democracy. New York 1926. Bd. 2. 410. Für einige Zeit blieb Wilson dabei, ähnliche Aussagen in seinen Ansprachen zu machen. Für einen Überblick dieses Aspekts von Wilsons Politik, siehe Laurence W. Martin: Peace Without Victory. Port Washington. New York 1973. 15
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Frieden« gekämpft wurde. 19 Der Unterschied zwischen einem Frieden ohne Sieg und einer Abmachung, die entgültig sein muss, spiegelt Kants Unterscheidung – in dem ersten der sechs Präliminarartikeln für einen ewigen Frieden – zwischen einem Waffenstillstand als Aufschub der Feindseligkeiten und einem Frieden als ein Ende aller Hostilitäten wieder (AA VIII, 343). Diese Genealogie dient nicht nur dazu, eine Tendenz in der modernen Kriegsführung zu erklären, die darauf ausgerichtet ist, dass ein Staat seinen Feind in die totale Unterwerfung zwingt, sondern auch ein Beharren darauf, dass ein so handelnder Staat dieses im Interesse der ganzen Menschheit tut. Es wurde schon seit längerem erkannt, dass es eine Verbindung zwischen Kant und Woodrow Wilson gibt, und zwar durch Kants Vorschlag eines Föderalismus der Staaten im zweiten Definitivartikel zum ewigen Frieden (AA VIII, 354) und dem nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Völkerbund. Karl Vorländer, der Kant-Gelehrte, veröffentlichte 1919 ein kurzes Buch mit dem Titel Kant und der Gedanke des Völkerbundes, das einen Anhang »Kant und Wilson« enthielt, der Kants Vorschlag mit dem von Woodrow Wison verglich, nicht ohne dem amerikanischen Präsidenten Ansehen dafür zu schenken, dass er über Kant in einigen Hinsichten hinausging. 20 Aber die Verbindung zwischen Kant und Wilson geht über den Vorschlag eines Völkerbundes hinaus und gründet in einigen weiteren Ähnlichkeiten. Sie gründet in ihren Auffassungen über die Beziehung zwischen Frieden und Krieg, auch wenn Kant selbst sicherlich nicht die Idee eines Krieges, mit dem Ziel alle Kriege zu beenden, gerechtfertigt hätte; er war sich völlig im Klaren darüber, wie lange solch ein Prozess dauern könnte. Seit dem Zweiten Weltkrieg neigten Kommentatoren übermäßig dazu, Kant als jemanden zu lesen, der gegen Krieg argumentiert, wobei sie die grundlegende Rolle, die er dem Antagonismus gab, übersahen. 21 Während der Vorbereitung für den Ersten Weltkrieg sahen zwar einige deutsche Kommentatoren, wie Rudolf Eucken, Kants Ideen als kompromittierend für die Entwicklung einer Kriegsmaschinerie an. Doch andere deutsche Kommentatoren, die 19 Woodrow Wilson: Address Opening the Campaign for the Fourth Liberty Loan Delivered in New York City. September 27, 1918. In: War and Peace. Bd. 1. 253–55. 20 Klaus Vorländer: Kant und Wilson. In: Kant und der Gedanke des Völkerbundes. Leipzig 1919. 67–85. 21 Siehe zum Beispiel Carl Joachim Friedrich: Inevitable Peace, Cambridge, MA 1948. 60.
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Kants Aufsätze über Geschichte und Frieden zwischen den zwei Weltkriegen aufgriffen, sahen deutlicher die positive Rolle, die Kant dem Krieg zuschob. So zum Beispiel Paul Natorp, der selbst kein Kriegstreiber war, erkannte in seinem Aufsatz »Kant über Krieg und Frieden« von 1924, dass für Kant das Leben Krieg ist. 22 Ähnlich erkannte Julius Ebbinghaus, der Deutschland verließ, um den Nazis zu entfliehen, dass Kant keinen Ausweg sah, um Krieg zu beenden. 23 Für Kant war klar: »So ist der ewige Friede […] freilich eine unausführbare Idee.« 24 Er glaubte allerdings, dass Friedensschlüsse, die einer Annährung zu diesem Zustand dienen, nicht unausführbar wären (AA VIII, 386). Kant wurde die Rolle als Friedensvertreter zugesprochen, weil eine Reihe der ihm nachfolgenden Philosophen die Vorteile von Krieg aufwarfen und eine verlängerte Friedensperiode als Verordnung zum Verfall auffassten. Das ist am deutlichsten bei Hegel zu sehen, der eine anhaltende Polemik gegen Kants Begriff des ewigen Friedens entwarf. Obwohl Hegels Werk Die Vernunft in der Geschichte in vielerlei Hinsichten auf Kants Ruf nach einem »philosophischen Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur […] zu bearbeiten« (AA VIII, 29), antwortete, ist Geschichte bei Hegel weder kosmopolitisch noch auf einen ewigen Frieden ausgerichtet. In seiner Vorlesung von 1817–1818 in Heidelberg verwarf Hegel, was er als gut gemeint, aber falsch erachtet, nämlich die Idee, gemäß welcher Krieg etwas sei, das nicht sein darf. Für Hegel ist Krieg ethisch notwendig, weil ohne ihn Menschen in ihr bloß privates Leben versinken. 25 Nur Krieg vereinigt die Staaten und erlaubt ihnen, sich zu verwirklichen. Viele wichtige Politiker und Aktivisten des 19. Jahrhunderts lernten von Hegel, dass der Zufall in der Geschichte keinen Platz hat, und besonders, dass die Geschichte der Gewalt eine positive Rolle verlieh. Zum Beispiel beschreibt Belinsky wie er und Bakunin während des Sommers 1837 zusammen Hegel lasen: »eine neue Welt öffnet sich vor uns – Gewalt ist richtig und
Paul Natorp: Kant über Krieg und Frieden. Erlangen 1924. 15. Julius Ebbinghaus: Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage. Tübingen 1929. 24 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten (Paul Natorp). In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. VI. Berlin 1968. 350. 25 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Vorlesungen 1. Hamburg 1983. 253. (VI). 22 23
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richtig ist Gewalt! Nein, Ich kann dir nicht beschreiben mit welchen Gefühlen ich diese Worte hörte – es war eine Befreiung.« 26 Derweil konstatiert Kant in dem fünften Präliminarartikel Zum ewigen Frieden, dass »kein Staat […] sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen« soll (AA VIII, 346). So beschreibt Hegel in welcher Weise, wie er sie nannte, »zivilisierte Völker«, das Recht haben, sogenannten »ungebildeten Völkern«, solchen, die fast keine Verfassung haben, eine aufzudrängen, denn nur eine Verfassung ermöglicht es den anderen Staaten, mit ihnen im Frieden zu leben (VI 251). Noch nicht mal hier hält er inne. Wir lesen in Der Philosophie des Rechts, dass zivilisierte Völker berechtigt sind, die Staaten als Barbaren zu behandeln, die weniger fortschrittlich in Bezug auf die wesentlichen Belange des Staates sind als sie. Die als Barbaren zu behandeln, die man als Barbaren betrachtet, scheint einen Abstieg auf die Ebene zu rechtfertigen, die man als die ihre annimmt, während man gleichzeitig sein Gefühl der Überlegenheit behält. Aber es ist mehr als dies. Es bedeutet, dass man andere behandelt, so wie man sich einbildet, sie würden uns behandeln, während man seine Verhaltensweise von seinem Selbstgefühl abtrennt. In einem Satz: Der Krieg gegen Barbarei rechtfertigt Barbarei. Außerdem eignet sich dieses Gefühl der Überlegenheit – wenn es bedeutet, dass man seine Nation mit der fortschrittlichsten Stufe der Weltgeschichte in diesem Gegenwartsmoment identifiziert – das Recht des Weltgeistes an, das das Recht ist, Rechte den anderen zu verweigern, ein Thema, über das Hegel sehr offenherzig spricht (VI, 256). Außerhalb der Geschichte zu sein, so wie es die Schwarzen und die amerikanischen Ureinwohner für Hegel waren, bedeutete ein Sein ohne Berechtigung und ohne Bedeutungsgrund, gerade so, als ob die Tatsache, in der Geschichte zu sein, entsprechend bedeutete, auch dem Urteil der Geschichte unterworfen zu sein. 27 Wie Kant beschreibt Hegel die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner, ohne ein klares moralisches Urteil auszusprechen: »Denn die Eingeborenen sind, nachdem die Europäer in Amerika landeten, allmählich an dem Hauche der europäischen Tätigkeit untergegangen.« 28 Doch 26 Zitiert bei Hans Kohn: »The Permanent Mission. An Essay on Russia«. In: The Review of Politics. July 1948. 285. 27 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt 1970. 503. 28 G. W. F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. Hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1980. 200; Siehe Michael H. Hoffheimer: Hegel, Race, Genocide. In: Southern Journal of Philosophy. Bd. 39. Supplement 2001. 37–38.
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Hegel brauchte nichts zu beurteilen, wenn die Geschichte es bereits getan hat. Das ist der Grund, warum es für Hegel keine Opfer der Geschichte gibt. Als er in Heidelberg seine Vorlesung über die Philosophie des Rechts hielt, sagte er im Kontext von Schillers Feststellung »die Weltgeschichte ist ein Weltgericht«, sodass »kein Volk […] je Unrecht [erlitt], sondern was es erlitt, hat es verdient»(VI, 257). Eine solche Idee nach dem Holocaust als unmöglich zu beschreiben, wie es einige Leute gerne tun, ist problematisch, weil es zu implizieren scheint, dass sie vor dem Holocaust ein gerechtfertigter Gedanke war. Hegels Idee, dass Krieg für die Einheit einer Nation notwendig ist, bringt uns einen Schritt näher zur Idee des totalen Krieges. Aber meine Sorge ist hier nicht, eine intellektuelle Genealogie der Idee des totalen Krieges darzulegen, sondern aufzuzeigen, wie die Idee des totalen Krieges seine Kraft aus der Kant’schen Konzeption des ewigen Friedens bezieht. Was nach dem totalen Krieg verlangte, war die Erhöhung der Einsätze, für die Kriege geführt wurden. So lange Kriege von Monarchen für deren entsprechenden Vorteil geführt wurden, setzt sich, wie eine Reihe von Kommentatoren beobachtet haben, das Volk einer Nation weniger für einen Sieg ein, als wenn demokratische Staaten überzeugt werden, dass es um ihr Überleben geht. Der Erste Weltkrieg bot ein deutliches Beispiel dafür, wie ein Krieg, der an Weihnachten vorüber sein sollte, für Jahre ohne entscheidende Ergebnisse anhalten konnte, einfach weil die relativ neue Erscheinung einer vernünftigen Begeisterung für Krieg diesen im Gang hielt. Je mehr Schäden erlitten wurden, desto mehr hoben beide Seiten ihre Erwartungen an, von dem, was von der anderen Seite im Falle des Sieges gefordert werden kann, um den Verlust zu rechtfertigen. Wenn die Forderungen erhöht würden, war ein entschiedener Sieg als Vorbedingung, um sie einzufordern, umso notwendiger. Wie einige Kommentatoren bemerkten, haben Fürsten des 18. Jahrhunderts diese auswegslose Situation viel eher gesehen und einem Waffenstillstand zugestimmt. 29 Allerdings, auch wenn Verluste es manchmal für Demokratien schwieriger machten, sich von einem höheren Einsatz in den Krieg zurückzuziehen, wurde die Verpflichtung sogar noch stärker, wenn eine Nation fühlte, dass ihr bloßes Überleben als Nation bedroht war oder sie glaubte, sie sei bedroht. Außerdem erkannten Politiker bald, dass ein zusätzlicher Vorteil gewonnen werden konnte, Michael Howard: Der Krieg in der europäischen Geschichte. Übers. von K.-H. Siber. München 1981. 151 f.
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wenn verkündet wurde, dass ein Kampf ein Krieg sei, in dem die Zukunft der Zivilisation, und vielleicht sogar der Menschheit selbst, gegen die Kräfte der Barbarei verteidigt werden musste. Krieg konnte immer noch als ein Mittel zur Lösung von Streitereien oder zur Herstellung einer neuen Ordnung dargestellt werden, aber mehr noch stand auf dem Spiel, wenn der Krieg als eine Schlacht für Ordnung gegen Unordnung gesehen wurde. Gewiss, Kant verwarf Kriege als Bestrafung in Zum ewigen Frieden: Sie wären nur möglich, wenn man zustimmt, dass einige Staaten anderen überlegen sind und er schloss dies aus. Doch nimmt man an, dass dieses Verhältnis zwischen Unterlegenheit und Überlegenheit nur im Kontext der europäischen Staaten gilt, besonders wenn man bedenkt mit welcher Leichtigkeit Urteile über die relative Überlegenheit und Unterlegenheit von Völkern anderswo abgegeben wurden (AA VIII, 346). Wenn es um die Ideengeschichte geht, dann ist die Frage der Konsistenz und Kohärenz des Ideenzusammenhangs eine Frage seiner Stabilität und eine Sorge darüber, wohin seine Instabilität womöglich führen wird.
3. Der hervorragende Theoretiker des totalen Krieges war General Erich Ludendorff, aber er betrachtete sich nicht selbst als Erfinder dieses Unternehmens. In der Tat, war es nach seinen Angaben die Unfähigkeit der deutschen Nation, einen totalen Krieg im Ersten Weltkrieg zu führen, die die deutsche Armee dazu brachte, unter seinem Kommando vom Feind niedergeschlagen zu werden, der glaubte, er sei in einem Kampf um seine Existenz verstrickt: Das deutsche Volk glaubte, es sei an einem Aggressionskrieg beteiligt und so hat es sich nicht voll im Kampf eingesetzt. 30 Direkt nachdem Deutschland verloren hatte, hat sich Ludendorff zusammen mit seiner Frau Mathilde, einer erfolgreichen und selbstständigen Autorin, an die Vorbereitungen für den nächsten gemacht. Das bedeutete, dass Juden, Freimaurer und Katholiken, aufgrund ihres angeblichen Feh30 Erich Ludendorff: Der totale Krieg, München 1937. 87 (TK). Über Ludendorffs Einfluss, siehe Jutta Sywotek: Mobilmachung für den totalen Krieg. Opladen 1976. 67. Einige Kommentatoren scheinen nicht zu erkennen, dass Ludendorff dachte, dass die Verbündeten einen totalen Krieg führen und dass es Deutschlands Unfähigkeit war, dies nicht so zu tun. Isabel V. Hull: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany. Ithaca 2005. 205.
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lens einer totalen Verpflichtung zum Staat, als Staatsfeinde in großem Stil angegriffen wurden. In der Tat war Ludendorff so überzeugt, dass ihnen nicht vertraut werden kann, dass er glaubte, weder Juden sollte es erlaubt sein, in der Armeen eines nordischen Volkes zu kämpfen, noch sollten Schwarze in die Armeen »weißer Völker« (TK 50, Fn). 1930 prägte Ernst Jünger den Ausdruck »totale Mobilmachung«, aber was Ludendorff mit »totalem Krieg« meinte, war nicht bloß Mobilmachung von Personal und Einsatzmitteln, bei der jeder einzelne Deutsche in den Dienst der Kriegsführung gestellt wird (TK 88), sondern auch eine Mobilmachung der menschlichen Seele und der Volksseele (TK 26). Die Tatsache, dass Jüngers Aufsatz fünf Jahre vor Ludendorffs veröffentlicht wurde, bedrohte Ludendorffs Anspruch auf Originalität nicht. Ludendorff hatte bereits diese Ideen in seinen Kriegserinnerungen verbreitet, als Jüngers Berufung auf Ludendorffs Versuche, den militärischen und politischen Führungsstab zu vereinigen, als Evidenz totaler Mobilmachung bestätigt wurden. 31 Nichtsdestotrotz in wenigstens einer Hinsicht war Jüngers Kriegsanalyse über die vergangenen 100 Jahre durchschlagender als Ludendorffs. In seinen Kriegserinnerungen bestätigte Ludendorff den Erfolg der alliierten Propaganda, die die Auflösung Deutschlands untergrub, indem sie von »Abrüstung nach dem Krieg« und dem Völkerbund sprach, aber er beharrte darauf, dass die Deutschen selbst nur Frieden wiederherstellen und erhalten wollten. 32 Anders gesagt, direkt nach dem Krieg sah Ludendorff nicht die Verbindung zwischen der Idee des totalen Krieges und der Idee des absoluten, unvermeidbaren Friedens. Im Unterschied dazu argumentierte Jünger, dass Deutschlands Niederlage zum Teil das Ergebnis der Tatsache war, dass die Deutschen dachten, sie würden für Deutschland kämpfen, während ihre Gegner, den Vorteil hatten, dass sie dachten, sie würden an einem »Kampf des Fortschritts, der Zivilisation, der Humanität, ja, des Friedens« teilnehmen (KK 22). In einem Text von 1930 sah Jünger die Kriege des frühen Abschnitts des Jahrhunderts als so klaren Beleg für einen Vorteil, den »fortschrittliche« Nationen haben, dass scheinbar »eine Art von Automatismus im Sinne der Darwinschen Theorien von der Auslese der ›Tüchtigsten‹ zu walten scheint« (KK 17). Angesichts der jüngsten Ereignisse ist es außergewöhnlich, Jüngers Erklärung »der grotesken Idee« einer Werbemaßnahme heu31 32
Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung. In: Krieg und Krieger. Berlin 1930. 15 Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914–1918. Berlin 1919. 3, 286 f.
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te zu lesen, die die Aufgabe hat, die Propaganda für einen modernen Krieg bereitzustellen. Besonders beeindruckend ist, wenn er das Beispiel des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg einführt, die ihr eigenes Interesse zum Rang eines humanitären Prinzips steigerten, und zwar in diesem Falle zur »Freiheit der Meere« (KK 20). In anderen Worten: aus Jüngers Perspektive war Ludendorff, trotz all seiner Einsicht in den modernen Krieg, unfähig zu sehen, dass das Entscheidende in einem totalen Krieg, nicht die Vernichtung seines Feindes ist, nämlich um nicht selbst vernichtet zu werden – so wichtig dieses Motiv auch war – sondern der Trieb, seinen Feind zum Wohle des Fortschritts zu vernichten. Deshalb merkt Jünger an, dass die Gabe des Krieges vom Geist des Fortschritts durchdrungen wurde (KK 11). Die Kant’sche Idee einer Fortschrittsgeschichte, die zu einer vollkommenen bürgerlichen Einheit führt, untergräbt gegen Kants eigene Absichten den Gegensatz von Frieden und Krieg als einen Gegensatz von Moralität und Politik. Wenn im Laufe der Geschichte Frieden nicht mehr mit Krieg abwechselt, sondern als ihre Vervollkommnung an das Ende einer wesentlich gewaltsamen Geschichte verschoben ist, dann wird auch Ethik verschoben. Das ist die charakteristische moderne Position über Krieg, die fast 200 Jahre alt ist. Heutzutage würde eine ethische Herangehensweise zur Kriegsführung als naiv betrachtet werden. Kriege wurden, ungeachtet der Genfer Konventionen, unter viel strengeren Regeln als heute geführt. Sie waren selbstverständlich auch deutlich weniger gewaltsam. Kant beharrte darauf, dass Politik der Moralität untergeordnet werden solle, nichtsdestotrotz war diese Hierarchie, sobald er sich der Geschichte zuwendete, durch ein Dogma behauptet und nirgends in seiner Untersuchung reflektiert: Die ungesellige Gesellschaft muss dem Frieden vorausgehen (AA VIII 383–86). Im Unterschied dazu behielt Hegel die Priorität von Politik aufrecht.
4. Gerade in einem kurzen Aufsatz wie diesem reicht es nicht, nur eine Diagnose anzubieten, die zeigt, dass Kants Schriften über Frieden und Kosmopolitismus – Schriften, die die meisten Theoretiker immer noch als Quelle nutzen, um die gegenwärtigen Probleme von Krieg und Frieden anzusprechen – besser verstanden werden als Teil 67 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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eines Problems und weniger als ein Heilmittel. Obwohl ich nicht dafür argumentieren kann, dass es eine fertige Alternative gibt, zu der es sich hinzuwenden gilt, möchte ich doch mit einem Verweis darauf schließen, warum ich glaube, dass die Schriften von Emmanuel Lévinas, obgleich nicht frei von eigenen Problemen, auf einen anderen Ansatz hinweisen, der es wert ist, untersucht zu werden. 33 Lévinas beginnt Totalität und Unendlichkeit mit der Hinterfragung der Nachzeitigkeit, zu der Ethik meistens verdammt ist. Für Lévinas ist die Politik des Seins eine Politik des Krieges, und er schrieb ein Buch mit der Absicht zu zeigen, dass es immer noch einen Platz für Ethik gäbe. Genauer, er präsentierte eine Darstellung des Krieges, die nicht mit der Darstellung von Verletzungen und Todesfällen, die er verursacht, endet, sondern mit der Gewalt, die für die Identität des selben benötigt wird: »Das ontologische Ereignis, das sich in dieser schwarzen Klarheit abzeichnet, ist die Mobilisierung der bis dahin in ihrer Identität verankerten Seienden; die absoluten Seienden werden mobilisiert kraft eines absoluten Befehls, dem sie sich nicht zu entziehen vermögen.« 34 Der Bezug zur »Mobilisierung« ist nicht zufällig. Er erinnert an Jüngers Aufsatz »Die totale Mobilmachung«, aus dem vorher zitiert wurde. Ähnlich erkennt Lévinas die gegenwärtige Tendenz, das Individuum darauf zu reduzieren, ein »Träger von Kräften zu sein, die die Individuen ohne ihr Wissen steuern« (TU 20), das ist charakteristisch für den Kant’schen Friedensdiskurs wie auch den Hegel’schen Kriegsdiskurs. Die Erfahrung, die Auflösung des Individuum inmitten großer Streitkräfte, wie sie im totalen Krieg geschieht, gesehen zu haben, ist somit die Grundlage für seine Polemik gegen eine Totalität, die weit davon entfernt ist, einfach eine philosophische Idee von ihm zu sein, obwohl sie das auch ist. Es ist weithin bekannt, dass Lévinas’ Beitrag zur Geschichte eine Polemik gegen Hegel ist und seine Idee der Rechtfertigung der Geschichte (TU, 22). Es ist weniger bekannt, dass Lévinas auch versuchte, seine Diskussion über die Geschichte zu nutzen, um die Idee vom Frieden von seinem Kant’schen Erbe zu befreien. Gleichwohl ist das der Grund, warum er genau auf den nächsten Seiten nach seinem Siehe zum Beispiel Howard Caygill: Levinas and the Political. London 2002; Robert Bernasconi: Who is my Neighbor? Who is the Other? Questioning the Generosity of Western Thought. In: Claire Katz, Lara Trout (Hg.): Emmanuel Levinas: Critical Assessments. London 2005. Bd. 4. 5–30. 34 Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übers. von Wolfgang N. Krewani. Freiburg/München 1993. 20 33
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Angriff auf Hegel verneint, dass Frieden seinen Platz »in der objektiven Geschichte [hat], die der Krieg entdeckt, daß er nicht etwa das Ende dieses Krieges oder das Ende der Geschichte ist« (TU, 24). Sowohl gegen Hegel als auch Kant schlägt Lévinas einen eschatologischen Urteilsbegriff vor, der »das Sein dem Richterspruch der Geschichte und der Zukunft« (TU, 22) entzieht und mich zur Verantwortung für die Opfer des Krieges ruft, die die Geschichte tendenziell vergisst. Aus demselben Grund verortet Lévinas Frieden und Gerechtigkeit nicht am Ende der Geschichte, die mit einem Hobbes’schen Krieg aller gegen alle beginnt, so wie Kant vorschlägt, sondern er verortet wie 1984 in »Paix et Proximité« Frieden am Ursprung.35 So dargelegt scheint Lévinas’ Position eine einfache Umkehrung von Kant. Doch eine nähere Überprüfung zeigt, dass das, was auf dem Spiel steht, der ontologische Charakter eines menschlichen Subjekts ist, das in Lévinas’ Texten keine Identität hat, und eine Dualität von moi und soi ist, die eine Vertretung für den Anderen ermöglicht und die für den Menschen »unter dem Gewicht des Seins seinen eigenen Sinn des Des-inter-esse bewahren kann« (PP 346). Auf dieser Grundlage unterscheidet Lévinas die griechische Idee des Friedens, die auf dem Modell der Angleichung beruht, und die hebräische Idee von Frieden. Bei der ersten sind Seiende als zeitliche Seiende gedacht, die selbstgenügsam in ihrer Identität »hinter den verschlossenen Türen zuhause« (PP 342) sind, während die hebräische Idee von Frieden die Frage nach der eigenen Identität, mit ihrer Freiheit und Macht zusammenbringt (PP 344). Obwohl Lévinas das Problem sah, ist mir nicht klar, ob er eine Lösung fand. Das wird besonders in »Paix et Proximité« deutlich, wo er, nachdem er die griechische und die hebräische Raumkonzeption unterscheidet, sagt, dass sie einander eher bedingen, als dass sie sich angleichen, und das behauptet er, sogar nachdem er das griechische Ideal stark kritisiert hat (PP 345). Doch Lévinas, und das ist sein Verdienst, stellt den Verdacht gegen Krieg, der nach Rousseau verloren war, wieder her. Er warnt davor, dass Krieg »zur Einrichtung eines Krieges mit gutem Gewissen im Namen der historischen Notwendigkeiten wird« (PP 346). Das markiert einen entscheidenden Unter35 Emmanuel Levinas: »Paix et proximité« in: Emmanuel Levinas. Les Cahiers de La nuit surveillé. Paris 1984. 346 (von nun an PP); Emmanuel Levinas: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische. Übers. von Pascal Delhom und Alfred Hirsch. Berlin (in Vorbereitung).
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schied zwischen Lévinas und Kant, abgesehen von den Politikern, die ihre Nationen in den Krieg bringen, und dabei verkünden, sie täten dies zum Wohle der ganzen Menschheit, währenddessen sie ihre Selbstsicherheit und Selbstrechtfertigung aus einer Philosophiegeschichte ziehen, die einem unvermeidlichen Prozess in Richtung eines unvermeidlichen Friedens verpflichtet ist. Man sollte hier nicht vergessen, wie Lévinas sich auf das quälende Gewissen in der Form einer Angst beruft, die die Unschuldigen leiden lässt, um den Unterschied zwischen staatlicher Gewalt und wahrer revolutionärer Politik zu begründen. 36 Nichts entfesselt die Schrecken des Krieges mehr als ein selbstsicherer Sinn von Überlegenheit, der vom Verdacht über seine eigene Motivation befreit wurde. Man kann sich selbst überzeugen, dass man auf der Grundlage von Religion, Rasse, Kultur oder Moral überlegen sei, und in jedem Falle ist die Tür für die Rechtfertigung von Brutalität geöffnet. Im Religionskrieg kämpft man für das, an was man am liebsten glaubt – die eigene Seele und den Gott, dessen Anerkennung gesucht wird – und man gibt dem Feind die Wahl zwischen Bekehrung oder Tod. In Rassenkriegen ist man über die rassische Reinheit beunruhigt, die im Herzen der Überlebensfähigkeiten der eigenen Rasse sein soll, so vernichtet man die bereits vermischten Rassen oder diejenigen, die vielleicht die rassische Reinheit durch Vereinigung bedrohen könnten. In Kulturkriegen bezeichnet man einige Bevölkerungen als barbarisch oder primitiv und bringt sie so unter das evolutionäre Todesurteil, für das bloß die Natur arbeitet. So beschleunigt man das Unvermeidliche. Der Krieg für den ewigen Frieden ist ein moralischer Krieg und seine Befürworter glauben, dass sie selbst ermächtigt sind, bestimmte Güter zu verteilen – ewigen Frieden, repräsentative Demokratie, eine bestimmte begrenzte Art von liberaler Freiheit – die alle Menschen von Natur aus wollen, ob sie es wissen oder nicht, so dass sie nicht gefragt werden müssen, welche Art von Frieden, Demokratie oder Freiheit sie wollen und unter welchen Bedingungen. Unter diesen Bedingungen ist eine Anerkennung, dass Selbstbefragung der Art, wie sie Lévinas anregt kein Betrug von Ethik, sondern im Herzen von Ethik, und somit Frieden, wie ihn Lévinas auffasst, ein Schritt in die richtige Richtung ist. Aus dem Englischen von Christina Schües 36
Emmanuel Levinas: Du sacré au saint. Paris 1977. 38–39.
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Die »dual use capacity« von Friedenstheorien. Das Beispiel der liberalen Theorie des »demokratischen Friedens« Lutz Schrader
Die Ideengeschichte kennt nicht wenige Beispiele dafür, dass Friedenstheorien von ihren Urhebern und Anhängern mit großen Hoffnungen bedacht wurden. So haben Jean Bodin und Thomas Hobbes die Theorie der Politik und des Staates bekanntlich als Friedenskonzept entworfen. Beide suchten einen Ausweg aus der auch für sie selbst existenziellen Bedrohung der Konfessionskriege in England und Frankreich. Nichtsdestotrotz gilt Hobbes heute als der theoretische Vater des gewalttätigen Staates. Ein anderes Beispiel: Die Väter des modernen Völkerrechts, Grotius, Pufendorf und Vattel, verfolgten mit ihren Schriften unbezweifelbar das Ziel, einen dauerhaften Frieden zwischen den Nationen zu stiften. Dennoch wurden sie später von Kant als »leidige Tröster« bezeichnet. Der Grund? Ihr »Kodex« wurde – wie Kant im »Ewigen Frieden« schreibt – von den Staaten »immer treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffes angeführt, ohne daß es ein Beispiel gibt, daß jemals ein Staat durch mit Zeugnissen so wichtiger Männer bewaffnete Argumente wäre bewogen worden, von seinem Vorhaben abzustehen«. 1 Wie ist die Wandlung von Friedensentwürfen hin zu Konzepten der Rechtfertigung von Gewalt und Krieg zu erklären? Warum wurde der von Jean Bodin und Thomas Hobbes als Friedensgarant gedachte Staat zum Inbegriff staatlicher Allmacht und Unterdrückung jeglicher eigenständigen Regung der bürgerlichen Gesellschaft? Was sind die Gründe dafür, dass sich das Völkerrecht, das von seinen Vordenkern als Friedensordnung gedacht war, unter den Händen von Monarchen und Regierungen zur Rechtsgrundlage par excellence für die Führung von Kriegen wurde? Damit ist offenbar ein grundlegendes Problem von Friedenstheorien angesprochen – ihre dual use
Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg 1795. 34.
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capacity, d. h. ihre Nutzbarkeit zur Stiftung friedlicher Ordnungen wie auch zur Rechtfertigung der Anwendung von Gewalt und Krieg. Dieser für die Friedenswissenschaft irritierende Befund ist nun auch für die Theorie des »demokratischen Friedens« zu konstatieren. Wie ist die doppelte Nutzbarkeit von Friedenstheorien zu erklären? Ich werde dieser Frage zunächst am Beispiel der Theorie des »demokratischen Friedens« nachgehen. Damit ist zugleich die Erwartung verbunden, von diesem konkreten Beispiel auch einige allgemeinere Schlussfolgerungen ableiten zu können. Angefeuert durch die globale Dynamik der Ausweitung des westlichen demokratischen Modells und der im selben Tempo stark expandierenden Gemeinschaft demokratischer Staaten wurde der »demokratische Frieden« in der post-konfrontativen Ära zur bestimmenden Chiffre der Weltordnung. Das zentrale Strukturprinzip dieser Weltordnung ist das Gegenüber und Gegeneinander der Gemeinschaft demokratischer Staaten, die auf die weltweite Verbreitung ihres Herrschaftstyps drängt, auf der einen Seite und des nicht-demokratischen »Rests der Welt« – einer überaus heterogenen Gruppe von Staaten – auf der anderen Seite. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden »Lagern« wird die internationale Politik in den kommenden Jahrzehnten maßgeblich bestimmen. Ihr Ausgang wird nicht wenig – so meine These – von der Beschaffenheit der Theorie und der Ideologie des »demokratischen Friedens« abhängen. Es ist deshalb keineswegs gleichgültig, ob die Theorie ein konfrontatives und gewaltträchtiges Verhältnis zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Staaten als Modus der globalen Ausweitung demokratischer Herrschaftsverhältnisse als unausweichlich rechtfertigt oder ob sie an einer friedens- und demokratiekonformen Bearbeitung der Probleme und Konflikte an dieser zentralen Bruchlinie der Weltpolitik orientiert ist. Die heute den Diskurs dominierende liberale Theorie des »demokratischen Friedens« bildet – so der Direktor der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) Harald Müller – »eine große Versuchung zur Selbst-Heroisierung der Demokratien, zur Ideologisierung und zur Selbstermächtigung, gegen Nichtdemokratien zu den Waffen zu greifen. Sie kann auch dazu verleiten, das Bestehen von Sicherheitsgemeinschaften für selbstverständlich zu halten und die Zerfallsgefahren zu ignorieren, die in der Ambivalenz der liberalen Ideologie angelegt sind. In ideologisierter Form trägt die Theorie daher den Keim der doppelten praktischen Selbstwiderle72 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Die »dual use capacity« von Friedenstheorien
gung in der Praxis.« 2 Gemeint ist die Selbstwiderlegung der intrinsischen Friedlichkeit von Demokratien untereinander und der Existenz einer diese Disposition tragenden demokratischen Staatengemeinschaft. Das Bewusstsein der Janusköpfigkeit ihrer Theorien kann die Friedenswissenschaften nicht gleichgültig lassen. Sie sehen sich mit der Frage konfrontiert, ob und inwieweit sie über Möglichkeiten verfügen, ihre Konzepte wirksamer gegen Umdeutungen und Instrumentalisierungsbestrebungen zu immunisieren bzw. auf eine friedenfördernde Verwendung in gesellschaftlichen und politischen Diskursen Einfluss zu nehmen: Ein erstes Bemühen müsste darin bestehen, zunächst auf der innerwissenschaftlichen Ebene zu untersuchen, wie es um das Verhältnis zwischen der empirischen Wirklichkeit des »demokratischen Friedens« und ihrer theoretischen Konzeptualisierung bestellt ist. Es müsste dem Verdacht nachgegangen werden, inwieweit in die Theorie eingebaute unterkomplexe Kausalitäten einer Krieg und Gewalt legitimierenden Instrumentalisierung Vorschub leisten. Es wäre zu fragen, inwieweit die Sozial- und Geisteswissenschaften durch eine dieses Risiko antizipierende Theoriearbeit etwaigen politischen Instrumentalisierungsbestrebungen wirksamer vorbeugen können. In einem zweiten Schritt müsste auf der wissenschaftstheoretischen Ebene die Problematisierung der Einbettung der Wissenschaft in den gesellschaftlich-politischen Kontext hinzutreten. Es wäre zu untersuchen, inwieweit die Theorie des »demokratischen Friedens« normative Vorfestlegungen unausgesprochen mit transportiert, die politischen Akteuren Ansatzpunkte für ihre Umdeutung und Instrumentalisierung bieten. Daraus ergäbe sich die Aufgabe, diesen blinden Fleck aufzuhellen und gegebenenfalls durch eine explizite normative Ausrichtung auf eine nachhaltige dialogische und kooperative Friedens- und Demokratieförderung hin zu korrigieren. In einem dritten Schritt sollen auf der diskurspolitischen Ebene die außerwissenschaftlichen Optionen mit Blick auf die Immunisierung von Friedenstheorien im Mittelpunkt stehen. Hier wird gefragt, ob und inwieweit Wissenschaftler die Möglichkeit haben, auf den Umgang mit ihren Theorien innerhalb des politischen Systems Einfluss zu nehmen oder gar die politischen Verhältnisse als solche zu Harald Müller: Anmerkungen zur Theorie des »demokratischen Friedens«. In: Loccumer Protokolle. Rehburg Loccum 2006. i. E.
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beeinflussen. Ausgangspunkt ist die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Macht und Wissen und die daraus ableitbare Einsicht, dass Wissen und Wissenschaft von Anfang an immer schon in Herrschafts- und Machtbeziehungen verstrickt sind, woraus sich für den Wissenschaftler die unhintergehbare gesellschaftliche Verantwortung ableitet, sich aktiv der Krieg und Gewalt rechtfertigenden Zurichtung von Theorien zu verweigern.
1. Die innerwissenschaftliche Ebene Was steckt hinter der doppelten Nutzbarkeit von Friedenstheorien? Ist diese Ambiguität eine Verfälschung der »Theorie« oder ist sie bereits in deren Konstruktion angelegt? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen bleibe ich bei der Theorie des »demokratischen Friedens«. Meine Wahl fällt auf die zentrale Methode innerhalb des Theoriefeldes, d. h. auf die statistische Erhebung der Kriegsneigung aller seit 1816 existierenden bzw. entstandenen Staaten. Dazu wurden für die genannte Zeitspanne Jahr für Jahr jeweils alle möglichen Staatenpaare – also z. B. auch Kolumbien und Malawi – daraufhin untersucht, ob sie Demokratien sind und ob sie gegeneinander Krieg geführt haben. Für die Anhänger der Theorie des »demokratischen Friedens« ist das Ergebnis eindeutig: Mit zwar knapper, aber aus ihrer Sicht ausreichender statistischer Signifikanz zeigt sich, dass seit 1816 demokratische Staaten (fast) gar keine Kriege gegeneinander geführt haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Ergebnis noch überzeugender. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Diskussion darüber eingehen, ob der Befund statistisch tatsächlich so eindeutig ist. Hier gibt es dezidiert abweichende und sogar explizit gegenteilige Meinungen. 3 Mir geht es um einen grundsätzlicheren Punkt und zwar um die theoretische und methodologische Ausdeutung dieses Befunds: Demokratische Staaten verhalten sich gegeneinander friedlich, weil sie demokratisch sind. Und autoritäre Staaten verhalten sich gegeneinander gewaltsam, weil sie nicht demokratisch sind. Die logische Zirkularität der empirischen Grundlage der Theorie Vgl. z. B. Errol A. Henderson: Democracy and War: The End of an Illusion? Boulder, CO 2002.
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des »demokratischen Friedens« resultiert aus zwei methodischen Grundentscheidungen: Die erste Entscheidung besteht darin, mit der Wirkung (d. h. friedliche demokratische vs. unfriedliche autoritäre Staaten) zu beginnen und gleichsam im Rückwärtsgang nach den friedens- bzw. kriegsrelevanten Unterschieden zwischen beiden Regimetypen zu suchen. Der Regimetyp wird damit zur einzigen unabhängigen Variable, die sehr eindeutig mit der abhängigen Variablen »Frieden/Krieg« zu korrelieren scheint. Auf dem Wege der Konstruktion dieser unilinearen Kausalität werden fast zwangsläufig alle anderen beobachtbaren Unterschiede sowohl innerhalb jedes Regimetyps als auch zwischen beiden Regimetypen aus der empirischen Analyse und Theoriebildung ausgeblendet. Grundsätzlich ist der Versuch, die Ursachen für vergangene Ereignisse post factum zu identifizieren, methodisch nicht anfechtbar. Dies setzt aber voraus, dass auch alternative Erklärungen in Betracht gezogen werden. Solche retroaktiven Erklärungen dürfen jeweils nur hypothetische, d. h. fallible Geltung beanspruchen. Andere potenzielle Ansätze können und dürfen nicht endgültig ausgeschlossen und müssen nach Möglichkeit als konkurrierende Erklärung getestet werden. Wie der Fall der Theorie des »demokratischen Friedens« erneut bestätigt, führt die Suche nach einer einzigen dominierenden Determinante gemeinhin zur Umetikettierung oder Ausgrenzung bereits eingeführter Erklärungsansätze. Mit dem Ziel der Homogenisierung der Forschungsergebnisse werden überdies mit der »Theorie« nicht erklärbare »Ausnahmen« aus dem Analysefeld ausgeschlossen. Damit wird der logische Raum zwischen vermeintlicher Ursache und Wirkung so weit verengt, dass das abschließende prädiktive Statement wie ein Gemeinplatz oder wie eine zirkulare Feststellung klingt. Die Methode der »analytischen Induktion« war in der US-amerikanischen Soziologie der 1940er und 1950er Jahre weit verbreitet. 4 Es verwundert schon, dass sich die liberale Forschung zum »demokratischen Frieden« eines derart »alt-methodischen Hutes« bedient. Doch Spott ist nicht mein Motiv. Ich möchte vielmehr von mir verVgl. Ralph Turner: The Quest for Universals in Sociological Research. In: American Sociological Revue. Vol. 18. 1953. 604–611; William S. Robinson: The Logical Structure of Analytic Induction. In: American Sociological Revue. Vol. 16. 1951. 812–818; Alejandro Portes: Social Capital: Its Origins and Applications in Modern Sociology. In: Annual Revue of Sociology. Vol. 24. No. 1. 1–24.
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mutete außerwissenschaftliche Gründe und Folgen dieser auf methodischem Wege bewerkstelligten Komplexitätsreduktion kenntlich machen. Vielleicht kann das Bemühen einflussreicher liberaler Theoretiker als Erklärung dienen, die internationalen Beziehungen von der Warte der liberalen Theorie ähnlich »elegant« und politisch kommunikabel zu erklären, wie dies dem Realismus gelungen ist. Dies ist freilich um den Preis geschehen, die empirisch vielfältige Wirklichkeit der internationalen Politik in ein artifiziell homogenes Kriteriengerüst zu zwängen. Die wissenschaftliche Objektivität behauptende Variable Demokratie verwandelt sich unversehens in eine wirklichkeitsferne Häufung von Institutionen und Tugenden. Demokratien sind die guten Gesellschaften, in denen die Bürger wählen, das Gesetz befolgen, friedlich miteinander kooperieren und deren politische Führer ehrlich und dem Gemeinwohl und dem Weltfrieden verpflichtet sind, was im Umkehrschluss autoritären Staaten rundweg abgesprochen wird. Die theoretische Spezifikation der Kausalität zwischen dem Regimetyp und der Gewaltneigung von Staaten in den internationalen Beziehungen wäre möglicherweise in der Abteilung der weniger spektakulären Leistungen der Wissenschaftsgeschichte archiviert worden, wäre sie nicht auf konkrete Bedürfnisse des politischen Systems getroffen. Denn die »Theorie« des »demokratischen Friedens« scheint in ihrer schlichten, monokausalen Form bestens geeignet, – das verbreitete Vorurteil über die unüberbrückbare Andersartigkeit und Unvereinbarkeit von Demokratie und Autokratie zu bestätigen, – ein idealisiertes Selbstbild demokratischer Staaten zu verfestigen und mithin – die praktizierte Politik demokratischer Staaten, und insbesondere der USA, gegenüber nicht-demokratischen Regimen mit wissenschaftlichen Weihen zu versehen. Unter dem Druck der realistischen, liberalen und konstruktivistischen Kritiker wurde das Bemühen, das Phänomen des »demokratischen Friedens« allein aus der inneren Herrschaftsform heraus zu erklären, in jüngster Zeit nach und nach aufgegeben oder doch zumindest relativiert. Um das Theoriefeld des »demokratischen Friedens« neu zu strukturieren, bedurfte es einer ausreichend leistungsfähigen theoretischen Reformulierung. Auf der Suche nach einem 76 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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geeigneten Konzept sind zwei der liberalen Vordenker der Theorie, Bruce Russett und John Oneal, bei der Friedenstheorie Immanuel Kants fündig geworden. Analog zur im Traktat »Zum ewigen Frieden« entworfenen Friedenstheorie, die mit der republikanischen Verfassung, dem Völkerrecht und dem Weltbürgerrecht drei notwendige Bedingungen für einen dauerhaften internationalen Frieden anspricht, wurden nun die gemeinsame Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und die wirtschaftliche Interdependenz mit in das Theoriegebäude hinein genommen. Der »demokratische Frieden« steht damit nun auf drei Beinen. Russett und Oneal sprechen vom »kantianischen« oder von einem »sich zu einem Dreieck fügenden Frieden« (So lautet auch der Titel der ihre Forschungen der 1990er Jahre bilanzierenden Monographie: Triangulating Peace: Democracy, Interdependence, and International Organizations). 5 Mit der (Wieder-)Einbeziehung traditioneller liberaler Theoriebestände und der Öffnung gegenüber den Kritiken aus dem realistischen Lager gelingt zwar die methodische Kontrolle so unterschiedlicher Drittvariablen wie Interdependenz, Kontiguität und Kräfteverhältnis, doch die Eleganz der liberalen Theorie des »demokratischen Friedens« scheint dahin. Eine rein summarische, theorielose Anhäufung von Drittvariablen wird zwar vermieden. Unbefriedigend bleibt jedoch deren Integration in ein kohärentes theoretisches Konzept. Doch daran muss sich letztlich die Qualität empirisch-quantitativer ex post facto-Untersuchungen messen lassen: »Die einzig Erfolg versprechende Strategie liegt in der systematischen und konsequenten Überprüfung einer theoretischen Argumentation, die bewusst eben nicht ›alle denkbaren‹ Drittvariablen berücksichtigt, sondern ›nur‹ jene, die einer stringenten Argumentation entspringen […]. In diesem Kontext wird die unabhängige Variable zu einer integrierten Variable innerhalb eines Theoriegebildes, welches zugleich eine Reihe spezifischer Drittvariablen nahe legt.« 6 Die systematische und konsequente Überprüfung und Weiterentwicklung der theoretischen Interpretation des Phänomens des »demokratischen Friedens« bleibt also ein Desiderat. Dazu gehört Bruce Russett, John R. Oneal: Triangulating Peace: Democracy, Interdependence, and International Organizations. New York 2001. 6 Rainer Schnell, Paul B. Hill, Elke Esser: Methoden der empirischen Sozialforschung. München 1999. 5
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auch zu fragen, ob die vermeintlich unabhängige Variable »Demokratie« nicht vielleicht doch eine integrierte Variable ist, die in ihrer Ausformung und Qualität von anderen, antezedierenden, d. h. in der Kausalitätskette vorgängigen, Variablen abhängig ist bzw. aus einem komplexen Kontext nicht-linearer Faktoren und Dynamiken heraus erklärt werden muss. Nichtsdestotrotz wurde mit der »kantianischen« Reformulierung der liberalen Theorie des »demokratischen Friedens« und dem temporären Arrangement mit dem (Neo-)Realismus ein modus vivendi geschaffen, der eine deutlich gesteigerte Leistungsfähigkeit des methodischen und theoretischen Handwerkszeugs innerhalb der Grenzen des Liberalismus ermöglicht. Vor dem Hintergrund der gesteigerten Komplexität der Theorie des »demokratischen Friedens« lassen sich so bereits deutlich anspruchsvollere Kriterien für ein demokratiekonformes und friedenförderndes Handeln demokratischer Staaten in den internationalen Beziehungen formulieren. Dazu gehören insbesondere: – die Pflege und Stärkung der (Sicherheits-)Gemeinschaft der demokratischen Staaten; – die Einhaltung und Wahrung des Völkerrechts und der Menschenrechte sowie – die Selbsteinbindung der demokratischen Staaten in internationale Organisationen, Allianzen und andere Zusammenschlüsse demokratischer Staaten. Hier kann nur am Rande vermerkt werden, in welchem Maße sich die US-amerikanische Außenpolitik den normativen und praktischen Implikationen der liberalen Theorie des »demokratischen Friedens« zu entziehen versucht und welches produktive Gestaltungspotenzial eine derart kantianisch aufgeladene liberale Theorie, zumal auf der zwischenstaatlichen Ebene, noch bietet.
2. Die wissenschaftstheoretische Ebene Es gehört zu den beunruhigenden Aspekten der wissenschaftlichen Debatte über den »demokratischen Frieden«, dass von einer Mehrheit ihrer Akteure nicht problematisiert wird, in welchem Umfang gerade demokratische Staaten gewaltsame Interventionen und Kriege initiieren. »Dies zeigt, dass die Wissenschaft selbst bereits Teil des selbst-ermächtigenden Diskurses geworden ist: Das gelegentliche 78 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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kriegerische, sogar aggressive Verhalten der Demokratien gegenüber Nichtdemokratien gilt als Normalität, die in sich nicht mehr erklärungsbedürftig ist. Die Existenz der Nichtdemokratien genügt dann zur Erläuterung des Gewaltverhaltens der Demokratie. Wird hier Wissenschaft nicht zur Ideologie?« 7 Wie kommt es, dass Forscher, die sich in Anbetracht ihres Gegenstands doch der Förderung von Frieden und Demokratie verpflichtet fühlen müssten, einer Politik weitgehend gleichgültig oder zumindest hilflos gegenüberstehen, die zwar die Werte Freiheit, Demokratie und Frieden unablässig im Munde führt, diese aber in ihrer praktischen Politik systematisch mit Füßen tritt? Spätestens seit den wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Elisabeth Ströker wissen wir, dass »die Methoden, die in einer Wissenschaft zur Anwendung gelangen, nicht ihrerseits zur Forschungsgegenständlichkeit dieser Wissenschaft gehören, daß sie ihr, jedenfalls im Regelfalle, nicht selbst zum Objekt wissenschaftlicher Analyse werden. Wissenschaftliches Denken ist so zwar allenthalben methodisch vermitteltes, jedoch nicht methodisch reflektiertes Denken«. 8 Es geht also um den Platz und die Bedeutung der Methode innerhalb des Forschungsprozesses. Positivistischen Wissenschaftsauffassungen wird z. B. von der Kritischen Theorie und dem Pragmatismus vorgeworfen, den Zusammenhang zwischen Methode und Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und der Entscheidungsfreiheit des Wissenschaftlers bei der Wahl der geeigneten Forschungsmethode zu vernachlässigen. Wissenschaft lasse sich nicht auf die »Logik der Forschung«, d. h. auf die Methode reduzieren. Diese Sichtweise, die der Pragmatist Hilary Putnam als »Methodenfetischismus« bezeichnet, geht wie selbstverständlich davon aus, dass sich ein in den Naturwissenschaften, konkret in der modernen Physik, entwickeltes und erprobtes methodisches Handwerkszeug unmodifiziert auf Forschungen im Bereich der Sozialwissenschaften übertragen lasse. 9 Die Kritiker eines solchen positivistischen Wissenschaftsverständnisses machen geltend, dass der Wissenschaftler selbst den GeHarald Müller: Anmerkungen. A. a. O. Elisabeth Ströker: Einführung in die Wissenschaftstheorie. Darmstadt 1973. 5 f. 9 Valer Ambrus: Vom Neopositivismus zur nachanalytischen Philosophie. Die Entwicklung von Putnams Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M. u. a. 2002. 147 f. 7 8
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genstand seiner Forschung bestimmt und gleichsam zusammensetzt. Die »Sache«, um die es geht, ist folglich nicht nur »gebietsmäßig in den verschiedenen Wissenschaften und Wissenschaftsgruppen jeweils als solche eine andere«; sie wird erst eigentlich durch die Art ihrer wissenschaftlichen Befragung konstituiert und verweist so auf das fragende Subjekt: »Weit davon entfernt, ihm einfach vorgegeben zu sein, als sei sie vor aller Problemfassung schon da und als nähme das Subjekt nur gleichsam nachträglich eine gegen sie selbst gleichgültige Beziehung auf, um zu erkennen, wie sie ›an sich‹ beschaffen ist, erweist sich bei näherem Hinsehen vielmehr die Sache selbst als durchaus abhängig von der Art der Fragestellung und ihrer wissenschaftlichen Behandlung. Diese hinwiederum richtet sich, obzwar auf die Sache, so doch nicht allein nach ihr, sondern rückt sie in einen bestimmten Horizont des Interesses.« 10 Das Entscheidungen treffende und handelnde menschliche Subjekt mit seinen geschichtlichen und sozialen Vergegenständlichungen ist letztlich der Bezugspunkt für wissenschaftliche Objektivität. 11 Elisabeth Ströker kritisiert nicht nur die Reduzierung von Wissenschaft auf die Methodologie, sondern zugleich auch die Kehrseite dieses Reduktionismus: die Ausblendung des unaufhebbaren Bezugs wissenschaftlicher Forschung zur konkreten Persönlichkeit des Wissenschaftlers und zur konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit. 12 Im Vordergrund des Einwandes steht die Berufung auf einen umfassenden Begriff der Rationalität, »der nicht nur das wissenschaftliche Erkennen, sondern auch das praktische Handeln im ganzen bestimmen soll […]«. 13 Von Ströker wird ein »neuer« Wissenschaftsbegriff gefordert, »in dem auch die Beziehung von Theorie und Praxis, die Verflechtung von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft akzentuiert werden sollen«. 14 Forscher, die sich der von Ströker und anderen geforderten kritischen Reflexion der gesellschaftlichen Kontextualisierung der Veranstaltung Wissenschaft zu stellen versuchen, sind in der liberalen 10 11 12 13 14
Elisabeth Ströker: Einführung. A. a. O. 1973. 8. Elisabeth Ströker: Einführung. A. a. O. 1973. 8. Elisabeth Ströker: Einführung. A. a. O. 1973. 9, 117 f. Elisabeth Ströker: Einführung. A. a. O. 1973. 116. Elisabeth Ströker: Einführung. A. a. O. 1973. 116, 117 f.
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Scientific Community äußerst dünn gesät. Zu nennen wäre wohl zuallererst Michael W. Doyle. Er hat bereits in seinen ersten Publikationen zum »demokratischen Frieden« im Jahre 1983 über die Kehrseite des »demokratischen Friedens«, d. h. über die Neigung demokratischer Staaten nachgedacht, im Konfliktfall gegenüber nicht-demokratischen Staaten unangemessen zu (re-)agieren. Gegenüber schwachen autoritären Staaten konstatiert er einen massiven Interventionismus und gegenüber starken Staaten eine Tendenz zu »unbedachter Heftigkeit«. Interessenkonflikte würden oft zu Kreuzzügen aufgebauscht. Dies kontrastiere wiederum mit einem »unvorsichtigen und nachlässigen Entgegenkommen« gegenüber strategisch und wirtschaftlich bedeutsamen nicht-demokratischen Regimen. 15 Doyle lässt es – anders als die meisten seiner Kollegen – nicht mit diesem vermeintlich unabänderlichen Befund bewenden. Er problematisiert vielmehr, dass eine solche Politik der westlichen Demokratien gegenüber nicht-demokratischen Staaten vom Standpunkt des liberalen Postulats der globalen Friedenssicherung nur als ein »außerordentliches Scheitern« liberaler Außenpolitik angesehen werden müsse, zumal – wie Doyle scharfsinnig erkennt – dieses »unangemessene« Außenverhalten von Demokratien unmittelbar aus der innenpolitischen Praxis liberal-demokratischer Staaten und dem außenpolitischen Denken des Liberalismus resultiere. 16 Doyle stellt sich dem Dilemma, dass genau jene Elemente des Liberalismus, die den Frieden zwischen liberalen Staaten und Gesellschaften begründen und befördern, d. h. ihre »verfassungsmäßigen Beschränkungen, die geteilten Handelsinteressen und die internationale Achtung der individuellen Rechte«, »Konflikte in den Beziehungen zwischen liberalen und nicht-liberalen Gesellschaften noch verschlimmern« können. 17 Nicht-demokratische Regime – so Doyle – werden von den westlichen Demokratien grundsätzlich nicht als legitim angesehen. Vor diesem Hintergrund könne die prinzipielle Offenheit außenpolitischer Entscheidungsprozesse für Sonderinteressen eine »Atmosphäre der Spannung und eine Lobby der Zwietracht fördern«. 18 Das in den Beziehungen zu nicht-demokratischen Staaten 15 Michael W. Doyle: Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs. Part 2. In: Philosophy and Public Affairs. Vol. 12. No. 4. Fall. 1983. 324 ff. 16 Michael W. Doyle: Kant, Liberal Legacies. Part 2. A. a. O. 343. 17 Michael W. Doyle: Kant, Liberal Legacies. Part 2. A. a. O. 324 f. 18 Michael W. Doyle: Kant, Liberal Legacies. Part 2. A. a. O. 326.
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obwaltende Misstrauen stehe zudem einem dynamischen wirtschaftlichen Austausch und der Schaffung von Institutionen entgegen, die die zwischenstaatlichen Beziehungen stabilisieren könnten. Schließlich beeinträchtigten die ungerechten Wirtschaftsbeziehungen das Wachstum in der Dritten Welt und die Ausstrahlungskraft des liberalen Modells. Als Schlussfolgerung leitet Doyle aus seiner Analyse die Forderung an die liberalen Demokratien ab, in stärkerem Maße innere politische Veränderungen sowie Anpassungen in Handel und Industrie zu akzeptieren. Zugleich befürchtet er aber auch, dass gerade dadurch die Grundlagen des politischen Liberalismus und mithin der Frieden zwischen den demokratischen Staaten untergraben werden könnten: »The choice is one between preserving liberalism’s material legacy of the current world order at the cost of liberal principles or of finding ways of adjusting to a changing world order that protects liberal principles.« 19 Von der Warte eines liberalen Denkers kann das Fazit dieser problematisierenden Überlegungen kaum hellsichtiger ausfallen. In dem Bemühen, das Friedenspostulat und die Prinzipien des Liberalismus miteinander zu versöhnen, formuliert er zwei denkbare Wege: – Entweder der Liberalismus stellt sich selbstkritisch der Friedensund Gerechtigkeitslücke in seiner theoretischen und normativen Architektur – oder die demokratischen Staaten finden Mittel und Wege, die internationale Ordnung ihren Prinzipien und Interessen anzupassen. Dass Doyle eher der ersten Alternative zuneigt, scheint unstrittig. Übrigens ebenso unstrittig wie die Entscheidung der gegenwärtigen US-Administration für die zweite Variante. Doyle schreckt letztlich – wie einst Descartes, der es nicht wagte, eine Philosophie ohne den Bezug zu Gott zu entwerfen – davor zurück, die liberalen Grundlagen seines Denkens radikal in Frage zu stellen. Selbst einem so reflektierten liberalen Forscher wie Doyle fällt es schwer, sich grundsätzlich kritisch zum Liberalismus zu verhalten. Es ist gleichwohl sein unbestreitbares Verdienst, die tiefere
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Michael W. Doyle: Kant, Liberal Legacies. Part 2. A. a. O. 349.
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Ursache für die Instrumentalisierbarkeit der liberalen Theorie des »demokratischen Friedens« aufgedeckt zu haben. Der affirmative Bezug zu Ideologie und Politik des Liberalismus bildet den eigentlichen blinden Fleck der liberalen Theorie des »demokratischen Friedens«, den sie letztlich nicht selber aufzuhellen vermag. Der Liberalismus scheint den »demokratischen Frieden« nur als Universalisierung liberaler Werte, Normen, Prinzipien und Institutionen denken zu können. Deshalb kann die liberale Theorie keine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Ursachen für den Doppelbefund geben – weder auf die Frage, warum Demokratien gegeneinander (fast) keine Kriege führen, noch auf die Frage, warum sie gegenüber Nicht-Demokratien unverändert gewalt- und kriegsbereit sind. Deshalb transportiert die liberale Theorie des »demokratischen Friedens« die Theorie des »liberalen Krieges« immer im Huckepack mit. Die Grenzen zwischen Theorie und Ideologie verschwimmen. Hier öffnet sich das Einfallstor für die Umdeutung und Instrumentalisierung der Theorie durch die politischen Eliten in demokratischen Staaten. Um sich über die gesellschaftliche und politische Kontextualisierung der liberalen Theorie des »demokratischen Friedens« Klarheit zu verschaffen, wählte Michael W. Doyle mit dem Friedenspostulat staatlicher Außenpolitik einen normativen Referenzpunkt. Wobei sich die verschiedenen Wissenschaftsauffassungen darüber streiten, ob dieser normative »Scheinwerfer« außerhalb oder innerhalb der jeweiligen Wissenschaft zu verorten wäre. Das ist an diesem Punkt meiner Überlegungen zunächst zweitrangig. Wichtiger ist, dass damit das von Elisabeth Ströker geforderte erweiterte Wissenschaftsverständnis möglich wird, »in dem auch die Beziehung von Theorie und Praxis, die Verflechtung von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft akzentuiert werden sollen«. 20 Ein solches erweitertes Wissenschaftsverständnis schließt ein, seine Methode selbst zum Thema zu machen. Und zwar nicht nur in einer »neben-wissenschaftlichen« ethischen Reflexion, sondern »in der ausdrücklichen Weise, dass es in ihr ein eigenes Forschungsfeld findet, dessen Objekt, die wissenschaftliche Methode, in ihren einzelnen Merkmalen zu beschreiben und zu analysieren, in ihren Voraussetzungen zu explizieren, ist damit dasjenige, was der Wissenschaftler tut und was ihm im Vollzug seines Tuns zwar vollkommen 20
Elisabeth Ströker: Einführung. A. a. O. 1973. 116, 117 f.
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›geläufig‹, jedoch darin nicht gegenständlich ist, auf präzise Begriffe gebracht werden kann. Dazu bedarf es ersichtlich einer anderen Einstellung als der wissenschaftlichen, nämlich der Reflexion auf diese, und sie eben ist Sache der Philosophie.« 21 Im Dialog zwischen Fachdisziplin und Philosophie könnten die blinden Flecken von Friedenstheorien im Allgemeinen und der Theorie des »demokratischen Friedens« im Besonderen kenntlich gemacht und womöglich durch die nun explizite und damit transparente Verankerung in einem nachhaltig auf die Förderung eines dialogischen und kooperativen Friedens gerichteten Normenkanon ersetzt werden. Auf diesem normativ befestigten Untergrund lassen sich substanzielle Desiderate für die Neuorientierung der Forschungen zur Empirie und Theorie des »demokratischen Friedens« formulieren: – die weltweite Verbreitung demokratischer Herrschaftsverhältnisse nicht einseitig als Expansion des westlich-liberalen Modells, sondern als möglichst symmetrischen Prozess des Dialogs und der Zusammenarbeit zu denken; – neben der Demokratisierung der Staaten in ihrem Innern auch die Demokratisierung und sozial gerechtere Gestaltung der internationalen Beziehungen und globalen Angelegenheiten innerhalb des Theoriefelds des »demokratischen Friedens« expliziter zum Thema zu machen und politisch entschlossener zu betreiben sowie schließlich – mehr wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit auf die Demokratisierung, Institutionalisierung und Verrechtlichung der Gemeinschaft demokratischer Staaten zu verwenden und so Wege für eine stärkere Einbindung der Vereinigten Staaten in eine friedensfördernde Weltordnung zu öffnen.
3. Die diskurspolitische Ebene Im Fall der Theorie des »demokratischen Friedens« sind ganz offenkundig starke politische Akteure daran interessiert, deren ideologisches Potenzial zu erschließen und für ihre Politik nutzbar zu machen. Wie das Beispiel der Irak-Politik der Bush-Administration zeigt, können etwa in Gestalt der Rechtfertigung einer militärisch
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gestützten imperialen Machtpolitik diese Bestrebungen selbst zur Pervertierung der inneren Logik des »demokratischen Friedens« führen. Hier tut sich eine dritte Frontlinie zur Immunisierung von Friedenstheorien gegen ihre Instrumentalisierung zur Rechtfertigung von Gewalt und Krieg auf. Doch dieses Mal reicht Verteidigung nicht. In der Abwehrposition verharrend, liefe der Wissenschaftler Gefahr, in einer fragwürdigen Arbeitsteilung auf die Rolle des wohlfeilen Rohstofflieferanten für Diskurse reduziert zu werden, die von politischen Akteuren gemäß ihren Interessen und Belangen produziert und als Machtmittel zur Begründung und Legitimierung ihrer Politik eingesetzt werden. Nach Foucault ist der Diskurs »nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht«. 22 Sein Diskurs-Begriff bzw. -Konzept fragt nach den Faktoren – Foucault nennt es ›zone du non-pensé‹ –, »die die Bedingungen und die Umrisse des Denkens« festlegen. »Welches, so lautet die Frage, sind die Bedingungen, die endgültig darüber entscheiden, was – gemessen am unbegrenzten Angebot der Sprache – zu einer Zeit und an bestimmter Stelle tatsächlich gesagt wird? Seine Unbestimmtheit […] gewinnt der Diskursbegriff dadurch, daß er nicht nur die Organisation des Wissens beschreibt, also eine Form, sondern auch seine Produktion, also eine Praxis, und daß er weiterhin nicht nur die institutionellen Rahmenbedingungen des Wissens anspricht, sondern auch die Politik.« 23 Der Diskursbegriff umfasst demnach sowohl die Regeln der Formierung von Diskursen als auch die von ihnen gestiftete Ordnung, d. h. die durch sie zugerichtete Welt. Kurz: »Was wir von der Wirklichkeit wissen und über sie sagen, das prägt sich aus in Diskursen«. 24 Um einen Überblick darüber zu gewinnen, wie sich das Reden über den »demokratischen Frieden« zu einer Diskursformation verdichtet hat und um diese Rede analytisch aufzuschließen, benötigen wir entsprechende Werkzeuge. Mit der theoretischen Aufhellung der unentrinnbar sozialen und politischen Qualität von Diskursen, ihren 22 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 1993. 11. 23 Ralf Konersmann: Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults L’ordre du discours. In: Foucault: Ordnung des Diskurses. A. a. O. 77. 24 Ralf Konersmann: Der Philosoph mit der Maske. A. a. O. 80.
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allgemeinen Produktionsbedingungen und ihrer inneren Struktur hat Foucault ein solches Werkzeug zur Verfügung gestellt: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.« 25 Letztlich soll diese »schwere und bedrohliche Materialität« den Herrschenden und den von ihnen dominierten Institutionen dienstbar gemacht werden. Diskurspolitik zielt auf die »Rahmung« von Diskursen, d. h. auf ihre interessen- und herrschaftskonforme Zurichtung. Das Diskurskonzept Foucaults überwindet die dem positivistischen Wissenschaftsverständnis eigene Trennung zwischen Wissenschaft und Praxis/Politik und in dieser Logik konsequenterweise auch die Trennung zwischen (Human-)Wissenschaften und Ideologie. Die Wissenschaften, und insbesondere die Sozial- und Geisteswissenschaften, sind an erster Stelle in die Produktion von »Wahrheit« als dem wichtigsten Rohstoff für Diskurse und Diskurspolitik involviert. 26 Erst die Humanwissenschaften schufen ein System von tief verinnerlichten, als normal und natürlich geltenden Identitäten und Normen und damit die die bürgerliche Gesellschaft charakterisierende und zusammenhaltende ideelle Textur. Diese so genannte Episteme bildet das für eine Epoche charakteristische kognitive Ordnungsschema, das der Wissenschaft und der Philosophie ebenso wie dem alltäglichen Wissen zugrunde liegt. 27 In der diskurstheoretischen Annäherung an das Problem der Instrumentalisierbarkeit von Friedenstheorien bedarf es folglich der Berücksichtigung beider Seiten – der Seite der Macht und der Seite des Wissens –, auch wenn beide Aspekte nach Foucault miteinander unauflöslich verwoben und letztlich nur heuristisch zu unterscheiden sind. Mit Foucault wird es so möglich, die Verflechtung von diskursiven und nicht-diskursiven Elementen in der konkreten Wirklichkeit von Machtstrukturen mit einem kohärenten theoretischen Zu25 26 27
Michel Foucault: Ordnung des Diskurses. A. a. O. 10 f. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Berlin 1978. 54. Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault. Zur Einführung, Hamburg 2002. 38.
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griff zu analysieren. Foucault versteht unter einem Machtdispositiv »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt«. 28 Das Machtdispositiv des »demokratischen Friedens« ist vor seiner »wissenschaftlichen Entdeckung« durch Quincy Wright (1965) 29 in den 1940er, Dean Babst (1964) 30 und Rudolph Rummel (1983) 31 in den 1960er und 1970er Jahren als »soziale Tatsache« in die Welt gekommen. 32 Die politisch-soziale Wirklichkeit des »demokratischen Friedens« wurde über einen Zeitraum von nunmehr weit über 100 Jahren hauptsächlich durch die liberale Fraktion der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Elite der Vereinigten Staaten geschaffen. Das »Machtdispositiv« des »demokratischen Friedens« lässt sich beschreiben als: – sukzessiv akkumuliertes Wissen der politischen Eliten der Vereinigten Staaten, das immer wieder durch adäquate Erfahrungen validiert und ermutigt wurde; – eine auf dieses Wissen gegründete spezifische Politik und Strategie der Herrschaftssicherung und Interessendurchsetzung der aufsteigenden US-amerikanischen Weltmacht; – ein innergesellschaftliches, inter- und transnationales Set von politischen (demokratischen) Institutionen und kulturell-normativen Prägungen sowie – eine gemeinsame liberal-demokratische Identität als Eintrittskarte und Kitt für die von den Vereinigten Staaten hegemonial geformte und geführte Gemeinschaft demokratischer Staaten. Auch wenn die Triebkräfte dieses Formierungsprozesses primär die Interessen der politischen Eliten der Vereinigten Staaten waren und Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 119 f. Quincy Wright: A Study of War. Abridged by Louise Leonard Wright. Chicago, IL/ London. 1965. 30 Dean V. Babst: Elective Governments – A Force for Peace. In: The Wisconsin Sociologist. Vol. 3. No. 1. 1964. 9–14. 31 Rudolph J. Rummel: Libertarianism and International Violence. In: Journal of Conflict Resolution. Vol. 27. No. 2. March. 1983. 27–71. 32 Vgl. Alexander Wendt: Collective Identity Formation and the International State. In: American Political Science Review, Vol. 88, No. 2. 1994. 389 f. 28 29
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sind, die durch ihre hegemoniale Machtposition in der Weltpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts struktur- und kulturprägend wurden, sahen sich die US-amerikanischen Führungszirkel immer auch veranlasst, Positionen und Interessen der anderen demokratischen Staaten Rechnung zu tragen und mit diesen in explizite und implizite Aushandlungsprozesse einzutreten. So entfaltete sich nach und nach eine Logik gegenseitigen Lernens. Die heranwachsenden politischen, aber auch wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Eliten der demokratischen Staaten wurden zunehmend systematischer nach dem Paradigma (liberal-)demokratischer Herrschaft und Ideologie sozialisiert. So gesehen, ist der »demokratische Frieden« das Ergebnis und der Modus der weltweiten Expansion eines unter bestimmten historischen Bedingungen entstandenen (liberal-demokratischen) Herrschaftsmodells. Innerhalb der Gemeinschaft demokratischer Staaten schälte sich neben Kapitalismus, Rechtsstaatlichkeit, demokratischen Institutionen usw. die weitgehende Einhaltung des innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Friedens als ein wesentliches Charakteristikum heraus und wurde aus Gründen, die im Übrigen in den theoretischen Forschungen zum »demokratischen Frieden« noch nicht eindeutig geklärt sind, zu einer identitätsstiftenden Norm und Gemeinsamkeit erhoben. Gegenüber dem internationalen Umfeld – der out-group nicht-demokratischer Staaten – wurden und werden dagegen Krieg und Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung nach wie vor nicht grundsätzlich ausgeschlossen, ja sogar unter je wandelnden Begründungen als moralisch legitim und (völker-)rechtskonform gerechtfertigt. In der Logik Foucaults steht die »Macht« dem Wissen und der Wissensproduktion nicht als vorschreibende, nachfragende oder gar disziplinierende Instanz gegenüber. Umgekehrt ist die Wahrheit nicht die der Macht entgegengesetzte Instanz, die uns aufklärt und befreit. Es ist nicht so, dass auf der einen Seite die »Politik« und damit jene stehen, die Macht haben, und auf der anderen Seite die »Wissenschaft«, die mehr oder weniger machtlos darüber befindet, was nach wissenschaftlichen Kriterien Anspruch auf »Wahrheit« erheben kann. Ebenso wie die Macht durch wissenschaftlich produzierte Diskurse gestützt wird, funktioniert die Wahrheit(-sproduktion) selbst als diskursives Ausschlussprinzip und mithin als Machtmechanismus. Zu einem etablierten Machtdispositiv gehören je spezifische Unterscheidungskriterien für die Akzeptanz bzw. Ablehnung von 88 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Aussagen als wahr oder falsch, d. h. die Bedingungen für die Akzeptanz eines bestimmten Wissens. Macht und Wissen bedingen sich gegenseitig und beanspruchen Wahrheit. Während in den vorbürgerlichen Gesellschaften die Regel des Souveräns das absolute Gesetz war, ist die Regel in der bürgerlichen Gesellschaft die Norm. Foucault unterscheidet zwischen dem repressiv von außen durchgesetzten Gesetz und der verinnerlichten Norm und bezeichnet deshalb die bürgerliche Gesellschaft auch als »Gesellschaft der Normalisierung«. 33 Diese Normen werden maßgeblich von den (Human-)Wissenschaften hervorgebracht und dank deren Nimbus als Wahrheitsproduzent in der Gesellschaft verankert. Die Wahrheit ist »um die Form des wissenschaftlichen Diskurses und der Institutionen, die ihn produziert, zentriert«. 34 Die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft beteiligen sich maßgeblich an der Konstruktion eines gültigen Gesellschafts- und Menschenbildes, indem sie als normal und natürlich geltende Regeln, Merkmale und Abläufe produzieren, die den Status allgemeiner gesellschaftlicher Wahrheiten haben und die die »bevorzugten Techniken und Verfahren der Wahrheitsfindung« festlegen. 35 Da in liberalen bürgerlichen Gesellschaften die Machtverhältnisse die Individuen in ein Netzwerk einbinden und ihre Identität erst eigentlich konstituieren, sind sie nicht unbedingt auf die Ausübung von (direkter) Gewalt angewiesen, um sich Geltung zu verschaffen. Die Einbindung der Individuen und Gruppen geschieht im Wege der Normierung bzw. Normalisierung. Dabei sind die Einzelnen »stets in einer Position, in der sie diese Macht zugleich erfahren und ausüben; sie sind niemals die unbewegliche Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente. Mit anderen Worten: die Macht wird nicht auf die Individuen angewandt, sie geht durch sie hindurch […]. Tatsächlich ist das, was bewirkt, daß ein Körper, Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuum identifiziert und konstituiert werden, bereits eine erste Wirkung der Macht.« 36 Es ist mithin an jedem Einzelnen und damit auch an jedem Wissenschaftler zu entscheiden, ob die Macht unverändert durch ihn hindurch geht oder ob er seine Rolle als Medium und Schaltstelle 33 34 35 36
Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 94. Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 52. Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 51. Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 82 f.
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eigenständig, kreativ und verantwortlich nutzt. Hier ergeben sich Ansatzpunkte für autonome Handlungsmöglichkeiten. Der Wissenschaftler kann sich zumindest ein Bewusstsein darüber verschaffen, ob er gleichsam im Dienste der Macht deren ursprüngliche Intention verstärkt oder ob er den Dingen – dem Fluss der Diskurse – eine neue Wendung gibt. Foucault gebraucht Macht also nicht nur negativ im Sinne von Repression. Macht kann sich auch in der »Förderung und Strukturierung von Handlungsoptionen und Subjektivierungsformen« äußern. In dieser Sichtweise wird »Regierung« von einem institutionell klar umrissenen Ort zu über die gesamte Gesellschaft verteilten »Kontaktpunkten«, an denen »die Form der Lenkung der Individuen durch Andere mit der Weise ihrer Selbstführung« 37 im Sinne eines »wechselseitigen Produktionsverhältnisses« 38 von Macht und Herrschaft verknüpft ist. Macht bzw. Herrschaft sind ohne die über »Subjektivierungsprozesse und -technologien« hergestellte selbst- oder fremdbestimmte Akzeptanz seitens der Individuen nicht denkbar. 39 Durch den Perspektivwechsel von einem westlich konnotierten normativen und substanziellen Macht-Verständnis hin zu einer relationalen Macht-Form 40 entwirft Foucault einen verallgemeinerungsfähigen Analyse- und Interpretationsrahmen, in dem die behauptete Universalität westlicher Demokratiemodelle selbst als singuläre Form begriffen werden kann. Um dies in seinem Konzept abzubilden, kreiert er den Begriff der Gouvernementalität. 41 Danach ist Regierung eine universelle Form, die in Abhängigkeit von Kultur und Mentalität je konkret gefüllt wird. Jedes Regierungshandeln reklamiert RationaMichel Foucault: About the Beginning of the Hermeneutics of the Self. In: Political Theory. Vol. 21. 203 f. 38 Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 134. 39 Bei Foucault hat das »Wort Subjekt« einen »zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet zu sein« (Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1987. 246 f.). 40 Aus diesem relationalen Verständnis von Macht ergibt sich der »kennzeichnende Zug«, »daß einige Menschen mehr oder weniger umfassend die Führung anderer Menschen bestimmen können – nie aber erschöpfend oder zwingend« (Michel Foucault: Für eine Kritik der politischen Vernunft. In: Lettre International. Vol. 1. 1988. 66). 41 Michel Foucault: Die Gouvernementalität. In: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M. 2000. 41–67. 37
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lität für seine Entscheidungen und Ergebnisse. Rationalitäten sind danach »historische Praktiken, in deren Kontext Wahrnehmungsund Beurteilungsstrategien generiert werden«. 42 Sie konstituieren einen »politisch-epistemologischen Raum«, d. h. ein »Möglichkeitsfeld«, das eine Reihe verschiedener Antworten, Reaktionen, Verhaltensweisen usw. erlaubt. 43 So gesehen ist die Akzeptabilität von Geltungsansprüchen von den jeweils herrschenden Rationalitäten abhängig, d. h. von den je konkreten historischen Praktiken, in deren Kontext Wahrnehmungs- und Beurteilungsstrategien generiert werden. 44 In dieser Foucault’schen Perspektive öffnet sich das gesamte Handlungsspektrum für den Wissenschaftler im Allgemeinen und für den im Theoriefeld des »demokratischen Friedens« agierenden Forscher im Besonderen. Mit der Art seiner Selbst-Konstituierung als Subjekt und seinen empirischen, theoretischen und normativen Beiträgen zur Konstruktion des wissenschaftlichen und politischen Diskurses entscheidet er darüber, ob er die lokal erzeugten und instabilen Machtbeziehungen, die von unten nach oben steigen, stützt und ihnen Geltung gegenüber bzw. in den Herrschaftsdiskursen verschafft, oder ob er dazu beiträgt, dass die von unten kommenden unmittelbaren Kräfteverhältnisse von den Herrschenden aufgenommen und ihrem Sinne von »globaleren Phänomenen besetzt und annektiert« werden können. 45 Letztlich geht es darum, ob sich die produzierten Theorien als Ausdrucksweise der Wissenschaft in die Normalisierungsdiskurse einfügen oder die Machtwirkung der wissenschaftlichen und politischen Diskurse selbst zu ihrem Gegenstand machen. Dies benennt die Verantwortung des Wissenschaftlers, nicht nur Kritikoptionen aufzuzeigen, sondern den Blick hinter die Kulissen, auf die dunklen Seiten der Macht und des Verhältnisses von Wissen und Macht zu werfen und immer auch die eigene Involviertheit und Verstrickung in den Macht-Wissen-Komplex zu reflektieren und offen zu legen. Dies ist der Grund dafür, dass Foucault den »Friedensschluß des Staatsphilosophen mit der unmenschlichen Welt« mo42 Thomas Lemke: Max Weber, Norbert Elias und Michel Foucault über Macht und Subjektivierung. In: Berliner Journal für Soziologie. 11. Jg. Nr. 1. 2001. 88. 43 Thomas Lemke: Max Weber, Norbert Elias. A. a. O. 88. 44 Thomas Lemke: Max Weber, Norbert Elias. A. a. O. 88. 45 Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 84.
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niert. 46 Er sieht gerade im kritischen Intellektuellen den »Zerstörer der Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und Kraftlinien kenntlich macht«. 47 Dabei müsse sich der Intellektuelle seinerseits aber davor hüten, wie die etablierten Machtinstitutionen zu agieren und seinerseits danach zu trachten, die von ihm verfochtene Wahrheit zu universalisieren. Vielmehr dürfe er als »spezifischer Intellektueller« (im Unterschied zum »universellen Intellektuellen«) nur für Andere sprechen, »indem er für sich selbst und von sich selbst und seinen persönlichen Erfahrungen ausgehend spricht«. 48 Die Wirksamkeit der Kritik ergibt sich also nicht trotz der Besonderheit seiner Erfahrungen, sondern die Begrenzung des Geltungsanspruchs ist die Voraussetzung dafür, in den »Kampf ›um die Wahrheit‹« einzugreifen: 49 »Indem er die Wahrheit ins Zentrum seiner Arbeit stellt, beabsichtigt Foucault also nicht, Irrtümer zu denunzieren, um an ihren Platz neue Wahrheiten zu setzen […], sondern in einer gegebenen Gesellschaft für diesen oder jenen historischen Zeitabschnitt zu untersuchen, wie in ihr so etwas wie die Wahrheit produziert und extrahiert wird, wie die Wahrheit in ihr funktioniert, mit welchen Effekten der Ausschließung, Invalidation und Disqualifikation für andere Diskurse und andere Arten des Wissens«. 50 In der Auseinandersetzung mit dem produktiven Charakter der bürgerlichen Macht, mit der er ja auch selbst als Wissenschaftler und Philosoph sein Leben lang rang, sieht Foucault im Wesentlichen drei Handlungsoptionen. Die eine ist, sich zu verweigern und zu entziehen; das bedeutet konkret, »schon längst wieder weg« zu sein, bevor die Macht überhaupt nur den Versuch unternehmen konnte, sich in seinem Widerstand einzunisten und ihn als Struktur dingfest zu ma-
Ralf Konersmann: Der Philosoph mit der Maske. A. a. O. 89. Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 198. 48 Thomas Lemke: »Freiheit ist die Garantie der Freiheit« – Michel Foucault und die Menschenrechte. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik. 40. Jg. Heft 3. 2001. 274 f. 49 Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 52 f. 50 François Ewald: Foucault – ein vagabundierendes Denken. In: Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978. 15 f. 46 47
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chen. 51 Eine weitere Option ist die Kritik. Er hat die Möglichkeit, die hinter Begriffen und Theorien liegenden spezifischen Wirklichkeitsproduktionen und Herrschaftstechnologien transparent zu machen und ihnen durch Diskursanalyse sowie historische und etymologische Verweise ihre vermeintlich fraglose Plausibilität und Normalität zu nehmen. Schließlich steht ihm die Möglichkeit zu Gebote, unmittelbar Einfluss auf die Wirklichkeitsproduktion zu nehmen. Das Mittel ist die Schaffung und das Geltendmachen von »Fiktionen«, das hieße in diesem Fall von alternativen, quer zum Mainstream stehenden Theorien: »Es scheint mir die Möglichkeit zu geben, die Fiktion in der Wahrheit zum Arbeiten zu bringen, mit einem Fiktions-Diskurs Wahrheitswirkungen hervorzurufen und so zu erreichen, daß der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, ›fabriziert‹, was noch nicht existiert, also ›fingiert‹. Man ›fingiert‹ Geschichte von einer politischen Realität aus, die sie wahr macht, man fingiert eine Politik, die noch nicht existiert, von einer historischen Wahrheit aus.« 52 Doch an welchem Maßstab könnte sich eine derart von Foucaults Denken angeleitete kritische Theoriearbeit orientieren, um nicht in die Falle eines systematischen Widerstands gegen jegliche Herrschaft zu geraten, sondern sich vielmehr des produktiven und demokratischen Potenzials von Macht zu bedienen? Foucaults Referenz für Kritik und Gegenmacht wird zumindest in seinem Spätwerk die philosophische Ethik. Der Fokus seiner Ethik ist dabei die Identifizierung der »Hauptgefahren«, die es zu bekämpfen gilt. 53 Dieses Bemühen hat Fink-Eitel als »Grundmotiv« der Philosophie Foucaults ausgemacht. 54 Die Hauptgefahr geht nach Foucault von den Ereignissen und Kräften aus, die die Autonomie des Subjekts gefährden. Das autonome Subjekt wird so zum Angelpunkt der ethischen Bewertung von Gesellschaften, das handlungsfähige Politik zu gewährleisten habe und von dem aus aber auch Politik gedacht und durchgesetzt werden könne: Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 230. Michel Foucault: Dispositive der Macht. A. a. O. 117. 53 Michel Foucault: Genealogie der Ethik (Interview mit Michel Foucault). In: Dreyfus, Rabinow: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. A. a. O. 268. 54 Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault. A. a. O. 18 f. 51 52
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»Die Ethik hat zu formulieren, was die Politik gesellschaftlich zu ermöglichen hat, nämlich von einer Gemeinschaft geteilte Regeln, die es dem einzelnen gestatten, sein Leben selbstbestimmt und einheitlich zu einem genussvollen, befriedigenden Werk zu machen.« 55 Mit seiner Ethik definiert Foucault die Koordinaten eines äußerst anspruchsvollen, weil umfassenden Verständnisses von Demokratie. In diesem Verständnis wird – positiv formuliert – das gelingende Leben und – negativ formuliert – die Abwesenheit von menschlichem Elend und Unglück zur gemeinsamen Schnittmenge des Bemühens um die Bestimmung der Verantwortung des Wissenschaftlers für die Kritik und Veränderung der Verhältnisse auf der einen Seite und um die konzeptionelle Überschreitung der »Regierungsmentalität« der liberalen Demokratie in den westlichen Staaten auf der anderen Seite. Das verbindende Glied ist die »Garantie der Freiheit«. 56 Die Garantie der Freiheit der Arbeit des Wissenschaftlers, für die er durch sein Handeln als Bürger zuerst Verantwortung trägt, wird zu einer wichtigen Voraussetzung für die Garantie der Freiheit in der Gesellschaft insgesamt. 57 Von hieraus können einige Anforderungen an die Überprüfung und die Formulierung weitergehender Ansprüche an die Theorie des »demokratischen Friedens« benannt werden: – Es gehört zum wissenschaftlichen Arbeiten, die spezifische Rationalität der wissenschaftlichen Produktion im Allgemeinen und das eigene Handeln innerhalb des Macht-Wissen-Komplexes im Besonderen zum Gegenstand der Forschung und Reflexion zu machen. Wissenschaft ist im eigenen Interesse auf autonome Handlungsfähigkeit gegenüber der »Politik« angewiesen. Dabei gehört es zu ihrer ureigenen Verantwortung, diese zu reklamieren und zu gewährleisten. Andernfalls droht sie zur Magd bloßer Affirmation und fremdbestimmter Diskursproduktion zu werden. Zur Demokratie gehört auch die Demokratisierung des Macht-Wissen-Komplexes.
Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault. A. a. O. 125. Michel Foucault: Face aux gouvernements, les droits de l’homme. In: Michel Foucault: Dits et Écrits, IV. Paris. 1994. 707–708. 57 Michel Foucault: Espace, savoir et pouvoir. In: Foucault: Dits et Écrits, IV. A. a. O. 275 f. 55 56
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– Bezogen auf die Forschungen zum »demokratischen Frieden« bedeutet dies, die Implikationen der methodologischen, normativen, theoretischen und kulturellen Annahmen, auf die sich die Theorie stützt, konsequent offen zu legen und zu thematisieren. Dazu gehören u. a. die Kritik an den Blindstellen des politischen Liberalismus, die Problematisierung der zentralen Konzepte »Frieden/ Krieg« und »Demokratie« und die Entzauberung der Rede von der Universalität liberaler Demokratievorstellungen als Element westlicher Wahrheitspolitik. – Die politische Theorie und die Wissenschaftskritik Foucaults sensibilisieren insbesondere dafür, Mechanismen politischer und sozialer Ausschließung zu erkennen und ihre Einbettung in einen Zusammenhang übergreifender Herrschaftsausübung zu identifizieren. Es wäre zu prüfen, inwieweit Isomorphien zwischen den von Foucault untersuchten Institutionen und Vorkehrungen der Normalisierung, Disziplinierung und Ausschließung Kranker und Krimineller innerhalb von Gesellschaften auf der einen Seite und den Mechanismen westlicher politischer und kultureller Stigmatisierung und Ausgrenzung in den internationalen Beziehungen, etwa gegenüber den sogenannten Schurkenstaaten, auf der anderen Seite bestehen. – Foucaults Untersuchungen der Spezifität der Macht- und Herrschaftsausübung in modernen bürgerlichen Gesellschaften schärfen den Blick dafür, warum das Postulat des Friedens und der Gewaltfreiheit innerhalb des politischen Liberalismus eine derart zentrale Rolle einnimmt. Mit ihm kann man zeigen, dass mit der abstrichlosen Durchsetzung der Norm der Gewaltfreiheit auch Unterdrückung und Ausbeutung maskiert und soziale Wandlungsprozesse blockiert werden können. In den Forschungen und Debatten zum »demokratischen Frieden« sollte deshalb stärker bedacht werden, dass Frieden und Gewaltfreiheit keine Werte an sich sind, sondern erst als Resultate wirklich demokratischer Verhältnisse, die sich durch Symmetrie, Gegenseitigkeit und Dialog, Gerechtigkeit, Partizipation und Selbstbestimmung auszeichnen, nachhaltig Bestand und Legitimität beanspruchen können. – Für die weitere Theoriearbeit erhellend wäre es schließlich, die Perspektive von »denen da unten« einzunehmen, d. h. jener, die von demokratischen Staaten (mit) verursachte Gewalt, Ungerechtigkeit und Armut erleiden. Ein weiterer – für die Blindstellen des liberalen Ansatz sensibilisierender – Blickwinkel ist die Übernah95 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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me der Sichtweise »der Anderen«, d. h. der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten und Öffentlichkeiten in den nichtdemokratischen Staaten. Dies würde insbesondere bedeuten, Demokratietraditionen und -vorstellungen außerhalb des geographischen und ideologischen Westens mit mehr Neugier und Respekt zu erforschen. Mit Bernhard Waldenfels argumentierend (siehe seinen Beitrag in diesem Band) hieße dies, dass sich der Wissenschaftler bzw. Philosoph, dem es um den Frieden geht, nicht allein auf seine Rolle als Produzent von Theorien beschränken darf. Er kommt nicht umhin, als »Friedenskraft« Verantwortung zu übernehmen und sich in die politischen und gesellschaftlichen Diskurse einzumischen.
Fazit Auch wenn sich die Umdeutung und Instrumentalisierung von Friedenstheorien durch mächtige politische Akteure auf den ersten Blick außerhalb der Reichweite und Einflussmöglichkeiten der Wissenschaft abzuspielen scheint, stehen dem Forscher bei näherem Hinsehen doch Möglichkeiten der Immunisierung ihrer Konzepte zu Gebote. Diese reichen von der umfassenden und adäquaten empirischen Untersuchung und theoretischen Erklärung des jeweiligen Wirklichkeitsausschnitts über die Offenlegung und kritische Bearbeitung der normativen Implikationen der vom Forscher gewählten (meta-)theoretischen Zugänge bis hin zur Einmischung in die diskurspolitische Auseinandersetzung um die Deutung und Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Politik. Hier hat die Wissenschaft eine gesellschaftliche und politische Verantwortung für die friedens- und demokratiekonforme Nutzung ihrer Arbeitsergebnisse. Die Debatte um das Phänomen und die Perspektiven des »demokratischen Friedens« wird deshalb wohl nicht so schnell zu einem Abschluss kommen. Weitere Forschungen, weitere Debatten sind nötig. Ähnliches gilt, um den Bogen zu den Eingangsüberlegungen zu schließen, auch in Bezug auf den Entwurf eines strukturell friedensfähigen Staates und eines nachhaltig friedenssichernden Völkerrechts. Alle drei Problemkomplexe sind übrigens eng miteinander verwoben …
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Sektion 2: Kritisches Denken des Friedens
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Zum zeitlichen Frieden Werner Stegmaier »Der Philosoph findet, wie der geplagte und todtmüde Oedipus, erst im Haine der Furien Ruhe und Frieden.« (Nietzsche 1869) 1 »Friede in den Gedanken. Das ist das ersehnte Ziel dessen, der philosophiert.« (Wittgenstein 1944) 2
1. Paradoxien des Friedens: Moralische Unantastbarkeit und theoretische Unfassbarkeit Frieden als Grundbedingung des Zusammenlebens ist im gegenwärtigen Europa zum moralisch unantastbaren Wert geworden. Die Mehrheit der Europäer und der europäischen Philosophinnen und Philosophen tritt heute für ein striktes und globales Verbot des Krieges ein. Krieg ist, wenn überhaupt, dann nur noch zur Notwehr und zur Verhinderung von Kriegen und Völkermorden zu rechtfertigen, und er gilt auch dann noch als moralisch fragwürdig, wenn es sich um den Krieg von ›Stärkeren‹ gegen ›Schwächere‹ handelt. Wir wissen, dass das nicht immer so war und auch heute in dieser Deutlichkeit so nur in Europa gilt. Die jetzige Friedensgesinnung in Europa, das ist kaum umstritten, ist aus einer Jahrtausende langen Ausschöpfung des Krieges hervorgegangen, einer zuletzt extremen Ausschöpfung in zwei Weltkriegen, die schließlich zur Erschöpfung vom Krieg führte. Dies allerdings, was man bereits zu vergessen beginnt, erst nach wieder einem halben Jahrhundert ›Kaltem Krieg‹, einem ständig drohenden Krieg mit Atom-Waffen, die das Zerstörungspotential der beiden Weltkriege noch einmal potenzierten und nun so, dass ihr Einsatz die Bewohnbarkeit des Globus überhaupt in Frage gestellt hätte. Der Atom-Krieg, dessen erstes Opfer Europa gewesen wäre, durch das sich die Grenze der Blöcke sichtbar Friedrich Nietzsche: Nachlaß Herbst 1869. III 1[85], KSA 7.37. Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. In: Werkausgabe, Bd. 8. Frankfurt a. M. 1984. 511.
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Zum zeitlichen Frieden
zog, brach, dank eines Rests von Besonnenheit der damals führenden Politiker, nicht aus. Der Kalte Krieg wurde nicht zum Krieg, war aber auch kein Frieden. Er hob die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden selbst auf. 3 Er war als Vernichtungskrieg, der nicht nur unter gleichzeitiger Selbstvernichtung gewonnen werden konnte, eine im Hegelschen Sinn bestimmte Negation der Unterscheidung von Krieg und Frieden. Aber er entglitt auch dem Schema der bestimmten Negation. Denn er ließ gleichwohl weiterhin Kriege mit konventionellen Waffen zu, die in großer Zahl auch stattfanden, begrenzte jedoch auch sie, sofern sie den finalen Atom-Krieg nicht provozieren durften. Und zugleich provozierte der Kalte Krieg eine unbegrenzte Vermehrung, technische ›Verbesserung‹ und ökonomische Verteuerung der Zerstörungspotentiale, eine sogenannte Rüstungsspirale, die schließlich auch zu seiner bestimmten Negation führte. Als er vor gerade erst fünfzehn Jahren endete, nachdem die politische Führung des einen ›Blocks‹, in Gestalt von Michail Gorbatschow, erkannte, dass eine neue Windung der Rüstungsspirale, die die politische Führung des andern Blocks, in Gestalt von Ronald Reagan, vorbereitete (das Raketen-Abwehrsystem SDI – Strategic Defense System), für sie nicht mehr zu finanzieren war, endete der Kalte Krieg aus ökonomischen Zwängen, nicht oder nicht so sehr aus Friedenswillen und Friedensgesinnung. Die Atomkriegsdrohung ist denn auch nicht verschwunden, nur gesunken. Der Weltatomkrieg ist zwar politisch nun sehr viel weniger wahrscheinlich, technisch aber immer noch möglich, und seine Drohung ist, durch die weitere Verbreitung von Atomwaffen, zudem weiter gestreut. Außer (nicht statt) mit bestimmter Negation im Sinn Hegels haben wir es auch hier mit Zerstreuung im Sinn Derridas (dissémination) zu tun. Das macht auch den jetzigen Weltfrieden, soweit es ihn gibt, schwer fassbar, sowohl im Begriff als auch in seinen konkreten Anhaltspunkten. Denn trotz seiner Friedensgesinnung sind auch in Europa die Armeen, wenn auch hier und dort verkleinert und zu ›Friedenseinsätzen‹ umstrukturiert, weitgehend mit Zustimmung der Bevölkerungen stehen geblieben, während Kant doch schon im 3. Präliminarartikel seines »philosophischen Entwurfs« Zum ewigen Frieden darauf hingewiesen hat, dass stehende Heere, gleich zu welchem Zweck, Krieg nicht
Dolf Sternberger (Die Politik und der Friede. Frankfurt a. M. 1991. 11 ff.) hat von »Unfriede« gesprochen. Den Hinweis verdanke ich Alfred Hirsch.
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nur verhindern, sondern auch provozieren können. 4 Und trotz des europäischen Pochens auf die völkerrechtliche Legitimation auch von kriegerischen Friedenseinsätzen nationaler Armeen durch die Organe der UNO sahen sich, als das ehemalige Jugoslawien nach der ›Wende‹ in ethnischen Kriegen zerfiel, die alten europäische Mächte zusammen mit den Vereinigten Staaten zu überlegenem kriegerischem Eingreifen auch ohne völkerrechtliche Legitimation der UNO genötigt und sah sich der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland im Wahlkampf 2002 legitimiert, Deutschlands Beteiligung an einem kriegerischen Eingreifen gegen das Hussein-Regime im Irak auch dann zu verweigern, wenn die Organe der UNO es beschlössen (was dann freilich nicht geschah). In seiner moralischen Unantastbarkeit bei gleichzeitiger theoretischer Unfassbarkeit ist der Frieden vergleichbar mit Freiheit, Würde, Toleranz und Gerechtigkeit, auch sie oberste Werte moderner demokratischer Gesellschaften. Sie alle bekommen ihren konkreten Sinn erst durch ihre Gegensätze, gegen die sie gerichtet sind, die Unfreiheit, die Entwürdigung, die Intoleranz und die Ungerechtigkeit, die von Fall zu Fall und in unterschiedlichsten Formen erfahren werden, und sind insofern Gegenbegriffe. Als moralische Gegenbegriffe aber können sie so weit entgrenzt werden, dass sie ihre Gegensätze nicht mehr ausgrenzen können. Moralisch kann Freiheit auch für Unfreie, Würde auch für Würdelose, Toleranz auch gegen Intolerante und Gerechtigkeit auch für Ungerechte (und schließlich: Liebe auch für Lieblose) geboten sein, nämlich immer dann, wenn Immanuel Kant (1795): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Akademieausgabe (im Folgenden: AA) VIII. 345: »›Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.‹« Kant erläutert: »Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden«. Aber er fügt dann doch hinzu: »Ganz anders ist es mit der freiwilligen periodisch vorgenommenen Übung der Staatsbürger in Waffen bewandt, sich und ihr Vaterland dadurch gegen Angriffe von außen zu sichern.« In diesem Sinn argumentiert auch noch der explizit pazifistische Entwurf Zum irdischen Frieden von Dieter Senghaas (Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen. Frankfurt a. M. 2004. 55–57). – Zu vorausgehenden philosophischen Entwürfen des ewigen Friedens vgl. O. Kimminich: Art. Friede, ewiger. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2. Darmstadt/Basel 1972. Sp. 1117–1119, zur jüngsten Literatur vgl. Dieter Senghaas: Zum irdischen Frieden. A. a. O. Bes. 7 f.
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ihre Unfreiheit, Würdelosigkeit, Intoleranz und Ungerechtigkeit aus welchen Gründen auch immer moralisch nicht zugerechnet werden kann. So aber, indem sie ihr Gegenteil in sich einbeziehen, werden Freiheit, Würde, Toleranz und Gerechtigkeit paradox, was sich darin zeigt, dass sie in konkreten Fällen unheilbar strittig werden können. Beim Frieden aber spitzt sich die Paradoxie noch zu, weil hier schon der Streit über seine konkrete Bestimmung selbst als Unfrieden geltend gemacht werden kann. Doch trotz ihrer Paradoxien können moderne demokratische Gesellschaften auf moralische Werte wie Freiheit, Würde, Toleranz, Gerechtigkeit und, nicht zuletzt, Frieden nicht verzichten, und darin liegt, denke ich, die philosophische Herausforderung: nicht nur die Überzeugung von ihrem moralischen Wert zu bestärken, sondern auch zu klären, wie ihre moralische Unantastbarkeit mit ihrer theoretischen Unfassbarkeit zusammenhängt. Dies wird am ehesten von einer Warte aus zu sehen sein, die Luhmann die ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ genannt hat, und die Frage lautet dann statt: ›Was ist Frieden und was macht ihn moralisch gut?‹ ›Durch welche Unterscheidungen und aus welchen Gründen wird er moralisch ausgezeichnet?‹ Unterscheidungen werden so zunächst als Unterscheidungen gesehen, ohne schon moralisch bewertet zu werden. Das schließt den Mut ein, ihre moralische Tabuierung zu überschreiten, den in der Philosophie nur wenige hatten, am meisten wohl Nietzsche. Zum Maßstab aller Erörterungen des Friedens ist Kants Schrift Zum ewigen Frieden und Kant ist mit ihr tatsächlich zu dem geworden, was Nietzsche einen philosophischen »Gesetzgeber« genannt hat. 5 Nietzsche dagegen wurde von Volker Gerhardt, einem Kant- und Nietzsche-Kenner, in seiner Interpretation von Kants Friedensschrift einer Friedrich Nietzsche: JGB 211. 5.145. – Nietzsche wollte Kant jedoch nur, zusammen mit Hegel, als »edle Muster« »philosophischer Arbeiter« gelten lassen, die »einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen – das heisst ehemaliger Werthsetzungen, Werthschöpfungen, welche herrschend geworden sind und eine Zeit lang ›Wahrheiten‹ genannt werden – festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des Logischen oder des Politischen (Moralischen) oder des Künstlerischen«. Das Prädikat der Gesetzgebung wollte er dagegen solchen Philosophen vorbehalten, die »mit schöpferischer Hand nach der Zukunft« greifen (ebd.). Das dürfte Kant gelungen sein. Vgl. Josef Simon: Der Philosoph als Gesetzgeber. In: Volker Gerhardt, Norbert Herold (Hg.): Perspektiven des Perspektivismus. Gedenkschrift für Friedrich Kaulbach. Würzburg 1992. 203–218. – Zum Stand der Forschung zu Kants Friedensschrift vgl. Matthias Kaufmann: Kein ewiger Friede für Kant. Ein Rückblick auf einige Literatur zu 200 Jahren Zum ewigen Frieden. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 25.2 (2000). 271–280.
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»erbärmlichen Begeisterung für den Krieg« geziehen. 6 So könnte gerade von Nietzsche, einem erklärten Kant-Kritiker, aber sicher nicht Kant-Gegner, 7 am meisten über den Frieden zu lernen sein.
2. Strategien zur Entparadoxierung des Friedens Paradoxien, so Luhmann, kann man auf unterschiedliche Weise ›entparadoxieren‹. 8 Im Fall der Friedens-Paradoxie sind folgende Strategien gebräuchlich: Man kann erstens die moralische Tabuierung verstärken und den Hinweis auf die Paradoxie im Begriff des Friedens schon als AnVolker Gerhardt: Immanuel Kants Entwurf ›Zum ewigen Frieden‹. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995. 66. Vgl. 7 zu Hegel. – Kants »Staatsbürger in Waffen« verteidigt Gerhardt dagegen vehement, indem er (legitime) »Volksheere«, wie sie die amerikanische und die französische Revolution hervorbrachten, von (illegitimen) »Söldnerheeren« unterscheidet (55–57). Als militärisches Bedrohungspotential gegen andere Staaten (Napoleon!) machen sie allerdings keinen Unterschied. Und Kant selbst unterscheidet nicht Volks- von Söldnerheeren, sondern Heere überhaupt von »der freiwilligen periodisch vorgenommenen Übung der Staatsbürger in Waffen«, wie es sie heute noch in der Schweiz gibt. 7 Vgl. zuletzt die Beiträge in Renate Reschke (Hg.): Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom 15.–17. Mai 2003 in Weimar. Berlin 2004, darunter den Beitrag des Verf.: Nietzsches und Luhmanns Aufklärung der Aufklärung: Der Verzicht auf ›die Vernunft‹. 167–178. 8 Zum produktiven Umgang mit Paradoxien vgl. Niklas Luhmann (u. v. a.): Die Paradoxie des Entscheidens. In: Verwaltungs-Archiv 84.3 (1993). 287–310; Luhmann: Sthenographie und Euryalistik. In: Hans Ulrich Gumbrecht, Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a. M. 1991. 58–82, und mit besonderer Prägnanz: Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Hg. von André Kieserling. Frankfurt a. M. 2000. 17 f., 55 ff., 74, 131 ff. u. 155 ff. Luhmanns Erfahrung ist: »man stößt auf eine fast zwanghafte Angst vor dem Paradox, die dazu führt, daß die Logik der Selbstreferenz, das heißt der Anwendung des Codes auf den Code selbst, nicht mitvollzogen wird« (Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. A. a. O. 70 f.). Doch: »Über Nietzsche und Heidegger bis zu Derrida hat sich inzwischen ein ganz anderer Umgang mit Paradoxien eingebürgert […]. Die Paradoxien werden nicht vermieden oder umgangen, sondern vorgeführt. Sie werden mit Hingebung zelebriert. Sie werden in einer wie immer verdrehten Sprache zum Ausdruck gebracht.« (Niklas Luhmann: Sthenographie und Euryalistik, A. a. O. 59) Die Frage ist stets: »Wer traut sich, auf die Paradoxie durchzugreifen, und welche Unterscheidungen werden dann aktiviert, um sie zu entfalten« (Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. A. a. O. 118). 6
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griff auf seinen moralischen Wert ächten (›Sophisterei‹). Die Strategie ist politisch und diskurspolitisch durchaus wirksam, aber selbst sichtlich streitbar und so ihrerseits leicht als paradox erkennbar. Man kann bei moralisch unantastbaren Begriffen deshalb zweitens ganz auf eine theoretische Erörterung ihrer Paradoxien verzichten und auf ihre allmähliche Eingewöhnung in der Bevölkerung setzen. Diese politisch sehr nachhaltig wirksame Strategie haben Montaigne und Pascal im Hinblick auf die Gerechtigkeit vorgeschlagen, und Derrida hat an sie erinnert. 9 Luhmann würde hier von Invisibilisierung sprechen. Die Strategie der Invisibilisierung ist paradox aber nun darin, dass sie nicht auf sich aufmerksam machen darf und so auch ihren Erfolg nicht kontrollieren kann. Eine dritte Strategie der Entparadoxierung eines Begriffs ist seine weitere Unterscheidung, die im Fall des Friedens als spezifizierende oder als graduelle möglich ist. Spezifiziert wird der Frieden vor allem als persönlicher, politischer, sozialer und ewiger Frieden. – Der persönliche Frieden oder Frieden mit sich selbst wird seit den Anfängen der europäischen Philosophie als Beherrschung des qum@, der Wünsche, Triebe, Leidenschaften, durch die Vernunft, den no‰@, gedacht. In Homers Ilias wird exemplarisch vorgeführt, wie der Zorn des Achill den Sieg aller zunächst verhindert, dann, nachdem er, geprüft durch das Opfer des Freundes, zur Einsicht gekommen ist, den Sieg ermöglicht. ›Frieden mit sich‹ ist Voraussetzung des ›Friedens mit anderen‹, der wiederum Voraussetzung erfolgreicher Kriege mit wieder anderen ist. Vernunft wird hier als Macht gedacht, die den Streit (agðn) nicht beendet, sondern regelt, und der Frieden als zeitweilige Unterbrechung des Krieges. 10 – Dauerhafter politischer Frieden wurde im Römischen Reich durch andauernde Kriege nach außen erreicht und im Innern durch das Recht stabilisiert. Recht wirkt friedenstiftend und friedenerhaltend durch Regelungen, die präventiv Konflikte vermeiden. Durch das Recht bekommt der Frieden Zukunft, freilich eine nur zeitliche. Denn die Durchsetzung des Rechts ist, wovon auch Kant noch Vgl. Jacques Derrida: Force de loi. Le ›Fondement mystique de l’autorité‹. / Force of Law: The ›Mystical Foundation of Authority‹. In: Cardozo Law Review 11, 5–6 (1990). 920–1045 (bilingual presentation, engl. transl. Mary Quaintance), deutsch: Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹. Aus dem Frz. übers. von Alexander García Düttmann. Frankfurt a. M. 1991. Hier 24 f., frz. Separatausgabe Paris 1994, hier 28 f. 10 Vgl. Eugen Biser: Art. Friede. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2. Darmstadt/Basel 1972. Sp. 1114–1117. 9
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ausgeht, 11 auf Zwang, in manchen Fällen auf Gewalt angewiesen, und die Gerechtigkeit des Rechts kann jederzeit neu strittig werden, der Streit im äußersten Fall bis zu Bürgerkriegen gehen. – Der politische Frieden wird zum sozialen Frieden, wenn das Recht von den Bürgern als Selbstbindung übernommen, der Rechtsfrieden verinnerlicht und zur Moral wird. Aber auch damit ist er natürlich nicht endgültig gesichert, da Moral, sofern sie ›innerlich‹ ist, ›äußerlich‹ nicht kontrollierbar ist und so unbegrenzt vielfältig und darum auch unbegrenzt strittig sein kann. Sollen moralische Überzeugungen den Rechtsfrieden sichern, so können sie ihn – Europa hat es bitter erfahren – ebenso gefährden und dies umso mehr, je stärker sie sind. Denn je stärker sie sind, desto mehr geht die Distanz zu ihnen verloren und wird die Toleranz gegen andere moralische Überzeugungen eingeschränkt. Nach Kant bleibt der Erfolg, auch eines »moralischen Politikers«, immer unbestimmt, und er ist äußerlich nicht von einem »politischen Moralisten« zu unterscheiden. 12 – Ewiger Frieden ist so nur philosophisch als Idee denkbar, der zu folgen Vernunftwesen die Pflicht haben und deren Erfüllung zu erhoffen ihnen die Religion helfen kann. 13 Darauf ist auch nach Kant freilich nicht allein zu setzen. Nach jahrhundertlangen Religionskriegen in Europa will er den ewigen Frieden weder nur auf den ›inneren‹ oder ›Seelenfrieden‹ noch auf den ›himmlischen Frieden‹ stützen, nachdem nicht nur das Dasein Gottes philosophisch, sondern auch der Wille Gottes zum Frieden biblisch strittig ist und politische und soziale Konflikte am bittersten ausgefochten werden, wenn sie sich mit religiösen überlagern. Lieber wollte gerade Kant auf die »tiefliegende Weisheit« der Natur bauen, die die Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. AA VIII 371. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 372, 377. – Kant, der den »Schlangenwendungen« der Politik tief misstraut, geht schließlich so weit, von einer »wahren Politik« zu sprechen, deren Wahrheit moralische Adäquatheit ist (Kant: zum ewigen Frieden. A. a. O. 375, 380). So sehr dies Ethiker beeindruckt hat, könnte damit doch die Eigengesetzlichkeit und Selbständigkeit des Politischen unterschätzt sein. 13 Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. AA VIII 362 (»Pflichtbegriff vom ewigen Frieden«) u. 370. – Kant vermeidet im übrigen eine positive Definition des Friedens als »Friedenszustand«, von dem er lediglich sagt, er sei »kein Naturstand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist«, sondern müsse »gestiftet werden« (Kant: zum ewigen Frieden. A. a. O. 348), ihn zu stiften aber sei Pflicht. Da sich die Pflicht jedoch nicht zeitlich beschränken kann, muss der Friede auch schon ein »ewiger Friede« sein, und als ewiger kann er wiederum nicht wirklich feststellbar sein. 11 12
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Menschen zuerst durch Kriege über die Erde verbreitet, dann zu bürgerlichen Gesellschaften organisiert, die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen erhalten, einen übermächtigen Weltstaat verhindert und die Völker mehr und mehr durch den Handel verknüpft, also ganz und gar mit der Zeit gearbeitet habe. 14 Dieses Vertrauen der Vernunft gerade in die Natur, von der sie Kant doch kritisch unterschieden hat, um Wissenschaft und Moral denkbar zu machen, ist sichtlich wieder paradox, zumal sich der »Mechanism der Natur« nach Kant immer auch zuungunsten der Vernunft auswirken kann. 15 Danach bliebe der Frieden in allen genannten Spezifizierungen weiter paradox. Ähnlich verhält es sich mit seiner graduellen Unterscheidung, die bei seinem Gegensatz, dem Unfrieden, ansetzen muss. Man pflegt, mit vielen möglichen Zwischenstufen, Streit, Konflikt und Krieg abzustufen. Frieden wird so nicht als Tatbestand, der immer nur schwer identifizierbar ist, sondern als Differenz denkbar, als Zu- oder Abnahme des Friedens, die für jedermann erfahrbar ist, an der Erregung oder Besänftigung feindseliger Stimmungen und am Einsatz verletzender Mittel der Auseinandersetzung oder dem Verzicht auf sie, zuoberst und am klarsten auf physische Gewalt, aber auch auf soziale Anfeindung, persönliche Heimtücke und Demütigung jeder Art. 16 Die graduelle Unterscheidung macht dann aber auch eine positive Wertung von Unfrieden möglich, etwa, wie es sich jetzt eingebürgert hat, als ›Konfliktfähigkeit‹ in politischen und sozialen Auseinandersetzungen (nun im Gegensatz zu ›Konfliktscheu‹) oder als ›Streitbarkeit‹ in wissenschaftlichen Argumentationen (nun im Gegensatz zu ›Kritiklosigkeit‹). 17 Und so können dann auch alle Grade des Unfriedens metaphorisch wiederverwendet werden, bestärkend z. B. als ›Handelskrieg‹ und ›Ehekrieg‹, ›Krieg‹ oder ›Kampf‹ gegen die Armut, abschwächend z. B. als ›militärischer Konflikt‹ oder Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. AA VIII 360 ff. Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. AA VIII 370 u. 372. 16 Vgl. Avishai Margalit: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung (zuerst hebräisch, amer. Übers.: The Decent Society. Cambridge/Mass. 1996), aus dem Amer. von Gunnar Schmidt und Anne Vonderstein. Berlin 1997. 17 So legt etwa Gerhardt seine Interpretation von Kants Friedensschrift als Kampfschrift an, und Dieter Senghaas: Zum irdischen Frieden. A. a. O., trägt seine Programmatik eines »konstruktiven Pazifismus« (27) als »Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung« (36) vor. Dessen Definition des Friedens lautet denn auch »dauerhafte Zivilisierung des Konflikts« (67). 14 15
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›Parteienstreit‹. Ein Handelskrieg kann dann schlimmer aussehen als ein militärischer Konflikt, und so wird auch hier die Unterscheidung von Krieg und Frieden zugleich paradoxiert und zerstreut. Die graduelle Differenzierung lässt schließlich auch eine Quantifizierung des Friedens zu – in Gestalt der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit etwas. In der utilitaristischen Ethik, deren erklärtes Ziel ursprünglich, bei Jeremy Bentham, die Quantifizierung der Zufriedenheit (oder der happiness) war, kann so vom größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl gesprochen werden, und dieses Glück ist in unseren modernen demokratischen Gesellschaften in der Tat auch zum Wesentlichen, wenn auch nicht alleinigen Maßstab der Austragung politischer, rechtlicher, moralischer und religiöser Konflikte geworden. Die Zufriedenheit aller mit allem zu aller Zeit ist das politische Ideal moderner demokratischer Gesellschaften, und weil die Zufriedenheit abstufbar ist als Zufriedenheit einer jeweiligen Mehrheit auf eine jeweilige Zeit, ist das Ideal auch politisch handhabbar. Als Zufriedenheit ist der Frieden der Beurteilung der Einzelnen anheim gestellt. So kann jeder mit anderem zufrieden und unzufrieden sein, und es bilden sich weniger politische, moralische, religiöse und zuletzt revolutionäre Fronten – der Frieden wird stabiler. Er wird stabiler, freilich wieder durch die Zerstreuung und die Paradoxierung der Zufriedenheit – sofern nun Zufriedenheit mit dem einen überall mit Unzufriedenheit mit anderem einhergehen kann.
3. Nietzsches moralische Paradoxierung der moralischen Tabuierung des Friedens Nietzsche ist angesichts dessen in seinem Denken des Friedens einen anderen Weg gegangen. Er hat den moralisch tabuierten Frieden nicht zu entparadoxieren versucht, sondern seine moralische Tabuierung wiederum paradoxiert. Persönlich, wie vielfach bezeugt ist, ein außerordentlich höflicher, zuvorkommender, ja sanfter Mensch, stets besorgt um seinen sozialen Frieden, erklärte er sich dennoch gegen eine allgemeine Friedensmoral. Zeitlebens dem antiken Griechentum verpflichtet, notierte er früh für sich: »Der normale Zustand ist der Krieg: wir schließen Frieden nur auf bestimmte Zeiten«, 18 und auch Friedrich Nietzsche: Nachlaß Sommer 1872 – Anfang 1873. KGW III 19[69], KSA7.442.
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im veröffentlichten Werk, insbesondere in Also sprach Zarathustra, heißt es dann: »Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen« und »Euch rathe ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg!« 19 Das alles ist freilich nicht von Menschen mit politischer Macht, sondern von »Wahrheitssuchenden« und »Weisen«, von »Denkern« gesagt. Denker aber, für die die Moral »gar kein Problem« mehr ist, könnten, so Nietzsche, schon unter deren Diktat denken, Moral könnte gerade für sie das sein, »worin man, nach allem Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit einander überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufathmeten, auflebten.« 20 Nietzsche hegte den – ja nicht auszuschließenden – Verdacht, dass Friedensmoral ein spezifisches Bedürfnis gerade von Philosophen sein könnte, die für ihr zurückgezogenes Nachdenken »Milde, Friedlichkeit, Güte nöthig haben«. 21 19 Friedrich Nietzsche: Za I, Vom Krieg und Kriegsvolke. KSA 4.59 f. Vgl. zuletzt auch Nietzsches Tafel neuer Werte zu Beginn von Der Antichrist: »Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg« (AC 2, KSA 6.170). – Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang auch von »Gewaltmenschen«. Während der Einzelne in »einem Zeitalter der Furcht – dem längsten aller Zeitalter – […] sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein musste« (FW 48, KSA 3.413), könnten künftig Philosophen zu »Gewaltmenschen der Cultur« werden (JGB 207, 5.136), sofern solche »philosophische Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen« nämlich unter der Bedingung einer »härtesten Selbst-Gesetzgebung« lebensnotwendige Umwertungen einzuleiten imstande sind (Nietzsche: Nachlaß Herbst 1885 – Herbst 1886. KGW VIII 2[57], KSA 12.87). Sie nehmen sich als »philosophische Neuerer Versucher und Gewaltmensch[en]« dabei freilich anders aus als »Räuber, Barbaren und Abenteurer« (Friedrich Nietzsche: Nachlaß Herbst 1887. KGW VIII 9[150], KSA 12.423). Kant hat davor gewarnt, selbst Philosophen Gewalt zu geben, »weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.« (Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. AA VIII 369). 20 Friedrich Nietzsche: FW 345, KSA 3.578. 21 Friedrich Nietzsche: FW 370, KSA 3.621. – Nietzsche geht mit seinem Verdacht noch weiter und schließt hinter dem Bedürfnis zurückgezogenen Nachdenkens ein tieferes Leiden, Schmerz und selbst »Krankheit« nicht aus: »Jede Philosophie, welche den Frieden höher stellt als den Krieg, jede Ethik mit einer negativen Fassung des Begriffs Glück, jede Metaphysik und Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher Art, jedes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen nach einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspirirt hat.« (FW, Vorr. 2, KSA 3.348). Vgl. die Notiz im Nachlaß August – September 1885. KGW VII 40[1], KSA 11.629: »Müde, Leidende, Geängstigte meinen Frieden, meinen Unbewegtheit, Ruhe, etwas dem tiefen Schlafe Ähnliches, wenn sie an das höchste Glück denken. Davon ist viel in die Philosophie gekommen. Ebenso hat die Angst vor dem Ungewissen, Vieldeutigen, Verwandlungsfähigen seinen
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Moralische Tabus kann man auch und vielleicht gerade in der Philosophie nicht antasten, ohne Gefahr zu laufen, aus dem moralischen Diskurs ausgeschlossen zu werden. Man kann es nur, wenn man eine tabuierte Moral durch eine ›höhere‹ überbietet, die von ihr ebenfalls akzeptiert wird. Hier bietet die christliche Tradition besondere Möglichkeiten, und dies ist der Weg von Nietzsches Moralkritik überhaupt: »[…] der Moral das Vertrauen gekündigt – warum doch? Aus Moralität!« 22 In der Frage des Friedens geht Nietzsche auf diese Weise mit Kant über Kant hinaus. 23 Er schreibt im Aph. Nr. 284 aus Der Wanderer und sein Schatten: 24 Nicht »der sogenannte bewaffnete Friede«, in dem Staaten weiter Heere unterhalten und dafür »jene Moral, welche die Nothwehr billigt, […] als ihre Fürsprecherin an[]rufen«, sondern nur der »Frieden der Gesinnung« könne das »Mittel zum wirklichen Frieden« sein. Denn die Bereitschaft zur Notwehr unterstelle dem Nachbarn unausgesetzt »Eroberungsgelüste«, die man für sich selbst leugne. Man setze also »die schlechte Gegensatz, das Einfache, Sich-Gleich-bleibende, Berechenbare, Gewisse zu Ehren gebracht. – Eine andere Art Wesen würde die umgekehrten Zustände zu Ehren bringen.«, die Notiz im Nachlaß Herbst 1885 – Frühjahr 1886. KGW VIII 1[104], KSA 12.35: »Zum Capitel: ›Die Tugenden als Verkleidung‹«: »Viele Feinere wollen Ruhe, Frieden vor ihren Affekten – sie streben nach Objectivität, Neutralität, sie sind zufrieden als Zuschauer übrig zu bleiben, – und als kritische Zuschauer mit einer neugierigen und muthwilligen Überlegenheit. – Andere wollen Ruhe nach Außen, Ungefährlichkeit des Lebens, – sie möchten nicht beneidet und nicht angegriffen werden – und geben lieber ›Jedem sein Recht‹ – nennen’s ›Gerechtigkeit‹ und Menschenliebe usw. »und die Notiz im Nachlaß August – September 1885. KGW VII 40[59] 2, KSA 11.658: wer »äußeren und inneren Frieden, […] Schmerzlosigkeit, Unbewegtheit, Ungestörtheit« sucht, könnte zu den »Müden, Geängstigten und Leidenden unter den Philosophen« gehören. In Friedrich Nietzsche: GD, Moral als Widernatur 3. KSA 6.84 f., nennt Nietzsche zuletzt »ohne Umschweif und Vorurtheil ein paar Fälle«, in denen »der ›Frieden der Seele‹ bloss ein Missverständniss« sein könnte, »– etwas Anderes, das sich nur nicht ehrlicher zu benennen weiss.« Nietzsche war selbst am wenigsten von den Müden und Leidenden auszuschließen und schloss sich nach seinem vielfachen eigenen Zeugnis auch nicht davon aus, wohl aber von den Geängstigten. 22 Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Vorrede 4, KSA 3.16. 23 Kant hält in seiner auf die Schrift Zum ewigen Frieden (1795) folgenden Metaphysik der Sitten (1797) fest am Recht zum Krieg bei Angriff, Rüstung und Übermächtig-Werden eines anderen Staates im Sinne eines »Rechts des Gleichgewichts aller einander thätig berührenden Staaten«, solange sie sich im »natürlichen Zustande« und nicht Zustand eines »gesellschaftlichen Vertrages« zum »Völkerbund« befinden (AA VI 346, 344). 24 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II. Der Wanderer und sein Schatten 284. KSA 2.678 f.
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Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus«: »Diese Voraussetzung ist aber eine Inhumanität, so schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie, wie gesagt, dem Nachbar die Immoralität unterschiebt und dadurch die feindselige Gesinnung und That zu provociren scheint.« Zum wirklichen Frieden kann nach Nietzsche nur eine herausfordernde Dialektik führen. Schwöre man »der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Nothwehr […] ebenso gründlich ab […] als den Eroberungsgelüsten«, dann komme »vielleicht ein grosser Tag, an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet, und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: ›wir zerbrechen das Schwert‹ – und sein gesammtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung heraus, – das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss […].« Das Sich-wehrlos-Machen des zum Krieg Fähigsten ist Nietzsches Konsequenz aus der Paradoxie des Friedens: er versucht ihre Auflösung von der Seite des Krieges her. Er steht nicht an, daraus auch die – dann vielleicht fatale – politische Konsequenz zu ziehen: »Lieber zu Grunde gehen, als hassen und fürchten, und zweimal lieber zu Grunde gehen, als sich hassen und fürchten machen, – diess muss einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden!« Und er empfiehlt so, wie einst Kant, der ›Politik‹ seiner Zeit, philosophisch und darum auch politisch konsequent zu denken, und wie Kant im Namen der »clausula salvatoria« der Narrenfreiheit eines Philosophen: 25 »Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die Natur des Menschen: sonst würden sie wissen, daß sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine ›allmähliche Herabminderung der Militärlast‹ arbeiten.« Und wie Kant mit offenkundiger Paradoxie in seinen philosophischen Entwurf einen »geheimen Artikel« zur Pflicht der Politiker einfügt, die »Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens« zu Rate zu ziehen, 26 so ruft Nietzsche, gerade er, die Religion zu Hilfe, nämlich im Sinn der Politiker, die sie natürlich auch damals gern zu 25 26
Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 343 (Vorbemerkung). Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 368.
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Hilfe riefen, um die eigene Politik zu unterstützen. Er macht dies so als Mittel der Politik und zugleich seiner schriftstellerischen Politik offenkundig und schließt den Aphorismus in Anspielung auf Hölderlin: 27 »Vielmehr: erst wenn diese Art Noth [sc. der Wehrlosigkeit] am grössten ist, wird auch die Art Gott am nächsten sein, die hier allein helfen kann. Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit Einem Male, durch einen Blitzschlag zerstört werden: der Blitz aber kommt, ihr wisst es ja, aus der Wolke – und von der Höhe –.«
4. »Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen«: Kraft zum Frieden Die Notwehr-Moral durch eine Moral des Verzichts auf alle Gegenwehr abzulösen, hat Levinas dann ein Jahrhundert später, nach der Erfahrung der Weltkriege und der Shoah, als Anfang der Ethik überhaupt postuliert. Aber auch Nietzsche hatte diese Konsequenz schon gezogen, in der Mitte, man möchte sagen, im Herzen von Der Antichrist, den er so kämpferisch beginnen ließ (»Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg«). Dort heißt es vom Evangelium des »Typus Jesus«: 28 »Gerade der Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-in-Kampf-fühlen ist hier Instinkt geworden: die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral […], die Seligkeit im Frieden, in der Sanftmuth, im Nicht-feind-seinkönnen. Was heisst ›frohe Botschaft‹ ? Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden – es wird nicht verheissen, es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz.« 29 Christus ging an dieser Moral, an dieser Liebe zugrunde, und eben darum gilt sie als politische Konsequenz den meisten bis heute als wirklichkeitsfremd und unverantwortlich. Man könnte wohl fragen, ob das nun mehr und mehr vereinigte Europa, das sich, auch im Namen des Christentums, wie kein anderer Kontinent für den globalen Frieden verantwortlich fühlt und in Europa wiederum besonders Deutschland, nun auch eine militärische Wehrlos-MaFriedrich Hölderlin: Patmos. In: Friedrich Beißner (Hg.): Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurt a. M. 1965. 357: »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.« 28 Vgl. Werner Stegmaier: Levinas’ Humanismus des anderen Menschen – ein AntiNietzscheanismus oder Nietzscheanismus? In: Werner Stegmaier, Daniel Krochmalnik (Hg.): Jüdischer Nietzscheanismus. Berlin, New York 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 36). 303–323. 29 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist 29. KSA 6.199 f. 27
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chung wagen könnte. Da mit eben dieser Verantwortung aber wiederum (paradoxe) militärische Friedenseinsätze begründet werden, kommt die Frage gar nicht auf. Aber auch Nietzsche ist bei der Konsequenz der Wehrlos-Machung nicht stehengeblieben. Auch er schränkt sie ein, jedoch nicht aus politischen, sondern aus sachlichen und ethischen Gründen und auf eine für die tabuierte Friedens-Moral überraschende Weise. Er beschränkt sie auf die Kraft zum Frieden. Ich zitiere den letzten Aphorismus von Der Wanderer und sein Schatten und damit auch von Menschliches, Allzumenschliches in ganzer Länge: »Die goldene Loosung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches Allen galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, dass es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: ›Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.‹ – Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen.« 30 30 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II. Der Wanderer und sein Schatten 350. KSA 2.702.
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Solange die Ideen der Freiheit des Geistes und des Friedens der Gesinnung (und ebenso der Würde, der Toleranz und der Gerechtigkeit) mit ihren Paradoxien nicht logisch verbindlich zu fassen und mit der ethischen Konsequenz der Wehrlos-Machung nicht moralisch und politisch verbindlich zu verwirklichen sind, ist es Sache der Einzelnen und ihrer Kräfte, ihre Paradoxien auszuhalten und sinnvoll mit ihnen umzugehen. Sie müssen die allgemeine Idee, wie Derrida es für die Gerechtigkeit vorgedacht hat, auf den einzelnen Fall, die konkrete Situation hin dekonstruieren und dekonstruieren können. Das berührt nicht, auch für Nietzsche nicht, auch wenn ihn viele, auch viele Kenner, voreilig anders lesen, die grundrechtlichen Garantien der Freiheit der Einzelnen und die völkerrechtlichen Garantien des Friedens unter den Staaten. Darüberhinaus wird jedoch für einen wirklichen Frieden das Eingeständnis nötig sein, dass die meisten, wohl alle Einzelnen zumeist auch ›Ketten‹ brauchen und ›Ketten‹ wollen und dass die Ideen der Freiheit und des Friedens darum Ideen bleiben müssen, die nicht nur nicht definitiv, also auf ewig, verwirklicht werden können, sondern auch nicht definitiv, auf ewig, verwirklicht werden dürfen, weil die meisten mit einer definitiven Verwirklichung von Freiheit und Frieden im extremen philosophischen Sinn der Ideen der Freiheit des Geistes und des Friedens der Gesinnung nicht leben, weil sie ihnen nicht gerecht werden könnten. 31 Denn beide Ideen würden in strenger Konsequenz unvermeidlich wieder paradox. Eine tatsächliche Freiheit des Geistes und ein tatsächlicher Frieden der Gesinnung, wenn es sie denn gäbe, schlössen ein, sich ihnen gegenüber als Ideen skeptisch zu verhalten: sie wie schon Kant als Pflicht zu betrachten, für deren tatsächliche Erfüllung es doch niemals ein Beispiel und also auch keinen Nachweis geben kann – die Freiheit des Geistes und der Friede der Gesinnung sind positiv nicht feststellbar. Nietzsche empfiehlt darum, wie Kant, sich auch seiner eigenen Menschlichkeit nie sicher zu sein und sich darum methodisch als Tier zu betrachten. Man kann dann beobachten, wie auch unter Tieren Frieden entsteht. In der Morgenröthe Kant machte dieses Eingeständnis, wenn auch noch hundert Jahre früher. Im Streit der Facultäten von 1798 bestand er zwar auf der »Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution« einer »bürgerliche Verfassung überhaupt«, die nach ihm »allen Krieg [entfernt]«, misstraut aber einer demokratischen Regierung, die »ein Volk mit reifer Vernunft« voraussetzen würde (AA VII 90 f.).
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Zum zeitlichen Frieden
(Nr. 26) schrieb Nietzsche: »[…] Das Thier beurtheilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigenthümlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen Einzelne einer bestimmten Gattung giebt es ein für allemal den Kampf auf und ebenso erräth es in der Annäherung mancher Arten von Thieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mässigung, Tapferkeit, – kurz Alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist thierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, dass auch der höchste Mensch sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriffe dessen, was ihm Alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als thierhaft zu bezeichnen.« 32 Im Aph. 285 der Fröhlichen Wissenschaft hat Nietzsche dann das verzweifelt Schwere der menschlichen Freiheit des Geistes beschrieben, der Freiheit gerade gegenüber der Idee eines letzten Friedens. Unter dem Titel »Excelsior!« beginnt er mit einer Art Imperativ des freien Geistes, einer in Anführungzeichen gesetzten Stimme der eigenen Vernunft – eben der Stimme, die auch Kant in seinem kategorischen Imperativ reden lässt (›Handle so, daß du […]‹): »›Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten – du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluthen in seinem Herzen trägt – es giebt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es giebt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgend einen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden: – Mensch der Entsagung, in Alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte Niemand diese Kraft!‹« Und Nietzsche antwortet dann ohne Anführungzeichen, im eigenen Namen: »Es giebt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: 32
Friedrich Nietzsche: Morgenröthe 26. KSA 3.36 (»Die Thiere und die Moral«).
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Werner Stegmaier
seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfliesst.« 33 Man muss dem Frieden weiter Zeit lassen.
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Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft 285. KSA 3.527 f.
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Frieden als Gegenmythos Gertrud Brücher
Einleitung Die Frage nach einer Positivität des Friedens zu stellen, hat vordergründig gesehen etwas anachronistisches, da die mit dem Frieden befassten Wissenschaften seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den bloß negativen Friedensbegriff zu Grabe getragen und durch einen positiven ersetzt haben. Unter negativ verstand man ein Friedensverständnis, das ganz in der Ablehnung des Krieges aufgeht, während man mit positiv einen Begriff in Beziehung setzte, der nicht nur die Abwesenheit von Krieg meinte, sondern die Anwesenheit von Gerechtigkeit einbezog. Wie immer in der Folgezeit und insbesondere nach dem Ende des Ost/West-Konflikts die Gewichte verteilt waren, ob die sozio-ökonomischen, psychologischen und kulturellen Bedingungen primär für die Kriegsvermeidung oder für die Friedensstiftung in Frage standen, man bewegte sich innerhalb des axiomatischen und axiologischen Rahmens, den die philosophischen Klassiker der Moderne seit dem siebzehnten Jahrhundert vorgegeben hatten. Und aus genau diesem Grund handelt es sich nur um eine vordergründige Positivität, die an den negativistischen Kern des tradierten Friedensbegriffs nicht rührt. Wir finden infolgedessen Akzentuierungen, Kombinationen und Kompilationen der traditionellen Vorschläge: Gewaltmonopol, Rechtsstaat, Demokratie, Freihandel, Erziehung, Marktwirtschaft/Planwirtschaft, internationale Organisationen. Da aber selbst unter dem Eindruck der Entkolonialisierungsbewegung, die eine gerechte Verteilung von Gütern, Macht und Einfluss als zentrale Friedensbedingung deutlich gemacht hatte, der moderne säkulare Begriff nicht um ein Äquivalent der christlich-mittelalterlichen augustinischen tranquilitas ordinis bereichert werden konnte, fehlte nach wie vor das qualitative Moment, das von einem Positiven sprechen lässt. Die Klassiker des Friedensdenkens entwickeln ihren Begriff nämlich in Reaktion auf das zer115 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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fallene Ordo-Konzept und suchen ein die Menschen Verbindendes angesichts der verlorenen Integrationskraft des Christentums in der gemeinsamen Ablehnung eines Übels. Dieser neue Fokus ist nicht kontingent; er ist nicht ein willkürlich gewählter friedenstheoretischer Standpunkt, der durch einen anderen, nämlich die gemeinsame Verpflichtung auf Werte und Gerechtigkeitsprinzipien, einfach ersetzt werden könnte. Obgleich die Konfessionsspaltung Glaubensund Moralvorstellungen langfristig als kontingent zurücklässt, so sind die nachaufklärerischen Generationen doch einem Irrtum aufgesessen, wenn sie das erworbene Kontingenzbewusstsein zur Begründung notwendiger Einigung auf übereinstimmende Richtlinien umzufunktionalisieren suchten. Die Begründung, etwas solle sein, das sein muss, ist zwingend nur unter der Voraussetzung, dass eben dieses Müssen nicht seinerseits präskriptiver Natur ist. Diese Annahme, der Zwang zur gemeinsamen Einigung auf Verfahren, Institutionen, Organisationen und schließlich sogar Werte, Interessen und Anschauungen, verdanke sich nicht einem moralischen Postulat, sondern entstamme dem Bereich der Natur, den sog. objektiven Bedingungen, speist sich bei den Klassikern des modernen politischen Denken aus dem Vertrauen, das in die Naturwissenschaften gesetzt wird. Das transnormative Verbindende bleibt die Friedenskraft des Selbsterhaltungstriebes, wie sie Thomas Hobbes als erster aufgezeigt hat. Wo der Friede nicht in diesem Sinne zur Negation des Negativen – Gewalt und Krieg – und allenfalls zur Herstellung der Bedingungen für selbige Negation gerinnt, drängen sich die alten Konturen der christlichen Theorie von der frühen Patristik bis zur mittelalterlichen Thomistik auf, die im Frieden einen spirituellen und sozialen Heilszustand erblickte. Die christlichen Friedenstheorien werden heute vorwiegend von den kriegerischen Episoden her beurteilt. 1 Bezogen auf moderne Friedenskonzeptionen gilt dasselbe seit 1989 für das sozialistische Projektdenken. Noch unbeantwortet scheint hingegen bis heute die Frage, ob politischem und ökonomischem Liberalismus nicht etwas gelingen könnte, an dem alle Religionen und Weltanschauungen bisher gescheitert sind. Steigt das Vertrauen in eine bestimmte Friedenskonzeption, dann ist die Bereitschaft groß, zur weltweiten VerSiehe statt vieler Ernst-Otto Czempiel: Schwerpunkte und Ziele der Friedensforschung. München 1972. 13.
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wirklichung derselben Opfer zu bringen. Unter den Voraussetzungen eines im Selbsterhaltungsinteresse fundierten modernen Friedensbegriffs kann dies nur bedeuten, eben dieses Opfer von den Anderen zu verlangen. Damit ist die oben angedeutete Einschränkung benannt: Das Problem des Friedens ist nicht gelöst, indem der verlorene gemeinsame Begriff des Guten durch einen gemeinsamen Begriff des Schlechten ersetzt wird. Denn das Negative bleibt nicht negativ; es verwandelt sich in einen positiven Generator. 2 In seiner Metamorphose zeigt sich der gemeinsame Kampf gegen das Schlechte als Kampf für Demokratie und Menschenrechte. Was hier vonstatten geht, ist eher eine Folge des Praktischwerdens von Negationen, die unbemerkt zum Positiven eines vernünftigen, eines notwendigen und am Ende eines schönen Todes mutieren. 3 An dieser Stelle drängt sich die Frage nach dem Positiven des Friedensbegriffs als eine philosophische Frage insofern auf, als es gilt, aus den Metaphernnetzen wieder zu befreien, in denen sich die Friedenswissenschaften durch Rezeption, Kombination und Kompilation von Begriffen der Klassiker des modernen Friedensdenkens verfangen hat. Das negativistische Profil eines säkularen nachmetaphysischen Friedensbegriffs erübrigt nämlich keineswegs die Suche nach jenem Komplement, dessen Negation erst als Gewalt sichtbar und kritisierbar wird. Dieser Friede müsste als das Andere der Gewalt begrifflich ohne dieses Andere auskommen können, also jenseits einer Terminologie, die der Gewalt friedenstaugliche Attribute verleiht, legitime, monopolisierende, revolutionäre, ordnungsstiftende oder zivilisierende. Das ist notwendig, weil die Projektion des Positiven in die Attribute des negativen Terms das Problem nicht löst, sondern nur an eine andere Stelle verschiebt. Die Frage, worin die Positivität, die Vorzugswürdigkeit des Friedens besteht, wird multipliziert und zeigt sich jetzt als gegenstands- und themenbezogenes Dieses Positive liegt im Beitrag, den die Negation zur Bildung sinnkonstituierender Systeme leistet: »Die Negation läßt etwas Unbestimmtes in die Funktionsstelle von Bestimmtem eintreten und ermöglicht dadurch den Fortgang von Operationen ohne aktuellen Vollzug aller Bestimmungsleistungen« (Niklas Luhmann: »Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen«. In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981. 35–49. 37.). 3 Kurt Flasch (»Geistige Mobilmachung 1914 und heute«. In: Georg Meggle (Hg.): Terror & Der Krieg gegen ihn. Öffentliche Reflexionen. Paderborn 2003. 91–105) sieht Parallelen der heutigen mit der intellektuellen Mobilmachung vor dem Ersten Weltkrieg. 2
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Fragen nach dem Beitrag, den Rechtsstaat, Gewaltmonopol, Unrechtsregime beseitigende Revolutionen, Ordnungsmaßnahmen und Zivilisierungsprojekte zum friedlichen Zusammenleben leisten. Diese Art der Lösung durch Problemverschiebung ist typisch für paradoxe Phänomene, zu denen der Frieden zählt. Kant erklärt die »ungesellige Geselligkeit« zur inneren Kraft seines Friedensmodells. Im Anhang zu seiner Schrift Zum Ewigen Frieden heißt es: »So ist in der Ausführung jener Idee«, nämlich in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprinzipien zu leben, »(in der Praxis) auf keinen anderen Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als den durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird.« 4 Findet sich infolgedessen der Friede nicht als Negation der Gewalt, sondern als Negation der Rechtlosigkeit konzipiert, so hat das dem Frieden entgegen gesetzte Negative doch nur seinen Ort gewechselt. Nicht Tod und Verwüstung, sondern als Bedingung derselben ausgemachte Rechtlosigkeit markieren das zu negierende Negative. Wie immer das Positive eruiert wird, auf dem Wege der Negation von Gewalt oder auf dem Wege der Negation von Rechtlosigkeit, Anomie oder Regellosigkeit, Gewalt bleibt das stukturierende Prinzip, weil alle Handlungen und Institutionen ihren Sinn aus dem Kampf gegen den jeweiligen Antiwert des Friedens beziehen. Gegen die Tendenz zur Entdifferenzierung gilt es deshalb, die These einer Positivität zu erproben, nach der der Friede nicht identisch ist mit einer Gewalt, die die Gewalt bekämpft oder mit dem Krieg gegen den Krieg, wie er jetzt im Weltkrieg gegen den Terrorismus im Sinne eines christlich-fundamentalistischen Endkampfes zwischen Gut und Böse oder eines zivilisationstheoretisch verstandenen Ausscheidungskampfes, auf die Tagesordnung gesetzt ist. Ein positiver Friedensbegriff ist gemeint, nicht ein positivistischer, der als westliche Wertegemeinschaft humanitäre Interventionen verlangt. Eine Positivität im ontologischen Sinne wäre eine Selbigkeit oder ein Selbstsein des Friedens. Den Frieden aus sich heraus zu verstehen, gewissermaßen von unverwechselbaren Eigenschaften her, würde jedoch ein selbstimplikatives Phänomen voraussetzen, das allein zu denken, logisch unmöglich ist. In ihrer Principia Mathematica (1910–1913) haben Bertrand Russel und Alfred North WhiteImmanuel Kant: Zum ewigen Frieden – Ein philosophischer Entwurf, Königsberg 1795. In: Zwi Batscha, Richard Saage (Hg.): Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres. Frankfurt a. M. 1979. 38–82. 61.
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head diese Einsicht in eine verbindliche Form gebracht. Selbstreferenz ist eine paradoxe Figur, die gegen die binäre Struktur der Logik verstößt. Die Positivität im Sinne einer Selbigkeit des Friedens ist deshalb nur in der entparadoxierten Gestalt einer Unterscheidung zwischen Einheit (dem Frieden als eines mit sich Identischen) und Differenz (der Entzweiung, des Unfriedens, der Gewalt) zugänglich, darstellbar und praktisch umsetzbar. 5 Unter den Vorgaben der zweiwertigen Logik konzentriert sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Vermittlung von Einheit und Differenz. Bei Hegel steht dem Unterscheidungsakt ein Verknüpfungsakt gegenüber, der die Gegensätze über die Operation der Negation synthetisiert. 6 Bei Sartre ist die Verbindung von »Für sich« (Einheit) und »An sich« (Differenz) durch die Nichtung, eine ontologisch verstandene Negation hergestellt. Auch der französische Strukturalismus, der die Identität durch Wiederholung der Differenz ersetzt, bietet einen in Frieden nicht überführbaren Modus der Entparadoxierung an. 7 In allen Fällen ist das Verbindungsstück eine Operation, die den Grunddualismus abschwächt. Als Verhältnis von Einheit und Differenz ist der Friede vollkommen abhängig von der Vermittlung. Diese entspricht einer übergeordneten Ebene (Leviathan, Contrat social, Bürgergemeinschaft, Staat, Recht, Werte), die in der Wahl ihrer Mittel und Methoden der friedenssichernden und -herstellenden Verknüpfung nicht eingeschränkt sein darf, der mithin auch gewaltsame Wege offen stehen müssen, wenn nur so die höhere Einheit friedlichen Zusammenlebens möglich sein kann. Diese Lösung unterminiert die Positivität des Friedens und Der Widerspruch der sich selbst enthaltenden Menge, der Selbstreferenz mithin, wird in der Principia Mathematica durch eine Typentheorie gelöst. In der Friedens- und Konfliktforschung findet sich diese Paradoxieauflösung durch Typisierung in der Unterscheidung zwischen positivem und negativem Frieden. Diese beruhen auf der Negation spezifischer Gewalttypen (personell, strukturell, kulturell, symbolisch). Zur Entwicklung dieser Terminologie siehe Johan Galtung: »Theorien des Friedens«. In: Dieter Senghaas (Hg.): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a. M. 1972. 235–246. 6 Der Zusammenhang von Identität und Differenz wird in einer absoluten Identität aufgehoben, siehe Hegels Aufsatz »Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie« (1801). Diese dialektische Form der Entparadoxierung wird auch für den Marxismus bestimmend. 7 Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Hamburg 7 1974. Zum Strukturalismus siehe vor allem Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M. 1979; Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1972; Gilles Deleuze: Différence et répétition. Paris 1968. 5
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durchsetzt diesen mit einer Gewalt, die angeblich dem Frieden zugute kommt, eben mit fortschrittlicher, revolutionärer, ordnender, legitimer, zivilisierender Gewalt. In seiner Positivität hat der Friede unter diesen Bedingungen nur als Mythos Bestand, als Mythos der Einheit, der Integration, des Westens. Mythos ist hier im Sinne einer Erzählung verstanden, die keiner Begründung bedarf. 8 Die unverwechselbare Positivität eines Musters rührt aus historisch sedimentierten, immer wieder erzählten und durch Wiederholung plausibilisierten Bildkompositionen, die ihren gewaltsamen Charakter verdecken. 9 Die Gewaltverstrickung dieser friedensmythischen Kompositionen rührt aus der besonderen Herkunft der Positivität des Mythos. Dieses Woraus ist nach Gianni Vattimo der »Ort eines Sich-Gebens der Geschichtlichkeit«. 10 Die Beschränkungen der Logik haben hier ihre Kraft verloren, denn die Einheit, das Heile und Gute, offenbart sich als jenes transrationale Moment, in dem sich Gemeinschaften als Bruch mit der Vergangenheit konstituieren. Auf diesem gedanklichen Pfad lässt sich offensichtlich ein nicht in Gewalt verstrickter Friede kaum herleiten. Wir müssen deshalb noch einmal zu dem Punkt zurück, an dem diese Unmöglichkeit ihren Ursprung hat. Dies ist die Selbstreferenz als eine gegen die Logik verstoßende theoretische Figur. Der moderne säkularisierte Friedensbegriff teilt mit allen anderen Begriffen moderner politischer Semantik, dass er sich von der platonisch–augustinisch-thomistischen Tradition emanzipiert hat und infolgedessen Selbstreferenz nicht mehr Gott, sondern dem Menschen zurechnet. 11 Selbstreferenz wandert aus der Logik und der hier anschließenden Philosophie und Im Rahmen seiner Überlegungen zur Wiederkehr des Religiösen betrachtet Gianni Vattimo (in: »Die Spur der Spur«. In: Jacques Derrida, Gianni Vattimo: Die Religion. Frankfurt a. M. 2001. 107–124) im Mythos eine Positivität im Sinne all dessen, was sich jenseits der rationalistischen Gewissheiten des modernen Subjekts als erlebter Inhalt wieder aufdrängt: Schulderfahrung, Bedürfnis nach Vergebung, Wahrnehmung des Bösen, Auseinandersetzung mit dem Tod und das Sterbenmüssen. Gegenüber dem weiter gefassten Begriff der Religion beschränkt sich der Mythos auf die Positivität einer historischen Ereignisabfolge und markiert hier Diskontinuität, Einbruch und Neuanfang. 9 Aus der Perspektive der anderen siehe Ian Buruma, Avishai Margalit: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde. München 2005. 10 Gianni Vattimo: Die Spur der Spur. A. a. O. 115. 11 Ordnungs- und Bewegungszentrum sind für Platon und Aristoteles ebenso wie für das mittelalterliche Europa Gott, das sich selbst denkende Denken (noesis noeseos) im antiken Sinne bei Aristoteles, der »unbewegte Beweger«, im Christentum der »Schöpfer«. 8
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scholastischen Theologie in die Wissenschaften ab. Als eine nur logisch-mathematisch fassbare Entität ist Selbstbezüglichkeit unbeobachtbar und damit auch nicht herstellbar. Denn ein Selbes ist in der zeitlichen Dimension als generatives Prinzip und in der sachlichen als Prinzip des Identischen hermetisch, von außen nicht einsehbar. Wird diese formale Struktur konkretisiert und auf diese Weise zum Gegenstand von Beobachtung gemacht, so bedarf es unterbrechender Operationen, die die Selbstreferenz stören oder zerstören. Die Chiffre für Selbstreferenz »Gott« meint ein Unbeobachtbares. Schon der Versuch des Beobachtens gilt als teuflisch. Abstrahiert man von der religiösen Semantik und konzentriert sich auf das formlogische Moment, dann offenbart sich der Sinn dieser Gedankenführung. Werden Liebe oder Frieden zu solchen Chiffren, dann tritt schon im Versuch des Bezeichnens derselben ein anderes hervor, das die Chiffren gewissermaßen verunreinigt, durch ihr Gegenteil zersetzt. Denn nun wird als Liebe nur ein Verhalten sichtbar, das sich von dem gegenteiligen Verhalten des Hasses unterscheidet. Der Hass muss schon da sein, um Liebe feststellen zu können. Da Liebe aber im Gegensatz zur Gottesfigur etwas Konkretes ist, bedarf auch der Hass als Komplement der Zweiseitenform einer solchen erkennbaren und fühlbaren Konkretion. Der hassende Blick und der liebende verschmelzen im Akt unterscheidenden Bezeichnens. Eben deshalb kann reine Liebe nicht dem Menschen zugerechnet werden und das bedeutet, nicht einem Beobachter/Aktor, der eine Unterscheidung macht, sondern nur einem Jenseits von allen Unterscheidungen. Bezogen auf den Frieden zeigen sich dieselben Konsequenzen. Die friedenstheoretische Projektion der Selbstreferenz als »Frieden mit friedlichen Mitteln« 12 oder »Si vis pacem para pacem« 13 verlieren die Distanz zum Gegenbegriff; sie dissimuliert ihre Herkunft im unterscheidenden Bezeichnen dessen, was bei ihr zu einer Kraft oder Konfiguration wird, die sich aus ihrem Selbstbezug hervorbringt. Sie kann behaupten, den Friedenszweck nur mit friedlichen Mitteln erreichen zu können, weil Friedenszweck und Friedensmittel dort zugleich anwesend sind, wo sich die Menschen selbst verwirklichen, wo 12 Siehe Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen 1998. 13 Dieter / Eva Senghaas: »Si vis pacem, para pacem – Überlegungen zu einem zeitgemäßen Friedenskonzept«. In: Berthold Meyer (Hg.): Eine Welt oder Chaos. Frankfurt a. M. 1996. 245–275.
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aktuelle und potenzielle Verwirklichung zusammenfallen oder wo zivilisierte Formen des Konfliktaustrags zur festen Erwartungsstruktur geworden sind. In beiden Fällen ist die Positivität in einem Jenseits der Unterscheidungen aufbewahrt, bei Galtung im gleichgewichtigen, ausgewogenen, gesunden Pendeln der Extreme, das Frieden und Gewalt als starre Dichotomie von der Hand weisen lässt und sich adäquater in der taoistischen Yin/Yang-Metapher wiedergegeben sieht. Das zivilisierungstheoretische Friedensverständnis findet das Positive einzig im Bild eines »Hexagon« aufbewahrt, das gleich dem Hobbesschen Modell als maschinelles Konstrukt verstanden ist. Während Hobbes seiner Zeit gemäß die Friedensmaschine von den Gesetzen der Physik beherrscht glaubt, ist das »Hexagon« ein kybernetisches System, dessen Bausteine in einem wechselseitigen Rückkoppelungsprozess ein stabiles (homöostatisches) Ganzes bilden. 14 In beiden Konzeptionen ist die Positivität im Sinne einer Selbigkeit des Friedens nicht mehr aus dem Verhältnis zu entnehmen, in dem der Begriff zu seinem Gegenbegriff steht; sie schöpft ihre Impulse im einen Fall aus dem Gleichgewicht, dem harmonischen Zusammenklang der Pole, im anderen aus dem Glauben an die Funktionstüchtigkeit eines maschinell-sozialtechnischen Konstrukts. Da diese Positivität aber in mythische Dimensionen entrückt ist, bleibt es beim negativen Friedensverständnis, welches sich selbst in all seinen Operationen darin legitimiert, dass es beansprucht, Reduktion von Gewalt zu betreiben und damit als Frieden stiftende Konflikttransformation in Erscheinung zu treten. Das Problem moderner Friedensbegriffe hängt mit jenem Grundzug der neuzeitlichen Philosophie zusammen, der sich friedenstheoretisch darin niederschlägt, dass der Friede dort in Aussicht gestellt wird, wo Selbstreferenz am meisten gelingt. Um ein Gelingen geht es, wenn diese dem Menschen zugerechnet wird: Der Ort der Selbstreferenz ist das »Cogito« im Sinne von Fortschritten der Vernunft (seit Descartes), die Selbstreferenz der Selbsterhaltung (seit Hobbes), die Selbstreferenz der Selbstdisziplinierung (seit Rousseau), die Selbstreferenz der Selbstfundierung im Recht (seit Kant). Das Verhältnis zum Anderen ergibt sich wie von selbst aus den Fortschritten, die der Mensch – gedacht als individuelles und kollektives Siehe Dieter Senghaas: »Frieden als Zivilisierungsprojekt«. In: Wolfgang R. Vogt (Hg.): Frieden als Zivilisierungsprojekt – Neue Herausforderungen an die Friedensund Konfliktforschung. Baden-Baden 1995. 37–54.
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Subjekt – in Bezug auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung macht. Das ist die Zäsur, die sowohl die inferiore Position des Anderen als auch das Ferment eines Positiven im Friedensbegriff maßgeblich beeinflusst.
Zur logischen Struktur des Friedens Das Positive des modernen negativistischen Friedensbegriffs steht immer in Verbindung mit diesen vier Methoden gelingenden Selbstseins oder gelingender Subjektwerdung. Selbstbewusstsein, Selbsterhaltung, Selbstdisziplinierung und Selbstgesetzgebung spielen in der politischen Semantik kaum die Rolle überprüfbarer Bedingungen des Friedens; sie nehmen den Rang von theoretischen Artefakten, wenn nicht gar von Mythen ein. Und alle vier Vergegen-ständlichungen der Selbstreferenz reden der Gewalt das Wort, sobald es darum geht, deren Herrschaft zu erkämpfen. Sie unterscheiden sich darin von der Tradition, dass die Existenz des Schlechten, Krieg, Not und Verwüstung, nicht mehr scheinen hingenommen werden zu müssen. Denn indem der Mensch in diese entscheidende Funktionsstelle des noesis noeseos oder des selbst bewegenden Bewegers einrückt, tritt die Abschaffung des Krieges in den Bereich des Denkbaren. Faktisch wird sie von Hobbes bis Kant nicht gedacht. Aber es wird ein Friedensverständnis konzipiert, das seine Positivität nicht mehr aus dem Guten des tertium, dem Jenseits der Unterscheidung von Selbst und Anderem, von Einheit und Differenz, bezieht, sondern aus dem Kampf gegen das Schlechte (Unvernunft, Gewalt, Leidenschaften, Anarchie). Die Crux der verschiedenen Lösungen des Friedensproblems im Anschluss an Descartes, Hobbes, Rousseau und Kant – um die wichtigsten zu nennen – besteht darin, dass der Friede als das Ergebnis gelungener Selbstbezüglichkeit gedacht ist. Diese ist eine erfolgsorientierte Operation, eine Leistung des individuellen und/oder kollektiven Subjekts. Die Operation – Denken und Handeln – unterbricht die Selbstbezüglichkeit und bringt sie hervor. Was hervorgebracht wird, muss schon da sein; das ist die Paradoxie einer auf den Menschen zugerechneten Selbstreferenz. 15 Um diese Zurechnung und da15 Damit kann freilich nur die Wirkungsgeschichte des Cartesianismus gemeint sein und nicht Descartes selbst, der die Unsicherheit und Irrtumsanfälligkeit außerhalb des
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mit das aufgeklärt-säkulare Profil des abendländischen Diskurses nicht zu gefährden, bedarf es jener Gewaltsamkeit des Unvernünftig/Irrationalen, des Feindes, des Dissozialen, des Rechtsbrechers, die zu unterbinden den Menschen zum selbstbestimmten und sich selbst erhaltenden Subjekt macht. Das ist notwendig, weil die sich selbst reproduzierende Positivität nicht positiv bleiben kann, bringt sie sich in der Abwehr des Negativen doch hervor. Es gilt nicht länger der Satz des Aristoteles, 16 »dass nämlich der Krieg um des Friedens willen« zu betreiben ist. Denn Voraussetzung für diesen Satz bleibt die Zurechnung der Selbstreferenz, der Selbigkeit des Friedens auf eine Chiffre, die als Platzhalter für das »Jenseits der Unterscheidungen« fungiert. Voraussetzung bleibt mithin das einbezogene – das in die Lebenswirklichkeit der Menschen hinein wirkende – tertium – das für sich Seiende, das Theion bei Aristoteles, das höchste Wesen Gott in der scholastischen Tradition und bei Descartes jener göttlichen Substanz, die sich darin auszeichnet, dass sie nichts außerhalb ihrer selbst bedarf, um existieren zu können. Eben dieses Dritte muss nach der modernen Logik ausgeschlossen sein. Mit diesem Verfahren werden die Errungenschaften eines neuzeitlichen Menschen- und Weltbildes verknüpft, die allesamt auf das Faktum zurückzuführen sind, dass alles Gute und Positive dem Menschen als Leistung zugeschrieben und nicht als Geschenk eines anonymen Schicksals oder Gottes bloß empfangen werden kann. Der für uns wesentliche Unterschied zwischen vorneuzeitlichem und neuzeitlichem Friedensverständnis besteht mithin darin, dass in ersterem dem Frieden die Präferenz gebührt und der Wechsel von Krieg und Frieden mit der Tatsache in Zusammenhang steht, dass alle Friedensbemühungen des Menschen unvollkommen (gewaltverstrickt) sind. Diese spiegeln in sich diese Unsicherheit bezüglich der Frage wider, was im Augenblick gut und was schlecht ist. Im modernen Friedensverständnis ist hingegen die Präferenz unentscheidbar, weil der Friede nur als Modus der Gewalt oder des Krieges eine metaphysikfreie Kategorie sein kann. Seit Thomas Hobbes ist die Paradoxie geleugnet und die fundamentale Ambivalenz ist zugunsten einer Klarheit überwunden, wie der Friede zustande gebracht werden könnte, nämlich durch Kampf gegen das Übel. An diesem Punkt aber reinen Ich denke dem Menschen als einer endlichen Substanz zurechnet, die durch jene unendliche Substanz (Gott), das ens summe perfectum (Med. III.25) kompensiert wird. 16 Politik VII, 14.
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Frieden als Gegenmythos
setzen die typisch modernen Formen mythischer Verklärung ein, die die Potenz des Menschen versinnbildlichen und darüber die Dynamik aus den Augen verlieren, mit der sich diese neuen Konstruktionen auf ihre Weise in Gewalt verstricken. Neu ist, dass das Übel von Krieg und Gewalt nicht mehr hereinbricht wie Erdbeben und Hagel, sondern dass es hergestellt wird. Dieses Herstellen des Übels wird allerdings dem Feind 17 angelastet, der das Böse will, im Gegensatz zum Freund, der dem Guten zugetan ist. Freund und Feind sind aber ihrerseits nur Zweitcodierungen der Unterscheidung von Selbst und Anderem und damit eine Folge der inferioren Stellung, die der Andere in einem Modell typisch einnimmt, das den Frieden als Ergebnis gelungener Selbstbezüglichkeit denkt. 18 Und es ist auffällig, dass neueste Friedenskonzeptionen, die genau an diesem Schwachpunkt einzusetzen suchen und dem Anderen zu Rang und Lebensrecht verhelfen wollen, bemüht sind, den Dualismus hinter sich zu lassen und eine trianguläre Figur anstreben. Johan Galtungs Versuch, ein nichtdualistisches Verhältnis von Selbst und Anderem im Modell von Konflikt-, Gewalt- und Friedensdreiecken 19 ausdrucksfähig zu machen, ist hier ebenso zu nennen, wie diskurstheoretische Versuche, den Dualismus von Selbst und Anderem in eine Trias von erster, zweiter und dritter Person aufzulösen 20 oder Versuche im Anschluss an die Logik der Form George Spencer Browns, die sich um die Einbeziehung eines tertiums bemühen, vor dem Selbst und Anderer gleichrangig erscheinen. 21 17 Dass ein mit diesem Schlechten identifiziertes Andere des Selbst auch in Unvernunft und Unwissenheit oder Unmündigkeit bekämpft werden soll, ändert daran nichts, sondern verkompliziert nur die Konstruktion des Feindes, der den Kampf gegen das Übel verzögert oder verhindert. Bei Hobbes wirkt im Gegensatz zu Carl von Clausewitz oder Carl Schmitt, für die das Freund/Feind-Schema erstrangige Bedeutung haben, der mittelalterliche Fatalismus noch nach, indem weniger der Feind und mehr Feindschaft (Gefangenendilemma) für die kriegerische Natur des Politischen bezeichnend ist. Siehe dazu Ulrike Kleemeier: Grundfrage einer philosophischen Theorie des Krieges. Platon – Hobbes – Clausewitz. Berlin 2002. 302. 18 Konsensorientierte Gesellschaftstheorien sehen sich gezwungen, den Dritten als Störfaktor auszuschließen oder so zu integrieren, dass er die Rolle des Dritten verliert. Siehe dazu Kurt Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002. 245 ff. 19 Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln. A. a. O. 20 Zu diesbezüglichen Versuchen im Anschluss an Levinas siehe Pascal Delhom: Der Dritte. München 2003. 21 Siehe Gertrud Brücher: Frieden als Form. Zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. Opladen 2002; Gertrud Brücher: »Frieden als psychische und soziale Form«. Überlegungen zur Konstitutionsbedingung des Selbst. In: Ludwig Janus, Winfred Kurth
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Das Positive des negativistischen Friedensbegriffs verbirgt sich hingegen allein im Machen eines Unterschieds zwischen dem, was zum Selbst gehört und gehören soll und was nicht dazu gehört und gehören soll. Da es sich um Machen und nicht um Erkennen, Vorfinden oder Abfinden handelt, wird für das politische System Kriegführen genauso wichtig wie Friedensstiftung, für das Rechtssystem werden Verbrechen genauso wichtig wie Gesetzestreue. Denn nur die Differenz und die am Leben erhaltene Differenz halten den Betrieb am Laufen. 22 In einem dualistischen Friedensbegriff, in dem das tertium ausgeschlossen ist, kann der Krieg nicht um des Friedens willen sein, weil es dazu eines Guten bedürfte, dass sich nicht im Machen des Unterschieds erschöpft. Friedensbemühungen haben keinen eigenen Wert; sie sind von einem Erfolg abhängig, der sich häufig genug Faktoren verdankt, die dem Einfluss und der Kontrolle des Handelnden entzogen sind. 23 Diese Bemühungen sind im dualistischen negativistischen Friedensverständnis nur als das Ergebnis positiver Resultate solcher Bemühungen denkbar. Denn andernfalls wäre das Positive nichts Hervorgebrachtes, sondern ein Gegebenes, ein Geschenk. Dieser Zirkel wird gewöhnlich aufgelöst, indem Friedensbemühungen vorgeben, die eigenen positiven Ergebnisse zu antizipieren. Sobald Selbstreferenz und Zurechnung in einer einzigen Identität (Konfiguration) verschmolzen sind, lässt sich Frieden machen, man muss nur dem Vernünftigen zur Herrschaft verhelfen, den Staat stärken oder bilden, Erziehungsprogramme entwerfen und durchsetzen und rechtsstaatliche Prinzipien globalisieren. Die Gewalt – in Gestalt von Humanitären Interventionen, von Frieden schaffenden Militärmaßnahmen, von Nation building und Kampf gegen den Terrorismus – ist heute dem Frieden so nahe gerückt, dass sie als Gegenbegriff nicht mehr taugt. Idealität und Positivität des Friedens schwinden offensichtlich in dem Maße, in dem sie in einer (Hg.): Psychohistorie und Politik, Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Band 4. 2003. 85–101. 22 Siehe zu einer Theorie der Gesellschaft, die auf einer differenztheoretischen Grundlage aufbaut, Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1997. 23 Gandhi ist auf seiner Suche nach dem Verbindenden von Hindus, Moslems und Christen auf einen als Gewaltlosigkeit ausgeführten Wahrheitsbegriff gestoßen, der nicht von der Machbarkeit her verstanden ist. Dieser kommt prägnant im alten Gebot der Sankya-Lehre zum Ausdruck: »Erfülle deine Pflicht, nach dem Erfolg des Handelns frage nicht.« Siehe Franz Kobler, »Gandhis Verhältnis zur abendländischen Friedensbewegung«. In: Fritz Diettrich (Hg.), Die Gandhi-Revolution. Dresden 1930. 108.
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konkretisierten Selbstbezüglichkeit der Vernunft, der Gewaltabwehr, der Selbstdisziplin und des Rechtsgehorsams verortet wird, sodass sich alle friedensstiftende Energie in der – militärischen oder zivilen – Durchsetzung derselben erschöpft. Spätestens an diesem historischen Punkt, der heute als postmodern bezeichneten Entdifferenzierung zentraler Leitunterscheidungen, 24 drängt sich die Frage der Positivität des Friedens als ein formallogisches Problem auf. 25 Denn die Projektion des sinnstiftenden Dualismus von positiv und negativ auf andere und immer neue Unterscheidungen löst nicht die Frage, wie ein Friedensbegriff formuliert werden könnte, der mehr als ein bloßer Modus seines Gegenbegriffs ist. Angesichts der Paradoxie, in die sich jeder diesbezügliche Versuch verrennt, mag es naheliegen, der klassischen Logik mit ihrem Satz vom ausgeschlossenen Dritten die Zuständigkeit für die besonderen Fragen des Friedens abzusprechen und statt dessen eine taoistische Epistemologie zu bevorzugen, die das tertium einbeziehen lässt. Da dies aber um den Preis des säkularen Zugriffs auf das Friedensproblem erkauft werden muss, kann dieser Galtungsche Vorschlag nicht allgemeine Zustimmung finden. Um die zwischen den Polen oszillierende Bewegung des Ying und Yang nämlich als Gewinn für den Frieden zu verbuchen, bedarf es wieder jener übergeordneten Einheit, die das Enthaltensein des einen im anderen »ad infinitum« 26 als Friedensgewinn festhält. Denn wenn es auch natürlich sein mag, dass Gewalt und Friede aufeinander folgen wie die Krankheit auf die Gesundheit, so bedürfen beide jenes Gleichge24 Siehe dazu im Hinblick auf die Menschenrechtsproblematik Gertrud Brücher, Postmoderner Terrorismus. Zur Neubegründung von Menschenrechten aus systemtheoretischer Perspektive. Opladen 2004; im Hinblick auf die Menschenwürdeproblematik, Gertrud Brücher, Menschenmaterial. Zur Neubegründung von Menschenwürde aus systemtheoretischer Perspektive. Opladen 2004. 25 Als empirisches Problem zeigt es sich in vielfachen Unsicherheiten, welche Handlungen noch mit Demokratie, Menschenrechten, Frieden und Freiheit vereinbar sind und welche bereits in den Bereich der Gegenbegriffe fallen. Die öffentlichen Diskurse über die Zulässigkeit der Folter »unter bestimmten Bedingungen« (Terrorismus, Erzwingen von Geständnissen, um Leben zu retten), das Abschießen von Zivilflugzeugen »unter bestimmten Bedingungen« (von Terroristen gekapertes Flugzeug), das Führen von Angriffskriegen »unter bestimmten Bedingungen« (Menschenrechtsverletzungen, Schurkenstaatlichkeit), das Verweigern von Bürger- und Menschenrechten »unter bestimmten Bedingungen« (Terrorismus, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) beweisen dies. 26 Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln. A. a. O. 43.
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wichts, das im Gewaltsam/Konfliktiven nur ein Lebenselixier, ein Moment lebendigen Wechsels und Werdens erkennen lässt und im Friedlichen nur das liebend Fürsorgliche und nicht den »Friedhofsfrieden«. Da alle Einheitsleistungen auf Paradoxien hinauslaufen, 27 enthält das Gleichgewicht die beiden Pole, die nur ihrerseits als Pole eines Gleichgewichts zur Ying/Yang-Metapher taugen. So verschiebt auch diese Lösung des Friedensproblems nur wieder die fundamentale Frage, wie die Form der Unterscheidung von Einheit (Gleichgewicht) und Differenz (Ying und Yang) gedacht, bzw., wie sie versinnbildlicht werden soll; denn darum kann es nur noch gehen bei einer Kategorie, die das ad infinitum als Quelle der Friedensmotivation ausbauen muss, um einen Halt zu finden inmitten von Bewegung und Veränderung. Hier hat die eminente Bedeutung der Friedenskultur ihren Platz. Um bei der Behandlung dieses Problems so weit es geht ohne Anleihen bei religiösen Semantiken auszukommen, setzen wir bei der Theorie unterscheidenden Bezeichnens an, die den Formalismus Kants noch übertrifft 28 und damit eine Kommunikationsebene bereit stellt, auf der eine Verständigung verschiedener Kulturen und Weltanschauungen möglich ist. Die Weichen zu einem solchen Verständnis von Positivität sind durch die »Gesetze der Form« von George Spencer Brown 29 mit einem mathematisch-logischen Kalkül gestellt. Dieser Kalkül lässt selbstimplikative Sätze nicht mehr gegen die Logik verstoßen. Nach Spencer Brown ist das Selbst seine eigene Markierung und damit Unterscheidung. Als sich selbst markierende Unterscheidung wird das Selbst zu einer Form, die aus vier Teilen besteht: den beiden Seiten der Unterscheidung, der Grenze zwischen ihnen und dem Kontext, der die beiden Seiten unterscheidbar macht. Aus Unterscheidungen bestehend ist ein Selbst eine dreifache BeSiehe dazu Niklas Luhmann: »Paradoxie der Form«. In: Dirk Baecker (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt a. M. 1993. 197–212. 28 Karl Eberhard Schorr (»Zu Formanalyse und Formgebrauch in der Logik«: In: Dirk Baecker (Hg.): Probleme der Form. Frankfurt a. M. 1993. 70–87. 73) verweist auf die Entdeckung Kants, dass alle Begriffe ihre Grundlage allein in Formen haben. Und er stellt die hier anschließende Frage, wie man unter dieser Voraussetzung zu logischen Formen komme, die als Formen der Wahrheit Referenzen auf eine Außenwelt sind. Diese Referenz sieht er durch das logisch-mathematische Kalkül Spencer Browns gesichert. 29 George Spencer Brown: Laws of Form. London 1969. Deutsch: Gesetze der Form. Lübeck 1997. 27
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ziehung, eine Selbstbeziehung, eine Fremdbeziehung und eine Transfersbeziehung, oder anders gesagt, eine Beziehung 1. Grades (Selbst-Selbst), 2. Grades (Selbst-Anderes) und 3. Grades (SelbstSelbst-Selbst-Anderes). Die Transfersbeziehung liegt nicht auf einer anderen Ebene, sondern sie ist ebenso wie die beiden anderen Beziehungen das Selbst, welches mithin als ein Tripel formal identischer Beziehungen dekomponiert werden kann. 30 Die Grenze ist der Marker oder Beobachter, der eine Unterscheidung macht. Um den friedenstheoretischen Gewinn gegenüber den modernen Lösungen innerhalb der zweiwertigen Logik erkennen zu können, müssen wir noch einmal die wichtigsten Punkte rekapitulieren, die jene Entdifferenzierung von Frieden und Gewalt/Krieg bewirkt haben und die heute als bloße Begleiterscheinung der Globalisierung verharmlost werden. Indem die modernen Friedensbegriffe dem Muster der Anthropologisierung der göttlichen Attribute – hier der Selbstreferenz – folgen, ist Friedensarbeit im Kern Selbstbewusstwerdung, Selbsterhaltung, Selbstdisziplinierung und Selbstfundierung. Und diese Leistungen wiederum bestehen in einer Operation des Unterscheidens zwischen dem zum Wir erweiterten Selbst, das sich verwirklicht und einem im Fremden identifizierten Anderen, der dem Kreis sich verwirklichender Subjekte oder Freunde schadet oder schaden will. Die zweiwertige Logik anerkennt nur die beiden Werte, das Selbst und den Anderen, die in Eintracht oder Zwietracht koexistieren. Der Dualismus ergibt sich aus eben dieser Anthropologisierung der Selbstreferenz, die das Sich-Selbst in all seinen Dimensionen der Erkenntnis, der Sicherheit, der Gemeinschaft und der Ordnung als menschliche Leistung verstehen lässt. Die Paradoxie des sich selbst in der Vergegenwärtigung entfremdenden Bewusstseins wird aufgelöst durch Therapie. Die Paradoxie der Selbstgefährdung durch Selbsterhaltung und -entfaltung, die auf Kosten anderer geht, wird aufgelöst durch das staatliche Gewaltmonopol. Die Paradoxie der Selbstdisziplinierung durch normgerechtes Verhalten wird aufgelöst durch Sozialisation. Und die Paradoxie der Freiheit verheißenden Selbstfundierung durch gehorsames Befolgen der Gesetze von Natur und Moral wird aufgelöst durch die Wissenschaften. Offensichtlich 30 Ich stütze mich in dieser Interpretation Spencer Browns auf die Darstellung von Ranulf Glanville: »Das Selbst und das andere: Der Zweck der Unterscheidung«, in: Dirk Baecker (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt a. M. 1993. 86–95.
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ist die Anthropologisierung der Selbstreferenz und mithin die Säkularisierung in ihrer Plausibilität an das unerschütterliche Vertrauen in die entparadoxierende und darin friedenstiftende Leistung der Therapie, des Gewaltmonopols, der Erziehung/Zivilisation und der Wissenschaft geknüpft. Ein Autoritätsverlust bringt das gesamte Friedenskonstrukt zum Einsturz. Dies ist der Grund, weshalb der fundamentalistische Terrorismus die bisherige Gefahrenwahrnehmung in den Schatten stellt und eine Hysterie auszulösen beginnt, wie sie selbst in den Hochzeiten des Antikommunismus nicht erreicht wurde. Die als Anthropo-Logik gedachte Logik, mithin die Aufspaltung der Selbstreferenz in die beiden Werte, das Selbst und den Anderen, droht offensichtlich mit dem rasant voranschreitenden Autoritätsverfall die Bedingungen zu verlieren, in der die moderne Glaubensgewissheit gründet. Blenden wir angesichts dieses Krisenbewusstseins nun gewisse Weiterentwicklungen im Bereich der formalen Logik ein, so ist ein solcher Schritt nicht beliebig und hergeholt. Denn immerhin hat der Mitbegründer der logischen Typenlehre, Bertrand Russel, bestätigt, dass George Spencer Brown einen Kalkül für die Lösung des Problems rückbezüglicher Sätze und mithin von Paradoxien formuliert habe. 31 Vor dem Hintergrund dieser Beglaubigung wollen wir die Konsequenzen für den Friedensbegriff herausarbeiten. Legt man die formale Struktur des »Tripel formal identischer Unterscheidungen« (Glanville) zugrunde, so ist der Friede nicht mehr und nicht weniger als das, was eine friedensrelevante Unterscheidung als solchen erkennen lässt oder anders gesagt, was ein Beobachter/Aktor zum Frieden macht oder wie sich ein Beobachter/ Aktor als Friede profiliert. Man kann demnach nicht mehr fragen, was der Friede ist im Sinne eines Erkenntnisgegenstands; fragen lässt sich nur noch nach den Beziehungsaspekten, die in ihrem Miteinander und Gegeneinander den Frieden bilden. Aus dem klassischen Akteur, der den Frieden macht, 32 indem er Institutionen ins Leben ruft, welche den nichtgewaltsamen KonfliktSiehe dazu dazu Paul Watzlawik (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München/Zürich 1990. 230 ff. 32 Bernhard Waldenfels: »Friedenskräfte und Friedenszeichen« in diesem Band, weist darauf hin, dass ein aktivischer Friedensbegriff das Geschehen vom Täter aus entwirft. Friedensschluss und Friedensstiftung seien aber kein reines Tun, sondern nähmen die Verwandlung des Feindes in einen Freund vorweg. Dieses Un-mögliche sei nur in Frie31
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austrag auf Dauer stellen (und in diesem Bemühen Gewalt anwenden muss), wird der Aktor, der mit der den Frieden konstituierenden Unterscheidung identisch ist. Der Zauber, der gewöhnlich von der Frage nach dem Akteur ausgeht, verflüchtigt sich, sobald bedacht wird, dass sich der Akteur als Aktor einer Unterscheidung von dieser nicht unterscheidet. Ein Beobachter, wer immer als solcher fungiert, ein Individuum oder eine Institution, bezeichnet die Zerstörung des World Trade Center als Krieg und den Angriff auf Afghanistan als Verteidigung und konstruiert damit genau die Wirklichkeit, die seinem Friedensverständnis entspricht. An die Stelle der Verhältnisbestimmung zwischen Einheit und Differenz tritt nun eine Paradoxie. Der Friede ist eine in sich dreifach geteilte Beziehung. Als paradoxer Begriff ist die Gewaltverstrickung des Friedens nun sogar potenziert gedacht. Es gibt keinen Ausweg mehr, keine übergeordnete Ebene. Die Transfersbeziehung ist nicht übergeordnet, sondern gleichursprünglich, identisch mit Selbst- und Fremdbeziehung. Die Vermittlungsinstanz des dualistischen und dialektischen Schemas hingegen, der die überwältigende Aufgabe zufällt, Unvereinbares zu vereinbaren, die eine Menschheit mit der Unterschiedlichkeit ihrer Einzelexemplare zu versöhnen, auseinanderlaufende Interessen zusammenzuführen, ist in ihrer autoritären und gewaltsamen Statur legitimiert, weil es ohne sie keinen Frieden gibt. Als reflexive Beziehung ist der Friede zwar in Gewalt verstrickt, aber diese Gewalt lässt sich nicht mehr legitimieren, ist die Transfersbeziehung doch keineswegs in der Lage, Selbst- und Fremdbeziehung zu synthetisieren. Das Machbarkeitsprinzip ist damit noch weit mehr desillusioniert als im dekonstruktiven Denken. 33 Der Friede ist nur als die eine Seite seiner ihn konstituierenden Unterscheidung friedlich, als Einheit der Unterscheidung ist er gewaltverstrickt, als marker ist er Gewalt. Letzteres geht in die Richtung dessen, was Walter Benjamin 34 und Jacques Derrida 35 konstatieren. Das unbegründbare denssymbolen, in Symbolen einer »Entwerklichung« (Maurice Blanchot) ausdrucksfähig. 33 Man denke nur an die Hoffnungen, die selbst Jacques Derrida in seinem zusammen mit Jürgen Habermas verfassten Pamphlet »Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 5. 2003 Nr. 125. 33, in eine europäische Leitkultur setzt. 34 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt a. M. 1965. 35 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹. Frankfurt a. M. 1991.
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Begründen der Unterscheidung lässt dieses Unterscheiden als Gewalt bezeichnen. Nach Benjamin ist Gewalt stets Recht setzend oder Recht erhaltend. Die Differenz von Recht und Gewalt ist aufgehoben. Erst auf dieser Stufe der Desillusionierung, die allen vermittelnden Frieden schaffenden Institutionen vor Augen führt, dass sie den Frieden ebenso befördern wie den Unfrieden, kommt eine Positivität des Friedens in Sicht. Erst die Reflexion auf die Form als Ganze weist auf etwas Unverwechselbares hin, das sich nicht in Gewalt verwandelt. Denn der infinite regress, in den die Suche nach den Kriterien des Unterscheidens von Frieden und Gewalt treibt, offenbart ja nicht nur die Markierung als Gewalt, sondern sie macht zugleich die ontologische Grenze des Markierens sichtbar. Indem sich die Frage nach den Kriterien der Unterscheidung als unentscheidbar erweist, wird das Markieren in seiner Begrenzung deutlich, ordnend Frieden zu stiften, zu versöhnen. Das Markieren schiebt seine unüberschreitbare Grenze, den Unterschied zu einem Unmarkierten in den Vordergrund. Gesellschaften, die an diesen Punkt angelangt sind, am Zenit der Dekonstruktion, werden auf eine irritierende Weise mit ihrer religiösen Tradition und Semantik konfrontiert. Da der Friede nun als eine dreifache Beziehung, eine Selbstbeziehung, eine Fremdbeziehung und eine Transfersbeziehung, ausweglos in Gewalt verstrickt ist und sich damit als paradox erweist, zeigt sich das Problem des Friedens zunächst und vor allen Überlegungen, welches Handeln dem Frieden gemäß sein könnte, in der Motivation zum Frieden. Genau dieses Problem der Motivation gilt im modernen entparadoxierten Friedensbegriff seit Hobbes als gelöst. Hobbes geht davon aus, dass alle Menschen den Frieden wollen, 36 wenn sie nicht verblendet sind und ihre eigenen Interessen verkennen. Seitdem gilt das aufgeklärte Selbstinteresse als Garant eines allgemeinen Strebens nach Frieden. Diese Annahme ist nur deshalb problematisch, weil sie nicht als logische, sondern als anthropologische Aussage formuliert ist. Ginge es nur um die Nichtnegierbarkeit des Präferenzcodes, dann würden die Einwände gegen Hobbes auf der selben Ebene liegen wie die Einwände gegen die Vernunftkritik der 60er Jahre, die das »Ende der Philosophie« ausgerufen hatte mit dem Argument, die Philosophie sei die Ideologie der europäischen Ethnie. Diese Einwände werden insbesondere von Jacques Derrida (in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972. 61) entkräftet mit dem Argument, radikale Vernunftkritik sei unmöglich, weil gegen die Vernunft nur unter Hinweis auf eine höhere Vernunft polemisiert werden könne. Man kann nicht gegen »die Vernunft«, »das Gute«, »den Sinn« oder »das Wahre« sprechen.
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Die offensichtlichen Abweichungen dieses theoretischen Artefakts, dieses friedensmythologischen Konstrukts, werden einer noch nicht aufgeklärten Geistesverfassung zugeschrieben, die in gesellschaftlicher Rückständigkeit ihre Ursache haben mag. Wenn nun jedoch die Selbigkeit des Friedens eine dreifache Beziehung ist, ein Tripel formal identischer Beziehungen, dann hat man es mit einem Modell zu tun, das dem tatsächlichen Leben sehr viel näher zu sein scheint, als dualistische und dialektische Konzeptionen. Zugleich zeigt die Form des Friedens, die eine andere Seite des Ungeformten einblendet, was die eigentliche Positivität des Friedens ausmacht. Sie beruht auf der Präferenzstruktur der Form, also darauf, dass der Friede der positive Wert bleibt, an den anzuschließen die Menschen als ihre Aufgabe ansehen. 37 Das bedeutet, der Friede darf nicht auf die Seite der Gewalt wechseln. Genau dies ist aber aufgrund der paradoxen Natur des Begriffs nicht möglich. 38 Die Präferenzstruktur lässt sich deshalb nur über eine Metaebene sichern, die in der besonderen Art und Weise, mit der das Markieren von Frieden (Unterscheiden von Frieden und Gewalt/Konflikt/Krieg) zu einem Nichtmarkierten in Beziehung gesetzt wird, die Form des Friedens erhält. Das ist in der Augustinischen Unterscheidung von pax aeterna und pax temporalis der Fall. 39 Was hier 37 Die Präferenzstruktur der Form des Friedenstripels muss im Zusammenhang mit der Nichtnegierbarkeit der logischen, moralischen und ontologischen Präferenz gesehen werden. Da der Friede als Argument für das Sein (Leben) gegen das Nicht-Sein (Tod), für das Gute (am Leben erhalten) gegen das Schlechte (Töten) und für das Wahre (Vernünftige) gegen das Unwahre (Unvernünftige) steht, können alle Argumente, mit denen für Gewalt und gegen ein Sich-friedlich-Verhalten votiert wird, immer nur unter Hinweis auf die Friedenssicherungsfunktion der Gewalt erfolgen. 38 Infolgedessen kann das Gute, das im ewigen Wechsel von Krieg und Frieden zumindest den inferioren Rang des Krieges sicherstellt, nicht als Zustand des guten Lebens gedacht sein (das unterhaltsame und gesellige Zusammensein der freien Bürger bei Platon und Aristoteles). 39 In der Gegenüberstellung von christlichem und modernem Friedensverständnis wird i. d. R. die sakral fundierte Ordnung genannt, die in traditionalen Gesellschaften im Herrscher von Gottes Gnaden das Problem der Legitimität gelöst habe. Der mit Ordnung gleichgesetzte Friede bedarf demgemäß in modernen Gesellschaften, die sich innerweltlich legitimieren müssen, einer »normativen Theorie« als funktionales Äquivalent sakraler Fundierung. Siehe dazu Thorsten Bonacker: »Die Gemeinschaft vor dem Konflikt. Oder: Haben soziale Konflikte einen normativen Sinn«, in: Jörg Calließ, Christoph Weller (Hg.): Friedenstheorie. Fragen – Ansätze – Möglichkeiten. Loccumer Protokolle 2003. 451–480. Wichtig wäre hingegen, zwischen Semantik (machtbegrenzender Differenz von pax aeterna und pax temporalis) und gesellschaftsstrukturell be-
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gewissermaßen formlogisch vonstatten geht, lässt sich in einer zeitgemäßeren Sprache deutlich machen. Die Präferenzstruktur des irdischen Friedens schlägt auf den himmlischen durch. Sie führt im Irdischen, das von Unvollkommenheiten durchzogen ist, zu Enttäuschungen und lässt sich damit nur schwer aufrechterhalten. 40 Der himmlische Frieden enthält als Aussagengenerator die exakte Kopie der friedensrelevanten Unterscheidung in ihrer unversehrten – ewigen – Form. Die homologe Struktur ergibt sich allein aus dem Umstand, dass der Marker/Beobachter, der eine Unterscheidung macht, nichts anderes ist als diese Unterscheidung und darin immer auch die Präferenzstruktur mit übernimmt, auch wenn er diese im konkreten Leben nicht durchhalten kann. Wenn man hingegen sagen würde, die Struktur gilt nur für die pax aeterna, während im Bereich der pax temporalis Menschen frei sind, von Frieden zu sprechen, wenn sie Krieg meinen, dann müsste man zweierlei Marker/Beobachter annehmen müssen, einen, der den irdischen und einen, der den himmlischen Frieden bestimmt. Selbst die christliche Offenbarungslehre kennt keinen transmundanen Beobachter, auch wenn sie Zustände besonderer Erleuchtung annehmen mag. Der himmlische ist nur die konstituierende andere Seite der Markierung eines Beobachters, der bestimmt, was Frieden und was Gewalt/Krieg/Destruktivität sein soll. Die Seite des Unmarkierten kann keine andere Struktur aufweisen als die des Markierten, andernfalls würde es sich einfach um eine andere Unterscheidung handeln, mit einem anderen Aktor. Wir hatten gesagt, dass zur Form der Unterscheidung vier Aspekte gehören, die beiden Seiten, die Grenze und der Kontext. Zu diesem Kontext zählt die Präferenzstruktur, die im Falle des Friedens nicht beliebig ist. Die Positivität im Sinne dieser Präferenzstruktur zu erhalten, ist also gewissermaßen Teil des Friedenstripels. Es bedarf keiner besonderen religiösen Inklinationen, um die formtypische Symmetrie im markierten und im unmarkierten Feld anzunehmen. Sie ergibt sich aus der Selbigkeit des Beobachters/Markers, der mit seiner Unterscheidung ein Nichtunterschiedenes mitkonstituiert, ob dingter Lesart (Macht- und Gewalt legitimierende Überführung der Differenz in die Einheit einer legitimitätsstiftenden himmlischen Hintergrundwelt) zu differenzieren. 40 Der Marker, der irdischen und himmlischen Frieden unterscheidet, hat die Funktion, einen friedensförmigen Umgang mit innerweltlich nicht aufzulösenden Gegensätzen von legaler und illegaler Gewalt, von gerechtem und bloß pazifiziertem ungerechten Frieden, zu finden. Er ist mit dem Aktor identisch, der diese Begriffe voneinander unterscheidet.
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er sich dessen bewusst ist oder nicht. Die positive Bestimmung nicht nur des christlichen, sondern bereits des altgermanischen Friedensbegriffs, die Verknüpfung mit Verhaltens- und Handlungsweisen wie »Lieben«, »Schonen« und »Freundsein«, sind nicht das untrügliche Zeichen für die Naivität der Ahnen, die das wirkliche Leben nicht gekannt hätten und meinten, mit Liebe und freundlichem Zureden ließen sich Gewalttaten unterbinden. Diese Auflagen sind vielmehr Zeichen einer gegen alle Enttäuschungen aufrechtzuerhaltende und zu verteidigende Präferenzstruktur.
Mythos und Gegenmythos Weiterhin rätselhaft erscheint nun aber die Beziehung dritten Grades, die Transfersbeziehung. Denn sofern diese als reflexive Beziehung gedacht ist, handelt es sich nicht einfach um eine koordinierende Kraft, die als Souverän, als Institution oder Kultur integrierend wirken könnte. Das desintegrative Moment muss hier in gleicher Weise berücksichtigt sein. 41 Insofern gibt es formlogische Anforderungen, die eine versehrte und eine unversehrte Form unterscheiden lassen. Die 3. Beziehung bleibt nur eine solche, wenn sie das Niveau ihrer eigenen Reflexivität nicht unterschreitet. Sie darf sich weder in die erste noch in die zweite Beziehung verwandeln. Das ist aber nur schwer durchführbar, da die reflexive Relationierung sinnlich nicht wahrnehmbar ist im Gegensatz zu den beiden anderen, die im Einen (Menschen) und in den Vielen (Gesellschaft) greifbar sind. Sie muss deshalb repräsentiert werden und es liegt nahe, die Repräsentation an 41 Das verdeckt unser Begriff der Kultur, der das Verbindende überbetont, während die christliche Figur der Trinität der Struktur näher kommt. Hier übernimmt der »Heilige Geist« die Funktion der Diversifikation und Unruhe, die im Begriff der Konfliktkultur überspielt ist. Um das verstörende Element der reflexiven Beziehung im säkularen Friedensverständnis überhaupt berücksichtigen zu können, musste der Konfliktbegriff aus seiner gegenpoligen Beziehung zum Frieden herausgelöst und in einen positiven und negativen aufgespalten werden. Die Trinität eignet sich weder dazu, als Ideologie der Integration zu fungieren; sie eignet sich auch nicht zur Rückkehr zu den Fundamenten im metaphysischen Sinne der Rückkehr zu einem Ursprung. Siehe zu dieser Haltung auch Gianni Vattimo »Die Spur der Spur« (in: Jacques Derrida, Gianni Vattimo: Die Religion. Frankfurt a. M. 2001. 107–124. 120), der in diesem Punkt auf Nietzsche verweist, »nach dem mit fortschreitender Erkenntnis des Ursprungs die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zunimmt; ein Ausspruch, der auf eine kaum paradoxe Weise als ein letztes Echo der christlichen Dreieinigkeitstheologie verstanden werden kann.«
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der Beziehung 1. oder 2. Grades zu orientieren, an der Selbstbeziehung im Falle personalisierter Herrschaft, an der Fremdbeziehung im Falle gemeinschaftlicher Herrschaft (Volkssouveränität). In der Paradoxie und Unerreichbarkeit liegt die Gefahr, dass nicht die Transfersbeziehung, sondern Selbst- oder Fremdbeziehung repräsentiert werden. Repräsentation ist mithin im Friedenstripel nicht beliebig, sondern nur der Form angemessen, wenn die Differenz erhalten bleibt. Denn aufheben lässt sich nur eine Differenz zwischen zwei Polen. Der Aspekt der Selbstbeziehung ist als ein von den anderen isolierter gleichsam ikonographisch präsent und zwar in den selbstverwirklichten Subjekten, 42 die Authentizität und Frieden mit sich selbst ausstrahlen; in Bezug auf die Fremdbeziehung haben die Gemeinschaftssymboliken, die Empathie und Freundschaft assoziieren lassen, dieselbe Funktion. Bei der Beziehung einer doppelten Beziehung liegt die Lebensferne der Darstellungen auf der Hand. Die politischen Symbole und kulturellen Wahrzeichen sind mit dem Bezeichneten nur noch über Mythen vermittelt. Kein Aktor kann die Beziehung einer doppelten Beziehung in Einheit überführen. Indem der Westen dies heute wieder und zwar unter globalisierten Bedingungen ignoriert, provoziert er den internationalen Terrorismus. Damit sollte deutlich geworden sein, was repräsentiert werden muss, keineswegs die Bevölkerung, die es nicht als eine, sondern nur als doppelte Beziehung gibt. Der Form gemäß ist nur eine Repräsentation der Differenz in ihrer Unaufhebbarkeit. Das christliche Europa bemühte sich um eine solche repräsentative Figur mit dem unaufhebbaren Dualismus von Kaiser und Papst; das säkulare Äquivalent ist die Gewaltenteilung. 43 Beide Institutionen der Machtbegrenzung verlieren ihre Funktion, wenn das, was repräsentiert und bewahrt werden muss, nämlich die Unaufhebbarkeit der Differenz, aus den Augen gerät und der Aspekt der Einheit und Vereinheitlichung in Die Physiognomik profiliert sich als Wissenschaft Anfang des 20. Jh. aus diesem Motiv, ideales Menschsein äußerlich erkennbar zu machen. 43 Die Sozialwissenschaften haben sich i. d. R. auf die Fähigkeit der Institutionen konzentriert, usurpatorische Macht zu unterbinden. Das faktische Ge- oder Misslingen der Machtbegrenzung wird den Institutionen selbst – König-, Kaiser-, Papsttum, Parlamentarismus, Rechtsstaatlichkeit – zugeschrieben, mithin den einzelnen Seiten der Unterscheidung. Machtbegrenzung ist aber ein Effekt der Form als ganzer, nämlich der Unaufhebbarkeit der Differenz. Aus diesem Grund sind Demokratien genauso wenig dagegen gefeit, despotisch und kriegerisch zu werden wie Monarchien. Kant hat deshalb seine Idee der Republik von der Regierungsform unabhängig gemacht. 42
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den Vordergrund tritt – meist mit dem Argument der Friedensstiftung. Sobald Einheit und nicht mehr Differenz repräsentiert wird, korrumpiert die Transfersbeziehung und verwandelt sich in Selbstoder Fremdbeziehung. Despotische Herrschaft des Einen oder der Vielen lässt sich nicht mehr logisch, sondern nur noch mythologisch begründen. Das Selbst dritten Grades, das reflexive Relationieren, mag in einem säkularen Friedensverständnis unbeachtet bleiben, weil es in unserer gemeinsamen Welt keinen richtigen Grund findet. Deshalb nimmt all das, was in die Funktionsstelle der Beziehung dritten Grades einrückt, die Gestalt eines Mythos an. Und die Moderne erhebt in ihrer Selbstdarstellung für sich den Anspruch, im Gegensatz zur dunklen Tradition auf wissenschaftsgeneriertem Wissen und nicht auf Glauben zu beruhen. Dieser Anspruch lässt sich nicht durchhalten. Alle modernen Vermittlungsinstanzen, der »Leviathan«, der »Contrat social« und das »Recht« sind mythologisch fundiert. 44 Die Gewalt des Leviathans, die Zwangsgewalt der Bürgerversammlungen und diejenige des Recht konstituierenden Souveräns kommen ebenso der Gewalt und dem Krieg zugute wie dem Frieden. Sie sind Entparadoxierungen nur unter der Voraussetzung, dass die Gewalt des Souveräns, der die Funktionsstelle der Beziehung dritten Grades einnimmt, die Präferenzstruktur auch dann nicht antastet, wenn die transzendente Kopie dieser Struktur, die pax aeterna nicht mehr mitgedacht wird. Was stillschweigend in diesen noch für unsere Zeit gültigen friedenstheoretischen Entwürfen vorausgesetzt wird, ist die funktionale Ersetzbarkeit der pax aeterna durch Sozialtechnik. Nur in diesem Fall ist die Gewaltenteilung funktionales Äquivalent der wechselseitigen Blockierungen von weltlicher und geistlicher Herrschaft. Das mechanistisch gedachte Zustandekommen des Leviathans zeigt dies deutlich. 45 Nicht nur der bellum omnium contra omnes und mithin die Beschreibung des Problems, ist mythologischer Art, sondern auch die Methode der Problembewältigung, nämlich die vertraglich vereinbarte Abtretung aller Rechte, bei der es nicht darauf ankommt, 44 Zur gewaltlegitimierenden Seite dieser mythologischen Fundierung siehe Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004. 45 Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp behauptet in: Thomas Hobbes visuelle Strategien. Berlin 2002, Hobbes habe den Begriff staatlicher Souveränität wesentlich durch optische Versuche mit multifokalen Linsen bestimmt.
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wer oder wie viele dieses angeblich natürliche Recht auf Gewalt übertragen. Nur wenn die Präferenzstruktur nicht angetastet wird und das bedeutet, die Friedenstheorien von Hobbes, von Rousseau und von Kant nicht in sich auch Gewaltrechtfertigungen enthalten, kann die alte nicht-säkulare Friedensversion als erledigt gelten. Anderenfalls bleibt menschliches Handeln in Gewalt verstrickt und es bleibt offen, ob die gut gemeinten Handlungen dem Guten dienen und nicht dem, was sich für die Menschen als schädlich erweist. Wenn man genau dies aber nicht wissen kann und sich deshalb Menschen zwar ständig bemühen, aber keine Techniken zu entwickeln in der Lage sind, die mit Sicherheit das Handeln in Richtung Frieden und Versöhnung und nicht in Richtung Krieg und Vergewaltigung lenken, dann bedarf es dieser Doppelung eines markierten – gewaltverstrickten – und eines unmarkierten – gewaltfreien – Friedens. Es bedarf eines doppelten Mythos, wohlgemerkt eines Mythos, und nicht eines wissenschaftlich validierbaren Friedenskonstrukts, weil sich ein In-Beziehung-Setzen einer doppelten Beziehung weder in ein Gefüge kausaler noch funktionaler Bezüge einspannen lässt. Mit jedem der zivilisatorischen Bausteine, aber vor allem mit dem Zusammenwirken von Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, Partizipation, Verteilungsgerechtigkeit, Affektkontrolle, Empathie lässt sich heute jeder Krieg rechtfertigen, der vorgibt, die zivilisatorischen Bedingungen weltweit zu etablieren, unter denen der Weltfriede einzig möglich sein soll. Alles, was in diese Funktionsstelle der Unterscheidung dritten Grades drängt, nimmt die Gestalt eines Mythos an. Denn die Unterscheidung (des Selbst vom Selbst) der Unterscheidung (des Selbst vom Anderen) einer Unterscheidung (der Selbstbeziehung von der Fremdbeziehung) ist von allem, was als real und realistisch nachweisbar ist, zu weit entfernt. Mit der voluntaristischen Anerkennung von Mythen zu Beginn des letzten Jahrhunderts bei Friedrich Nietzsche oder George Sorel haben unsere Beobachtungen nichts gemein. Es geht diesen Autoren nicht um eine sowohl logische als auch epistemologische Funktionsstelle, sondern um die motivierende und inspirierende Kraft, die von Ursprungserzählungen ausgeht und die man angesichts schwindender religiöser Überzeugungen mit propagandistischen Mitteln zu neuem Leben erwecken wollte. Der mangelnde Wahrheitsbezug und der Drive ins Fantastische sind dabei geradezu Vehikel der Motivation zur geschichtsmächtigen – blinden – Tat, von 138 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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der sich die Vorkriegsphilosophie vitalisierende Impulse für die Menschheit erhoffte. Offensichtlich lässt sich die Beziehung dritten Grades kaum davon abhalten, als Mythos vergegenständlicht zu werden. In diese Richtung geht das, was Hans Blumenberg 46 für die Beziehung der Gesellschaft zu sich selbst feststellt. Die Gesellschaft kann sich nur in Metaphern selbst beschreiben. Die Vergegenwärtigung bedarf der Vergegenständlichung im Bild, des ikonographischen Selbstbezugs als Vehikel der Anschauung eines abstrakten Ganzen. Der Friede ist ein Begriff, der üblicher Weise dieses Ganze, Einheitliche der Gesellschaft meint. Er wird deshalb wie kaum ein anderer Begriff mit Sprachbildern geradezu überhäuft, nach wie vor mit organologischer Metapher und Vertragsmetapher, aber auch mit vorneuzeitlichen Bildern vom irdischen Frieden. 47 Diese ekklesiologische Metaphorik macht nur als Rückansicht des Bildes vom »himmlischen Frieden« Sinn. Es mag dem Einsickern konstruktivistischen Gedankenguts in die Kultur- und Sozialwissenschaften zu verdanken sein, dass der politischen Metaphorik als geradezu wirklichkeitskonstituierendem Faktor erhöhte Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. 48 Es ist bereits die Rede von einem Iconic Turn, 49 der einen konstruktivistischen Zeitgeist auf etwas aufmerksam macht, das in der These einer konstruierten Wirklichkeit nicht vergessen werden darf. Das ist der Einfluss von Bildern, der die Plausibilität der geläufigsten Begriffe verantwortet, die in den Massenmedien kursieren. Wichtig wäre nun jedoch, diese neue Aufmerksamkeit auch für die Komplikationen sensibel zu machen, die daraus erwachsen, dass der Friede in drei Dimensionen zugleich vergegenwärtigt werden muss, als friedliches Inbeziehungsetzen der ersten, als friedliches Inbeziehungsetzen der zweiten und als friedliches Inbeziehungsetzen der dritten Unterscheidung. Mythen jedoch scheinen die Relation dieser Relationierungen offensichtlich gerade nicht friedlich herzustellen. Das ist nicht nur für die früheren, sondern auch für die neueren Zeiten offenkundig. Der Gründungsmythos der alten Bundesrepublik setzt 46 Sofern Hans Blumenberg mit seinem Werk Arbeit am Mythos (Frankfurt a. M. 2001) als der Begründer der Metaphorologie gilt, müssten in seinem Sinne Untersuchungen zum Vorfeld verschiedener Friedensbegriffe die Sprachbilder des Friedens einbeziehen. 47 So Dieter Senghaas: Zum irdischen Frieden. Frankfurt a. M. 2004. 48 Symptomatisch ist der Beitrag von Herfried Münkler: »Metaphern im Dienste der Politik«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 1. 2005. Nr. 7. 8. 49 Siehe dazu Hubert Burda, Christa Maar: Iconic Turn. Köln 2004.
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Gertrud Brcher
sich aus Zweitem Weltkrieg und Holocaust – bis in die 80er Jahre Auschwitz – zusammen. Der Gründungsmythos der One World ist der 11. September. In welchem Maße ein gewaltgesättigter Gründungsmythos Gewalt legitimiert, konnte in Bezug auf die Nachkriegsordnung erst im Anschluss an den Zusammenbruch des Sozialismus sichtbar werden, nachdem die Gewalt lähmende Wirkung des atomaren Patts aufgehoben worden war. Der 11. September hat aufgrund der Suprematie einer einzigen Weltmacht allein in drei Jahren zwei verheerende Kriege ausgelöst. Sobald der Friede in der dritten Dimension der ihn konstituierenden Beziehungen vergegenwärtigt werden soll, muss die Differenz zwischen markiertem und unmarkiertem Bereich mit vergegenwärtigt werden. Denn als etwas Bestimmtes bleibt der Friede paradox, weil gewaltverstrickt. Um die Präferenzstruktur der friedensrelevanten Unterscheidung zu erhalten, bedarf es jener Doppelstruktur, den korruptionsanfälligen paradoxen gewaltverstrickten Frieden und den korruptionsunanfälligen gewaltlosen Frieden gewissermaßen als Doppelhorizont, der einen Aktor zwingt, die Unterscheidung auf der Seite des Markierten um eine formlogische Kopie auf der Seite des Unmarkierten zu ergänzen. Der Unterscheidung von Frieden und Gewalt auf der Seite des Markierten korrespondiert die Unterscheidung von versehrtem und unversehrtem Frieden auf der Seite des Unmarkierten. Unter dem Aspekt der bildhaften Vergegenwärtigung komme ich deshalb noch einmal auf die scholastische Friedenssemantik der pax aeterna zu sprechen. Diese selbst kann nicht bezeichnet – beschrieben – werden, weil sie nur die der bestimmbaren Seite gegenüberliegende Seite meint. Die bildlichen Darstellungen des himmlischen Friedens haben diese formlogische Funktion, die Präferenzstruktur einer Unterscheidung gegen alle Widerstände und gegenläufigen Plausibilitäten aufrechtzuerhalten. Im himmlischen Frieden findet Gewalt keinen Platz und zwar selbst an jenen Stellen nicht, an denen sie im wahren Leben auch in den seltensten Fällen nicht weggedacht werden kann, wie im Verhältnis von Lämmern und Wölfen. Gerade das Überzogene der wirklichkeitsfremden Darstellung lenkt das Augenmerk auf den formallogischen Punkt, auf den es ankommt. Das ist die Präferenzstruktur des Friedens, die nur als Gegenmythos veranschaulicht werden kann. Dieser Gegenmythos lässt gemeinsam mit den ereignis- und damit gewaltgestützten Friedensmythen die Beziehung dritten Grades so vergegenständlichen, dass der Friede im Ergebnis nicht als der perfekt 140 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Frieden als Gegenmythos
geführte Krieg erscheint, z. B. als der Menschenrechtskrieg mit »null Toten« (wohlgemerkt auf der eigenen Seite). Wenn man nun das Tripel formal identischer Unterscheidungen als Form des Friedens zugrunde legt, dann findet man nicht nur Zugang zur Augustinischen Friedensbegrifflichkeit, sondern auch zu einem anderen heute kaum noch verstandenen Friedensverständnis, das die Gleichursprünglichkeit eines dreifachen Friedens betont, den Frieden mit sich selbst, den Frieden mit dem Nächsten und den Frieden mit Gott. Bei Berthold von Regensburg findet sich um 1260 diese dreifache Friedensbeziehung in eine hierarchische Ordnung gestellt: »Der erste Friede ist der Friede mit Gott, der zweite Friede ist der Friede mit sich selbst und der dritte Friede ist der Friede mit dem Nächsten«. 50 Das säkulare Friedensverständnis kennt nur noch die beiden letzten Konnotationen, die als Aufgabenfelder subsystemisch zugeteilt sind. Um den Frieden mit sich selbst kümmern sich Sozialisation und Therapie. Denn erst die Harmonisierung von Selbst- und Fremdbild schafft die Grundlage für den Frieden mit den anderen. Was die kollektiven, institutionellen Voraussetzungen des Friedens mit den anderen anbetrifft, so sind in erster Linie politisches und Rechtssystem von der Gesellschaft beauftragt. Der dritte Friede mit Gott konnte nach den Konfessionskriegen nur noch als Zankapfel und damit als Konfliktgenerator, aber nicht mehr als Friedenskondition anerkannt werden, weil die Beziehung zu Gott als Gegenstand religiösen Glaubens und nicht als formlogische Konsequenz einer immer und notwendig dreifachen Beziehung verstanden wurde. Rückt man nun diese spirituelle in unsere logisch-epistemologische Figur ein, dann lässt sich dieser dreifache Friede als dreifache Akzeptanz lesen. Sich selbst akzeptieren, mit sich selbst im Reinen sein, ist Ergebnis und Voraussetzung des Akzeptierens von anderen in ihrer Andersartigkeit. Die voraussetzungsreichste Friedenskondition aber ist ein Akzeptieren der paradoxen Natur der Friedensbemühungen und zwar in beiden Richtungen, in Richtung der friedlichen Beziehung zu sich selbst und der friedlichen Beziehung zu den anderen: Pläne können scheitern, Freundlichkeiten können durch Ablehnung beantwortet werden, gute Absichten können schlechte Wirkungen zeitigen. Rückübersetzt kann der »Friede mit Gott« demnach nur 50 Siehe zu Berthold von Regensburg, Wilhelm Janssen: »Friede. Zur Geschichte einer Idee in Europa«. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. Frankfurt a. M. 1995. 227–275. 233.
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Gertrud Brcher
die kontrafaktische Motivation zum Festhalten an der Präferenzstruktur der friedensförmigen Unterscheidung meinen. Wie immer dieser Topos semantisiert ist – säkular oder religiös –, er muss als formlogische Funktionsstelle im Tripel an erster Stelle stehen im Sinne einer friedenstheoretischen und –praktischen Notwendigkeit. Ein solcher Friedensbegriff, der als Form des Umgangs mit friedensrelevanten Unterscheidungen das Fragile der Präferenz reflektiert, beschreibt den Frieden in einer Weise positiv, die in jeder Kultur anschlussfähig bleibt.
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Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte als unabdingbare Bedingung des Friedens Wulf Kellerwessel
1. Einleitung Der Titel des Beitrags, »Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte als unabdingbare Bedingung des Friedens«, soll zunächst als eine Hypothese verstanden werden, die zum einen in verschiedenen Hinsichten zu explizieren ist, zum anderen in einer Hinsicht zu begründen versucht wird. Sie zu rechtfertigen ist – nach einigen voranzustellenden Erläuterungen in Teil 2 – Aufgabe des 3. und 4. Teiles dieses Textes. In Teil 3 wird eine moralphilosophische Konzeption skizziert, die den Nachweis erbringen soll, dass jeder (normalsinnige, sprachfähige, erwachsene) Mensch die Einhaltung bestimmter moralischer Normen ihm gegenüber begründet einfordern kann. Diese Normen, die sich als zentral bzw. grundlegend erweisen und daher als »Grundnormen« zu verstehen sind, besitzen, wie sich in Teil 4 zeigen soll, eine mehr als gravierende inhaltliche Affinität zu den elementaren Menschenrechten, wie sie beispielhaft in den »Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte der Vereinten Nationen« niedergelegt sind. Das heißt im Weiteren, dass sich auch für die Einhaltung dieser fundamentalen Menschenrechte (die noch genauer zu erfassen sind) ausgesprochen starke Gründe anführen lassen. Insofern sind diese keineswegs, wie MacIntyre meint, bloße Fiktionen. 1 Sodann soll aufgezeigt werden in Teil 5, dass die Verletzung dieser Menschenrechte bzw. jener grundlegenden Normen nicht nur in totalitären Staaten, sondern vor allem auch in Kriegen (und Bürgerkriegen) zu erwarten ist. Das besagt: Für den Krieg wie auch für totalitäre Herrschaftsformen, also für nichtfriedliche Zustände, ist es ein konstitutives Merkmal, die grundlegenden Normen bzw. die elementaren Menschenrechte zu verletVgl. Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1995. 98.
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Wulf Kellerwessel
zen. Denn logisch betrachtet sind die genannten Regeln mit kriegerischen oder totalitären Zuständen unvereinbar; insofern stellen jene Bewahrungen der Regeleinhaltungen eine unumgängliche Bedingung des Friedens resp. friedlicher Zustände dar. Abgeschlossen werden die Ausführungen mit einigen Überlegungen zur Frage der Wiederherstellung friedlicher Zustände – insbesondere mittels Verteidigungskriegen oder humanitärer Interventionen (Teil 6) – und einigen reflexiven Bemerkungen (Teil 7).
2. Begriffliche und andere Erluterungen Zur gewählten moralphilosophischen Perspektive: Im Folgenden geht es um Friedenswahrung und vor allem um die Begründung der Bewahrung von Frieden im allgemeinen. Außen vor bleiben Perspektiven der Politischen Philosophie, die selbstverständlich ihre Berechtigungen haben. Ferner lässt die gewählte Hinsicht politologische, soziologische, ökonomische, psychologische Ansätze außer Betracht – auch hier ohne den geringsten Anspruch, diese zu ersetzen. Allgemein: Es geht nicht um empirische Sichtweisen, sondern um normative Analysen und Begründungen. Und die im Folgenden entwickelte Argumentation ist in erster Linie eine analytische. »Frieden« wird demzufolge als eine Herausforderung an die philosophische Ethik verstanden, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen als eine Herausforderung, die Etablierung von friedlichen Zuständen zu begründen, und zum anderen – zugleich damit – zu einem positiven oder zumindest einem positiveren Begriff des Friedens zu gelangen. Gemeint ist damit ein Friedensbegriff, zu dessen Intension nicht nur eine Bestimmung wie »Abwesenheit von Krieg oder Bürgerkrieg« gehört, sondern eine reichere Bedeutungsangabe, die weitere für den Frieden notwendige Elemente hinzufügt, ohne indes den Anspruch zu erheben, eine vollständige Definition im Sinne klassischer Definitionslehren zu ergeben. 2 Bei der Frage nach der Begründung des Friedens geht es also nachfolgend nicht um kluge politische Maßnahmen oder Entscheidungshilfen, und es geht auch nicht exakt um Kants Ansinnen, im Ob eine solche Definition sich geben lässt – oder ob »Frieden« möglicherweise ein disjunktiv zu explizierender Begriff bzw. ein Bündelbegriff im Sinne Wittgensteins ist, bleibt also offen.
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Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
Rahmen der Politischen Philosophie Grundbestimmungen der menschlichen Gesellschaft bzw. einer Gesellschaftsordnung explizit zu machen, die als Vorausbedingungen des Friedens anzusehen wären: bei Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden bekanntlich eine republikanische Verfassung, ein Föderalismus freier Staaten (mitsamt entsprechender völkerrechtlicher Bestimmungen), die Abschaffung des Militärs (zumindest auf lange Sicht) und anderes mehr. So wichtig diese zur Politischen Philosophie zu zählenden Gedanken auch sein mögen, so folgen die hier vorgebrachten Überlegungen einem zwar verwandten, aber auch etwas anderen Ansatz: Verwandt sind sie insofern dem Denken Kants, als sie die Friedensbedingungen an die Vernunft zurückzubinden suchen, anders hingegen, weil es sich um die diskursive Vernunft des Individuums handelt, die den entscheidenden begründungstheoretischen Part im Kontext genuin moralphilosophischer Überlegungen innehat. Am Anfang und im Mittelpunkt steht also – ganz in der Tradition der europäischen Aufklärung – das Individuum, verstanden allerdings als ein sprach- und diskursfähiges Wesen, welches Sprachregeln und damit bereits normierenden Instanzen folgen kann. 3 Soweit also zur gewählten Perspektive; nun noch zu den angekündigten begrifflichen Erläuterungen: Ein positiver resp. positiverer Begriff des Friedens kann sich erst in Folge der vorzustellenden Überlegungen ergeben. In diesen spielt der Begriff »Norm« eine entscheidende Rolle. Dabei werden unter Normen »an potentiell Handelnde adressierte, handlungsanweisende oder -verbietende Sätze verstanden, die nicht nur prudentielle Regeln darstellen, die nicht im Recht kodifiziert sein müssen, und die nicht bloß Regelungen der Etikette darstellen […]. Normen sind also (allgemeine) Ge- oder Verbote, die sowohl einzelne Handlungen als auch Handlungstypen betreffen«; 4 insofern handelt es sich also auch nicht um singuläre Imperative. Allgemein sollen sie – im Rahmen der Themenstellung – auch in einer anderen Hinsicht sein: Sie sollen eine universale Geltung haben. Welche Normen hier als fundamental angesehen werden können, soll Abschnitt 3 klären. Mit der Fokussierung auf das diskursfähige Individuum ist übrigens keine Vorentscheidung zugunsten oder zu Ungunsten des Liberalismus oder Kommunitarismus gefällt, da weitere Relationen zwischen Individuen und Gesellschaften oder Gemeinschaften nicht näher betrachtet werden. Siehe dazu auch unten. 4 Wulf Kellerwessel: Normenbegründung in der Analytischen Ethik. Würzburg 2003. 38. 3
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Abschnitt 4 klärt sodann, welche der Menschenrechte als grundlegende Menschenrechte verstanden werden können. Als Menschenrechte im allgemeinen werden diejenigen Rechte betrachtet, die jedem Menschen unveräußerlich qua Geburt zukommen, unabhängig vom Geschlecht, Alter, der ethnischen Zugehörigkeit usw., wie sie beispielhaft in der UN-Menschenrechtserklärung formuliert sind. Sie seien für das folgende terminologisch unterschieden von den Bürgerrechten, also den nicht universalen spezielleren Rechten der Bürger an politischer Partizipation an ihrem jeweiligen Gemeinwesen.
3. Diskursanalytische Normenbegrndung Eine – an verschiedene Überlegungen aus der analytischen Ethik anknüpfende diskurstheoretische – Normenbegründung wird im Folgenden vorgestellt und expliziert. Mit ihr soll gezeigt werden, dass und wie sich solch eine Normenabsicherung durchführen lässt. Des Weiteren soll der Nachweis geführt werden, dass sich somit auch eine Basis für grundlegende Menschenrechte ergibt. Und inhaltlich wird sich dartun lassen, dass diese in Kriegen verletzt werden; der Frieden ist also eine Institution, die diese Rechte wahrt. Insofern ist also zu zeigen, dass die Wahrung grundlegender Menschenrechte eine unabdingbare Bedingung der Wahrung friedlicher Zustände ist, die in Opposition zu Krieg, Bürgerkrieg und totalitären Herrschaftsformen stehen. Und insofern die Normen rational begründet sind, die Menschenrechte diesen inhaltlich entsprechen und auf Frieden zu ihrer Einhaltung angewiesen sind, ergibt sich, dass die genannten friedlichen Zustände rational zu wählen sind, um die Menschenrechte zu wahren. Die Normen sollen für alle Menschen gelten, also universal sein. Ihre Geltung darf deshalb nicht von einer kontingent-subjektiven Komponente abhängen, die sich als unverträglich mit der angestrebten Allgemeinheit erweist. Als inhaltliche Basis hat folglich ein nicht kontingentes Fundament zu treten, also ein Merkmal, welches nicht zufällig allen moralisch handlungsfähigen Subjekten zukommt. Ein geeignetes Prädikat ist »(potentieller) Diskursteilnehmer zu sein«, wie im Folgenden nachzuweisen versucht wird. Zudem bedarf es der formalen Gleichheit, die besagt, gleiche Fälle seien gleich zu behandeln. Dieser Bestandteil einer Theorie der Moral lässt sich mit dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch begründen, der inkonsis146 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
tente Äußerungen (Regelanwendungen) ausschließt: Von einer Handlung (eines Typs) kann nicht zu Recht ein Prädikat (wie »ist geboten«, »ist erlaubt« oder »ist verboten«) und zugleich in gleicher Sichtweise seine Negation (»ist nicht geboten« usw.) geäußert werden, und entsprechend kann von einer Norm nicht zugleich in ein und derselben Perspektive ihre Einhaltung und ihre Nichteinhaltung als »richtig« klassifiziert werden. Notwendig ist ein solches Prinzip der formalen Gleichheit, um die allgemeine Geltung von Normen zu sichern; überzeugend begründbar, weil es in der Sprache bzw. der Logik, die der Sprache inhärent ist, angelegt ist: Die Regelhaftigkeit der Sprache zwingt, gleiche Fälle gleich zu behandeln und nicht zwei gleich beschriebenen Fällen miteinander inkonsistente Prädikate (»geboten« oder »verboten«) zuzusprechen. Und so gilt des Weiteren: Was ein überzeugender Grund für etwas (wie z. B. für die Einhaltung einer Grundnorm) ist, muss, sofern keine anderen Gründe involviert sind, für gleiche Fälle ebenfalls einen Grund darstellen. Die gesuchten Grundnormen bzw. ihre Einhaltung(en) müssen wegen des mit ihnen formulierten Geltungsanspruchs gegenüber jeder Person rational einsichtig gemacht werden können, also theoretisch gegenüber jedem Diskursteilnehmer, da anderenfalls erhobene Geltungsansprüche nicht eingelöst werden. Intendiert man, Normen rational zu begründen, kann man daher den Begriff der Rationalität nicht völlig unbestimmt lassen. Dennoch sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es bis heute keine unumstrittene Explikation des Rationalitätsbegriffs gibt. Infolgedessen wird im Folgenden nur von einigen notwendigen Merkmalen des Begriffs der Rationalität Gebrauch gemacht und auf ein Einbeziehen hinreichender Merkmale oder vollständig definierender Charakteristika verzichtet. Dabei wird es um das Akzeptieren einiger Präsuppositionen des Argumentations- und Sprachgebrauchs gehen (etwa darum, Sprache konsistent zu verwenden und nicht semantisch oder pragmatisch widersprüchlich), die einen Zusammenhang herzustellen erlauben zwischen Argumenten und dem Handeln gemäß den erzielbaren Argumentationsresultaten. Damit soll zum Beispiel dafür aufgekommen werden, dass eine Äußerung über eine beliebige Handlung H1 wie die folgende für eine rationale Person inakzeptabel ist: »H1 ist unter den gegebenen Umständen die vernünftigste Handlung, aber obgleich H1 mit den besten verfügbaren Gründen gestützt wird, sollst du sie (jetzt) nicht tun«. Schließlich ist diese Äußerung nicht akzeptabel, weil sie pragmatisch selbstwidersprüchlich ist: Der erste 147 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Teilsatz empfiehlt implizit dem Hörer, H1 zu vollziehen, der zweite Teilsatz zieht hingegen die Empfehlung explizit zurück. Im Folgenden sollen primär solche Aspekte des Rationalitätsbegriffs verwendet werden. Mit der Rede vom Begründen ist schon auf das Thema »Diskurs« verwiesen, welches innerhalb der Analytischen Ethik gleichfalls Relevanz besitzt und auf die Frage zusteuert, wie begründete moralische Inhalte gefunden werden können. Mit dem Äußern moralischer Urteile – auch über das Befolgen oder Übertreten von Grundnormen – wird per definitionem ein Diskurs (verstanden als ein regelgeleitetes Gespräch, innerhalb dessen begründet, bestritten oder argumentiert werden kann) eröffnet. Und in normalen Diskursen 5 wird beim Behaupten immer ein Geltungsanspruch erhoben (und zwar der der Richtigkeit) und eine Begründungspflicht übernommen. Ein Begründen kann, dies haben Frankena, Baier, Gewirth und Lewis bereits erkannt, nicht nur in Form deduktiver Ableitung erfolgen; anderenfalls wäre eine letztlich überzeugende Begründung (von Normen) undenkbar, denn es drohte Alberts sogenanntes »Münchhausen-Trilemma«: Ein nicht abschließbarer Regress oder ein vitiöser Zirkel oder ein dogmatischer, argumentativ wiederum in Frage zu stellender Abbruch des Begründungsverfahrens. 6 Um diese Problematik zu umgehen, ist auf die von allen Sprechern präsupponierten Voraussetzungen zurückzugreifen, die ihrerseits nicht deduktiv begründet, sondern als schon akzeptierte aufgedeckt werden. Gemeint sind: nicht auf der Bühne gespielte, nicht strategische oder Prüfungszwecken dienende Diskurse. Die folgenden Überlegungen stützen sich auf Kurt Baier: The Moral Point of View. A Rational Basis of Ethics. Ithaca, London 1958, 6 1969 (dt.: Der Standpunkt der Moral. Eine rationale Grundlegung der Ethik. Düsseldorf 1974), William K. Frankena: Ethics. Englewood Cliffs, NJ 1963, 2 1973 (dt.: Analytische Ethik. Eine Einführung. München 1972), Alan Gewirth: Reason and Morality. Chicago, London 1978, Clarence I. Lewis: Practical and Moral Imperatives. In: Clarence I. Lewis: Values and Imperatives. Studies in Ethics. Stanford 1969. 126–144 (zuerst vorgetragen 1949), Clarence I. Lewis: Turning Points of Ethical Theory. In: J. D. Goheen, J. L. Mothershead (Hg.): Collected Papers of Clarence Irving Lewis. Stanford 1970. 215–227 (zuerst vorgetragen 1954), Clarence I. Lewis: Foundations of Ethics. In: Clarence I. Lewis: Values and Imperatives. Studies in Ethics. Stanford 1969. 3–82 (zuerst vorgetragen 1959). Zu näheren Ausführungen vgl. Wulf Kellerwessel: Normenbegründung. A. a. O., vor allem Kap. 3.1 und 3.2. 6 Vgl. hierzu Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 5 1991. 13 ff., Hans Albert: Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott. Hamburg 1975. 100 ff. sowie Herbert Keuth: Erkenntnis oder Entscheidung. Zur Kritik der kritischen Theorie. Tübingen 1993. 203 ff. 5
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Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
Soll eine ebenso allgemein geltende wie überzeugende Normenbegründung erreicht werden, dürfen dabei nur für alle Argumentierenden zu akzeptierende Komponenten Verwendung finden. Gebraucht werden kann also lediglich, was kein Diskursteilnehmer zu Recht bzw. überzeugend oder rational bestreiten kann. Dazu gehört neben dem erwähnten Grundgedanken der formalen Gleichheit, die sich letztlich aus dem logisch einwandfreien und konstanten Sprachgebrauch ergibt, was zum Argumentieren hinzu gehört: Die schon skizzierte minimale (sprachlich manifestierte) Rationalität (die im wesentlichen auf ein Nicht-Zulassen von semantischen und pragmatischen Widersprüchen hinausläuft) und die sprachphilosophische Erkenntnis, dass beim Äußern von Behauptungen über das Gelten oder Ungültigsein von Normen der Anspruch auf Richtigkeit erhoben und eine Begründungspflicht eingegangen wird. Dabei gehört es zum Begründen bzw. Rechtfertigen, dass es nur dann gelingt, wenn es gegenüber jedem – noch so kritisch eingestellten – Diskursteilnehmer gelingt (bzw. theoretisch gelingen kann), also auch gegenüber allen (potentiell) Betroffenen. Und daraus ergibt sich, dass sinnvolle Diskurse von vornherein auch inhaltlich partiell für alle reglementiert sind: Man kann nicht alles und jedes (sinnvoll) behaupten oder rechtfertigen – und das gilt auch im Bereich der Moral, selbst wenn kein formallogischer bzw. semantischer Widerspruch begangen wird. Gibt es aber etwas, was in jedem Einwand gegen eine Begründung oder Rechtfertigung selbst explizit vorhanden oder zumindest (implizit) präsupponiert ist, so kann dieses für das Begründen bzw. Rechtfertigen selbst Verwendung finden – kann doch davon ausgegangen werden, dass ein jeder Opponent dergleichen selbst verwendet und, bestritte er dies, die Verwendung indirekt bestätigte, die Unverzichtbarkeit dessen also belegte. Genau diese Fälle ergeben sich, wenn pragmatische Widersprüche unvermeidlich sind beim Vollziehen bestimmter Äußerungen, wenn also der Inhalt der vollzogenen Äußerung (das Gesagte) in Konflikt mit dem Akt des Äußern selbst steht, so dass das Äußern selbst den Inhalt der Äußerung für jeden Adressaten der Äußerung entwertet. Durch den Nachweis, dass sich solche pragmatischen Widersprüche auch im moralischen Argumentieren finden lassen, zeigt sich, dass sich einige moralphilosophisch relevante Äußerungen nicht pragmatisch widerspruchsfrei formulieren lassen, gleich, welcher Sprecher es versucht. 7 7
All diese Überlegungen basieren letztlich auf dem logischen Grundsatz, nach dem
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Entscheidend ist nun, ob sich eine Begründung fundamentaler Grundnormen gegenüber jedem Sprecher aus den Elementen: • Kernlogik (inklusive des Arguments vom zu vermeidenden pragmatischen Widerspruchs), • formale Gleichheit (Regelkonsistenz) und • sprachphilosophisch noch zu eruierende sprachliche Ressourcen des Diskurses ergeben kann. Notwendig wäre es, aufzuzeigen, dass ein solcher Diskurs die Geltung von Grundnormen präsupponiert, dass also jemand, der Diskurse führt oder an Diskursen teilnimmt, diese grundlegenden Normen schon akzeptiert bzw. zu akzeptieren hat. 8 Worum es also zu tun ist, ist das Aufdecken dessen, dass jeder Diskursteilnehmer, jeder, der nach der Geltung von Normen fragt, schon bestimmte Normen anerkannt hat, die wiederum von ihm nicht bestritten werden können, ohne pragmatische Widersprüche zu begehen. Solche Normen, die jeder Disputant also immer schon (implizit) anerkennt, könnte er sinnvoll nicht mehr in Frage stellen, und gerade damit wären sie vor jedem geäußerten Zweifel sicher, also argumentativ überzeugend abgesichert. Und tatsächlich besteht ein argumentativ zwingender ZusamWidersprüche zu vermeiden sind. Dieser Satz ist zwar seinerseits nicht vermittels einer Deduktion begründbar (da die Deduktion dieses Satzes von diesem Satz schon Gebrauch machen müßte), aber es besteht dennoch, wie bereits Aristoteles erklärt, eine Form der Begründung für ihn. Diese lässt sich nahtlos in eine analytische Diskursethik einfügen: Die Ansicht, der Satz sei falsch oder man brauche ihn nicht zu befolgen, lässt sich als nicht überzeugend ausweisen. Verzichtet ein Sprecher auf das Einhalten des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, redet aber weiter, wird ein konsistenter Wortgebrauch suspendiert – und damit zugleich die Regelhaftigkeit des Sprachgebrauchs, womit die Informativität und die Verständlichkeit der Kommunikation destruiert werden, was einschließt, dass jegliche Form von Begründen, Bestreiten und Argumentieren nicht mehr für den oder die Adressaten nachvollziehbar sein kann. Sprache ist als Sprache immer schon zumindest partiell logisch (vor-)strukturiert, und konstitutiv für eine Sprache sind Regeln, denen zufolge man nicht alles sinnvoll formulieren kann. Auch ein Opponent, der die Geltung von Grundnormen zu bestreiten intendiert, wird also diesen Satz anerkennen (müssen) und damit die Regelhaftigkeit der Sprache im Sinne eines Gleichheitsprinzips, nach dem Gleiches gleich zu klassifizieren ist, und damit auch ein formales Gerechtigkeitsprinzip. 8 Vgl. hierzu A. Phillips Griffiths: Justifying Moral Principles. In: Proceedings of the Aristotelian Society (58) 1957/58. 103–124. Hier 115 f. sowie Karl-Otto Apel: Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen. In: Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998. 281–411. Hier 357 (zuerst in: Karl-Otto Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a. M. 1976).
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Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
menhang zwischen jenen allgemeinen Normierungen (Regeln) des Diskurses und den Grundnormen, gehört die Akzeptanz von zumindest einigen Grundnormen zum Akzeptieren der Diskursregeln schon hinzu, werden im Diskurs einige der basalen moralischen Normen präsupponiert. Denn in Diskursen werden Ansprüche auf Richtigkeit gegenüber beliebigen Adressaten (Diskursteilnehmern) erhoben, die einzulösen sind. Und dies ist nur möglich, wenn diese ihrerseits in ihrer Kommunikation nicht derart gehindert werden, dass von einem Überzeugen von der beanspruchten Richtigkeit nicht mehr die Rede sein kann. Demgemäß sind schon wegen der formalen Gleichheit die Diskursteilnehmer verpflichtet, die intendierten Redebeiträge von den anderen Partizipanten am Diskurs nicht zu unterbinden. Der Diskurs muss demzufolge zwanglos sein: Begründungen dürfen (und können) nicht anders denn argumentativ herbeigeführt werden. Daraus ergibt sich, dass die Teilnehmer des Diskurses als Sprecher gleichberechtigt sind, und diese Gleichberechtigung ist im Diskurs als wechselseitige Anerkennung aller als Gleichberechtigte konstitutiv. 9 Von diesem Stand der Diskussion aus kann gezeigt werden, dass einige Grundnormen als geltend schon akzeptiert sind, dass also mit dem Annehmen der Diskursnormen das Annehmen einzelner Grundnormen schon vollzogen ist, und zwar in der Weise, dass letztere ebensowenig wie die zuvor genannten im Diskurs zu Recht bezüglich ihrer Geltung bestritten werden können. Einige moralisch basale Grundnormen sind nämlich immer schon anzunehmen. Denn es gibt schließlich die akzeptierte Diskursregel, nach der jeder Sprechakte frei wählen darf. Folglich hat jeder zumindest diejenigen Grundnormen ebenfalls als geltend zu unterstellen, die bei dieser Wahl immer schon präsupponiert sind. Dies lässt sich nachweisen, indem pragmatische Widersprüchlichkeiten aufgedeckt werden, wenn Versuche unternommen werden, dies abzustreiten. Z. B.: »Ich Vgl. Karl-Otto Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Band 2. Frankfurt a. M. 1976. 358–435. Hier 400 und Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. München, Freiburg 1985. 198 sowie Wolfgang Kuhlmann: Diskursethik – Probleme der Begründung und Anwendung. In: Thomas M. Seebohm (Hg.): Prinzip und Applikation in der praktischen Philosophie. Stuttgart 1991. 105–121. Hier 110. – Zu zeigen wäre an dieser Stelle, dass kein diskursfähiger Mensch aus dem Diskurs begründet ausgeschlossen werden kann; vgl. hierzu Wulf Kellerwessel: Normenbegründung. A. a. O. 487 f. und 499 f.
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akzeptiere, dass du im Diskurs Sprechakte frei wählen (und ausführen) darfst und bestreite zugleich, dass ich die notwendige Bedingung der Möglichkeit dessen, zu der zumindest gehört, dich nicht zu ermorden, hinzunehmen habe«. In diesem Fall entwertet der Nachsatz den vorderen Teil der Äußerung; sich selbst sowohl die Erlaubnis zu geben, die frei wählbaren Sprechaktvollzüge einer Person generell zu verhindern (durch Ermordung etwa) als auch die Freiheit der Person, diese Vollzüge frei zu wählen, zuzugestehen, erzeugt einen pragmatischen Widerspruch. Allgemein: Die Grundidee dieser diskursanalytischen Normenbegründung besagt, dass zwischen den Diskursregeln und dem Einhalten von einigen Grundnormen Beziehungen bestehen, die nicht kontingent sind. Vielmehr sind einige dieser Normen bzw. ihre Einhaltung notwendige Bedingungen für das Achten der Diskursregeln. Werden jene grundlegenden Normen verletzt, werden per se die zu akzeptierenden Regeln des Diskurses gleichermaßen verletzt. Ist erwiesen, dass letzteres nicht zulässig ist, so gilt das auch von dem zuvor Genannten, also für die Übertretung von Grundnormen. Dies ergibt sich daraus bzw. kann dadurch weiter erläutert werden, dass es sich bei den in Frage kommenden Grundnormen um diskurssichernde bzw. diskurserhaltende Normen handelt. Ausgeschlossen werden sollen bzw. verboten werden somit bestimmte nichtsprachliche Eingriffe in das sprachliche Handeln im Diskurs, und dazu bedarf es gewisser Normeneinhaltungen. Nachzugehen ist somit der Frage, welche Normen so begründet werden können, also von den Diskursregeln vorausgesetzt (präsupponiert) werden. Es scheint, als wäre, soll die freie Wahl von Sprechakten gewährleistet werden, Folgendes unmöglich zulässig: • Die Ermordung eines Diskursteilnehmers, weil dies diesem jegliche Chance nimmt, überhaupt Sprechakte zu wählen (und zwar dauerhaft). 10 Vgl. auch Otfried Höffe: Kantische Skepsis gegen die transzendentale Argumentation. In: Wolfgang Kuhlmann, Dietrich Böhler (Hg.): Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. 1982. 518–539. Hier 522 f. Höffe meint, im Diskurs sei schon vorausgesetzt, »daß die Beteiligten sich nicht gegenseitig umbringen, sich nicht belügen, allgemein sich als gleichberechtigt anerkennen. Bei der wechselseitigen Anerkennung und ihrer Manifestation im Nichttöten, Nichtlügen usw. handelt es sich nicht um mögliche Ergebnisse, vielmehr um Vorbedingungen oder vorausgesetzte Strukturmerkmale eines gelingenden Diskurses«. – Wichtig ist übrigens, dass das Morden verboten ist, aber damit nicht schon jede Art von Tötung (in Notwehr z. B.). – Anzufügen ist, dass sich wegen der
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Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
• Die Vereitelung freier Wahl von Sprechakten seitens Diskursteilnehmern (auf Zeit) durch Beeinträchtigungen wie Verstümmelung, Verletzung und Vergewaltigung (physischer wie psychischer) oder Freiheitsberaubung. • Eingriffe in die Redefreiheit. Das Leben, die Psyche und der Leib inklusive seiner Bewegungsfreiheit sind, soll eine freie Beteiligung am Diskurs als möglich gewahrt bleiben, normativ zu schützen. Sofern Morddrohung, die Androhung von Folter, Verletzung oder andere gravierende Zwangsandrohungen die freie Teilnahme am Diskurs bzw. Sprechaktwahl unterbinden, sind sie gleichfalls (und aus gleichem Grund) unzulässig. Wichtig ist dabei der Hinweis darauf, dass ein Infragestellen dieser Normen im Diskurs sich deutlich vom Bezweifeln der Gültigkeit anderer Normen, die nicht diskurssichernd sind und die Diskursteilnehmer in ihrer geistigen Integrität und leiblichen Autonomie schützen, unterscheidet – ein Punkt, der nochmals verdeutlicht, weshalb der Anspruch erhoben wird, einige Grundnormen auf die vorgeführte Art und Weise argumentativ überzeugend zu begründen, so dass sie nicht mehr überzeugend in Frage gestellt werden können, was sie von anderen Normen unterscheidet. Der Unterschied wird dadurch deutlich, dass, werden die genannten Grundnormen (im Folgenden: Grundnormen im engeren Sinne) in einem Diskurs thematisch, sie nicht mehr Gegenstand von Verhandlungen sein können, weil ein Bezweifeln dieser mit den Diskursregeln konfligiert und zu pragmatischen Widersprüchen führt. Das heißt, man kann nicht jemandem aufrichtig die freie Wahl von Sprechakten gleichberechtigt zubilligen und zugleich diesem Diskursteilnehmer die Möglichkeit dessen durch Ermordung, Verstümmelung, Verletzung oder Freiheitsberaubung entziehen. Werden demzufolge diese Grundnormen im engeren Sinne im Diskurs thematisch, dann werden sie als schon eingehaltene und im Diskurs einzuhaltende erkannt. 11 Dauer bzw. Schwere der Diskursbeeinträchtigung auch eine entsprechende Normenhierarchie ergibt. Vgl. hierzu Wulf Kellerwessel: Normenbegründung. A. a. O. Kap. 3.2. 11 Überdies scheint sich auf die gleiche Weise die Androhung der Normenverletzung durch anzuerkennende Normen ausschließen zu lassen – immerhin wird durch die Drohung der Ermordung, Verstümmelung, Verletzung oder Freiheitsberaubung wie auch der der Entziehung der Redefreiheit (mittels Gewalt) die freie und gleichberechtigte Diskursteilnahme massiv in Frage gestellt. Allerdings können solche Androhungen durchaus unter das erwähnte Verbot, psychische Verletzungen zuzufügen, subsumiert
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Alles in allem kann sonach festgehalten werden: Gelten im Diskurs Diskursregeln, so auch die Grundnormen im engeren Sinne. Letztere sind, weil diskurserhaltend, wie jene nicht zu Recht argumentativ in Frage zu stellen. Ein entsprechender Versuch führte in pragmatische Widersprüche. Dies gilt für jeden Diskurs, also universal und gegenüber jedem Diskursteilnehmer. Und diese Geltung hängt nicht von kontingenten Eigenschaften der Diskursteilnehmer ab. Soweit also der Ansatz der diskursanalytischen Ethik, nach der argumentativ jeden Diskursteilnehmer überzeugende, allgemein geltende Normen als begründende anzusehen wären. Zu ergänzen ist noch, dass die Normen über (aktuell geführte) Diskurse hinaus gelten – und nicht nur innerhalb eines Diskurses. Da die Begründung im Diskurs Kommunikationsstrukturen bzw. letztlich begriffliche Strukturmerkmale (die im Sprachgebrauch wirksam sind) aufdeckt, gelangt man zu einer nicht an bestimmte Situationen, Orte oder Zeiten gebundene Geltung (wie z. B. auch bei einem gültigen logischen Beweis). Jeder (potentielle) Diskursteilnehmer kann zumindest theoretisch von beliebigen anderen Diskursteilnehmern zur Rechenschaft gezogen werden, und zwar theoretisch jederzeit und überall – gehört doch zum diskursiven Verfahren die allzeit freie Wahl von Sprechakten. »Theoretisch« heißt aber auch: Die Praxis kann anders ausschauen. Das heißt: Das Gelten von Normen schließt selbstverständlich wie das Gelten anderer Regeln faktische Verletzungen nicht grundsätzlich aus. Und damit stellt sich die Frage, wie es um den Schutz vor Normenverletzungen bestellt ist. Dies leitet zum Themenbereich »Recht« bzw. »Menschenrechte« über.
werden. – Andere Normen, die nicht selten ebenfalls als grundlegend betrachtet werden (Grundnormen im weiteren Sinne), scheinen nicht so direkt begründbar, weil nicht so offensichtlich ist, dass sie Diskursteilnehmer in der Ausübung der Partizipation am Diskurs beeinträchtigen (Verbot des Ehebruchs, Verbot der Mehrehe u. a. m.). Begründungstheoretisch komplexer sind auch soziale Normen der Hilfeleistung, die ebenfalls häufig als Grundnormen klassifiziert werden. Hier sei dazu nur angemerkt, dass Unterlassungsnormen wie etwa »Entziehe niemandem das für ihn zum Überleben Notwendige« bessere Chancen auf eine diskurstheoretische argumentative Absicherung haben als z. B. Gleichheitsforderungen, die auf einen mehr oder weniger vollständigen egalitären materiellen Ausgleich abzielen usw. – was wiederum nicht heißt, weitere Grundnormen wären gar nicht begründbar.
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Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
4. Zur inhaltlichen berschneidung von Grundnormen und Menschenrechten Deutlich zu machen ist nun, dass der Inhalt dieser Normen dem Gehalt fundamentaler Menschenrechte insoweit entspricht, dass diesen Kernnormen entsprechende grundlegende Menschenrechte gegenüberstehen. Letztere sind demzufolge als rechtlich kodifizierte Form jener Grundnormen zu interpretieren bzw. zu verstehen. Rationale Individuen haben daher nicht nur ein Interesse an der Normeinhaltung, sondern auch ein Interesse an einer entsprechenden, letztlich friedenssichernden institutionalisierten Absicherung durch Rechte (sofern keine besonderen Gegengründe vorliegen). 12 Bereits die Präambel der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« stellt daher einen Zusammenhang zwischen gleichen und unveräußerlichen Rechten einerseits und dem Frieden andererseits her (vgl. 1. Absatz der Präambel). Sie betont ferner, dass es wesentlich sei, »die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen ist« (3. Absatz der Präambel). Darzulegen ist nun, dass sich die zentralen Menschenrechte inhaltlich mit den moralphilosophisch begründeten Grundnormen im engeren Sinne sehr deutlich überdecken – wobei auch deutlich gemacht werden soll, welche Menschenrechte hier als zentral oder fundamental betrachtet werden. Jene Grundnormen schützen zunächst diskursfähige Menschen, und zwar alle in der gleichen Weise, was dem Zusprechen gleicher Rechte in Artikel 1 sehr nahe kommt, wenngleich dieser erste Artikel noch weiteres enthält wie die Vorstellung »gleicher Würde und Befähigung zum Gewissen«. Artikel 2 akzentuiert, dass Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politische oder sonstige Überzeugungen, nationale oder soziale Herkunft, Eigentum und Abstammung für die Rechtezuteilung irrelevant sind – und in der Tat sind diese zahlreichen kontingenten Faktoren allesamt
12 Insbesondere ist auszuschließen, dass jene Absicherung zu inhaltlichen Beschränkungen führte. – Vgl. zu weiteren, von dem vorgestellten Vorgehen differierenden diskurstheoretischen Versuchen der Begründung von Menschenrechten auch Robert Alexy: Diskurstheorie und Menschenrechte. In: Robert Alexy: Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1995. 127–164 und Adela Cortina: Diskursethik und Menschenrechte. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (76) 1990. 37–49.
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für die diskursanalytische Normenbegründung von für alle geltenden Normen gleichfalls ohne jegliche Relevanz. Gleiches gilt für den politischen Status des Landes oder des Gebietes, aus dem jemand stammt. Der wichtige Artikel 3 benennt dann die Rechte auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, also diejenigen Punkte, die auch im Mittelpunkt der skizzierten Normenbegründung stehen. Und ebenso deutlich sind auch die Affinitäten der Kernnormen zu einigen weiteren Artikeln der UN-Menschenrechtserklärung, die z. B. • in Artikel 4 Sklaverei und Leibeigenschaft verbieten, was das normative Verbot der Freiheitsberaubung bereits impliziert, • in Artikel 5 die Folter sowie unmenschliche Behandlung untersagen, was sich aus dem vorgenannten Verbot physischer und psychischer Verletzung (auch zusammen mit dem Verbot der Freiheitsberaubung) ergibt, • in Artikel 9 Schutz vor willkürlichen Festnahmen, Inhaftierungen oder Ausweisungen zusagen, was wie die Zusage der Freiheit des Aufenthalts in Artikel 13 dem oben angeführten Verbot der Freiheitsberaubung sinngemäß partiell entspricht, • in Artikel 12 den Schutz der Privatsphäre zusagen – mitsamt ihrer diskursiven Bestandteile (!), • sich in den Artikeln 18, 19 und 20 für Gedanken- und Meinungsfreiheit aussprechen, was mit den oben angeführten Normen übereinstimmt. Hinzu treten weitere Übereinstimmungen wie die der Rechtsgleichheit (in Artikel 6), die sich aus dem Modell der Normenbegründung wegen der formalen Gleichheit ebenfalls ergibt. Worin die Artikel der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« zunächst deutlich über die Grundnormen im engeren Sinne hinausgehen, ist die weitere rechtliche Kodifizierung (in den Artikeln 7, 8, 10, 11, 12, 14) sowie die Regelung der Teilnahme am Staat (etwa in Artikel 21). Dass jene Regelungen allerdings innerhalb eines moralphilosophischen Begründungsmodells nicht eingeschlossen werden können, liegt auf der Hand: Denn dieses Begründungsmodell ist eines, was inhaltlich nicht dem Bereich der Politischen Philosophie angehört oder in es hineinragt. Es ist »vorstaatlich« in dem Sinne, dass es normative Regeln festschreibt, die für alle (diskursfähigen) Menschen unabhängig ihrer – kontingenten – staatlichen Zugehörigkeit gelten, und somit auch einen Maßstab für die moralische Bewer156 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
tung staatlicher Reglementierungen darstellt. Insofern enthält es selbst keine (einzel-)staatlichen Festsetzungen rechtlicher Natur, sondern impliziert allenfalls Vorgaben für diese. Mit anderen Worten: Das vorgestellte Modell der Moralbegründung betrifft zunächst und zumeist Menschen in ihrem Verhältnis untereinander – und es gilt dabei auch für Menschen, die irgendwelche staatlichen Rollen innehaben oder Funktionen ausüben. Es betrifft Verhältnisse zwischen Mensch und Gesellschaft deshalb nur mittelbar (und schließt daher zunächst keine rechtlichen Regelungen ein); unmittelbar sind Menschen in ihrem Umgang untereinander betroffen, und damit Regelungen, die dem Gebiet der Moralphilosophie zugehören und nicht dem Bereich der Politischen Philosophie. Diese moralphilosophisch begründeten Normen haben aber Implikationen für die Politische Philosophie bzw. die Begründung von Menschenrechten. Doch gehen die Menschenrechte der UN-Erklärung noch in zwei weiteren Bereichen deutlich über die normativen Gehalte der diskursanalytischen Moralkonzeption hinaus. Denn sie fordern auch eine Reihe sozialer Rechte ein: Soziale Sicherheit (Artikel 22), Rechte auf Arbeit und Erholung (Artikel 23 und 24), das Recht auf medizinische Versorgung (Artikel 25), auf Bildung (Artikel 26), auf Teilnahme am kulturellen Leben (Artikel 27) und anderes mehr. Für alle diese – keineswegs unwichtigen – Rechte kommt das skizzierte diskursanalytische Begründungsverfahren nicht direkt auf. Doch ist darauf zu verweisen, dass damit eine überzeugende Begründung, die sich als an das diskursanalytische Modell anschlussfähig erweist, nicht ausgeschlossen ist. Argumentative Anschlussmöglichkeiten bestünden unter Umständen z. B. in allgemeinen Überlegungen, was physisches und psychisches Wohlergehen weiterhin impliziert. So könnte eine übermäßige Ausbeutung der Arbeitskraft oder eine vermeidbare Bedrohung der Gesundheit mangels eines adäquaten Gesundheitssystems im Rahmen der Fortführung diskursanalytischer Überlegungen kohärent einbezogen und als unzulässig ausgewiesen werden. Zudem ist darauf zu verweisen, dass die sozialen Rechte ihrerseits von den vorgenannten Menschenrechten in einer bestimmten, wichtigen Hinsicht abhängen: Fragen der sozialen Sicherheit stellen sich nur bzw. erst ein, wenn die grundlegenden Rechte auf Leben, Freiheit und Sicherheit für die Betroffenen gewährleistet sind. Deshalb sind die sozialen Aspekte – logisch betrachtet – nachrangig, aber diese Feststellung besagt nicht, dass sie daher auch unwichtig wären. Ihre Bedeutung entfaltet sich jedoch erst, wenn die zuvor ge157 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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nannten und somit als »basal« qualifizierbaren Menschenrechte eingehalten werden. Diese zuletzt genannte logische Abhängigkeit besteht auch zwischen den grundlegenden Menschenrechten und den allgemeinen (nicht spezifisch einzelstaatlichen) Bürgerrechten. Gleichwohl scheinen auch hier Implikationen vorzuliegen: So könnte ein argumentativer Weg von der Meinungsfreiheit in Verbindung mit dem Recht auf Bewegungsfreiheit zur Versammlungsfreiheit und zum Recht auf Bildung (politischer) Vereinigung führen. Und dieser Weg ließe sich mutmaßlich – dies sei hier nur angedacht, aber nicht ausgeführt – fortsetzen hin zu einer Demokratie, in der Bürger freie Diskurse führen und mittels der Ausübung demokratischer Bürgerrechte dafür sorgen, dass diese dauerhaft in Kraft bleiben. Damit dürfte geklärt sein, dass die Grundnormen im engeren Sinne und diese fundamentalen Menschenrechte sich sehr weitgehend inhaltlich überschneiden (auch wenn sie formal betrachtet einen unterschiedlichen Status haben – nur die Menschenrechte sind in einem verbindlich gemachten mundialen Katalog von Rechten kodifiziert). Deutlich zu machen ist nun die Relevanz dieser Normen und Rechte für die Friedensthematik bzw. für friedliche gesellschaftliche Zustände. Damit soll zugleich der Weg bereitet werden, mit dessen Hilfe man zu einem, wenigstens etwas positiveren respektive gehaltvolleren, Begriff des »Friedens« gelangen kann.
5. Krieg, Brgerkrieg und totalitre Staatsformen als nicht-friedliche norm- und rechtswiderstreitende Zustnde Deutlich dürfte bis hierher allerdings sein, dass diskursfähige Menschen ein rationales Interesse an der Wahrung der Menschenrechte und der Einhaltung der Grundnormen ihnen gegenüber haben. Daraus ergibt sich trivialer Weise, dass sie ein gut begründetes Interesse an der Vermeidung von Zuständen haben, die die Einhaltung der normativen Regelungen suspendieren. Und beinahe ebenso trivial scheint die Folgerung, dass ein der Ratio entsprechendes Interesse besteht, Situationen zu vermeiden, in denen die Rechts- und Normeinhaltung durch andere Akteure auch nur ernsthaft gefährdet ist: Denn schon die bloße Bedrohung mit Mord oder Folter oder Verletzung ist, weil diskursbeeinträchtigend, moralisch untersagt, also ein inakzeptabler Vorgang. Zustände, die solche Vorgänge begünstigen, 158 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
bergen also ihrerseits nicht nur ein zweckrational nicht zu bejahendes höheres Risiko, sondern eine ebenso wenig rational wünschbare wie moralisch nicht zu rechtfertigende Bedrohung. Diskursfähige Menschen haben also ein begründetes Interesse an der Vermeidung von Zuständen, in denen ihre grundlegenden Menschenrechte verletzt werden bzw. die Einhaltung der genannten Grundnormen ihnen gegenüber nicht gewährleistet ist. Sie haben ein gut begründetes Interesse am Schutz ihres Lebens, ihres Leibes und einiger Handlungsfreiheiten. Genauer: Sie haben ein solches Interesse am Schutz der genannten Güter und ein Interesse, dass die geschützten Güter »Leben«, »Leib« und »Handlungsfreiheiten« gesichert, also auch nicht bedroht sind. Gerade diese Bedrohung bzw. das Zusammenkommen von Bedrohung und Gefährdung machen zwei Zustände aus, die sich gemeinsam als »nicht friedlich« klassifizieren lassen. Zum einen handelt es sich um kriegerische Zustände (Kriege, Bürgerkriege, bewaffnete Aufstände usw.), zum anderen um totalitäre Zustände in Staaten. 13 Denn: Wie auch immer man den Begriff eines »totalitären Zustands« exakter zu fassen versucht, so ist doch offenkundig, dass in diesen Zuständen (zumindest für einige diskursfähige Wesen) • die Meinungsfreiheit beschnitten wird, • durch nicht-gesetzliche bzw. nicht den Menschenrechten gemäße Verhaftungen oder Verschleppungen die Handlungsfreiheit einiger bedroht und/oder eingeschränkt wird, • durch die Androhung oder den Vollzug von Folter die Psyche oder Physis der Menschen massiv verletzt werden • und wohl auch zumeist Oppositionelle oder Missliebige ermordet werden. Totalitäre Regime missachten also Mord-, Verstümmelungs- oder Verletzungverbote, bestimmte Handlungsfreiheiten sowie das Gebot 13 Faktisch gilt dies wohl auch für Herrschaftsformen wie den Absolutismus u. a. Diktaturen. Es gilt aber nicht unbedingt für jede Form einer Alleinherrschaft, die sich eben dadurch von totalitären Herrschaftsformen unterscheiden: Sie enthalten den Menschen Bürgerrechte wie Wahlrechte vor, verletzen aber nicht zwangsläufig Menschenrechte. – Zur moralphilosophischen Kritikmöglichkeit von Repräsentanten totalitärer Staaten vgl. auch Wulf Kellerwessel: Verantwortung und Schuldzuschreibung bei Gilbert Harman und Bernard Williams unter besonderer Berücksichtigung des Problems der moralischen Verantwortung von Diktatoren und ihren Funktionären. Rekonstruktion und Kritik. In: Aufklärung und Kritik (9) 2002, Heft 1. 175–190.
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der Redefreiheit. Deshalb haben Bewohner totalitärer Staaten (oder Regionen etc.) ein berechtigtes Interesse an der Abschaffung bzw. Beseitigung von derartigen Zuständen. Kriegerische Zustände verletzen ebenfalls, und zwar per definitionem, eindeutig jene Normen; in Kriegen werden die grundlegenden Menschenrechte zumeist in einer noch höheren Anzahl und in massiverem Ausmaß verletzt als in totalitären staatlichen Zuständen. Und gerade die Kriege des 20. Jahrhunderts haben, um ein wohl unumstrittenes empirisches Faktum einzubeziehen, im Vergleich zu denen des 18. und 19. Jahrhunderts einen mehr als deutlichen Anstieg an Toten – im Grunde: Ermordeten – und Verletzten zu verzeichnen, nicht zuletzt auch an ermordeten, verletzten, verstümmelten und verschleppten (ihrer Freiheit beraubten) und nicht selten versklavten Zivilisten. Insofern ist wohl keine weitere Begründung dafür anzuführen, dass diskursfähige Menschen ein begründetes Interesse an der Vermeidung von Kriegen bzw. der Wahrung des Friedens haben. Deutlich dürfte aber, so ist zu hoffen, auch geworden sein, wie nah totalitäre Verhältnisse und kriegerische Zustände nicht nur in politisch-historischen Kontexten zueinander stehen. (Gemeint ist damit die Tatsache, dass totalitäre Staaten in weitaus mehr Angriffskriege verwickelt sind – auch untereinander – als demokratische, nicht-totalitäre Staaten.) Totalitäre und kriegerische Zustände kommen sich in einer moralphilosophischen Perspektive ausgesprochen nah. Sie haben bedeutsame gemeinsame Merkmale, und diese sind von Belang, insbesondere aus der Sicht derer, deren Rechte und Normeinhaltungen ihnen gegenüber negativ betroffen sind. Diese, für die jeweils Betroffenen nicht friedlichen Zustände, stehen also gemeinsam in strikter Opposition zu denjenigen friedlichen Verhältnissen, in den die grundlegenden Normen eingehalten und die Menschenrechte geachtet werden. Dies macht auch den Gedanken Kants, den zwischenstaatlichen Frieden an den inneren Frieden bzw. an friedliche Gesellschaftsordnungen zu binden, plausibel. In geeigneten friedfertigen Staatszuständen können, wie Kant zu Recht anführt, die Bürger ihre Friedensinteressen artikulieren und zudem auch eher durchsetzen. Darüber hinaus aber lassen sich derartige Überlegungen noch in einen weiteren Kontext einbetten. Schon der innerstaatliche friedliche Zustand stellt eine enge Verknüpfung zwischen Frieden, Rechten und Grundnormen her. Damit gelangt man zu einem Friedensbegriff, 160 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Die Wahrung grundlegender Normen und elementarer Menschenrechte
der in der Tradition der europäischen Aufklärung steht, und der nicht nur durch die Abwesenheit von Gewalt und Gewaltandrohung bestimmt ist, sondern auch durch Begriffe wie »Sicherheit«, »Freiheit« und »Schutz« mitbestimmt ist. Und dieser Begriff von »Frieden« ist meines Erachtens auch auf zwischenstaatliche Verhältnisse sinnvoll bzw. kohärent übertragbar. Frieden ist dann nicht nur Abwesenheit von Krieg, sondern dadurch mit ausgezeichnet, dass für die Bewohner eines Staates auch keine Bedrohung von Leben, Leib und Freiheit durch andere Staaten manifest ist – also auch keine Kriegsgefahr auszumachen ist bzw. besteht. Und deshalb ist letztlich eine zwischenstaatliche Kooperation moralisch zumindest zulässig (mit dem diskursanalytischen Ansatz vereinbar), wenn sie nicht ohnehin rational erwünscht ist (und auch so mit dem diskursanalytischen moralphilosophischen Ansatz kohärent vereinbar ist). 14 Ob ein friedlicher Zustand am besten in einer freien Konföderation freier Staaten zu realisieren ist, wie von Kant gedacht, oder ob – contra Kant – ein Universalstaat nicht diesem Anliegen am besten förderlich ist, bleibe jedoch hier dahingestellt. Denn eine solche Entscheidung ergibt sich wiederum nicht unmittelbar aus dem oben vorgestellten Verfahren, sondern bestenfalls mittelbar, also durch Hinzuziehung weiterer kohärenter Prämissen. Zu überlegen ist nun noch, wie moralisch erlaubt, auf faktische Norm- und Menschenrechtsverletzungen reagiert werden darf. Darauf sei im nächsten Abschnitt noch eingegangen.
6. Rckkehr zum Frieden: Verteidigungskriege und humanitre Interventionen Lässt sich, wie dargelegt, der Zusammenhang von Einhaltung der Grundnormen, Menschenrechtsbewahrung und Friedenswahrung herstellen, so lässt sich auch zeigen, dass es einen Zusammenhang von Krieg, Menschenrechts- und Grundnormenverletzungen gibt. Und ebenso ergibt sich ein weiterer Zusammenhang zwischen dem berechtigten Interesse an Normeinhaltung und Achtung der Menschenrechte sowie dem begründeten Interesse am Frieden. 14 Kooperationen können wegen der staatlichen Option, neutral zu bleiben, ohne zu kooperieren, nach der vorgetragenen Argumentation nicht gefordert werden. Gleichwohl können gute Gründe (zweckrationaler Natur) für ein Kooperieren sprechen.
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Faktisch ist wohl unstrittig, dass diese Interessen allzu oft verletzt werden. Bestehen hingegen jene Interessen – als begründete – zu Recht, ist es moralisch (zumindest) erlaubt, im Falle von Interessenverletzungen für eine Wiederherstellung einer Situation einzutreten, die diesen Zustand der Normübertretung bzw. Verletzung zentraler Menschenrechte beseitigt, sei er durch Krieg, Bürgerkrieg, ethnische, religiöse usw. Konflikte oder totalitäre Regime hervorgerufen. Daraus ergeben sich zunächst einmal moralische Erlaubnisse, die allerdings situativ geprüft werden müssen, da mögliche moralisch unvertretbare Folgen – Normenübertretungen oder Menschenrechtsverletzungen – denkbar sind. Denn der Grund der Erlaubnis besteht nur in der Wiederherstellung einer moralisch und menschenrechtlich akzeptablen Situation, und Handlungen, die dergleichen verunmöglichen oder dem Ziel entgegenstehen (etwa durch andere Normüberschreitungen oder Menschenrechtsverletzungen), sind moralisch nicht gestattet. Ist diese Einschränkung nicht gegeben, ist demnach ein Widerstandsrecht zunächst einmal moralisch legitimiert – auch gegen totalitäre Herrschaft. Moralisch erlaubt (aber nicht geboten) können dementsprechend auch Verteidigungskriege sein, sofern sie zum Selbstschutz der genannten Normen und Menschenrechte unumgänglich und von den Betroffenen (trotz des Risikos) gewünscht sind – und nicht zu Normverletzungen gegenüber Dritten (z. B. Zivilpersonen) führen. All diese Überlegungen betreffen aber zunächst ausschließlich das ius ad bellum, also das Recht zum Krieg. Und die Teilnehmer des Verteidigungskrieges haben sich an das ius in bellum zu halten, soll der Krieg bzw. die Kriegführung nicht seine moralische Rechtfertigung verlieren, und keinesfalls zulässig werden durch die vorgetragene Argumentation Revanchekriege oder dergleichen. Die mögliche Legitimationsgrundlage für Verteidigungskriege bestünde allein in der Abwehr aktueller Verletzungen von Grundnormen. Darüber hinaus eröffnet sich auch ein Raum für humanitäre Interventionen – allerdings nur für solche, die tatsächlich auf die Wiederherstellung faktischer Normeinhaltung und Wahrung der elementaren Menschenrechte abzielen. Sie sind zunächst gestattet, insoweit und nur insoweit sie zum Zwecke der genannten normativen Ziele dienen – also als bewaffnete Polizeiaktionen bzw. als Nothilfe bei der Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen. Damit harmoniert übrigens diese Konzeption teilweise sowohl mit Über162 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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legungen von John Rawls in The Law of Peoples 15 als auch zum Teil mit denen seines kommunitaristischen Opponenten Michael Walzer in Just and Unjust Wars, 16 der Interventionen im Falle von Bürgerkriegen und schweren Menschenrechtsverletzungen für zulässig erklärt. Erfasst werden damit überdies auch – zumindest partiell – die Intentionen der »Charta der Vereinten Nationen« von 1945, die die Wiederherstellung des Friedens und der Sicherheit notfalls mit Waffengewalt vorsieht (vgl. §§ 39–49, insbesondere §§ 42 ff.). Dem nahe liegenden Einwand, dass auch bei derartigen humanitären Interventionen (wegen Ausgangssperren, Waffen- und Militäreinsatz und anderem mehr) Normübertretungen und Menschenrechtsverletzungen geschehen (oder zumindest: höchstwahrscheinlich geschehen), diese also selbst nicht das Prädikat »friedlich« verdienen, kann meines Erachtens wie folgt entgegnet werden: Humanitäre Interventionen greifen erlaubter Weise nur in Situationen ein, die bereits nicht (mehr) friedlich sind, in denen Grundnormen und Menschenrechte also bereits verletzt werden. Das besagt: Ein Zustand der Normübertretung bzw. Menschenrechtsverletzung liegt bereits vor (anderenfalls ist eine solche Intervention nicht humanitär und nicht zulässig); der nicht friedliche Zustand wird nicht durch die Intervention erzeugt. Da humanitäre Interventionen aber nur gerechtfertigt werden können, wenn sie diesen Zustand beenden, also die Übertretungen im Vergleich zum Nicht-Eingreifen vermindern, scheint das genannte Gegenargument schon nicht sehr stark. Hinzu kommt folgendes: Jene Übertretungen durch die Eingreifenden sollen – idealer Weise: ausschließlich – nur diejenigen betreffen, die selbst zu den normenverletzenden Personen gehören – und nur den Zweck haben, weitere Normenverletzungen durch diese zu verhindern. Das heißt, diejenigen, die zu den ursprünglichen Normverletzern gehören, verlieren nicht generell ihre Rechte. Sie dürfen aber an weiteren Handlungen im Sinne von Menschenrechtsverletzungen gehindert werden, da anderenfalls andere Personen in ihren begründeten Interessen verletzt werden. 17 Und das heißt auch: Wer begrün15 John Rawls: The Law of Peoples. Cambridge, Mass., London 1999 (dt.: Das Recht der Völker. Berlin, New York 2002). 16 Michael Walzer: Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations. New York 2 1992 (zuerst 1977, dt.: Gibt es den gerechten Krieg? Stuttgart 1982). 17 Zu erinnern ist hier an die oben erwähnte Hierarchisierung der Normen. Aus ihr ergibt sich, dass möglichst geringe Beeinträchtigungen bei der Verhinderung von Normübertretungen anzustreben sind, da nur sie moralisch legitimiert werden können.
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dete Übertretungen sich selbst gegenüber vermeiden will, kann dies – idealer Weise – dadurch, dass er die Normen anderen gegenüber respektiert. Der moralisch signifikante Unterschied ist also im Ziel der Handlung (Verhinderung weiterer Normverletzung oder Wiederherstellung eines Zustandes ohne weitergehende Normübertretungen) zu sehen. Aber es ist einzuräumen, dass unter realen Bedingungen ein nicht unbeträchtliches Risiko besteht, dass auch Normen missachtet werden gegenüber denen, deren Schutz intendiert ist. Um also zu erlaubten humanitären Interventionen zu gelangen, bedarf es entweder der (vermutbaren) Zustimmung der betroffenen Bevölkerung, oder es dürfen keine nennenswerten, gravierenden Übertretungen (im Vergleich zum Nicht-Intervenieren) stattfinden. Das heißt: Die Intervenierenden müssen im höchsten Maße die Grundnormen und Rechten der anderen achten. Interventionen, die sich an diesem ethischen Standard nicht orientieren, sind demnach keine zulässigen, und eben auch keine humanitären. Wegen der mit solchen Interventionen einhergehenden Gefährdungen stellen derartige Interventionen also eine ultima ratio dar – wie auch Eingriffe in Bürgerkriege etc.: Sie dürfen die Menschenrechtssituation und die Normeinhaltungs»quote« nicht verschlechtern. Das ius in bellum ist daher mitentscheidend für die moralische Zulässigkeit solcher Handlungsweisen. Dasselbe gilt auch mutatis mutandis für Verteidigungskriege; auch hier sind enge moralische Grenzen gesetzt bzw. hohe moralische Standards einzuhalten.
7. Schluss Soweit also die Darlegungen zum Begriff des Friedens als einer allgemeinen Herausforderung an die Moralphilosophie, die versuchen, nachzuweisen, dass zum Frieden begründetermaßen die Einhaltung grundlegender Menschenrechte und basaler Normen hinzugehört. Damit wurde eine Konzeption vorgelegt, die in der Tradition der europäischen Aufklärungsphilosophie steht, die ihrerseits schon versucht hat, einen positiveren Begriff des Friedens zu entwickeln. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass dies nicht mehr darstellen kann und soll als einen Beitrag zur Problematik. Inwieweit die Globalisierung, von Menschen (mit)verursachte Naturkatastrophen, die Überbevölkerung und durch sie drohende Verteilungskämpfe für eine weitere Bestimmung des Begriffs »Frieden« weitere Herausforde164 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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rungen bereithalten, bleibe dahingestellt. Doch gleich welche weiteren Friedensbedrohungen vorliegen, die weitere anwendungsethische Überlegungen notwendig machen, scheint der Kern der Friedensbewahrung deutlich, also ein normativer Maßstab gewonnen, der in unaufgebbaren Bedingungen besteht. Vor diesem Hintergrund bleibt aber der Frieden wegen der vielen denkbaren, komplexen Bedrohungsszenarien eine philosophische Herausforderung – oder, genauer: stellt er wohl immer wieder neue philosophische Herausforderungen. 18
18 Mein Dank gilt – wie sie oft – Herrn Achim Berndzen M.A., für eine kritische Durchsicht und außerordentlich hilfreiche Diskussion einer früheren Fassung des Textes. Herrn Christoph Kupfer M.A. danke ich herzlich für eine abschließende Kontrolle.
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Sektion 3: Krieg und Frieden
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Den Krieg kennen, den Frieden denken Monique Castillo
Es ist möglich, dem Frieden eine geistliche Inspiration, eine moralische Gründung und eine politische Möglichkeit der Verwirklichung zu geben. Wenn der Friede von metaphysisch-religiösen Prinzipien inspiriert ist, wird er als die geistliche Einheit einer ewigen Weltordnung erlebt. Davon ist der radikale Pazifismus von Tolstoi beeinflusst: »[…] auf den Krieg verzichten, und den Menschen Gutes tun ohne Unterschied zwischen Feinden und Genossen« 1 gibt dem Leben eines Christen einen Sinn, »der durch den Tod nicht zerstört wird.« 2 Wenn der Frieden auf moralischen Gründen ruht, bildet er eine Hoffnung, die von allen Mitgliedern des menschlichen Geschlechts geteilt werden könnte. Kant gab dieser moralischen Dimension des Friedens die Geltung seines kritischen Rationalismus: »Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein.« 3 Wenn die mögliche Verwirklichung des Friedens durch einen politischen Willen entstehen soll, dann wird der Friede in Beziehung zum Krieg begriffen: entweder er ist eine bloße Begrenzung des Krieges (dies ist seit Machiavelli die Ansicht des politischen Realismus), oder er besteht in der Ausrottung des Krieges (dies ist die Ansicht des juridischen Idealismus, durch den die internationalen Friedensorganisationen in den zwanziger Jahren inspiriert worden sind). Nun, seit einigen Jahrzehnten findet eine radikale Änderung des Krieges statt, die das politische Schicksal des ganzen 21. Jahrhunderts bedingt und diese Frage aufwirft: Wie kann man den Frieden denken? Aus diesen neuen Wechselbeziehungen zwischen Krieg und Frieden
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Lew N. Tolstoi: Ma religion. Paris 1885. 262 (dt. von M. Castillo). Lew N. Tolstoi: Ma religion. A. a. O. 264. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. AK, VI. 354.
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entspringen die folgenden Überlegungen, die sich in drei Stufen gliedern: – Erstens: die aktuelle Änderung des Krieges. – Zweitens: die dadurch im westlichen Raum entstehenden Spaltungen über den Begriff Frieden. – Und drittens: die kulturelle Dimension des Friedens, ihre Schwäche und ihr Vermögen.
1 nderung des Krieges Um diese heutzutage sogenannte »Änderung des Krieges« 4 richtig zu verstehen, muss an unsere klassische Auffassung des Krieges erinnert werden – unsere klassische Auffassung des Krieges, oder, besser gesagt: was heute unsere klassische Auffassung des modernen Krieges ist. A) Die klassische Auffassung des Krieges Was traditionell Krieg genannt wird, ist ein Konflikt zwischen souveränen Staaten. Krieg ist ein staatlich symmetrisches Phänomen: Zwei souveräne Staaten haben dasselbe Recht, von Waffen Gebrauch zu machen (jus ad bellum), um eine Streitfrage zu lösen, wofür keine juristische oder diplomatische Lösung zu finden ist. Krieg ist ein äußerst politisches Phänomen, denn er zielt darauf ab, »den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen« (Clausewitz): Das macht er, indem er kapituliert, d. h. indem er sich als besiegt erklärt und den Gegner als Sieger anerkennt. Von dieser politischen Dimension des Krieges hat Clausewitz gezeigt, dass sie ein kriegsbeschränkender Faktor ist: Der Krieg findet ein Ende, sobald es einen verhandelbaren Frieden gibt, d. h. sobald ein Interesse darin besteht, Frieden zu machen. Deswegen kann das Recht auf Krieg von einem Recht im Krieg (jus in bello) ergänzt werden: Der Krieg findet zwischen Armeen statt, Militärs sollen von Zivilisten unterschieden werden, Kriegsgefangene sollen nach besonderen Regeln behandelt werden, der Krieg hört mit dem Sieg, nicht mit der Vernichtung des Gegners auf. Das Paradox der klassischen Auffassung des Krieges ist folgen4
Siehe Martin Van Creveld: Transformation of war. New York u. a. 1991.
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des: Der Staat ist die Instanz, die den Krieg erklärt und führt, er ist aber auch der, der die Gewalt in organisierte und disziplinierte Kraft umwandelt, die den Krieg beschränken kann und den Frieden im Krieg selbst vorbereiten kann. Es ist bemerkenswert, dass unter den positiven Auffassungen des Friedens, die berühmteste, d. h. die kantische, die sich auch in der Gründung des Völkerbundes und der UNO und heute noch im Bau Europas weiterentwickelt hat, völlig auf dieser zwischenstaatlichen klassischen Auffassung des Krieges beruht. Dass der Friede zu einem dauerhaften Zustand der instituierten Sicherheit werden könnte, der allen Kriegen ein Ende setzt, verlangt die Entwicklung neuer Beziehungen zwischen den Staaten; dies setzt voraus, dass der republikanische Staat, dessen Entstehung von Kant vorausgesehen wurde, die Fähigkeit zur Selbstaufhebung und Selbstbeschränkung haben wird – zur freiwilligen Übertragung eines Teils seiner Souveränität zugunsten eines Friedensbundes freier Staaten. B) Die neuen Kriege 1) Privatisierung des Krieges Die Gewalttätigkeiten aber, die heute »neue Kriege« genannt werden, sind mit diesen unterscheidenden Kriterien des modernen Krieges nicht mehr zu vergleichen, weder auf juristischer, noch politischer, noch militärischer Ebene, so dass man bezweifeln kann, ob das Wort »Krieg« für sie noch angebracht ist. Die »neuen Kriege« sind tatsächlich private Kriege, insofern nicht staatliche Agenten (Sekten, terroristische Organisationen, Drogenbanden, Rebellengruppen usw.) sich das Gewaltmonopol (»das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit«) an Stelle des Staates aneignen, mit der Absicht, daraus persönliche Vorteile zu ziehen, ohne Rücksicht auf das gemeinsame Interesse der Nation, des Volkes, oder der Individuen. Diese Gruppen arbeiten entweder an der Zerstörung der staatlichen Strukturen (bewaffnete Organisationen, Mafia-Gruppen, Rebellen …) oder entstehen durch und nutzen den Zerfall des Staates, wenn dieser, nach dem Zusammenbruch eines kolonialen oder kommunistischen Systems, der Korruption und Rebellionen preisgegeben ist. Der Gebrauch des Krieges wird zu einem privatisierten Phänomen, was zu einem vormodernen Stadium des Krieges zurückführt, bevor der Staat zum 170 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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legitimen Inhaber der Gewalt wurde. Die meisten Kommentatoren versuchen, in den Gewaltausbrüchen des Dreißigjährigen Krieges ähnliche Verfahren zu finden. »Die Eigenartigkeit des Soldaten, der andere Soldaten bekämpft, verschwindet zu Gunsten des Technikers oder des Bürokraten, des Banditen oder des Milizsoldaten, des Mafioso oder des Söldners, des Gottesfanatikers oder des Abenteurers, des Verzweifelten oder Kriegsherren.« 5 2) Zivile Opfer und organisiertes Verbrechen Diese Gewaltausbrüche verwirren unseren Verstand des Krieges, denn sie sind nicht nur privatisiert und entpolitisiert, sie sind auch entmilitarisierte Kriege. Es sind keine Soldaten, die kämpfen, und sie kämpfen nicht gegen andere Soldaten. Es sind Gewaltexperten, die sich als Fachmänner des Verbrechens verhalten und vorzüglich auf die zivile Bevölkerung zielen, weil sie wehrlos ist. Gewalt wird als Technik des Terrors und der Ausübung unerträglicher Grausamkeiten angewendet: gemeinsame Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Quälereien, psychische Beschädigungen … Der Soziologe Wolfgang Sofsky gebraucht das Wort »Marodeur«, um diese vom Traum der Straflosigkeit und der Allmacht mobilisierten Menschen zu bezeichnen: »Bandenkrieger findet man überall auf dem Erdball: in Guatemala, in Kolumbien, in Somalia und Sierra-Leone, in Zaire und Ruanda, in Tadjikistan, in Burma oder Neu-Guinea. Der Marodeur ist die Leitfigur eines Weltkrieges, der nicht zwischen Nationalstaaten, sondern zwischen lokalen Kriegsherren, Drogenbaronen, Clanverbänden oder privaten Milizen ausgefochtet wird. […] Der Marodeur lebt und ernährt sich vom Krieg. Er liebt die Willkür, und er hat Zeit. Am Frieden hat er kein Interesse.« 6 Dass manche dieser Grausamkeiten eine wirtschaftliche Funktion als Mittel haben, billige Kriege zu führen, ist schockierend: Die erzwungene Rekrutierung der Kinder, die Serienvergewaltigungen, die Barbarei der physischen Verstümmelung und so weiter gehören zu den Instrumenten der billigen Kriege, indem das Entsetzen selbst als ein mediales und sehr wirksames Werbemittel ausgenutzt werden kann. Pierre Hassner: La violence et la paix. De la violence atomique au nettoyage ethnique. Paris 2000. 302 (übersetzt von M. Castillo). 6 Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens, Amok, Terror, Krieg. Frankfurt a. M. 2004. 151. 5
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3) Asymmetrie Es wäre nahe liegend zu denken, dass es sich um Sachen handelt, die uns nicht betreffen, wenn diese namenlosen Kriege sich nicht auch dadurch kennzeichnen lassen würden, dass sie die Verteidigungsmittel der kräftigsten und der am weitesten entwickelten Demokratien machtlos machen würden. Die neuen Kriege sind asymmetrische Kriege, in denen der Schwache gegen den Starken kämpft. Milizen, Kriegerbanden oder Rebellengruppen haben weder die militärischen noch die wirtschaftlichen noch die technologischen Mittel gegen hochbewaffnete Staaten zu kämpfen. Daher verwandeln sie diese Ungleichheit an Mitteln in eine andere Art der Asymmetrie, indem sie Terror und Barbarei in solchem Maß einsetzen, dass sie in den Augen der öffentlichen Meinung unerträglich sind, um die Bevölkerung der demokratischen Staaten zu entmutigen und sie vor der Erpressung weichen zu lassen. So dreht sich die Asymmetrie gegen den Stärkeren. So läuft es auf wirtschaftlicher Ebene: Während die Kosten für die Ausrüstung regulärer Armeen und die Verteidigungsinvestitionen in der Zeit des high-tech Krieges extrem hoch sind und die Demokratien dazu führen, auf den Krieg zu verzichten, sind die neuen Kriege sehr billig, weil Krieg sich vom Kriege, durch Plünderungen, Geiselgelder oder Entwendung der internationalen Hilfe ernährt: »Flüchtlingslager sind in der Regel Teil der Kriegsökonomien und für die Kriegsparteien von erheblicher Bedeutung, da sie sich hier mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen. […] Was in den reichen Ländern zumeist gut gemeint und als karitative Handlung gedacht ist, hat in den Kriegs- und Krisengebieten oft verheerende Folgen, weil sich die Kriegsparteien selbst daraus alimentieren.« 7 Asymmetrie betrifft auch die Kampfweise: Die neuen Angreifer setzen dem Gebrauch der Gewalt keine Grenze. So gibt Terrorismus, indem er die Ideologie des Heiligen Krieges einsetzt, dem Begriff des Feindes einen biegsamen und dehnbaren Sinn, der die Steigerung des Terrors über der Bevölkerung erlaubt, während die durch juristische Imperative strukturierten Länder sich den Einsatz extremer Taten versagen müssen. Der unerfahrene Beobachter kann nur mit Schwierigkeiten den Partisanenkrieg vom organisierten Verbrechen unterscheiden. Denn 7
Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Reinbek 2003. 153, 154.
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der Partisanenkrieg entsteht aus einer Asymmetrie, die er intellektuell und moralisch als einen Krieg von Widerstandskämpfern begreifen kann. Der Partisanenkrieg ist aber ein Verteidigungskrieg, dessen Absicht es ist, die Unterstützung der zivilen Bevölkerung zu gewinnen, während die terroristische Strategie der neuen Kriege offensiv ist und kriminelle Gewalt gegen die Bevölkerung seines eigenen Clans oder seines eigenen Landes anwendet. »Der Marodeur kümmert sich wenig um Propaganda, ideologische Begründungen oder alte Traditionen. Er ist kein Glaubenskrieger, benötigt weder einen ideellen Vorwand noch eine politische Überzeugung«. 8 So können wir diese Vorstellung der neuen Kriege schließen: Es handelt sich um unvorhersehbare Kriege, die sich selbst führen und an sich die Kraft ziehen, die den Staaten gehören sollte, die sich in internationalen Netzen organisieren, und eine Internationalisierung der Konflikte befürchten lassen. »Erleben wir heute die Rückkehr der Großen Ängste, deren Ereignisse in Tokyo und New York die Vorzeichen wären?«, fragt der Politologe Pierre Hassner in seinem Werk Der Terror und das Reich. 9
2. Interpretation: Meinungsverschiedenheiten ber die Frage des Friedens Es ist nicht leicht vorauszusehen, welche Rolle diese neue Form von Konflikten in der Zukunft spielen wird. Es ist aber klar, dass die Interpretationen, die von diesen Konflikten gemacht werden, heutzutage zu rivalisierenden Arten und Weisen führen, die Frage des Friedens zu stellen. Zwei Hauptinterpretationen sind bemerkenswert: – Die eine, die auf einen mit dem Untergang des Staates verbundenen Rückgang des Krieges schließt. – Die andere, die ein neues Zeitalter des Krieges voraussieht mit der Perspektive neuer Konflikte – Konflikte, nicht mehr zwischen Staaten, sondern zwischen Zivilisationen. A) Die Haltung, nach der der Krieg im Ru¨ckgang ist, wurde schon 1991 von einem israelischen Polemologen, Martin Van Cre8 9
Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens. A. a. O. 150. Pierre Hassner: La terreur et l’empire. La violence et la paix II. Paris 2003. 393.
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veld, ausgedrückt. Sein Buch über die Veränderung des Krieges schließt auf das Verschwinden der Kriege zwischen Staaten, die durch »Konflikte niedriger Intensität« ersetzt werden. Solche Konflikte sind vielfältige Drohungen, die ständig wieder auftauchen werden, als Guerillas, terroristische Anschläge, Rebellionen usw. Ihre schwache Intensität erweist sich aber alles in allem als weniger mörderisch und zerstörerisch als die großen Massenkriege grausigen Andenkens, die im 20. Jahrhundert von den Staaten geführt wurden. Seitdem ist die Ansicht, nach der der Krieg untergehen soll, gängig geworden, wahrscheinlich weil sie als die pazifistischste Überzeugung auftritt. Sie ist übrigens eine ziemlich treue Widerspiegelung der Art, mit der die Europäische Union den Frieden denkt. Die These gründet sich auf zwei Hauptargumente. 1) Technologisches Kriterium Das erste ist ein technologisches Argument: Aus technologischen Gründen hätten die Staaten die Führungsmacht über die Kriege verloren. Der Rückgang des Krieges hätte bereits mitten im 20. Jahrhundert angefangen, mit der Erfindung der Kernwaffe, die das politische Verständnis des Gewaltgebrauchs verändert hat. Man musste sich an eine neue Stufe der politischen Rationalität bzw. der politischen Klugheit anpassen: Eine solche Vernichtungswaffe konnte nicht mehr als ein militärisches, sondern nur noch als ein politisches Mittel angewendet werden. Sie konnte nicht mehr dazu dienen, dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen, sondern nur noch dazu, ihn davon abzubringen, dieselbe Waffe einzusetzen, die bloß zu einer beiderseitigen Vernichtung führen konnte. Schon war die technologische Übermacht dabei, die politische Entscheidung zu ersetzen: Die Kriege waren viel zu gefährlich geworden, um immer noch als – wie der bekannte Ausdruck von von Clausewitz lautet – »eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« angesehen zu werden. Heutzutage behält der technologische Faktor dieselbe Bedeutung in der strategischen Überlegung, die Abschreckung bevorzugt. Andere spezifisch ökonomische Faktoren kommen aber hinzu: Hochtechnologische militärische Ausrüstungen verlangen hohe Ausgaben. Deswegen ist es nicht nur sehr gefährlich, einen Krieg zu führen, es ist auch viel zu teuer geworden. Es kann also dazu kommen, dass die Staatsraison friedlich wird, im Gegensatz zu der von der Machtpolitik überlieferten Vorstellung. 174 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Eine andere strategische Wahl ist möglich aber kostspielig. Sie besteht darin, auf technologischer Ebene uneinholbar überlegen zu sein. Solch eine strategische Wahl ist nur für eine zur einzigen Macht erhobene Übermacht möglich. In diesem Fall fördert Technologie die Verwirklichung einer Art von kaiserlichem Frieden. 2) Kulturelles Kriterium Es gibt ein anderes Argument: Der Rückgang der modernen Kriege könnte sich aus kulturellen Gründen erklären. Wenn das Stadium des Staates in seinem modernen Sinn überwunden ist, sollten wir nicht daraus schließen, dass wir in ein postmodernes Zeitalter der internationalen Beziehungen treten? In Europa zum Beispiel nehmen die Staaten freiwillig an, Teile ihrer Souveränität aufzugeben, um durch transnationale Beziehungen die Basis eines friedlichen Zusammenlebens herzustellen. Sie akzeptieren, den militärischen Lösungen der Konflikte eine juristische Lösung vorzuziehen. Im europäischen Raum würde also Pazifismus zu einer wahrhaft kulturellen Angelegenheit: Die Völker Europas betrachten nicht mehr den Krieg als das Mittel, ihre Geschichte zu schmieden und sich eine Rolle in der Welt zu geben. Sie sind eher der Ansicht, dass der Kampf um Freiheit durch die Meinungsfreiheit, die Öffentlichkeit der Menschenrechte, die Informations- und Kommunikationsmittel überwunden wäre. Gegen die Hardpower, durch die Softpower, eher durch Einfluss erworben als durch Gewalt gesichert. Der Kampf ums Leben findet jetzt eher auf wirtschaftlicher Ebene statt, im Kontext des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Nach und nach setzt sich die Überzeugung durch, dass Dank dem Ende der Massenkriege die Militärdurch Polizeiaktionen ersetzt werden könnten und dass eine rein abstrakte und juristische Staatsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft allmählich ersetzen wird. B) Wiederkehr des Krieges: das neue Zeitalter des Krieges Wir untersuchen jetzt die zweite Ansicht, nach der der Krieg wiederkehrt und wir in ein neues Zeitalter des Krieges treten. Was die Ereignisse des 11. September betrifft, kann man tatsächlich von einer Wiederkehr des Krieges sprechen, insofern die amerikanische Strategie danach die Logik der Abschreckung und des ›Containments‹ der Dik175 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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taturen aufgibt, um »einen wirklichen ›Flashback‹ zu den ersten Jahren des Kalten Krieges durchzuführen: Umbau der Allianzen, Übergang vom ›Containment‹ zum Verdrängen, Einsatz der Vereinigten Staaten im Nahen Osten (siehe die Eisenhower-Doktrin)«. 10 Es wäre also durchaus denkbar, von einem »Vierten Weltkrieg« zu sprechen. 11 1) Eine hobbesianische Welt Die These einer neuen und zunehmenden weltweiten Unsicherheit beruht auf einer ganz anderen Wahrnehmung der Weltlage im Ganzen. Als erstes schließt sie den idealistischen Pazifismus als schwärmerisch und harmonisierend aus, der das Ersetzen des Krieges durch die Gründung einer juristischen Weltordnung für möglich hält. So ein Traum stammt von einer falschen Interpretation des Kalten Krieges, der als der Anfang eines ewigen Friedenszeitalters begriffen wird. Der Kalte Krieg war aber nicht Friede, er war nur die Einführung einer entsetzlichen Ordnung, die durch die Angst vor einem sicheren Tod stabil bleiben konnte. So konnte die Täuschung aufkommen, nach der der Friede – und nicht der Krieg – der normale Zustand der Beziehungen zwischen Staaten ist. Genauso falsch war die Ansicht, nach der der Fall der Berliner Mauer ein neues Zeitalter der internationalen Beziehungen zur Folge habe: er bewirkt in der Tat die Rückkehr zum anarchistischen kriegerischen Zustand der internationalen Beziehungen, zur Welt des ewigen Krieges, zum Naturzustand der Staaten. Jeder weiß, dass nach dem amerikanischen Politologen Robert Kagan die westliche Welt zweigeteilt ist: für das amerikanische Abendland ist die Welt wieder hobbesianisch geworden; für das europäische Abendland ist sie kantisch geworden. Die Benennung »hobbesianisch« muss tatsächlich im tragischen Sinn begriffen werden, denn sie bedeutet, dass die Lebensgefahr durch nichts Gleichwertiges ersetzt werden kann, hinsichtlich ihrer Würdigkeit und ihrer Wirksamkeit. Die Welt Hobbes’ ist die, in der »die militärische Stärke ein vorrangiger Faktor der internationalen Beziehungen bleibt.« 12 Bruno Tertrais: La guerre sans fin. L’Amérique dans l’engrenage. Paris 2004. 48. Bruno Tertrais: La guerre sans fin. A. a. O. 26, 33. 12 Robert Kagan: Macht und Ohnmacht: Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Berlin 2003. 10 11
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2) Neue Drohungen Können aber der deutliche Rückgang der staatlichen Souveränität und der Untergang der Staaten auf der internationalen Szene nicht auf einen voraussichtlichen Rückgang des Krieges schließen lassen? Ganz im Gegenteil, antwortet der Realist. Denn die Machtlosigkeit, die Illegitimität oder die Künstlichkeit eines Staates tragen dazu bei, den Aufruhr, den Hass und die unkontrollierten Gewalttätigkeiten zu schüren. Daher kommt die teuflische Logik der militärischen Diktaturen und der Bürgerkriege, die sie verursachen, und dazu noch, im heftigsten Durcheinander der Zusammenstöße zwischen Ethnien und Stämme, der unentbehrliche militärische Einsatz oder die humanitäre Einmischung. In diesem Fall aber, wegen der Unkenntnis der Machtinteressen, die auf dem Spiel stehen, könnte eine Verschlimmerung der Konflikte stattfinden, mit dem Risiko ihrer Ausbreitung. Mit dem Ende des Kalten Krieges taucht also eine sozusagen neue »Weltunordnung« auf, ohne genau erkennbaren Feind, aber von veränderlichen, beweglichen und unvorhersehbaren Drohungen durchdrungen. 3) Die Dreiteilung der Welt Es könnte sein, dass die neue Kombination der Gefahr heutzutage in der Dreiteilung der Welt strukturell enthalten ist. Dies ist die sogenannte Theorie der »Drei Wellen«, die man wie folgt wiedergeben könnte: die Welt gliedert sich immer mehr in drei Hauptarten von Gesellschaften: agrare, industrielle, postindustrielle Gesellschaften. Sie unterscheiden sich durch ihre Geschichte, ihr wirtschaftliches System, ihre Gründe zu leben und zu sterben. Dieses gezwungene Zusammenleben ungleicher und befeindeter Gesellschaften vervielfältigt die Kombinationen der Gefahr. Der englische Politologe Robert Cooper hat eine ähnliche Kartographie der Gefahr von Weltkonflikten entworfen. Der Untergang der Staaten, erklärt er, kann nicht in gleicher Weise analysiert werden, wenn es sich um Staaten handelt, die die Legitimität im modernen Sinne noch nicht erreicht haben, oder um Staaten, die das Stadium des modernen Krieges überwunden haben und in das postmoderne Zeitalter eingetreten sind. Es muss festgestellt werden, sagt er, dass die in Europa angewendete Logik des Friedens nicht auf der ganzen Welt anwendbar ist. Außerhalb der westlichen Welt, in dem 177 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Raum, wo die Gesetze des Dschungels herrschen, muss mit den Gesetzen des Dschungels gekämpft werden. Der einzige Weg, die Verewigung der vormodernen Gewalt anzuhalten, ist die Stiftung eines neuen liberalen und freiwilligen Reiches: »Eben wegen des Todes des Imperialismus konnte die vormoderne Welt entstehen. Was wir heute brauchen, ist eine neue Form des Imperialismus, der für eine Welt der Menschenrechte und der kosmopolitischen Werte annehmbar ist. Wir können schon sein Gesicht erkennen: ein Imperialismus, der, wie jeder, Ordnung und Organisation als Ziel hat und der heute auf Voluntarismus beruht«. 13
3. Die kulturelle Dimension des Friedens: Schwchen und Vermgen Wir könnten diese zwei Interpretationen wie folgt vereinfachen und zusammenfassen: in diesem Antagonismus findet man die alte Entgegensetzung zwischen dem Ideal einer vom Recht durchgesetzten Verwirklichung des Friedens einerseits und dem Wunsch der vom Reich durchgesetzten Verwirklichung des Friedens andererseits. Wir finden auch darin den sehr klassischen Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus. Der eine bezeichnet den anderen als diabolisch, der andere wirft dem ersten Angelismus vor. Diese intellektuellen Bezeichnungen aber dürfen uns nicht die radikale Neuigkeit des Einsatzes vergessen lassen: es handelt sich nicht mehr darum, wie bei der Gründung des Völkerbundes oder der UNO, den Frieden auf einem Bündnis der Staaten zu gründen, sondern darum, sich vor Gefahren zu schützen, die die staatlichen Grenzen überschreiten und aus der Verflechtung mehrerer Welten entstehen (Waffen- und Drogenhandel, Flüchtlingsströme, terroristische Netze, Verbreitung der Informatik, Einfluss der Medien usw.). Dies erlaubt uns zu denken, dass »die Einmischungsprobleme weniger mit der Rivalität zwischen Staaten als mit der Distanz zwischen Gesellschaften verbunden sind«. 14 Die soziale Dimension der neuen Drohungen auf solche Art und Weise zu unterstreichen, führt uns dazu, den letzten Teil unseres Robert Cooper: The new liberal imperialism. In: The Observer, 7. April 2002 (Übersetzung M. Castillo). 14 Pierre Hassner: La violence et la paix. De la violence atomique au nettoyage ethnique. Paris 2000. 302 (übersetzt von M. Castillo). 13
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Textes dem Begriff »Frieden« in einen spezifisch europäischen Kontext zu stellen. Wir werden zuerst dessen Schwäche andeuten, um danach dessen Stärke und Vermögen hervorzuheben. A) Ein post-heroischer Pazifismus Es könnte sein, dass die Vorstellung, die man vom Frieden hat, nur die Spiegelung von der Stelle ist, die man selbst in der Welt hat. Wer vor der Gefahr geschützt ist, wäre dann pazifistisch, während der, der Gefahren ausgesetzt ist, dazu geneigt ist, eine Politik der militärischen Einsätze zu rechtfertigen. Diese Denkungsart ist im Wesentlichen der Einwand Robert Kagans dem europäischen Pazifismus gegenüber: Europa wäre politisch pazifistisch, weil es militärisch schwach und handlungsunfähig ist. Von vornherein zielt dies auf nichts anderes als eine Provokation. Es ist aber möglich, diesen Einwand auf eine höhere Bedeutungsebene zu bringen, eine kritische und kulturelle Ebene: Es handelt sich also darum, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass die neuen Kriege sich von der Schwäche der demokratischen Gesellschaften ernähren. Anders formuliert: Die neuen Kriege ernähren sich auch vom demokratischen Pazifismus. Die demokratischen Gesellschaften neigen immer mehr dazu, den Krieg als einen politischen Misserfolg zu betrachten und die Prosperität (den wirtschaftlichen Wohlstand) als höchsten Lebenswert zu bevorzugen. Daher haben die öffentlichen Meinungen Schwierigkeiten, die Notwendigkeit militärischer Einsätze anzunehmen. Die westlichen Gesellschaften, erklärt der deutsche Politologe Herfried Münkler, »bevorzugen zunächst eine Politik des Abwartens«. Dieses Abwarten veranlasst zwei Arten von Kommentaren: Einerseits muss gefragt werden, ob »schon die postheroische Mentalität eines Großteils der Bevölkerung in den westlichen Demokratien garantiert, dass eine Politik humanitärer militärischer Interventionen nicht in eine imperiale Extension umschlägt«, 15 andererseits muss aber auch festgestellt werden, »eine weitere Ressource, die Terroristen bei ihren Angriffen auf hoch entwickelte Gesellschaften ausbeuten, ist die in diesen Gesellschaften vorherrschende postheroische Mentalität.« 16 15 16
Herfried Münkler: Die neuen Kriege. A. a. O. 230. Herfried Münkler: Die neuen Kriege. A. a. O. 193.
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Die mediale Manipulation ist in der Tat eine der wirksamsten Waffen dieser grenzenlosen Kriege. So dass die Demokratien die neue kulturelle Dimension der Verhältnisse zwischen Krieg und Frieden entdecken und gleichzeitig ihre eigene Zerbrechlichkeit diesen Verhältnissen gegenüber. B) Zerbrechlichkeit der Demokratien Bis vor kurzer Zeit hatten die Legitimitätsansprüche einen politischen Ausdruck (einen marxistischen, nationalistischen, liberalen …). Heutzutage nehmen sie eher in dem Maße einen kulturellen Ausdruck an, in dem sie sich mit weiteren mentalen, psychologischen, affektiven, identitären und zivilisatorischen Fakten identifizieren. Die ganze Schwierigkeit besteht darin, Einfluss auf Ansprüche auszuüben, die kein politisch verhandelbares Ziel haben: d. h. auf Ansprüche, die infra- oder suprapolitisch sind. Sie sind infra-politische (diesseits des Verhandelbaren), wenn die Gewalt nur zu einer Art krimineller Räuberei dient; sie sind suprapolitische (jenseits des Verhandelbaren), wenn die Gewalt den Ausdruck eines Absoluten religiöser Art sein will (islamischer Heiliger Krieg oder zerstörerisches Sektierertum, wie z. B. die Aoum-Sekte, was eine sozusagen moralische Erpressung bewirkt, die für die gewaltlose Gesinnung unerträglich und unverständlich ist). Es kann also zu einer merkwürdigen Sachlage kommen, d. h. zur ungewollten aber wirksamen Zusammenarbeit der Befürworter mit den Gegnern der Gewalt, indem der Zynismus der einen die Arglosigkeit der anderen ausnutzt. In der Tat, wenn die Gewalt die Gestalt des Opfers und die damit verbundenen heiligen Rechte annimmt, um ihren eigenen Willen zur Macht und zur Herrschaft zu verheimlichen, gelingt es ihr, emotional zu wirken. Sie kann dann erwarten, dass sie eine paradoxe Rechtfertigung als übergesetzliches Instrument gewinnt. Es gelingt ihr, als eine Forderung nach Gerechtigkeit angesehen zu werden, die stärker ist als alles Recht. Die Argumentation wird folgende: einer extremen Illegalität würde eine höchste, emotionale Legitimität entsprechen. Die öffentliche Meinung ist also ein zweideutiger Agent: Einerseits verlangt sie die moralische Legitimität des politischen Handelns, andererseits enthüllt sie auch die charakteristische Verletzbarkeit der Demokratien. Die innere Zerbrechlichkeit der Demokratien kommt 180 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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daher, dass die öffentliche Meinung zu einem inneren Hindernis werden kann: der allgemein gewordene Bildungsmangel fördert die Missverständnisse, Widersprüche, Vereinfachungen und schafft Verwechslungen. So wird die Begriffsverwechslung zu einer wahren Waffe, die Manipulierungskünstler zu ihren Gunsten nutzen: Man braucht nur die Verwechslung zwischen Toleranz und Gewaltlegitimierung, zwischen Freiheit und Regellosigkeit, zwischen Pluralismus und Ausbruch sozialen Hasses, zwischen kritischem Geist und Nihilismus zu fördern, um vielleicht nicht zu einer Selbstzerstörung, aber zumindest zu einer Selbsthemmung des demokratischen Wertsystems zu gelangen. Also muss heutzutage die Frage nach dem Sinn des Friedens beantwortet werden, in einer Welt, die unter einer Krise des Sinnes leidet. C) Kulturelle Interdependenz Ihre moralischen und politischen sowie ihre emotionalen und medialen Komponenten geben der Idee des Friedens eine starke kulturelle Dimension, deren Zweideutigkeiten schon hervorgehoben wurden. Eine Kultur des Friedens durch die Ausbreitung des Wohlstands spiegelt aber bloß eine spezifische und egozentrische Vorstellung wider: Diejenige der westlichen liberalen Demokratien, die auf den wirtschaftlichen Erfolg setzen. Es taucht hier ein Wunsch auf, an etwas wie ein Ende der Geschichte zu glauben, das durch den Untergang der Autorität und die automatische Beständigkeit des Individualismus, des Wohlstands, des Konsums gesichert wird. Ist es aber nicht eine gleichzeitig naive und arrogante Weise, sich die Zukunft anzueignen, ihr die Gestalt einer Art von selbstzufriedenem, moralisierendem european way of life zu geben, das den übrigen Menschen gegenüber wohlwollend wäre? Nun, es ist unsicher, ob der individualistische hedonistische Atomismus – der sich gerne als »postmodern« bezeichnet – die Mittel zu einer Kultur des Friedens fördert, einer Kultur, die zu einer Allgemeinheit ethischer Art zu gelangen fähig ist. Von einem akademischen Standpunkt aus sind aber auf kultureller Ebene andere Notwendigkeiten zu erkennen, insbesondere diejenige, die darin besteht, Frieden vom Standpunkt der Welt aus zu denken, d. h. einer Welt, die Pluralität im Sinne von Hannah Arendt pflegt, d. h. auch einer multipolaren Welt im heutigen Sinne des Wortes. Einer solchen 181 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Aufgabe fehlt es nicht an rein kulturellen Ressourcen: Wir wissen, dass der kantische Kosmopolitismus nicht die Staaten in ein einheitliches Reich umwandeln, sondern ihnen das Bewusstsein ihrer gleichzeitig wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Interdependenzen geben wollte. Er führte die Staaten dazu, die Verhältnisse zu berücksichtigen, aus denen der öffentliche Raum besteht. Er sah voraus, dass Internationalismus zum Inter-Relationalismus werden musste. Die Voraussage bleibt heute noch eine Herausforderung: Sie fordert, dass die Staaten, die Kulturen und die Religionen ihre Aufgabe eher als interaktiv denn als identitär, eher relational als substantiell begreifen, als eine Aufgabe, die aus den Verhältnissen besteht, die sie zu den anderen Staaten, Kulturen und Religionen haben. Der heutigen Philosophie stehen die Ressourcen des Linguistic Turn zur Verfügung, um die Interessenkonflikte in argumentativer und friedlicher Weise zu behandeln. Neben dieser normativ kommunikationstheoretischen Funktion, könnte die These, nach der ein kommunikativer Austausch vorrangig ist, eine Anwendung in der Idee einer im kulturellen Sinne gemeinsamen Welt finden. Solch eine Idee ist bloß ein Sinneshorizont, der uns nicht die Macht gibt, Konflikte oder Drohungen auszuschalten. Sie erlaubt uns aber, eine konstruktive Entgegnung auf die Vermehrung der grenzenlosen und regellosen Kriege zu entwerfen. Während der internationale wissenschaftliche Austausch eine »Republik der Geister« veranlasst, bringt die dialogische Vorstellung des Austausches eine ethische Höhe, die die Gesprächspartner als »Teilhaber an der Sinnschaffung« 17 begreift. Daraus entsteht eine Umwälzung der bisher für monadisch gehaltenen Tugenden, wie z. B. der Toleranz. Die Toleranz in subjektiver Fassung ist mein Streben danach, die Ansicht des Anderen anzunehmen: eine egozentrische Tugend, die es mir erlaubt, das bestmögliche Bild von mir selbst zu geben. Die individualistische Selbstgefälligkeit kann überwunden werden, wenn man versteht, dass nicht die Toleranz den Austausch ermöglicht, sondern, umgekehrt, der Austausch zur Toleranz der Gesprächspartner führt, zu einer pluralen Toleranz, zu gegenseitigem Zuhören und gegenseitiger Aufmerksamkeit.
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Francis Jacques: Différence et subjectivité. Paris 1982. 352 (Übers. M. Castillo).
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Schlussbetrachtung Vielleicht wird dadurch die reinste Apriorität der Universalität im Entstehungszustand entdeckt. Eine weder possessive noch triumphierende Universalität, sondern eine potentielle, intentionale, offene und kritische Universalität, die Sinn dank Verständnis und Kommunikation durch gegenseitige symbolische Beeinflussungen hervorbringt. Dies führt uns dazu, zu denken, dass die wahre Universalität, vor jeder möglichen kulturellen oder politischen Aneignung, der Glaube an das apriorische inter-menschliche Kommunikationsvermögen wäre, nicht an die Kommunikation als Kunst der Einflussverwaltung, sondern als ursprüngliche Bereitschaft, vor ihrer Bereitstellung. In einer Welt, die dazu neigt, jedes symbolische Erbe als Machtwerkzeug zu begreifen, das in unerbittlichem Streit stehende Willen sich anzueignen suchen, ermöglicht uns ein dialogischer Zugang zu den Kulturen – der im universitären Kreis ausführbar ist – eine neue Modernität der Beziehungen und eine reine ethische Gründung der Idee des Friedens.
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Die bertragung des Krieges in Frieden: Mit Frieden vergelten. »Eine Leiche jagen« – zum sechsten Vers von Jehuda Halevis Feindesliebe in der bersetzung von Franz Rosenzweig 1 Petar Bojanic »Übertragung« (oder im Plural »Übertragungen«) ist ein Wort, das Gleichgewicht und Frieden verzeichnen und versprechen kann. Dennoch ist es aus wenigstens zwei sehr trivialen Gründen wenig präzis: erstens gibt es etwas, das unübersetzbar ist, und dies hinterlässt in der Übertragung mit Gewissheit eine bestimmte »Spur«, und zweitens ist das, was übersetzt wird, bereits die Übersetzung von etwas anderem (was ihm vorausgeht oder ihm eventuell noch nachfolgen wird). Wenn zum Beispiel Krieg in Frieden übertragen oder transformiert wird, enthält der Friede – abgesehen davon, dass er auf dem Krieg »ruht« – gleichzeitig den Krieg und transportiert seine unberührten und »authentischen« (unübersetzbaren) Spuren. 2 Vielleicht ist auch der Krieg die »Übertragung« von etwas noch viel Schrecklicherem als es der Krieg ist, oder von etwas noch Seligerem als es der Friede ist. Indessen betrifft das, was im Wort »Übertragunge(n)« wirklich »friedlich« ist, ein unaufhörliches Versprechen, dass die »Übertragung« – z. B. die »Übertragung des Krieges in Frieden« bzw. der künftige friedliche Status möglich und realisierbar sind. Die Übertragung ist immer ein unvollendetes Projekt, das den Frieden einlädt und ihn herbeiruft. Die Übertragung als solche besänftigt oder befriedet etwas, das ganz fremd und unannehmbar erschien. Feindesliebe ist der von Franz Rosenzweig gewählte Titel. Beide Herausgeber des Werks von Abu el-Hassan Jehuda ben Samuel ha-Levi, Samuel David Luzzatto (1864 in Padua) und Haim Brody (1894–1930 in Berlin) geben die ersten Worte oder die erste Zeile als Titel der Lieder. Vgl. Jehuda Halevi: Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte. Gesammelte Schriften IV. Den Haag 1983. 183–184. Die in den Gesammelten Schriften abgedruckte Version des Gedichts Feindesliebe ist ein Nachdruck aus der zweiten Ausgabe von Rosenzweigs Übersetzung der Hymnen und Lieder von Jehuda Halevi aus dem Jahr 1927 (Jehuda Halevi: Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte. Deutsch, mit einem Nachwort und mit Anmerkungen. Berlin 2 1927). 2 »La paix des empires sortis de la guerre repose sur la guerre«. – Emmanuel Lévinas: Totalité et Infini. Den Haag 1971. 6. 1
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Die bertragung des Krieges in Frieden: Mit Frieden vergelten
Das contra-Projekt oder die contra-Institution der Übertragung hingegen (»Militarismus« kann eben hieran erkannt werden) betrifft immer die Rückkehr des Originals. »Zurückkehren«, »noch einmal übertragen«, »noch einmal überprüfen«, »zum Original zurückkehren«, »bis vor das Original zurückkehren« – all dies sind Operationen, die die Übertragung, d. h. ein Projekt des Friedens, umkehren und in Frage stellen. Die Analogie und die contra-Analogie 3 zwischen »Übertragen« und »Rückkehr / Rückgabe« wurde aufgestellt, um einige alte »Gesten« zu erfassen und zu öffnen, die in den bekanntesten Projekten für den Frieden enthalten sind und von ihnen wiederholt werden. Es handelt sich um »Gesten« oder »Aufträge«, die immer in einem gewissen Sinne Gewalt implizieren. Das heißt, ein Text, der zum Frieden aufruft und den Frieden erklärt, diagnostiziert im selben Augenblick, dass der Friede nicht besteht, noch immer nicht besteht, und dass es notwendig ist, etwas zu unternehmen, auf dass sich Frieden ereigne. 4 Das, was erst noch eintreffen muss, damit sich Frieden ereigne, hat nicht nur zur Folge, dass ein Text über den Frieden immer die Skizze eines zukünftigen Textes ist. Obwohl ein Projekt, das über den Frieden spricht, immer provisorisch (in der Erwartung des absolut »Definitiven« und gegründet auf einer Vielzahl nicht definierter In Texten, die über den Frieden sprechen, ist eine unaufhörliche Wachsamkeit in Bezug auf die Manipulation mit Analogien notwendig: Die Übertragung verrät zum Beispiel das Original; die Übertragung als solche kann brutal und gewaltsam sein im Unterschied zur »friedliebenden« Rückkehr zum »ersten« Original. Vgl. Talmud Babli: Soferim. Abschnitt I, § 7 i 8. 4 Oder, dass etwas »getan« wird, bevor die Lektüre eines solchen Textes (mit einem ganz unbekannten Status) überhaupt beginnt, in dem der Friede erklärt wird, eines Textes, in dem die Philosophen »annoncent la paix« oder »déduisent une paix finale de la raison« (Emmanuel Lévinas: Totalité et Infini. A. a. O. 7), eines Textes, der einen Frieden verkündet, der »nicht allein auf menschliche Vernunft gegründet sein« darf (Ernst Jünger: Der Friede. SW, Band 7. Stuttgart 1980. 225), eines Textes, für dessen Niederschrift es immer an Papier mangelt (vgl. die Pariser Tagebücher von Ernst Jünger I., die Aufzeichnungen vom 5. 01., 18. 08. und 26. 07. 1942, in denen das Schreiben des Textes Der Friede evoziert wird, dessen Pseudonym Der Ruf ist). Der Text über den Frieden muss sehr einfach und verständlich, klar und direkt sein (Ernst Jünger, 27. 07., 28. 07. und 06. 09. 1943). Friedensabkommen und Verträge müssen so verfasst sein, dass eine falsche Interpretation gänzlich ausgeschlossen werden kann; der Text über den Frieden muss auf realistische Weise verfasst sein, und von Seiten eines »bewussten Autors«, der an das Morgen denkt, während utopischer Pazifismus in jedem Fall eine ernsthafte Gefahr darstellt. – Hans Kelsen: Peace through Law. Chapel Hill 1944. viii). – »Ich bitte dieses Blatt nur gutmüthig zu lesen. So wird es sicher nicht unfasslich, noch weniger anstößig seyn« (Friedrich Hölderlin: Friedensfeier, Stufe 3). 3
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Elemente und Annahmen) und nicht testamentarisch ist, obwohl es ein Text par excellence ist, der wächst und es nicht schafft, absolut definitiv und verbindlich, d. h. testamentarisch zu werden, schließt bereits der Aufruf zum Frieden, der noch einer Antwort harrt, die Gewalt bei der Aufgabe, Frieden zu »verwirklichen«, nicht bedingungslos aus. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese problematische Idee (die Idee, dass die Zentralisierung oder Monopolisierung der Gewalt, oder die Quantität der Gewalt, ihre Dosierung, eine »Schocktherapie« mit Gewalt oder das allmähliche Vermindern der Gewalt in einen Friedenszustand führen), 5 die im Verlauf der Geschichte von berühmten rechtsphilosophischen Texten repräsentiert wurde, vor allem auf die Art und Weise zurückgeht, auf welche die Diagnose gestellt wird, die besagt, es bestehe weder Frieden noch Sicherheit. Nicht die Folgerung ist also umstritten (wenn ihre absolute Gültigkeit auch immer ungewiss bleiben wird), strittig sind die Prämissen, die unumgänglich über die Formen der Prävention und der Therapie entscheiden, die sie diktieren und ihnen ein Angesicht geben. 6 Alle drei grundlegenden Perspektiven auf den Frieden – die annehmen, »Peace is a condition in which there is no use of force. In this sense of the word, the law provides only relative peace, in that it deprives the individual of the right to employ force but reserves it to the community. The peace of law is not a state of absolute absence of force, a state of anarchy, but rather is a state of monopoly of force, a monopoly of force by the community […]. There is no state of law, which, in the sense developed here, is essentially a state of peace«. – Hans Kelsen: Law and Peace in international relations. Cambridge (USA) 1942. 12, 14. – Einige überraschende und ungeglättete Formulierungen, die dieses Fragment bestimmen, sind nicht die Folge von Kelsens »Übertragung« seines Gedankens vom Deutschen ins Englische (es geht um Kelsens erste in der Emigration in englischer Sprache gehaltene Vorträge The Oliver Wendell Holmes Lectures, 1940–1941), denn diese Sätze sind in verschiedenen Büchern des Autors aus der Zwischenkriegszeit nachgedruckt (z. B. Hans Kelsen: Principles of International Law. New York 1952. 17; Kelsen: Peace through Law. Chapel Hill 1944. 3; Hans Kelsen: General theory of Law and State. New York 1945. Kapitel I »The concept of Law«, Teil B Abschnitt f). Im Buch Peace through Law entwickelt Kelsen unmittelbar im Anschluss an diesen Abschnitt einige Ideen, die auch heute aktuell sind, z. B. die Annahme, dass es möglich ist, dass die Vereinten Nationen im Namen einer Demokratie Kriegsopfer akzeptieren, oder dass die Opfer in den folgenden Frieden inkorporiert werden können (S. 10); Kelsen gibt der Gewalttheorie (force theory) beim Bau eines internationalen Friedens den Vorzug vor der Vertragstheorie (contract doctrine) (S. 7–9), d. h. zum Frieden gelangt man, wie die Geschichte lehrt, zunächst auf dem Weg der Gewalt und nicht auf dem Weg des Gesetzes (S. 6). 6 »On relatively late stage of evolution is the idea of retribution replaced by that of prevention«. – Hans Kelsen: Law and Peace in International Relations. A. a. O. 13. – Dieser Satz wird in verschiedenen Texten des Autors aus dieser Periode wiederholt. 5
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(1) dass er ein Zustand zwischen (contra) wenigstens zwei Subjekten ist, (2) dass der Friede mit dem Anderen beginnt oder von ihm ausgeht, oder (3) dass der Friede von mir ausgeht (dass der Friede vor allem mein Friede 7 und mein »Zustand« ist) – sind nur verschiedene Versionen des einen bekannten Prinzips – quid pro quo. Im Handel, bei der Verhängung von Strafe und Leiden, beim Ausgleich der kleinst- oder größtmöglichen Schäden, zwischen Staat und Volk, in Verhandlungen und Verträgen, in den Ökonomien mit Gott, im Glauben und Aberglauben, im Schuldbekenntnis und während der Reue, im Verständnis des Geschenks, der Schuld oder der Freundschaft ist der Friede 8 (bzw. die Friedlichkeit, Besänftigung oder Versöhnung) zunächst eine Frage der Mathematik. Genauer, der Anfang des Friedens müsste eine gekrümmte Tautologie sein – etwas für etwas, Gleiches mit Gleichem, Auge um Auge, Zahn um Zahn usf. –, die aufgestellt, vorausgesetzt oder einfach nur herangezogen wird, die also durch eine bis zur Herstellung einer vollständigen Reziprozität bzw. Identität fortgeführte »Vergeltung« reguliert werden kann – aber nicht allein durch Vergeltung oder Ausgleich, sondern auch vorab durch ein Geben, das eine Einladung zum »Vergelten« enthält, oder durch Regulierung auf dem Weg von Begegnung, Vorbeugung bzw. Prävention oder Rückgabe. Frieden und Unfrieden (oder Krieg) variieren und zittern im Wort pro, das den anfänglichen Gegensatz (contra) ersetzt und verteidigt. Quid pro quo. Aber wie und auf welche Weise zittert und vibriert dieses pro dort, wo eine Vielzahl von Widersprüchen besteht, dort, wo von Anfang an das contra war? Es scheint, dass Krieg und Unfriede erst mit den »Verbindungen« und mit dem »Austausch«, mit den »Übergängen« aus dem Raum des contra in den Raum des pro auftreten und ausbrechen. Quid pro quo oder z. B. »Auge um Auge« verkündet gleichsam das Verschwinden des Auges im Auge, des Zahns im Zahn usf., das Verschwinden des wechselseitigen Austauschs in der Ersetzung (in der »La paix doit être ma paix, dans une relation qui part d’un moi et va vers l’Autre, dans le désir et la bonté où le moi, à la fois se maintient et existe sans égoïsme«. Lévinas: Totalité et Infini. A. a. O. 342. 8 »Un tel donataire, identifiable comme le bénéficiaire du don absolument incapable de le rendre, se nomme précisément l’ennemi: celui qui n’aime pas en retour et donc permet d’aimer gratuitement, en pure perte et à fonds perdu; donner à son ennemi, c’est donner en vain, pour rien, sans raison«. – Jean-Luc Marion: Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation. Paris 1997. 129. 7
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Substituierung) zugunsten der Einheit, im Namen des Folgenden und des Einzigen – das Verschwinden des Anderen im Einen, des Anderen (Unterschiedlichen) im Selben. Quid pro quo betrifft den Fortschritt zur Einheit auf dem Weg der Substitution, auf dem Weg der nachträglichen Auslöschung des Vorhergehenden. Der Unfriede beginnt erst mit dem Austausch und setzt sich in den erfolglosen Regulierungen auf dem Weg der Vergeltung oder der Umkehrung fort. Wird auf diese Weise diagnostiziert, dass kein Friede besteht, ist im selben Augenblick der Weg zum unmöglichen Frieden, der niemals künftige Gewalt ausschließt, vorgezeichnet. Noch ein wenig müssen wir warten mit der künftigen Gewalt, mit der notwendigen Gewalt, mit der Gewalt, die zum Frieden führt, mit der Gewalt, die keinen Frieden bringt. Ist es überhaupt möglich, sich vom Prinzip oder vom Gesetz des quid pro quo weit genug zu entfernen von allen Versionen und Formen der talio (des lex talionis) 9 – a iure talionis, wie Kant schreibt –, vom quid und vom quo, vom Rechnen und Bezahlen? Die Rechnung des Selben, die Handlung der Vergeltung mit dem Selben oder Gleichem (getting even) müsste immer auf dieselbe Weise geführt werden. Der Gebrauch desselben Wortes (in einer homonymen Form) auf beiden Seiten des »Bindeglieds« pro in unterschiedlichen Sprachen entstellt den hebräischen Ausdruck ayin tahat ayin oder shen tahat shen (Auge um Auge, Zahn um Zahn). 10 In ihrer abendländischen, römischen ebenso wie byzantinischen Rezeption und Übersetzung hat dieses Syntagma ein Eigenleben gewonnen. In dieser Rezeption ist es keine Metapher des Auges oder des Zahns, es werden das Auge und der Zahn verstanden, die eben ausgeschlagen wurden, das Syntagma bezeichnet das Recht auf Vergeltung (Retribution), die ausgeführt wird, indem tatsächlich das zweite Auge ausgeschlagen wird, der Finger abgeschnitten wird, der Bruder erschlagen oder das Lamm geschlachtet wird. Die Worte werden zu vermeintlichen Metaphern des »Gleichgewichts«. Noch mehr »juristische« und »gesetzgebende« Phantasie ist notwendig, wenn in der weiteren Entwicklung dieses Prinzips der Raub mit der abgetrennten Hand, die Lüge mit der abgeschnittenen Zunge, Ehebruch oder Vergewaltigung mit weiteren Tötungen oder Siehe Philippe-Shlomo Assous: »œil pour œil […]«. Blessure d’un homme à son prochain dans la littérature rabbinique. »Ayin tahat ayin«. Paris, Safed 2003. – Pamela Barmash: Homicide in the biblical world. Cambridge 2005. 10 Leviticus 24, 20, oder oftalmon anti oftalmon (Septuaginta), vgl. auch Ex. 21, 21–25. 9
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Die bertragung des Krieges in Frieden: Mit Frieden vergelten
Verkrüppelungen gleichgesetzt werden. Später erscheinen immer interessantere Abstraktionen, etwa like for like, »Maß um Maß«, evil for evil, favour for favour – bis hin zu jenen Wendungen, die bedingt durch den unterschiedlichen Kasus die vermeintliche Gewohnheit der Gleichheit zu verraten scheinen, wie z. B. quid pro quo oder »Gleiches mit Gleichem vergelten«. Das Prinzip, das von einer erschreckenden Metonymie und einer wilden Unproportionalität zwischen den zwei Seiten durchdrungen ist und dementsprechend die Antwort auf das Böse um eine Nuance stärker und bösartiger ausfallen muss, finden wir in dem ostslawischen Syntagma vratiti milo za drago (»Gleiches mit Gleichem vergelten«, wörtlich »Teures mit Liebem vergelten«). Milo und drago sind zwei Worte, die nicht gleichbedeutend bzw. gleichwertig sind: zunächst sind es Synonyme, die aus einem gemeinsamen Bedeutungsreservoir hervorgehen (und aus ihm weitere Derivate bilden), das nahe verbunden ist mit Frieden und inniger Liebe. Die beiden Worte sind nicht gleichwertig, sie sind aber prinzipiell untrennbar und Elemente derselben Ebene (z. B. moje milo drago, »mir ist etwas lieb und teuer«). Milost (Gnade) bzw. seine Entsprechungen blagodat, blagost sind Worte, mit denen eine Schuld vergeben wird, Worte, mit denen der Abgefallene und Verlassene in die Gemeinschaft der einander Nahen und sich untereinander »Teuren« zurückkehrt. Die Worte milost oder milo bringen Frieden, ebenso beginnen Friede und Versöhnung mit einem Hinwenden und Ansprechen, mit dem Vokativ »Liebe … / Lieber …« (draga / dragi). Die Frieden bringende Kraft dieser Worte und ihre scharfe Trennung von Gewalt jeder Form findet sich in einem bekannten serbischen (sich reimendem) Syntagma: ili milom ili silom (»entweder mit Liebe oder mit Gewalt«). Keine Übersetzung der Form vratiti milo za drago (z. B. tit for tat, to return pleasure for dear) kann deshalb den Zynismus des Wortes milo bewahren, der impliziert, dass die Antwort (falls es überhaupt möglich ist, nach einem vollbrachten Übel, das hier mit dem Wort drago bezeichnet ist, zu antworten) zumindest ein wenig anders sein muss (gleich und doch verschieden – »synonym«) und zumindest ein wenig stärker als der Schlag. Mit demselben Maß dem Schlag gemäß zu antworten, zieht die Notwendigkeit nach sich, immer noch ein wenig stärker zu antworten. 11 Das Wort »schließt ein«, das hier die 11 Die Kraft der Antwort (oder der Vergeltung) auf die lesio verlängert die Zeit des Leidens am Schaden, so wie die Möglichkeit, eine vollständige restitutio zu erreichen
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leichte Störung in der Rechnung und in der Quantität der Gewalt, die vergolten wird, bezeichnet, spielt auf die Idee der Strafe an (auf Kants Widervergeltungsrecht). Es ist indessen notwendig, die kritische Störung in der Logik des Prinzips quid pro quo für die Findung einer Strafe – die besagt, dass auf Gewalt immer unverhältnismäßig stärker geantwortet werden muss, um wenigsten teilweise die Möglichkeit einer Antwort auf die Gewalt der Strafe selbst und die Möglichkeit einer Fortsetzung der Kette der Vergeltung zu unterbinden (so verhindern z. B. die Todesstrafe oder die lebenslängliche Strafe gänzlich eine Antwort auf jene Gewalt, durch die der Verurteilte bestraft wird), von jenem sanften Bruch des Prinzips quid pro quo zu unterscheiden, der durch die Zeit bedingt ist: zunächst durch das Andauern der Drohung mit Vergeltung (»ich werde Dir nicht nur milo za drago, ›Liebes mit Teurem‹ vergelten, ich werde Dir Gleiches mit Gleichem vergelten durch die Zeit Deiner Erwartung und Deiner Angst«) und darüber hinaus durch das Altern und das Vergessen des Ereignisses des drago (des »Teuren«) infolge eines neuerlichen Ereignisses des milo (des »Lieben«, vratiti milo za drago, »Liebes mit Teurem vergelten« bzw. dem drago ein milo hinzuzufügen, bedeutet, das drago durch das milo fort zu nehmen, aufzuheben oder auszulöschen; ich füge hinzu, um fortzunehmen, ich vergelte Dir, damit, dass meines das »Letzte« sei). Gerade aufgrund dieser von Beginn an kritischen und gleichzeitig hypokritischen 12 Gewalt an der Mathematik ist es notwendig, das Wort »für« (pro, anti, tahat … oder das Wort »gegen«) auch einmal ganz außerhalb dieses »ewigen Kontexts« zu denken, indem das (es ist unmöglich, in der Antwort die Zeit umzukehren und in den Zustand vor der Gewalt zurückzukehren; die Annullierung des Akts der Gewalt durch einen neuen Akt der Gewalt ist niemals ganz dem Maß entsprechend, weil sie einem neuen Kontext unterliegt). Wenn Kant über das jus indemnitatis spricht, gewiss unter dem Einfluss von Gottfried Achenwall, so fragt er nach dem Unterschied zwischen Quantität und Qualität und führt das Syntagma die Quantitas der Satisfactio ein. Im Rahmen des jus naturale belli ist die Analogie zwischen Krieg und militärischer Okupation und dem Duell und der Satisfaktion eines von Kants Verfahren, derer er sich bedient, um das jus praeventionis zu fundieren. Vgl. Sect: IV Jus naturale belli, De modis jus suum persequendi in Kants Vorträgen über das Naturrecht (auf der Grundlage der Aufzeichnungen von Feyerabend). – Kants gesammelte Schriften. Band XXVII. Kants Vorlesungen Band IV. Vorlesungen über Moralphilosophie, 2/2, Berlin 1979. 1372–1373. – Dieser Abschnitt, der im Jahr 1784 »gehalten« wurde, stellt die Quelle für Kants § 56 der Metaphysik der Sitten (1798) dar. 12 Hypokrinein bezeichnet eine annähernde Unterscheidung oder Teilung (hypokrineshai bedeutet auch »antworten«).
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Prinzip quid pro quo und die regulative Rechnungsführung dominieren. Konnte also von diesem kleinen Wort »für« –oder pro – jene hervorragende erste »Geste« der Suche nach Frieden auf dem Weg von Gewalt und Krieg angestoßen werden? Gehen aus diesem »Auftrag« alle anderen Gesten hervor, die auch vielen späteren, den Frieden denkenden, Texten ihr Fundament geben? Das Wort »Übertragung«, das in diesem Text dasselbe Register und die Anstrengung um den Frieden simuliert, ist deshalb geeignet, weil es einige Richtungen belegt, in denen pro eine Substitution bewirkt. Das lateinische pro bezieht sich im Gegensatz zum Wort contra (das statisch eine Distanz aufrechterhält) auf einen Fortschritt, ein Vorrücken, es schreitet durch seine semantische Umgebung, die auch Schutz und Verteidigung umfasst, paradoxerweise »zum Anderen« voran. Pro bewegt sich nach vorne, es wird nach vorne gedrängt, weil ein »Angriff« (ein Anlass) stattgefunden hat und sich etwas anderes in Bewegung gesetzt hat. Etwas hat sich ereignet und daraufhin erscheinen im Rückzug und in der Verteidigung die Relationen »für«, »deshalb«, »weil«, »deswegen« usf. Pro schreitet gezwungenermaßen und im Rückzug voran. Das hebräische tahat bezeichnet vor allem Ort und Raum. Tahat heißt »unten«, »vor«, »unterhalb von«. Das entscheidende Merkmal der Verwendung dieses Wortes im Hebräischen besänftigt auf gewisse Weise alles lateinische »Fortschreiten« und »Sich-Entfernen«. Tahat steht dort, wo eine Ersetzung (»anstelle von etwas«) und ein Transfer eines neuen »etwas« an die Stellen eines anderen stattfindet. Vratiti milo za drago (»Liebes mit Teurem / Gleiches mit Gleichem vergelten«) Wenn wir für einen Augenblick den Infinitiv oder den »Imperativ Futur« (»Ich werde dir vergelten«) beiseite lassen, die später dieses Syntagma ganz vereinnahmen und in ein geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz verwandelten, dann bezeichnet tahat eine Situation, in der etwas durch etwas anderes ersetzbar ist oder in der etwas, das jetzt, in diesem Augenblick anwesend ist oder das in Kürze anwesend sein wird, den Ort von etwas anderem einnehmen kann. »Das andere«, drago (»das Teure«) ist ersetzbar durch milo (»das Liebe«), bzw. es ist möglich, etwas einmal oder öfter zu ersetzen und daraufhin zu verankern, das früher hier, unten, unterhalb von etwas anderem (oder demselben) war. Insofern als wir mit den anderen beiden Worten »Übertragung« und »Substitution« simulieren, der Wir191 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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kung des Wortes tahat nachzuhelfen, wird, wenn wir diese wunderbare Operation des Ersetzens von drago durch milo »eröffnen«, die furchtbare Wahrheit offenbar, die im Kapitel Michpatim ausgesprochen ist (»Hand um Hand, yod tahat yod, Bein um Bein, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Zeichen um Zeichen, Leben um Leben oder Seele um Seele, nepesh tahat nepesh«), die Wahrheit, dass alles gleichwertig ist und dass es praktisch möglich ist, alles zu ersetzen (Gleiches mit Gleichem auszutreiben), dass nichts unersetzlich bzw. nicht rekompensierbar ist. Damit aber sieht diese ganze Konstruktion noch komplizierter aus. Schritt für Schritt könnte der Prozess des »Ersetzens« so aussehen: Das Ereignis, das mit drago bezeichnet wird, löscht den leeren Raum, das reine contra aus (Projekte des Friedens ersinnen ihren Ursprung und ihre Rechtfertigung oft am Ort dieser ursprünglichen Gegenüberstellung, zeitlich vor dem »Ereignis des Schlags«). Die Gewalt des Eintretens dieses drago in einen Raum hebt gleichzeitig die anfängliche friedenszeitliche Gemeinschaft von milo und drago auf; ein altes Lied, aus einem ganz anderen Register, beschreibt wie die Pest eine herzegowinische Stadt quält: »Als die Pest Mostar heimsuchte, Alt und Jung hinraffte und milo und drago verteilte (Kad morija Mostar morijaše / pa pomori i staro i mlado / i rastavi i milo i drago […])«. Demnach müsste milo das drago auslöschen, auf dass jenes verschwinde – ebenso wie das Gebot der Übersetzung in der Forderung besteht, dass diese das Original ganz in sich aufnimmt; daraufhin folgt das milo dem drago, in Raum und Zeit; das milo aber muss dem drago immer noch folgen; am Ende, wenn das milo dem drago endlich einholt und es beerbt – wird jede weitere Folge unterbrochen. Es ist unmöglich, die Reihenfolge dieser Bewegungen, die in einer Substitution enden müssten, stets in einer zeitlichen und räumlichen Sukzession, d. h. in einer Folge zu beschreiben. Das, was folgt, das, was jenes (das drago), das sich bereits ereignet und so die Folge in Gang gesetzt hat, erst verfolgen und einholen müsste, muss am Ende jede weitere Verfolgung aufgeben – jede neue Ebene oder jede neue Antwort oder einen neuen Austausch / eine neue Ersetzung. Nur in diesem Fall ist das Gebot vratiti milo za drago, »Gleiches mit Gleichem / Liebes mit Teurem vergelten« wirklich erfüllt. Aber mit diesem seltenen Fall berühren wir bereits die Konturen einer unauflösbaren Aporie. Falls wir wirklich »Gleiches mit Gleichem vergel192 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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ten«, so dass eine weitere Antwort oder eine weitere Folge nicht denkbar ist, und nicht einmal mehr die Möglichkeit eines neuerlichen Krieges 13 oder einer neuerlichen Drohung durch Gewalt besteht, so gibt es keinen Frieden und keine Befriedigung, keine Wahrheit, keine Genugtuung und keine Substitution, denn es ist ewiger Friede eingetreten. Obwohl die Frage, ob der ewige Friede überhaupt ein Friede ist, sehr aktuell sein kann, 14 ist dieses »Unmögliche« in der Wahrheit, im Friedens, in der Befriedigung und der Genugtuung und das »Unmögliche« in einer Substitution von viel größerer Bedeutung. Vielleicht ist also eine ganz andere Frage eher angebracht: »Wie kann man milo nicht mit drago vergelten?« In dem beschriebenen Prozess besteht eine entscheidende Lücke – vielleicht verbirgt sich eben an diesem Ort die Verantwortung für jenes »Unmögliche« – eine Richtungsänderung und eine Schwankung, die zwischen jenem, was eingetreten ist (dem drago), und jenem, das erst folgt (dem milo), situiert ist. Als sei ein bestimmtes zeit-räumliches Intervall notwendig, eine Pause, eine Reserve, bis sich jene Wendung vollzieht, die in das Wort pro eingeschrieben ist. Erst das Wort pro (tahat) bezeichnet den Abschluss und die Verbindung zwischen dem Ankommen und dem »Annehmen« eines Ereignisses, es verkündet, dass das milo erst noch folgen wird. Jenes erste, das ankündigen muss, dass die Antwort (das milo) folgen wird, dass die Folge folgt, ist die Folge der Annahme und Ansammlung (des Übrigbleibens) von Gewalt (des drago). Die Gewalt reserviert vor allem das Subjekt, sie 13 »Seuls les êtres capables de guerre peuvent s’élever à la paix«. – Lévinas: Totalité et Infini. A. a. O. 245. 14 Im letzten Interview für die Zeitschrift Le Monde, wenige Monate vor seinem Tod, spricht Derrida über Krieg und Unfriede, die sich in ihm selbst abspielen, und über den ewigen Frieden, der erst mit dem Tod kommen wird (müsste der Tod dem Register der gewaltsamen Ereignisse und der Gewalt angehören?). – Vgl. Vittorio Bufacchi: »Why is violence bad?« In: American Philosophical Quaterly. Vol. 41, no 2. April 2004. 170. – »Je suis en guerre contre moi-même, c’est vrai, vous ne pouvez pas savoir à quel point, au-delà de ce que vous devinez, et je dis des choses contradictoires, qui sont, disons, en tension réelle, et qui me construisent, me font vivre, et me feront mourir. Cette guerre, je la vois parfois comme une guerre terrifiante et pénible, mais en même temps je sais que c’est la vie. Je ne trouverai la paix que dans le repos éternel«. – Jacques Derrida: Apprendre à vivre enfin. Entretien avec Jean Birnbaum. Paris 2005. 49. – Diese Überlegungen von Derrida erinnern an einen wichtigen Brief von Edmund Husserl an Eugen Fink vom 6. 3. 1933 (aus Freiburg) über die Philosophen, die nicht wie die anderen Menschen leben können (»Wir können nicht leben wie andere Menschen […] wir haben den schlimmsten Feind in uns selbst«. – Edmund Husserl: Briefwechsel. Die Freiburger Schüler. Band IV, Dordrecht/Boston/London 1994. 90–92.
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überschüttet es und umwickelt es, wird zu seinem wesentlichen Gehalt und seiner Reserve. Als sei die Gewalt, die erfahren wurde und die (im Bösen) erinnert wird (und die zu Ende gegangen ist 15 ), die Bedingung für die Konstituierung des Subjekts (des Souveräns, der Souveränität, des Individuums, der Gemeinschaft usf.) mittels der Rückwendung zur Quelle dieser Gewalt und mittels der Rückkehr zum Anfang jener selben Gewalt, aus dem die Kraft gekommen ist […]. Oder: quid pro quo. Pro ist der Beweis, dass die Umlenkung der Kraft vollzogen ist, und dass die Vergeltung mit Gleichem erst noch folgt. Erst dann, erst wenn diese »Wendung« formuliert ist, folgt ein ganz gewöhnlicher Zeitabschnitt, in dem der Anfang der Vergeltung und die Rückkehr zur Quelle der Gewalt bereitet werden. Vratiti milo za drago, »Gleiches mit Gleichem / Liebes mit Teurem vergelten« impliziert also eine Umkehr und die Beschreibung desselben Wegs, auf dem die Gewalt gekommen ist, im Verlauf eines sehr präzisen Zeitabschnitts. Die Zeit der Rache wie die Zeit der Ansammlung der Drohung (der Vorabdrohung oder Prävention, der Übertreibung, des Erschreckens, des Ausharrens, aber auch der Vorbereitung und der Bewaffnung, oder, vielleicht vor all’ diesem, der Trauer) müsste unmittelbar auf die Zukunft bezogen sein, diese Zeit müsste sich mit jener Zeit decken (und ihr analog sein), die notwendig ist, damit ein Projekt als (Friedens-)Projekt gilt. Die Annahme ist also, dass simultan zu der Zeit (oder der Reserve an Zeit), die in dem Moment zu laufen beginnt, in dem das pro die Folge der Antwort oder der Rache angestoßen hat, eine Zeit der Projektion (projectio, pro – jacere, vorauswerfen) und des Friedensversprechens beginnt. Diese Annahme impliziert keine Rechnung und beschäftigt sich nicht mit der Menge der Zeit, der Zahl der Stunden, Monate und Stunden, die notwendig sind zum Abschluss dieser analogen Prozesse. Es geht um die Frist, die notwendig ist, um auf Gewalt zu antworten, oder um die Frist, in der überhaupt auf Gewalt durch Gewalt geantwortet werden kann. Die Hypothese lautet dann, dass diese Periode eben solange währt wie die Zeit der Pazifikation, die ein Friedensprojekt (einen Aufruf, ein Gesetz, ein Vertrag, ein Archiv usf.) verwirklicht. Die Gewalt (das drago) ist zeitlich abgeschlossen, die Vergeltung (das milo) erneuert sie und jene bleibt. Wer vergilt, kann nicht alles vergelten. – »Wer Gutes mit Bösem (raah tahat tovah) vergilt, wird das Böse nicht aus seinem Haus vertreiben«. – Sprüche Salomos 17, 13. – »R. Simon sagt: Nicht nur der, der Gutes mit Bösem vergilt, sondern auch jener, der Böses mit Bösem vergilt, wird das Böse nicht aus seinem Haus austreiben«. – Midrasch Bereschith Rabbah 38, 3.
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Mit anderen Worten, die Herausforderung (pro-vocatio) des Friedens oder das Herbeirufen des Friedens oder das Denken des Friedens können nur in dieser zeitlichen Periode bestehen oder auftreten, sie können sich auf verschiedene Weise manifestieren und werden doch mit einem Misserfolg enden (es ist unmöglich milo mit drago zu vergelten und gleichzeitig die künftige Gewalt zu unterbrechen; die Fundierung eines auf Stärke begründeten Gesetzes kann die Gesetzlosigkeit und die Gewalt nicht verlassen; der Vertrag muss notwendigerweise gebrochen werden, denn er gleicht ungleiche Kräfte und Seiten aneinander an; ein Kompromiss muss verfallen, denn er ist gegründet auf den Versprechen jener Seiten, die älter werden, usf.). Die Schwierigkeit besteht nicht nur in der Inkorporation des Prinzips quid pro quo in jedes Denken über den Frieden, d. h. in der Einführung des »nichtübertragbaren Krieges« in jede mögliche Übersetzung oder Transformation des Krieges in Frieden. 16 Viel bedeutender ist der Zwang, mit dem die Konstitution des Subjekts beginnt – das Subjekt ist ein Subjekt, weil es durch Gewalt gebeugt (initiiert, provoziert) ist, weil es durch Gewalt gezeichnet, geöffnet und verschlossen ist, weil es Schmerz empfindet, weil es Schaden erlitten hat, weil es antwortet und reagiert (in diesem Fall auf die Gewalt) die ein Orientierungspunkt für seine Exposition ist. Der Zwang aber, dass das Subjekt etwas tun muss, dass es sich engagieren muss, damit Frieden wirklich existiert, erweist sich in Wirklichkeit als Verleumdung, als Aufschub, als Verschieben, als ein Sammeln von Zeit – als Zeitverlust. Kurzum, das Subjekt antwortet noch immer nicht auf die Gewalt – es wird erst nachträglich antworten, und dies erst, nachdem es zuerst zum Frieden eingeladen hat und das Wort Frieden ausgesprochen hat. 17 16 In den Aufzeichnungen, die wahrscheinlich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben sind und die in dem Text mit dem Titel Überwindung der Metaphysik gesammelt sind (in Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Stuttgart 1954. 89), beschreibt Heidegger eine neue Kriegszeit, die die Folge der Weltkriege sei. Im Fragment, das ich zitiere, ist impliziert, dass er glaubt, es sei einst möglich gewesen, den Krieg in Frieden zu übertragen und gänzlich zu beenden, während sich heute der Krieg fortsetze und im Frieden andauere: »Die Frage, wann Frieden sein wird, läßt sich nicht beantworten, weil die Dauer des Krieges unabsehbar ist, sondern weil schon die Frage nach etwas frägt, das es nicht mehr gibt, da auch schon der Krieg nichts mehr ist, was auf einen Frieden auslaufen könnte«. 17 Das, was auf den bekanntesten Aufruf zum Frieden folgt (und auf das Friedenangebot), der einst und bis heute ausgesprochen und auferlegt ist, ist in jedem Fall ein gewaltsamer Akt, der den Frieden wiederherstellt. Er wird entweder auf dem Weg von
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Warum aber sind Krieg und Gewalt etwas, das schon immer gegeben ist, während der Frieden sich »institutionalisieren«, »statuieren« oder »restituieren« muss? Warum fällt der Frieden nicht vom Himmel? »Was ist der Friede? Was sagen wir, wenn wir ›Frieden‹ sagen? Was bedeutet »in Frieden mit jemand stehen« / être en paix avec / – mit einem anderen, einer Gruppe, einem Staat, einer Nation, mit sich selbst wie mit einem anderen / soi-même comme un autre /? […] Urteilt man etwa mit Kant, dass in der Natur alles mit dem Krieg beginnt, dann gehen daraus wenigstens zwei Konsequenzen hervor: 1. Der Friede ist kein natürliches Phänomen mehr, nicht mehr symmetrisch und dem Krieg einfach gegenüberstellbar: Der Frieden ist ein Phänomen unserer Ordnung und nicht von natürlicher, sondern von institutioneller Natur (also von politisch-juristischer Natur) / de nature non naturelle mais institutionnelle /. 2. Der Friede ist nicht einfach das Aufhören der Hostilität, der Enthaltung von Kriegsführung, des Waffenstillstands / l’abstention de faire la guerre ou l’armistice /; der Friede muss gestiftet / instituée / werden als ununterbrochener Friede / paix perpétuelle /, als Versprechen ewigen Friedens / paix éternelle /. […]
Kants occupatio bellica (vgl. Die Vorlesungen aus dem Jahr 1784) oder auf dem Weg der schrecklichmöglichsten Vernichtung erlangt. – »Wenn du einer Stadt nahst, sie zu bekriegen, rufe sie an: Zum Frieden! / Es soll geschehn, antwortet sie dir: Frieden! sie öffnet dir … Befriedet sie sich dir aber nicht/ (…) sollst das Plündergut deiner Feinde genießen, das Er dein Gott dir gibt« (Deut. 20,11). – Das, was auf diesen Aufruf zum Frieden folgt (es bedarf einer grenzenlosen Fertigkeit, damit wir alle Gebote der Vernichtung vergessen) und das, was dem Wort Frieden (le-sheloim) vorausgeht – die Absicht, Krieg zu führen, sich zu schlagen (le-hilohem) – umkreisen und verkürzen die Zeit des Ultimatums (die Zeit des Friedens). Der Absicht, Krieg zu führen, geht indessen der Feind (ojev) voraus, der uns schändet. Samuel David Luzzato schreibt: »Das Wort Feind (ojev) bezieht sich nur auf jenen, der uns schändet; das heißt, die Schrift spricht nur von einem Eindringling der unsere Grenzen übertritt, um unser Land zu nehmen und uns zu verderben. Dann müssen wir gegen ihn Krieg führen, nachdem wir ihm Frieden angeboten haben«. – Den Kommentar von Samuel David Luzzato zum Vers 20,10 übernehme ich aus Michael Walzers Text War and Peace in the Jewish Tradition. In: Terry Nardin (Hg.): The Ethics of War and Peace. Princeton 1996. 101. – Diesen Abschnitt hat Menachem Lorberbaum ins Englische übersetzt. – Vgl. auch Aviezer Ravitzky: La pensée halakhique a-t-elle développé la notion de »guerre interdite«?/La paix. In: Pardès. Guerre et paix dans le judaïsme. No 36 2004. 125, 129, 244.
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Kant erlaubt nur den Schluss, dass es keinen natürlichen Frieden / paix naturelle / gibt, und dass – wie er gleich darauf sagt – der Friedenszustand »gestiftet« / institué, fondé / werden muss. […] Kant fährt fort: ›Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturstand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden; denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür, und ohne daß sie einem Nachbar von dem andern geleistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln‹. 18 « Unberücksichtigt bleiben muss die äußerst komplizierte Frage, ob Kant und Kants bekannte »Gesten« zum ewigen Frieden wirklich etwas zu suchen haben auf dem langen und immer unbekannten Weg zum Heiligen Land, auf den sich vor fast tausend Jahren Jehuda Halevi gemacht hat. Einige Fragmente von Immanuel Kant, die Derrida zitiert, und eines seiner geliebten Worte, »stiften« (gleichsam ein deutsches Analogon zu dem für Derridas wichtigen Wort »Institution«), erscheinen in seinem Buch des Abschieds (in dem sich Jacques Derrida von Emmanuel Lévinas verabschiedet) gerade in jenem Augenblick, in dem sich der Text nach Jerusalem bewegt, in dem der Weg zum Frieden 19 offen ist; der Weg nach Israel, auf dem verschiedene gefährliche Irrwege drohen. Kant wird in den Text eingeführt, weil Derrida mit »Kant« die Analyse leichter vermeiden und vorsichtiger umgehen, und die schweren Worte der Kritik einiger Abschnitte von Lévinas verschweigen kann, die sich auf Israel beziehen. 20 All das, was Derrida in den Seminaren und im Verlauf der Präsentation 18 Ich zitiere hier das Original von Immanuel Kant. Die Übersetzung von Jacques Derrida lautet: »L’état de paix doit donc être institué; car l’abstenir d’hostilités ce n’est pas encore s’assurer la paix et, sauf si celle-ci est garantie entre voisins (ce qui ne peut se produire que dans un état légal, chacun peut traiter en ennemi celui qu’il a exhorté à cette fin«. Der letzte Abschnitt, in dem Jacques Derrida Kant zitiert (Zum ewigen Frieden), ist verderbt (er enthält einen Fehler im Artikel, es heißt er muss statt es muss). – Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Kants gesammelte Schriften, Band VIII. Berlin 1923. 349. – Jacques Derrida: Adieu, à Emmanuel Lévinas. Paris, Galilée 1997. 152, 154, 157, 158 [Dt. von P. Bojanic]. 19 Vgl. Catherine Chalier: De l’intranquillité de l’âme. Paris 1999. 131. 20 Ich zitiere einige (für diesen Text) bedeutsame Fragmente aus dem Gespräch von E. Lévinas mit A. Finkielkraut und S. Malka anlässlich der Tragödie von Sabra und Schatila, das am 28. September 1982 im Radio-Communauté gesendet wurde (ver-
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seiner »Abschiede« von Lévinas systematisch besprochen hat, ist in einem seiner letzten öffentlichen Auftritte – ganz in Kants Sinne – gedrängt ausgedrückt. Bevor wir also versuchen, in Kürze jene »Geste« zu skizzieren, die Kant und Derrida in der Tat gemeinsam sein könnte, und bevor wir neuerlich »nach Jerusalem zurückkehren, ein Jahr nach der séparation de séparation«, 21 nach dem Tod von Jacques Derrida, führen wir zunächst jene Passage an, in denen sich Europa erneut, wahrscheinlich gänzlich unerwartet, darauf vorbereitet, den Vereinigten Staaten »drago mit milo / Gleiches mit Gleichem zu vergelten«. Und nicht nur ihnen. Es geht nicht darum, sich die Konstituierung eines Europa zu wünschen, das zu einer anderen militärischen Supermacht / superpuissance / wird, die ihren Markt verteidigt und ein Gegengewicht zu den anderen Blocks bildet, sondern um ein Europa, das den Samen für eine neue alterglobalistische Politik / politique altermondialiste / säht. So sieht für mich der einzigmögliche Ausweg aus. Diese Kraft öffentlicht in der Zeitschrift Nouveaux Cahiers 71, 1983), und das Derrida in seinen Seminaren nicht erwähnt hat. »Se réclamer de ›l’holocauste‹ pour dire que Dieu est avec nous en toutes circonstances, est aussi odieux que la ›Gott mit uns‹ qui figurait sur les ceinturons des bourreaux. Je ne crois pas du tout que la responsabilité ait des limites, que la responsabilité en »moi« ait des limites. Le moi, je le répète, n’est jamais quitte envers autrui. Mais je pense, et il faut aussi le dire, que tous ceux qui nous attaquent d’une manière si hargneuse n’y ont pas droit et que, par conséquent, il y a certainement à côté de ce sentiment de responsabilité illimitée une place pour une défense, car il ne s’agit pas toujours de »moi« mais de mes proches qui sont mes prochains. A cette défense je donne le nom de politique, mais de politique éthiquement nécessaire« (S. 3). »Pour moi, le sionisme est là. Il signifie un Etat au sens complet du terme, un Etat avec une armée et des armes, une armée qui puisse avoir une signification dissuasive, et s’il le faut, défensive. Sa nécessité est éthique: c’est en effet, une vieille idée éthique qui commande précisément de défendre nos prochains. Mon peuple et mes proches, ce sont encore mes prochains« (S. 4). »Ma définition de l’autre est tout à fait différente. L’autre, c’est le prochain, pas nécessairement le proche, mais le proche aussi. Et dans ce sens-là, étant pour l’autre, vous êtes pour le prochain. Mais si votre prochain attaque un autre prochain ou est injuste avec lui, que pouvez-vous faire? Là, l’altérité prend un autre caractère, là, dans altérité peut apparaître un ennemi, ou du moins là se pose le problème de savoir qui a raison et qui a tort, qui est juste et qui est injuste. Il y a des gens qui ont tort« (S. 5). Das Paar »Naher-Nächster« verwandelt der Übersetzer im Englischen auf brutale Weise in neighbor / kin (»The other is the neighbor, who is not necessarily kin, but who can be«). – Ethics and Politics. In: Sean Hand (Hg.): The Levinas Reader. Oxford 1989. 294. 21 »Rendons-nous à Jérusalem, un an après cette séparation de séparation, depuis la mort d’Emmanuel Lévinas«. – Jacques Derrida: Adieu. A. a. O. 177.
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ist schon in Bewegung / cette force est en marche /. Auch wenn ihre Motive / motifs / noch verworren sind, glaube ich, dass nichts sie aufhalten kann. Wenn ich Europa sage, meine ich dies: ein alterglobalistisches Europa, das das Konzept und die Praktiken der Souveränität und des Völkerrechts transformiert. Über eine beträchtliche militärische Gewalt / force armée / verfügend, die unabhängig von der NATO und den Vereinigten Staaten ist, über eine militärische Kraft / puissance militaire /, die weder offensiv, noch defensiv, noch präventiv im Dienst der schließlich von einer neuen UN respektierten Resolutionen ohne Aufschub intervenieren wird / interviendrait sans tarder / (z. B. und besonders dringlich / de toute urgence / in Israel, aber auch anderswo).22 Am Ende kann also nichts den eiligen und schnellen Weg eines neuen und eines anderen Europa nach Jerusalem aufhalten. Dieses Testament von Derrida (er selbst zeugt von dem, was wir schon immer nicht wissen oder was wir nicht gewusst haben, was uns aber definitiv verpflichtet), diese testamentarische Bewegung zum Frieden, die mehr ist als eine Einladung und die auf dem Weg ist, gänzlich institutionalisiert und fundamentiert zu werden, muss sofort und zuerst in Israel beginnen. Was bedeutet es, Frieden in Israel zu institutionalisieren? Was heißt es, Frieden zu institutionalisieren (zu stiften)? Was bedeutet es, dass der Friede institutionalisiert werden muss – l’état de paix doit donc être »institué« (fondé, gestiftet) –, dass der Friede garantiert und versichert werden muss? 23 Ist es heute – mehr als 200 Jahre nach Kants Fragen (und Kants Antworten, die die Gewalt niemals ausschließen 24 ) – möglich, der Kraft seiner FiktiJacques Derrida: Apprendre à vivre enfin. 43–44. Kant verwendet im Fragment, das Derrida übersetzt und zitiert, das Wort Sicherheit. – »Denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür«. 24 Kant nimmt die Worte stiften oder gestiftet erst im letzten Lebensjahrzehnt in häufigen Gebrauch. Stiften impliziert ohne jeden Zweifel Gewalt. Kant glaubt – und manifestiert seine Überzeugung an vielen Stellen klar (einige Male in den Aufzeichnungen aus dem Nachlass) –, dass durch Gewalt etwas etabliert bzw. institutionalisiert werden kann. Der Akt der Gewalt ist der inaugurale Akt jeder Etablierung, auch der Etablierung des Friedens. Vgl. z. B. den § 55 der Metaphysik der Moral, der mit dem Ausdruck der Hoffnung beginnt, dass es möglich ist, »etwa einen dem rechtlichen sich annähernden Zustand zu stiften«. In den Vorlesungen des Wintersemesters 1793/1794, die Johann Friedrich Vigilantius zum Druck vorbereitet hat (Metaphysik der Sitten Vigilantius), ist Kant sehr bestimmt: »[…] dass ohne Gewalt kein Recht gestiftet werden kann, so muss dem Recht die Gewalt vorausgehen, statt dessen der Regel nach das Recht die Gewalt begründet muss. An nehme Menschen in statu naturali, sie sind ex leges, in keinem rechtlichen Zustande, sie haben keine Gesetze, noch äußerliche Gewalt, die sie 22 23
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on vom Frieden nur Eile hinzuzufügen, auf dass sie möglichst schnell ins Heilige Land gelangen? Und in welchem Maße hatte Kant diesen unbekannten Weg bereits nicht mehr im Blick? Und können wir Kants imaginärem Staatenbund, der praktisch auf wenige der mächtigsten europäischen Staaten begrenzt war, nach so vielen Jahren noch einige neue Staaten hinzufügen? Den Frieden herzustellen heißt nicht (als kenne Derrida im Unterschied zu Kant keinen einzigen Vorbehalt), sich unendlich von der Feindschaft fernzuhalten, von der Gewalt, von der »Vergeltung des milo durch das drago«. Für Kant ist es völlig unausreichend und offensichtlich unannehmbar, dass z. B. die Einladung zum Frieden und das Friedensangebot vor den Toren jeder beliebigen feindlichen Stadt unendlich dauern und Rache und Begleichung der Schuld ewig aufgeschoben werden. »Gestiftet« impliziert zuallererst eine Gemeinschaft, eine gemeinsame Mobilisierung und eine Versammlung der Kraft oder der Gewalt aller. 25 Eine wahrhaftige, kriegerische Kraft zu besitzen, bedeutet, all das, was auf Gewalt antworten, aber auch Gewalt produzieren kann, an einem Ort zu versammeln – in einem Reservoir, unter einer Aufsicht, unter einem Kommando, in der Reserve. Diese ideale Reserve oder ideale Instanz oder dieses ideale Archiv der Kraft – Derrida nennt sie militärische Kraft oder Gewalt –ist »weder offensiv noch defensiv noch präventiv« (ni offensive, ni défensive, ni préventive). Auf welche Weise kann diese Kraft kriegerisch sein, wenn sie nichts von diesem ist? Was bleibt dieser reinen Kraft, damit sie auch weiter kriegerisch, bewaffnet bleibt? Erst mit dieser unwahrscheinlichen Beschreibung der Gewalt, die notwendig ist, damit Frieden gestiftet wird, erhält Derridas »Geste« eine eigene Nuance und einen Unterschied im Vergleich zu Kant. Wenn er das in den letzten Jahren sehr populäre Wort »präventiv« (preventive war, preemptive attack) ausspricht, hält Derrida wiederum Schritt mit dem deutschen Philosophen. Kants und sein ius praeventionis (das ihm nicht allein gehört), das im bereits erwähnten § 56 der Metaphysik der Sitten erscheint, werden gerade deshalb eingeführt, um die »Zeit« der Antwort auf die Gewalt zu verkürzen. Gestifteter Friede stellt gerade die Positionierung jener Art von Gewalt aufrecht erhält«. – Immanuel Kant: Kants gesammelte Schriften Band XXVII. Kants Vorlesungen Band IV. Vorlesungen über Moralphilosophie, 2/1. Berlin 1975. 515. 25 Es ist interessant, Derridas Variationen und Definitionen in der Verwendung der Begriffe force und puissance zu beobachten.
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dar, die in der Lage ist, künftige Gewalt bzw. künftigen Schaden zu verhindern oder ihnen zuvorzukommen. 26 Es reicht nicht aus, sofort auf jemands Unrecht oder Gewalt zu antworten, oder sofort zurückzugeben oder »auf Zeit« zurückzugeben oder in der Frist zurückzugeben – es ist wichtig, vor der Zeit – before the time(s) – zurückzugeben. Diese »Zeit vor der Zeit« stellt die Institution des »präventiven Rechts« sicher. Der die laesio anfängt, ist agressor, der die hostilitaet anfängt ist nicht immer agressor, denn in bello hat laesus jus praeventionis, das Recht, die erste Hostilitaet zu thun. 27 Kant fährt fort: »Melius est praevenire quam praeveniri ist die Regel der Klugheit. Juridice ist defensio Krieg, bellum Laesi contra laedentum, und der laedens contra laesum fürht Offensionskrieg. Im militärischen Verstande ist der defensiv, der nicht die erste hostilitaet anfängt, und der andre offensiv. Der laesus hat ausser dem Recht, restitutionem zu fordern, noch ein Recht possendi securitatem, de non laedendo in futurum, denn der Laedens ist laesionem intentans, bis er Sicherheit gestellt hat«. 28 Auf diese Weise hebt das Präventive den Unterschied zwischen Defensivem und Offensivem auf und überwindet beide. Es ist besser, zuvorzukommen als zuvorgekommen zu werden, sagt Kant. An der Stelle von quid pro quo ist deshalb besser, schneller und schlauer: quid ante quid. Rechtlich betrachtet, erklärt Kant seine Haltung, geht es wirklich um ein »Zurückgeben« und eine »Antwort« auf die Gewalt, die gleichsam schon gegeben ist; indessen ist dies im militärischen Sinn, den auch Derrida erwähnt, kein Zurückgeben, sondern ein Geben, ein Gewalt-Antun vor der
26 Stiften bedeutet »im voraus festlegen«, »durch Verhinderung erzwingen«. In seinen Grundlagen des Naturrechts drückt Fichte völliges Einverständnis mit Kant aus: »Mit den Behauptungen Kants, dass der Friedens- oder rechtsgemässe Zustand unter den Menschen kein Naturstand sey, sondern gestiftet werden müsse; dass man das Recht habe, auch den, der uns noch nicht angegriffen, zu nöthigen, dass er durch Unterwerfung unter die Gewalt der Obrigkeit uns die erforderliche Sicherheit leiste, stimmt unsere Theorie vollkommen überein, und jene Sätze sind in derselben auf die gleiche Weise, wie bei Kant, erwiesen worden«. – Johann Gottlieb Fichte, in: Johann Gottlieb Fichte (Hg.): Grundlage des Naturrechts. Sämtliche Werke, Band III. Berlin 1845/1846 (1971). 14. 27 Immanuel Kant: Kants gesammelte Schriften, Band XXVII. Kants Vorlesungen Band IV. Vorlesungen über Moralphilosophie, 2/2. A. a. O. 1373. 28 Dies ist ein Teil eines magischen Abschnitts von Kant, der in deutsch-lateinischer Sprache geschrieben ist und den wir an anderer Stelle des Textes analysieren.
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Gewalt selbst (mit der Ausrede, dass dies dieselbe Gewalt verhindert). Wenn alle diese Gedanken Kants aus dem Jahr 1784 über das ius praeventionis, über die Okupation und die Intervention, über den Krieg und die (nicht)-reziproke Feindschaft fünfzehn Jahre später auf dem Weg der immer unbekannten Analogie 29 in den Raum des internationalen Rechts hinüberführen (in die Schrift Über den ewigen Frieden oder in die Metaphysik der Moral), ist ihre Teilhabe an der Institutionalisierung des Friedens unumgänglich. Damit ein ununterbrochener Frieden gesichert und gestiftet wird (damit also Vertragsbruch, Verrat oder eine Veränderung des Kräfteverhältnisses verhindert werden), entwickelt Kant, mit einigen bedeutsamen Veränderungen, die Idee von Friedrich dem Großen weiter, dass sich alle souveränen Staaten zum Staatenbund dauerhaft gegen einen eventuellen Staat oder einen eventuellen Friedensbrecher zusammenschließen. Der Frieden ist also (rechtspolitisch) dadurch fundiert, dass jeder, nachdem er sich verpflichtet hat, den anderen Sicherheit zu geben (ihn also in Frieden und ohne Sorge zu lassen) und dafür im Gegenzug dieselbe Sicherheit erhalten hat, damit rechnet, dass ein Rückzug von dieser Sicherheit (oder ihre Aufhebung) nach sich zieht, dass alle anderen gegen ihn sind. Das Prinzip, dass »alle zusammen gegen einen« sind, wird nicht dadurch erreicht, dass jeder mit jedem einen Nichtangriffsvertrag unterzeichnet, sondern dadurch, dass die Zugehörigkeit zur Ganzheit (zur Gemeinschaft aller Staaten) a priori bedingt, dass ein Bruch mit nur einem Teil dieser Ganzheit (z. B. eine Kriegserklärung an einen benachbarten Staat) den Krieg mit allen anderen nach sich zieht. Die Möglichkeit, dass sich einer aus der Gemeinschaft ausschließt, oder dass einer in jedem Augenblick aus ihr ausgeschlossen wird, die Möglichkeit, dass einem »milo mit drago / Liebes mit Teurem vergolten« wird, von allen Seiten sofort oder vor der Zeit, ist eine der wichtigsten Säulen einer solche Institutionalisierung des Friedens. Natürlich wird diese Säule zugleich jener schwächste Punkt sein, an dem die Institution des Friedens immer erschüttert wird. Den »Ausschluss«, insbesondere den Ausschluss einer Minderheit, von Besiegten oder Toten, den »Ausschluss« als einzigen und ebenso konstitutiven Hebel jeder Demokratie und jeder Nachzählung und Übereinkunft (oder Substituierung oder Übertragung) muss man vielleicht – mit großer Vorsicht – jenem gewalt29
Siehe Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen. Frankfurt a. M. 2004. 133.
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samen »Element« zuschreiben, das jede Institutionalisierung und deshalb auch die Institutionalisierung des Friedens notwendig voraussetzt. Aber kehren wir zunächst für einen Augenblick zu Derrida und seiner »reinen« Kraft zurück. Vielleicht wird es vollkommen ausreichen, das zu erwähnen und aufzuzählen, was übrig bleibt und was vielleicht zwangsläufig nicht gezählt wird, um zu sehen, wie und an welchen Orten jede Konstruktion des Friedens zittert: Zu beginnen wäre mit Kants Notiz über die Feinde und den Ausschluss jener, die den Frieden nicht institutionalisieren (Derrida hat diese Notiz aus seiner Betrachtung ausgeschlossen, obwohl sie sich im Anschluss an ein Fragment befindet, das er vollständig zitiert). 30 Daraufhin wäre es zweifellos interessant, über Derridas zitternde Hand zu sprechen, die in zu großer Eile ist auf den Weg ins Heilige Land. Warum ist die europäische kriegerische Kraft vor den Toren Israels? Ist Israel in Europa? Hat Israel seine Kraft mit der europäischen vereinigt? Warum ist Israel außerhalb Europas und warum ist es ausgeschlossen? Es wäre notwendig, sich dem Problem anzunähern, ob die Gewalt ausschließt oder ob durch Gewalt ausgeschlossen wird, was uns zu unendlich wichtigen Diskussionen über Kants vermeintliche Verteidigung der kriegerischen Intervention und der Einmischung in die Souveränität eines anderen Staates führt. Alle Interventionen, die sich in den letzten Jahren ereignet haben, betrafen tatsächlich und gänzlich – im Geiste Kants – jene Staaten, denen das Charakteristikum der Staatlichkeit verloren gegangen war, in denen es zu fatalen 30 Ich zitiere den Anfang dieser langen Anmerkung, die deshalb bedeutsam ist, weil Kant in ihr die Idee vom ungerechten Feind, die er wahrscheinlich von Vattel übernimmt, erneuert und bewusst unterstützt: »Gemeiniglich nimmt man an, daß man gegen Niemand feindlich verfahren dürfe, als nur wenn er mich schon thätig lädirt hat, und das ist auch ganz richtig, wenn beide im bürgerlich-gesetzlichen Zustande sind. Denn dadurch, daß dieser in denselben getreten ist, leistet er jenem (vermittelst der Obrigkeit, welche über Beide Gewalt hat) die erforderliche Sicherheit. Der Mensch aber (oder das Volk) im bloßen Naturstande benimmt mir diese Sicherheit und lädirt mich schon durch eben diesen Zustand, indem er neben mir ist, obgleich nicht thätig (facto), doch durch die Gesetzlosigkeit seines Zustandes (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht werde, und ich kann ihn nöthigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen. Das Postulat also, was allen folgenden Artikeln zum Grunde liegt, ist: Alle Menschen, die auf einander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören«. – Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. A. a. O. 349.
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Problemen mit der eigenen Souveränität gekommen war, und die das Monopol der Gewalt über die Territorien, die sie de jure umfassten, verloren (oder nie besessen) hatten. Es ist unumgänglich, dass die Strategien des Ausschlusses uns zum kardinalen und letzten Fall führen, der auf paradoxe Weise Kants komplette Friedenskonstruktion auslöscht und vielleicht von der Seite der Souveränität die Türen für eine neue Institution des Friedens eröffnet: die Erscheinung des Staates (oder einer Gruppe verbundener Staaten), die alle übrigen Staaten nicht überwinden können, und die alle bestehenden Verträge und die bisherigen Verfahren bei der Suche nach Frieden auslöscht. Kehren wir erneut dringlich – de toute urgence – vor die Tore Israels zurück. Alles, was leider unverbesserlich und erschütternd ist in Derridas Suche nach einer Kraft (oder Stärke), die »weder offensiv, noch defensiv, noch präventiv« (ni offensive, ni défensive, ni préventive) ist, ist dadurch begrenzt, dass es um eine kriegerische Intervention geht. 31 Derrida verringert die Zeit »von drago zu milo« und erfindet eine ideale Instanz, die gleichwohl eine gewisse Gewalt initiiert, eine Instanz jedoch, die weder dem Prinzip quid pro quo noch dem Prinzip quid ante quid ganz und gar untergeordnet ist. Diese Stärke (oder Kraft) ist schneller als jede denkbare Gestalt des quid pro quo (sie wartet auf nichts, kommt nicht zu spät, ist eilig und überlässt nichts der Zeit); zugleich aber ist diese Stärke (diese Kraft) langsamer als jede mögliche Gewalt quid ante quid. Die Kraft, die sich ereignen muss, die irgendwohin kommen muss – zuerst nach Israel, dann auch anderswohin – antwortet auf die Gewalt, aber so, als ob sie gleichzeitig nicht auf die Gewalt antworte, und ist deshalb weder eine Kraft der Strafe noch eine Kraft der Rache, wie sie auch nicht mehr präventiv ist. Vielleicht bestand in diesem Abschnitt von Derrida die Chance, dass sich jene schnellstmögliche Intervention, die schnellstmögliche Antwort, die keine Antwort ist, die schnellste und unmögliche Intervention, die Frieden bringt, reinigt, nicht nur von jeder Art einer neu-europäischen Uniform, von Waffen, sondern Wie können wir heute, im Kontext von Derridas Vertrauen in den politischen Frieden und die Kraft des neuen Europa, im Kontext der Ohnmacht und der Zurückhaltung des »alten« Europa einen der wichtigsten Texte über den Frieden lesen (der vor mehr als 20 Jahren verfasst wurde, und der über die Müdigkeit Europas (Une fatigue de l’Europe!) spricht und eine eilige Suche nach einem neuen, auf Liebe gegründeten Frieden findet? – Paix et proximité. In: Emmanuel Lévinas: Altérité et transcendance. Paris, Fata Morgana 1995. 138–150).
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von jeder möglichen Kraft oder Stärke. Ist also Frieden möglich, ist eine Intervention möglich, die einen Frieden nach Israel bringt (nicht nur nach Israel), der wirklich vom Himmel fällt und der nicht das Projektil eines Friedens ist? Ist es möglich »Gleiches mit Frieden zu vergelten« (vratiti mirno za drago, wörtlich: »Teures mit Frieden zu vergelten«)? Was aber geschieht, wenn jenes drago, das der Gewalt und der Vergeltung durch das milo vorangeht, die Gewalt des drago und die Gewalt »des Anderen« (im Serbokroatischen drugo) tatsächlich drago (»teuer«), d. h. gutwillig und mir wohlgesonnen sind? Feindesliebe Von eh warst Du der liebe Himmelsveste, mein Lieben nistete bei Dir im Neste. Scheltworte meines Feinds, sie freun mich Deinethalb; Lass ihn – sein Druck presst, den dein Druck längst presste. Es lernte Deinen Grimm der Feind: drum lieb ich ihn; denn seine Faust trifft Deines Schlags Gebreste. Verwarfst du mich, den Tag verwarf ich selber mich, wie gönnt’ ich dem, den Du verwarfst, das Beste! Bis einst dein Groll vergeht und Du Erlösung schickst Des einst von Dir erlösten Erbes Reste. 32 Alles was jetzt möglich ist – Franz Rosenzweig bzw. der hebräischen Sprache (in der Jehuda Halevi diese Hymne verfasst hat) treu bleibend – wäre eventuell, all das zu klassifizieren und für einen Augenblick zu gruppieren, was die absolute Unmöglichkeit einer Übersetzung, der Herstellung einer »originalen« Übersetzung, der »Feindesliebe«, des Friedens, usf. ausmacht und bestimmt. Zählen wir also einige unüberbrückbare Schwierigkeiten auf, einige Elemente, die bei der Übersetzung (bei der Skizze einer Übersetzung), in Rosenzweigs Kommentar, der als Marginalie zu diesem Text geschrieben ist und schließlich in Halevis Wortwahl sowie in seinen Amphibologien unlösbare Probleme eröffnet; bezeichnen wir diese »Reserve« des Textes – der abwesend ist, obgleich er seinen zehn Zeilen angehört und 32 Jehuda Halevi: Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte. In: Franz Rosenzweig: Gesammelte Schriften IV. Hague, Boston, Lancaster. 1983. 183. Das hebräische Original befindet sich auf derselben Seite 183.
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obgleich er verkündet wird –, um uns am Ende länger mit dem sechsten Vers zu beschäftigen, genauer mit der Korrektur (oder der Skizze einer Korrektur) in Franz Rosenzweigs Übersetzung des sechsten Verses, die zwischen der ersten und zweiten Ausgabe des Werkes stattfand. Die Hingabe von Franz Rosenzweig ist eine zweifache, sie ist in zwei Briefen bezeugt, die er in zwei verschiedenen Perioden seines kurzen Lebens verfasst hat: der erste Brief datiert vom 10. März 1921, aus dem Jahr, in dem er den Stern der Erlösung veröffentlicht und mit den ersten Übersetzungen von Halevis Hymnen beginnt, aus dem Jahr, in dem sich die ersten Symptome seiner schweren Krankheit zeigen. Der zweite Brief ist an seine Mutter gerichtet und datiert vom 5. Juni 1929, wenige Monate vor seinem Tod. 33 Rosenzweig erklärt in dem Brief an Scholem, er habe vor allem für seine christlichen Freunde und jene Juden, die nicht hebräisch lesen, begonnen, aus dem Hebräischen zu übersetzen. Geschähe es, dass sein Gast Hebräisch auch nur lesen könne, würde er die Übersetzung abbrechen, weil er erachtete, dass auch die unverständliche hebräische Sprache jenem, der sie ausspricht, viel mehr gebe als eine noch so gute deutsche Übersetzung. Indessen müsse jener, der sich entscheide, ins Deutsche zu übersetzen, »in irgendwelchem Masse ins Christliche übersetzen«. 34 Alle diese Schwierigkeiten findet Rosenzweig in einem wichtigen Satz, der, wie er selbst sagt, nicht nur wörtlich zu verstehen sei, denn er beziehe sich auf jede Übersetzung und auf jeden einzelnen Akt der Übersetzung: Übersetzen kann nur, wer von der Unmöglichkeit innig überzeugt ist. In diesem Brief rekonstruiert Rosenzweig seinen wahren und ersten Namen (im Hebräischen). Der Brief beginnt mit dem Zeugnis seines Verwandten Leo damit, dass Hermann Cohen bei der Übersetzung seiner Schriften ins Hebräische unter dem Namen Jecheskel geführt werden (der Name Hermann solle in Anführungszeichen gesetzt werden, sagt Cohen). Dann führt Rosenzweig einen tragikomischen Zwischenfall während seiner Beschneidung (brit milah) an: sein Onkel habe seinen Namen nicht ausgesprochen. Daraufhin schließt er, dass ungeachtet des Unwissens und Vergessens (er denkt an seine ersten Lebensjahre), sein Name Levi sei, wie sein Onkel Jehuda heiße: »Judah Halevi […] also genau mit dem Namen des großen Mannes, dessen mittelgroße Wiederverkörperung auf dem Wege des Ibbur ich bin: Jehuda Halevis«. – Franz Rosenzweig: Briefe und Tagebücher, Bd. 2. 1979. 1215–1216. 34 Notker, Luther und Hölderlin seien jene drei Autoren, die für die Christianisierung der deutschen Sprache am meisten Verantwortung trügen. – Franz Rosenzweig: Briefe und Tagebücher. A. a. O. 698–699. 33
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Nur der, der wirklich (tief innerlich) von der Unmöglichkeit der Übersetzung überzeugt ist, kann übersetzen und mit der Übersetzung beginnen. Vielleicht könne sich eine Übersetzung ereignen, sagt Rosenzweig, aber erst nachdem der Träger dieses Akts zu dem Schluss gekommen sei und verstanden habe, dass eine Übersetzung gänzlich, ausnahmslos und bedingungslos unmöglich ist. Die Übersetzung erscheint, wenn sich die wahrhaftige Unmöglichkeit einer Übersetzung eröffnet. Erst dann. Kann uns diese Notiz, die sich vor allem auf die hingebungsvolle Arbeit an der Entdeckung der »unmöglichen« Übersetzung, der unmöglichen Widergabe »einer Sprache durch die andere« bezieht, auch darüber hinaus als »unmögliche« Analogie, die den Frieden betrifft, dienen? Es ist möglich, den Frieden zu tun oder zu vollbringen, es ist möglich, dass jemand wirklich Frieden schafft, wenn er überzeugt ist, dass Friede unmöglich ist. In dieser Hymne von Jehuda Halevi und Franz Rosenzweig, die wir mit den Prinzipien des unmöglichen Friedens und der unmöglichen Übersetzung sowie den Prinzipien der notwendigen Übersetzung und des notwendigen »Friedenstiftens« (aber ohne die Notwendigkeit von Gewalt) denken und in Einklang bringen müssen, wird uns sogleich die Teilung zwischen den ersten acht und den letzten zwei Versen helfen. Die ersten acht Verse sind keine Einleitung, die, auf welche Weise auch immer, die letzten beiden der Rettung und dem Frieden (dem Frieden, der vom Himmel fällt) gewidmeten Verse bedingt. Es gibt keine Fragen, Bitten oder Hilferufe, 35 der neunte Vers erklärt nur das Ende der Selbstverachtung, das gewiss ist, das aber noch immer nicht eingetreten ist. Die Zeit, die Zeit des »unmöglichen« (Friedens), die die letzten beiden Verse ankündigt, wird die vorangegangene Zeit ebenso ausschließen wie die Erlösung Qual und Unfreiheit ausschließen wird. Nach dieser Teilung ist es sogleich notwendig, die beiden ersten Verse von den folgenden sechs zu trennen: die Liebe geht dem feindlichen Gott voran, sie geht dem Feind voran – sie geht Gott als Feind und mir als Feind voran. 35 Auf die Belagerung des Feindes und Verfolgers reagiert Halevi in zwei anderen Gedichten ganz anders; eines der Gedichte (Zürnende Liebe) hat Rosenzweig übersetzt; Brody vorzeichnet es unter III/4, das andere trägt die Bezeichnung III/175–177 und beginnt mit den Worten »An dem Tag, an dem mich der Feind belagert, kehre ich zu dir zurück […]«. In beiden Gedichten klagt der Dichter, zürnt und fragt (er spricht von den eigenen Verdiensten und das ihm geschehende Unrecht), warum Gott ihn den Feinden überlassen hat. Er zürnt Gott – daher Zürnende Liebe.
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Betrachten wir jetzt das deutsche »Original« und Halevis Hebräisch, das sich von Rosenzweigs Interventionen deutlich unterscheidet. Seit jeher / me’az / warst Du (wart Ihr) die Liebe / me’on ha’ahava, hayita / oder der Hort der Liebe; in Deiner (Eurer) Liebe ruht und wohnt meine Liebe. Der zweite Vers aber könnte im Hebräischen auf folgende Weise aus dem ersten hervorgehen: Seitdem Ihr (der Herr) der Hort der Liebe oder die Liebe selbst seid, wohnen jene, die mich lieben, dort, wo ich wohne. Die Vorwürfe (Angriffe, vielleicht auch Flüche, tokheh, »Züchtigungen«) meines Feindes (mrivi, meiner Feinde – im Hebräischen Plural, bei Rosenzweig Singular) freuen mich (gefallen mir) aufgrund Deines Namens (in Deinem Namen führen die Feinde Deine Strafe fort; sie strafen mich mit Deinen Strafen und eben dies freut mich). Lass’ sie (die Angriffe, Vorwürfe), denn sie quälen, treffen jenen (mich), den bereits Du gequält hast (mit Deinen Vorwürfen). Der Feind (die Feinde) / oyev / hat Deinen Zorn gelernt (erfahren): deshalb liebe ich ihn (sie) / va-’ohavem /; Im Hebräischen könnte »ich liebe« auch Futur sein – »deshalb werde ich lieben«. Denn er (sie) jagt (jagen) die Leiche, die Du getötet hast (wörtlich); Denn sein Schlag mit der Faust trifft auf / radaf / (gesellt sich zu, setzt sich fort, folgt, jagt) Deinen Schlag in der Ruine (in meinem ermüdeten und geschwächten Körper); die Feinde fahren fort, jenen zu verfolgen / radaf /, der gefallen ist, die Leiche / halal /. Die Feinde fahren fort, jenen zu schlagen (anzugreifen), den Du bereits geschlagen hast (der von Dir »erschlagen wurde«, hukeh); seine (oder ihre) Faust trifft dortin, wohin Du bereits aufgehört hast zu schlagen, auf den Ort Deines Mangels, Deiner Abwesenheit (Gebreste ist ein seltener, mittelalterlicher Ausdruck für Mangel, Ausfall). Seit dem Tag, an dem Du (Herr) mich verachtest hast, verachte ich mich selbst. Denn ich kann jenen nicht achten, den Du verachtest hast (also mich selbst); wie könnte ich jenem Gutes wünschen, den Du von Dir fortgejagt hast. 208 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Solange (bezogen auf meine eigene Achtung für mich selbst) wie Dein Zorn nicht erlischt und Du nicht Erlösung schickst / padah /. Deinem Erben, den Du bereits einmal erlöst hast. 36 Wäre die Interpretation dieser Übersetzung und des Kommentars von Franz Rosenzweig konsequent in ihrer Unmöglichkeit, so wäre es notwendig einen langen und schweren Weg der komplizierten Archäologie der Bestimmung des »Feindes« im Hebräischen zu beginnen. Warum wählt Halevi aus einer Vielzahl bestehender Lösungen eine sehr starke Figur – mrivi (Vers 3) –, die jenen bezeichnet, der stört und der Zittern macht? Gegenüber allen anderen Möglichkeiten ist mrivi ein kompliziertes Wort, das sich auf den Aufstand bezieht – mrivi ist der Aufständische (die Wurzel des Wortes ist marah, jener der aufständig ist, der ungehorsam ist gegenüber seinem Vater oder Gott; das Wort mrijbah, das den Kampf oder den Streit bezeichnet, kommt von der Wurzel rijv oder ruv – kämpfen, angreifen, gegen etwas sein). In Vers 3 und 4 ist seine Funktion, mich zu verletzen und zu strafen, und nicht, mich zu versuchen und in einen Konflikt zu führen. Rosenzweig übersetzt das Wort mrivi ebenso wie das Wort oyev, das sich in Vers 5 findet und eine ganz andere Ver36 Rosenzweigs Kommentar, der sich im Anschluss an Halevis Hymne befindet (am Seitenende befinden sich zwei Korrekturen zu den Versen 6 und 8) lautet: »Man wird dem ›Liebet eure Feinde‹ der Bergpredigt so wenig wie andern großen Wirklichkeiten gerecht, wenn man es als ethische Forderung, also unter dem Gesichtspunkt der Unwirklichkeit, ansieht. Die christliche Feindesliebe ist eine Wirklichkeit, wo sie – nichts andres sein kann. In diesen Stand des Nichtanderskönnens tritt sie da, wo die Kirche oder der Einzelne dem Urgebot des Christentums folgen: zu missionieren. Die Feindesliebe wird da die stärkste Waffe der Weltbezwingung, der Feind geliebt als der künftige Bruder. Jüdische Feindesliebe muss also wohl etwas ganz andres sein, wenn sie wirklich sein soll. Denn hier ist die Wirklichkeit nicht die einer mit den Gnaden des Siegens, sondern mit denen des Unterliegens begnadeten Gemeinschaft. So wird hier Feindesliebe an dem Punkt entstehen, den Jehuda Halevi in diesem Gedichte enthüllt. Denn um ein Enthüllen handelt es sich; das Wirkliche ist selten das unmittelbar Ausgesprochene; das Wort fällt, wenn es objektiv zu werden versucht, leicht in die Unwirklichkeit. So wird hier die objektive Wahrheit enthüllt, grade weil nur ganz subjektiv gesprochen wird. Der Jude liebt im Feind den Vollstrecker des göttlichen Gerichts, das, weil er es auf sich nimmt – und es bleibt ihm im Gegensatz zu allen andern Menschen nichts andres übrig, denn er als einziger hat nicht die Juden zur Verfügung, die daran schuld sind –, zu seinem eigenen wird. Die Liebe, mit der ein Mensch Gott liebt, wird zum Lebensgesetz aller Liebe, mit der er Menschen lieben kann, bis hinaus in das Extrem – aber gibt es für die Liebe ein Extrem? – der Feindesliebe. ›Von eh warst Du der liebe Himmelsveste‹. Zur Übersetzung: Zeile 6: ›denn den Erschlagnen hetzt er, den du schlugest‹. – Zeile 8: ›[…] verwarfst, wohl Ehre!‹«.
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wendung in diesem Text hat, mit »Feind«. Es geht um zwei ganz unterschiedliche Formen, zwei ganz voneinander getrennte Gestalten, die Rosenzweig ungerechtfertigterweise auf eine zurückführt (indem er sie auf dieselbe Weise mit »Feind« übersetzt): mrivi verdirbt und verletzt, ojev wütet und zürnt. Die Verse 3 und 5 sind vollkommen komplementär, ebenso wie die Verse 4 und 6, in denen mrivi das Ich stößt und tritt, so wie es der Herr getan hat, während ojev die Leiche des Ich jagt, die Gott bereits erschlagen hat. Der dritte und letzte »Feind«, seine dritte und letzte Form bin ich selbst. Genauer, in Vers 7 und 8 entwickelt das Ich selbst das, was der Herr in Hinblick auf das Ich begonnen hat: das Ich setzt die Verachtung / buz, buzah / für sich selbst fort. Das Ich zeugt am Anfang, in Vers 1 und 2, von der Nähe zum Herrn, von ein- und derselben Liebe im Hort der Liebe, während es am Ende, an der Schwelle der Verse 9 und 10, dem Herrn mit Hingabe verspricht, dass es die Selbstverachtung fortsetzt, bis er selbst sie unterbricht. Von Vers 3 bis Vers 8 hingegen beobachtet das Ich und vergilt nicht, es billigt und bestätigt – freut sich, liebt und nimmt all’ jene Formen (drei verschiedene feindliche Formen) an, die das vollenden, was der Herr begonnen hat. Was überrascht, ist die Stabilität des Zeugnisses des Ich über die Periode vor dem Auftreten der »Verfolger« (Vers 1 und 2) und die Gewissheit dessen, was am Ende kommt (9 und 10). Es überrascht das Überleben. Wie ist es möglich, dass nach Halevis Wahl der schwersten Worte und ganz unannehmbarer und noch immer unvorhersehbarer Qualen auch weiter die Gewissheit vom Ganzen und von der Gemeinschaft aller bleibt, und mit ihr die Heiterkeit? So gibt Vers sieben – »Verwarfst du mich, den Tag verwarf ich selber mich« –, der einen definitiven »Übergang« auf die Seite des feindlichen Gottes (eine Verkleidung in feindliche Gestalt und eine Heimsuchung seiner selbst in der Gestalt des Verfolgers), auf die Seite Gottes als eines absolut Anderen 37 bedeutet, die nur kurz währende Hoffnung darauf, dass nur jener Teil des »Ich« überleben wird, der sich am Ende sich selbst entgegenstelSiehe: »[…] dass Gott der Ganz-Andre ist […]«, ist ein Satz, den Rosenzweig anlässlich der Übersetzung der Hymne Der Fern-und-Nahe äußert. – Jehuda Halevi: Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte. A. a. O. 70. – »L’ennemi ou le Dieu sur lequel je ne peux pouvoir et qui ne fait pas partie de mon monde, reste encore en relation avec moi et me permet de vouloir, mais d’un vouloir qui n’est pas égoïste, d’un vouloir qui se coule dans l’essence du désir dont le centre de gravitation ne coïncide pas avec le moi du besoin, d’un désir qui est pour Autrui«. – Emmanuel Lévinas: Totalité et Infini. A. a. O. 263.
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len wird und sich selbst aus der Hymne (aus dem Gebet) verjagen wird, der sich selbst als wahrhaften Feind Gottes vertreiben wird. Der neunte Vers dementiert diese Richtung des Gedankens (er lässt die Möglichkeit des »Ich« als Opfer fallen) und des Ausschließens, so wie auf ähnliche Weise im Text des Gedichts nirgends erwähnt ist, dass jener mein Feind ist, der den göttlichen Willen ausführt, der sein Werkzeug ist, der auf der Leiter von »Bedeutung« und »Wichtigkeit« niedriger steht als ich, der ich seine Schläge ertrage oder mich ihm anschließe und mich zusammen mit ihm schlage und verachte. Gott verwendet weder seine noch meine Feinde, um sie, wenn er seine Aufgabe erfüllt hat, zu entlassen und mich – mich Schale, mich, den durch diese schrecklichen Qualen Gestärkten – wieder zu umarmen. Die Feinde, über die Halevi spricht, oder die Gestalten einer fiktiven Figur des Feindes, die Halevi im Sinn hat, und unter denen auch ich selbst bin, sind von jedem möglichen und bis heute bekannten Feind verschieden. Betrachten wir, warum dies so ist, und überlassen wir uns gleichzeitig einigen Erwägungen in Franz Rosenzweigs Kommentar zu dieser Hymne. 1. Der Feind ist in Rosenzweigs Übersetzung von mrivi, ojev oder buz (im Original des Jehuda Halevi) weder der Nächste noch ein Naher noch der Andere, noch der Fremde, er ist keiner von ihnen. Zunächst ist jede Art eines politischen Kontexts, einer nationalen oder einer anderen Zugehörigkeit des »Feindes« ausgeblendet, dann ist aber auch jede Relation ausgeschlossen, die den Feind mit uns selbst identifizieren könnte. So besteht bereits im ersten und bekanntesten »Austausch« mit dem Anderen in der Geschichte des Textes eine Reserve, die Vergeltung und die Übertragung einer Liebe in eine andere Liebe impliziert. Als fehle, bevor das große Gebot »liebe den Nächsten wie Dich selbst« 38 auferlegt wurde, eine Erwäh38 V’ahavtah le re-akha kimokha (Lev. 19, 18). – Buber und Rosenzweig verändern Luthers Übersetzung dieses Abschnitts: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« in »Liebe deinen Genossen dir gleich«. Im Text Anleitung zum jüdischen Denken aus dem Jahr 1921 wiederholt Rosenzweig noch immer Luther und vergleicht diese Forderung mit dem seltsamen kategorischen Imperativ: »Liebe deinen Nächsten – was für ein seltsamer ›kategorischer Imperativ‹. Liebe – und geboten […]« – »Die Geschichte von Frau Cohen.« In: Franz Rosenzweig: Gesammelte Schriften III. A. a. O. 608. – Die Anspielung an die Frau von Hermann Cohen, die sich am Ende dieses Fragments befindet, ist ein Anspielung auf zwei Texte von Hermann Cohen, die dem Nächsten gewidmet sind, Der Nächste und Die Nächstenliebe im Talmud.
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nung der Gewalt jenes Nächsten, die sich gerade erst ereignet hat und die ihm vorangeht. Die Liebe (ahav), die vergolten wird, muss eine »übertragene Liebe« sein, die wir bereits für uns selbst hegen (»wie für uns«, kimokha). Abgesehen davon, dass es sehr unangemessen ist, die Gültigkeit jener ganzen Formation zu beweisen und dabei an der Quantität der Liebe, die jeder von uns für sich selbst hat, zu zweifeln, ist es offensichtlich, dass das »Verhältnis« zu sich selbst und zu dem Seinen über den Namen jenes Nächsten 39 als auch über die Dauer der Gültigkeit jenes Gebots entscheiden wird. Wir haben bei Lévinas gesehen, an welchem Ort die Politik beginnt und wann sich der Nahe in den Nächsten verwandelt und umgekehrt. Die Politik beginnt gleichwohl nicht mit der Verteidigung des Nächsten vor dem Angriff eines anderen Nächsten, der auf diese Weise zum Feind wird (während jener erste mit dem Angriff zum Nahen geworden ist). Die Politik wird auch in dem Fall nicht beginnen, wenn jemand aus einem bestimmten Grunde näher ist als ein anderer oder wenn er bereits im voraus bedroht ist. Die Politik wird bereits mit der Flucht beginnen, mit dem Ausweichen, mit der Eile, der Gewalt zu entfliehen, oder mit der Eile (Angst und Eile haben im Hebräischen dieselbe Wurzel 40 ), die Gewalt so schnell wie möglich zu vergelten. 2. »Es ist schwer, Gott mit deinem ganzen Herzen (l-bebek-bekel) zu lieben«, 41 schließt Rosenzweig im Jahr 1921 nach wiederholten Versuchen, das Gebot, Gott zu lieben, mit dem Gebot, den Nächsten zu lieben, zu vereinen und auf diese Weise auch die Liebe zu Gott und 39 Wer ist dieser Andere (alter) oder Nächste, rea – Jude (Volksgenossen, wie Cohen sagt), jener, der nicht Jude ist, sich aber auf jüdischem Territorium aufhält, ein Fremder (welcher Fremde? goyim, leumim, sharim oder zarim?), ger, ein Fremder, der zwischen uns lebt, und der auch geliebt werden muss. Die Bergpredigt betrifft, wie Jacob Milgrom gezeigt hat, eben jenes Wort ger; – Vgl. das Kapitel Reflections on the Biblical ger in: Jacob Milgrom (Hg.): Leviticus 17–22. The Anchor Bible. 2000. 1416. – Vgl. auch Gianni Barbiero: L’asino del nemico. Rinuncia alla vendetta e amore del nemico […], Roma 1991. 183, 201–202. – Nokhri ist auch der Fremde, aber einer, dem gegenüber eine bestimmte Distanz gehalten wird (vgl.: Hermann Cohen: Die Nächstenliebe im Talmud. In: Cohen: Jüdische Schriften, Berlin 1924. 149, 150); oder zar, »jener, der sich dem Heiligtum nähert«, der fremde Jude als der größtmögliche »Feind«, denn er ist ein Feind Gottes und verdient wie Korah die Todesstrafe. – Vgl. L. A. Snijders: The meaning of zar in the Old Testament. Leiden 1953. 40 Deut. 20, 3. 41 Franz Rosenzweig: Gesammelte Schriften III. A. a. O. 603. Deut. 6, 5.
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die Liebe zum Nächsten zu verbinden. 42 Im Brief an seine große Liebe, Margrit Rosenstock versucht Rosenzweig am 13. April 1918 zum ersten Mal, jene beiden Formen der Liebe in einer zu erfahren. Im Leben liebe ich den Nächsten, den, dem ich ins Auge sehe, der mir ins Auge sieht, und liebe ihn vielleicht ›sitzend im Schatten Gottes‹, liebe ihn ›in‹ Gott. Ja ich liebe ihn mehr als ich Gott liebe, ja lieben kann. Denn es soll so sein. Gottes Antlitz ›sieht kein Mensch und bleibt Leben‹. Aber das Antlitz des Nächsten sehe ich, solange ich lebe. In der Ewigkeit aber sehe ich Gottes Antlitz und kann ihn lieben, wie ich in der Zeit nur den Nächsten lieben kann – Auge in Auge. Und in Gott auch den Menschen. Aber doch nun nicht mehr den Menschen als ›Nächsten‹. Denn nun, wo Gott mir nächst geworden ist, kann mir kein bestimmter einzelner Mensch mehr Nächster sein. Ich liebe sie nun alle, und alle gleich, also nicht mehr als ›Nächste‹. 43 Auge in Auge, Augen in Augen, nicht aber Auge für Auge. In genauer Betrachtung dessen, den er liebt, in völliger Vernachlässigung jenes zweiten Teils des Gebots »liebe den Anderen wie dich selbst«, gelingt es Rosenzweig, den konkreten Anderen zu finden, jenen, der hier und nahe ist, jenen der näher als jeder Nächste ist. 44 An dieser Stelle können wir ohne viel Aufhebens und Zögern jenen ertasten, der fern ist wie Gott und der gleichzeitig näher ist als jeder Nächste: Der Geliebte, Halevis Feind und Rosenzweigs Feind. 3. »Man wird dem ›Liebet eure Feinde‹ der Bergpredigt so wenig wie andern großen Wirklichkeiten gerecht, wenn man es als ethische Forderung, also unter dem Gesichtspunkt der Unwirklichkeit, ansieht«. So beginnt Rosenzweig seinen Kommentar, sofort belastet von etwas ganz Neuem und nicht immer Gewissem. In welchem Maß forciert Rosenzweigs Übersetzung einige große Gegensätze (zwischen Chris42 Vgl. Rosenzweigs Brief an Edith Hahn vom 16. 1. 1920. – Franz Rosenzweig: Briefe und Tagebücher, Bd. 1. A. a. O. 663. – Vgl. zudem: Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M. 1996. 239, 267. 43 Franz Rosenzweig: Die »Gritli«-Briefe. Tübingen 2002. 72. 44 Vielleicht wird nun klar, dass das Französische im Gegensatz zum Deutschen die Unterscheidung zwischen prochain und proche betont. Deshalb heißt »den Nächsten (prochain) lieben«, jemanden zu lieben, der folgt, der ankommt, der der folgende ist und der nicht anwesend ist (ebenso wie Gott), im Gegensatz zum Nahen, le proche. Der Nächste kann deshalb, wie auch die Liebe zu ihm, immer fiktiv bleiben. Es ist unverständlich, warum die Ankunft des Feindes ins Blickfeld bei Lévinas »Ankunft des Nächsten« (avenir du prochain) und nicht »Ankunft des Nahen« (avenir du proche) genannt wird.
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tentum und Judentum, zwischen Hegels Wirklichem und dem Realen, nicht-Wirklichen, »Fiktiven« usf.), die ihn in seinen frühen Jahren und während des Studiums beschäftigen, und in welchem Maß überträgt er sie auf Halevis Gedicht? Auf welche Weise könnte die in Feindesliebe vorgenommene Unterscheidung die Unterscheidung von Christentum und Judentum noch drastischer ziehen? Wenn Rosenzweig sagt, dass die »Feindesliebe« im Christentum die »stärkste Waffe der Weltbezwingung« wird, weil »der Feind geliebt [wird] als der künftige Bruder«, 45 wenn Rosenzweig auf diese Weise Kants und Fichtes bekannte Ideen zur Transformation des Feindes zu einem Freund 46 antizipiert, dann scheint es notwendig, zu einigen wichtigen Passagen im Talmud zurückzukehren, die vielleicht noch überzeugender über die Bedeutung jener »Transfers«47 sprechen. Auch Rosenzweigs folgende Notiz über die »begnadete Gemeinschaft«, eine Notiz, die an jene über die Mission und das Proselytentum des siegreichen Christentums anschließt, ist von den Gegensätzen zum Christentum infiziert. Sie weist vielleicht zu schnell zurück auf Lévinas und das »Recht« einer Gemeinschaft, den Feind zu erkennen, sich gegen ihn zu verteidigen und ihn aus den eigenen Grenzen zu vertreiben, auf das »Recht« der Gemeinschaft auf eine Grenze und das »Recht« auf einen Sieg. Können wir tatsächlich mit Halevi (und ihn umgehend) eine wirklich-unmögliche Gemeinschaft – eine Gemeinschaft ohne Grenze und eine Gemeinschaft ohne Gemeinschaft – annehmen eine Gemeinschaft, die den Feind (das Feindliche, Andere) annimmt, die ihn weder vernichtet noch in einen Bruder verwandelt? 45 Eine Paraphrase des hl. Augustinus, et inimicos diligere, et ad hoc diligere ut sint fratres (In primam Epistulam Ioannis, I, 9). Dieses Fragment ist in einigen ausvergesslichen Abschnitten im Stern der Erlösung impliziert, in denen Rosenzweig die Begriffe »Grenze« und »Opfer« dekonstruiert, den Unterschied zwischen Christentum und Judentum skizziert. – Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung A. a. O. 386, 310–311. 46 Vgl. zwei Texte von Johann Gottlieb Fichte, Zwei Predigten aus dem Jahre 1791, 1 und Über die Pflichten gegen Feinde. – Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke, Band VIII. 1845/1846 (1971). 255–256. – In den Vorträgen über die Ethik spricht Kant über die Transformationen des Freundes in den Feind. – Immanuel Kant: Kant’s gesammelte Schriften, Band XXVII. Kant’s Vorlesungen Band IV. Vorlesungen über Moralphilosophie, 1/1 (nach den Aufzeichnungen von Collins). A. a. O. 429–430. 47 »Ich verspreche, dass ich aus deinem Feind Deinen Freund machen werde«. – T. B., Baba Metzia II, 26. – »Wer ist der Held aller Helden […] jener, der aus seinem Feind seinen Freund macht«. – Avot des Rabbi Natan 23. – Vgl. hierzu Reuven Kimelman: Non-Violence in the Talmud. In: Judaism. Vol. 17,3, 1968. 316–334.
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4. Wie kann man Gewalt erfahren und nicht vergelten? Wie kann ich den Feind vor meinem Blick schützen oder verbergen, vor dem Auge, das ihn einnimmt und fälscht? Eine andere Notiz aus Rosenzweigs Kommentar zu Halevis Hymnen, die wiederum darauf insistiert, dass der Jude »als einziger […] nicht die Juden [sein Opfer] zur Verfügung [hat]«, der an seiner Stelle Gottes Willen auf sich nimmt, könnte die Möglichkeit eines Endes der Gewalt bezeichnen. Wie wir gesehen haben, beschäftigt sich Halevis Hymne nicht mit dem Unmöglichen (dem Frieden, der Erlösung, der Rettung, usf.), obwohl sie dieses voraussieht, sondern mit der Fokussierung und dem Anhalten der Gewalt. Halevi erreicht dies vor allem durch die spezifische Wahl der drei grundlegenden Figuren und Funktionen des Feindes (mrivi, ojev und buz). Alle drei Worte sind belastet und durch sehr klare Geschichten und durch einen Vorrat der »Vergeltung« von Gewalt bestimmt, und wahrscheinlich gibt es keinen Gesetzestext, der von der Liebe zum Hetzer, zum Ankläger oder zum Hassenden spricht. 48 Halevi schafft es, durch den außergewöhnlichen Akt des Aufspaltens des Subjekts im siebten Vers, die beiden vorangehenden feindlichen Akte (aus den vorangehenden vier Versen) zu sammeln und zu verbinden, und sie an ein- und demselben Ort zur selben Zeit festzuhalten – in sich selbst (auf sich selbst gerichtet). Anfang und Ende, wagen wir es zu sagen, dieser endlosen Analyse, die die Texte von Halevi und Rosenzweig angestoßen haben, muss in jedem Fall Rosenzweigs Korrektur des sechsten Verses folgen, in der das vorwiegende Dilemma in eben jenem Wort liegt: »er verfolgt« (oder jagt, verjagt). Der Feind ist jener, der verfolgt, aber der Feind ist auch jener, der verfolgt (gejagt) wird. An dieser Stelle ist der Feind jener, der dem Gesetz oder der Kraft Gottes folgt. Er ist der Ausführende (der Exekutor) der göttlichen Absicht (des Gerichts), der »Vollstrecker des göttlichen Gerichts«. Betrachten wir diese beiden von Rosenzweig geschaffenen Versionen, die das hebräische Original vorbildet, die aber schwer gleichzeitig berücksichtigt werden können – worauf Rosenzweig seinerseits insistiert. »[…] denn seine Faust trifft Deines Schlags Gebreste« 49 – 48 Das einzige Anzeichen für ein Innehalten vor dem Gut des Feindes findet sich in folgendem Abschnitt: »Wenn du auf den Ochsen deines Feindes / oyibka / oder seinen Esel triffst, der umirrt, zurück bring ihn, zurück ihm«. – Ex. 23, 4. 49 In der Übersetzung von Rosenzweig und Buber findet sich »Gebreste« nur einmal, und bezeichnet dort das Verdorbene, Verfaulte. – »Verderbt hat ihm ihr Gebreste zu Unsöhnen ein krummes verrenktes Geschlecht«. – Deut. 32, 5.
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Gott und sein Schlag müssen erst in die Hand des Feindes eingehen. »Gott tritt in die Faust ein« – so beginnt Rosenzweig. Die Faust trifft den Ort, den bereits Gottes Schlag getroffen hat. Die Faust ist das Wort, das Rosenzweig wählt, um jenen Ort und jenen Augenblick des Übergangs vom Schlag, mit dem Gott schlägt, zum erwarteten Schlag des Feindes zu bezeichnen. Im Wort »Faust« müssen Gott und der Feind ihre Plätze wechseln – und ineinander übergehen. Der Rückzug Gottes vor dem Feind, die Initiierung eines neuen Schlags ist von Rosenzweig in der Form der zur Faust geballten Hand gedacht. Der Feind muss folgen, um die Gewalt fortzusetzen, die Gott bereits begonnen hat, um sie zu ihrem Ende zu führen. Alle Dramatik und Ungewissheit dieses Verses liegen in jenem schon immer leeren Ort des Übergangs oder der Kontinuation Gottes im Feind. Der Feind ist der Nachfolger Gottes aber auch sein Mittel. Dies ist die große Wendung, in die uns Rosenzweig einführt, wenn er Halevis Fragmente verwendet. Nicht ich bin jener (Kants Subjekt), der das Mittel Gottes ist, nicht ich bin jener, der den Feind nennt und verfolgt (jagt), der ihm vergilt, noch ist Gott jener, der direkt und unmittelbar sein reines Recht oder reine Gewalt ausübt, sondern ich bin jener, der der Feind ist, der von Gott als sein Feind bezeichnet ist; ich bin jener, der Gewalt erfährt von Gott, sie annimmt in der Form von Gewalt und Strafe aus der Hand des Feindes, der sie ihm bringt; ich bin jener, mit dem jede künftige Gewalt aufhört. Diese Wendung wird nun zusätzlich korrigiert: »[…] denn den Erschlagnen hetzt er, den du schlugest«. 50 Alle diese antiquierten und schweren Worte, die Rosenzweig verwendet (wir hören hier auch Wagner und seinen Parzival, »Du schlugest unsere Gespielen«), die Schlagen und Töten verkünden, setzen mit dem Wechsel vom Wort »trifft« zum Wort »hetzt« ein. Es geht nicht mehr um den Schlag Gottes, der erst geführt sein muss, oder um die Initiation in den Schlag des Feindes (in der Faust müssen sich der alte Schlag Gottes und der neue, künftige Schlag des Feindes treffen), Rosenzweig spricht vielmehr über eine Verfolgung, über Barbara Gallis englische Übersetzung des sechsten Verses lautet: »for his fist meets the ailments of Your blow«. Die Übersetzung von Rosenzweigs Korrektur des sechsten Verses ist: »for he pursues the slain one, whom you slew«. – Barbara Ellen Galli: Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, translating, translations, and translators. MontrealLondon-Buffalo 1995. 124, 253. – Die Übersetzung des Liedes sowie des Kommentars findet sich auf den Seiten 124–125 und 252–253.
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eine Hetze, und verkündet ihr Ende: »Bis zum Ende«, das ist der Sinn der neuerlichen Verwendung des Wortes radaf. Bis zum Tod, bis zu unserem Tod und unserer Vernichtung erwarten wir Gott, den Feind und das Ende der Gewalt annehmend. Rosenzweigs drastische Veränderung des sechsten Verses zwischen den zwei Ausgaben des Bandes der Hymnen und Lieder von Jehuda Halevi ist nicht nur eine Korrektur seiner eigenmächtigen und zu freien Übersetzung. Es ist vor allem eine geheime Korrektur, die eine komplizierte Kette unterschiedlicher Korrekturen, die Unmöglichkeit der Übersetzung und einen unwahrscheinlichen Unfrieden zwischen den Texten offenlegt. Erstens gibt es keine Spur und keine Aussage von Rosenzweig dazu, dass die Korrektur die Folge eines Fehlers und einer wahrscheinlich verspäteten Berücksichtigung des Verses 27 aus dem Psalm 69 ist. Die Existenz dieses Verses überrascht im Kontext und Rhythmus des Psalms; ebenso außergewöhnlich sind die Verwendung und die Korrektur dieses Verses durch Jehuda Halevi. Die Annahme, dass Rosenzweig die erste Version des sechsten Verses verbessert, weil er den genannten Psalm einbezieht, könnte in der »evidenten« gleichzeitigen Korrektur von Luthers Übersetzung begründet sein: »denn den Erschlagnen hetzt er, den du schlugest« könnte eine »absichtliche Abweichung« von Luthers »denn sie verfolgen, den du geschlagen hast, und rühmen, dass du die Deinen übel schlagest« (bei Luther Psalm 69, 26) sein. Die Annahme, dass Rosenzweig den Psalm 69 gar nicht kannte, kann vielleicht nicht weniger überzeugend dadurch gestützt werden, dass Buber in der Schrift den Vers 27 auf folgende Weise übersetzt: »Denn sie jagen, den selber du schlugst, beim Schmerze deiner Durchbohrten erzählen sie sich«. Das Mindeste, wovon uns Bubers Übersetzung überzeugt, ist die sehr häufige Aufhebung der »übersetzerischen Harmonie« zwischen beiden Übersetzern nach dem Tod von Franz Rosenzweig. Zweitens verwandelt sich der erschütternde Inhalt des Psalms 69, der mit der Aufzählung allen Unheils, das die Feinde vollbracht haben (das Wort ojev, Feind, erscheint in den Versen 5 und 19; ojev dominiert auch im vorangehenden Siegspsalm 68), mit dem Vers 23 in das Herbeirufen einer furchtbaren Rache an jenen selben Feinden, die bis Vers 29 andauert. In diesem letzten Vers wird Gott gebeten, den Feind aus dem Buch der Lebenden (aus dem künftigen Leben) auszulöschen, es wird verlangt, dass die Feinde nicht zusammen mit den Gerechten sein werden, dass sie daraus ausgetragen werden und 217 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Petar Bojanic
unterschieden werden von den Gerechten, tsadiqim; »Gewischt seien sie aus dem Buche des Lebens, bei den Bewährten seien sie nimmer geschrieben!« (Buber). Der Vers 27 bildet eine überraschende Pause in diesem Rhythmus der Strafe, die Gott an den Feinden vollziehen soll. Der Sänger des Psalms beschreibt zunächst das Wesen der Handlung des Feindes (was ein Feind ist und was er tut, warum der Feind ein Feind ist) und bekräftigt gleichzeitig, dass nichts schlimmer ist als dies, und dass der Feind deshalb (ki, denn) auf das Strengste bestraft werden muss. Sie (Plural, die Feinde) jagen (radafu) jene (wahrscheinlich das Volk, uns, die Gerechten usf.), die Du bereits geschlagen hast (asher hiqita), sie verurteilen (strafen, quälen, fügen Schmerz zu) jene, die Du bereits erschlagen hast (halalekha). Drittens besteht Halevis Intervention in diesem Vers nicht nur in einer Veränderung der Wortfolge und in einer Verkürzung, sondern auch in einem direkten Widerstand gegen die Rache an den Feinden. Dass die Feinde Gott folgen und jene jagen, die Gott geschlagen hat, verdient nicht nur Strafe, es ist auch die Bestätigung, dass die Feinde notwendig sind, und dass sie die Anwesenheit und die Liebe Gottes bekräftigen und bezeugen. 51 Radaf bedeutet jagen, oder heradef gejagt werden oder redifah Verfolgung. Jener der jagt, der gejagt ist und der gejagt wird. Radaf bin ich selbst. Wenn jemand mit dem Wort radaf belegt wäre, 52 so würde angenommen, dass er bereit ist, Gewalt auszuüben, dass er töten will und deshalb getötet werden muss. Radaf ist der Feind. Mich, den Feind, darf er verfolgen als radaf, mit der Absicht, dass mich der Verfolger tötet; es ist erlaubt, mich zu töten, wenn keine andere Möglichkeit besteht, dass sich jener rettet, der mich jagt. Dies aber gilt Jehuda Halevi erweitert die Idee des Leidens im Namen Gottes und der künftigen, erwarteten Erlösung in Kusari I, Kap. 115. In diesem außerordentlich wichtigen Abschnitt greift Halevi das komplizierte Thema der Unterscheidung des gebürtigen Juden von jenem auf, der zum Judentum konvertiert und dafür für immer der Gabe der Prophetie beraubt ist. – Lippman Bodoff: Was Yehudah Halevi Racist? In: Judaism. Vol. 38, no 4, Spring 1989. 181 ff. 52 Radaf ist der Agressor (das ihm entgegengesetzte Wort ist nirdaf, Opfer). In der heutigen Verwendung meint das Wort radaf (das dem lateinischen Wort sacer semantisch nahe steht) jenen, den man verdächtigt, er bringe tödliche Gefahr, sein Körper sei seine Waffe, er werde Selbstmord begehen und dabei viele andere töten; auch Saul ist radaf (1 Sam. 31), als er sich zum Selbstmord entschließt, um nicht vom fremden Schwert den Tod zu erleiden, und um nicht tausende andere Juden mit ihm zu verderben. 51
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ebenso, wenn keine andere Möglichkeit besteht, dass jener sich rettet, den ich als radaf jage (nirdaf ist das Opfer, das ich begleite), dem ich die zuvor geübte Gewalt vergelte. Halevi bezieht das Wort radaf indessen, ungeachtet dessen, dass diese schrecklich Jagd am Ende Verfolger und Verfolgten vermischt, auf die Leiche dessen, der bereits zuvor radaf war, der bereits einmal verfolgt war und von Gott getötet wurde. Diese Ergänzung ist quälend. Was muss noch von jenem zerrieben werden, der bereits einmal zerrieben war? Was kann noch ausgetrieben werden in jenem, der bereits nicht mehr ist? Es geht gleichsam um einen zweifachen Auftrag der Austreibung der Gewalt, der vor den letzten beiden Versen, in denen der Verfolger und der Verfolgte versöhnt werden, erfüllt sein muss: der »Feind« muss der Gewalt abschwören, »ich« aber der letzten Möglichkeit, an ihm als Leiche Vergeltung zu üben.
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Friedens-Einsprche. Hinweise am Beispiel Friedrich Wilhelm Foersters Henrique Ricardo Otten
1. Befremdende Konfrontationen – Dialoge mit Fremden Im Herbst 1914 versucht Friedrich Wilhelm Foerster, Professor der »Pädagogik einschließlich der einschlägigen Teile der Philosophie« an der Universität München, einen Vortrag über die »Hintergründe des Weltkrieges« zu halten. Bekanntlich besteht in der damaligen deutschen Öffentlichkeit die einhellige Meinung, Deutschland sei unverschuldet, durch Intrige und Böswilligkeit anderer Mächte, zu einem »gerechten« Verteidigungskrieg gezwungen worden. Deutschlands gute Absichten und sein Friedenswillen stünden außer jeder Frage. Die moralische Kraft des deutschen Volkes, mehr noch, seine Sendung in der Weltgeschichte verbürgen aus dieser Sicht den Sieg der deutschen Waffen. 1 Im Auditorium aus Münchener Oberlehrern, die Foerster zu dem Vortrag eingeladen hatten, löst seine Rede wachsenden Protest aus, der darin gipfelt, dass alle Lehrer den Hörsaal räumen. Was spielt sich in dieser Konfrontation ab, soweit sie durch die rückblickende Erzählung des Redners überliefert ist? Die vorgeführte Szene akademischen Lebens nimmt sich zunächst keineswegs ungewöhnlich aus, kippt jedoch durch das Verhalten der Zuhörerschaft ins Befremdliche. Sie beantwortet die Darlegung des Vortragenden mit einer Zurückweisung, die, wenn wir der Schilderung Foersters trauen dürfen, die Form eines geordneten Abmarsches annimmt: »Endlich klappten die Oberlehrer ihre Bierseidel Zur damals gängigen Apperzeption des Krieges und ihrer rhetorischen Gestaltung durch deutsche Intellektuelle vgl. aus philosophiehistorischer Sicht Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin 2000. Zur Grundstruktur der Kriegsrechtfertigung am Beispiel zweier Reden von Rudolf Eucken siehe dort 18–23. Sehr detaillierte Einzelanalysen und sowie umfangreiche Angaben zu den Quellen und zur Forschungsliteratur liefert die vergleichende Studie von Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn 2004.
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zu und verließen einer nach dem anderen den Saal.« 2 Soviel wir von der Körperdisziplin bürgerlicher Männer im Kaiserreich wissen, dürfte es ihnen nicht schwer gefallen sein, für diese Inszenierung ihrer Ablehnung die verfügbaren Muster militärisch ritualisierter Bewegungsabläufe zu einer sicherlich spontanen, weder befohlenen noch im Voraus abgesprochenen Aktion zu koordinieren. Auch dies ist eine Antwort. Wieder müssen wir auf Situationstypiken zurückgreifen, die sich hier zur Beschreibung anbieten. Die Szene spielt sich in einem akademischen und damit öffentlichen Raum ab. Wir dürfen davon ausgehen, dass den Lehrern die Regeln des akademischen Komments vertraut sind, welche eine zeitlich geordnete Abfolge von Vortrag und daran sich anschließender Aussprache vorsehen. Offensichtlich ist jedoch gleichzeitig eine andere Ordnung präsent, welche jede Rede im öffentlichen Raum einer Staats-Gesellschaft beschränkt, nämlich die Diskursformation des staatsbürgerlichen Patriotismus. Dem Anspruch des Vortragenden auf Gehör, der sich auf die Ordnungsgepflogenheit institutionalisierter Redeformen stützt, setzt das Auditorium den Anspruch entgegen, die Grenzen des öffentlich Sagbaren zu verteidigen, und zwar so, wie sie der herrschenden Meinung im Deutschen Reich der beginnenden Kriegszeit entsprechen. Die Ordnung des öffentlichen Angesprochenseins besagt: Qui tacet, consentire videtur – wer schweigt, lässt gelten. Daraus ergäbe sich eine Schuld des Schweigenden, die Verletzung dieser höheren Ordnung zugelassen zu haben, für deren Schutz das Auditorium sich verantwortlich sieht. Hinzu kommt: consentire videtur, wer schweigt, wird von den anderen als Zustimmender gesehen. Man kann Faktoren bloßen Massendrucks am Werk vermuten, welche die Wucht einer anschwellenden Reaktion auf dasjenige, was als unpassend oder anstößig wahrgenommen wird, erklären müssten. Aber erst der Anspruch, sich gemeinsam zu Recht zu entrüsten, macht über die Reaktion hinaus die abweisende Antwort aus. Sie stützt sich zudem auf Praktiken, die allen gegenwärtig sind: Kriegszensur, welche die Sprachräume festzulegen versucht, in denen die politische Friedrich Wilhelm Foerster: Erlebte Weltgeschichte 1869 – 1953. Memoiren. Nürnberg 1953. 187. Ausführliche Angaben zur Primär- und Sekundärliteratur sowie biographische Einzelheiten zum »Fall Foerster« im Ersten Weltkrieg finden sich bei Pascal Max: Pädagogische und politische Kritik im Lebenswerk Friedrich Wilhelm Foersters (1869 – 1966). Stuttgart 1999.
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Situation abgehandelt werden kann, macht deutlich, dass sich jede öffentliche Äußerung daran messen lassen muss, ob sie die Kraft der Nation, ihre Stellung im Kampf mit ihren Gegnern, beeinträchtigen könnte. Solche Praktiken entfalten ihre Wirkung auch dort, wo keine institutionellen Sanktionen anstehen, als Zeichen für erwartetes Verhalten, das in die Verantwortung jedes einzelnen gestellt, aber in dessen Antwort auch beobachtet wird. Wiederum ist einzuräumen: Bemerkbar macht sich für uns historische Fremdheit gegenüber einer Szene, die eingebettet ist in die gesellschaftliche Atmosphäre der Kriegssituation – die ständig eingesogen wird in Geschichten, Aufmärschen, Ausrufen, Begegnungen, die von Furcht, Anspannung und Akten des Appellierens gezeichnet sind. Allerdings ist es uns durchaus möglich, Szenarien situativer Dramatik zu entwerfen, in die einbezogen zu sein, alles Reden verändert: Im brennenden Haus dominiert das leibliche Bedrohtsein und zwingt eine Dringlichkeitsordnung auf, welche in ähnlicher Weise die Dramatisierungen des Politischen vielfältig simulieren. Mit welchem Anspruch tritt Foerster an sein Auditorium heran? Er war im Herbst nach Deutschland zurückgekehrt von einem Aufenthalt in der Schweiz, in welcher er sich Dokumente zur Entstehung des Weltkrieges beschafft und seine Überzeugung vom grundstürzenden Unheil der »Weltpolitik« des Bismarckreiches gefestigt hatte: »Es war nur natürlich, dass ich vor Ungeduld brannte, die neu gewonnene Erkenntnis von dem wahren Sinn der deutschen Geschichte, unter den deutschen Eliten zu verbreiten«; die Vortragseinladung gab ihm aus seiner Warte »die erste Gelegenheit zu einer solchen Einwirkung«. 3 Der entschuldigende Ton, in dem das Bedauern des Autors über eine Art Überstürzung seines Vorgehens herauszuhören ist, erklärt sich im Weiteren, wenn Foerster schildert, wie er zu einem (taktisch) günstigeren Zeitpunkt Ende des Jahres 1916, »als die feindlichen Heere sich wochenlang ohne nennenswerten Erfolg gegenüberstanden«, 4 erneut einen Versuch zur publizistischen Verbreitung seiner Ideen unternimmt. So stellt sich das Unterfangen Foersters, auftretend unter dem Zeichen einer Anstiftung zum Frieden, als keineswegs harmlos heraus, durchaus versetzt mit instrumentellem Kalkül und bereit, verletzend zu wirken. Zu viel gesagt wäre es, hierin bereits eine politische Strategie, die Unterstel3 4
Vgl. Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 187. Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 188.
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lung einzelner Akte unter eine Zielordnung eigenen Machterwerbs anzusetzen. Nur von einem moralischen Appell zu sprechen, wäre wiederum zu wenig, träfe nicht den bewussten Einsatz in einem politischen Kräftefeld, dem sich sofort taktische Gesichtspunkte mit aufprägen. Als Friedens-Einspruch wäre es zu kennzeichnen, weil es den Fluss gleichsinniger Bestätigung des eigenen Rechts unterbricht, ebenso im Hinblick auf seinen drängenden Gestus, welcher der Dringlichkeitssemantik des politischen Registers korrespondiert. Als eindringende Herausforderung in eine Formation von Ansprüchen entgegengesetzter Richtung erregt eine solche Rede Anstoß und muss mit deutlicher, aggressiver Zurückweisung rechnen. Bereits diese kleine Episode lehrt, wahrzunehmen, womit die Verstrickung des Handelns im politischen Feld es zu tun hat, selbst dort, wo nicht auf den Kommandohöhen institutionalisierter Verfügungsmacht im Großen agiert wird, sondern wo deren, sich nur auf kleinste persönliche Basen stützende, Oppositionspolitiken auftreten. Der Einspruch, als welcher Foersters Friedensimpuls laut wird, ließe sich als Teil einer Serie von Distanznahmen zeichnen, in denen sich Gegen-Worte und Erwiderungen polarisieren. Als Einschnitt drängt sich die Verurteilung des 26-jährigen Foerster im Jahre 1895 zu drei Monaten Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung auf. In der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift »Ethische Kultur« hatte er einen Artikel veröffentlicht, worin er eine Rede des Kaisers kritisiert hatte, weil in ihr »die deutsche Arbeiterpartei als eine hochverräterische Schar und als eine Rotte von Menschen« bezeichnet wurde, »die nicht wert sei, den Namen Deutscher zu tragen.« 5 Wieder ist der Kontext aufschlussreich: Die Ansprache des Kaisers erfolgte am Sedantag, an dem der Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71 jährlich begangen wurde. Das ritualisierte Gedenken an den Sieg der »deutschen Waffen« über den »Erbfeind« nimmt Foerster als Symbol einer quasi autistischen Verpanzerung, eines endlosen »Siegesjubels« zur Verstetigung kriegerischer Selbstverhärtung, der Feindschaft hervorruft und jedes Ohr und Gefühl für andere betäubt. Foerster hält dagegen, dass das Gedenken vielmehr den Gefallenen beider Seiten und dem gemeinsam erlittenen Unheil gelten sollte. Friedrich Wilhelm Foerster: Der Kaiser und die Sozialdemokratie. In: Bruno Hipler (Hg.): Friedrich Wilhelm Foerster: Manifest für den Frieden. Eine Auswahl aus seinen Schriften (1893–1933). Paderborn 1988. 48–50, hier 48 (erschienen in der Zeitschrift: Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen. Berlin, 14. 09. 1895).
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Sein eine Woche zuvor erschienener Artikel zu diesem Anlass verdeutlicht bereits die wesentlichen Züge seiner Haltung: »Es scheint uns als ob die andauernde Abstumpfung des Gefühls der Großmut gegenüber den schmerzlichen Empfindungen des unterlegenen Gegners sich bereits am inneren Leben der Nation durch wachsende ethische Verwilderung zu rächen beginnt. ›Geschehenes Unrecht fällt auf den Urheber zurück, indem es ihn selbst verschlechtert‹, so sagt Marcus Aurelius. Wie ein Mensch, der sein Gemüt durch brutale Behandlung der Tiere abstumpft, schließlich auch in menschlichen Dingen Einbuße an Kraft des Mitgefühls erleiden wird, so muss der laute und taktlose Jubel, mit dem wir uns über die Gefühle unseres Nachbarvolkes hinwegsetzen, in uns allen den Sinn für Brüderlichkeit und Großmut herabdrücken und auch in den inneren Kämpfen der Nation überall dem trotzigen Übermut des Siegers das Übergewicht geben. Sehen wir nicht, dass unsere machthabenden Klassen die Sprache, die sie gegen den äußeren ›Feind‹ führen, auch schon auf den ›inneren Feind‹ übertragen?« 6 Der Verrat der Sozialdemokraten bestand gewissermaßen darin, den – prätendierten – Einklang der Nation mit sich durch abträgliche Pressekommentare zu stören, dazwischenzureden und so die imaginierte Einheit zu spalten. Also verdienten sie es, so wäre die Antwort des Kaisers zu begreifen, aus dem deutschen Volke ausgeschlossen zu werden, mehr noch, sie hätten sich selbst aus ihm entfernt, sich als Fremde, Nicht-Dazugehörige erwiesen, denen man nichts schulde, vor allem keinen Dialog. Damit versteht sich eine solche Rede als bloßes Selbstgespräch, der Redner hört nur sich selbst mit kollektiver Echowirkung. In die Vorgeschichte von Foersters Intervention gehört die Hinwendung zu denjenigen, die den offiziellen Diskursen in sozialer Fremdheit gegenüberstehen, nicht zuletzt denen, die kategorisiert, anders-gemacht worden sind, deren Deutungen nicht gehört werden. Der junge, im Jahre 1893 promovierte Akademiker widmet seine Zeit anschließend der »Arbeiterfrage«, besucht sozialdemokratische und Gewerkschafterversammlungen, engagiert sich bei der »Zentrale für soziale Jugendfürsorge« und betreibt Erkundungen in der »Verbrecherfrage«. Letztere Tätigkeiten bedeuten für ihn, Menschen in nichtbürgerlichen Lebensverhältnissen wahrzunehmen, aber auch Friedrich Wilhelm Foerster: Zur Sedanfeier. In: Hipler: Friedrich Wilhelm Foerster. A. a. O. 45 f., hier 45 (erschienen in der Zeitschrift: Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen. Berlin 07. 09. 1895).
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der eigenen Unbeholfenheit, der Hilflosigkeit gegenüber Konflikten und Schuldverstrickungen innezuwerden. Sich den Lebensproblemen anderer auszusetzen, die Perspektive des eigenen Herkommens als Beschränkung zu erfahren, die zur immer neuen Überschreitung auf andere hin auffordert, wird Foerster zur fortdauernden Devise: »Wer nur eine Klasse kennen gelernt hat, der ist wie ein Mensch, der nur ein Buch gelesen hat«. 7 Nicht zufällig zeigen sich unter denjenigen, die im 20. Jahrhundert Friedensimpulse geben, viele, die in ihrer praktischen Arbeit Klassenschranken zu überwinden trachten. Später, als er sich in der Schweiz aufhält, wird Foerster feststellen, dass seine Unterredungen mit Gruppen von Jugendlichen, vor allem mit solchen, die nicht den Bildungsschichten entstammen, sich zu einem Dialog gestalten, der sich vom angelernten Wissen löst und konkrete Erfahrungen »zur Aussprache« bringt. Dem Pädagogen ist es darum zu tun, die Jugendlichen zu einer Selbstführung anzuleiten, die deren »Denkkraft« entwickelt, die sich auf die Durcharbeitung von »Lebensschwierigkeiten« richtet. Bei aller erzieherischen Richtungsgebung, deren Absichten und Präsuppositionen noch zu thematisieren sind, ist hier, mehr als Foerster selbst reflektiert, keine bloß maieutische Vergewisserung des immer schon Gewussten am Werk. Eher finden die Jugendlichen zu ihrer eigenen Überraschung Ausdrucksräume, in denen sich Zugestoßenes nach und nach, in unterschiedlichen Zeitstrukturierungen, als durch Erfahrung fundierte Erzählung gestalten lässt, die jede und jeder in ihrer und seiner Weise hört und annimmt und das »Eigene« dazu denkt. Foerster bemerkt, »dass diejenigen, die am wenigsten erlebt hatten, am schnellsten antworteten, während diejenigen, die mit irgend einem schweren Schicksal zu tun hatten, das sie innerlich nicht zu bewältigen vermochten, schweigend dasaßen, aber das nächstemal, ohne viele Umschweife, langsam und mit starker Betonung das vorbrachten, was sie über den Fall zu sagen vermochten.« 8 Der Pädagoge notiert ferner, dass er selbst eine Vorbereitung benötigt, die ihn in die Lage versetzt, Abstand von der Gewaltsamkeit abstrakter Generalisierungen zu gewinnen. Der Weg führt vom Oktroi gut präparierter »Lehrgegenstände«, zu deren Repetition die Zöglinge abgerichtet werden, zur Stellung nehmenden Durchdringung von Erlebnisszenen. Der Anstoßgeber, als welcher der Pädagoge hierin auftritt, sollte sich selbst 7 8
Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 89, dort als Zitat von Canon Barnett. Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 130.
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nach Foersters Auffassung üben, für solche moralischen Dramen ein feineres Organ zu entwickeln, Ansprüche und Achtungssphären der Beteiligten, aber auch die innere Vielstimmigkeit, die »Widersprüche« ihrer Verfassung wie auch seiner eigenen in ähnlich anmutenden Situationen, wahrzunehmen. Denjenigen, die nur schwer und gewissermaßen stotternd, barbarisch zur Sprache kommen, die den tonangebenden Schichten des Kaiserreichs wie innere »Fremde« dünken, ihnen tritt Foerster näher. Dies löst mit seiner Haftzeit den ersten biographischen Bruch aus und treibt ihn in die äußere Fremde. Foerster, dem eine akademische Laufbahn in Deutschland damit verwehrt ist, übersiedelt 1896 in die Schweiz und lebt dort die nächsten 17 Jahre.
2. Preußische Gewaltgeschichte Der hohle Klang kaiserlicher Beschimpfung mag durch vielfältige Resonanzbereitschaft bereits gebahnte Gegenimpulse bei Foerster freigesetzt haben. So weigert sich Foerster bereits als Schüler, die erste Strophe des Deutschlandliedes mitzusingen. »Deutschland über alles … in der Welt« bedeutet, einer einzigen Stimme ohne Zögern und Einreden zu folgen, jegliche anderen Ansprüche zu übertönen, die als »Gewissen«, aber auch als »Recht« oder als Achtung vor der personalen Würde des anderen Beachtung finden könnten. Nach Foersters Erinnerung reagierte der Lehrer mit dem Satz »Foerster, Sie können gehen, wir passen nicht zusammen!« 9 Retrospektiv scheint es ihm, als habe er schon in seiner Schulzeit die hymnische Übersteigerung eines hochmütigen Nationalismus immer schwerer ertragen können. Welche »neu gewonnene Einsicht vom wahren Sinn der deutschen Geschichte« ist es dann, die der Hochschullehrer in München 1914 seiner Zuhörerschaft nahe bringen möchte? Für Foerster hat sich das Unbehagen, das sich in seinen Entgegnungen ebenso manifestiert wie es umgekehrt von erfahrenen Zurückweisungen gespeist wird, in einer projektierten Historiengestalt verdichtet, die einen »Typus« menschlichen Handelns mit geschichtlichen Prägungen verbindet: Das »Preußentum« wird zum zentralen Topos einer Unheilsgeschichte politischer Brutalisierung, bei der sich eine Haltung über9
Vgl. Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 52.
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heblicher Härte der »Menschenbehandlung« von außen nach innen, vom Zwang gegen Fremde auf die Zwanghaftigkeit des eigenen Selbstkonzepts, überträgt. Nach Foerster ist es zum Ersten das »Kolonialdeutschtum« des Deutschen Ordens, das eine starre Herrenattitüde gegenüber der unterworfenen Bevölkerung aufrechterhält. 10 In dessen Tradition werde der Krieg als »Heilige Sache« zur Ausbreitung des Christentums aufgefasst, dessen Dienerschaft eine mönchisch disziplinierte Kriegerkaste bildet, die Grundsätze einer rationalen Staatsführung im Gemeinwesen verankert. Zum Zweiten konstatiert Foerster für den Militärstaat Preußen eine Verengung der Lebensmaßstäbe auf eine Arbeits- und Pflichtmoral, eine Reduktion kultureller Vielfalt auf einseitig nüchterne Zweckmäßigkeit. Beides führt zur Habitualisierung jenes Selbstzwangs, mit dem sich der »starre deutsche Ordnungsmensch«11 gegen alle Einreden, gegen jede Aufforderung, etwas anderes als das »Eigene« zu würdigen, panzert. Je mehr Deutschland »verpreußt«, desto stärker lässt es demnach die Menschen zu bestens funktionierenden Teilen einer auf Hochleistung getrimmten Staatsmaschinerie werden, deren Potential zur gefährlichen Entfaltung schrankenloser Expansionspläne verleitet. In der Bismarckära werden für Foerster zum Dritten alle unheilvollen Einseitigkeiten der aggressiven deutschen »Weltpolitik« des 20. Jahrhunderts vorgebildet. Seine Analyse eines Pfades zur gesteigerten Kriegsbereitschaft nimmt die Geschichte militärischer »Erfolge« in den Blick. Gerade dasjenige, was so über alle Maßen als Bismarcks Leistung gefeiert wurde, die Reichseinigung »mit Blut und Eisen«, entpuppt sich als Irrweg in die Gewaltgeschichte. Ein Handeln, das nicht nach dem »Recht« der anderen, sondern nur nach der Durchsetzung eigener Ziele unter bedenkenlosem Einsatz militärischer Mittel fragt, wird zum Paradigma des Politischen. Gerade die Bildungsschichten – die Lehrer und Professoren an erster Stelle – sind, so Foersters Kritik, dem »Schwertglauben« verfallen. Aus der Sicht solch fanatisch schwärmerischer »Realpolitik« erscheint jedes Abweichen von einer Politik der »Stärke«, das bedeutet: von der stän10 Vgl. etwa Friedrich Wilhelm Foerster: Weltpolitik und Weltgewissen. München 1919. 153 ff. 11 Friedrich Wilhelm Foerster: Mein Kampf [sic!] gegen das militaristische und nationalistische Deutschland. Gesichtspunkte zur deutschen Selbsterkenntnis und zum Aufbau eines neuen Deutschland. Stuttgart 1920 (erschienen im Verlag »Friede durch Recht«). 105.
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digen Gewaltbereitschaft und Gewaltandrohung, als Zurückweichen vor den stets als potentielle Gegner ins Visier genommenen, anderen, und steht unter dem Verdacht der Feigheit und damit charakterlicher Schwäche. Auf diesem Wege ergibt sich die kollektive Gewöhnung an einen öffentlichen Diskurs, der sich in ständiger Selbstversicherung die äußerste Bereitschaft zur Gewalttat einredet und dabei potentiell hinderliche moralische Zweifel immer neu übertönen muss. Mit einem Zitat aus einem Zeitungsleitartikel der Vorkriegsepoche veranschaulicht Foerster beispielhaft, was er als »Räuberprogramm« bezeichnet: »Wir lehren, dass, wenn das Wohl unseres Vaterlandes eine Eroberung, Unterjochung, Verdrängung, Vertilgung fremder Völker fordern sollte, wir uns davon durch christliche oder Humanitätsbedenken nicht dürften zurückschrecken lassen, wir haben daher auch gegen die äußerste Anspannung der Wehrkraft nichts einzuwenden, vorausgesetzt, dass sie in absehbarer Zeit einmal zu dem Zwecke angewandt wird, zu dem sie bestimmt ist.« 12 Die Wortwahl dieser Textpassage aus dem Jahr 1896 zeigt, dass nicht bloß Handlungsregulative unterschiedlicher Art gegeneinander abgewogen werden, sondern zugleich der »Schrecken« solcher Sätze gebannt werden muss. Die in superlativischem Tonfall vorgetragene Beschwörung eigener Kampfbereitschaft dient der willentlichen Abstumpfung gegen das Verletztwerden anderer, deren mögliche Vernichtung ganz bewusst in Kauf genommen wird. Dennoch droht unaufhörlich die Gefahr, dass dieser Tatwille zur Empfindungslosigkeit gelähmt werden könnte, durch den Anderen, der sich hinter den »Bedenken« aufdrängen, Beachtung verlangen könnte. Erich Maria Remarque schildert in seinem Anti-Kriegsbuch, wie eine solche Begegnung für einen winzigen Moment zum Innehalten, das aber heißt: zur Blockade des Soldaten führt. Einen Augenblick später jedoch ist der Soldat wieder »bei sich«, funktionieren die eigenen Reaktionen. Das Zögern weicht erneut einem instinktähnlich vorgebahnten, fließend sich vollziehenden Verhalten, in dem sich grauenhafte Angst zu einem lebensgierigen Vernichtungsfuror steigert. Das hilflose Erdulden der ständigen Todesdrohung wird abgelöst durch den heteronomen Aktivismus besinnungslos entfesselter Waffengewalt – ich überlebe, indem ich töte. Der Andere ist der durch Tötung abzuwehrende Tod. »Im Augenblick, als wir zurück12
Foerster: Kampf. A. a. O. 43.
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gehen, heben sich vorn drei Gesichter vom Boden. Unter einem der Helme ein dunkler Spitzbart und zwei Augen, die fest auf mich gerichtet sind. Ich hebe die Hand, aber ich kann nicht werfen in diese Augen, einen verrückten Moment lang rast die ganze Schlacht wie ein Zirkus um mich und diese beiden Augen, die allein bewegungslos sind, dann reckt sich drüben ein Kopf auf, eine Hand, eine Bewegung, und meine Handgranate fliegt hinüber, hinein. […] Aus uns sind gefährliche Tiere geworden. Wir kämpfen nicht, wir verteidigen uns vor der Vernichtung. Wir schleudern die Granaten nicht gegen Menschen, was wissen wir im Augenblick davon, dort hetzt mit Händen und Helmen der Tod hinter uns her, wir können ihm seit drei Tagen zum ersten Mal ins Gesicht sehen, wir können uns seit drei Tagen zum ersten Mal wehren gegen ihn, wir haben eine wahnsinnige Wut, wir liegen nicht mehr ohnmächtig wartend auf dem Schafott, wir können zerstören und töten, um uns zu retten, um uns zu retten und zu rächen. […] Das Krachen der Handgranaten schießt kraftvoll in unsere Arme, in unsere Beine, geduckt wie Katzen laufen wir, überschwemmt von dieser Welle, die uns trägt, die uns grausam macht, zu Wegelagerern, zu Mördern, zu Teufeln meinetwegen, dieser Welle, die unsere Kraft vervielfältigt in Angst und Wut und Lebensgier, die uns Rettung sucht und erkämpft. Käme dein Vater mit denen da drüben, du würdest nicht zaudern, ihm die Granate gegen die Brust zu werfen!« 13 Der Augen-Blick könnte vom Anderen wissen, aber die Zeit-Ordnung des Kampfes zerteilt die Kette des Verhaltens in kleine Sequenzen des Überlebens, das auf selbstvergessene Weise mit sich eins ist, indem es in die Situation gewissermaßen »eintaucht«, bis zur nächsten Kampfpause, die jederzeit plötzlich durchbrochen werden kann. Foerster seinerseits beobachtet, dass Politik in den Diskursen zu Zeiten des Kaiserreichs, aber auch nach dessen Ende, am Gelingen gewaltsamer »Coups« gemessen wird, d. h. an »Augenblickserfolgen«, die unverzüglich zum nächsten Kräftemessen eilen lassen. Die Apperzeption des Politischen stützt sich auf Kampf-Bilder, deren metaphorische Suggestionen von Dringlichkeit, Ungehemmtheit und Unbefragbarkeit dessen Semantik regieren. So ist auch eine Konsequenz beherrschend, die aus der angestrengten Vorbereitung heraus die Entladung der Potentiale fordert, 13 Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Berlin 1929. 116 f. Auf diese Stelle verweist Rainer Schilling: Liebe als Erkenntnisweise. Aspekte der Liebe im Verhältnis zur objektivierenden Naturerkenntnis. Darmstadt 2005. 141 f.
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weil die Anspannung in den Rhythmus und die Ökonomie des Kämpfens eingefasst ist, und zwar nach angemessener, »absehbarer« Zeit, weil sonst die Spannung nachlässt, Ermüdung sich einstellt, Energievergeudung in Stellung gebrachter Expansionskräfte die Folge wäre. Dabei kann die sprachliche Anempfindung an das Extraordinäre des kollektiven Kampfes in der rauschhaften Verherrlichung der Großen Tat und des Großen Täters gipfeln. Dies illustriert Foerster mit der folgenden Stelle, die diesmal aus dem Jahre 1912 stammt, also gleichfalls noch vor dem Weltkrieg geschrieben ist: »Welche Männer ragen denn am höchsten in der Geschichte der Nation – wen umfängt der Herzschlag der Deutschen mit heißester Liebe? Etwa Goethe, Schiller, Wagner, Marx? O nein, sondern Barbarossa, den großen Friedrich, Blücher, Moltke, Bismarck; die harten Blutmenschen! Sie, die Tausende von Leben hinopferten, sie sind es, denen aus der Seele des Volkes das weichste Gefühl, eine wahrhaft anbetende Dankbarkeit entgegenströmt. Weil sie getan haben, was wir jetzt tun sollten. … Und dennoch lässt unser Volk die Nutzanwendung vermissen. Jeder einzelne weiß, die ganze Nation fühlt, nur im Angriff winkt Rettung […]«. 14 Auch hier bleiben die Opfer stumm, die Nation jedoch zeigt ihr Ganz-Sein in schwingender erotischer Polarität als Doppelwesen; einerseits aus schützendem und befehlendem (männlichem) Formprinzip, das »von oben« regiert und andererseits der dankbar empfangenden (weiblichen) Seite des »Volkes«, das ihm von unten in ungeformter Fülle entgegen quillt und entgegen fließt. Als »Volk« ist es jedoch noch nicht entschlossen, erst in Gestalt der kraftvoll geleiteten Nation wäre es bereit, als Angriffs-Welle den Feind zu überrollen. 15 Damit erst wird deren Selbstbezogenheit undurchdringlich für Fremde, welche sich gegen die Intimität dieses Selbstverhältnisses nur umrisshaft drohend abzeichnen, die jedenfalls nicht als Andere mit ihrer Würde erkennbar und in ihrer Verletzbarkeit sichtbar werden. Auch wenn Foerster solche Deutungen an dieser Stelle noch nicht explizit anstellt, sind sie dennoch nicht abwegig. Später nämlich wird er die »preussisch-deutsche Symbiose« Foerster: Kampf. A. a. O. 42. Es überlebt, wer schneller ist, das Heil liegt im Angriff: »Überall die unbewusste dynamische Metapher, die neue Dialektik des Schlachtfeldes, übertragen in philosophische und politische Begriffe.« (Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Berlin 1980. 32).
14 15
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im Sinne jenes Mythos charakterisieren, den Platons »Symposion« dem Aristophanes in den Mund legt, das heißt als ein »fast […] erotisches Phänomen, eine eigenartige Begegnung männlicher und weiblicher Eigenschaften, aus deren Vermählung alles das entstanden ist, was man deutsches Wesen nennt – freilich im Sinne einer […] einseitigen Vermännlichung«. 16 – Ein psychoanalytisch orientierter Zugang zur Sprache der Gewalt, wie er, beeinflusst durch Deleuze/ Guattari, von Klaus Theweleit vorgetragen wurde, könnte darin eher die patriarchalische »Herrschaftsarbeit« der »Unterwerfung, Eindämmung, Verwandlung der gesellschaftlichen ›Naturkraft‹« sehen, welche die »Wunschproduktion des Unbewussten« codiert »mit dem unterworfenen Geschlecht, der Weiblichkeit«. 17 Dem ethischen Rationalismus Foersters liegt freilich eine solche Perspektive fern. – In Foersters Darstellung gleicht die preußisch-deutsche Staatsvergötzung der missbräuchlichen Verquickung von Tugenden einer geradezu ins Religiöse gesteigerten Dienst- und Hingabebereitschaft mit einem spezifischen Rationalismus der Organisation. In Antriebsstrukturen und Rechtfertigungsmuster eingeprägt, besteht die »neudeutsche Mentalität« 18 keineswegs bloß aus sich reaktiv anpassendem Gehorsam. Die Umwandlung in den »Amtsmenschen« und »Staatsmenschen« erzeugt eine sachlich-technische Distanz zwischen dem Vollzug des jeweils als Auftrag Angenommenen und der Empfindungsfähigkeit für eigene wie erst recht für fremde Ansprüche. Sie wirkt wie eine gewaltsame Zentrierung subjektiver Orientierungen auf das »Ordnungsprinzip des preußischen Militärstaates«, durch die an die Stelle des »Gewissens« eine innere Instanz der
16 Friedrich Wilhelm Foerster: Europa und die deutsche Frage. Eine Deutung und ein Ausblick. Luzern 1937. 133. 17 Klaus Theweleit: Männerphantasien. Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Reinbek bei Hamburg 1990. 450. Gegen die Angst vor dem Zerfließen, davor, dass sich die Körperpanzerung auflöst, hilft »die Bewegung des Erstarrens, des Sich-Zusammenschließens zu einem ›Ganzen‹« und: »Mehr noch als heldischer Geist härtet heldisches Blut« (vgl. Theweleit: Männerphantasien. A. a. O. 250 und 254). Anders als von Theweleit anhand der »faschistischen Sprache« beobachtet, wäre hier nicht von einem »scharfen Gegensatz« zu reden, aber doch von einer Strukturhomologie im Dualismus von »Gipfel und Tal, Höhe und Tiefe, Ragen und Strömen […]. Das Unten: verschlingend, naß, in Bewegung. Die Höhe: sicher, trocken, unbeweglich. Der Bewegungsablauf der Sätze: das Unten zerschellt an der Höhe oder wird von ihr eingedämmt« (Theweleit: Männerphantasien. A. a. O. 254), nun wohl eher: formiert und geführt. 18 Foerster: Kampf. A. a. O. 136.
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»Staatsräson« tritt. 19 Dazu gehört auch jene Ausdeutung des kategorischen Imperativs, nach der »das Gewissen mit der subjektiven Seite des pflichtgemäßen Handelns zufriedengestellt wird«, 20 während zugleich der idealistische »Drang nach dem Objektiven und Systematischen« in der »Schöpfung des streng systematischen Staates« gipfelt. 21 1937 ergänzt Foerster: »Die nationalsozialistische Bewegung führte dieser Entwicklung noch ein Element hinzu, das nicht dem Preußentum entstammte, aber sehr geeignet war, den totalen Staat ideologisch zu unterbauen: das war die aus der Jugendbewegung gekommene Idee der Volksgemeinschaft, die nicht aus Hegelscher Theorie, sondern aus der Wiederentdeckung des deutschen Volkes durch die Wandervogelbewegung und die ihr verwandten Vereinigungen stammte und eine Reihe von höchst anerkennenswerten Bestrebungen zur Emporhebung der handarbeitenden Klassen inspiriert hat. Krieg und Nachkrieg steckten jene singende und wandernde Jugend mit dem offenen Schillerkragen in die preussische Uniform und dann in die nationalsozialistische Uniform, ihr Gesichtsausdruck verhärtete und verkrampfte sich, die Lügenpropaganda tat ihr Werk, […] – bis dann eines Tages jene ganze Jugendbewegung, die ausgezogen war, gegen die Mechanisierung des deutschen Lebens zu kämpfen, selber hoffnungslos verstaatlicht war.« 22 Aber bereits mit der Vorstellung eines Staates, der als Kollektivperson höchsten Eigenrechts auftritt, sei in Deutschland »jene einzig dastehende Verknüpfung von moralischer Kraft mit kalter und übermütiger Gewissenlosigkeit zustande [gekommen], die unendlich stärker und unendlich gefährlicher war, als jedes bloße Banditenwesen«; 23 eine Einsicht, die Foerster seit den 20er Jahren unermüdlich warnen lässt vor den von Deutschland ausgehenden Gefahren. Bereits vor, erst recht aber nach Beginn der Naziherrschaft in Deutschland unterzieht Foerster den »abstrakten« internationalen Pazifismus einer schneidenden Kritik, weil dieser die »wirkliche Kriegsgefahr […] in Zentraleuropa, d. h. im preußischen Nationalismus und seiner Revisionspropaganda und in der militärischen Bereitstellung für die Konsequenzen solcher Politik« gröblich verken19 20 21 22 23
Vgl. Foerster: Kampf. A. a. O. 135. Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 360. Vgl. Foerster: Kampf. A. a. O. 135. Foerster: Europa. A. a. O. 138. Hervorhebung H. R. O. Foerster: Kampf. A. a. O. 9.
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ne. 24 Für allgemeine Abrüstung und Kriegsdienstverweigerung einzutreten und dabei die heimliche Aufrüstung und den Kriegswillen maßgeblicher Kreise Deutschlands außer Acht zu lassen, hält er für ein Zeichen politischer Blindheit, die, anstatt den Frieden zu sichern, eher die Kriegstreiber ermutige: »Seit der Aera Bismarck sind gerade die Träger der deutschen Wirtschaft, und im besonderen diejenigen der deutschen Exportindustrie, die eigentlichen Förderer und Geldgeber jeder Art von enggeistig-nationalistischer Propaganda und provokatorischer Außenpolitik.« 25 Foerster, der die »sehr mächtige und einflußreiche Gruppe von Militärs, Alldeutschen, Schwerindustriellen und Großkapitalisten« 26 im deutschen Kaiserreich für die Entfesselung des Ersten Weltkriegs verantwortlich macht, sieht eine ungebrochene Kontinuität in der Mentalität der deutschen Eliten und des Bildungsbürgertums. Dies betrifft in seinen Augen insbesondere die Selbstgerechtigkeit, mit welcher »der nationalistische deutsche Bürger« nach dem verlorenen Krieg dazu neige, »mit gereizter und geschwollener Seele das Plus an Schuld und Gemeinheit immer nur auf der Gegenseite«, die Ursache des Geschehenen niemals in »eigenen Sünden und Missgriffen, sondern immer nur im ›Vernichtungswillen der Feinde‹« zu suchen. 27 Die von Foerster unablässig geforderte Besinnung und Umorientierung, die ernsthafte Auseinandersetzung mit der von ihm betonten, wenn schon nicht »Allein-«, so doch »Hauptschuld« Deutschlands am Weltkrieg, war in ersten An-
24 Friedrich Wilhelm Foerster: Abstrakter und realistischer Pazifismus. In: Hipler: Friedrich Wilhelm Foerster. A. a. O. 184–191, hier 185 (erschienen in der Zeitschrift: Die Zeit. Organ für grundsätzliche Orientierung. Berlin 05. 04. 1932). 25 Friedrich Wilhelm Foerster: Die Gesetze der deutschen Außenpolitik und die Falschorientierung des deutschen Nationalsozialismus. In: Hipler: Friedrich Wilhelm Foerster. A. a. O. 180–183, hier 180 (erschienen in der Zeitschrift: Allgemeine Rundschau. München 14. 02. 1931). 26 Foerster: Kampf. A. a. O. 113. Vgl. auch Foerster: Europa. A. a. O. 198: »Die gewichtigsten Memoiren aus der Reihe derjenigen Männer, die die Vorgeschichte des Krieges aus nächster Nähe und Anschauung kannten, vereinigen (für jeden, der selber eine lebendige Anschauung der wirkenden Kräfte gewinnen konnte) ausnahmslos ihre Zeugnisse zu der Erkenntnis, dass es die massgebenden preussischen Militärs und die mit ihnen speziell verknüpften hohen Beamten und Schwerindustriellen, einschliesslich der von der Schwerindustrie abhängigen Banken, gewesen sind, die alles arrangiert haben […]«. 27 Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Angewandte Politische Ethik. Anmerkungen zum Verständnis der gegenwärtigen Weltlage. Ludwigsburg i. Württ. 1922. 35 (erschienen im Verlag »Friede durch Recht«).
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sätzen steckengeblieben und wurde nach kurzer Zeit vehement abgelehnt. Er selbst emigriert, durch politische Mordanschläge bedroht, 1922 erneut in die Schweiz und später dann nach Frankreich. Foerster ruft mit einer solchen Insistenz die Öffentlichkeit und die gesellschaftlichen Eliten der Nachbarländer Deutschlands zur Wachsamkeit und zum Widerstand gegen die deutsche Kriegspolitik und ab 1933 gegen das nationalsozialistische Regime auf, dass ihm dies geradezu den Ruf eines »Alarmisten« einträgt. Seine Hinweise gelten nicht zuletzt der im Ausland kaum wahrgenommenen, obwohl schon von den Alldeutschen ausgesprochenen Drohung, die Landkarte Europas neu zu »ordnen« und ganze Bevölkerungen zu »verschieben«. Gerichtet auf den Nationalsozialismus schreibt er: »Eben darum muss immer wieder auf die ganze Grösse der Barbarei (angelegt im preussischen Kolonialdeutschtum, intellektuell gesteigert im Alldeutschtum) hingewiesen werden, der all jenes bessere Leben und Streben [des deutschen Idealismus, H. R. O.] verknechtet ist, eine Barbarei, die sich zuerst in der Art der Austreibung der Juden in ganzer Nacktheit offenbarte und die dann an dem bekannten mörderischen 30. Juni ihre Orgien feierte. Möge die Welt sich nicht darüber täuschen, was sie von dorther zu erwarten hat. Ich wiederhole die bereits zitierten Worte des Obersten von Sonnenburg: ›Es gibt nichts, nichts in der Welt, dessen diese Leute nicht fähig sind.‹« 28 Beim Einmarsch der Wehrmacht nach Frankreich 1940 rettet er sich mit seiner Familie in die Schweiz und flüchtet in die USA. Die Nationalsozialisten würdigten Foerster als einzigen deutschen Pädagogen mit Bücherverbrennung.
3. Antimachiavellistisches Pldoyer fr einen anderen Wirklichkeitssinn Mit Blick auf die Frage, wie dem ekstatischen Gewaltdiskurs in seinen »heißeren« oder auch »kühleren« Formen seine Grundlage entzogen werden könnte, verlangt Foerster nicht weniger als eine radikale Abkehr vom sogenannten »realpolitischen« Denken. Politik in ihrer Verfallsgestalt, welche allein diesem Denken zugänglich ist, wäre als »Machiavellismus« zu bezeichnen. Eine solche Haltung 28
Foerster: Europa. A. a. O. 501.
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meint, »den Menschen« zu kennen, und zwar in seinem von Leidenschaften getriebenen und nur durch Gewalt zu zügelnden Egoismus. Aus dieser anthropologischen Modellkonstruktion wird eine Herrschaftstechnik abgeleitet, die mit starken »Mitteln« rechnet und jede Äußerung auf andere hin in ihren Effekten zu kalkulieren und zu manipulieren sucht. Diese Handhabung der Macht gewinnt ihre Plausibilität im öffentlichen Diskurs erst, so wäre Foerster zu verstehen, auf Grund einer »Geistesverfassung«, die von »Selbstsucht«, von der krampfhaften Suche nach dem »nächsten Augenblicksvorteil« okkupiert ist. 29 Der Pädagoge glaubt hier einen tieferen Zusammenhang von Makro- und Mikropolitik, eine im »eigenen Innern« liegende Disposition zum Kriege, eine Wechselseitigkeit »der individuellen und kollektiven Selbstvergötterung« zu erkennen, denn, so betont er, »in allen Lebenslagen stehen wir ja immer nur in hartem Kampf miteinander; im Beruf, in der Familie, ja selbst in den Liebeswerken haßt und beneidet, verdammt und bespöttelt man sich wechselseitig offen und hintenherum; einer trachtet nach Ueberordnung über den andern, lauter gereizte Selbstgefühle empören sich unablässig über einander; von Lügen ist die Luft verpestet; am meisten belügt man sich selber«. 30 Jede »Verbindung auf dem Boden bloßen Interessengeistes« 31 bilde damit nur die zeitweilige Suspendierung des Kampfes. Der Friede sei »gleichsam nur die künstliche Außenseite eines ganz anders gearteten Zustandes der Seelen«, 32 dessen Wirklichkeit durch den Krieg ausgedrückt werde. Angesichts eines solchen kompetitiven, im innersten Kern polemogenen Begegnungsmodus, den Foerster als »selbstisch« bezeichnet, müsse »der Friede, der diese Wut allein zu beschwören vermag, […] ganz und gar aus einer anderen Welt kommen, als die es ist, die den Krieg geboren hat«. 33 Frieden kann daher nicht bloß eine alternative Maßregel, eine Angelegenheit juridisch gefasster Vorkehrungen sein. Damit unterscheidet sich die Haltung Foersters von Ansätzen eines rein »organisatorischen Pazifismus« 34 und lässt bei seinen FraVgl. Foerster: Kampf. A. a. O. 10, 14 und 37. Foerster: Kampf. A. a. O. 5, 8 und 9. 31 Foerster: Kampf. A. a. O. 35. 32 Foerster: Kampf. A. a. O. 7. 33 Foerster: Kampf. A. a. O. 7. 34 Seine Forderung nach grundsätzlicher Umorientierung der deutschen Politik brachte Foerster den radikalen Antimilitaristen innerhalb der deutschen Friedensbewegung der 29 30
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gen an das Politische einen ethischen Ernst erkennen, wie er heute wieder im Denken Emmanuel Lévinas’ einen vergleichbaren Stellenwert gefunden zu haben scheint. Wären demnach Foersters Einsprüche gegen den »Ichkrampf« einer hobbesianisch getönten Weltauffassung, seine mahnende Kritik an einer »Atmosphäre gegenseitigen Argwohns, beständiger Furcht und Unsicherheit […], innerhalb deren jeder sich vom Nachbarn bedroht« 35 sehe, legitimerweise in einem Atemzug mit Lévinasschen Denkfiguren zu nennen? Als Beleg für eine geistige Verwandtschaft könnte etwa Lévinas’ dramatische Szenerie einer »Vielheit der wechselseitig allergischen Egoismen, die beisammen sind, indem die einen gegen die anderen im Krieg liegen«, 36 gelten. Würde, so Lévinas weiter, der »Kampf aller gegen alle« nur zur geregelten Tauschbeziehung, zur vernünftigen Begrenzung des Eigennutzes ermäßigt, so würde deren rivalisierendes »Interessiertsein« immer noch Bestand haben und nur einen brüchigen, stets vorläufigen Frieden erlauben. 37 Fraglos besteht eine Gemeinsamkeit in dem von beiden Autoren angesprochenen Pascalschen Motiv des »moi haïssable«, 38 des »hassenswerten Ich«, das sich zum Mittelpunkt und zum Feind aller anderen, die es beherrschen will, macht. Auf dessen Begehrlichkeit eine Ordnung des Allgemeinwohls gründen zu wollen, bedeutet für beide Autoren lediglich, den Hass durch falschen Schein, durch ein Simulacrum der Liebe, zu verdecken. 39 Gegenüber der vorgeblich weltklugen Instrumentalisierung dessen, was ein machiavellistisches Politikverständnis als menschliche Antriebsstruktur ansieht, fordert Foerster einen fundamentalen Wandel in der politischen Wahrnehmung. Dabei ist in erster Linie Weimarer Republik näher als deren gemäßigten, linksliberalen und eher völkerrechtlich orientierten Vertretern, von denen sich einige während der zwanziger Jahre in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) betätigten. Vgl. Dieter Riesenberger: Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933. Göttingen 1985. 174 und 221. 35 Foerster: Kampf. A. a. O. 3 f. 36 Emmanuel Lévinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. La Haye 1978. 5: »la multiplicité d’égoïsmes allergiques qui sont en guerre les uns avec les autres et, ainsi, ensemble«. 37 »[…] cette paix raisonnable, patience et longeur de temps, est calcul, médiation et politique« (Lévinas: Autrement qu’être. A. a. O. 5). 38 Vgl. Blaise Pascal: Pensées. Paris 1991. 384. 39 Vgl. etwa Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 35. Vgl. Lévinas: Autrement qu’être. A. a. O. VI.
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der »sacro egoismo« der Nation angesprochen. Wenn an dessen Stelle die »Liebe für das Recht des andern« treten soll, so deutet die Paradoxie dieser Formulierung bereits an, dass Foerster mit »Recht« hier die durch die »ganze Realität des fremden Lebens« erzeugte Anspruchssphäre bezeichnet, deren Beachtung das »Nicht-Ich«, der andere, dem »Ich« abverlangt. 40 Freilich ist er weit entfernt von der schroffen Radikalität, mit der Lévinas das Ausgesetztsein des Subjekts konzipiert hat – das damit im eminenten Sinne »subiectum«, nämlich dem Anderen unterworfen sei. 41 Der deutsche Pädagoge denkt in Kategorien, die sich auf die Formel »Zusammenordnung statt Überordnung« bringen lassen. Die Rücknahme des übersteigerten Ich-Kults soll bewirken, dass die anderen wieder voll Achtung und Teilnahme gehört werden und alle erfahren können, dass eine gemeinsame Sprache jenseits einer Atmosphäre von Misstrauen und Hass möglich wird. Verantwortliche Politik soll die Richtung auf Vereinbarung und Kooperation nehmen, das heißt, in ihre Ziele bereits zukünftiges Zusammenwirken einstellen. Ist diese Programmatik etwa das Gegenteil von »realistischer« Politik? In seiner bekannten Rede »Politik als Beruf« hat Max Weber aufgegriffen, was der von ihm »der zweifellosen Lauterkeit seiner Gesinnung nach persönlich hochgeschätzte, als Politiker freilich unbedingt abgelehnte Kollege F. W. Förster« 42 zur Heiligung der Mittel durch den Zweck formuliert hat. Dabei nimmt Weber eine scheinbar geringfügige Änderung an Foersters originaler Formulierung vor: Heißt es bei Foerster in seiner »Politischen Ethik«, dass »aus Gutem nie Böses, aus Bösem nie Gutes kommen kann«, 43 so transformiert Vgl. Foerster: Kampf. A. a. O. 8 und 14. Vgl. Lévinas: Autrement qu’être. A. a. O. 70 f. und 209. Vom Lévinasschen Vorhaben einer Kritik der Ontologie kann bei Foerster keine Rede sein, aber die Unterschiede zeigen sich bereits etwa in der Rolle des Genusses (»la jouissance«) bei Lévinas, der »das äußerste Bewusstsein aller Inhalte [ist], die mein Leben erfüllen – er umfaßt sie alle« – entgegen Pascals Begriff der Zerstreuung; dagegen ist Foersters Apologie christlicher Selbstüberwindung und konzentrierter Disziplin der Kritik Pascals an den falschen Tröstungen der Zerstreuung sehr gut kompatibel, siehe auch unter Abschnitt 4. Vgl. etwa Pascal: Pensées. A. a. O. 163 und 214 f. Vgl. Emmanuel Lévinas: Totalité et Infini. Essais sur l’Extériorité. 4ème Edition La Haye, Boston, London 1980. 83. Übersetzung zitiert nach: Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg, München 1987. 154. 42 Max Weber: Politik als Beruf. In: Ders.: Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden. Band 17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919 – Politik als Beruf 1919. Tübingen 1992. 240. 43 Friedrich Wilhelm Foerster: Politische Ethik und Politische Pädagogik. Mit besonde40 41
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Weber diesen Satz in die »einfache These: aus Gutem kann nur Gutes, aus Bösem nur Böses folgen.« 44 Wer dies annehme, verkenne die ethische Irrationalität einer Welt »des unverdienten Leidens, des ungestraften Unrechts und der unverbesserlichen Dummheit« und sei »politisch ein Kind.« 45 In der Rezeption ist dieses Urteil Max Webers bekannt geblieben, nicht jedoch das von Foerster tatsächlich Ausgesagte. Die Pointe der genannten Modifikation liegt in der stillschweigenden Vertauschung der Ebenen, auf denen Kausalbeziehungen in Anschlag gebracht werden können: Weber spricht nämlich vom Verhältnis der Mittel zum Handlungserfolg im Sinne der gelingenden Durchsetzung einer zielgerichteten Aktion. Foerster meint jedoch die dauerhaften Wirkungen der Mittel auf die Psyche des Handelnden selbst und im Beziehungsnetz der Beteiligten, also die Folgen für die Bedingungen, unter denen weiter gehandelt werden muss. 46 Den kurzfristigen Gewinn, der sich aus dem Einsatz von Gewaltmitteln ergibt, zu bestreiten, lag Foerster fern. Der Streitpunkt besteht vielmehr in der bereits von Machiavelli vorgezeichneten Rechtfertigung eines Handelns jenseits der zivilen, bürgerlichen Moral. Der Principe muss diese Moral zwar kennen, aber nur, um sie zum Objekt seiner Berechnung zu machen, ohne sich ihr jemals zu unterwerfen. Diese Art von Herrschaftskunst ist darauf angelegt, in einem unübersichtlichen Feld gegeneinander gerichteter Bestrebungen der Akteure die sich bietenden Handlungschancen zu erkennen und diese optimal zur Erweiterung und Festigung der eigenen Macht zu nutzen. Dafür sollen keine anderen Einschränkungen in Betracht rer Berücksichtigung der kommenden deutschen Aufgaben. Dritte stark erweiterte Auflage der »Staatsbürgerlichen Erziehung«. München 1918. 202. 44 Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 240. 45 Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 242. 46 Foerster äußert später die Auffassung, dass Max Weber hier einem Missverständnis aufgrund eines mündlich kolportierten Zitats erlegen sei; vgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Politische Ethik. Recklinghausen 1956. 323. Tatsächlich hielt Weber die Sichtweise Foersters als politische Auffassung für gänzlich abwegig. Als Gegenposition Max Webers siehe auch seine Haltung in der »Schuldfrage«, in ihr gehe es um »Benutzung der ›Ethik‹ als Mittel des ›Rechthabens‹« (Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 233) und – insbesondere bezogen auf Kurt Eisner – zu den »allerhand Literaten, die das Bedürfnis ihrer, durch die Furchtbarkeit des Krieges zerbrochenen oder der Anlage nach ekstatischen Seele im Durchwühlen des Gefühls einer ›Kriegsschuld‹ befriedigten«: Max Weber: Zum Thema der »Kriegsschuld«. In: Ders.: Gesammelte Politische Schriften. Tübingen 5 1988. 488–497, hier 488.
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kommen als solche, welche die Regeln der Klugheit vorgeben, also Limitationen von technisch-hypothetischem, keineswegs kategorischem Status. Die Gültigkeit der alltäglichen Moral für das private Leben ist darin nicht bestritten, und auch das Handeln der großen Täter steht nicht außerhalb jeder Bewertung, es verlangt nur nach einem Beurteilungsmaßstab eigener Art, der Gewalt, selbst Mord, im Kampf um die Macht rechtfertigt, wie Machiavelli bezogen auf den Brudermord des Romulus bemerkt: »Nie wird ein kluger Kopf einen Mann wegen einer außergewöhnlichen [!] Handlung tadeln, die er begangen hat um ein Reich zu gründen oder einen Freistaat zu konstituieren. Spricht auch die Tat gegen ihn, so entschuldigt ihn doch der Erfolg. […] Denn nur wer Gewalt braucht um zu zerstören, und nicht, wer sie braucht um aufzubauen, verdient Tadel.« 47 Entsprechendes gilt für den Schutz des Staates in Notsituationen oder für die Erneuerung eines in Verfall geratenen Gemeinwesens. Ähnliches könnte zu seiner Legitimation auch Webers »Verantwortungsethiker« sagen, für den der politische Zweck, nämlich zugunsten einer selbstgewählten »Sache« die »Machtverteilung zwischen und innerhalb politischer Gebilde zu beeinflussen«, 48 die Anwendung von Gewalt rechtfertigt. Und für die Politik ist Weber zufolge »das entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeit.« 49 Die eigentlich politische Verantwortung vor der Zukunft 50 hat Weber in seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1895 dahingehend bestimmt, dass es gelte, die Stärke des eigenen Gemeinwesens für kommende Generationen zu sichern, mit einem signifikanten Ausdruck: »das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen.« 51 Im Ersten Weltkrieg erhöht sich ihm die deutsche »Pflicht und Schuldigkeit vor der Geschichte, das heißt: vor der Nachwelt« zur Aufgabe, an der Entscheidungsschlacht um die zukünftige Gestaltung der Weltkultur teilzunehmen und zu verhindern, dass sie »zwischen den Reglements russischer Beamter einerseits und den
47 Niccolò Machiavelli: Il Principe e Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio. Milano 1973. 154 f. Übersetzung zitiert nach Niccolò Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. 2., verbesserte Auflage, Stuttgart 1977. 36 f. 48 Vgl. Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 167. 49 Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 238. 50 Vgl. Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 233. 51 Max Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. In: Ders.: Politische Schriften. A. a. O. 1–25, hier 14.
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Konventionen der angelsächsischen ›society‹ andererseits, vielleicht mit einem Einschlag von lateinischer ›raison‹, aufgeteilt würde.« 52 Foersters Argumentation greift eben solche Rechtfertigungen an: moralisch verwerfliche Mittel einsetzen zu müssen, um »aufbauende Zwecke« zu verwirklichen. Der große Irrtum des in der Wahl seiner Schritte »machiavellistischen« – aber nicht skrupellos amoralischen, sondern den Dienst an der Sache beanspruchenden – Politikers wäre es demnach, sich selbst als Virtuosen zu imaginieren, der, selbst nicht affiziert durch die verwendeten Mittel, stets die Kontrolle über deren Wirkungen behält. Der Einspruch Foersters gründet sich auf die These, dass das eingesetzte Mittel denjenigen verändert, der es benutzt. Gerade deswegen wird der »Erfolg« der Gewalt zur Gefahr in mehrfacher Hinsicht. Er verleitet einzelne und Kollektive dazu, die Möglichkeit gewalttätiger Auseinandersetzungen als das bestimmende Element ihrer Situation anzunehmen, sich selbst als permanent bedroht und infolgedessen zur Bedrohung anderer gezwungen zu sehen. Je stärker das eigene Potential an bewaffneter Macht ausgebaut wird, desto größer wird die Selbst-Gefährdung infolge der Anmaßung, nur auf sich selbst und die eigene Entschlossenheit zur Gewaltanwendung gestellt, der ganzen Welt standhalten zu wollen. Zugleich wird das Netz von Vertrauens- und Teilnahmebeziehungen zerstört, das Vorbild der Gewaltentgrenzung wirkt endemisch, verbreitet Furcht und Misstrauen und findet schließlich allgemeine Nachahmung. Für schädlich und unhaltbar erklärt Foerster die Spaltung zwischen der zerstörerischen, die Gemeinschaft mit den anderen aufkündigenden Gewalthandlung einerseits und dem der Gerechtigkeit verpflichteten »Rechtsgewissen« andererseits; ein innerer Widerstreit, der dem Handeln seine Klarheit und Glaubwürdigkeit nehme. 53 Ähnliche Überlegungen liegen im übrigen Mahatma Gandhis Satyagraha zugrunde, wörtlich etwa »gerechte Bestrebung«, was sein Verkünder auch als »Macht der Wahrheit« oder »Macht der Seele« interpretiert; eine Lehre, die verlangt, dass die gewaltlosen Widerstandsformen gegen eine »tyrannische« Macht mit äußerster Konsequenz und ohne Vorbehalt geübt werden, um die Kraft des eigenen
Max Weber: Zwischen zwei Gesetzen. In: Ders.: Politische Schriften. A. a. O. 142– 145. Hier: 143. 53 Vgl. Foerster: Politische Ethik. A. a. O. 49. 52
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Willens nicht zu schwächen. 54 Selbst Machiavelli war die Spannung zwischen dem Gewaltakt, der erst die Voraussetzung der Ordnung schaffen soll, auf der einen Seite und der auch von ihm für die Prädizierung höchsten Ruhms, der »gloria del mondo«, 55 gesuchten Aufbauleistung auf der anderen Seite nicht entgangen. Hier besteht sie darin, dass im Übergang von der gewaltsamen Herrschaftsgründung zur Konsolidierung eines gut eingerichteten, freiheitlichen Gemeinwesens eine Art Umkehrung der Strebensrichtung stattfinden soll: »Da nun einerseits die Reorganisation der Verfassung einen ausgezeichneten Mann voraussetzt und andererseits die gewaltsame Eroberung der Macht in einem Gemeinwesen einen schlechten Charakter erfordert, so wird äußerst selten der Fall eintreten, dass ein rechtschaffener Mann mit schlechten Mitteln die Macht erobert, um einen guten Zweck damit zu verfolgen, oder dass ein schlechter Mensch, wenn er zur unumschränkten Macht im Staat gekommen ist, zum allgemeinen Besten handelt und die Absicht hat, die Macht gut anzuwenden, die er mit verwerflichen Mitteln erobert hat.« 56 Weil der Autor der Discorsi von einer jeweils festliegenden »Natur« des Handelnden ausgeht, die dessen Verhaltensspielraum beschränkt, drückt sich das Problem also bei ihm in einem abwechselnden NichtPassen der verschiedenen Menschentypen zu der janusköpfigen Situation der ursprünglichen Gesetzgebung aus. Max Webers religionsvergleichende Perspektive legt es nahe, die Aufspaltung der moralischen Verpflichtungsordnung als bereichs54 Vgl., mit Einfluss auch auf die deutsche Friedensdiskussion der zwanziger Jahre, Mahatma Gandhi: Jung Indien. Aufsätze aus den Jahren 1919 bis 1922. Auswahl von Romain Rolland und Madeleine Rolland. Erlenbach-Zürich, München und Leipzig 1924. 136 ff., 241 f. und 505. Bei Gandhi motiviert dieser Ansatz eine spezifische Kritik des Westens, in diesem Falle der Politik Wilsons, welche die »moralische Kraft der Welt« beschwört, aber: »Bewaffnete Streitkräfte stehen bei diesem Programm im Hintergrund« und das Vertrauen gilt vielmehr ihnen, so in einem Brief Gandhis von 1919, zitiert nach Erik H. Erikson: Gandhis Wahrheit. Über die Ursprünge der militanten Gewaltlosigkeit. Frankfurt am Main 1978. 522. Foerster hat allerdings, soweit ich sehen kann, Gandhis Methode nicht systematisch rezipiert, bei aller Hochschätzung für dessen Person. Eine gewisse Ähnlichkeit schien ihm in der religiösen Verankerung weltpraktischen Handelns zu liegen; vgl. Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 35. Auch die Äußerungen Gandhis zu Gewalt und Militär lassen sich auf keinen einfachen Nenner bringen, sondern folgen wechselnden Zügen in einer »Grammatik« psychischer Kämpfe. 55 Machiavelli: Principe e Discorsi. A. a. O. 159. Vgl. Machiavelli: Discorsi. A. a. O. 42. 56 Machiavelli: Principe e Discorsi. A. a. O. 182. Übersetzung nach Machiavelli: Discorsi. A. a. O. 67.
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spezifische Anpassung der religiösen Gesetzgebung an die »immanenten Eigengesetzlichkeiten des Berufs«, einschließlich desjenigen von »Krieg und Politik« anzusehen, wofür jeweils besondere Ethosformen ausgebildet würden. 57 Der »professionelle« Umgang mit Gewalt erfordere mithin den Einbau legitimer Exemtionen in die religiöse Systematik, seien diese nun durch ein System der Standesoder Kastenordnungen oder etwa durch die Luthersche Zwei-ReicheLehre begründet. Dabei setzt sich jene bereits bei Machiavelli angelegte Zweideutigkeit fort, die jede Rede von »Verantwortungsethik« zu dementieren droht. Einerseits scheint Weber eine konsequent moralfreie, keinerlei Mittel scheuende Lehre von der Herrschaftskunst zu befürworten, die gänzlich »den Eigengesetzen der Politik« folgt und das »dem Kriegszweck entsprechend sachlich notwendige«, als das angemessene, der Sachlogik und den situativen Opportunitäten angepasste, Vorgehen beschreibt. 58 Die Klugheitslehren, auf die sich Weber bezieht, zeigen eben nichts anderes als Kampfesweisen, welche der persönlichen Durchsetzung und dem Überleben machtbewusster Personen dienen, die sich gegen jeden Kontrahenten aller Mittel bedienen, die Erfolg versprechen. Ist dann aber nicht, angesichts des Fehlens anderer Ziele, der eigene Machterwerb oder die Machterhaltung, der Aufbau neuer Machtstrukturen oder die Neubesetzung der alten Machtstellen schon als politischer Zweck ausreichend und im Erfolgsfall Rechtfertigung genug? Pointiert gesprochen: Wenn man nicht von einer Standesordnung ausgeht, die dem einen qua Geburt ethisch das verwehrt, was dem anderen selbstverständlich ist, so bestünde das Vergehen eines kleinen Verbrechers nur darin, dass seine Untaten eben nicht das außerordentliche Format eines großen Täters erreichen, der ganze Kollektive seinem rücksichtslosen Machtpragma aussetzt. Andererseits hält es aber auch Weber für zwingend notwendig, ein Handeln, dem irgendein »verantwortungsethischer« Wert zugesprochen, ein Aspekt des »Pflichtmäßigen« und Sinnhaften beigelegt werden kann, von der »reinen« Machtpolitik, dem Genuss der Macht »um ihrer selbst willen« und der bloßen Anpassung der Wertsetzungen »an die jeweiligen wirklichen oder scheinbaren Augenblickschancen« abzugrenzen. 59 Eine Vgl. Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 242 ff. Vgl. Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 243. 59 Vgl. Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 229 und Max Weber: Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 7 1988. 489–540, hier 515. 57 58
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verantwortungsethische Haltung sieht Weber nur dann gegeben, wenn das persönliche Handeln in ein selbstgewähltes, aber konstantes, die Einheit der Lebensführung gewährleistendes Verhältnis zu letzten Werten gesetzt wird. Die Frage nach inhaltlichen Zwecken und den in ihnen enthaltenen Wertsetzungen gerät jedoch in den Hintergrund gegenüber einer Gewaltbeschwörung, die Politik »sachlich« – und das heißt hier »handlungstechnisch« – an dasjenige Mittel ausliefert, das ihr Tätigkeitsbild ebenso prägen soll wie es als dämonische Herausforderung die Charakterbildung desjenigen bestimmt, der sich ihr in politischer Führungsverantwortung stellt. Gegen alle Apologeten der Gewalt, die sie als das politische Mittel schlechthin bezeichnen, besteht Foerster darauf, dass sie immer schon dasjenige auflöse, was sie nach Ansicht ihrer Befürworter gerade befördern sollte: nämlich die auf gegenseitiger Achtung fußende Ordnung der menschlichen Beziehungen. Dies gilt nicht nur im Innern und im Sinne der Foersterschen Ablehnung preußischer menschen- und menschenrechtsfeindlicher »Dressurmethoden«. Auch der Umgang mit denjenigen, die außerhalb der eigenen Grenzen sind, bleibe nicht ohne Folgen für die innere Verfassung eines Kollektivs. Insbesondere Kolonialismus und Imperialismus demonstrierten »die verheerende Rückwirkung einer gewissenlosen Außenpolitik für das innere Leben eines Volkes«. 60 Was Foerster der gemeinhin als »Realpolitik« bezeichneten Richtung vorhält, ist gerade deren Mangel an Wirklichkeitssinn. Sich der gesamten Realität zu öffnen, würde bedeuten, das eigene Handeln im Kontext der Bestrebungen der anderen zu sehen, aber nicht bloß so, dass die möglichen Effekte einzelner Schritte auskalkuliert würden. Zwar wäre es angesichts einer mit dröhnender Ignoranz auftretenden deutschen »Weltpolitik« schon ein Gewinn an Klugheit gewesen, überhaupt die Absichten und Stärken anderer politischer Akteure ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Eine solche Kritik zur Beförderung strategischer Intelligenz in der deutschen Debatte der Weltkriegszeit war das Anliegen Max Webers; nach der Ansicht Foersters gelangt ein solches Raffinement jedoch nicht über das Denken des politischen »Schachspielers« hinaus. Eine Politik, die auf lange Sicht Friedensordnungen schafft, kann nach seiner Überzeugung nur auf einem Denken beruhen, das am Anderen teilnimmt, sich seiner annimmt. Im Sinne Foersters wäre die »verantwortungsethische« Position, 60
Vgl. Foerster: Politische Ethik. A. a. O. 22.
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soweit sie zumindest als ethisch bedeutsame Stellungnahme zu erkennen ist und sich nicht in reinem »Machiavellismus« verliert, aus einer doppelten Verkürzung zu befreien: sowohl aus der Verengung, die darin besteht, Zweck, Mittel und Folgen nur für die eigene Sache abzuwägen, als auch aus der kurzschlüssigen Form der Kalkulation, welche die »Folgen« nur als äußerlich erfassbare Zustandsveränderungen, insbesondere von Gütern und Machtmitteln, oder im Sinne erzwingbarer Verfügungschancen erkennt, nicht jedoch als Wandel in dem, was man selbst ist, die nicht sieht, wie die anderen sich mitverändern und wie sich die Wahrnehmung voneinander umgestaltet. Eine solche grundstürzende Veränderung der Perspektive muss in Zeiten besonders durchdringender kollektivegoistischer Formierung, die mit existenziellen Ängsten unterlegt ist, auf aggressiven Widerstand gefasst sein, wie die eingangs geschilderte Vortragsszene demonstriert. In der Münchener Studentenschaft findet Foerster während des Ersten Weltkriegs teilweise Zustimmung, zieht zugleich aber die Feindschaft nationalistischer Gruppen auf sich und löst an der Hochschule heftige Kontroversen aus. Dabei kann man Foerster nicht als »Gesinnungsethiker« bezeichnen, sofern darunter die bedingungslose Anhängerschaft an eine völlig gewaltfreie Quäkerethik zu verstehen wäre. »Dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt« 61 stellt in seinen Augen ein kühnes Unterfangen dar, das den friedensorganisatorischen Pazifismus unterstützen kann »durch Einzelne, ja auch durch Völker, die das Experiment wagen und feindlichen Absichten und Aktionen keinen Widerstand äußerer Art leisten, weder aktiven noch passiven, sondern rein darauf vertrauen, das Böse durch das Gute zu entwaffnen, zu beschämen, zu überwinden.« 62 Daraus folgt nicht der Appell zum Gewaltverzicht in jedem, auch dem äußersten Fall, wie allein schon Foersters Mahnungen an die Nachbarländer beweisen, gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland eine auch militärische Konsequenzen nicht scheuende Politik der Wehrhaftigkeit zu treiben. An politischem »Realismus« orientiert wäre eine solche von Foerster nahegelegte Auffassung des Politischen auch insoweit, als ihr an »Selbsterhaltung« gelegen ist, dies jedoch mit einer Vorgabe sympathisierender Achtung für den Anderen: Sie »bedarf eines durchVgl. Weber: Politik als Beruf. A. a. O. 235 und 237. Friedrich Wilhelm Foerster: Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel. ErlenbachZürich, München und Leipzig 1923. 416.
61 62
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dringenden Blickes für die Realitäten der uns umgebenden Welt – dieses Sichversenken in das, was außer uns ist, kann nur durch Liebe, nicht durch den Geist der Selbstsucht geschehen.« 63 Das, was in einer solchen Annäherung über die Ansprüche und Bedürfnisse der anderen zu erfahren ist, gewinnt Einfluss auf die eigenen Werte und Präferenzen, in welche »menschliche Fürsorge auch für die fremden Lebensmöglichkeiten« eingelassen, »fremdes Gut wie ein eignes Heil umfaßt« wird. 64 Die nichtberechnete Gabe, ein »Akt ehrlicher Güte« sei, so Foerster, »notwendig, um zu verhindern, dass die Herstellung und Sicherung des Rechtes von lauter häßlichen Empfindungen begleitet sei, die im Grunde trotz alles Redens vom Rechte doch nur aus der Welt der harten Gier stammen und die darum auch bei anderer Gelegenheit selber in rechtlosen Akten zum Ausbruch kommen.« 65 Dabei ist der Akt des Loslassens eigener Güter, des Verzichts auf die Durchsetzung ursprünglich gefasster Interessensdefinitionen ein therapeutisches Mittel, um die allgemeine Angst um das Eigene, den Krampf intransigenter Vorteilsuche zu lösen. Dies stelle unzweifelhaft ein Wagnis dar, jedoch eines, dass geeignet sei, wechselseitig entgegenkommende Tendenzen zu befördern und zu dauerhaftem Ausgleich zu gelangen, dagegen sei »die Gewaltmethode […] immer ein unberechenbares Hasardspiel, und je größer der Sieg dieser Art von Energie sich darstellt, desto sicherer trägt sie die künftige Niederlage bereits in sich durch die ganze Fülle des ›ressentiments‹ und des Neides, die durch den Erfolg unvermeidlich in der ganzen Umwelt erregt und die durch den leider nie fehlenden Uebermut des Siegers immer höher gesteigert wird.« 66 Die Blindheit dafür, dass die rücksichtslose Interessendurchsetzung, die Ausrichtung des Handelns auf kurzfristig kalkulierte Vorteile und die Unterordnung des politischen unter das militärische Denken notwendig Verfeindung erzeuge, kennzeichnet nach Foerster jene Gewaltobsession, welche die Vorstellungen von »Realpolitik«, insbesondere der deutschen »Bildungsschichten«, mit schlimmsten Folgen geprägt habe. Die Triftigkeit solcher Überlegungen ist dabei nicht auf den deutschen Fall begrenzt, sie sind überdies keineswegs inaktuell geworden. Nicht zufällig hat Hannah Arendt 1971 in ihrem Aufsatz 63 64 65 66
Foerster: Weltpolitik. A. a. O. 37. Foerster: Weltpolitik. A. a. O. 48 und 27. Foerster: Weltpolitik. A. a. O. 48. Foerster: Weltpolitik. A. a. O. 29.
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zur Veröffentlichung der Pentagon-Papiere konstatiert, dass die Kriegsplaner alle Gruppen, mit denen sie es zu tun hatten, falsch beurteilten. Insbesondere hätten sie einen »Feind« geschaffen, »der, bevor wir ihn angriffen, weder den Willen noch die Macht hatte, unser Feind zu sein«. 67 Ähnliche Gedanken leiten bereits unseren Autor. In der Absicht, entgegen der selbstgerechten öffentlichen Empörung über die Kriegsgegner zu erklären, wie die Feindschaft gegen Deutschland entstanden sei, versucht Foerster, dessen Bild in den Augen der anderen den Deutschen zur Vorstellung zu bringen. Insbesondere tadelt er das deutsche Verhalten gegenüber den begonnenen Anstrengungen in den Haager Konferenzen, erste Schritte zur Kriegsverhütung mittels Schiedsgerichten und zu Abrüstungsvereinbarungen zu gehen, das von arrogant vorgetragener Vorteilsuche bis zu schroffer Ablehnung reichte. Völlig gleichgültig und empfindungslos für fremde Realitätswahrnehmungen und Sensibilitäten, verdecke die Politik der deutschen Machtelite vor sich und dem Publikum, wie sehr sie Feindschaft in ihrer Umgebung erwecke. Gründe für deren Haltung würden verleugnet, mit dem deutschen Überfall auf das neutrale Belgien und dessen Rechtfertigung beginne ein »Lügenfeldzug«, der »jene eigenartige Zusammenarbeit zwischen bewusster Fälschung und unbewusstem Selbstbetrug zustande gebracht [habe], die es in den Kriegsjahren ganz unmöglich machte, die Wahrheit zum Durchbruch zu bringen.« 68 Hannah Arendt sieht anhand der Verknüpfung von Betrug und Selbstbetrug bei der manipulativen Interaktion der Regierungstechnokraten mit der Öffentlichkeit die permanente Realitätsverfehlung in deren Tendenz begründet, Urteilskraft durch abstraktes Schematisieren zu ersetzen und sich im Übrigen auf die Fabrikation von »Images« zu konzentrieren. Nach Foerster liegt die Dummheit bereits in der Unfähigkeit, aus der Selbstbezogenheit der Interessenwahrnehmung herauszutreten und in Zusammenhängen rücksichtsvoller Konstellierung zu denken. Erst von einer solchen, immer wieder neu zu vollziehenden Bewegung her, könnte demnach ein auf das Knüpfen dauerhafter Beziehungsnetze orientierter, nicht-egozentrischer und damit friedensförderlicher Wirklichkeitssinn entstehen.
Hannah Arendt: Die Lüge in der Politik. In: dies.: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II. München/Zürich 2000. 322–353, hier 333. 68 Foerster: Kampf. A. a. O. 177. 67
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4. Fderalismus – Anmerkungen zu einem Gedankenanstoß Foersters Die genuine Idee für ein Zusammenordnen, das den Gegenpol zum preußischen »Neudeutschtum« bilden soll, findet Foerster 1914 im »föderalistischen Geist«. Was er im Herbst 1914 vergeblich zu Gehör zu bringen versucht und 1916 in seinem Aufsatz »Bismarcks Werk im Lichte der großdeutschen Kritik« in der Zeitschrift »Die FriedensWarte« publiziert, stellt die Abkehr von einem Politikverständnis dar, in dem der Nationalstaat nahezu alle politische Energie und Vorstellungskraft in Beschlag nimmt. Gegen den herrschaftlichen Zentralismus will Foerster das Prinzip freiwilliger Assoziierung neu zur Geltung bringen, bei dem, ineins mit der Verbindung, die Selbständigkeit der Beteiligten geachtet wird und erhalten bleibt. Er beruft sich dabei auf einen der profiliertesten Bismarck-Kritiker des 19. Jahrhunderts, Constantin Frantz, der den Föderalismus als das Ordnungsprinzip der Zukunft proklamiert hatte. Frantz gewinnt seine Vorstellung des Föderalen am Bild des alten Deutschen Reiches, das er als rechtlich verfasste »eigenthümliche Gestalt des Gesammtlebens«, als eine »lebendige Kopula eigener Art« aus staatlichen und gesellschaftlichen Elementen beschreibt: »Korporative Verbindungen aller Art: geistliche, ritterschaftliche, städtische und genossenschaftliche, wie die Gilden und Zünfte, regten sich im ganzen Reich und durchzogen den ganzen Körper desselben.« 69 Frantz’ Überlegungen kennzeichnet eine geschichtsphilosophische Zuversicht hegelianischer Prägung, der zufolge auf die partikularistische Erstarrung spätfeudaler Strukturen und deren Aufbrechen durch den Liberalismus eine neue »Synthese« erfolgen soll. Diese würde den »atomistischen« Individualismus der liberalen Bewegung und gleichermaßen die entgegengesetzten Tendenzen zu einem »mechanischen« Sozialismus in einem System überwinden, »welches die einseitige Herrschaft des Staates grundsätzlich aufhebt, und dadurch eine freie Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte ermöglicht.« 70 So müsste ein föderalistischer Aufbau, beginnend von den Gemeinden über Kreise und Landschaften, die Selbstregierung der Gliederungen in politischer, jurisdiktioneller und finanzieller Hinsicht respektieren, woge69 Constantin Frantz: Die Wiederherstellung Deutschlands. Aalen 1972 (Neudruck der Ausgabe Berlin 1865). 358. 70 Frantz: Wiederherstellung. A. a. O. 370.
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gen üblicherweise »nur ein modificirter und verschleierter Absolutismus« anzutreffen sei. 71 Wenn Frantz sich gegen Versuche zu einer kulturellen »Homogenisierung« wendet, wie sie seinerzeit in der Germanisierungspolitik der preußischen Ostprovinzen zu beobachten waren, 72 so spricht daraus das Verständnis für ein Zusammenwirken, das »differente Elemente« umfasst – »warum sollten wohl verschiedene Nationalitäten nicht zu einem Ganzen verbunden sein, wenn dadurch ihre staatlichen Zwecke besser befriedigt werden als durch gegenseitige Absonderung?« 73 Eine Vielzahl sich durchkreuzender und überlappender Zugehörigkeitsverhältnisse zu kulturellen, sprachlichen und politischen Ordnungen hält Frantz nachgerade für wünschenswert. Damit scheint er zumindest eine grundsätzliche Kontraposition zu jener gewaltträchtigen Obsession moderner Staatlichkeit zu beziehen, 74 in dem eigenen Territorium um jeden Preis »Gleichförmigkeit« bis hin zu dem zu erzeugen, was dann bei Carl Schmitt »Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen« 75 heißen wird. Auf den Spuren Frantz’ erklärt Foerster es zur »deutschen« Berufung, als »Träger übernationaler Aufgaben« zu wirken und die freigewählte Völkerverbindung Europas und der Menschheit voranzutreiben. Bereits Frantz hatte das Programm »Frieden durch Rechtssinn« vertreten und die allgemeine Verrohung des Umgangs, hervorgerufen durch preußische Gewaltpolitik, beklagt: »Nein, in solcher Weise soll Deutschland nicht für den europäischen Frieden sorgen, dass es durch sein Streben nach Macht auch rings herum dasselbe Machtstreben hervorruft, sondern auf die Erhaltung und Kräftigung des allgemeinen Rechtssinnes soll es sein Streben richten, als der inneren und allernothwendigsten Bedingung eines europäischen Friedenssystemes. Deutschland selbst soll der Stützpunkt des europäischen Rechtes sein, und also zunächst doch wohl durch sein eigeVgl. Constantin Frantz: Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland kritisch nachgewiesen und konstruktiv dargestellt. Aalen 1962 (Neudruck der Ausgabe Mainz 1879). 135. 72 Vgl. Constantin Frantz: Die preußische Intelligenz und ihre Grenzen. München 1874. 64 f. 73 Frantz: Föderalismus. A. a. O. 348. 74 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992. 87. 75 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Berlin 4 1969 (Nachdruck der Ausgabe von 1926). 14. 71
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nes Beispiel der Rechtsachtung. Denn dass inmitten Europas ein vielgliederiger Körper besteht, in welchem das schwache Glied sich ebenso gesichert fühlt als das starke, ist von höchster Wichtigkeit für die Erhaltung des allgemeinen Rechtssinnes, wie umgekehrt nichts so zerstörend auf das ganze europäische Rechtssystem wirken muss, als wenn gerade in Deutschland das Beispiel der Vergewaltigung des Schwachen gegeben und durch die Tat selbst das Machtsystem proklamiert wird. So unleugbar auch die daraus entsprungene Steigerung der äußeren Machtmittel wäre, und somit auch der äußeren Schutzmittel des Friedenszustandes, – in sehr viel höherem Maße haben sich umgekehrt die inneren Bürgschaften des Friedens vermindert, die auf der Bewahrung des Rechtes beruhen. Si vis pacem tuere justitiam, sage ich, das ist die unverläßlichste Bedingung für die Sicherung des Friedens, und nicht das parare bellum, worin die Kasernenphilosophie ihr ein und alles findet.« 76 Foersters Wiederaufnahme dieser Überlegungen geht in einem ähnlichen Dreischritt vor: Nach dem Zerfall der christlich-mittelalterlichen civitas humanaVorstellung habe sich die »Verirrung« des Nationalismus ausgebreitet, der aber inzwischen durch die zunehmende weltweite wirtschaftliche Verflechtung bereits obsolet sei. »Diesem Interregnum des bloßen National- und Territorial-Egoismus entsprach ein wahrhaft armseliger Zustand der politischen Wissenschaft. Man kannte nur noch den einzelnen Staat, das zwischenstaatliche Leben mit seinen Realitäten, Bedürfnissen und Bedingungen wurde völlig übersehen. Statt dass die Staatswissenschaft den allgemeinen Völkerverkehr als eine zu dem inneren Leben der Staaten selbst gehörige Angelegenheit ansah und behandelte, wurde ein gänzlich überspannter Begriff von einzelstaatlicher Souveränität, Selbstbehauptung und Selbstgenügsamkeit ausgebildet, der mit dem Wachstum internationaler Abhängigkeiten und Aufgaben absolut nicht mehr zusammenstimmte.« 77 Heute seien vielmehr neue weltorganisatorische Konzepte und Anstrengungen vonnöten, die freilich nur dann wirksam werden könnten, wenn sie die komplexe Vielfalt berücksichtigten, die das Feld politischer Kräfte unterschiedlicher Provenienz über die Staatlichkeit hinaus enthalte. Versucht man die aktuelle Bedeutung der Frantzschen Gedan76 Constantin Frantz: Das neue Deutschland. Beleuchtet in Briefen an einen preußischen Staatsmann. Leipzig 1871. 403. 77 Foerster: Politische Ethik und politische Pädagogik. A. a. O. 265 f.
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kenwelt zu würdigen, drängen sich vorab etliche schwerwiegende Bedenken auf. Zunächst lässt sich bei Frantz eine Vielzahl antiliberaler und antiparlamentarischer Motive aufzeigen, die in der Tradition romantisch-konservativen Denkens stehen. Der Versuch, die Staatslehre erneut der christlichen Theologie zu unterstellen, die Rede von der Wesenserkenntnis der Völkerindividualitäten mit ihrer je eigenen historischen Bestimmung, die gegen den parlamentarischen Parteienbetrieb zu unternehmende Wiederverankerung der politischen Ordnung in zeitgemäß neugestalteten quasiständischen Gliederungen oder die gegen das neuzeitliche Vertragsdenken, den »abstrakten« Individualismus und die moderne Gesellschaft der »Masse« stehende Betonung »natürlicher« Gemeinschaftsbildungen von Familie, Abstammung, Sitte und Sprache als Vermittlungen zwischen Individuum und Staat sind heute allenfalls von antiquarischem Wert. Noch stärker schlägt bei einer Beurteilung des Frantzschen Werkes sein Antisemitismus zu Buche, den Foerster als bedauerliche »Verirrung« des von ihm ansonsten hochgeschätzten Autors bezeichnet. 78 Man kann hier jedoch nicht von einem bloß akzidentiellen Element reden, denn das Frantzsche Lob der Vielfalt schließt nicht zufällig diejenigen aus, die von ihm als Protagonisten der Abstraktionen des bürgerlichen Rechtsstaates und des Geldsystems gesehen werden, die sich dem Gemeinwesen nicht in vorgegebener – oder wieder zu erringender (!) – Harmonie »organisch« einfügen, insbesondere aber angeblich als Ferment der Entchristlichung Europas wirken. 79 Das alles bedeutet allerdings nicht, dass – jenseits solcher Belastungen durch organizistische Denkfiguren – neue Ideen eines »globalen, dezentrierten demokratischen Föderalismus« 80 im Hinblick auf ihr pazifizierendes Potential vernachlässigt werden dürften. Befragen wir die Positionen Foersters im Lichte dieser Problematik daraufhin, wie in ihnen die Friedensmoral eines veränderten Zugehens auf den Anderen formuliert ist. Sieht man genauer zu, wird man eine zweifache Tendenz feststellen: als Erstes die Offenheit dafür, vom Fremden angesprochen zu werden und anderen nahe zu legen, sich für fremde Stimmen aufzuschließen. Dabei könnte die Foerster: Politische Ethik und politische Pädagogik. A. a. O. 272. Vgl. Frantz: Föderalismus. A. a. O. 352–371. Siehe insbesondere 367. 80 Iris Marion Young: Selbstbestimmung und globale Demokratie. Zur Kritik des liberalen Nationalismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998). 431–457, hier 455. 78 79
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Friedens-Einsprche. Hinweise am Beispiel Friedrich Wilhelm Foersters
von ihm so hervorgehobene Forderung nach Selbstzurücknahme, nach einem Innehalten inmitten vermeintlicher Reaktions- und Durchsetzungszwänge, nach Abkehr von der egoistischen Selbstverpanzerung dazu dienen, Raum für eine von eigenen Fixierungen und Verletztheiten nicht versperrte Begegnung zu schaffen, in der die Ansprüche des Anderen Aufmerksamkeit erhalten. Zum Zweiten tritt Foerster, aus einer freisinnigen Familie protestantischer Herkunft stammend und mit 20 Jahren bekehrt zu einem katholisierenden Christentum, ohne formell zu konvertieren, mit einer festen Botschaft auf. Sie ruht auf dem fundamentalen anthropologischen Dualismus, der zwischen einer »geistigen Persönlichkeit« auf der einen und einem äußeren Einflüssen und innerem Triebleben ausgelieferten »natürlichen Menschen« auf der anderen Seite unterscheidet. Gemäß der neuplatonischen Grundfigur christlicher Tradition muss eine Loslösung aus dem passiven Ausgeliefertsein an die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Reize vollzogen werden, um die geistigen Kräfte im Gottesgedanken zu sammeln. »Solange dieser höhere Wille selbst noch nicht klar vom Naturhaften, Sinnlichen geschieden und gereinigt ist, – solange bleibt der Mensch auch noch unter der offenen und heimlichen Diktatur der Sinnenwelt.« 81 Foerster ist überzeugt, dass nur »der Aufschwung der Seele ins Unsichtbare hinein« 82 die Voraussetzung für die in aktiver Selbstbemeisterung herzustellende Einheit des Charakters bilden kann, um durch »geistige Kraft […] der Materie des Lebens zu gebieten«. 83 Seine Begeisterung für aszetische Selbstkontrolle als solche enthält jedoch die Gefahr, das Nachdenken über die Ziele, denen die Hingabe gilt, auszuschalten, sofern nicht ein unübersehbarer Widerspruch zur Moral eines persönlich anständigen Lebens auftritt und den von ihm freilich in diesem Falle unbedingt befürworteten Widerstand des Gewissens aufruft. Foerster neigt in diesem Zusammenhang, wenn nicht zur Ausblendung, dann doch mindestens zu einer harmonisierenden Auffassung der Konflikte, welche unterschiedliche Zielordnungen, Interessen und Ansprüche in der innergesellschaftlichen Realität permanent erzeugen sowie zu deren moralisierender und typisierender Umdeutung in Charakterfragen und Verfallserschei81 Friedrich Wilhelm Foerster: Religion und Charakterbildung. Psychologische Untersuchungen und pädagogische Vorschläge. Zürich und Leipzig 1925. 183. 82 Foerster: Charakterbildung. A. a. O. 129. 83 Friedrich Wilhelm Foerster: Christus und das menschliche Leben. München 1922. 13.
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nungen, insofern den konservativen Zügen des Frantzschen Denkens durchaus synton. Die Emphase einer Selbstführung durch Selbstüberwindung lässt Foerster an vielen Stellen in die Nähe eines militärischen Ethos der wagemutigen Disziplin und der Selbstaufopferung geraten. Dies erklärt beispielsweise seine Ausführungen aus der Anfangszeit des Ersten Weltkriegs über die »charakterbildenden Einflüsse des Krieges«, der verheiße, »aus der Erbärmlichkeit einer die irdischen Güter verhimmelnden Lebensanschauung« angeblich in eine »gleichsam transzendente, von der Gier des Daseins gelöste Moral« zu führen. 84 Selbst der Kämpfer für den Frieden wiederholt noch die zeittypische Geste, sich und allen versichern zu müssen, dass dieser Friede aus innerer Kraft, als »christlicher« Widerpart des »kriegerischen« Heroismus, nicht aus Schwäche heraus gesucht wird. 85 Auch die liebende Beziehungsnahme zum anderen Menschen ist nur »von oben« her zu verstehen. Als Gefühl gehört sie wie »die Empfindlichkeit, die Rachsucht, der Ekel, die Nervosität, der Zorn, die Selbstsucht« zu den äußerlichen, wechselhaften, auf unsicherem Grund befindlichen und von »natürlichen« Antriebsquellen abhängigen Seinszuständen: »Will man die Liebe über diese Natürlichkeiten hinausheben, die doch alle durch den Anblick unseres Nächsten geweckt und in Erregung gesetzt werden, dann ist es doch das Erste und Wichtigste, die Menschenliebe vom Mitmenschen zu emanzipieren und auf etwas Höheres zu beziehen, in welchem sie ihren tieferen Sinn und ihre Vollendung finden kann.« 86 Dieses Höhere ist – katholisch bildhaft verkündet – Christus als der vollkommene, der Gottmensch, der in klarer Anschaulichkeit als »universelles Charakterideal« zur Nachfolge auffordert. Wir sehen also eine dezidierte Richtungsgebung, die letztlich auch Foersters pädagogische Gesprächsführung mit Jugendlichen anleitet, weil schon vor allem Dialog feststeht, welche Kräfte der Selbstführung im Anderen zu erweVgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Die Deutsche Jugend und der Weltkrieg. Leipzig 1916. 39 f. 85 Vgl. Foerster: Jugendseele. A. a. O. 417. 86 Foerster: Charakterbildung. A. a. O. 60. Man vergleiche die Absetzung des metaphysischen »Begehrens« (»le Désiré«) von den »Begierden« (»les désirs«) – wobei man »selbst die Liebe als die Befriedigung eines sublimen Hungers« betrachten kann – bei Lévinas, die jedoch in eine andere Richtung führt, nämlich zum »Begehren des absolut Anderen […]. Das metaphysische Begehren öffnet die eigentliche Dimension des Hohen. Dass nicht mehr der Himmel diese Höhe ist, sondern das Unsichtbare, gerade darin besteht das Erhebende am Hohen und sein Adel.« (Lévinas: Totalität. A. a. O. 36 ff. bzw. Lévinas: Totalité. A. a. O. 4 f.). 84
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Friedens-Einsprche. Hinweise am Beispiel Friedrich Wilhelm Foersters
cken sind. Die Befreundung mit anderen wird so an der Vorstellung einer integeren Ordnung orientiert, auf deren Annahme hinzuwirken ist – und damit auf die communitas darin, »sich in den wichtigsten Angelegenheiten seines Lebens einer objektiven, normativen, gesetzgebenden Instanz unterzuordnen.« 87 Aber besteht nicht, so ist kritisch zu fragen, der Irrtum eines solchen autoritätsverklärenden Objektivismus, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, ihn heute noch verbindlich zu machen, nicht zuletzt darin, einen Kampf zwischen geistigen und triebhaften Kräften ins Zentrum ethischer Fragen zu rücken, gerade angesichts des Umstandes, dass Foerster selbst das Unheil des »Preußentums« in der Verknüpfung persönlicher Disziplin und innerer moralischer Stärke mit einer Hingabe an Ziele rücksichtslosen staatlichen Durchsetzungshandelns erkannt hat? Nicht ohne Grund hat Martin Buber in solcher Weise an der ähnlich angelegten, aber weitaus subtileren Anthropologie Max Schelers die »Dualität von Geist und Trieb« kritisiert, denn »nicht zwischen Geist und Trieben, sondern zwischen Geist und Geist, zwischen Trieben und Trieben, zwischen einem Gebilde aus Geist und Trieb und einem andern Gebilde aus Geist und Trieb« spielten sich die »wahren Verhandlungen und Entscheidungen« ab. 88 Versucht man den friedensphilosophischen und friedenspolitischen Kern von Foersters Überlegungen aus seiner Einschließung in einen christlichen Platonismus der Wertrangordnung herauszuschälen, so bleibt vor allem die Aufforderung, eine Sprache der Verantwortung und der Mutualität zu entwickeln, welche die Verengungen der am Einsatz von Gewaltmitteln orientierten Politik aufbricht, ohne selbst dogmatisch zu werden. Am Beispiel Foersters zeigen sich zentrale Aspekte einer Anstiftung zum Frieden: ihre Einbettung in Rede-Ordnungen und Anspruchskämpfe, die in ihr enthaltenen Einschätzungen der Zeitsituation, eine mit ihr gegebene Stellungnahme zur Theorie des Politischen und die durch sie angesprochene Idee politischer Zukunftsgestaltung. Dabei wäre wichtig, genau jene Anstößigkeit von Friedens-Einsprüchen zu reflektieren, welche die Biographie Foersters prägt. Seine Interventionen setzen sich dem Risiko des Politischen aus, zeitdiagnostische Einschätzungen zu formulieren, die nur gewagt und begründet, nicht jedoch gesichert werden Foerster: Erlebte Weltgeschichte. A. a. O. 611. Martin Buber: Das Problem des Menschen. In: Ders.: Werke. Erster Band. Schriften zur Philosophie. München und Heidelberg 1962. 307–407, hier 391. 87 88
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Henrique Ricardo Otten
können. In seinen Äußerungen sind Einseitigkeit, strategische und taktische Aspekte, provokanter Widerspruch gegen scheinbar fraglos Selbstverständliches und gegen massiven Konformitätsdruck Teil eines Vorgehens, welches das die öffentliche Meinung dominierende vermeintliche nationale Selbstinteresse nicht als letzten Bezugspunkt politischen Handelns akzeptiert. Insbesondere wäre es demnach geboten, stets genau und gewissenhaft zu prüfen, welche Rolle die Aktivitäten des eigenen Kollektivs in vorantreibenden Verfeindungsprozessen mit anderen spielen, und allen Tendenzen zur Selbsteinkapselung in Kollektivegoismus und Selbstgerechtigkeit entgegenzuwirken. Über die Kritik der Gewalt hinaus stellt sich aus dieser Perspektive die Aufgabe, Mittel zu entwickeln, die nicht Mittel gegen, sondern für Andere sind, d. h. solche, die deren Ansprechbarkeit entdecken und zu einer gemeinsamen Umwandlung gewaltbedrohter Situationen einladen.
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Sektion 4: Frieden mit den anderen
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Friedenskrfte und Friedenszeichen Bernhard Waldenfels
1. Philosophie jenseits von Krieg und Frieden? Lassen Philosophen ein Thema aus, auch wenn es in aller Munde ist, so kann dies zwei Gründe haben. Es kann sein, dass das Thema allzu konkret oder empirisch scheint, als dass sich etwas spezifisch Philosophisches dazu sagen ließe. Auch die Scheu, von Experten zurechtgewiesen zu werden, mag mitspielen. Es kann aber auch sein, dass das Thema sich als allzu sperrig erweist, um im allgemein akzeptierten Kategoriengerüst, auf tradierten Wertetafeln, innerhalb der üblichen Sinn- und Regelstrukturen oder auf den Bahnen gängiger Argumentationen seinen Platz zu finden. Im Falle von Krieg und Frieden dürfte es sich so oder so um Ausflüchte handeln. War etwa der Trojanische Krieg, von dem die griechischen Schulbücher voll waren, etwas bloß Empirisches? Und wie steht es mit dem Tod des Sokrates, der seine Schatten auf die platonischen Dialoge wirft, mit Geburt und Tod der Religionsstifter, von denen vielfach eine neue Zeitrechnung ausgeht, mit den Religionskriegen, auf die Hobbes mit seinem Leviathan antwortete, mit der französischen Revolution, die Europas politische Ordnung umstülpte, mit der sowjetischen Revolution, die das eigene Land gewaltsam einigelte und unseren Kontinent spaltete, oder mit der von Hitler durchgeführten Vernichtung ganzer Völkerschaften? Welchen Status hat Adornos Aussage, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben? Die totale Historisierung aller Ideen würde ihre eigene Ganzheit ebenso erschleichen wie ältere Formen der Totalisierung, die das Reden über das Ganze im beredeten Ganzen aufgehen lassen. Stattdessen bietet sich eine Unterscheidung an, die uns einen Schritt weit aus der Verlegenheit helfen könnte. Es ist etwas anderes, ob man etwas als etwas auffasst, begreift, bewertet, versteht und erklärt oder ob man von etwas aus denkt. Wenn wir auf etwas stoßen, das »zu denken gibt«, so muss dies nicht besagen, dass es selbst schon etwas Gedachtes, 256 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Friedenskrfte und Friedenszeichen
etwas Allgemeines ist. Was zu denken gibt, stellt sich quer zu dem, was schon gedacht, kategorisiert oder archivarisiert ist. Alles Neuartige und Ungewohnte empirisch nennen heißt, sich mit vorhandenen Denkschemata zufriedengeben und den Sinn in statu nascendi einem vorgebenen Sinn opfern. Nun könnte man einwenden, dass alle unsere Ausgangsbeispiele im Zeichen der Gewalt stehen und sich am Krieg oder doch am Kriegerischen ausrichten. Wenn nun dennoch die Kräfte des Friedens gegenüber der Gewalt des Krieges in den Vordergrund treten, 1 so sieht dies nach einer bloßen Ergänzung aus. Schon die Auffälligkeit ist in beiden Fällen nicht dieselbe. Der Krieg drängt sich vor, ähnlich wie der Lärm die Stille zurückdrängt. Kriege erzwingen unsere Aufmerksamkeit, zumindest auf gewisse Zeit. Kriegerische Gewalt bricht aus. Sie durchbricht die Schranken der Gewohnheit, sie bricht aus wie eine Krankheit, selbst wenn eine schleichende Krankheit vorausgeht. Der Friede dagegen? Er hat etwas Unscheinbares. Er kann gebrochen werden, aber er bricht nicht selbst wie ein Sturm über uns herein, sein Kommen äußert sich darin, dass die Wogen sich glätten, dass Wunden heilen, dass Ruhe eintritt und die Opfer der Gewalt ihre Ruhestätte finden. In der religiösen und musikalischen Sprache des Requiem, mit der die Gemeinde an einen göttlichen Friedensgeber und Lebensspender appelliert, verschmelzen Ruhe und Frieden. Gibt man dem Ganzen jedoch eine vitalistische Wende, so scheint der Krieg sich mit den konstruktiv-destruktiven Mächten des Lebens zu verbünden, während im Frieden die Lebensgeister absinken; eine Stille greift um sich, die in der Totenstille verebbt, und der Friede scheint im Kirchhoffrieden zu versinken. Apologeten des Krieges und Verächter des Friedens spielen mit dem Gegensatz zwischen einer tumultuarischen, heroischen Kriegszeit und einer geruhsamen, bequemlichen und biederen Friedenszeit, in der die Kräfte erschlaffen. Dass Nietzsche den »Frieden auf Erden« mit einer »VergutmütWas die Frage der Gewalt angeht, so verweise ich auf einige jüngst im Fink-Verlag erschienene Bände: Mihran Dabag, Antje Kapust, Bernhard Waldenfels (Hg.): Gewalt. München 2000; Kristin Platt (Hg.): Reden von Gewalt. München 2002; Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? München 2004. Speziell zur Frage der kriegerischen Gewalt empfiehlt sich eine neuere Untersuchung, die den Krieg mit seinen vielfältigen Facetten als Ausfall der Sprache, genauer: als Ausfall eines dem Anderen zugewandten Sprechens thematisiert und in der eine Sprache des Friedens, die mehr bedeutet als ein Reden über den Frieden, immer wieder durchschimmert: Antje Kapust: Der Krieg und der Ausfall der Sprache. München 2004.
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Bernhard Waldenfels
higung des demokratischen Heerdenthieres« 2 in Verbindung bringt, verwundert uns nicht. Dass Scheler, der dem »Genius des Krieges« so ausgiebig huldigt, im Zuge seines christlichen Nietzscheanismus Jesu »Frieden auf Erden« als eine »letzte selige Stille« versteht, die allen Kampf und Streit »wie von oben her durchleuchten soll«, ohne ihm Einhalt zu gebieten, verwundert uns ebensowenig. 3 Doch auch in Kants Kritik der Urteilskraft (B 107) lesen wir: »Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich […]: da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handlungsgeist, 4 mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen, und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt.« Solche Einschätzungen erklären, dass der Friedensschluss vielfach als bloßes Aufhören des Krieges, die Friedenspolitik als bloße Verhinderung des Krieges begriffen wird, kurz: dass der Friede als Kriegslosigkeit in Erscheinung tritt und seine Kräfte sich in der Bekämpfung des Krieges erschöpfen. Der Friede erscheint dann als Negativ des Krieges, und Friedenszeiten bilden, wie die Perioden des Glücks bei Hegel, »leere Blätter« in der Geschichte. 5 Es gibt zwar in unserer Geschichte immer wieder Augenblicke und Phasen, wo die Menschen unter der Gewalt des Krieges leiden und eine Friedenssehnsucht ausbricht, doch der Friede verliert seinen Glanz und die Kriegsbereitschaft nimmt zu, sobald die Kriegsgefahr fern rückt, so etwa in Europa vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Mit der zunehmenden Zerstörungskraft der Waffen und mit der Globalisierung auch der Politik hat sich zwar einiges geändert. Doch aus der Großaufnahme betrachtet wechseln Frieden und Krieg weiterhin miteinander ab wie Ebbe und Flut – doch welcher Planet regelt diese Gezeitenfolge? Das Schicksal, nicht zu den Leitbegriffen der herkömmlichen Philosophie zu gehören, teilt der Friede mit dem Krieg. Doch für den Friedrich Nietzsche: Schriften aus dem Nachlaß, Kritische Studienausgabe, Bd. 11. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Berlin 1980. 587. 3 Aus dem Gesagten würde folgen, dass es immerzu »in den Tiefen der Personen einen heiligen Ort gäbe, wo mitten im Kampf und Streit Friede, Liebe, Verzeihung herrsche«. Ein sublimes Militärchristentum! Vgl. Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. Gesammelte Werke, Bd. 3. Bern 1972. 92. 4 Wohl zu verstehen als Handelsgeist, so die Korrektur in der Ausgabe C. 5 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12. Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1970. 42. 2
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Friedenskrfte und Friedenszeichen
Frieden stellt sich ein zusätzliches Problem. Ähnlich wie das Schweigen oder die Muße entwickelt er keine eigene Leucht- und Wirkkraft, solange er als bloßes Negat gedacht wird. Suchen wir ihm jedoch positive Qualitäten zuzuschreiben, so verschwindet er alsbald im Schatten anderer Mächte, sei es das Gute, das Glück, die Ordnung, das Moralgesetz, die Gerechtigkeit, die Freiheit, der Fortschritt, die Natur oder was immer. Der Friede ist nicht nichts, denn dann könnten wir ihn nicht suchen oder schaffen, doch er scheint sich zu verflüchtigen, sobald wir ihn zu fassen suchen. Friedensutopien haben nicht nur mit den Schwierigkeiten der Realisierbarkeit zu kämpfen, sondern auch mit dieser eigentümlichen Unfassbarkeit. Es kommt hinzu, dass der Friede eine große Bedeutungsvielfalt aufweist. Selbst wenn er nicht als bloßes Negat verstanden wird, wandelt sich seine Bedeutung je nachdem, womit er kontrastiert wird. So macht es einen erheblichen Unterschied aus, ob er dem Dissens, der Uneinigkeit gegenübertritt, also einer Sphäre, in der Andersheit und Fremdheit regieren, oder ob er mit der Gewalt konfrontiert wird, speziell mit der Gewalt des Krieges, die auf Unterwerfung oder Vernichtung aus ist und Feindschaft erzeugt. Unter Krieg verstehen wir hier einen mit Waffengewalt ausgetragenen öffentlichen Konflikt, der eine zumindest rudimentäre Institution voraussetzt und sich dadurch von den Beutezügen eines Tieres unterscheidet. Natürlich schillert auch der Krieg in vielen Farben, und dieses Schillern gehört ebenso zu seiner Problematik wie der weite Hintergrund einer dem Frieden förderlichen oder den Krieg anheizenden Welt. Der Krieg beginnt nicht mit der Kriegserklärung, der Friede nicht mit dem Friedensvertrag, als würden lediglich neue Programme aufgelegt. Krieg und Frieden haben ihre Vor- und Nachgeschichte. 6 Dennoch ist es ratsam, von der besagten Kernbedeutung des Krieges auszugehen und dem Frieden als dem Ausschluss kriegerischer Gewalt eine entsprechende Kernbedeutung zuzubilligen. Ohne eine solche sprachliche Vorsicht droht die Gefahr, dass jeder Konflikt ins Kriegerische gesteigert oder umgekehrt jeder Krieg zur bloßen Auseinandersetzung abgeschwächt wird. Der Friede wäre dann nirgends oder überall zu finden. Wenn der Friede traditionellerweise nicht zu den philosophischen Leitbegriffen und auch nicht zu den politischen Leitzielen zu zählen ist, so sind die Gründe in den Ordnungsvorstellungen zu suVgl. dazu die Exposition der Kriegsproblematik in Antje Kapust: Der Krieg. A. a. O. 10–29.
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Bernhard Waldenfels
chen, in die das Denken und das Praktizieren des Friedens eingebettet sind. Wir werden zwei prototypische Ordnungsformen heranziehen, um an ihnen die eigentümliche Problemlage zu erörtern. An erster Stelle steht die kosmische Gesamtordnung, wie sie bei Platon und Aristoteles zum Vorschein kommt, an zweiter Stelle die normative Grundordnung, wie sie sich von Hobbes bis zu Kant hin fortentwickelt hat. 7 Im ersten Fall taucht der Friede als ein Ziel unter anderen auf, im zweiten Fall nimmt er die Form eines Vertrags an. Wieweit die von Kant aufgegriffene Idee des ewigen Friedens einen Umbruch einleitet, bleibt zu fragen. Diese Ordnungsskizze, die sich auf die europäische Geschichte beschränkt und sich dabei auf das genannte Philosophenquartett konzentriert, hat einen stark explorativen Charakter, sie dient uns als Folie zu den nachfolgenden Sacherörterungen. Diese gehen in der Entfaltung der Friedensfrage über traditionelle Zielbestimmungen und Vertragsregelungen hinaus, indem sie in einer gewissen Nähe zu Levinas den Bezug auf den Anderen in den Vordergrund rücken.
2. Friedensziele Die Schwierigkeit bei dem Versuch, dem Phänomen des Friedens in einem onto-kosmologisch und onto-theologisch verfassten Denken einen zentralen Platz einzuräumen, springt ins Auge, wenn wir uns das Phänomen selbst in seinen Grundzügen vor Augen führen. Als Friedensschluss ist der Friede ein Ereignis, das in einen dauerhaften Zustand übergehen kann. 8 Der Friede antwortet also nicht auf die Frage, was etwas ist, er ist keine Wesenseigenschaft, auch keine zufällige Beschaffenheit, er antwortet vielmehr auf die Frage, wie etwas oder jemand sich befindet. Damit fällt er in den Bereich dessen, was sich ändert; aristotelisch gesprochen gehört er nicht zur o'sffla, sonWas diese Ordnungstypen angeht, so verweise ich auf meine Ausführungen in Ordnung im Zwielicht. Frankfurt a. M. 1987. 8 Die Etymologie des griechischen Wortes e§rffinh geht zurück auf das Verb e—rein (dt. ›anfügen, zusammenknüpfen, reihen‹, lat. serere), und ähnlich hängen die lateinischen Wörter pax, pactio, pactum, pacifisci usf. mit dem Verb pangere (dt. ›festschlagen, befestigen‹, gr. phgnÐnai) zusammen. Es überwiegt also die der Techne entlehnte Kernbedeutung der festgefügten Verbindung. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Philosophie von der Sache her gehalten ist, nicht nur mit der Sprache zu denken, sondern auch gegen sie anzudenken. 7
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Friedenskrfte und Friedenszeichen
dern zu dem, was als di€qesi@, xi@ oder p€qo@ bezeichnet wird (vgl. Met. V, 20–21). Der Mensch ist und bleibt ein Vernunftwesen, mag er im Krieg leben oder im Frieden. Eine zweite Bestimmung besagt, dass der Friede mit Anderen oder mit mir selbst als einem Anderen geschlossen wird; er bildet ein Zwischenereignis oder einen Zwischenstatus. So wie es jemanden geben muss, der mir fremd ist, so auch jemanden, mit dem ich im Frieden lebe. Logisch gesehen lässt sich das Attribut ›friedlich‹ nur als mehrstelliges Prädikat verwenden; es bringt eine Relation zum Ausdruck. Damit entzieht sich der Friedenszustand einem Substanzdenken, das die Bestimmung des An-sich (kaj3 a¢t) dem Bezug auf anderes (pr@ ˝llo) bzw. auf den anderen (pr@ teron) zugrundelegt. Was für die Metaphysik gilt, gilt entsprechend auch für die Metapolitik. Eine Polis, die durch Autarkie bestimmt ist, ist nicht innerlich auf andere Gemeinwesen bezogen. Politik ist in ihrem Kern Innenpolitik, auch wenn sie sich zur Bündnispolitik ausweitet. Schließlich fällt es schwer, den Friedenszustand einem Letztziel zuzuordnen, mit dessen Erreichen das zielstrebige Wesen zur Vollendung käme. Wenn der Friede als ein Ziel angesehen wird, so nur als aufgepfropftes Ziel. Dem entspricht die einfache Feststellung aus der aristotelischen Politik (VII, 14), 9 dass wir Krieg führen um des Friedens willen, so wie wir geschäftig sind um der Muße willen und so wie wir Notwendiges und Nützliches betreiben um des Schönen und Guten willen. Gäbe es nicht Krieg und Geschäftigkeit, gäbe es nicht die Gefahren des Krieges und die Mühen der Arbeit, so wären Friede und Muße gegenstandslos. 10 Was in Friede und Muße geschieht, lebt von dem Streben nach dem Guten. Der Friede bestimmt sich also keineswegs negativ als bloße Abwesenheit von Krieg und Streit, sowenig für Platon und 9 Sie findet sich ebenso in der Nikomachischen Ethik (X, 7), aber auch schon in Platons Nomoi (Buch I), wo der Athener dem Kreter gegenüber, der sich auf einen »lebenslang fortwährenden Krieg aller gegen alle Staaten«, einen plemo@ diÞ bfflou sunecffi@, also einen bellum continuum beruft und den Frieden zu einem bloßen Namen degradiert (625 e-626 a), darauf besteht, dass ein sorgsamer Gesetzgeber »lieber die kriegerischen Anordnungen um des Friedens willen als die friedlichen um des Krieges willen träfe« (628 d-e). 10 Als eine archaische Form der Muße, die noch in das Arbeitsleben eingebettet ist, erwähnt Aristoteles eine Art Erntedankfest, bei dem die Früchte als Ertrag der Arbeit dargebracht werden, doch fügt er hinzu, dass solche Opfergemeinschaften der politischen Gemeinschaft untergeordnet sind, da diese das gesamte Leben im Auge hat und nicht nur den augenblicklichen Nutzen (Aristoteles: Nikomachische Ethik. VIII, 11, 1160 a 25–28).
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Bernhard Waldenfels
Aristoteles Glück im bloßen Freisein von Schmerzen besteht, doch was daran positiv ist, verdankt der Friede dem Guten. Dieses verwirklicht sich in der Praxis der freien Bürger, in der allen Notwendigkeiten enthobenen Schau und im unterhaltsamen, erholsamen Spiel, in dem auch das Musische seine prägende Kraft entfaltet. Die Kräfte des Friedens kommen anderswoher. Der Friede als das Um-willen des Krieges erlegt dem Krieg allerdings auch Schranken auf. Krieg ist kein Selbstzweck. Aristoteles hat als Athener nichts übrig für kriegerische Staaten; Staaten, die wie Sparta primär auf Kriegsführung aus sind, verlieren in Friedenszeiten ihre Schärfe wie ein nicht benutztes Schwert (Politik VII, 14, 1334 a 8 f.). Verwerflich ist der Krieg freilich ebensowenig, da er guten Zwecken dient: an erster Stelle der Abwehr der eigenen Knechtschaft, an zweiter Stelle einer Herrschaft zum Besten der Beherrschten und an dritter Stelle der Herrschaft über unzivilisierte Völker, die von Natur aus zu Sklaven bestimmt sind (Politik VII, 14). 11 Jeder Krieg, der guten Zwecken dient, erscheint unter dieser Perspektive zunächst als Freiheitskrieg, das heisst als ein Krieg, der das Um-ihrerselbst-willen einer Bürgerschaft und deren Selbstregierung verteidigt, oder als Krieg im Zeichen der Vernunftherrschaft. Im ersten Fall handelt es sich um das, was wir bis heute als Defensivkrieg bezeichnen. Die zweite und dritte Kategorie finden in Platons Politeia (469 e–471 c) einen drastischeren Ausdruck. Beim Krieg zwischen Griechen, also zwischen Zivilisierten, die einander verstehen, handelt es sich um einen Bruderkrieg, der dem Bürgerkrieg gleicht; Platon schlägt vor, ihn als einen Zwist (wörtlich als Aufruhr: st€si@) zu bezeichnen, der lediglich die Einheit bedroht. 12 Der Krieg zwischen Die Zeitgenossen von Platon und Aristoteles hatten drei große Kriegsblöcke vor Augen: den Trojanischen Krieg, der im Homerischen Heldenepos besungen wurde, die von Herodot beschriebenen Perserkriege, die sich zwischen Griechen und Nicht-Griechen abspielten, und schließlich den von Thukydides aufgezeichneten Peleponnesischen Krieg, der Griechen gegen Griechen kämpfen sah. Als pejorativer Ausdruck setzt sich das Wort ›Barbaren‹ erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts durch. Vgl. dazu das Stichwort ›Barbaren‹ in Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Frankfurt a. M. 1997 sowie Antje Kapust: Der Krieg. A. a. O. Kap. IV, 3: »Die Barbarisierung des Krieges« und Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? A. a. O. 243–250: »›Barbarische‹ oder gerechtfertigte Gewalt«. 12 Ähnlich in den Nomoi (I, 628 a-e). Die hier vertretene Friedenspolitik klingt versöhnlicher, aber nur deswegen, weil es der Gesetzgebung primär auf die inneren Zwistigkeiten ankommt, deren Überwindung die Voraussetzung dafür ist, dass man den »äußeren Feinden« seine Aufmerksamkeit zuwendet. Als friedliches Leben gilt das Leben 11
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Friedenskrfte und Friedenszeichen
Griechen und Barbaren gilt dagegen als ein wirklicher Krieg auf Gedeih und Verderb (plemo@), ein Unterwerfungskrieg, der jederzeit in einem Vernichtungskrieg enden kann; denn Sklaven als »beseelte Werkzeuge« gebraucht man, und man vernichtet sie, wenn es darauf ankommt; morden kann man einen Sklaven nicht, denn morden kann man nur jemanden, nicht etwas. 13 Der Bruderkrieg steht im Horizont eines zu erwartenden friedlichen Zusammenlebens, dem Unterwerfungskrieg fehlt eine entsprechende Hemmschwelle; denn sowenig man mit einem Sklaven als Sklaven 14 Freundschaft schließen kann (Nikomachische Ethik, VIII, 13), sowenig kann man mit ihm Frieden schließen. Das teleologische Denken bringt es mit sich, dass der Krieg als eine spezielle Form der Privation erscheint; er wird einer fehlenden Eintracht oder einer fehlenden Vernunftherrschaft zugerechnet. Da dieser Mangel an sich schon überwunden ist durch die naturgegebene und natürlich gestaffelte Hinordnung auf das Gute, bedarf es keiner philosophischen Friedenskampagnen. Gäbe es einen Frieden, der mehr als transitorisch wäre, so bestünde er in einer Art Seinsfrieden, in der Harmonie des Ganzen. Da diese Harmonie keiner faktischen Disharmonie abzuringen ist, taucht nirgends eine Friedensparole auf. Die kosmische Ordnung als friedvoll zu bezeichnen, wäre pure Tautologie. Kriege gibt es nur insofern, als die Vernunftausstattung und die damit einhergehende Herrschaftsfähigkeit ungleich verteilt ist bis hin zu den unteren Grenzfällen von Alogie, Anarchie und Anomie. 15 Es ist bezeichnend, dass sowohl in Platons Politeia wie in der aristotelischen Politik Krieg und Frieden vor allem im Rahmen der Paideia eines tapferen Staates, das verlangt, »dass ein jeder sich nicht erst im Kriege für den Krieg einübt, sondern während des friedlichen Lebens« (VIII, 829 a-b). Die praeparatio belli, mit der sich der Krieg in den Frieden einnistet, wird hier nicht strategisch verstanden, sie ist vielmehr Teil des guten Lebens, das es nicht nur nicht duldet, dass man Unrecht tut, sondern auch nicht duldet, dass man von Anderen Unrecht erleidet. 13 So wird verständlich, dass Aristoteles in Politik I, 8 die Kriegskunst gleich der Jagdkunst in die Erwerbskunst einordnet; die Jagd auf Menschen, die von der Natur aus zum Dienen bestimmt sind, entspricht dem Naturrecht (1256 b 23–26). 14 Die Hinzufügung »wohl aber als Menschen« (1161 b 6 f.), an der sich die Kommentatoren die Zähne ausbeißen, erbringt nichts, wenn es sich um einen Sklaven von Natur aus handelt, dem jede Distanz zu seinem Natursein versagt ist. Dass man ein Werkzeug pfleglich behandelt, es nicht mutwillig zerstört oder gar an ihm hängt, ändert nichts an der Sache. 15 Zum Alpha privativum (lat. in–, dt. un–) als sprachlichem Ausdruck der Privation vgl. Metaphysik V, 22.
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Bernhard Waldenfels
abgehandelt werden. Sie berühren die Frage, wie man vernünftig wird, haben aber nichts zu tun mit der Frage, was Vernunft ist. Eine solch wohlabgewogene Allianz aus Vernunft und Herrschaft ist jedoch brüchig. Sie bricht zusammen, wenn verschiedene Parteien aufeinander treffen, die jede für sich das Gute reklamieren, und wenn auf die Dauer selbst der Unterschied zwischen Zivilisierten und Wilden sich als Projektion einer bestimmten Zivilisation erweist. 16 Dies betrifft auch die spätere religiöse Verbrämung der Vernunft. Zusammen mit der Heiligen Herrschaft, der Hierarchie, büßt der Heilige Krieg ebenfalls seine Heiligkeit ein. Der Zusammenbruch der Stützbauten füllt die Blätter von Jahrhunderten. Der Friede kleidet sich nicht in das Gewand eines Friedensengels, er gerät zwischen Tür und Angel. Einerseits trägt er dazu bei, den Krieg zu finalisieren, wobei er ihn nur notdürftig eindämmt, andererseits verbündet er sich mit dem Guten, der Vernunft, später dann mit dem Heiligen. Dieser Friede ist ein Bastardgeschöpf.
3. Friedensvertrge Es hat etwas Befreiendes, wenn Thomas Hobbes die Nebel des vernünftigen, des gerechten, des heiligen Kriegs verjagt und rundum erklärt: Es herrscht Krieg, und zwar nicht bloß zwischen Guten und Bösen, zwischen Vernünftigen und Vernunftlosen, sondern zwischen allen. Hobbes wäre ein Gnostiker, wenn er davon ausginge, dass der Mensch seinem Wesen nach gewalttätig und friedlos ist. Doch er geht nicht von der Natur als dem Wesen des Menschen aus, sondern von einem Naturzustand. Dieses Denken, das den veränderlichen Zustand der Dinge in den Vordergrund rückt, ist nicht zu denken ohne den Hintergrund der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte, die sich zwischen Sündenfall und Erlösung abspielt. Selbst Kants Philosophie der Aufklärung hat an dieser Tradition teil, wenn er von einem Zustand der selbstverschuldeten Unmündigkeit ausgeht, wenn er den rechten Gebrauch der Vernunft anmahnt und sich nicht auf den Besitz der Vernunft verlässt. Natürlich wissen wir inzwischen, dass es im alten China bei Laozi und Sunzi philosophische Überlegungen zu Krieg und Frieden gab, die generell eine möglichst zurückhaltende Form der Kriegsführung empfahlen, weit entfernt von jeder Siegerattitüde und Ruhmhascherei.
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Man mag, wie es schon Locke und Rousseau tun, die Art und Weise, wie Hobbes den Naturzustand beschreibt, in Zweifel ziehen. Entscheidend ist für uns, dass Krieg und Frieden aus dem Schatten einer ontologischen Ordnung heraustreten. Es sind Zustände, die nicht auf die Frage antworten, was der Mensch ist, sondern wie er sich befindet, und da selbst die vernünftige Selbstbetrachtung des Menschen durch diese Zustände infiziert ist, lassen sie sich nicht als sekundäre Umstände beiseite tun. Traditionell gesprochen gehören Krieg und Frieden fortan in die Erste Philosophie, die allerdings damit ihren Charakter ändert. Der status naturalis fällt für Hobbes mit dem Kriegszustand zusammen. Ontologie und Polemologie berühren sich wie später in der Sicht von Levinas, da der Mensch in dem, was er ist, nicht erst in dem, wozu er sich entschließt, mit den Anderen im Krieg lebt. Man könnte von einem In-der-Welt-sein sprechen, das sich als Gegeneinander darstellt, bevor es die künstlich zu schaffende Form eines Mitseins annimmt. Wir befinden uns individuell wie auch kollektiv in einer Kriegswelt, die in der wechselseitigen Furcht und im gegenseitigen Misstrauen eine eigentümliche Gestimmtheit verrät (vgl. De cive I, 2). 17 Der Krieg ist keine bloße Privation, kein bloßer Mangel an vernünftiger Überlegung und gutem Willen, sondern ein realer Widerstreit, in dem heterogene Kräfte aufeinanderprallen. 18 Diese Kräfte sind nicht mit mechanischen Kräften zu verwechseln; es handelt sich durchaus um menschliche Bestrebungen und Verhaltensweisen, doch nicht, sofern sie Sinn und Bedeutung haben und Regelvorschriften folgen, sondern sofern sie eine Wirkung auf Andere ausüben. Weniger missverständlich würde man von Machtausübung sprechen. 19 Kraftwirkungen sind nur durch Ge17 Auch Einstimmigkeit oder Übereinstimmung sind keine rein kognitiven oder praktischen Resultate; sie haben einen pathischen oder affektiven Untergrund, zu dem die wechselnde Gestimmtheit im Sinne Heideggers gehört. Für die Klassiker der politischen Philosophie war dies eine Selbstverständlichkeit, so wenn Aristoteles in seiner Kritik an Platon den Staat mit einer Symphonie oder einem Rhythmus vergleicht, deren Vielfalt der Vereinigung zu einem einzigen Ton (der Homophonie oder der Monotonie) und zu einem einzigen Takt widerstrebt (Politik II, 5, 1263 b 34 f.). Man sollte das Thema Krieg und Frieden nicht nur, aber doch auch von den Qualitäten des Kriegerischen und Friedlichen her angehen. Ich verweise auf meine Rehabilitation des Pathischen in: Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt a. M. 2002. 18 Vgl. Kants Bemerkungen zu Einstimmung und Widerstreit (KrV B 320 f.), die auch politisch zu nutzen sind. 19 Die Tatsache, dass der spezifische Charakter der Machtausübung und Machtwirkung in den klassischen Theorien des Politischen vielfach unzulänglich bestimmt wird, etwa
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Bernhard Waldenfels
genkräfte aufzuhalten, also in unserem Falle durch Friedenskräfte. Hobbes erklärt deshalb gleich im ersten Kapitel von De cive, dass es eines Ratschlusses bedarf, 20 um den Bann wechselseitig drohender Gewalt zu brechen. Kant bewegt sich auf der gleichen Linie, wenn er in seiner Schrift Zum ewigen Frieden zu Beginn des Zweiten Abschnitts erklärt: »Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden« (Ausgabe Weischedel, VI, 203). So wie der Kriegszustand mit dem status naturalis zusammenfällt, so der Friedenszustand mit dem status civilis, der nur als status legalis zu denken ist. Der Gesellschaftsvertrag, der den Krieg aller gegen alle beendet, ist ein Friedensvertrag, in dem die erforderliche Friedensstiftung vonstatten geht. Friedfertigkeit und Geselligkeit sind im Grunde genommen eins. Gründlicher könnten die Annahmen der klassischen Welt- und Sozialordnung nicht umgestülpt werden. Der Zustand, von dem diese Grundlegung ausgeht, ist von Anfang an ein Zustand in Bezug auf den Anderen, und umgekehrt ist der Bezug auf den Anderen ein veränderbarer Zustand. Erst die veränderliche Form einer kontingenten Ordnung, die ›es gibt‹, ohne dass sie in den Dingen selbst verankert ist, lässt Krieg und Frieden aus ihrem Schattendasein heraustreten. Gleichwohl hat der Hobbessche Gesellschaftsentwurf seine deutlichen Grenzen. Zum einen beschränkt sich der vertraglich herbeigeführte Friedenszustand auf den inneren Frieden einer Bürgerschaft, deren Mitglieder sich in einem Willen vereinen. Es fragt sich, ob die Beschränkung auf souveräne Einzelstaaten und ihre Einzelvölker, die nur durch den Ausgriff auf ein prophetisches Reich Gottes überwunden wird, zu den notwendigen Konsequenzen dieses Ansatzes gehört. Die Ausdehnung des Friedensprojekts auf den äußeren Frieden zwischen den Staaten, mit der Kant keinen Weltstaat, aber doch ein allgemeines Weltbürgerrecht anvisiert, scheint mit den Hobbesschen Voraussetzungen in gewissem Umfang vereinbar. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Hobbes den kontingenten Bedinals bloße Potenz, als bloßes Können, als bloßer Mechanismus, als Macht der Vernunft oder als deren Widerpart, macht sich auch bei unserer Thematik bemerkbar. 20 Lat. consilium (aristotelisch: boulffi); das Moment der Beratung unterscheidet den Beschluss von einer puren Entscheidung.
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Friedenskrfte und Friedenszeichen
gungen des Vertragsschlusses ein weitaus größeres Gewicht einräumt, als Rechtstheoretiker es zu tun pflegen. Der Vertragsschluss hat es ebenso sehr mit der Genealogie des Rechts und mit der entsprechenden Genealogie des Friedens zu tun wie mit der Geltung des Rechts und dem Bestehen des Rechtsfriedens. Recht ist in seinem Kern Rechtspolitik, aller späteren Gewaltenteilung zum Trotz. Doch wichtiger ist ein anderer Umstand, der keine bloße Beschränkung des Hobbesschen Entwurfes bedeutet, sondern einen wunden Punkt markiert. Obwohl auch Hobbes zwischen Kriegs- und Friedenszustand einen Entscheidungssprung ansetzt, verbindet sie eine untergründige Kontinuität. Sie beruht darauf, dass die Friedenskräfte aus dem gleichen Reservoir stammen wie die zu überwindenden Kriegskräfte. 21 Es bildet sich eine Funktionskette. Die Herrschaft dient dem Frieden und dieser dem Wohl des Volkes (De cive 13, 2). Dieses Gemeinwohl wird mitsamt seinen gesetzlichen Bedingungen nur insofern erstrebt, als der Krieg aller gegen alle dem Eigenwohl widerstrebt (De cive 1, 13). Jeder erstrebt, was immer er erstrebt, sub specie boni proprii. Die Annahme eines höchsten Gutes entfällt, da die an das individuelle Eigenwohl gebundenen Interessen und Glücksvorstellungen zwangsläufig divergieren. Selbst wenn mehrere dasselbe wollen, so ist es nicht dasselbe. Stattdessen gibt es ein höchstes Übel, nämlich meinen gewaltsamen Tod durch fremde Hand. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine Waffe eingesetzt oder Gift verabreicht wird, ob die Gewalt oder die List regiert. 22 Alles Ritterliche, also auch der große Feind, den Nietzsche sich herbeiwünscht, liegt Hobbes so fern wie nur etwas. Das höchste Übel schwebt als Damoklesschwert über allen Häuptern, aber als ›je meines‹. Der Friedensvertrag steht auf schwachen Füßen, da es keine autochthonen Friedenskräfte gibt, die in der Herbeiführung des Friedens etwas anderes betreiben als die bloße Beendigung und Verhinderung des Krieges, unterstützt durch die abschreckende Wirkung von Waffengewalt. Der Bezug auf das Wohlergehen des Anderen ist in seinem Kern strategisch. Dem Frieden wohnt keine positive Eigenkraft inne. 21 Freud, den manche der Hobbesschen Gedanken auf Umwegen erreicht haben dürften, spricht wiederholt von einem »großen Reservoir der Libido«, aus dem die narzisstische Ichlibido ebenso schöpft wie die auf den Anderen gerichtete Objektlibido. Eine Selbstübersteigung der Libido dürfte ebenso an ein Wunder grenzen wie die Selbstübersteigung der Macht. Vgl. dazu Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. A. a. O. 338. 22 Zu dem unter Philosophen allzu stiefmütterlich behandelten Thema der List vgl. Kapust: Der Krieg A. a. O. Kap V, 3: »Die Mimikry des Krieges: List und Strategem«.
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Bernhard Waldenfels
Bekanntlich geht Kant über die Hobbesschen Restriktionen hinaus, ohne sie allerdings zu überspringen. Er weitet nicht nur den Vertragsraum aus zu einem Menschheitspakt, der die ganze Welt umfasst, sondern er greift auch weit über die Gegenwart hinaus, indem er einen ewigen Frieden propagiert. So gebietet der erste Präliminarartikel, dass der Friedensschluss nicht nur diesen Krieg beendet, sondern den Krieg überhaupt, indem er zugleich die Ursachen zum künftigen Krieg »vernichtet«. Andernfalls »wäre er ja ein bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeiten, nicht F r i e d e , der das Ende aller Hostilitäten bedeutet, und dem das Beiwort e w i g anzuhängen schon ein verdächtiger Pleonasm ist.« (Ausgabe Weischedel, VI, 196). Die Garantie dafür, dass es so sein wird, sucht Kant in den Mechanismen der Natur, die als »große Künstlerin« zuwege bringt, was wir als Einzelne auch vereint nicht zustande bringen. Zu diesen Mechanismen gehört, dass der Krieg, der »auf die menschliche Natur aufgepfropft« zu sein scheint, im Ehrtrieb »etwas Edles«, eine »innere Würde« hervorbringt; dazu gehört, dass der Mensch durch den Druck öffentlicher Gesetze, »wenn gleich nicht ein moralischguter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird« – selbst wenn der Staat für ein »Volk von Teufeln« errichtet würde –; dazu gehört ferner, dass die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen mit ihrem »Hang zum wechselseitigen Hasse« bei wachsender Kultur und wechselseitige Annäherung »zum Einverständnisse in einem Frieden« gelangt und im Wetteifer ihr Gleichgewicht findet; dazu gehört schließlich der befriedende Handelsgeist, der mit seiner zuverlässigen »Geldmacht« die Staaten zu Verhandlungen antreibt (Ausg. Weischedel, VI, 217–227). Dass es so kommen wird, ist für Kant zu vermuten und zu erhoffen, doch dass es so sein soll, steht nicht auf einem politischen, sondern auf einem moralischen Blatt, das uns im Anhang der Friedensschrift unterbreitet wird. Am Ende lässt Kant keinen Zweifel daran, dass die Philosophie lediglich die »Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens« aufzeigen kann (Ausg. Weischedel, VI 227), und sollte der ewige Frieden eine Pflicht sein, so nur als Derivat des moralisch fundierten Rechtsprinzips (Ausg. Weischedel, VI 239). Der Friedensvertrag, den Staaten miteinander abschließen, findet den bei Hobbes fehlenden Rückhalt in einem Sollensfrieden, der ähnlich wie der kosmisch verankerte Seinsfrieden eine Tautologie darstellt. Moralisches Sollen, das unsere Maximen in ein allgemeines Gesetz verwandelt, ist in seiner unverbrüchlichen Konsistenz von sich aus über alle Streitigkeiten erhaben. 268 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Friedenskrfte und Friedenszeichen
Die Kräfte des Friedens kommen also abermals von anderswoher, nun nicht von dem Guten, das alle erstreben, wohl aber von dem guten Willen und seiner Ausrichtung auf das Moralgesetz, dem jeder von uns unterworfen ist. Was konkrete Friedensbemühungen angeht, so bleibt es bei einer allgemeinen Orientierung. Der »Grenzgott der Moral« weicht vor dem »Grenzgott der Gewalt« nicht zurück, aber auf einen Konflikt lässt er sich nicht ein. Angesichts der Tatsache, dass ein »obgleich durch viel willkürliche Gewalt verkümmertes Recht besser ist als gar keines«, muss man die Gewalt »so lange beharren lassen bis die Herrschergewalt sich selbst allmählich zu Reformen durch die Natur der Sachen und die Vorstellungen der Untertanen bewegen wird« (Ausg. Weischedel, VI 229 f.). Bis es soweit kommt, heisst es gehorchen, um eine Anarchie zu vermeiden. Bedeutet dies auch, dass wir willkürliche Tötungsbefehle auszuführen oder an einem Angriffskrieg teilzunehmen haben, wenn die gesetzliche Obrigkeit es so will? Obwohl Kant dies nicht ausspricht, muss man es so sehen. Diese unausgesprochene Konsequenz fällt besonders ins Gewicht, weil Kant sonst, etwa bei der Ächtung der Lüge, vor der Formulierung extremer Konsequenzen nicht zurückschreckt. Ist es also so, dass der Frieden letzten Endes doch wieder in den Schatten rückt, diesmal in den Schatten einer Gesetzesordnung, die sich auf notwendige Bedingungen einer Friedensordnung beschränkt?
4. Friedensimpulse Man könnte einwerfen, dass jeder, der mehr verlangt als einen Rechtsfrieden, auch das wenige noch gefährdet. Wir kennen den Streit zwischen radikalen Bellizisten, die den Krieg als probates Mittel befürworten oder ihn gar als Lebenselixier anpreisen, und radikalen Pazifisten, die ihn um jeden Preis ablehnen und bekämpfen, also ebenfalls zu kämpfen gezwungen sind. Die Ordnungskonzeptionen, die wir uns vor Augen geführt haben, erweisen sich demgegenüber als moderat. Sie sehen im Frieden ein erstrebenswertes Ziel, aber nicht das letzte Ziel, sie sehen in ihm eine berechtigte Forderung, aber keine unbedingte Forderung. Jede Friedenspolitik, die sich im Schatten einer Ziel- oder einer Gesetzesordnung bewegt, behält von daher etwas Approximatives. Der sogenannte Pazifismus ist selbst ein schillerndes und auch neuartiges Phänomen. Er kann besagen, dass der Friede seinerseits als höchstes Gut betrachtet wird, das nicht 269 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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nur schwerer wiegt als Wohlstand und Ruhm, sondern schwerer auch als Freiheit und Gerechtigkeit, er kann aber auch bedeuten, dass die Vermeidung des Krieges zur unmittelbaren Pflicht erhoben wird. 23 Wie wir gesehen haben, wird ersteres von Platon und Aristoteles, letzteres von Kant ausdrücklich zurückgewiesen, ganz zu schweigen von Hobbes, der alle höheren Prinzipen durch das unvermeidliche Streben nach Selbsterhaltung aus den Angeln hebt. Für Hobbes ist der Friede letzten Endes nichts weiter als das einzig probate Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung. In allen Fällen gilt, dass der Friede nicht um jeden Preis erstrebt oder geboten wird. Kriege werden in Kauf genommen, also unter bestimmten Bedingungen befürwortet. Bei Kant erfolgt die Befürwortung des Krieges, wie die der Revolution, immer nur rückwirkend, doch niemand kann ausschließen, dass die »Mechanismen der Natur« uns auch künftig auf die krummen Wege der Gewalt führen werden. Diese Möglichkeit ist, wie wir nur zu gut wissen, keine bloße Möglichkeit, und es nichts davon bekannt, dass Kantianer etwa im Ersten Weltkrieg, als sie mit der Wirklichkeit konfrontiert wurden, eine geschlossene Phalanx gegen den Krieg gebildet hätten. Doch verlangen wir nicht zuviel, wenn wir mehr erwarten als Ad-hoc-Entscheidungen, die sich von Fall zu Fall zu rechtfertigen haben? Die Revision, die mir vorschwebt, läuft nicht auf einen Prinzipienstreit hinaus. Sie zielt nicht darauf ab, vorhandene Ordnungskonzeptionen durch eine umfassendere oder fundamentalere Ordnung zu ersetzen, vielmehr setzt sie hinter alle Kriegs- und Friedensordnungen ein Fragezeichen. Diese Infragestellung, die quer steht zu jeder Zielabwägung und jeder Normenkontrolle, geht strikt vom Anderen aus, ohne den es weder Kampfhandlungen noch Friedensschlüsse gäbe. 24 Dabei betrachten wir Krieg und Frieden nicht Der Pazifismus kann also in hedonistischem Gewand oder im Gewand mitleidiger Menschenliebe, aber eben auch im Gewand der Pflicht auftreten. Davon zu unterscheiden ist der Pazifismus als Friedenspolitik, doch wäre es besser, ihn nicht so zu nennen, weil die vielen Ismen, die seit dem 19. Jahrhundert überhand nehmen, allesamt dem Prinzipiellen oder dem Weltanschaulichen zuneigen, sich also vom Politischen entfernen. 24 Bei Levinas verschmilzt das Motiv des Friedens nahezu mit dem Anspruch des Anderen; es kommt zumeist beiläufig zu Wort, als sei es zu zentral, um eigens behandelt zu werden. In Totalität und Unendlichkeit (Dt. von Wolfgang N. Krewani. Freiburg/München 1987, frz. 1961) stoßen wir auf verschiedene Aspekte wie etwa das Wort des Friedens, den eschatologischen Bruch mit der Totalität von Sein und Geschichte, den Frieden als eine dem Krieg vorausgehende Gegenwart des Anderen und als plurale Einheit, in 23
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auf gleicher Augenhöhe, aber doch im gleichen Atemzug; denn auch dann, wenn der Frieden mehr besagt als einen zeitweiligen Waffenstillstand, findet er seine Bewährung einzig im Widerstand gegen die kriegerische Gewalt. Es kommt nun alles darauf an, wie dieses gleichzeitige Mehr und Gegen zu denken ist. Diesem schwierigen Punkt nähern wir uns, indem wir eine Reihe von Schlüsselfragen stellen, die allesamt auf den Ort von Krieg und Frieden in der Erfahrung abzielen. Dieser Ort, an dem Ordnung und Unordnung der Erfahrung, aber auch unser eigenes Selbst und das der Anderen auf dem Spiel stehen, ist ein eigentümlicher Ort, der nach einer ebenso eigentümlichen Topik verlangt, bevor sich das Für und Wider der Sache bemächtigt. 25 Unsere erste Frage lautet: Gegen wen führen wir Krieg und mit wem schließen wir Frieden? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Wir kämpfen zusammen mit unseren Kampfgenossen und Bundesgenossen (gr. sÐmmaco@, wörtlich: Mitkämpfer, Kombattant) gegen die Feinde, und mit eben denselben schließen wir Frieden. Doch dies setzt voraus, dass jene, die gegeneinander gekämpft haben, und jene, die miteinander Frieden schließen, auf gewisse Weise nicht dieselben sind; denn Feinde verwandeln sich in Vertragspartner und möglicherweise sogar in Freunde. Ziehen wir weiterhin in Betracht, dass laut Hobbes und auch laut Kant der Naturzustand insgesamt einen zumindest latenten Kriegszustand darstellt, der mich berechtigt, den Nachbarn »als einen Feind (zu) behandeln« (Ausg. Weischedel, VI, 203), so stellt sich der Übergang in den bürgerlichen Friedenszustand als ein gigantischer Prozess dar, den man als Zivilisierung oder Kultivierung zu bezeichnen pflegt. Dieser Prozess stellt uns vor ähnliche Probleme wie das persönliche Tête-à-tête. Werden wir nicht Zeugen einer rechtlich-moralischen und politischen Wandlung, wie sie uns sonst nur von der religiösen oder quasi-religiösen der es keine Sieger und Verlierer gibt, während in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Dt. von Thomas Wiemer. Freiburg/München 1992, frz. 1974) die »Unmittelbarkeit eines Friedens, der mir auferlegt ist«, die Beunruhigung, die von ihm ausgeht, (305, frz. 177), die Geiselschaft des Friedens (362, frz. 212) hervortritt; die Differenz von Krieg und Frieden verbindet sich nun mit der Atemlosigkeit, dem Atemanhalten des Geistes, der über das Sein hinaustreibt (28, frz. 5 f.). 25 Verwiesen sei auf Kants Inanspruchnahme eines transzendentalen Orts bzw. einer transzendentalen Topik (KrV B 324), nicht als ob es mit der doppelten Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Krieg und Frieden und ihrer faktischen Realisierung getan wäre, wohl aber insofern, als eine solche Erörterung den Phänomenen näher kommt als die Prüfung geltungsrelevanter Aussagen und Entscheidungen.
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Bekehrung her vertraut ist? Was unterscheidet diese Wandlungskräfte von den Wunderkräften einer schlichten Alchimie? Dass hier ein Problem liegt, dass mit dem üblichen Rollenwechsel nicht zu lösen ist, deutet sich bei Carl Schmitt an, für den die Unterscheidung von Freund und Feind politisch gesehen fundamental ist und bleibt. Zunächst einmal ist zu beachten, dass nur Überlebende miteinander Frieden schließen. Die Kriegsopfer, die auf dem ›Schlachtfeld‹ ›gefallen‹ sind (hier wechseln wie so oft drastische Ausdrücke mit Euphemismen), kommen nur in der Erinnerung vor in Form eines stellvertretenden Friedensschlusses, so wie künftige Generationen in der Erwartung vorkommen. Am Ende sind die Kriege geschichts- und schulbuchreif. Doch eine Versöhnung zwischen Opfern und Tätern (oder auch zwischen Tätern als Opfern und Opfern als Tätern) kann nicht stellvertretend ausgesprochen werden, wie man nachträglich eine Rechnung begleicht. Jeder Friedensvertrag weist leere Stellen auf. Doch gehen wir zurück auf die Gewalt, die sich vor dem möglichen Friedensschluss ereignet. Sobald wir klassische philosophische Texte zur Hand nehmen, die sich mit Krieg und Frieden befassen, so etwa die bekannten Tapferkeitstraktate, so fällt auf, dass sie nahezu ausschließlich die Täterseite berücksichtigen, dass also von Feldzügen und Schlachtordnungen, 26 von Mannhaftigkeit (virtus) und Feigheit, von Wagemut und Feigheit die Rede ist, doch es fließt nur manchmal Blut, und Verwundete gibt es kaum, als gehöre dies zu den Nebenumständen. 27 Beiläufig erwähnt Platon auch »leidende Unschuldige (⁄naffltioi)«, darunter Frauen und Kinder als Nichtkombattanten; doch es geht dabei nur um die zulässige Behandlungsweise. Sie sind ebenso wie Felder und Wohnungen nur dann zu schonen, wenn es sich – wie schon erwähnt – um einen innergriechischen Zwist hanDass Wörter wie ›Strategie‹ und ›Taktik‹, also die Kunst der Heeresführung und die der Heeresaufstellung, sich eines solch weiten Gebrauchs erfreuen und dass die ›Irenik‹ von der ›Polemik‹ weit in den Schatten gerückt wird, zeigt zu Genüge, wie bereits in der griechischen Kultur die Gewichte verteilt sind. Selbst das griechische Wort t€xi@, das in der Philosophie für ›Ordnung‹ steht, gewinnt mit der ›Heeresaufstellung‹ und der ›Schlachtordnung‹ einen militärischen Unterton. 27 Die Frage, warum nicht der Kahlköpfige, wohl aber der Mensch, der eine seiner Extremitäten eingebüßt hat, als ›verstümmelt‹ gilt (gr. kolob@, vgl. frz. mutilé de guerre), begegnet uns weitab in den Begriffsanalysen der Metaphysik (V, 27) als Exempel für das Verhältnis vom Ganzen zu seinen Teilen. 26
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delt, nicht im Falle eines wirklichen Kriegs mit den Barbaren, dessen Schonungslosigkeit nach Platons eigenem Geständnis bislang auch unter Griechen gang und gäbe ist (Politeia 471 b). Wollen wir die Friedensstiftung nicht mit einer wundersamen Urzeugung gleichsetzen, in der aus dem bloßen Schlamm Krabben und Insekten hervorkriechen, so müssen wir annehmen, dass Friede nicht bloß auf Krieg folgt, sondern dass der Friede im Krieg schon gegenwärtig ist. Wie haben wir uns dies vorzustellen? 28 Zunächst müssen wir davon ausgehen, dass auch der Andere, der als Feind bekämpft wird, mehr ist als ein bloßer Feind, dass also – anders als Carl Schmitt annimmt – der Volksfremde nicht mit dem Volksfeind gleichzusetzen ist. Dies gilt auch für jene, für die Platon verlangt, dass sie als Schuldige (a—tioi) zur Verantwortung gezogen werden. Unabhängig von der Frage, wie eine bloße Siegerjustiz zu vermeiden ist, bei der nach Kriegsende die eine der beiden Kriegsparteien zugleich als Richter auftritt, 29 bleibt es dabei, dass selbst Diktatoren und öffentliche Verbrecherbanden als Feinde bekämpft werden. Dieses winzige Als, das Phänomenologen und Hermeneutikern wohlbekannt ist, öffnet einen Spalt; würde dieser sich schließen, so gäbe es nicht nur niemanden, mit dem man hinterdrein Frieden schließen könnte, es gäbe auch niemanden, den man verurteilen könnte. 30 Eine strikte Trennung von Kriegs- und Friedenszustand würde in einem Dilemma enden, das sich in Anlehnung an den Streitsatz aus Platons Menon wie folgt formulieren lässt: »Ist der Andere mein Feind, so kann ich mit ihm keinen Frieden schließen; ist der Andere mein Freund, so brauche ich mit ihm keinen Frieden zu schließen.« Die Möglichkeit, dass Kriegsgegner sich in Vertragspartner verwandeln, setzt mithin voraus, dass man nicht nur gegen 28 Eine spezielle Form von Frieden im Krieg bedeutet die »Fraternisierung zwischen Feinden«, wie sie in den »Stahlgewittern« des Ersten Weltkriegs in seltenen Augenblicken als Friedenszeichen aufleuchtete. Vgl. dazu den eindrücklichen Kommentar von Antje Kapust: Der Krieg. A. a. O. 337–341. 29 Eine solche wird uns von Thukydides im Melier-Dialog schonungslos vor Augen geführt. 30 Deshalb ist auch die neuerdings erwogene Möglichkeit eines »Feindstrafrechts« eine monströse Idee, der durch Maßnahmen wie der exterritorialen Einsperrung und Befragung von Verdächtigen längst der Boden bereitet ist. Einrichtungen wie das Gefängnis in Guantanamo arbeiten an der »Ausbürgerung von Menschen aus dem normalen Recht«, so Heribert Prantl zur »diabolischen Potenz« eines sogenannten Feindstrafrechts (Süddeutsche Zeitung vom 5./6. 3. 2005). Wäre es nicht ehrlicher, man würde das Feindstrafrecht gleich dem Sachenrecht zuschlagen?
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Andere, sondern immer auch mit Anderen Krieg führt, dass es also ein Miteinander im Gegeneinander gibt, so minimal dieses auch sein mag. Der Vernichtungskrieg wäre ein Krieg, der keinen Friedensschluss zulässt. Er würde den Widersacher einer puren Sache annähern, damit wäre er im Grunde nicht einmal mehr ein Krieg. Der schlichte Satz von Levinas: »Nur Seiende, die zum Krieg fähig sind, können sich zum Frieden erheben«, 31 lässt sich durchaus umkehren. So erklärt es sich, dass auch Platon – beschränkt allerdings auf die Mitgriechen – fordert, man solle Krieg führen als solche, »die sich wieder vertragen und nicht immer im Krieg bleiben werden« 32 (Politeia 470 e). In die gleiche Richtung weist die Entstehung des modernen Kriegsrechts und internationaler Abmachungen wie der Haager Landkriegsordnung. Das Kriegsrecht hat den doppelten Aspekt eines Rechts auf Krieg (ius ad bellum) und eines Rechts im Krieg (ius in bello), um letzteres geht es uns hier. Doch mit rechtlichen Schranken und Kautelen ist es allein nicht getan. Das Recht im Krieg weist darauf hin, dass wir es nicht mit einem reinen Kampfverhältnis zu tun haben, sondern mit einem zumindest rudimentären Vertragsverhältnis, andernfalls könnte der Kriegszustand eben nicht in einen Friedenszustand übergehen. Gleichwohl trägt die Reduktion des Friedens auf einen Friedensvertrag dem Anderen nur insoweit Rechnung, als wir zu einem solidarischen Wir vereint oder unter dem Blickwinkel eines neutralen Dritten einander gleichgesetzt sind. Die meisten Friedenstheorien kranken daran, dass sie sich von vornherein auf ein Bündnis beziehen, das in Präpositionen und Präfixen wie mit, syn oder cum seinen Ausdruck findet, als sun-qffikh, Kon-trakt, Kon-vention, als Kommune, Mit-sein usf. Doch einerseits ist jedes vom Dritten her konstituierte Gemeinwesen exklusiv, weil es die Anderen und mich selbst als Anderen nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt, in Levinas: Totalität und Unendlichkeit. A. a. O. 322, frz. 197. So in der Übersetzung von Schleiermacher. Das griechische Wort dial€ttesqai, das oft mit ›sich aussöhnen‹ oder ›sich miteinander versöhnen‹ wiedergegeben wird, ist frei von familiären Konnotationen, es bedeutet wörtlich ›einander verändern‹, indem man eines gegen anderes, also die Feindschaft gegen die Freundschaft ›eintauscht‹. Der Artikel »Versöhnung« im Historischen Wörterbuch der Philosophie beginnt mit dem neutestamentlichen katall€tein bzw. katallagffi, das dem von Platon verwendeten Ausdruck sprachlich nahesteht, aber im christologischen Kontext buchstäblich ›Versöhnung‹ bedeutet. Vgl. Röm. 5, 10 in der Übersetzung von Martin Luther: »Denn so wir Gott versöhnt (kathll€ghmen) sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, so wir nun versöhnt sind.« 31 32
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einer bestimmten Rolle zulässt. Dies hat zur Folge, dass es immer Außenseiter und Outlaws gibt, auf die der Friedensplan nur bedingt zutrifft. Wir haben das Sprichwort: »Es kann der Beste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt«. Dass bei dieser Qualifikation ein und dieselbe Instanz als Partei und als Richter auftritt, und dies in verdoppelter Form, erzeugt eine besondere Form der Unversöhnlichkeit. Die ausschließliche Orientierung an einem verbindenden und verbindlichen Dritten hat andererseits zur Folge, dass die Genealogie des Friedens übersprungen und der Vertrag jener Fremdimpulse beraubt wird, ohne deren Wirkung er sich einer Vertragsmaschine annähert. Der Andere, der als Anderer zum Frieden aufruft, der auf Frieden Anspruch erhebt, kommt so nicht vor. Vielleicht liegt es daran, dass der Friede in allen teleologisch oder normativ angelegten Konzeptionen so blass bleibt. Man ist immer schon unter sich auf friedlichem Boden vereint. Unsere zweite Frage lautet: Zu welcher Zeit findet die Friedensstiftung statt? Gibt es eine genuine Zeit des Friedens, die mehr bedeutet als eine Friedenszeit, die kürzer oder länger dauert? Verlässt man sich auf eine Ordnung und einen Frieden in den Dingen, die nur ein Suchen kennt, das alles Wesentliche schon gefunden hat, so wird aus jeder Instauration des Friedens im Grunde eine Restauration. Man kehrt in einen Zustand zurück, in dem man schon einmal war. Der Friede hat dann etwas Märchenhaftes. In Ovids Metamorphosen ist das Goldene Zeitalter frei von Waffen und Gesetzen, frei von Strafe und Furcht.33 Erst mit dem Ehernen Zeitalter brechen die »schrecklichen Waffen« hervor, und erst im Eisernen Zeitalter kommt das Verbrechen auf und der Krieg, »der mit blutiger Hand klirrende Waffen schüttelt«. Die Friedensstiftung weicht zurück in die graue Vorzeit, und daraus erwächst die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Doch schon Vergil bleibt der Gegenwart näher; in der Äneis, dem großen Nationalepos, tauchen die »schrecklichen Waffen des Mars« schon in den ersten Zeilen auf als Attribute jenes Flüchtlings aus Troja, der aufbricht, um am Tiber ein neues Troja zu gründen. 33 Auch Platon bezieht sich in mythischer Rede auf ein Zeitalter des Kronos, das noch von Krieg und Zwist verschont war, in dem selbst Menschen und Tiere (die in der Kriegs- und Friedensphilosophie zumeist nur als Prototyp des Tierischen im Menschen auftauchen) friedlich miteinander verkehrten, sich nicht bekriegten und einander auch nicht verspeisten, in dem es allerdings auch noch keine Polis und kein Oikos gab. Erst im Zeitalter des Zeus sind die Menschen sich selbst überlassen, und mit der Selbstverantwortung beginnt die Unordnung (Politikos 271 a-244 e).
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Thomas Hobbes ist auf ganz andere Weise unser Zeitgenosse. Der Krieg, von dem sein Bürgerdrama ausgeht, findet jetzt statt, vor unseren Augen, und ebenso der Friedensvertrag, der – einmal geschlossen – auf seine ständige Erneuerung wartet. Doch der Vertrag selbst weist eine eigentümliche Zeitstruktur auf, die den Vertragsakt betrifft und nicht nur die Vertragsmaterie mit ihren Fristangaben (vgl. De cive II, 9–11, Leviathan Kap. 14). Der Abschluss des Vertrags, mit dem jemand sein Recht auf den Anderen überträgt, geschieht auf Kredit. Er ist zwar auf Gegenseitigkeit angelegt, doch niemand, der den Vertrag erfüllt, kann sicher sein, dass der Andere das gleiche tun wird. Der Vertrauensvorschuss lässt sich nicht völlig verrechnen. Verrechnen lässt sich bis zu einem gewissen Grad, was versprochen wird, nicht aber das Einhalten des Versprechens, das Sache des jeweils Anderen oder der anderen Partei ist. Würde man die Forderung erheben, der Versprechende solle das Einhalten des Versprechens auch noch versprechen, so bedürfte es dazu eines weiteren Akts des Versprechens und so ad infinitum. Ein Vertrag kommt also nur dadurch zustande, dass einer dem anderen zuvorkommt, dass jeder gibt, bevor er empfängt. 34 Dieses uneinholbare Vorher, diese unvermeidliche Verzögerung, lässt sich nicht mit dem Nachher synchronisieren wie im Falle zweier Ereignisse, die ich beobachte und datiere. Es ist auch nicht so, dass jemand erst verspricht und dann der Andere das Versprochene entgegennimmt wie eine Botschaft, die zwischen Sender und Empfänger hin und hergeht; ohne Entgegennahme des Versprechens käme gar kein Versprechen zustande. Diese genuine Zeitverschiebung gehört zur Logik des Vertragsabschlusses und somit auch zur Logik des Friedensvertrags. Wann also findet die Friedensstiftung statt? Einen gemeinsamen Zeitpunkt, ein Alles-Zugleich, in dem jeder dasselbe tut wie der andere, kann es nicht geben, wenn jede Abgabe eines Versprechens eine Vorgabe bedeutet. Die Gabe des Versprechens eilt sich selbst voraus, und nur aus diesem Vorsprung erwächst eine Bindekraft. Jede Übereinkunft zwischen Partnern hat und behält etwas von einer Ankunft des Frem-
So betont Levinas, es sei vor allem oder gar allein meine Sache, den Frieden zu vollbringen (Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins. A. a. O. 304, 362, frz. 177, 212). Als antwortendes Geben, das vom fremden Anspruch ausgeht, ist das Geben allerdings selbst ein nehmendes Geben: Kein Versprechen ohne Zuspruch. Dies gehört zu den responsiven Hintergründen eines Vertrags, die hier nur angedeutet werden können. Vgl. Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt a. M. 1994. Kap. III, 13, speziell 614.
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den. 35 Das Versprechen hat eine Nachgeschichte, weil es eine Vorgeschichte hat. Diese Zeitverschiebung schmilzt zusammen, wenn wir den Vertrag als geltenden Vertrag von seinem Resultat her betrachten und darüber das Vertragsgeschehen vergessen. Der Vertrag besiegelt, was er nicht garantieren kann. Der Andere wird zum Vertragspartner; wäre er es vorweg schon, so wäre der Vertrag im Grunde überflüssig. Wenn wir die Genealogie des Vertrags, die eben auch eine Genealogie des Rechts und des Friedens bedeutet, oft so leichthin überspringen, so mag einer der Gründe darin liegen, dass wir uns an Sekundärverträgen orientieren, die selbst schon in einem Primärvertrag gründen, so wie das Vertragsrecht Teil einer bereits bestehenden Rechtsordnung ist. Der Friedensvertrag nähert sich damit einem Normalvertrag, dessen Funktionieren seine Herkunft vergessen lässt. Man kann dann noch einen Schritt weiter gehen, indem man das Vertragsgeschehen nach dem Modell eines Spiels deutet, in dessen Rahmen der Kredit, den ich dem Anderen gewähre, sich auf eine bloße Chancenberechnung reduziert wie in einem Wettbüro. Doch das würde unsere Debatte an einen Punkt zurückführen, wo sie schon einmal war. Ein Spielsystem mit kalkulierbaren Chancen und verteilten Rollen wäre eine spezielle Form von Drittinstanz, in der die Fremdheit des Anderen wie auch meine eigene Fremdheit systematisch homologisiert würde. Dasselbe kann man erreichen, indem man Kriegsopfer in eine Berechnung von Gewinn und Verlust einbezieht; doch auch ein kalkuliertes Opfer stirbt nicht nur in der Statistik, und kein Täter ist ein bloßer Funktionär. Eine dritte Frage, die der Diachronie des Vertragsabschlusses benachbart ist, betrifft die Vollzugsform der Friedensstiftung. Auf welche Weise vollzieht sie sich? Bei der anfänglichen Bestimmung des Friedens sind wir davon ausgegangen, dass der Friede sich im Friedensschluss ereignet und als Friedenszustand andauert. Damit haben wir von einer Ontologie der Substanzen Abstand genommen. Nun können Ereignisse unter geeigneten Umständen als Handlungen, Herstellungen und Prozesse aufgefasst werden, und Zustände lassen sich als entsprechende Produkte verstehen. Doch das Friedensgeschehen bedeutet mehr als eine Koordination verantwortlicher Handlungen. Wenn wir von Anderen ausgehen, gegen die wir Krieg führen und mit denen wir Frieden schließen, und wenn wir dabei die zeitliche Verschiebung zwischen fremdem Anspruch und eigener 35
Lateinisch gesprochen: das venire gabelt sich in ein convenire und ein advenire.
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Antwort berücksichtigen, so nötigt uns dies zu einem starken Begriff von Ereignis. 36 Der Friede fällt nicht ohne unser Zutun vom Himmel, doch ebensowenig ist er ein Zustand, der von den beteiligten Individuen durch eigenes Tun herbeigeführt wird, er ist vielmehr etwas, in das die Beteiligten geraten, das ihnen über alles gezielte Tun, Machen und Reden hinaus zustößt, das ihnen geschenkt wird. Ich verwende in diesem Zusammenhang wie auch sonst das Wort Pathos, das im Griechischen zwar einen bestehenden Zustand bedeutet, aber eben nicht nur, sondern auch einen Zustand, in den wir geraten, ein Ereignis, das uns widerfährt. Die Antwort, die aus diesem Pathos erwächst, schließt jede Einswerdung aus und geht über jede Einigung hinaus. Was dem fremden Anspruch entspricht und ihm nie völlig entspricht, lässt sich auf verschiedene Weise umschreiben, als Gewährenlassen, als Dulden, als Abwarten, als Pause, als Zäsur, als ein Eingehen auf Fremdes, das an sich hält, das die Ferne aushält, das Abstand wahrt, also als ein Geschehen, das den geläufigen Gegensatz von aktiver Eigenwirkung und passiver Fremdwirkung unterläuft. 37 Die Friedensstiftung bedeutet wie jede Stiftung eine Antwort, die ihrer Voraussetzungen nicht Herr ist und deshalb auch keine Lösung bietet. Wäre der Friede frei von den Spuren des Fremden, so wäre er ein Machwerk, bar jener Verwandlungskraft, auf die ein Friedensschluss angewiesen ist. Wenn der Friede eine Eigenkraft entfaltet, so nicht als eine höhere Ordnungsmacht, sondern als ein Außer-ordentliches, das den normalen Gang der Dinge unterbricht und nur so dem Ansturm der Gewalt widersteht. Nochmals sei es gesagt: Friede ist nicht etwas und doch nicht nichts. Er verbirgt sich in den Falten der Differenz. Doch wäre da nichts, so würde das Schweigen der Waffen nichts weiter besagen als einen Stillstand der Waffen. Zu guter Letzt stellt sich die Frage nach der Darstellungsweise des Friedens. In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf die vielfältigen Zeichen des Friedens, in denen der Friede sich andeutet, ohne sich zu definieren. Dabei kann es sich um bloße Erkennungszeichen handeln wie die weiße Flagge oder das rote Kreuz, die lebensrettende Notsignale aussenden. Doch weit darüber hinaus gibt es eine Fülle Zum Ereignisbegriff vgl. ausführlich Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M. 2004. Kap. II. 37 Versuche, eine Sprache dafür zu finden, finden sich zu Hauf bei Blanchot und Levinas, bei ersterem gestützt auf literarische Wortführer wie Beckett und Kafka, bei letzterem auf die jüdische Tradition. Meinerseits verweise ich auf den Abschnitt »Pausen und Zäsuren« in Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. A. a. O. 215–222. 36
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Friedenskrfte und Friedenszeichen
symbolischer Zeichen, in denen sich etwas verkörpert, was sich nicht dingfest machen, nicht in Werke umsetzen und in Resultate verwandeln lässt. Solche Friedenssymbole, die auf ein Un-mögliches hinweisen, haben Züge eines désœuvrement, einer Entwerkung im Sinne von Maurice Blanchot. 38 Zu erinnern ist an Friedenstauben, die ausgesandt werden wie stille Boten, an Friedensglocken, die den Frieden einläuten, an Friedenssäulen und Friedenstore, die errichtet werden, an das Rauchen von Friedenspfeifen, an den Friedenskuss, an Friedensgesänge wie das Pace, pace im Figaro oder an die drei Friedenssymbole aus dem Talmud: »Drei [Dinge bedeuten] Frieden: der Strom, der Vogel und das Gefäß.« 39 Und es gibt Kriegsdenkmäler, die nicht mit Parolen wie invictis victi victuris zu neuen Siegen aufrufen, 40 die keine Heldengesänge anstimmen, sondern Mahnmale sind, die an Leid und Zerstörung erinnern. Es gibt aber auch Friedensallegorien in der gebrochenen Gestalt von Ruinen, die nichts versinnbildlichen, sondern als Spuren der Zerstörung fortdauern. Es wäre müßig, darauf hinzuweisen, dass alle Zeichen, so auch diese, dem Missbrauch wie dem Verschleiß ausgesetzt sind, darin liegt kein Grund, sie gering zu achten. Schon die Tatsache, dass es diese indirekte Sprache der Zeichen, dass es solche Leuchtzeichen gibt, weist darauf hin, dass der Friede anwesend-abwesend ist wie das Gesicht des Anderen, angewiesen auf eine Grußgeste wie das Schalom, das der Wiederholung bedarf, da der Andere niemals zugegen ist als ein Besitz für immer.
38 Vgl. dazu Andreas Gelhard: Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots. München 2005. Kap. IV, 1. 39 In der Deutung durch den Prager Rabbi Löw steht der Vogel für das Wirken von Gesetz und Institutionen, das aus der Höhe kommt, der Strom für die stetige Bewegung der Zeit, die eine untergründige Wirkung entfaltet, das Gefäß für den Frieden, der zwei Personen bis in den Liebesakt hinein zusammenschließt. Ich beziehe mich auf Stéphane Mosès: Eros und Gesetz. Zehn Lektüren der Bibel. München 2004, speziell auf den eindringlichen Kommentar in Kapitel 10: »Drei Formen des Friedens in der jüdischen Tradition«. 40 So auf einer Gedenkplatte an einer Kirche in München-Schwabing aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Es handelt sich um vaterländisches Bildungsgut, bei dem das klassische »Wehe den Besiegten« in ein »Wehe den Siegern« umgemünzt wird, zu deutsch: »Die Besiegten (weihen dies) den Unbesiegten, die siegen werden«.
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Das Eigene und das Fremde. Friedensphilosophie und Psychoanalyse Hajo Schmidt
Ausgang; Absicht Auch die Aachener Tagung verriet den philosophischen Einfluss wie die politische Relevanz des kantischen Friedensdenkens – nicht zuletzt aufgrund dessen realpolitischer Nobilitierung als Theorem vom ›demokratischen Frieden‹. Strebt letzteres nach Globalisierung des demokratisch-herrschaftlich verfassten Einzelstaates, so der Kantianismus nach Universalisierung der den Prozess der demokratischen Friedensdurchsetzung tragenden Prinzipien. Beide Tendenzen betrachtet mein Beitrag differenziert-kritisch, indem er die Ansprüche des kantischen Paradigmas einerseits, realpolitisch zu stärken, andererseits – und für heute vor allem (sozial-)anthropologisch akzentuiert – zu schwächen versucht. Erfolgt ersteres vor dem Hintergrund des weiterhin höchst einflussreichen Theoriekonkurrenten Hobbes und verkürzender Kant-Exegesen in Philosophie und politischer Wissenschaft, so letzteres im Hinblick auf Freud und Co., genauer: einen avancierten Freudianismus und Georges Bataille.
Zum kantischen Paradigma Den normativen (faktisch identifizierbaren) Rahmen setzt Kants Vorstellung einer (national-)staatlich verfassten Gemeinschaft politisch räsonierender, Interessen kalkulierender und sich moralisch-politisch selbstbestimmender Bürger(innen), deren gemeinsames, einziges Menschenrecht auf Freiheit 1 das Fundament der Selbstbestimmung wie der Gesellschafts- und Weltgestaltung, aber auch die letzte Dieses Menschenrecht definiert die Rechtslehre der Metaphysik der Sitten, noch heute höchst brauchbar, als »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür«, vgl. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. Hamburg 4 1966. 43.
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Das Eigene und das Fremde
Schranke aller staatlichen und mitmenschlichen Gewalteinwirkung darstellt. Kants Vernunft und Geschichte überzeugend vermittelnde Reformphilosophie bemüht sich um die überstaatliche Realisierung dieser Verhältnisse durch die Zusammenfassung der souveränen und völkerrechtlich gleichberechtigten Einzelstaaten, vorzugsweise rechtsstaatlicher Demokratien, in sogenannten Friedensbünden, zuletzt möglicherweise einem einzigen globalen (UNO). Daneben und unangesehen aller realen Progresse auf völkerrechtlichem Gebiet sorgt das – von Kant institutionell leider kaum ausgearbeitete – Weltbürgerrecht für grenzüberschreitende Mobilität der einzelnen, legitimiert weltweiten Handel, normiert ein weltweit verbindliches Asylrecht und formuliert einen letzthinnigen Menschenrechtsvorbehalt gegenüber jeder nationalen und internationalen Politik. 2
Kant-Interpretationen Nicht nur die fehlende Anerkennung und ärmliche Ausgestaltung des kantischen Hospitalitätsrechts unterlaufen die friedenspolitischen Ansprüche des kritizistischen Modells in Politik und Politischer Theorie. Hier verkennt man in der Regel einerseits den konfigurativen Bezug der drei Definitivartikel bzw. Politikfelder (mit der Implikation dreier verschiedener Rechtstypen!), 3 andererseits die Dies jedenfalls ist die Perspektive, die sich, systematisch vertieft und differenziert durch die Metaphysik der Sitten (1796/97), Kants Programmschrift Zum ewigen Frieden (1795) entnehmen lässt; vgl. die Zweitauflage derselben von 1796 in Immanuel Kant: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik. Hamburg 1973. 115–169. Ausgeführt und in die aktuelle Diskussion gestellt findet sich diese Interpretation in Hajo Schmidt: ›Zum ewigen Frieden‹ – Kants radikales Vermächtnis. In: Martina Haederich, Werner Ruf (Hg.): Globale Krisen und europäische Verantwortung – Visionen für das 21. Jahrhundert. Baden-Baden 1995/96. 30–52. 3 Reduziert man oft das kantische Friedensmodell auf den Frieden rechtsstaatlich verfasster Demokratien, so bleibt auch die gängige Anerkennung zweier Prinzipien bzw. »Definitivartikel« (»Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein«; »Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein«) unzureichend. Der dritte Definitivartikel: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein« (Immanuel Kant: Ewiger Friede. A. a. O. 126, 130, 135), liefert nicht nur die Grundlagen eines modernen Asylrechts wie des globalen Handelsaustausches, es formuliert auch einen grundsätzlichen und global geltenden Menschenrechtsvorbehalt gegenüber jedem Einzelstaat und völkerrechtlichen Subjekt. Darüber hinaus – und das öffnet das kantische Rechtsdenken weniger zwangsund sanktionsbewehrten Rechtsauffassungen anderer Kulturen – belegen die Ausfüh2
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Vielfalt und den Zusammenhang der institutionellen Grundlagen einer intrinsisch friedfertigen Demokratie: – den Bürger(innen)-Entscheid über Krieg und Frieden (im Dienst einer besitzbürgerlichen Psychologie bzw. als Ausfluss vernunftsphilosophischer Rehabilitation des Interesses), – eine menschenrechtlich fundierte Verfassung, – ein Embryonalkonzept ›defensiver Verteidigung‹ als Umsetzung des zeitgenössischen Milizgedankens, – eine informierte und prinzipiengeleitet diskutierende Öffentlichkeit sowie – den Staatsorganprimat des Parlaments (als Verkörperung der Volkssouveränität) gegenüber der Exekutive. 4
Kant- und Demokratie-Kritik In beiderlei Hinsicht bedarf es nicht erst der Psychoanalyse, um gravierende Vorbehalte und Einwendungen zu erheben. Friedenswissenschaftlich und -politisch am gewichtigsten erscheint mir immer noch Galtungs Aufweis der gewaltträchtigen Voraussetzungen und Folgen des Siegeszugs des liberal-demokratischen Staatsmodells inklusive des pazifistischen Selbst-Missverständnisses seiner politischen Eliten und Ideologien; Stichworte: Konfliktreduktionismus, Weltherrschaftsstreben und demokratischer Missionarismus! 5 Gut überprüfbar und zugleich hochbedeutsam kommt E.-O. rungen Kants zum dritten Definitivartikel (Immanuel Kant: Ewiger Frieden. A. a. O. 135–139) nachdrücklich, dass die strikte Gleichsetzung von Recht und Zwang(srecht) nur für das innerstaatliche, das Öffentliche, Privat- und Strafrecht gilt. Dass nicht erst das Weltbürger-, sondern auch das Völkerrecht den konstitutiven Bezug des Rechts auf seine Durchsetzungsfähigkeit aufgegeben (und dadurch nicht zuletzt Spielräume für Politik geschaffen) hat, hat bereits Gerhard Beestermöller (Die Völkerbundsidee. Leistungsfähigkeit und Grenzen der Kriegsächtung durch Staatensolidarität. Stuttgart/Berlin/Köln 1995. 43, 60 f., 62, 81) hervorgehoben. 4 Vgl. meine dies betreffenden Nachweise in Hajo Schmidt: ›Zum ewigen Frieden‹. A. a. O. 34 f. Die Aufzählung macht deutlich, wie sehr Kants Vertrauen in die intrinsische Friedfertigkeit rechtsstaatlicher Demokratien verkannt wird, führt man es allein auf die psychische Verfassung im Kriegsfall um Leib, Leben und Besitz fürchtender bürgerlicher Subjekte zurück! 5 Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen 1998. 97–114. Galtungs durchaus dem demokratischen Paradigma verpflichtete Analyse kommt deswegen zu friedenspolitisch so bedenkenswerten Feststellungen, weil er den gängigen Fokus wechselt und nach den Gründen und Bedingungen
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Czempiels Nachweis anhand der US-Politik (seit Johnson und Reagan) daher, wie leicht sich der Zusammenhang von Besitzstandswahrung und Friedensneigung manipulieren, also entkoppeln (und zugleich eine friedlich gesonnene öffentliche Meinung exekutivisch produzierten außenpolitischen ›Zwängen‹ unterwerfen) lässt. 6 Czempiels Kritik ließe sich zwanglos einbauen in eine grundsätzlichere, marxistische Kritik, die orthodoxerweise weder im Interessenkalkül der Bürgerschaft mehr als einen Oberflächeneffekt der Kapitalbewegung sehen, noch das kantische Abhängigkeitsverhältnis der Ökonomie von der Politik 7 anders als ideologiekritisch interpretieren kann. Wenngleich das liberale wie das marxistische Gesellschafts- und Politikmodell in der deutschsprachigen Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte zumal bedenkenswerten systemtheoretischen Anwürfen – Luhmannscher wie Habermasscher Provenienz – ausgesetzt waren, 8 möchte ich mit der Psychoanalyse und Batailles Spätwerk Denkansätze fruchtbar machen, deren Berücksichtigung Defizienzen und Blindstellen in allen genannten Strömungen, nicht zuletzt aber auch im kantischen Paradigma offen legen (und vor unbescheidenen Globalisierungs- und Universalisierungsaspirationen schützen) kann.
Das Eigene und das Fremde Ein unvergessenes Verdienst der kantischen Friedensschrift liegt darin, dass sie die Unverzichtbarkeit einer kritischen Öffentlichkeit für eine stabile Friedenskultur nachgewiesen, und diese Öffentlichkeit nicht der Friedfertigkeit, sondern der fortwährenden Belligerenz von Demokratien forscht. 6 Vgl. Ernst-Otto Czempiel: Kants Theorem oder: Warum sind die Demokratien (noch immer) nicht friedlich? In: Zeitschrift für internationale Beziehungen (3). 1996. 92 f. 7 Dass die tatsächlichen Verhältnisse sich dieser holzschnittartigen Diagnose verweigern, nur ›in letzter Instanz‹ zutreffen, verrät nicht nur Kants berühmtes Diktum vom »Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann«, sondern präziser noch dessen Begründung: »Weil nämlich unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln), die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich Staaten […] gedrungen, den edeln Frieden zu befördern« (Immanuel Kant: Ewiger Frieden. A. a. O. 148). 8 Deren gemeinsame Stoßrichtung liegt in der Depotenzierung und Relativierung der Beurteilungs- und Steuerungsfunktion (des Systemteils) der Politik für die Reproduktion des Gesamtsystems ›Gesellschaft‹ beschlossen.
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gleich doppelt bestimmt hat: formal zunächst als herrscherliche Konzession (im Ancien régime) bzw. als republikanisches Verfassungselement der offenen Auseinandersetzung über die Prinzipien der »Kriegsführung und Friedensstiftung«, 9 inhaltlich aber als »transzendentale Formeln des öffentlichen Rechts«. Deren negative lautet bekanntlich: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht«. Die bejahende Formel dagegen: »Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen) stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.« 10 Nun steht in Zeiten, wo es innergesellschaftlich wie zwischenstaatlich um den drohenden oder behaupteten clash of cultures geht, nicht allein zur Debatte, was gemeinsame oder allgemein anerkannte und nur in concreto umstrittene Maximen prinzipiell rechtlichen Handelns sein könnten. Fraglich erscheint es den Teilnehmern identitätspolitisch aufgeladener Debatten allzu oft, wer als Adressat vorgenannter transzendentaler Legitimationsformeln anzusehen oder auszuschließen sei! In inner- wie in zwischengesellschaftlich-interkulturellen Debatten stellt sich oft weniger die Frage, was wir an Eigenem dem/n Fremden zugänglich machen wollen, sondern ob diese daran interessiert und dazu fähig sind – und dies vice versa! Widerstreitet die interkulturelle Debatte über das Fremde und das Eigene zumindest nicht notwendigerweise der Vorstellung eines gemeinsamen (friedensstiftenden) praktischen Vernunftgebrauchs – wobei unter Vernunft das einheitsstiftende Organ der Feststellung des Differenten, wenn nicht Unverträglichen, und des Gemeinsamen zu verstehen wäre –, so referiert die Psychoanalyse offensichtlich auf die Unterwelt des bewusstseinsphilosophischen Paradigmas, wenn sie die Dialektik des Fremden und des Eigenen zunächst und zuvörderst anthropologisch, nämlich als innere Bewegung des Subjekts fasst. Im Eingangsvortrag einer Tagung der Düsseldorfer Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik über »das Eigene und das Fremde« 11 resümiert Wolfgang Tress jüngst Erkenntnisse Nietzsches Diesen vernunftgeforderten Streit regelt – Konzession an den von Revolution bedrohten Spätabsolutismus – Kants »Geheimer Artikel zum ewigen Frieden« (A. a. O. 149). 10 Immanuel Kant: Ewiger Frieden. A. a. O. 163, 169. 11 Dokumentiert in AGORÁ. Zeitschrift der Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik Düsseldorf. Jahrgang 10. Heft 15, Dezember 2003. 9
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Das Eigene und das Fremde
wie Freuds wie der aktuellen Neurowissenschaften, wenn er feststellt, »dass das Allermeiste, was uns umtreibt, was wir denken und planen, uns absolut unbekannt, also fremd ist«. Also: »Das Eigene ist wesentlich fremd.« 12 Wie aber mit dieser Einsicht, mit dieser auch im Alltag an unseren Träumen, Wünschen, Affekten oder Wirkungen auf andere ablesbaren Einsicht, umgehen? Nun, je unsicherer wir sind, je verunsicherter wir werden, desto bereitwilliger werden wir abdecken, zudecken, nach außen wenden: »Das Fremde, das wir uns selbst sind«, beschreibt Tress den Mechanismus der Projektion, »wird […] externalisiert auf all das und auf all jene, das und die sich dazu anbieten« 13 : Behinderte, Ausländer, Muslime. Sozial organisiert und politisch zentral gesteuert, offenbarte der Holocaust der europäischen Juden die unvorhersehbare Extremgewalt zeitgenössischer Identitäts- qua Projektionspolitik. Ökonomisch und machtpolitisch weitgehend dysfunktional, ging es den Nazis wesentlich darum, so Tress, »das eigene beschädigte Selbstgefühl und die daraus resultierende narzisstische Wut, die Entfesselung des Es, die mörderische Triebhaftigkeit zu kanalisieren und zu rechtfertigen durch die Vernichtung einer (sc. über Glauben, Ritus, Geschichte exklusivierten) Subgruppe des eigenen Volkes […]«. 14 Gegen diese Politik aber mit kantischen Denkmitteln zu votieren, hätte in meiner Sicht schon darum nicht verfangen, weil Nazis und andere Radikalantisemiten, die Juden als moralische Subjekte im Sinne der kantischen Rechtsethik, als Adressaten des kategorischen Imperativs, zu klassifizieren, sich gewiss geweigert hätten. Die soziokulturellen Bedingungen und Gründe zu ermitteln, unter denen es damals gelang, den Diskurs zwischen dem Eigenen und dem Fremden auf einen Diskurs zwischen Feinden umzupolen, macht weiterhin guten Sinn. Subjektiv liegt der Gewinn auf der Hand: »(Entlastet) der oder das Fremde […] mich unmittelbar von der Begegnung mit mir selbst«, dann verspricht die grundsätzliche Verwandlung des Fremden in das Feindliche, mich dauerhaft der Begegnung mit mir selbst, mit mir als Fremden zumal, zu entheben. Die Konfrontation des Eigenen mit dem Fremden, der Austausch des und der Fremden hat also nicht nur rechtliche, sondern vor allem kulturelle Dimensionen, die wir dem kantischen Modell imputieren 12 13 14
Wolfgang Tress: Vom Eigenem zum Fremden. In: AGORÁ. A. a. O. 5–8, hier 5. Wolfgang Tress: Vom Eigenem. A. a. O. 5 f. Wolfgang Tress: Vom Eigenem. A. a. O. 6.
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Hajo Schmidt
müssen: um der Vertiefung des inneren wie der Erweiterung des äußeren Friedens willen. Indem wir »das Fremde verstehen«, resümiert der Analytiker, »verstehen wir uns selbst und explizieren zugleich das Gemeinsame wie das Unterschiedliche im Verhältnis zwischen unserer eigenen und der fremden Kultur«. Auf diese Weise kann dann das Fremde, das wechselseitig Fremde, zum Medium werden einer »Erweiterung eines dann auch sittlich folgenreichen Gattungsbegriffs oder eines Begriffs von einer Werte- und Weltgesellschaft«. Fremdheit indiziert dann eine für soziale Großgruppen der Moderne unverzichtbare »Beziehungsstruktur, in der wir ohne persönliche Bindung und Bekanntschaft dennoch sittlich, reziprok und kooperativ miteinander umgehen können.« 15 Was mit Fremden geht, geht mit Feinden gerade nicht. Um es sofort auf die Akutform des Fundamentalisten/Terroristen zuzuspitzen: »Die Begegnung des Eigenen mit dem Fremden wird in fundamentalistischen Systemen bei Strafe des Lebens unterbunden.« 16 Das heißt nicht, dass der Feind mich nicht kenne. Zumindest partiell ist er so gut mit mir vertraut, dass er mich vernichten will – und dies gilt für mich vielleicht ja nicht minder. Also hat auch dieses Verhältnis seine Reziprozität, kann auch das Feindverhältnis referieren auf fundamentalistische oder gar terroristische Neigungen zwecks Selbstversicherung bei allen Beteiligten. Hier ist Aufklärung gefordert, Selbst-Aufklärung und -Kritik, soll es auch in multikulturellen Gesellschaften gelingen, einvernehmlich und einlässlich über Kants Maximen und unsere Bilder von »Kriegsführung und Friedensstiftung« zu handeln. Bemühen wir uns nur, so das politische Fazit von Tress, »die terroristischen Inseln des Fundamentalismus in uns selbst zu entdecken«, »als inneres Ausland der eigenen Person wieder zugänglich zu machen« und der dynamischen Begegnung mit Fremdem außerhalb von uns selbst auszusetzen, dann sollten wir auch fähig sein, den auflösungsresistenten Terroranteil unserer fundamentalistischen Feinde wirksam – militärisch, politisch, kulturell – zu überwinden. 17
15 16 17
Wolfgang Tress: Vom Eigenem. A. a. O. 7. Wolfgang Tress: Vom Eigenem. A. a. O. 9. Wolfgang Tress: Vom Eigenem. A. a. O. 8.
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Das Eigene und das Fremde
Gewaltwucherungen des Todestriebs Obgleich aus meiner Sicht jeder Feinderklärung eine gründliche Untersuchung der intimen Verbindungen zwischen dem substaatlichen Terrorismus islamistischer Gruppen und dem Staatsterrorismus christlicher Regime, zumal der USA, vorausgehen muss, liegt hier nicht das eigentliche Problem der vorgetragenen, im Übrigen weitgehend zustimmungsfähigen, Position. Metapsychologisch bzw. psychoanalysephilosophisch mag man sich fragen, ob das Fremde, das eigene Fremde zumal, hinlänglich erfasst, seine Widerständigkeit, sein Sich-Entziehen nicht unterschätzt bleibt. Dies zu bedenken, könnte uns ein weiterer Beitrag zur vorgenannten Tagung veranlassen, der wie die Tresssche Einlassung verhindern will, »dass äußere Gewalt dafür herhält, uns selbst von derselben verurteilten Gewalt in uns freizusprechen«. 18 Rudolf Heinz’ philosophisch versierte, im Hinblick auf die Freudsche Referenztheorie überzeugend abgesicherte Tieferlegung der Fremdheits- respektive Alteritätsproblematik dringt womöglich tiefer, als uns lieb sein kann. Jedenfalls wirft sie ein nüchternes Licht auf die subjektive Gewaltverfassung der Menschen, ohne für deren Umgang miteinander nennenswerte erotisch-gewaltmindernde Alternativen anbieten zu können. Konzentriert auf das Notwendigste, liest sich die Abbreviatur dieses Ansatzes wie folgt: Wäre das Eigene angemessen zu verstehen als das »in bewusster Regie« Gehaltene, so das Fremde als das Unbewusste, als das »Verdrängte«. Hier geht es um letzte, human bedeutsame Differenzen, die Geschlechter, die Generationen, die Dinge und den Tod betreffend. Verdrängt werden aber nicht diese Differenzen – von Ding und Körper, Mann und Frau, Eltern und Kind oder Tod und Leben –, sondern deren Einebnung, genauer: Abgedeckt und allfällig projiziert wird die unabweisliche Leidenschaft des Menschen, durch die Indifferenzierung der Differenzen dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und Gottähnlichkeit zu erlangen. Der dem gemeinen Ödipuskomplex philosophisch abzugewinnende Sinn als Versuch der nachwachsenden Generation, sich über die Bemächtigung ihrer Erzeuger zu erheben und unter Missachtung selbst der Lebens-/Todes-
18 Rudolf Heinz: Vom Eigenem und vom Fremden: Das Unbewusste, das Geschlecht, die Generation, der Tod. In: AGORÁ. A. a. O. 9–12, hier 9 (im Orig. gesperrt).
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grenze ihrer Existenzbedingungen Herr, causa sui, zu werden, lässt sich also hochrechnen auf die menschliche Existenz insgesamt. Wenn aber die Lebens-/Todesdifferenz die »Existenzdimension« sein sollte, »die alle weiteren Existenzdimensionen – die von Körper/ Ding, die generationssexuelle, die sexuelle – wesentlich enthält, wenn demnach der ›Todestrieb‹ als Letztfassung der Triebe gelten darf«, dann »möchte man meinen, dass alle Differenzbeseitigungen intim darauf abzwecken, den Tod zu töten, um damit die Gewalt des Todes gewalttätig anzumaßen im Sinne einer ›Uridentifikation mit dem Uraggressor‹ Tod«. 19 Wo aber, möchte man fragen, wo bleibt hier der Eros, wo kann er wirken? »Einzig innerhalb dieser tödlichen Leidenschaft der Indifferenz, dieses verheerenden Unsterblichkeits-, Absolutheitsbegehrens«, als »Kulturschaffung«, als gelebter »Respekt der sich in dieser seinsnotwendigen Begehrensdynamik ausfällenden Differenzen«. 20 Diese Auskunft erinnert nun gewiss kaum noch an den mythischen Kampf zwischen Eros und Thanatos beim späten Freud, vermag auch keinen »archimedische(n) Punkt« 21 zu benennen, von dem aus die intrapsychischen Machtverhältnisse grundsätzlich verschoben oder auch nur die projektiven Verschiebungen in Fremdenhass und kulturelle Abwertung hinein überwunden werden könnten. In der Tat erscheint in der Heinzschen Psychoanalyseversion »das Problem des (im Wortsinne) terrorisierenden Anderen […] unvermeidbar und, mehr noch, unlösbar. Man möge sich […] von den großen Verheißungen unseres Medienzeitalters nicht täuschen lassen, denn: je mehr vermeintlich befreiende Indifferenz, das Plattmachen aller Unterschiede, umso mehr Gewaltakkumulation […].« Gleichwohl zielt Heinz’ Aufklärungsinsistenz nicht auf Kapitulation, rechnet vielmehr mit einer der Aufklärung als Aufklärung eignenden Gewaltabsorption und -verwindung. »Versuchen Sie […] doch einmal«, so lautet die Empfehlung, »in jedem fremden Gesicht das Trauma einer Todesverkündigung zu sehen und in den mäandrischen Verschiebungen Ihres Inneren dahin zu gelangen, wo Ihre obligaten Nöte mit dem Hydrakopf des Anderen gierig des Außenabtritts projektionsgemäß harren. Und riskieren Sie es dann«, Rudolf Heinz: Vom Eigenem. A. a. O. 10 f. Rudolf Heinz: Vom Eigenem. A. a. O. 11. 21 Der Aufklärung in Politik oder Therapie zu überführen umstandslos gestattete (Rudolf Heinz: Vom Eigenem. A. a. O. 11). 19 20
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Das Eigene und das Fremde
anstatt die Gegenverfolgung aufzunehmen oder die Verfolgten zu verteidigen, »vielmehr in der Ansicht des Leids, des Leidens, des Schmerzes des Gesamtverhältnisses, […] bei den Opfern sowie bei den Tätern, zu weilen.« Das wäre, schließt der Autor so hoffnungsvoll wie wirklichkeitsbedacht, »kein vergeblicher Augenblick«. 22
Vom Krieg zum Frieden: das Glck der Verschwendung Blicken wir für einen Augenblick zurück. Offensichtlich rechnet eine analytische Anthropologie mit gewaltträchtigen Operationen, die im kantischen Register der Leistungen des menschlichen Gemüts noch nicht verzeichnet sind, und die doch jederzeit an den Grundlagen des friedensgeneigten Kommerzes kantischer Vernunftssubjekte zu rütteln vermögen. Das bleibt nicht ohne Hoffnung: Verhilft in Tress’ Sicht die Struktur reziproker Fremdheit immerhin zu vertiefter Selbsterkenntnis, zu einer Politik interkultureller Kooperation und zu zumindest rudimentärer Anerkennung des Anderen, so dürfte die Heinzsche Differenzanmahnung versus Feindmarkierung die gewaltträchtige Unbedürftigkeitspassion des endlichen (vorgeblichen Vernunfts-) Wesens Mensch kräftig hintertreiben. Das Bestehen auf der unhintergehbaren Gewaltverfassung der condition humaine verbindet diesen im besten Sinne aktuellen Freudianismus von Tress und (zumal) Heinz mit dem Denken Georges Batailles, dessen Sozialanthropologie und »Allgemeine Ökonomie« der Kritik am abgehobenen Rationalismus des kantischen Modells weitere philosophischkonstruktive Kontur verleihen. 23 Wie die Psychoanalyse gepackt von der »Antinomie von Gewalt und Bewusstsein«, 24 versucht Bataille gleichwohl, dem irreduziblen Gewalt-Wunsch der Menschen Sprache zu verleihen und im SelbstBewusstsein der Subjekte wie in deren sozialen Institutionen einen Rudolf Heinz: Vom Eigenem. A. a. O. 12. An einschlägigen (mittlerweile ausnahmslos in guten Übersetzungen vorliegenden) Schriften Batailles wären hier zu nennen Der verfemte Teil. In: Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie. Hg. von Gerd Bergfleth. München 2 1985. 33–234; Die Erotik. München 1994; Die Souveränität. In: Elisabeth Lenk (Hg.) Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität. Nachwort von Rita Bischof. München 1978. 45–86. Einschlägig auch die nachgelassene Theorie der Religion. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Gerd Bergfleth. München 1997. 24 Georges Bataille: Erotik. A. a. O. 190. 22 23
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humanen, nicht destruktiven Ausdruck finden zu lassen. In der dialektischen Figur von »Verbot und Überschreitung« bedenkt Batailles Erotikphilosophie die kosmologische Sonderstellung eines aus Vernunft und Leidenschaft handelnden Wesens und bindet die Gewaltsamkeit der Geschichte zurück an die innere Zerrissenheit des Menschen. »Die menschliche Welt ist letztlich nur eine Zwitterform aus Überschreitung und Verbot, so dass das Wort menschlich zu jeder Zeit ein System widersprüchlicher Bewegungen bezeichnet.« 25 Wie jedes System hat auch dieses System menschlicher Vergesellschaftung seine Ordnung. Grundlage seiner Erhaltung und Entwicklung bilden fundamentale Ver- und Gebote – das Tötungsverbot oder Heiratsregeln etwa –, deren »ursprüngliche Einheit« sich begreifen lässt als kategorische Absage an allfällige, die menschliche Normalwelt erschütternde, Gewalttätigkeit. Gleichwohl kann und will der Mensch dieser ihm eigenen Gewaltsamkeit nie gänzlich entsagen: Bewahrung der Diskontinuität der Dinge und Menschen und Teilhabe an der Kontinuität und Leidenschaft des Seins sind zwei offensichtlich widerstreitende, aber gleichursprüngliche Wünsche der Menschheit. »Es gibt kein Verbot«, weiß Bataille,26 »das nicht überschritten werden kann« – so dass sich ohne Paradoxie feststellen lässt: »Die organisierte Überschreitung bildet mit dem Verbot ein Ganzes, und dieses Ganze bestimmt das soziale Leben.« 27 Subjektiv zugerechnet, offenbart sich uns als Überschreitung, »transgression«, die Haltung, die Bataille die souveräne nennt und die sich in Handlungen ausdrückt, die ohne Rücksicht auf nützliche und von der Vernunft gebilligte Resultate erfolgen und die dem Glück verpflichtet sind, das allein Konsumtion und zwecklose Verausgabung gewährt. Anders als die durch ihre überwertigen Dingund Herrschaftsbezüge veräußerlichte, ja verseuchte Souveränität der Vergangenheit dementieren zeitangemessene Formen der Souveränität die Verdinglichung des Menschen in der Alltagswelt, reklamieren eine letzte Unabhängigkeit des Menschen, inszenieren sich exemplarisch als erotische Verschwendung. »Das erotische Verhalten steht zum normalen in demselben Gegensatz wie die Verausgabung zum Erwerb. Wenn wir uns vernünftig aufführen, versuchen wir Güter aller Art zu erwerben […]. Aber 25 26 27
Georges Bataille: Souveränität. A. a. O. 54. Georges Bataille: Erotik. A. a. O. 63. Georges Bataille: Erotik. A. a. O. 65.
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im Moment des sexuellen Fiebers verhalten wir uns auf entgegengesetzte Weise: wir verausgaben unsere Kräfte, ohne Maß zu halten […]. Das wirkliche Glück empfinden wir nur, wenn wir uns umsonst verausgaben, so als ob sich in uns eine Wunde öffnete […]. Wir wollen uns so weit wie möglich von jener Welt entfernt wissen, in der Vermehrung von Ressourcen die Regel ist.« 28 Nun gilt letzteres, um sogleich zum Kern der Batailleschen Ökonomiekritik zu kommen, für die herrschende kapitalistische Produktionsweise sowohl wie für die seiner Zeit noch relevanten sozialistischen Versuche nachholender Akkumulation. In beiden Ökonomietypen finden die Dialektik von Verbot und Überschreitung wie das subjektive Souveränitätsbegehren keinen wesentlichen, sondern lediglich einen unfreiwilligen (Aufstände, Revolution), verzerrten (Kriege, Genozide) oder individuellen Ausdruck. Indem Batailles naturphilosophisch-energietheoretisch begründete Allgemeine Ökonomie im Umgang der Menschen und Gesellschaften mit den von ihnen erwirtschafteten Überschüssen den Schlüssel zum tieferen Verständnis der Geschichte entdeckt, erarbeitet er Thesen und Erkenntnisse, die m. E. 29 zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes wie der jetzigen Globalisierung Beachtung verlangen: • dass die Energieüberschüsse einer Gesellschaft weder unbegrenzt zur Steigerung der Produktivkräfte genutzt noch ungestraft in die militärische Produktion geleitet werden können, dass gesellschaftlicher Reichtum mithin einer der Aufmerksamkeit dringend bedürftige Explosivkraft darstellt; • dass ein rein am Wachstumszweck ausgerichtetes – und auch die Ausdehnung der gesellschaftlichen Konsumtion letztlich zu Wachstumszwecken betreibendes – Wirtschaften einer Gesellschaft auf Dauer weder Stabilität noch Sinn verleihen kann; • dass nur die Besinnung auf den freien Verzehr der Güter und Überschüsse, die Rehabilitation also des »verfemten Teils«, der Überfülle der Natur und der überschießenden Kraft des Lebens Rechnung trägt, und • dass allein diese Rehabilitation von Reichtum und Verschwendung der Kriegsstruktur der Produktion in Ost und West und, schlimmer noch, Nord und Süd Paroli bieten kann. Georges Bataille: Erotik. A. a. O. 166 f. Vgl. meine dies betreffenden Analysen und Bewertungen in Hajo Schmidt: Sozialphilosophie des Krieges. Staats- und subjektstheoretische Untersuchungen zu Henri Lefebvre und Georges Bataille. Essen 1990. 40–159. 28 29
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Hajo Schmidt
Ich formuliere als Fazit: Batailles die Opfer und Leidenschaften stark machender Durchgang durch die Epochen der Geschichte (die sich verzehrende Gesellschaft; die militärische und die religiöse Gesellschaft; die Industriegesellschaft) endet mit einer faszinierenden, an das bewusste Handeln der Menschen und Völker gebundenen Zukunftsperspektive. Als deren Pole lassen sich das friedliche Nebeneinander nicht-antagonistisch verfasster Gesellschaften sowie die Möglichkeit souveränen Existierens ihrer Mitglieder ausmachen. In beiderlei Hinsicht formuliert Bataille m. E. eine höchst aktuelle Kritik an der beunruhigenden Kriegsneigung liberaler, auch kantisch verfasster Gegenwartsgesellschaften, insofern diese ihrer Reproduktion kein anderes Ziel als ein konkurrenzinduziertes Wachstum setzen und die Freiheit ihrer Gesellschaftsglieder – Kants »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür« 30 – als »possessiven Individualismus« der Welt aufnötigen. 31 Batailles Allgemeine Ökonomie und Souveränitätslehre situieren uns auf Augenhöhe mit Kant und dessen Friedensmodell, das sich eine doppelte, Anthropologie und Geschichtsauffassung betreffende, Herausforderung gefallen lassen muss. Prinzipiell gilt das natürlich auch für Freud und dessen Nachfolger, deren Aufklärungsbemühungen um das Eigene im Fremden, um den Zusammenhang von Produktivität und Destruktivität im menschlichen Handeln das Feld der Kultur(geschichte) nicht weniger als Alltag und Klinik betreffen. Ob Kants Paradigma am Ende dabei überlebt, ist vielleicht weniger wichtig, als dass eine Reihe ihm inhärierender gewaltträchtiger Unterstellungen und Zielsetzungen in einer friedenspolitisch relevanten Weise neu bedacht werden können.
Vgl. oben Anm. 1. Vgl. die in dieser Hinsicht weiterhin bedenkenswerte Studie Crawford B. MacPhersons: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke. Frankfurt a. M. 1973.
30 31
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»Freiheit« denken in Zeiten des Friedens Christina Schües
Vorbemerkungen »Freiheit« wurde besonders im Zeitalter der Aufklärung 1 proklamiert und auch heute wird sie als Ziel von politischen und militärischen Strategien genannt. »Krieg im Namen der Freiheit« so titelte der Stern am 20. 3. 2003; »Angriff im Namen der Freiheit« so begründet George W. Bush sein Spiel mit dem Feuer. In seiner Inaugurationsrede 2004 hat er immerhin 30 Mal, wie fleißige Journalisten nachrechneten, von freedom und liberty gesprochen, ohne allerdings zu sagen, was er damit meint. Und Condoleezza Rice hat 2005 auf ihrer Europatour eine klare Unterscheidung getroffen zwischen denen, die auf der Seite der Freiheit geboren sind, und denen, die unglücklicherweise auf der ›falschen Seite‹ leben. Beide übersetzen in offiziellen Reden Freiheit mit Demokratie. Aber wer Krieg für Freiheit führt, nennt es »Operation Freiheit« und meint Befreiung oder »freien Zugang«, wie bereits Noam Chomsky 2 im Zusammenhang der amerikanischen Südamerika-Politik (Nicaragua) formulierte. Ein Entwurf der Freiheit, besonders dessen wesentliche Momente und Erfahrungen, wurde selbst im Rahmen der liberalen Demokratietheorie kaum entfaltet: Sogar John Rawls, einer der HauptverFreiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurden in der Ideengeschichte erst spät (besonders von dem Hauptredner des cercle social Claude Fauchet, auch vom Cordeliers-Club) proklamiert; gleichermaßen gefordert wurden häufig auch propriété, liberté, sûreté. Das Ziel der Französischen Revolution war fraternité, egalité und liberté; das Ergebnis allerdings bestand aus einer neuen Aristokratie von Technokraten, es gab keine Brüderlichkeit, keine Gleichheit, vielleicht ein bisschen Freiheit für einige auserwählte, dann entbrannten die napoleonischen Kriege, anschließend die antinapoleonischen Befreiungskriege. Und nach dem Krieg gibt es immer Verlierer und Gewinner, die ihrerseits ihre jeweiligen Rollen weiter ausführen. In Deutschland wurden Reformen favorisiert: Bildung und Erziehung, Freiheit und Vernunft wurden in ihren unterschiedlichen Varianten propagiert. 2 Noam Chomsky: Turning the Tide. U.S. Intervention in Central America and the Struggle for Peace. Boston/Mass. 1995. 1
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Christina Sches
treter der politischen Theorie und Propagandist von Freiheit, stellt die öffentliche Autonomie lediglich in Begriffen von passiven und aktiven Stimmrechten, repräsentativen Körperschaften oder demokratischen Entscheidungsträgern dar. 3 Folgende erste These nehme ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen: Eine Logik der praktischen Welt steht nicht von vornherein fest. 4 Sie entwickelt sich im Denken und Handeln sowie in Erfahrungen und Tätigkeiten, die in der Welt ausgeübt werden und die die Welt verändern. Das jeweilige Verständnis von Freiheit, das sich im Handeln zeigt, geht einher mit einer Logik des Friedens oder einer Logik des Krieges. In meinem Beitrag möchte ich einige Bemerkungen zu einer sogenannten Kriegslogik machen, dann Konzepte der Freiheit und des Freiseins erörtern und schließlich den Gedanken einer Logik des Friedens ansprechen, der mit der Erfahrung eines Freiseins korrespondieren könnte. Die Beschreibungen der Kriegslogik bzw. Friedenslogik enthalten idealtypische Konstruktionen. Faktisch gibt es in vielen Gesellschaften beide Logiken, die parallel oder im Konflikt miteinander operieren. Sicherlich bewegen sie sich in einigen Aspekten auch aufeinander zu und befinden sich jeweils auf einer Schwelle zueinander.
1. »Freiheit« denken im Rahmen einer Logik des Krieges Die Grundrechte, wie die Meinungs-, Rede-, Versammlungsfreiheit 5 sind die Eckpunkte einer jeden Demokratie und einer freiheitlichen Ordnung. Die Ordnung der Freiheit verkehrt sich allerdings in ein John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975. Vgl. Bernhard Waldenfels: Der Logos der praktischen Welt. In: Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden. Frankfurt a. M. 1990. 83–102. 5 Dem Staat latent misstrauisch gesinnt, hat John Stuart Mill (Über Freiheit. Übers. A. v. Borries. Frankfurt a. M. 1987) nicht nur wie seine Vorkämpfer für eine politische Freiheit eines vor-demokratischen Staates gerungen, sondern für die gesellschaftliche Freiheit jedes Individuums. Somit war er einer der ersten, der Freiheit (wie freie Meinungsäußerung, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit) innerhalb eines demokratischen Staates forderte und gleichzeitig die Probleme einer demokratischen Mehrheitsherrschaft thematisierte. 3 4
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»Freiheit« denken in Zeiten des Friedens
Kontrollsystem, wenn unter der Maßgabe der Sicherheit die menschlichen Beziehungen und das plurale Handeln unter Verdacht geraten, möglicherweise Unordnung zu generieren. Die Einschränkung von Freiheit folgt einer Angst vor Unsicherheit und Kontrollverlust, die dazugehörige Politik ist eine des Misstrauens. Eine Politik des Misstrauens verfolgt Strategien, die auf Sicherheit und Kontrolle abzielen, was letztlich einer Entpolitisierung gleichkommt, da der freie Umgang der Menschen miteinander eingeschränkt wird, andere als bedrohlich erlebt werden und vom mainstream abweichende Meinungen unerwünscht sind. Im Zentrum dieses Denkens und Handelns steht die Verteidigung der Sicherheit. Da der Andere, der Fremde, mein potentieller Feind ist, muss er unter Kontrolle gebracht werden. »Wir müssen die Freiheit einsperren«, fasste einmal der österreichische Komiker Helmut Qualtinger zusammen, denn zu viel von ihr stört das Sicherheitsgefühl und bringt die Demokratie in Gefahr. Kontrolle, verschärfte Kontrolle und besonders militärische Orientierung mit dem Ziel der Sicherheit machen es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, zu einer Gemeinschaft zu gelangen, denn die Kontrahenten bleiben misstrauisch und im Verhältnis der Konfrontation. Die Strategie der Kontrolle ist dissoziativ ausgerichtet und lässt die Menschen in der Situation einer anhaltenden Unsicherheit und Gefahr, sei es durch Rüstungskonkurrenz, Unterdrückung, einem Schüren von Angst oder Hass. In solch einem Szenario, das gegenwärtig zu viele Beispiele findet, bleiben Friedensbemühungen, die nicht militärischen Strategien unterliegen, oft sekundär. Man betrachte allein die Ausgaben für die militärische Sicherung im Unterschied zu denen für Bildung oder kulturelle Beziehungen. Das Ziel dieser auf einer Kriegslogik basierenden Strategie kann nur eine relative Sicherheit und eine Waffenruhe sein; 6 der Begriff des Friedens bleibt in dieser Perspektive undifferenziert. Eine dissoziativ angelegte Strategie einer Kriegslogik wird von bestimmten Dualitäten und deren eindeutigen Zuweisungen gestützt, wie gut/böse, eigen/fremd, Mann/Frau, Gewinner/Verlierer. 7 Krieg wird mit Aktivität, MännMary Wollstonecraft: Verteidigung der Menschenrechte (1790). Hermann Klenner. Engl./Deut. Übers. J. Schlösser (Hg.). Freiburg/Berlin 1996. 1. Kap. 49. »Ein stehendes Heer, zum Beispiel, ist unvereinbar mit Freiheit, weil Subordination und Strenge die eigentlichen Stützen militärischer Disziplin sind und Despotismus vonnöten ist, um den Unternehmungen, die ein einzelner leitet, Nachdruck zu verleihen.« 7 Ruth Seifert: »Um das Männlich-Kriegerische zu produzieren wird das ›Weiblich6
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Christina Sches
lichkeit und Leben gleichgesetzt, Frieden mit Passivität, Weiblichkeit und Feigheit. 8 Die auf einer Kriegslogik basierende Strategie sucht nach einem staatlichen Frieden, in dem Freiheit im Sinne von Souveränität verstanden wird. Souveränität bedeutet, die den modernen Staaten eigentümliche, nicht abgeleitete, allumfassende, nach innen und außen unbeschränkte Hoheitsgewalt und die Unabhängigkeit von anderen Staaten. Diese Definition, die letztlich die Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten beinhaltet, ist seit einigen Jahrzehnten in Konflikt mit dem Anspruch der Universalität der Menschenrechte und vor allem mit den Globalisierungsbestrebungen der Neoliberalen, die den freien Zugang zu allen Märkten verlangen. 9 Souveränität bedeutet die Unabhängigkeit vom Anderen und die höchste herrschaftliche Gewalt eines Staates, die verteidigt werden muss. Sie braucht die Stabilität der nationalstaatlichen Identität, für die sie die Abgrenzung vom Anderen benötigt, und sie manifestiert sich u. a. durch die schnelle Entscheidungsfähigkeit zu militärischer Gewalt. Daran werden z. B. Staatsgäste erinnert, wenn sie mit militärischen Ehren empfangen werden und über den blutroten Teppich schreiten. Der gezogene Säbel oder das geschulterte Gewehr verFriedfertige‹ als notwendiges Korrelat benötigt.« Zitiert nach Tordis Batscheider: Die Funktionalität des Geschlechterdualismus für ein System organisierter Friedlosigkeit. In: Susanne Lang/Dagmar Richter (Hg.): Geschlechterverhältnisse – schlechte Verhältnisse. Verpaßte Chancen der Moderne? Marburg 1994. 92. Die Disziplinierung von Rekruten sieht die aktive Abgrenzung von der weiblichen Rolle vor. Gesellschaften, die am stärksten militarisiert sind, sollen eine besonders starre geschlechtsspezifische Rollenzuschreibung und Arbeitsverteilung haben. Vgl. Tordis Batscheider/Julia Thompson: Women and War. In: Women’s Studies International Forum. Vol. 14. No. 1/2. 63–75. Auch angemerkt in Brigitte Weisshaupt: Vom ewigen Krieg zum ewigen Frieden? In: Wiener Philosophinnen Club (Hg.): Krieg/War. Eine philosophische Auseinandersetzung aus feministischer Sicht. München 1997. 140. Das Maß der Unterdrückung von bestimmten Gruppen, seien es Frauen oder ethnische Gruppen, ist ein Gradmesser für die Friedlosigkeit eines Landes. 8 Vgl. Christina Schües/Nicole Schmidt: Verständnis von oder für Krieg? In: Wiener Philosophinnen Club (Hg.): Krieg/War. Eine philosophische Auseinandersetzung aus feministischer Sicht. München 1997. 175–184, hier 178 f. Frieden ist in der europäischen Dominanzkultur weiblich; für das disziplinierende Herrschaftssubjekt ist die Auseinandersetzung mit dem Frieden eine hierarchische Bedrohung und eine Hinterfragung der Männlichkeit; Forderungen nach Abrüstung entsprechen nicht einer gewissen Waffenfaszination und dem Glauben an Stärke und Überlegenheit durch Waffengewalt. 9 Völkerrecht steht bisweilen gegen die Menschenrechte. Aus dieser Opposition ergibt sich die häufig diskutierte Frage, wann die Einmischung in die Angelegenheit anderer Völker erlaubt sein solle.
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»Freiheit« denken in Zeiten des Friedens
heißen Schutz für den Gast und sind zugleich eine Warnung an alle. 10 Diese Form der Souveränität ist in einer Kriegslogik, die notwendig Verlierer und Gewinner kennt, nur für die eine Seite das Ziel, für die Anderen heißt Freiheit mindestens auch die Gewährung des freien wirtschaftlichen Zugangs und die nur die Gewinnerseite begünstigende Zusage zu sogenannten bilateralen oder multilateralen Handelsabkommen. 11 In diesem Zusammenhang würde z. B. ein sogenannter militärischer Befreiungsschlag kaum zur Souveränität des ›befreiten‹ Landes führen. Die Bereitschaft zu erhöhter Kontrolle oder zu Gewalt, im Falle einer Bedrohung, zeugt von Symptomorientierung. Die schnelle Reaktion mit Gewalt fragt nicht nach (Konflikt-) Ursachen und sie ist oft »insensibel für die Frage, ob das von ihr motivierte Instrumentarium die Eskalationsträchtigkeit von Gewaltlagen nicht seinerseits verschärft, anstatt sie einzudämmen«. 12 Die Systemorientierung ist in einen alltäglichen, uns sehr bekannten Pragmatismus eingebettet, der nur Nothilfe kennt, dabei allerdings die Bedingungen der Not reproduziert und entsprechend nur die gegebenen und aktuell zur Verfügung stehenden Hilfsmittel berücksichtigt. Er ist ein etwas phantasieloser Aktionismus, der zur Rechtfertigung nur provokant auf die (scheinbar) ausweglose Wirklichkeit und die Alternativlosigkeit zur Gewalt weist. Somit lässt diese Form des Aktionismus die rhetorische Frage ›was denn unter den gegebenen Bedingungen anderes als Gewalt oder Krieg gegen Jugoslawien oder Irak möglich gewesen wäre?‹ ins Leere laufen. Die Herausforderung, die eigene Zuständigkeit für diese Frage anzunehmen, fällt nicht als anzunehmende Herausforderung auf. Der pragmatische Alltagsverstand konzentriert sich auf die ›hier und jetzt‹ immer notwendigen in dieser 10 Siehe Dietrich Stahlbaum: Individuelle Gewalt? kollektive Gewalt (5. 5. 2002). Webpublished: http://www.ruhr-line.de/mx-action/dietrich/Einleitung_und_Themen/Ge walt_-freiheit/gewalt_-freiheit.html#Individuelle%20Gewalt. 11 Siehe dazu die mittlerweile reichhaltige Literatur zur Globalisierung: Z. B. Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf: Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster 1996; Maria Mies/Claudia von Werlhof: Lizenz zum Plündern. Das Mulitilaterale Abkommen über Investitionen ›Mai‹. Globalisierung der Konzernherrschaft – und was wir dagegen tun können. Hamburg 1998. 12 Karlheinz Koppe: Der vergessene Frieden. Friedensvorstellungen von der Antike bis zur Gegenwart. Opladen 2001. 324. Koppe verweist in diesem Zusammenhang auf die Redewendung »Si vis pacem, para bellum«, die von Senghaas zu einem Buchtitel umformuliert wurde: Dieter Senghaas (Hg.): Si vis pacem, para pacem. Frankfurt a. M. 1995.
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Christina Sches
Sichtweise einzig möglich erscheinenden Aktivitäten. So als gelte es unter den gegebenen Bedingungen und der zu ihnen passenden ›Problembeschreibung‹ Handlungsfähigkeit zu beweisen. Die Handlungsfähigkeit muss stets in Abstraktion von der Vorgeschichte und den gesellschaftssystemischen Voraussetzungen und in ›Verantwortungsübernahme‹ ihrer selbst geschehen. Die Perspektive, die Handlungsbedingungen selbst zu verändern und dies als zentrales Ziel von Politik zu betrachten, erscheint im vorherrschenden Denken als unrealistisch. Somit kann eine zweite These formuliert werden: Der mit den geschilderten pragmatischen Strategien erzielte Friede ist ein negativer Friede, 13 da er in einer Kriegslogik bleibt und nicht über einen Begriff von ›Befreiung‹ hinausgeht.
2. Welche Konzeption von Freiheit entspricht eher einer Kriegslogik? Das Konzept Freiheit wurde erst spät ins Vokabular der politischen Philosophie aufgenommen. Besonders das 18. Jahrhundert kannte die negativen Freiheitsrechte, die den Bürger gegen den Staat und gegen den Missbrauch von Gewalt schützen sollten. Diese Freiheitsrechte wurden nicht nur als Abwehrrechte gegen staatliche Gewalt verstanden, sondern auch als bürgerliche Rechte, wie die sogenannten Teilnahmerechte, z. B. das Wahlrecht, aufgefasst. Mit den unterschiedlichen Staatskonzeptionen wurde vor allem das Freiheitsverständnis im Sinne der bereits erwähnten Souveränität diskutiert. Sowohl die individuelle als auch die staatliche Freiheit gehen häufig mit dem politischen Bestreben nach Sicherheit einher. Es ist ein Bestreben, das letztlich zwei nicht kompatible Rechtsysteme nebeneinander stellt: Nämlich die demokratische Rechtsordnung, die die Freiheit als höchstes Gut ansieht, und den Konstitutionalismus, der auf Grundlage eines Hobbes’schen Staatsverständnisses einen repressiven Rechtsbegriff zur Gewährung der (Friedens-)sicherheit Die Unterscheidung eines negativen und positiven Friedens wird von einigen Autoren mit dem Argument abgelehnt, dass die Aufrechterhaltung eines sogenannten negativen Friedens eine Ordnung voraussetze, die viele Anforderungen enthält, die eigentlich dem »positiven Frieden« zuzurechnen seien. Siehe dazu Koppe, der auch auf Ernst-Otto Czempiel verweist: Der vergessene Frieden. A. a. O. 296.
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»Freiheit« denken in Zeiten des Friedens
der Bürger vorsieht. Im Folgenden werde ich zuerst Freiheit als Willensfreiheit, dann Freiheit im Sinne der Souveränität und schließlich Freiheit im Zusammenhang mit Sicherheit diskutierten. Bereits im Mittelalter wurde die Willensfreiheit als zentraler Aspekt des menschlichen Umgangs mit sich selbst entdeckt. Aber reicht es aus, Freiheit schlicht im Sinne der Willensfreiheit, dem philosophischsten Begriff von Freiheit, aufzufassen? In den weitverzweigten Diskussionen um die Willensfreiheit geht es um die Frage, welche begrifflichen und faktischen Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine Entscheidung als frei anzusehen und von einer Person, wie Kant es tat, anzunehmen, sie sei fähig, »unabhängig von [den] Naturursachen […] etwas hervorzubringen […], mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen«. 14 Dementsprechend geht es im Zusammenhang der Willensfreiheit um die Klärung, ob diese angeführten Begebenheiten naturgesetzlich bestimmt seien oder ob tatsächlich davon ausgegangen werden könne, es gäbe prinzipiell freie Entscheidungen. Eine Klärung der unterschiedlichen Positionen, sei es die der Deterministen, Libertarier oder Kompatibilisten, 15 soll hier nicht versucht werden, denn die Willensfreiheit im politischen Zusammenhang oder in Zeiten des Krieges oder der Repressionen wird meist nur als eine innere Freiheit vorgestellt. Die innere Freiheit ist eine Bewegung des Rückzugs aus der Welt, eine Entsagung des Bezugs mit anderen Menschen und sie hat ihren Ort im Inneren des Menschen. Diese Form der Freiheit, deren Existenz nur durch die Immanenz des isolierten Selbst bescheinigt werden kann und als ein trotziges ›ich denke trotzdem‹ auftritt, kann nur im Sinne eines »Raisonierens« aufgrund eines Rückzugs aus der Welt und dem System politische Sprengkraft haben. Diese Sprengkraft kommt allerdings erst nachträglich zum Vorschein, wenn nämlich der Rückzug im gesellschaftlichen Zusammenhang plausibel gemacht werden kann. Es ist nicht verwunderlich, dass Machthaber von Staatsformen, 14 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe Bd. IV. Wilhelm Weischedel (Hg.). Frankfurt a. M. 3 1977. A534/B562. 15 Der harte Determinismus nimmt an, dass es keine Freiheit gibt und Ereignisse notwendig bestimmten Bedingungen folgen. Der weiche Determinismus nimmt an, dass es Freiheit gibt und dass der Determinismus trotzdem wahr ist, beide Annahmen also kompatibel sind. Der Libertarier ist ein Inkompatibilist, der die Meinung vertritt, dass es Freiheit gibt und dass daher der Determinismus falsch ist.
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die für die Bürger keine Freiheiten vorsehen, selbst das innere Raisonieren bzw. die innere Gedankenfreiheit fürchten, da durch die im Denken entstehende Distanzierung zwischen dem Ich bzw. dem Selbst und der Gesellschaft ein Keim der Freiheit schlummert, der als Potential einer autonomen Orientierung gärt. 16 Dieser Bereich der potentiellen (inneren) Freiheiten weckt viele Assoziationen, allerdings sollen jetzt nur die angesprochen werden, die die Verknüpfung von Freiheit und Frieden suchen. Nicht das Desiderat der letzten flüchtigen Gedanken soll gerettet werden, sondern eher das deutlich werden, was aufgrund von Frieden möglicherweise ungedacht bleibt, gerade weil es so selbstverständlich scheint. Wenn Freiheit in Zeiten des Friedens gedacht wird, dann werden leicht Freiheit und Frieden ohne Umstände in eins gesetzt, ohne allerdings zu verdeutlichen, was sie gemeinsam haben könnten. Selbst Kant, dem man gemeinhin die Selbstbestimmtheit des Menschen als Ziel seiner ethischen Konzeption unterstellt, bezweifelt allerdings – und ich würde ihm hier zustimmen –, ob die innere Gedankenfreiheit sich hält, wenn ihr die öffentliche Urteilsprüfung fehlt. Kant führt im Aufsatz »Was heißt sich im Denken orientieren?« aus, dass Gewalt, welche den Menschen die Freiheit, sich öffentlich mitzuteilen, entreißt, ihnen als Folge auch die Freiheit zu denken nimmt. Der Grund hierfür liegt in der fehlenden Möglichkeit, Urteile auf ihre Richtigkeit in einem Diskurs mit anderen zu überprüfen. Mindestens eine Voraussetzung muss als unausgewiesen, aber gewiss akzeptiert werden: Freiheit wird als maßgeblicher und erstrebenswerter politischer Wert begriffen. Freiheit gilt als Wert an sich, der allerdings im mitmenschlichen Zusammenhang hervorgebracht werden können muss. Die Gegenüberstellung von Freiheit versus Souveränität und Freiheit versus Sicherheit und ihr Umdenken soll die Erfahrung von Freiheit näher erläutern, um zu untersuchen, ob in diesen Konzeptionen friedenspolitische Aspekte aufzufinden sind. Ist Freiheit gleichbedeutend mit Souveränität oder Unabhängigkeit? Die Gleichsetzung von Freiheit und Souveränität, im Sinne von Freisein-von, liegt gleichsam auf der Linie der philosophischen TraImmanuel Kant: Sich im Denken orientieren. In: Immanuel Kant: Schriften zur Metaphysik und Logik 1. Werkausgabe Bd. V. Wilhelm Weischedel (Hg.). Frankfurt a. M. 3 1977. 267–283, hier 280. 16
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»Freiheit« denken in Zeiten des Friedens
dition, denn Freiheit wurde zumeist als Unabhängigkeit von Anderen oder von eigenen körperlichen Begierden erfahren. Nicht das MitAnderen-zusammen-Handeln, sondern gerade die Souveränität, die Unabhängigkeit von allen Anderen und gegebenenfalls das SichDurchsetzen gegen sie wurde zum Freiheitsideal erklärt. Hannah Arendt zeigt, dass die verderbliche, aber auch missverstandene Identifizierung von Freiheit und Souveränität entweder zur Leugnung von Freiheit führt, nämlich zur Einsicht, dass Menschen tatsächlich nie souverän sind, oder – und viel gefährlicher – zu der Leugnung der Tatsache, dass die Freiheit eines Menschen oder einer Gruppe immer auf Kosten der Anderen realisiert wurde. 17 Letztlich ist Freiheit nur erfahrbar im Zusammenhang der Nicht-Souveränität und damit in Bezug zu anderen Handelnden. Trennen müssen wir uns in diesem Kontext von dem Vorurteil (das zurückgeht u. a. auf die römische Stoa), dass Nicht-Souveränität das gleiche sei wie Abhängigkeit. Die Annahme, dass Freiheit nicht mit Souveränität gleichzusetzen sei, bedeutet, dass der Mensch im Singular nicht denkbar ist und dass die Menschen in einer Abhängigkeit, nämlich einer Bezogenheit, untereinander leben. Sowohl die Bezogenheit als auch die Pluralität der Menschen werden allein schon durch das Faktum der Geburt, wie noch erörtert werden wird, besiegelt. »Wie die Souveränität des einzelnen ist letztlich auch die Souveränität einer Gruppe oder eines politischen Körpers immer nur ein Schein: sie kann nur dadurch zustande kommen, daß eine Vielheit sich so verhält, als ob sie einer wäre und dazu ein einziger. Solch ein Verhalten ist allerdings möglich, wie wir aus vielen Phänomenen der Massengesellschaft nur zu gut wissen, aber es besagt auch, daß es gerade Freiheit in einer solchen überhaupt nicht gibt.« 18 Im Gegensatz dazu kann als Andeutung formuliert werden, dass ein Eintreten für Freiheit auf interstaatlicher Ebene bedeutet, dass eine Vielzahl von Nationen oder Gruppen für die Gewährung eines »inter homines esse«, eines starken zwischenstaatlichen und zwischenmenschlichen Beziehungsraumes, eintreten. Die Alternative hierzu wäre das For-
17 Vgl. Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München, Zürich 1984. 213. 18 Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. A. a. O. 214 f. Die Armee wäre ein gutes Beispiel für die Erfahrung der Einheit. Soldaten werden hergerichtet, als ob sie in der Einzahl wären.
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dern von Homogenität, von einer Gesellschaft im Singular. Die Folgen wären der Kollaps der Beziehungen, der Tod, die Friedhofsruhe. Liegt in der Sicherheit die Freiheit? Die Identifikation der Freiheit mit Sicherheit finden wir vor allem bei den Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts. Freiheit bedeutet Sicherheit, bzw. Sicherheit begründet Freiheit, befand selbst Montesquieu, 19 der doch von Politik eine sehr hohe Meinung hatte und sicherlich im Vergleich zu Hobbes und Spinoza in seiner Unterscheidung von philosophischer und politischer Freiheit diesen Begriff sehr differenziert betrachtete. Montesquieu knüpft sein Verständnis von politischer Freiheit an die »Trefflichkeit der Strafgesetze«, was bedeutet, dass die Nichtschuld dem Bürger Sicherheit gibt, denn andernfalls wäre die Freiheit nicht sicher. 20 Als Konsequenz der Verknüpfung von Freiheit und Gesetzmäßigkeit gilt, dass die Sicherheit auf Freiheit beruht, wobei die Freiheit besagt, dass »man zu tun vermag, was man wollen soll, und man nicht zu tun gezwungen wird, was man nicht wollen soll.« 21 Die politische Freiheit ist also begrifflich nur innerhalb einer rechtlichen Ordnung situiert, was für Montesquieu bedeutet, dass man das tun darf, was das Gesetz gestattet. Und der Staat sollte so aufgebaut werden, dass niemand etwas gegen das Gesetz tun muss bzw. etwas unterlassen muss, was das Gesetz gestattet. Gegenwärtig wird Freiheit eher als Bedrohung der Sicherheit verstanden, weil – mindestens im Zusammenhang einer repressiven Rechtsauffassung – die Freiheit auf Sicherheit beruht. Dieses Verständnis aber droht, eine demokratische Rechtsordnung zu untergraben, denn Maßnahmen, die die Sicherheit des Staates und seiner Bürger gewährleisten sollen, zielen eher darauf ab, die Freiheit einzuschränken. Folglich wird die Freiheit aus dem Politischen verdrängt, da sie lediglich das strategische Ziel von Politik bedeutet. Charles de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Kurt Weigand. Stuttgart 1994. Montesquieu, der versuchte, die staatlichen Prinzipien aus der Natur herzuleiten, unterscheidet eine äußere und eine innere Freiheit: Die äußere »politische Freiheit besteht in der Sicherheit oder der Überzeugung, man habe seine Sicherheit«, die innere »philosophische Freiheit besteht in der Bestätigung des eigenen Willens« oder, wie bereits seit Aristoteles angenommen wurde, zumindest in der Überzeugung, man betätige seinen eigenen Willen. Die Sicherheit bzw. die Freiheit bezieht der Bürger vor allem von der »Trefflichkeit der Strafgesetze« (A. a. O. 255). 20 Charles de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. A. a. O. 255. 21 Charles de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. A. a. O. 214. 19
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»Freiheit« denken in Zeiten des Friedens
Und wenn das Ziel von Politik Sicherheit ist, dann wird die Freiheit in einen apolitischen Bereich verdrängt, in dem sie beäugt von Sicherheitsinteressen im Wirtschaftsleben, in der akademischen oder künstlerischen Tätigkeit und der privaten Lebensgestaltung mehr oder weniger zugelassen wird. Sie wird mehr oder weniger zugelassen je nachdem, ob eine Regierung oder ein Staat meint, Sicherheit gewährleisten zu können. Der Staat wird im Rahmen dieses Verständnisses nicht die Freiheit schützen, sondern ›Politik‹ betreiben, um die Lebensinteressen der einzelnen und der Gesellschaft zu schützen. Doch der Schutz von Lebensinteressen hat mit Freiheit im eigentlichen Sinne nichts mehr zu tun, denn er folgt einer inhärenten Notwendigkeit, deren Grenze die Freiheit bedeutet. Freiheit wird zu einem Grenzphänomen, das eingesperrt gehört. Einer Politik, der es vorrangig um Sicherheit und die Lebensinteressen geht, kann aus ihrer Perspektive kein Grund entgegengesetzt werden, warum sie keine Kontrollmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen anordnen sollte. Selbst Maßnahmen einer Diktatur wären völlig legitim, wenn wir glauben würden, Politik ginge es vor allem um die Sicherheit. 22 Alle drei Konzeptionen dieser traditionellen Auffassungen von Freiheit, die sich in der Willensfreiheit, Unabhängigkeit oder Sicherheit weitgehend erschöpfen, missachten die Relevanz der zwischenmenschlichen Beziehungen, indem sie allein das Individuum und seine Freiheit im Blick haben. Wird Freiheit aber nicht innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen und in Abhängigkeit von anderen Menschen konstituiert, führt sie (notwenig) zu Misstrauen und Gewalt. Gewalt kann vielleicht ›Befreiung‹, aber keine Freiheit bringen. Folglich lautet die dritte These: Für die Sicherheit und den gesicherten Frieden ist nicht der Besitz von Territorien, Waffengewalt und militärischer Einsatzbereitschaft ausschlaggebend als vielmehr die Qualität der Beziehungen zu den Nachbarn im weitesten Sinne. Somit ist eine Neuformulierung von »Freiheit« notwendig.
22 Vgl. Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. A. a. O. 203 f. Vgl. auch den unter George W. Bush verabschiedeten »patriot act«, durch den die Überwachung der amerikanischen Bürger legitimiert wird.
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Christina Sches
3. Versuch einer Neuformulierung von ›Freiheit‹ Wenn es um Frieden geht, dann geht es letztlich um die Initiierung und Bewahrung der zwischenmenschlichen Bezogenheiten und Beziehungen. Die zwischenmenschliche Bezogenheit ist in der Generativität der Menschen ge- und begründet, also in der universalen und konkreten Tatsache, dass Menschen von jemandem (einer Frau) geboren werden, eine Herkunft haben und mit Menschen auf die Welt geboren werden und in dieser mitmenschlichen Welt leben. Wird Freiheit gedacht in Zeiten des Friedens, besteht nicht die Notwendigkeit des Rückzugs aus der Welt und der Unabhängigkeit von anderen Menschen, vielmehr kann der Sinn dieser Begriffe, also Freiheit und Frieden selbst, in der Welt zur Erscheinung gebracht und erfahren werden. Das heißt, in der Formulierung einer vierten These: Freiheit ist nur in Bezug auf andere Menschen zu denken, weil ich nur in Bezug auf andere Menschen frei sein und nur mit anderen Menschen in Frieden leben kann. Wenn es richtig ist, dass Freiheit zwischen den Menschen verortet ist und vergrößert werden kann, dann muss das Augenmerk auf die Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen gerichtet werden und dann muss zugestanden werden, dass Freiheit nicht ein Ziel jenseits von Politik sein kann, sondern in ihr selbst verankert ist. 23 Somit stehen die drei Komponenten Freiheit, Frieden und Politik in einem engen Verhältnis zueinander: Es ist die Aufgabe der Politik, 24 Bedingungen für die Freiheit bereit zu stellen: Das sind allgemeine verfassungsrechtliche Bedingungen, also ein verfassungsrechtlicher Rahmen, der die freiheitlichen Grundrechte beinhaltet sowie Rechtssicherheit in Bezug auf Werte wie Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit, Wahrung der Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Gemeint sind somit allgemeine Grundrechte wie die Freiheitsrechte gegen den Missbrauch der Gewalt seitens des Staates oder allgemeine Teilnahmerechte wie das Wahlrecht. Die Verfassung sollte auch eine
Eines der Hauptanliegen von Hannah Arendt (Über die Revolution. München/Zürich 1994) ist der Nachweis, dass Freiheit innerhalb des Politischen verortet sein muss. Siehe Albrecht Wellmer zur Problematik des Arendt’schen Politikbegriffs (Hannah Arendt über die Revolution. In: Hauke Brunkhorst/Wolfgang R. Köhler/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik. Frankfurt a. M. 1999. 125–156). 24 Arendt bezieht die Aufgaben der Politik nicht auf den rechtlichen Bereich. 23
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»Freiheit« denken in Zeiten des Friedens
distributive Gleichheit ökonomischer und sozialer Güter vorsehen, die als instrumenteller Wert immer wieder politisch zu versichernde Voraussetzungen gewährleisten. 25 Auch ist es eine Aufgabe der Politik, für humane und kulturelle Rahmenbedingungen einer mitmenschlichen Gesellschaft und mindestens, so wie es auch der Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorsieht, für die Bildung im Grundschul- und Elementarbereich zu sorgen. Darüber hinaus richtet sich der Sinn der Politik auf den Bereich des menschlichen Zusammenlebens und auf den Erhalt der Sorge für eine humane Welt. Deshalb sollen durch die Politik und im Politischen konkrete Bedingungen unterstützt werden, die das Zusammenleben zwischen den Menschen fördern und die es erlauben, zwischen ihnen Freiheit erscheinen zu lassen. In diesem Zusammenhang stehen nicht Freiheitsrechte oder -ordnungen im Mittelpunkt, sondern es geht um politische Erfahrungen des Freiseins. Freiheit hervorzubringen hat zum Ziel, dass sie – auch für Andere – erfahrbar ist. Der Vorgang des Hervorbringens und die Anerkennung dessen, was zur Erscheinung gebracht wurde, setzt die Welt, in der und für die etwas erscheint, und andere Menschen in ihren vielfältigen Beziehungen voraus. Wenn Freiheit das ist, was zur Erscheinung gebracht werden soll, also das, was ich erfahre, dann wird deutlich, dass sie nur in Beziehung mit Anderen erfahren werden kann. Die Erfahrung der Freiheit und die Erfahrung der Unfreiheit können nur in Bezug auf Andere gemacht werden. Freisein können Menschen nur in Beziehungen miteinander, also im Bereich des Handelns und der Kommunikation. Hier erfahren sie, dass die positive
25 Vgl. Herlinde Pauer-Studer: Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit. Frankfurt a. M. 2000. 125. Pauer-Studer sieht in der Annahme dieser Voraussetzung einen Unterschied zu den meisten zeitgenössischen Konzeptionen des politischen Liberalismus, bei denen die Gleichheit einen vorrangigen Wert besitzt. Auf der Grundlage von Arendts Überlegungen würde ich gegen die liberale Position von Pauer-Studer argumentieren, dass auch diese rechtliche Vorraussetzung selbst sich immer wieder neu bewähren und durchgesetzt werden muss. Arendts Partikularismus in Bezug auf die Menschenrechtsdebatte kann mit dem Hinweis kritisiert werden, dass eine Differenzierung im Begriff des Schutzes der Menschenrechte notwendig ist. Vgl. Albrecht Wellmer: Hannah Arendt über die Revolution. A. a. O. 138. Wichtig im Hinblick auf die Menschenrechte ist, dass gerade das Moment der Unbestimmtheit in der Idee der Menschenrechte, das auf die Notwendigkeit der Interpretation und der rechtlichen Konkretisierung verweist, dem Menschenrechtsdiskurs seine transzendierende und kreative politische Kraft verleiht.
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Freiheit mehr ist als die Abwesenheit von Zwang und Beschränkungen 26 und auch mehr ist als die Zuteilung von Freiheitsrechten. Wenn Freiheit in dieser Verhältniskonstellation – von Freiheit, Friede und Politik – thematisiert wird, dann reicht es folglich nicht aus, sie als Willkür, Handlungsfreiheit, als Freiheitsrecht oder Wahlfreiheit zu thematisieren. Es geht um eine politische Erfahrung, die nur bestehen kann, wenn jeder der Pole dieser dreiseitigen Verhältniskonstellation jeweils aufrechterhalten wird. Politik findet in einem Raum statt, der als »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« konstituiert wird und in dem es um »gemeinsame Angelegenheiten« geht. 27 Diese sind nicht, wie Arendt etwas snobistisch verkürzt, nur die Angelegenheiten, die den privaten (damit meint sie auch wirtschaftliche) oder sozialen Interessen entgegengesetzt sind. Es sind gerade m. E. auch diese, insbesondere rechtliche, wirtschaftliche, vielleicht sogar verwaltungstechnische und bildungsrelevante Themen, nämlich die, die unter einer politischen Fragestellung verhandelt werden (können). Eine politische Fragestellung sorgt sich um Fragen wie z. B. in welcher Welt wir leben und wie wir diese Welt gestalten wollen. Dem Verdacht, dass Arendts Politikbegriff derart unterbestimmt ist, dass er scheinbar beliebig einsetzbar ist, kann, wie Seyla Benhabib in ihrer Relektüre zeigt, mit dem Verweis auf Arendts Anleihen eines griechisch motivierten agonalen und heroischen Modells von Politik und auf ihren zweiten eher republikanisch unterlegten Diskurs einer demokratischen oder organisationsbildenden Politik begegnet werden. 28 Darüber hinaus muss auch gefragt werden, was die inhaltlich-thematische Bestimmung von Politik ist. Gerade in diesem Zusammenhang hat Arendt durch ihre scharfe Entgegensetzung von Privatem und Politischem den Anschein erweckt, dass alle wirtschaftlichen, verwaltungstechnischen, bildungsrelevanten und sozialen Themen in den privaten Bereich verschoben würden. Wenn man aber die Trennlinie nicht in dieser Art thematisch fasst, sondern viel konsequenter erklärt, dass jede Frage eine politische Frage wird, sobald sie den Raum der politischen Freiheit und der »gemeinsamen Angelegenheit« betrifft, dann wäre der Raum des Politischen einer, Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. A. a. O. 201. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich 5 1987. 173. 28 Siehe Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Hamburg 1998. 201. 26 27
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der prinzipiell alle angeht und in dem prinzipiell jede Angelegenheit zum Thema werden kann. 29 Damit diese Fragen nicht von bereits angenommenen Notwendigkeiten und Strategien besetzt bzw. vorentschieden werden, muss der politische Raum autonom sein und die Menschen müssen in ihm frei sein können; d. h. diesem Raum sind bestimmte Freiheitsrechte als Grundvoraussetzung inne, im Wesentlichen nämlich die verfassungsmäßige Garantie von Grund- und Bürgerrechten. Freiheit selbst wird erst in der vielfältigen Teilnahme an den Auseinandersetzungen zu den gemeinsamen Angelegenheiten gegründet und erfahrbar, sofern diese Angelegenheiten in einer Art und Weise verhandelt werden können, die gegenüber »Eingriffen von außen« ein ausreichendes Maß an Unabhängigkeit besitzen. 30 Folglich ist Freiheit kein Prädikat, sie ist keine Eigenschaft von einer Person oder einem Staat; sie herrscht nicht. Deshalb kann sie auch niemandem gebracht werden wie ein neues Paar Schuhe. Freisein bezeichnet eine politische Erfahrung, der eine philosophische Begründung zugrunde gelegt werden kann. Somit ist die fünfte These folgende: Freisein ist kein Seinszustand, sondern ein Weg, der sich zwischen den Menschen auftut; es ist ein Freiwerden, das im Handeln miteinander gegründet und erfahrbar ist. Ein Mensch, der sich nicht vor den Anderen fürchten und der den Anderen nicht beherrschen muss, ist frei, mit einem Anderen in Beziehung zu treten oder wenigstens seine prinzipielle Bezogenheit auf Andere in der Welt zu reflektieren.
4. Versuch einer Logik des Friedens Sechste These: Für die Gründung von Freiheit ist eine grundsätzliche Transformation der Logik des Krieges in eine Logik des Friedens wesentlich. Einer Friedenslogik ist ein positiver Frieden inne, der einem Begriff von positiver Freiheit entspricht. Einer Logik des Friedens geht es auch um die Gründung von Freiheit. 31 Diese Freiheit wird als Freisein erfahren und setzt einen 29 Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. München 1996. 89. 30 Vgl. Albrecht Wellmer: Hannah Arendt über die Revolution. A. a. O. 131. 31 Vgl. Hannah Arendt: Über die Revolution. A. a. O. 184. Besonders das Kapitel »Die Gründung: Constitutio Libertatis«.
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politischen Raum voraus. Krieg bedarf einer Rechtfertigung; Frieden bedarf keiner Rechtfertigung, er ist Selbstzweck. Die Gründung der Freiheit bedeutet, einen Weg zu suchen, der in einem Raum angesiedelt ist, in dem eine Logik des Friedens die Politik bestimmt. Dieser Anspruch fordert dazu heraus, dass wir jenseits einer Herrschaftslogik denken, die bereits dem einen Pol einen positiven Wert und dem anderen einen negativen Wert verleiht. Die Herausforderung einer Logik des Differenzierens, eines nicht-wertenden Unterscheidens führt zur Anerkennung von Verschiedenheit und Vielheit, aber nicht zu einer alles zulassenden Gleich-Gültigkeit. Anders gesagt, Handeln und Denken im Rahmen einer Logik des Friedens können Menschen, die handlungsfähig und zur Kommunikation bereit sind, ohne die Notwendigkeit zu verspüren, sich zu isolieren oder den Anderen zu kontrollieren. Die Handlungsfähigkeit kann eine Transformation initiieren, die eine emotionale und geistige Haltung der Menschen beeinflusst, die nicht zur Furcht vor Anderen verleitet, sondern Offenheit und Bereitschaft ausdrückt, mit Anderen in Verbindung zu treten. Wenn wir in Termini der Bezogenheit (linking) denken und weniger in denen einer Rangordnung (ranking), können wir auf friedvollere Beziehungen innerhalb der menschlichen Gesellschaften besonders auch im trans-kulturellen Kontext hoffen. 32 Beziehungen werden im Handeln und Miteinandersprechen aufgenommen und gepflegt. Die Handlungs- und Mitsprachefähigkeiten bedeuten auf der Grundlage einer Logik des Friedens, einen Unterschied machen zu können, etwas in der Welt zur Erscheinung zu bringen und darüber zu reflektieren. Der Vorgang des Handelns und Sprechens und die ihnen entsprechende Weltveränderung und -gründung setzen einerseits die Beziehungen und Bezogenheit der Menschen untereinander voraus und gründen als auch bestärken andererseits Beziehungen. Wenn im Handeln und Sprechen UnterDoch im gegenwärtigen kapitalistischen System, das das wirtschaftliche Kalkül zum Leitfaden erhoben hat, ist das Pflegen von Beziehungen bestenfalls zur unterrepräsentierten Fürsorgetätigkeit von Frauen degeneriert oder wird als strategisches Mittel zur Karriereförderung eingesetzt. Die Wichtigkeit mitmenschlicher Beziehungen hat jedoch bereits Aristoteles im Zusammenhang unterschiedlicher Konzeptionen von Freundschaft hervorgehoben. Die Form der Beziehung im Zusammenhang der beruflichen Strategie charakterisierte er mit dem Begriff der Freundschaft im Sinne der Nützlichkeit (Nikomachische Ethik. Hg., übers., erläutert von Olof Gigon. Zürich, München 1967. 8. Buch).
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schiede gemacht werden, dann bedeutet dies Beginnen und Weiterführen, denen voluntaristische und performative Momente ebenso inne sind wie historische Kontingenzen oder materielle Bedingungen. Jemand fängt etwas an und Andere müssen es weiterführen, damit überhaupt ein Anfang oder eine Handlung sichtbar wird. 33 Deshalb bedeutet ein Handlungsanfang immer eine Beziehungsaufnahme und -pflege mit Anderen in möglichst ›freiheitlicher‹ Weise. Die im Handeln angenommene Beziehung mit den Anderen stützt sich einerseits auf die allgemeine grundsätzliche Bezogenheit der Menschen aufeinander und andererseits auf die Anerkennung der Pluralität der Menschen. Bevor ich auf die grundsätzliche Bezogenheit der Menschen eingehe, möchte ich den Aspekt der Pluralität im Hinblick auf ›Freiheit‹ thematisieren. Pluralität bedeutet, dass wir gleich sind, von daher, dass wir gebürtlich und sterblich sind, und dass wir jeweils verschieden sind von allen anderen Menschen, die je gelebt haben, leben oder leben werden. Die Unterschiede der Pluralität zeigen sich nur im jeweiligen Bezug der Menschen aufeinander. Sie würden sich zum Beispiel nicht in der Selbstlosigkeit des Für-einen-Anderen-Seins zeigen oder auch nicht in einem reinen Gegeneinander der Selbstsucht (was eher die Tendenz im liberalen und neoliberalen System ist). Pluralität wurde in der Geschichte der Philosophie, die vorgab, einen Begriff des Politischen bereits mit Platon entwickelt zu haben, eigentlich nie konsequent gedacht, da die Philosophie sich stets eher an dem Menschen im Singular orientierte. 34 Die Pluralität und die Beziehungen der Menschen miteinander sind die Grundlagen des politischen Handelns, das einen politischen 33 Hannah Arendt: Vita activa. A. a. O. 168. In diesem Zusammenhang ist Arendts besondere Begriffsfindung von »Macht« interessant. Macht hat eigentlich keine einzelne Person, sondern sie entsteht zwischen handelnden Menschen, die sich aufeinander beziehen. Geht eine politische Gemeinschaft zugrunde, kommt dies ihrem Machtverlust gleich. Ein isolierter Mensch hat nicht teil an der Macht, da er nicht Teil des menschlichen Zwischen ist (193–199). Die strukturelle Ähnlichkeit zum Freiheitsbegriff, der in diesem Beitrag entfaltet wird, ist offensichtlich. 34 Hannah Arendt schrieb in einem Brief an Karl Jaspers, dass die »abendländische Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte« (Lotte Köhler/Hans Saner (Hg.): Briefwechsel. 1926–1969. München 1993. 203). Auf Arendts oder auch Giorgio Agambens Diskussionen zu möglichen Verstrickungen, die die abendländische Geschichte in den Holocaust haben könnte, werde ich hier nicht eingehen.
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Raum hervorbringen kann, in dem die Menschen frei sein können und aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit ein Beziehungsnetz aufrechterhalten. Dieser Raum, den Arendt auch als »Insel der Freiheit« bezeichnet und gegen das »Meer der Notwendigkeit« 35 abgrenzt, ist in Gefahr, wenn Pluralität einem Willen, sei es einer Person, einer Gruppe oder einer Denkweise, unterstellt werden soll. In dem Arendt’schen Szenario der politischen Räume wird die Freiheit nicht eingesperrt, denn die Bewegung ist eine andere: Sie betont nicht die Notwendigkeit der Sicherheitsvorkehrungen; die Freiheit selbst quillt den (scheinbaren) Notwendigkeiten entgegen, versucht das Meer der Notwendigkeit und der Kontrollstrategien einzudämmen. Eine handelnde Person bleibt immer in Verbindung mit Anderen, sie ist niemals souverän. 36 Wer handeln kann ist frei bzw. wer frei ist kann auch handeln. Im Handeln wird das Freisein erfahren. 37 Freisein ist nicht eine Bedingung für Unabhängigkeit, sondern für Handeln, Denken, Leben, Existieren. Somit wird ein Freiwerden oder Freisein nur in Verbindung mit Anderen erreicht, nämlich in einer Verbindung, in der die Menschen ihre sexuellen, ethnischen, kulturellen Unterschiede leben können, ohne dass sie oder irgendjemand von diesen Merkmalen schamvoll berührt sein müssten bzw. sie durch ein hierarchisierendes Denken aufgrund ihrer Verschiedenheit herabgewürdigt würden. Der Begriff des Handelns, so wie er von Arendt verstanden wird, ist deshalb wesentlich durch die Erfahrung des Freiseins bestimmt. Diese Erfahrung des Freiseins wird durch den voluntativen Aspekt des Neuanfangens bestimmt, der von Phantasie, Handlungsbereitschaft, Bildung und Urteilskraft der Individuen abhängt und durch performative Aspekte des wechselseitigen Versprechens und Vergebens, wechselseitiger Bestätigung der Urteilskraft, geteilter Erfahrungen des politischen Raums initiiert wird. Letztlich werden diese Aspekte auch durch historische Kontingenzen, materielle Rahmenbedingungen, kulturelle Traditionen und günstige Umstände befördert. Die politische Freiheit ist, wie bereits erwähnt wurde, wesentlich davon abhängig, ob es den Menschen gelingt, eine Angelegenheit zu Hannah Arendt: Über die Revolution. A. a. O. 354. Nicht betroffen von dieser Kritik ist m. E. die Beobachtung, dass jemand sehr souverän sein kann; in diesem Zusammenhang hat der Begriff ›souverän‹ eher die Bedeutung von ›Gelassenheit‹ im Umgangs mit Sachverhalten oder anderen Menschen. 37 Arendt bezeichnet Handeln und Freisein als Synonyme. Ich würde den politischen Bereich dem privaten nicht in dieser ihr eigenen Schärfe gegenüberstellen. 35 36
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einer »politischen Angelegenheit« zu machen. Der Weg zu dieser ›Gemeinsamkeit‹ ist aber nicht nur durch die genannten voluntativen und performativen Aspekte gekennzeichnet, sondern er gründet auch auf der Struktur der prinzipiellen Bezogenheit, d. h. einer generativen Ebene, die dem Beziehungsnetz, das den Raum der politischen Freiheit strukturiert, seine historische und temporale Dimensionalität verleiht. Wird eine ›Angelegenheit‹ auf ihre Vorgeschichte und ihre Gründe hin befragt oder wird sie im Rahmen von Überlegungen der zukünftigen Weltgestaltung diskutiert, werfen zwangsläufig die zeitlichen Perspektiven von Vergangenheit und Zukunft und die generative Ebene Fragen auf, wie z. B. ›woher und von wem kommen wir her?‹ und ›wohin wollen wir gehen?‹ oder ›wer möchte ich sein?‹ und ›mit wem möchte ich sein?‹. Der Begriff ›Bezogenheit‹ (linking) sollte nicht nur im Sinne der Beziehung (relation to) der direkten Kommunikation oder des Verständnisses aufgefasst werden. Eine ›Bezogenheit‹ ist jenseits des Verständnisses oder der Kontrolle der Einzelnen, des Gesprächs oder der Beziehung mit Anderen vorhanden. Eine Bezogenheit besteht auch zwischen Menschen, die sich nicht kennen, die sich vermutlich nie kennen lernen werden, die aber durch geographische, klimatische, ökonomische oder rechtliche Ordnungsgefüge miteinander in Verbindung stehen. Das Konzept der Bezogenheit setzt voraus, dass die Menschen nicht nur als Sterbliche, sondern auch als Geborene wahrgenommen werden. Würde der Mensch nur als sterblich betrachtet, so führte dieses Verständnis – wie die abendländische Philosophiegeschichte zeigt – dazu, ihn als isoliertes Subjekt zu betrachten, dessen Autonomie und Unabhängigkeit auch Kennzeichen seiner Individualität sind. Dieser Bestimmung des Menschen als Dasein zum Tode möchte ich das Verständnis der Menschen als Geborene gegenüberstellen. Der Blick auf die Geburt offenbart, dass niemand alleine auf die Welt kommt, dass jeder und jede von jemandem auf die Welt geboren wurde und dass somit die Beziehung der Anfang ist. 38 Aus dieser Perspektive ist sogar der Tod nicht einfach ein natürliches Merkmal der Menschen, sondern selbst in die Welt eingebettet. Der Anfang ist die Beziehung bedeutet die – vielleicht einzige – universale Tatsache, 38 Adriana Cavarero: Schauplätze der Einzigartigkeit. In: Silvia Stoller/Helmuth Vetter (Hg.): Phänomenologie und Geschlechterdifferenz. Wien 1997. 207–226, hier 212.
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dass alle Menschen geboren wurden und dass bereits vor der Geburt, nämlich in der Schwangerschaft, bereits eine Beziehung – egal, ob diese gut oder schlecht war – zu einer Frau bestand. Wäre ein Kind gleich nach der Geburt in die ›Unabhängigkeit‹ ausgesetzt, dann würde es schlicht nicht überleben. Diese prinzipielle Bezogenheit gehört zur conditio humana aller Menschen und erstreckt sich auf die erste Beziehung des Geborenseins bis hin zur Bezogenheit auf die Menschenwelt im allgemeinen Sinne. Wie allerdings diese Bezogenheit gelebt und gestaltet wird ist sehr unterschiedlich. Letztlich ist das In-Beziehung-Sein eine notwendige Bedingung des Lebens, des Wachsens (nicht nur des körperlichen, sondern auch des seelischen, geistigen, sozialen Wachsens) bis hin zum Altwerden. Das In-Beziehung-Sein gehört zur menschlichen Existenz, demnach ist die Frage der Freiheit, nicht schlicht entlang der Unterscheidung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, frei oder unfrei zu klären. Es geht vielmehr darum, unterschiedliche Grade, Weisen und Ursachen von Bezogenheit zu unterscheiden. 39 So müssen Abhängigkeiten, die aus der conditio humana oder aus dem Freisein entspringen, von denen unterschieden werden, die Menschen über andere Menschen verhängen und erzwingen. Zu untersuchen sind unterschiedliche Konstitutionsbedingungen und Verständnisse von Freiheit: Schlicht gesagt, das autonome Subjekt sieht eine Abhängigkeit als Bedrohung und sucht die Souveränität und die Kontrolle über eine Situation oder über einen Anderen, um seine Freiheit verwirklichen zu können. Es versucht niemals in die Lage der Abhängigkeit zu geraten, und wenn dies passiert, versucht es, sich zu befreien. Ein Mensch, der die Bezogenheit (an)erkennt, konstituiert seine Freiheit als Freisein in der Bezogenheit und zwar im Hinblick auf die Frage, was sinnvoll in ihr ist und inwiefern er/sie sich in ihr frei gestalten oder inwiefern er/sie miteinander handeln und Beziehungen aufnehmen kann. In Anerkennung einer grundsätzlichen Bezogenheit der Menschen ist das ›gelungene‹ menschliche Beziehungsgefüge selbst Ziel des Engagements für Freiheit. Werden Menschen als Geborene verstanden, kommt auch das generative Beziehungsgefüge in den Blick. Denn in diesem wird entsprechend eines anthropologischen strukturellen Universalismus deutlich, dass alle Menschen von jemandem geboren werden und Vgl. Andrea Günter: Weltliebe. Gebürtigkeit, Geschlechterdifferenz und Metaphysik. Königstein i. Ts. 2003. 255.
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mit jemandem auf die Welt kommen. Diese strukturelle Tatsache bildet die Grundlage der Pluralität und der Bezogenheit der Menschen aufeinander zu Ungunsten einer angenommenen Vereinzelung oder Isolierung des Menschen, Hierarchisierung oder Abwertung der Menschen voneinander bzw. einer Verschmelzung aller in den Singular ›Der Mensch‹. Das Augenmerk auf das generative Beziehungsgefüge zu richten, bedeutet auch die Öffnung der zeitlich-historischen Dimension. Denn »wer sich auf die Friedenslogik einläßt, [ist] aufgefordert, die aktuelle Gegenwart aus dem verdinglichten Gerüst von Hier und Jetzt zu lösen und als einen Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft aufzunehmen, wodurch sich die Wege der Lösung eines zur Zeit gewaltmäßig verknoteten Problems sofort vervielfältigen und sich alle Freund-Feind-Erklärungen, die unzweideutige moralische Positionen für eine der Kriegsparteien herausfordern, als menschenfeindliche Abstraktionen von in sich äußerst differenzierten Lebensverhältnissen darstellen.« 40 Hatte die Logik des Krieges von der Notwendigkeit der Gegenwart aus operiert, so wird mit der Perspektive der Generativität jeder Mensch, jede Gruppe oder Kultur in den jeweiligen historischen und zeitlichen Kontexten verortet. Folglich drängen sich Fragen nach der Ursache und den Bedingungen der Gegenwart sowie der Vergangenheit und Zukunft auf. Das Prinzip der Bezogenheit muss auf der Grundlage einer Logik gebildet werden, die somit nicht auf die Gegenwart fixiert bleibt und die nicht in asymmetrischen Gegensatzspannungen, die einseitig abwerten, arbeitet. Wenn es stimmt, dass weder das Eigene noch das Fremde, weder Männer noch Frauen, weder Menschen noch Geschichten bestimmt und formalisierbar sind, dann haben wir eine Denkweise zu respektieren, die das »Beispiel eines nicht-thetischen Bewußtseins [bietet], d. h. eines Bewußtseins, das nicht im Besitz der vollen Bestimmtheit seiner Gegenstände ist, einer lebendigen Logik, die von sich selbst keine Rechenschaft ablegt, einer immanenten Bedeutung, die nicht für sich klar ist und nur in der Erfahrung […] kenntlich ist. Dem objektiven Denken bleiben dergleichen Phänomene unfasslich […]«. 41 Ein Denken, das vom Prinzip der Bezogenheit 40 Oskar Negt: Das moralische Dilemma des Golf-Krieges. In: Frankfurter Rundschau vom 23. 2. 1991. 6. 41 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Hg., übers. R. Böhm. Berlin 1966. 73.
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mit anderen Menschen geleitet wird, muss seine Fassung, aber auch seine Gelassenheit, angesichts der Verschiedenheit der Anderen und Überschreitung durch die Anderen wahren. Die Privilegierung der Bezogenheit vor der Isolierung, des Wettstreitens oder der Hierarchisierung mit dem Ziel des Ausschlusses, begründet auch Möglichkeiten der trans-kulturellen Beziehungen und Kommunikationsformen. Die Struktur der Bezogenheit beruht auf einem anthropologischen Universalismus; sie wird aber jeweils partikular unterschiedlich ausgestaltet und gelebt. Vier Dimensionen, die kreuzartig zueinander stehen, bilden eine Struktur, in der alle Menschen leben. Aufgrund der Universalität dieser Struktur bieten sie eine prinzipielle Grundlage für ein Denken in Termini der Bezogenheit und für eine Anknüpfung an die Andersheit anderer Menschen, die strukturell ebenso in einem vierdimensionalen Kontext leben, aber ihn faktisch anders mit Bedeutung füllen. Folgende vier Dimensionen müssen beachtet werden, um zu einer Entfaltung der Struktur der Bezogenheit im Rahmen eines Logos des Friedens zu gelangen: 1. Die horizontale Dimension ist eine der Gegenwart, in der die erwähnten voluntativen und performativen Aspekte des Handelns und Sprechens der Menschen zur Geltung gebracht werden können. Indem Menschen ihre Fähigkeiten, anzufangen und Beziehungen zu knüpfen, erkennen und umsetzen, bringen sie ein Netz der Bezogenheit zur Erscheinung. Es ist ein Netz der Bezogenheit, das in vielerlei Hinsichten – kulturell, generativ, wirtschaftlich usw. – bereits besteht und geprägt ist. Diese horizontale Ebene unterstützt den Arendt’schen Aufruf zum direkten Handeln, das Kreativität und Einsatzbereitschaft der einzelnen Menschen voraussetzt. Es geht darum, über Grenzen, Leerstellen und Konflikte hinweg und aufgrund der Anerkennung der grundsätzlichen Bezogenheit der Menschen neue Beziehungen aufzunehmen. 2. Auch die vertikale Dimension ist eine der Gegenwart, denn in ihr geht es um die Fragen, wie die Struktur der Bezogenheit, wie die geknüpften Beziehungen tatsächlich hierarchisch aufgebaut sind. In diesem Zusammenhang sind Fragen nach den Motiven und der Weise, wie Beziehungen aufgenommen und gelebt werden, relevant: Wer wurde in einem Land als Gesprächspartner ausgewählt? Warum zählen bestimmte Beziehungen, z. B. wirtschaftliche, mehr als andere? Muss z. B. die UNO die Herrschaftsverhältnisse des jeweiligen Krisengebietes anerkennen? Wie werden Beziehungen gepflegt – auf der Basis von Drohungen oder Vertrauen, in Gleich314 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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heit oder Ungleichheit? Diese wenigen Beispielfragen machen deutlich, dass es hier um Fragen zu Herrschaftsverhältnissen und um die kritische Hinterfragung der Art und Weise geht, wie die politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Beziehungen zustande gekommen sind und gepflegt werden. 3. Eine Dimension der Tiefe umfasst die Vergangenheit, die erinnert und auf die Bezug genommen werden kann. Die Generativität, nämlich die Tatsache, dass alle Menschen von jemandem geboren sind und die Frage stellen können ›woher komme ich?‹ bzw. ›woher kommen wir?‹, bedeutet, dass ihnen bestimmte historische und biographische Zusammenhänge vorausgehen, die ihrerseits als Geschichten miteinander verknüpft sind. Entsprechend muss nach den Ursachen und der Geschichte bzw. den Geschichten eines Konflikts aber auch der friedlichen Beziehungen gefragt werden. Die Beachtung der zeitlichen Dimension befördert ein Verstehen einer ›gemeinsamen Angelegenheit‹ und verhindert, dass einem Konflikt mit schlichter Symptomorientierung begegnet wird. 4. Im Rahmen einer Zukunftsdimension werden Fragen nach einer zukünftigen Welt erörtert. Wohin möchten wir gehen? Wie möchte(n) wir/ich leben? In welcher Welt möchten wir leben? Wie können (erneut) Beziehungen geknüpft werden? Mit wem und mit welchen weiteren Personen sollte in einem Konfliktfall verhandelt werden? Die unterschiedlichen Fragen der vier Dimensionen berühren einander und müssen im Zusammenhang gestellt und erörtert werden. Der bereits in der sechsten These genannte Begriff der Transformation deutet an, dass sich dieser auf eine Änderung der Denkweisen richtet. Eine Änderung, die so radikal ist, dass sie den Logos der praktischen Welt – das politische, rechtliche, kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche System – umstrukturieren würde. 42 Transformation setzt die Anerkennung einer Distanz zwischen dem Selbst und der Gesellschaft voraus; auch wenn das Selbst stets mit der Gesellschaft verbunden ist, in sie hineingeboren wurde und in sie hineinwächst, so hat es dennoch die Fähigkeit, aus dem Unterschied zwischen Selbst und Gesellschaft, zwischen dem Selbst und anderen Selbst heraus zu handeln. Sobald der einzelne Mensch nicht mehr mit einer Gesellschaft, einer Kultur oder einem Land in eins gesetzt 42
Siehe Drucilla Cornell: Transformations. New York 1993.
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wird, ist er freigesetzt als Mensch und prinzipiell zum Handeln und Sprechen mit Anderen fähig. Wie Judith Butler formuliert: »What we might call ›agency‹ or ›freedom‹ or ›possibility‹, is produced by gaps opened by the regulatory norms in the process of their self-repetition.« 43 Es gilt also diese »gaps«, diese Lücken, zu nutzen, zu verschieben oder zu füllen. Systemänderungen gehen einher mit einer Transformation der Denkweisen selbst – nämlich hin zu einem Logos des Friedens, hin zu einem Denken, das ›linking‹ zu Ungunsten von ›ranking‹ privilegiert. Da eine Friedenslogik eine Form des Beziehungsdenkens ist, möchte ich ihre Grundprinzipien, wie eingangs bereits angedeutet, in einigen ›Vorbemerkungen‹ zusammenfassen.
Friedenslogik (Vorbemerkungen) 1. Eine Logik des Friedens bezieht notwendig mindestens mehr als einen Standpunkt ein. 44 Deshalb beherbergt sie eine Pluralität. Diese Vielstimmigkeit des Logos macht einigen Menschen Angst, weil er von einem Standort her nicht kontrollierbar ist. Pluralität, die Basis der Freiheit, entzieht sich der Kontrolle, deshalb hegen einige ein Misstrauen gegen sie und versuchen, ihr mit einer Politik des Misstrauens bzw. der Kontrolle zu begegnen. Dagegen geht eine Logik des Friedens eher mit einer Politik des Vertrauens einher. 2. Eine Logik des Friedens legt die para-pacem-Maxime zugrunde. Eine Friedenslogik reflektiert die gewaltträchtige Problemlage und die damit verbundene Kriegslogik, aus der heraus es immer wieder zu Erschütterungen des inneren und zwischenstaatlichen Friedens kommt: wie Machtbesessenheit und Expansionismus, politische Diskriminierung, Missachtung der Menschenrechte, ökoJudith Butler: The Burning of Gender (unveröffentlichtes Manuskript). Zitiert in Cornell: Transformations. A. a. O. 4. 44 Ähnlich formuliert Wimmer auch seine Minimalregel für die Praxis seines Konzeptes eines Polylogs, einer Gesprächsform, die besonders geeignet ist, im transkulturellen Bereich unterschiedlichen Positionen, Gehör zu verschaffen. Die (negative) Minimalregel ist folgendermaßen formuliert: »halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren« (Franz Martin Wimmer: Polylog der Traditionen im philosophischen Denken. In: Ram A. Mall/Notker Schneider (Hg.): Ethik und Politik aus interkultureller Sicht. Amsterdam u. a. 1996. 39–51, hier 50). 43
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nomische Disparitäten und Ausbeutungsmechanismen, Strategien der Manifestierung von Ungleichheit, autistische Orientierungen, Feindbildprojektionen. Eine Logik des Friedens initiiert die Aufnahme von Beziehungen, auch solchen, die möglicherweise ungewohnt sind oder die bestehenden Machtstrukturen durchkreuzen und verändern. 3. In Zeiten des Friedens sollte das Geländer des Denkens eine Friedenslogik sein, die sich auf bestimmte Parameter des Erhalts und der Kreativität richtet, die in einer Kriegslogik (notwendig?) vernachlässigt werden. 4. Frieden ist/wird, wenn die Gesellschaft von einer Logik des Friedens geleitet wird und Freiheit gegründet werden kann. Frieden muss gestiftet werden, und zwar nicht nur von der Politik, sondern auch von weiteren gesellschaftlichen und kulturellen Kräften der Gesellschaft selbst. 5. Es gibt keinen autochthonen Logos des Friedens. Er muss immer wieder neu ersonnen und gebildet werden. Frieden ist kein Zustand, er ist ein Weg, 45 der Grundprinzipien folgt, die er (der Frieden) selbst entwirft. Dieser Weg muss durch eine rechtliche Verfassung und wirtschaftliche Ordnung gestützt werden. Die verfassungspolitischen, institutionellen, materiellen und emotionalen Rahmenbedingungen, wie z. B. von Dieter Senghaas unermüdlich hervorgehoben wird, sind ohne Zweifel wichtig für einen Friedensprozess, 46 aber in diesem Prozess ist nicht zu vergessen, dass Frieden letztlich Freiheit ist und dass Freiheit eine Erfahrung bedeutet, die nur in Beziehungen und im Kontext mit anderen Menschen gemacht werden kann. Deshalb müssen immer wieder erneut die Voraussetzungen und Möglichkeiten geklärt werden, wie Beziehungen gestiftet und gepflegt werden können und wie der Struktur der Bezogenheit angemessene Bedeutung verliehen werden kann. Folglich behält eine Theorie des Friedens notwendig den Status einer Prolegomena, weil sie nicht von vornherein auf Regeln, Nor45 Den Prozesscharakter des Friedens hat schon Ernst-Otto Czempiel (Schwerpunkte und Ziele der Friedensforschung. Mainz, München 1972) hervorgehoben. Vgl. auch Karlheinz Koppe: Der vergessene Frieden. A. a. O. 327. 46 Dieter Senghaas: Frieden als Zivilisierungsprojekt. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem. Frankfurt a. M. 1995. 196–226, 198 ff. Obwohl Senghaas wiederholt auf den Prozesscharakter des Friedens aufmerksam macht, wirkt sein Entwurf eines zivilisatorischen Hexagons doch etwas starr.
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men und eine bestimmte Ordnung festgelegt ist bzw. werden kann. Das Denken und Handeln im Frieden erkennt an und bewirkt eine Verbundenheit (Bezogenheit und Beziehung) der Menschen untereinander, in der die Erfahrung von sich gründender Freiheit mit ihren voluntativen, performativen und kontingenten Momenten möglich ist. Ein Denken im Rahmen einer Kriegslogik gibt keine Hoffnung auf friedliche Beziehungen zwischen den Menschen; ein Denken im Rahmen eines Logos des Friedens, nämlich in Termini der Bezogenheit, lässt auf ›bessere‹ Beziehungen innerhalb der Gesellschaft und im transkulturellen Kontext (mindestens) hoffen.
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Sekton 5: Friedenskrfte
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Frieden und globale Verantwortung Alfred Hirsch
1. Revidierbare Gesetze und Rechte ohne Pflichten Es ist von besonderer Bedeutung für unser Verständnis des Friedens, diesen nicht nur in seiner inhaltlichen und begrifflichen Bestimmung freizulegen, sondern ihn gerade in der Art und Weise seines Thematisiertwerdens zu untersuchen. An welchen Textstellen und Denkorten und auf welche Weise ist vom Frieden in den großen politischen Theorien und Philosophien die Rede? Wie wird der Frieden in ihnen zur Darstellung gebracht? Welche Rolle spielt er innerhalb dieser Denkgebäude und wie verhält sich der Begriff des Friedens zu den wesentlichen Prämissen des jeweiligen theoretischen Ansatzes? Aussagekraft enthalten in diesem Fragezusammenhang keineswegs allein die Kontexte, in denen der Friedensbegriff eine deutliche Zentrierung und Gewichtung erfährt. Oft scheint eine eher marginalisierte Erwähnung und Einfügung des Wortes Frieden eine entschiedene Positionierung nach sich zu ziehen. So finden wir beim Theoretiker des kriegerischen Naturzustandes, Thomas Hobbes, eine selten reflektierte und differenziert erschlossene Wendung, die das Paradigma des Friedens zu einem Angelpunkt seiner politischen Philosophie macht. Hobbes nennt das erste ›Gesetz der Natur‹ : »Suche Frieden und halte ihn ein«. Und er ergänzt diesen Imperativ anhand der Erklärung, dass dies solange geschehen sollte, wie für den Frieden ›Hoffnung‹ besteht. Diesem ›ersten‹ Gesetz der Natur stellt Hobbes aber unmittelbar den ›obersten Grundsatz‹ des ›natürlichen Rechts‹ zur Seite, der lautet: »Wir sind befugt, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.« 1 Und in der Erläuterung zu diesem Recht heißt es: Kann er Thomas Hobbes: Leviathan – oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. und eingl. von Iring Fetscher. Dt. von Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1994. 100.
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den Frieden nicht herstellen, »so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des Krieges verschaffen und sie benützen«. Nicht nur die schnelle Einschränkung des ›ersten‹ Naturgesetzes, in der Hobbesschen Diktion, legt eine Überprüfung dessen nahe, was hier unter einem ›Naturgesetz‹ zu verstehen ist, sondern auch die analog zur Unterscheidung von Gesetz und Recht (law and right) anhebende Unterscheidung von Frieden und Krieg legt eine solche nahe. 2 Was also ist ein ›Naturgesetz‹ im Hobbesschen Sinne und wie ist der Frieden im Rahmen dieser Norm verfasst? Erweist sich das Hobbessche Denken gar als Friedensethik, die an der Schwelle zur Moderne stehend, stets unter den verkehrten Vorzeichen eines konstitutiven ›bellum omnium contra omnes‹ gelesen wurde? Was verbirgt sich hinter dem ›Law of nature‹ oder dem ›lex naturalis‹ des ›Leviathan‹ ? Hobbes selbst gibt eine präzise Antwort, wie ein solches zu verstehen sei: »Ein Gesetz der Natur, lex naturalis, ist eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann.« 3 Hobbes nennt hier ein ›Gesetz‹ eine »von der Vernunft ermittelte Vorschrift« oder eine »allgemeine Regel« und meint damit wohl etwas anderes als das, was wir mit dem Begriff des Gesetzes als einem absolut verbindlichen und auf generelle Befolgung Anspruch erhebenden Normsatz meinen. Ein ›Gesetz‹ im Hobbesschen Sinne ist eher eine Klugheitsregel, die die Vernunft dem selbsterhaltungswilligen Individuum diktiert. Das Naturgesetz zielt auf eine Verbesserung und Stärkung der Überlebenschance des Einzelnen und ist daher unmittelbar Ausfluss seiner egoistischen Position im Kampf ums Überleben. Hierzu scheint nun im ›ersten Naturgesetz‹ zunächst und durchaus vorrangig der ›Frieden‹ zu taugen: Frieden ist der von Klugheit und Vernunft gebotene Zustand zur Optimierung der Selbsterhaltung. Nur indirekt erschließt sich aus dieser Überlegung, dass Frieden eine Relation, ein Verhältnis ist, in der es um die Instabilität und Dynamik einer Beziehung zwischen Selbst und Anderem und Eigenem und Fremden geht. Dies legt auch der erste Satz des ›zweiten Naturgesetzes‹ Hobbes’ nahe: »Jedermann Vgl. Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004. 128 ff. 3 Thomas Hobbes: Leviathan. A. a. O. 99. 2
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soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde.« 4 Das ›Recht auf alles‹, von dem hier die Rede ist, ist nach Hobbes dem menschlichen Individuum von Natur aus gegeben und führt bei Vollzug zum Kriegszustand aller mit allen. Erst wenn dieses natürliche ›Recht auf alles‹, welches in nuce ein Recht auf Gewalt ist, an die souveräne und stärkste Macht des Leviathan abgegeben wird, kann es zu einem Friedenszustand kommen. 5 So wie zuvor das Verständnis des ›Gesetzes‹ von den bekannten Konventionen abweicht, hat auch hier das, was Hobbes Recht nennt, eine eigentümliche Verfasstheit. Denn es handelt sich nicht um eine Norm, die dem einzelnen durch eine dritte neutrale Instanz zugestanden und über deren Einhaltung und Wahrung durch diese gewacht würde. Auch entspricht diesem Recht keinerlei Pflicht. Dem ›Recht auf alles‹ korrespondiert keineswegs eine ›Pflicht gegen alles oder alle‹. Das hier gemeinte ›natürliche Recht‹ benennt auch nicht ein ›Naturrecht‹ oder ein ›moralisches Recht‹. Es ist die Zuweisung eines hypothetischen, vorinstitutionellen und normfreien Anspruches, der dem Individuum qua Selbsterhaltung von Natur aus zusteht. Gerade dieser Anspruch auf Gewalt qua ›Recht auf alles‹ – sogar auf den Anderen und seinen Körper – vollzieht sich als ›bellum omnium contra omnes‹. Ist in diesem Kontext das Paradigma ›Recht‹ (right) in die unmittelbare Nachbarschaft zum ›Krieg‹ gestellt, korrespondiert mit dem zuvor erwähnten Paradigma des ›Gesetzes‹ (law) der Zustand des Friedens. Aber erinnern wir uns daran, dass Hobbes vom ›Gesetz der Natur‹, sich um Frieden zu bemühen spricht. Dieses ›Gesetz‹ konstituiert sich in der Kraft und der Bewegung des stets virulenten Zieles des menschlichen Individuums zur Selbsterhaltung. 6 Dieses Ziel und Thomas Hobbes: Leviathan. A. a. O. 101. Vgl. Wolfgang Kersting, der den Staat des Leviathan als ›Friedensmaschine‹ bezeichnet: Wolfgang Kersting: Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg 2002. 156. 6 Vgl. hierzu Michael Henkel: Thomas Hobbes’ Ethik des Friedens. In: Jörg Calließ, Christoph Weller (Hg.): Friedenstheorien. Fragen – Ansätze – Möglichkeiten, Loccumer Protokolle 31/03. Loccum 2004. 394. Vgl. Kritisch hierzu Alfred Hirsch: Politische Anthropologie und dialogische Friedensethik. Kommentar zu Michael Henkel: »Thomas Hobbes’ Ethik des Friedens«. In: Calließ, Weller (Hg.): Friedenstheorien. A. a. O. 409– 418. 409 ff. 4 5
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seine Verfolgung ist bei Hobbes noch nicht im Sinne eines modern naturwissenschaftlichen Determinismus oder eines Programmes zu verstehen. Eher handelt es sich um eine vom jeweiligen Individuum beeinflussbare Disposition zur Stärkung seiner Position im Kampf ums Überleben. Das ›Gesetz der Natur‹ ist daher im Hobbesschen Sinne mit nur schwacher normativer Kraft ausgestattet, auf den Verstand und die Klugheit des einzelnen verwiesen. Je stärker der Verstand und die Klugheit, desto größer die Chance auf Selbsterhaltung und Glücksakkumulation. Ein ›Naturgesetz‹ im Sinne Hobbes’ ist eine schwache Vorform anthropologisch konstruierter Gesetzmäßigkeiten. Auf dieser Grundlage ist die aus der steten Gefahr für die Selbsterhaltung entspringende Furcht anthropologisch gesetzmäßige Konstitutionsbedingung des menschlichen Verstandes. Dieser selbst kann sich zur Erfüllung seiner Aufgabe der Selbsterhaltung gar nicht anders entwerfen als einen Friedenszustand herzustellen, der das größtmögliche Maß an Überlebenschance für das Individuum liefert. Deutlich ergibt sich aus dieser Erklärung, dass das ›lex naturalis‹ Hobbes’ in nachdrücklicher Entgegensetzung zur naturrechtlichen Tradition steht. Denn das ›Gesetz der Natur‹, ›lex naturalis‹, ist keine meta- oder präpositive Rechtsnorm, die das Individuum als Individuum mit gewissen Rechten vor jeder staatlichen Instanz ausstattete. Das ›Gesetz der Natur‹ beruft sich nicht auf eine letzte Instanz oder ein summum bonum. Nach Hobbes besteht das Recht »in der Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen, während ein Gesetz dazu bestimmt und verpflichtet etwas zu tun oder zu unterlassen.« 7 In der Normentheorie Hobbes’ korrespondiert ein Recht in keinerlei Weise mit einer Pflicht. Das Recht ist reine naturhafte Berechtigung und Einsetzung des Individuums in einen Zustand, der ihm keinerlei Pflichten auferlegt. Diese entstehen erst mit den Klugheitsregeln des Verstandes und den Gesetzen, die dieser dem selbsterhaltungswilligen Individuum diktiert. Das ›Recht auf alles‹ des Naturzustandes ist von Hobbes als uneingeschränkt, egoistisch und einseitig bestimmt. Die ›Gesetze der Natur‹, ›leges naturales‹, unterscheiden sich von diesen nur insofern, als sie auf einer reflektierteren Stufe eine verstandesmäßige Selbstverpflichtung mit sich führen, die aber keineswegs mit einem – im Kantischen Sinne – strengen Vernunftdiktat zu vergleichen sind. Die Naturgesetze Hobbes’ zielen nicht auf einen überindivi7
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duellen und Interessen ausgleichenden Charakter, sondern artikulieren das Eigeninteresse und die Zentralperspektive des Individuums. Entsprechend beinhaltet auch das ›erste Naturgesetz‹, das dem Einzelnen die Bemühung um den Frieden nahelegt, keine Reziprozität oder gegenseitige Verpflichtungsdimension. Dieses stünde auch den Prinzipien des Politischen in der Theorie Hobbes’ diametral entgegen. Denn Hobbes verficht eine normative Grundlegung, die jede voroder translegale Verpflichtung des Menschen und Bürgers ausschließt, da es sonst zu einer Normenkonkurrenz mit den bestehenden positiven Gesetzen kommen könnte. Erst die strikte und unangefochtene Geltung des positiven Gesetzes sichert nach Hobbes den Friedenszustand, der durch die höchste Gewalt des Leviathan gesichert wird. Insofern ist auch nach der Befriedigung der Gesellschaft eines Landes durch die vertragliche Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Leviathans nicht mehr von einem Krieg innerhalb der Gesellschaft dieses Landes zu sprechen. Der Krieg findet fortan nicht mehr im jeweiligen Land statt, sondern nunmehr zwischen den Ländern und Staaten. Interessanterweise verläuft dieser systematisch normative Entwurf Hobbes’ parallel zu den historischen Entwicklungen des Dreißigjährigen Krieges. Denn mit dem westfälischen Friedensschluss stellt sich jene ›nachwestfälische‹ Konstellation zwischen den Staaten ein, die Frieden und Krieg allein in die Beziehung zwischen den Staaten verlegt. Frieden und Krieg werden in der Neuzeit wesentlich auf die Beziehungen zwischen den Staaten beschränkt. – Weiter unten wird noch deutlich werden, dass wir zur Zeit Zeugen eines Wandels dieser auf dem Konzept der souveränen Staatlichkeit aufbauenden zwischenstaatlichen Verhältnisse sind. – Ein weiteres Charakteristikum der Hobbesschen Bestimmung des Friedens betrifft jene Minimaldefinition, in der die bloße Abwesenheit von Gewalthandlungen zwischen den Staaten als Frieden bezeichnet wird. Mit Blick auf das in der Neuzeit sich entwickelnde Verständnis des Friedens kann das Denken Hobbes’ gleichwohl als erkenntnistheoretischer Tropus, d. h. als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt genommen werden. Frieden und Krieg werden von Hobbes als Oppositionsbegriffe gedacht, die aneinander grenzend einander gegenüberstehen. Zur Bestimmung des Friedens kommen wir demnach im Hobbesschen Text am besten dort, wo er die Aufmerksamkeit auf die Definition des Krieges richtet und gewissermaßen en passant auch den Frieden erwähnt. So schreibt er an einer berühmten 324 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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Stelle des Leviathan: »[…] so besteht das Wesen des Krieges nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden.« (»… the nature of war consisteth not in actual fighting, but in the known disposition thereto, during all the time there is no assurance to the contrary.«) 8 Dem ersten Anschein nach haben wir es hier mit einer negativen Definition des Friedens zu tun. Aber zweierlei Begriffe verdienen in diesen Ausführungen Hobbes’ besondere Aufmerksamkeit. Zum einen ist dies die Einführung der Dimension der Zeit in den Begriff des Krieges und den des Friedens und zum anderen ist dies die Einbeziehung von Psyche und planendem Bewusstsein – im Englischen ›disposition‹ – in die Bestimmung von Krieg und Frieden. Die Zeit begriffen als Konstitutivum des Krieges bedeutet eine nachdrückliche Ausdehnung des Kriegsbegriffes über einzelne Schlachten und Kampfhandlungen hinaus. In der zeitlichen Verfassung des Krieges werden jene Phasen erst denkbar und beschreibbar, die die ›Ruhe vor dem Sturm‹ oder jenen sprichwörtlichen ›Friedhofsfrieden‹ meinen, aber auch das Werden und Vergehen von sozialen und politischen Konfliktverläufen, die in eine gewaltsame Auseinandersetzung einmünden können, aber nicht müssen. Krieg bedeutet vor diesem Hintergrund nun deutlich mehr als nur die Ausübung von Waffengewalt. Diese zeitlichen Rahmenbedingungen gelten dabei ebenso für den Frieden.
2. ›Unfrieden‹ und ›Unkrieg‹ Frieden meint folglich mehr als die bloße Abwesenheit von Gewalt. Der solchermaßen ausgedehnte Friedensbegriff fordert erst eine neue material-ontologische Füllung. Denn nun erst fragt sich, wie viel ›mehr‹ der Frieden ist und worin dieses ›mehr‹ besteht? Übertragen wir zunächst die Zeitlichkeit als Konstitutivum auf den Friedenszustand, dann kann Frieden auch noch jenes Stadium eines Verhältnisses oder einer Beziehung genannt werden, in dem es Streit und Auseinandersetzung, allgemein: Differenzen gibt, aber eine erkennbare Bereitschaft zur integrativen Schlichtung. Alle anderen Zustände und Prozesse müssten als Krieg bezeichnet werden. Gleichwohl 8
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wird unschwer deutlich, dass es Übergangsbereiche und Übergangsphänomene gibt, in denen zwar eine generelle Zuordnung zu Krieg oder Frieden möglich ist, jedoch Elemente und Strukturen des jeweils entgegengesetzten Zustandes einfließen. Eine Phase extremer Hochrüstung zwischen zwei Staaten oder Allianzen bei gleichzeitiger Abwesenheit von Kampfhandlungen lässt sich nur unter Vorbehalten als Frieden bezeichnen. Die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges und die sich in ihr entwickelnde Aufrüstungsdynamik zwischen Ost und West trug daher nicht zu Unrecht den Titel des ›Kalten Krieges‹. Sternberger bezeichnet eine solche Situation als ›Unkrieg‹, »sie entspricht und antwortet dem älteren und vertrauten Wort ›Unfriede‹.« Und er fährt fort, indem er eine Einschätzung des Zustandes Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gibt: »Und eigentlich leben wir sogar zugleich im Unfrieden und im Unkrieg.« 9 Zweifelsfrei trifft eine solche Beschreibung eines Verhältnisses zwischen Staaten, die sich zugleich in einer Aufrüstungsspirale befinden und an einer Reihe kleinerer Kriege jenseits ihres staatlichen Territoriums in zumeist verdeckter Form beteiligt sind, zu. Vorausgesetzt wird mit der Zuordnung von Frieden/Unfrieden und Krieg/Unkrieg zugleich eine Unterscheidung zwischen Qualität und Quantität des Friedens und des Krieges. Frieden und Krieg sind nicht nur etwas Bestimmtes, sondern können auch etwas mehr und etwas weniger sein. Aber eine solche graduelle Differenzierung, das heißt die Bestimmung eines Mehr oder Weniger des Friedens und eines Mehr oder Weniger des Krieges, läuft Gefahr, sich im Unscharfen und Diffusen zu verlieren, wenn nicht präzise das Maß und sein Inhalt der graduellen und quantitativen Unterschiede benannt werden. Wovon also gibt es ein Mehr oder ein Weniger des Friedens, der bis hin zum ›Unfrieden‹ sich zu minimieren vermag? Setzt man einen himmlischen Frieden als schlechthin gewaltlosen und erlösten Zustand der Menschheit als Maß eines vollkommen Friedenszustandes voraus, dann ist jeder in der irdischen Wirklichkeit sich einstellende Frieden gemessen an diesem Anspruch der friedsamen Vollkommenheit ein nur bescheidener Anfang. Jeder irdische Frieden müsste – gemessen an dem himmlischen Frieden – als ein Unfrieden dargestellt werden. Gemessen an der bereits erwähnten rein negativen Bestimmung des Friedens als Abwesenheit von Krieg, wird umgekehrt jeder Zustand, der von keiner offenen Ge9
Dolf Sternberger: Die Politik und der Friede. Frankfurt a. M. 1986. 13.
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waltauseinandersetzung gekennzeichnet ist, zum Frieden erklärt. Weder in der absoluten Versöhnung noch in der bloßen Absenz von kriegerischer Gewalt kann mithin eine inhaltlich positive Bestimmung des Friedens gewonnen werden. Zu der Abweisung dieser Extreme gesellt sich zudem die ebenfalls zeitgebundene Erkenntnis, dass Frieden nicht ein für allemal endgültig gewonnen werden kann, sondern immer wieder und von neuem angestrebt und realisiert werden muss. Frieden, der sich als politischer und – wie noch hervorgehoben werden wird – als interpersonaler sowie sozialer Prozess vollzieht, hat von Beginn in pluralen und singulären Konstellationen und deren Bezügen zu nisten. Erst im Ausgang einer Beziehung der vielen Ungleichen, die trotz Andersheit, Differenz und Heterogenität zu einem wirklichen Verhältnis miteinander finden, lässt sich von einem spätmodernen Friedenskonzept sprechen. Frieden ist also mehr als bloße gewaltfreie Verhältnislosigkeit, vielmehr eröffnet sich gerade über die Qualität des Verhältnisses eine inhaltliche materielle Bestimmung von Frieden: »Frieden ist«, wie Max Müller schon vor dreieinhalb Dekaden schrieb, »keine bloße Koexistenz, nicht nur die Toleranz des Sein-Lassens und Raum-Gebens, sondern vielmehr ein ›Zusammen‹, das ein Zusammenwirken um eines Gemeinsamen willen voraussetzt, weil sonst die Zufälligkeit des Nebeneinanders doch in einem jeden Moment einen Zusammenstoß entfachen kann. In diesem ›Gemeinsamen‹ als einem gemeinsamen, verbindenden ›Umwillen‹, welches dem Frieden Grund, Boden und Richtung gibt, liegt das ›normative Element‹.« 10 Dieses ›Zusammen‹ und dieses ›Gemeinsame‹, sollen sie nicht als bloße communio oder religiös als Gemeinde verstanden werden, bedürfen einer genaueren Bestimmung und Beschreibung. Denn an welche Art Integration als ›Zusammen‹ von Eigen- und Fremdkollektiv und Selbst und Anderem ist hier zunächst zu denken? Vollzieht sich eine solche Integration qua Frieden als Zusammenschluss ›freier Willen‹, wie sich im Ausgang der formal transzendentalen Konzeption Kants annehmen ließe? Was kann ein ›Zusammen‹ und ein ›Gemeinsames‹ in einer Vielzahl kultureller, sozialer und politischer Welten bedeuten? Ist das ›Zusammen‹ und das ›Gemeinsame‹ immer erst als nachträglich Angestrebtes und später erst zu Erringendes einer ursprünglicheren radikalen Dissoziation hinzugefügt? 10 Max Müller: Der Friede als philosophisches Problem. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. Frankfurt a. M. 1995. 21–38. 31.
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Eine erste Anknüpfung bietet das noch vorneuzeitliche, mittelalterliche Denken in den Überlegungen zu einer Friedensontologie des Augustinus. 11 Nach Augustinus ist der Frieden die Voraussetzung und nicht Gegenstand der Lebensführung, d. h. jedes menschliche Leben setzt bereits eine gewisses Maß an geordnetem Zusammen und an Integration voraus, um überhaupt existieren zu können. Frieden im Sinne Augustinus’ ist folglich primär, und er radikalisiert diesen Gedanken, wenn er schreibt: »Was ist, ist befriedet, sonst wäre es nicht.« 12 Mag sein, dass diese Einsicht in solcher Allgemeinheit formuliert – und es wäre sicherlich noch einiges zur Differenzierung im Augustinischen Sinne hinzuzufügen – eine Schräglage bekommt. Aber als entscheidend soll an ihr markiert werden, dass entgegen den in der Nach-Hobbessianischen Zeit eingeübten sozialen und politischen Konstitutionsbedingungen des ursprünglichen Krieges menschliche Formen der Kooperation immer schon Achtungsverhältnisse voraussetzen, die ein hohes Maß an Befriedung aufweisen. Auch hat es den Anschein, als schwinge in der Friedensontologie Augustinus’ nicht mehr oder noch nicht jener Zwang zur Einheit und Ganzheit mit, der in der Neuzeit als wesentliches Charakteristikum des Friedens gedacht wird. Die Einheit aller Teile einer sie umfassenden Ordnung ist zu gewähren durch die Entdeckung bereits latent vorhandener Gemeinsamkeiten wie das allen menschlichen Individuen gemeinsame Überlebensinteresse oder die allen Subjekten gemeinsame universelle Vernunft. Ein solcher, aus der Zusammenfügung und Identifizierung aller Einzelner erzeugbarer Einheitsfrieden hat seinen epistemologischen Höhepunkt in der neuzeitlichen Dialektik einer Verschmelzung von anderem und selbem. Nichts kann einer solchen Synthese der Gegensätze noch entkommen, und gerade hieran wird die entscheidende methodische Vorkehrung für eine praktische Befriedung humaner und politischer Beziehungen festgemacht. Hingegen werden Anderes und Fremdes, die nicht – zumindest in wesentlichen Teilen – der Einheit der Ordnung eingefügt werden können, als Störung und Hindernis des ordinalen Friedens betrachtet. Frieden wird als Angleichung und Absorbtion des Anderen nicht wirklich als Beziehung zwischen zwei absolut voneinander getrennten Singularitäten entworfen. Vielmehr wird, ob interperVgl. Augustinus: Vom Gottesstaat. Band II, Buch XIX. Zürich 1978. 13/553. Harald Fuchs: Augustin und der antike Friedensgedanke. Untersuchungen zum neuesten Buch der Civitas Dei (1926). Berlin 1965. 94.
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sonal, sozial, kulturell und politisch, immer schon so getan, als gebe es auf tieferer oder höherer Ebene eine unhinterfragbare Identität und Einheit, deren Friedsamkeit dann in Frage gestellt ist, wenn eine unintegrierbare Andersheit auftaucht. Besonders deutlich wird diese stets im neuzeitlichen Denken des Friedens vorausgesetzte Einheitlichkeit der Seienden in der Beschreibung und Darstellung kultureller und ethnischer Begegnungen und Beziehungen. Der ›Clash of Civilizations‹ Huntingtons spricht laut von der gewissermaßen notwendigen Friedlosigkeit miteinander in Kontakt tretender Kulturen. 13
3. Frieden: die Beziehung mit dem Anderen Eine wirkliche Wende in dieser Tradition des Friedensdenkens ließe sich erst erreichen, wenn Frieden als Beziehung mit einem Anderen beschrieben wird, der sich unvorhersehbar und unendlich meinen Vermögen entzieht. Oder mit den Worten Levinas’ in ›Paix et proximité‹ : »Frieden als Beziehung mit dem Anderen in seiner logisch ununterscheidbaren Andersheit, in seiner Andersheit, die nicht auf die logische Identität einer letzten Differenz reduzierbar ist, die einer Gattung hinzugefügt wäre. Frieden als stetiges Wachwerden für diese Andersheit und für diese Einzigkeit.« 14 Nicht also die vorschnelle Vereinheitlichung und Rahmengebung des Selben und des Anderen weist ein friedensnahes Prozedere auf, sondern umgekehrt die Sensibilität für die Andersheit des Anderen stiftet die Voraussetzung einer friedsamen Beziehung zu ihm. Vor dem Hintergrund der erwähnten Tradition wird deutlich, welch großer Mut auch in den praktischen Vollzügen politischer und sozialer Beziehungen dazu gehört, Gemeinsamkeiten auf der Basis nichtreduzierbarer Unterschiede und nie aufhebbarer Singularitäten erreichen zu wollen. Frieden als ›Zusammen‹ und ›Gemeinsames‹ – sei es in interpersonalen oder politischen Beziehungen – gilt es solchermaßen als Integration und Solidarität von Ungleichartigen zu entwerfen. Und aus der Perspektive des Selbst kann eine solche Bewegung der Befriedung nur vom Anderen aus anheben; sein Frieden hat Priorität vor dem meinen. Denn auch den politischen und sozialen Konventionen gemäß bleibt eine 13 Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München, Wien 1996. 291 ff. 14 Emmanuel Levinas: Frieden und Nähe. Dt. von Pascal Delhom. 6 (Manuskript).
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Ahnung von einem gestörten Frieden, wenn es in unserem Teil der Welt weitgehend befriedete soziale und politische Verhältnisse gibt, in anderen Regionen der Welt aber nicht. Wir können nicht von einem echten Frieden sprechen, wenn an anderer Stelle und anderem Ort der Welt Menschen zur selben Zeit ihr Leben, ihre Familie, ihre Freunde oder ihr Hab und Gut verlieren. Auch drängt sich mit Blick auf die Konstitution eines Gemeinsamen in der Beziehung zum ganz Anderen eine weitere Revision des modernen Friedensbegriffs auf. Denn wenn Frieden vorrangig als Beziehung zum Anderen und Fremden gedacht wird, dann gilt es einen rein zwischenstaatlichen, und das heißt politisch und rechtlich entworfenen Friedensbegriff wieder ein Stück weit in den sozialen und den interpersonalen Raum zurückzuholen. Ein Zusammen und ein Gemeinsames, das sich auf ein Verhältnis zwischen den Menschen in Staaten, Kollektiven, Kulturen und Ethnien gründet, geht bereits zurück auf das Geschehen interpersonaler Beziehungen und sozialer Begegnungen. Diese vollziehen sich nicht als den jeweils anderen anerkennende Integration ›freier Willen‹, sondern als den einzelnen und seinen Weltzugang erst konstituierendes Ereignis. Um erneut mit Levinas zu sprechen, handelt es sich um das Ereignis der ›Nähe‹, das nicht mehr abgestreift werden kann, nachdem es einmal geschehen ist. Und in genau dieser ›Nähe‹ zwischen selbst und anderem vollzieht sich auch die jeder Willensentscheidung vorausgehende Übernahme einer Verantwortung, die ich weder zurückgeben noch ihr gerecht werden kann. Aber diese überbordende Verantwortung, der ich nie und an keinem Ort gerecht werden kann, fordert zu einer Überführung und Transformation mikrosozialer Kooperationsformen qua sozialer Beziehungen in komplexere Formen und Ordnungen der Kooperation heraus. Vor dem Hintergrund der Überlegung, dass Frieden als konstitutive Bedingung einer gemeinsamen menschlichen Ordnung zu beschreiben ist, die als ursprüngliche Verantwortungsbeziehung anhebt, ergibt sich auch ein inhaltlich differenzierter Friedensbegriff. Denn aus der ursprünglichen Verantwortung und der ›Nähe‹ ergibt sich die Notwendigkeit und das Verlangen nach sozialer und politischer Integration und Kooperation, die zentrale Elemente und Charakteristika wie Gerechtigkeit, Freiheit, die Chance auf soziale und wirtschaftliche Entwicklung ebenso beinhaltet wie den gewaltfreien Austrag von Konflikten. Allerdings bleibt auch ein solch inhaltlich bestimmter Friedensbegriff auf einen historischen und räumlichen Kontext verwiesen, der we330 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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sentlich zu seiner Differenzierung und normativen Ausgestaltung beiträgt. So spielen gleichzeitig divergierende Aspekte dieser Friedensnormen in verschiedenen Regionen der Welt eine Rolle. Geht es in der einen Region zunächst um die Befriedung aufeinander prallender unterschiedlicher politischer Ansprüche oder religiöser Forderungen, ist in einem anderen Teil der Welt nichts dringlicher, als zur Gewährung eines Friedenszustandes für Nahrung und Gesundheit zu sorgen.
4. Gesellschaftswelt und Friedensereignis Die Antwort auf dergleichen Erschütterungen ist dabei keineswegs zuerst und zunächst der Politik und den so genannten souveränen Nationalstaaten anzuvertrauen. Und doch kann auf die Wirkungsmacht und Hilfe des Politischen – auch in Form der Nationalstaaten – und der Weiterentwicklung einer internationalen Rechtsstruktur nicht verzichtet werden. Aber in einer Entwicklung, deren Zeugen wir gegenwärtig sind, die bestimmt ist durch die Kraft und Herrschaft wirtschaftlicher Globalisierung, kann auf die Reste eines gerechten Staates nicht verzichtet werden. Wenngleich auch die meisten Staaten sich immer mehr zum Erfüllungsgehilfen global operierender Konzerne machen und selbst zu einem mehr und mehr ökonomisch verfassten und funktionierenden ›Global Player‹ werden. Wenn Globalität und Globalisierung bedeuten, dass neben der ökonomischen, politischen und technischen Überwindung nationaler Grenzen, großer Entfernungen, regionaler Unterschiede eine enorme Geschwindigkeit von Kapital-, Waren- und Informationsflüssen den Erdball umkreisen, dann ist nach den Auswirkungen dieser Dynamik für das ›Gemeinsame‹ und den Frieden weltweit zu fragen. Das, was sich in dieser Beschreibung als weitestgehend neutraler Ordnungsprozess anhört, lässt sich auch als ›Wirtschaftskrieg‹ bezeichnen, wie Derrida es tut, wenn er schreibt: »Dieser Krieg beherrscht alles, angefangen mit den anderen Kriegen, weil er eine praktische Interpretation und eine inkonsequente und ungleiche Handhabung des internationalen Rechts bedingt.« 15 Wie in allen anderen gewaltsamen oder kriegerischen Prozessen und Verläufen gibt es auch hier Regeln 15 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Dt. von Susanne Lüdemann. Frankfurt a. M. 1995. 133.
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und Strukturen, die diese Art der Globalisierung durchziehen und ordnen. Diese Regeln und Strukturen haben sich dabei keineswegs zufällig und auf allein funktionaler Ebene ergeben. Sie haben Ausgangsorte und Profiteure, die an ihrer Aufrechterhaltung und sogar ihrer Stärkung großes Interesse haben. Dieses sind im Wesentlichen die wirtschaftlich mächtigen Staaten des Westens und Asiens, die den freien Markt geschaffen haben und ihn zu einem erheblichen Teil zu ihrem eigenen Nutzen ganz ›unfrei‹ mit Interventionismus und Protektionismus zu kontrollieren versuchen. Aber als politische und demokratische Ordnungen geraten diese Staaten selbst mehr und mehr in den Sog des vorgängigen Wirtschaftskrieges und es findet eine Entmachtung gerade jener Institutionen statt, die früher eine Rettung des einzelnen Menschen, seiner Rechte und Teilhabechancen versprachen. Nicht zu Unrecht sieht Robert Bernasconi daher in dem, was Globalisierung genannt wird, untilgbare und sich potenzierende Widersprüche am Werk, wie derjenige zwischen der Beweglichkeit des Kapitals und der relativen Unbeweglichkeit des arbeitenden Menschen, oder derjenige zwischen transnational operierenden Konzernen, die allein ihren Shareholdern verpflichtet sind und den national ausgerichteten und handelnden Staaten, die ihren ehemaligen sozialen Standards nicht mehr gewachsen sein wollen. 16 Resultat dieser nun schon seit Jahrzehnten anhaltenden und sich noch beschleunigenden Entwicklung sind extreme Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern, Nahrungsüberfluss und Nahrungsmangel, Achtung und Nichtachtung von Grundfreiheiten und nicht zuletzt derjenige zwischen den mit militärischer Macht ihre Interessen durchsetzenden Staaten und jenen, die Opfer dieser neuen Form des Kolonialismus sind. Es drängt sich angesichts dieser aktuellen Situation der Globalisierung die Beschreibung einer Gewaltsamkeit auf, die Johan Galtung mit dem Begriff der ›strukturellen Gewalt‹ eingeführt hat – wenngleich ich den Begriff hier in einem etwas anderen Sinne als Galtung verwenden möchte. 17 Die spezifischen Formen der Gewaltsamkeit der globalen ›strukturellen Gewalt‹ betreffen zunehmend Vgl. Robert Bernasconi: Globalisierung und Hunger. In: Pascal Delhom, Alfred Hirsch (Hg.): Im Angesicht der Anderen. Levinas’ Philosophie des Politischen. Zürich, Berlin 2005. 115–129. 118 f. 17 Vgl. Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Reinbek 1975. 57 ff. 16
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nicht mehr nur die armen Menschen in den armen Staaten, sondern ziehen sich quer durch alle Länder der Welt und sind längst auch in den reichen Staaten des Westen und Nordens mit ihren Immigranten, Arbeits- und Obdachlosen angekommen. Je eindringlicher diese Entwicklung, desto luzider ist aber auch, dass neben den weltweit neu entstandenen Formen von inter- und transnationaler Öffentlichkeit zugleich inter- und transnationale Zivilgesellschaften im Entstehen begriffen sind, die sich teilweise aus Reflexion der Gemeinsamkeit eines Opferstatus und teilweise aus den Wohlstandsressourcen zunehmender interpersonaler und sozialer Kontakte einer sich formierenden globalen Gesellschaftswelt jenseits des Staates und der Staaten entwickeln. Als ›Gesellschaftswelt‹ möchte ich bezeichnen, was sich als Ereignis des Sozialen, als unkontrollierbares Geschehen der Begegnung von Selbst und Anderen, Eigenem und Fremden und doch als friedenskonstituierender Prozess vollzieht. 18 Die interpersonalen Beziehungen haben einen wesentlichen Einfluss auf Werden und Vergehen der Gesellschaftswelt, aber sie sind nicht alleiniger Antrieb oder alleiniges Hindernis. Bestimmte Formen von Dialog und Diskurs, mediale Öffentlichkeit, Geschwindigkeit der Ortswechsel und Kommunikation sowie ein zunehmender Appeal anderer und fremder Kulturen eröffnen und konstituieren die Prozesse der globalen ›Gesellschaftswelt‹. Dass sich aus dieser Gesellschaftswelt, die ich als nicht steuerbaren Prozess und unvorhersehbares Ereignis beschreibe, mit zunehmender Intensivierung eine – von dieser zu unterscheidenden – Weltgesellschaft entwickelt, lässt sich anhand einer Reihe empirischer Daten erfassen. Der Begriff der Weltgesellschaft wird schon seit Jahrzehnten gebraucht und doch hat sich sein Gehalt in entscheidender Weise verschoben und modifiziert. War die Weltgesellschaft in den Sechziger und Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine die Beziehungen souveräner Staaten, also die Weltpolitik, bloß ergänzende Sphäre, gewinnt sie mit den Achtziger und Neunziger Jahren, d. h. den Jahren einer forcierten Globalisierung an Gewicht und Eigenständigkeit. Die schon beschriebene vielschichtige Erosion der Nationalstaaten, aber auch die aus politischen Entscheidungen hervorgehenden transnatio18 Vgl. meine Überlegungen zum Zusammenhang von ›Gesellschaftswelt‹ und Menschenrechten, in: Menschenrechte als Zivilgesellschaftliche Verantwortungskultur. In: Ludger Heidbrink, Alfred Hirsch (Hg.): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt a. M. 2006. 247–263.
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Alfred Hirsch
nalen Organisationen bis hin zur UNO haben zur anfänglichen Etablierung einer Weltgesellschaft geführt. Die dieses realisierenden sozialen Prozesse, der sich genuin als Geschehen von Ansprüchen und Verantwortungsverhältnissen jenseits und vor den politischen Ordnungen entfaltet, vollzieht sich als Gesellschaftswelt. Diese ist kein Ort berechenbarer Symmetrien und institutionalisierter Rechtszusammenhänge. Vielmehr geht sie diesen voraus als Werden von Normen, die sich in einem interpersonalen, sozialen und diskursiven Verantwortungsprozess auch in einem globalen Kontext ergeben. Verantwortung auf dieser Ebene ist nicht delegierbar oder übertragbar, sie entfaltet sich prospektiv und sprengt die räumliche wie zeitliche Einigung und Beschränkung. Diese Verantwortung lastet dem Einzelnen mehr auf, als er tragen kann, und verlangt von ihm mehr, als er geben kann. Zugleich ist sie aber auch der Vollzug eines sozialen und interpersonalen Friedens, der nach Gerechtigkeit und ihrer Instituierung im Politischen verlangt. Dort angelangt, schmilzt die Verantwortung des einzelnen auf ein kalkulierbares und begrenzbares Maß zusammen. Die Verantwortung wird zurechenbar auf den einzelnen bezogen und von diesem eingefordert. Aber mit dem Augenblick ihrer Instituierung im Recht und im Politischen erlischt das Ereignis der Gesellschaftswelt und hinterlässt Spuren in einer Weltgesellschaft, die heute mehr und mehr zum Widerpart des Politischen und des Ökonomischen wird. Mit dem Einzug des gesellschaftsweltlichen Geschehens in die Weltgesellschaft wird auch der Frieden zu einem ihrer konstitutiven Bestandteile. Denn Frieden ist nach der anfänglichen Etablierung einer Weltgesellschaft nicht mehr vorrangig der Name für eine Beziehung zwischen den Staaten, sondern er benennt die gesamten Verhältnisse im Innern einer globalen Gesellschaft. Oder mit den Worten Georg Pichts: »Die These von der Unteilbarkeit des Friedens besagt also sehr viel mehr als nur die Feststellung, daß es unter den heutigen technischen und ökonomischen Bedingungen immer schwieriger wird, bewaffnete Konflikte zu begrenzen. Sie besagt darüber hinaus, daß sich ein Zustand, den man Frieden nennen könnte, nur noch als innere Ordnung einer Weltgesellschaft verstehen und angemessen beschreiben läßt.« 19 Anders als zwischen den souveränen Staaten entfaltet sich diskontinuierlich Georg Picht: Was heißt Frieden? In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 184.
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Frieden und globale Verantwortung
aber zugleich dauerhaft in der Weltgesellschaft im Ausgang eines gesellschaftsweltlichen Prozesses eine Friedensverantwortung, die sowohl Menschen wie Gruppen, Organisation und Institutionen betrifft. Auf der Ebene des Völkerrechts sprechen wir eher von einer Friedenspflicht, die auf der Grundlage einer rechtlich bindenden Vereinbarung das Verhältnis der unterzeichnenden Staaten regelt. Auch hier ist es erst im Verlaufe eines langen Prozesses zum zwingenden zwischenstaatlichen Gewaltverbot gekommen: »Vom Recht der souveränen Staaten zum Krieg ist nichts mehr übriggeblieben. Die Staaten haben nicht mehr die Möglichkeit, Krieg oder Frieden zu wählen, sondern sind kraft allgemeinen Völkerrechts verpflichtet, den Frieden zu erhalten« […] heute ist »auf der Grundlage der allgemeinen Friedenspflicht der Friede das oberste Ziel, dem selbstverständlich die Mittel angepaßt werden müssen.« 20 Diese Beschreibung der Normentwicklung im Völkerrecht Otto Kimminichs scheint plausibel und steht doch zugleich in einem auffälligen Missverhältnis zu den Entwicklungen seit den frühen Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, seit dem so genannten 2. Golfkrieg. Das Recht auf Krieg, das sich einige Staaten nehmen und die USA sogar als Recht auf Präventivkrieg fordern, lässt die aus dem Völkerrecht hervorstrahlende Friedenspflicht der Staaten verblassen. Und doch bleibt – auch diese Entwicklung ist beobachtbar – eine aufmerksam agierende globale Gesellschaftswelt in den Ordnungen des Politischen virulent und fordert diese heraus. Entfacht und gestärkt wird dieser Stachel der Irritation durch ein längst nicht mehr in die Grenzen der einzelnen Staaten zurückzudrängendes soziales Ereignis, das neben einer weltweiten Forderung nach Frieden zugleich die nicht delegierbare Verantwortung für ihn unablässig neu hervorbringt.
20 Otto Kimminich: Das Völkerrecht und die friedliche Streitschlichtung. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 142–165. 152.
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»Sprachen« des Friedens Antje Kapust
Ein solch hohes Gut wie »Frieden« ist schon seit Jahrhunderten mit einem undankbaren Schicksal belastet. Es kann die Spuren vielfältiger Un-Formen trotz größter Bemühungen nicht hinter sich lassen. Zahlreiche Formulierungen belegen eine Ambivalenz, die den eigentlichen Stellenwert von Frieden deutlich beeinträchtigen. Prototypisch ist das Credo: »Friede ist mehr als kein Krieg.« 1 Selbst die gegenwärtige Semantik indiziert eine gravierende Bedeutungsverschiebung des Politischen. Statt von Friedensordnungen ist von einer »Sicherheitsarchitektur« die Rede, die ihre Rückkoppelung an bellizistische Herkünfte nicht einmal verbirgt. 2 Daher wird verstärkt das Desiderat formuliert, dass Friedensstrategien gesucht seien, die »nicht identisch sind mit Kriegsvermeidungsstrategien, weil sie weit darüber hinausgehen. Der Krieg muss nicht vermieden, er muss ersetzt werden durch andere Formen des Konfliktaustrags.« 3 Der vorliegende Text geht daher von folgender These aus: Nimmt man die Forderung nach der Suche anderer »Formen des Konfliktaustrags« ernst, so müsste sie möglicherweise an ein dreifaches Postulat gebunden werden: a) an die Reflexion eines »Faktors Mensch« (im Gegensatz zur Fokussierung auf Strukturen, Prozesse usw.), b) an das Überschreiten bisheriger Modalitäten um das Primat von Würde, c) an die Analyse beider Friedenspotentiale in einer Analyse von Sprachspielen, in denen Frieden entweder etabliert oder verraten wird. Volker Rittberger: Ist Frieden möglich? In: Universitas 40/1985. 1139–1149, hier 1139. 2 Die Aporien dieses »Mythos« untersucht Berthold Meyer in »Kollektive Sicherheit oder Weltinnenpolitik? Die Suche nach den globalen Dorfpolizisten.« In: Claus Leggewie, Richard Münch (Hg.): Politik im 21. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2001. 359–374. 3 Ernst-Otto Czempiel: Der Friede – sein Begriff, seine Strategien. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. Si vis pacem para pacem. Frankfurt a. M. 1995. 165–176, hier 174 (meine Hervorhebung). 1
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»Sprachen« des Friedens
Die Erörterungen werden andeutungsweise (und lange nicht erschöpfend) in sechs Schritten expliziert, die das Problem anhand bestimmter Leitachsen exponieren: Zunächst soll 1) der Übergang von bisherigen Friedensbestimmungen zu einer Beschreibung von Frieden angedeutet werden, die dem Konnex von Mensch, Würde und Sprachspiel einen Raum eröffnet. Anschließend soll 2) aufgezeigt werden, inwiefern das »menschliche Alphabet« in der Tradition des Friedensgedankens unterbelichtet wurde. In einem nächsten Schritt sollen 3) die Grenzen der diskurstheoretischen Überlegungen als dem klassischen Paradigma aufgegriffen werden, in dem Frieden in universaler Form als Verständigung anvisiert wird. Nachfolgend sollen 4) die Gefahren für Frieden sowie die ethischen Implikationen von Frieden mit der Kategorie des »gefährdeten Lebens« reflektiert werden. Schließlich soll 5) ein möglicher für die Friedensdiskussion sinnvoller Konnex von Achtung, Mensch und Sprachspiel am Beispiel der pragmatischen Theorie eines liberalen Gemeinwesens erörtert werden. Daraufhin soll 6) die Bedrohung von Frieden durch eine Verweigerung mithilfe der responsiven Philosophie analysiert werden.
1) Frieden und der »Faktor Mensch« Die Zeit nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts galt als Zeit, die eine Ära der Reflexion über die Würde einläutete. Mit dem Ausklingen des Kalten Krieges wurde offensichtlich, dass sich eine Friedensfähigkeit um den Kern des »Faktor Mensch« drehen müsse. Diese Einsicht erfolgte nicht nur mit Blick auf die Konstellationen der Verwundungen durch neue Kriegsformen, in deren Zentrum eine Körperpolitik« steht, sondern auch mit Blick auf die Feststellung, dass Situationen von Frieden in Gewalt »kippen«, wenn dieser Faktor verloren oder verdeckt wird (z. B. Feind-Apperzeption und zugehörige Rhetoriken notwendiger, unvermeidlicher oder gerechtfertigter Gewalt). Es wurde daher umso forcierter versucht, politische Möglichkeiten an die Stelle bisheriger konfliktvermeidender Strukturen zu setzen, die eine bemerkenswerte Verschiebung signalisierten: Bisher verwendete Analytiken (siehe nachfolgende Matrix) wurden durch Verweise auf eine »Politik der Würde« erweitert, die als höchster Wert einer als friedlich konzipierten Formation erschien. Mindestens drei bisherige Ansatzlinien wurden im Lichte dieser Perspektivik grundlegenden Revisionen unterzogen: 337 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Antje Kapust
1) Die Trias übergeordneter Typiken, und zwar a) Friede als prozedurale Variante internationaler Systeme, b) als Praxis spezifischer Interaktionen (z. B. Rechtsprechung und Normbildung, Handlungsgestaltung, Konfliktmanagement usw.) und c) als Modifikation gesellschaftlicher Strukturen (Konnex von Frieden und Herrschaft, Gerechtigkeit, Handel, Macht usw.). 4 2) Die Klassifizierungsversuche von Frieden im Rahmen einer synchron und diachron angelegten Morphologie verschiedener Spielarten (positiver und negativer Begriff, personale und strukturelle Gewalt, innerer und äußerer, privativer oder attributiver Friede usw.). 5 3) Modellbeschreibungen von Frieden, die Frieden als Prozessmuster mit bestimmten moralischen Inhalten anreichern, so als Solidarität, als Toleranz, als Gerechtigkeit usw. 6 In der Tat haben die verschiedenen Krisenfelder der letzten Jahrzehnte nicht nur die Notwendigkeit einer Neukonfiguration des Friedensbegriffs vor Augen geführt, sondern auch schwierige Herausforderungen aufgebürdet, die offensichtlich eine Berücksichtigung des »Faktors Mensch« dringlicher machen. Diese Komponente wird umso evidenter angesichts der Tatsache, dass in den Krisenfeldern die destruktive Kraft einer »Körperpolitik« (Verfolgung, Zerstörung, Tötung, Brandmarkung, symbolische Kennzeichnung von Menschen durch Gewaltakte usw.) den »Menschen« eminent in Mitleidenschaft zieht. Einhellig werden dabei folgende Krisen genannt: a) Veränderung der welt- und friedenspolitischen Situation durch die Implosion des Kommunismus, b) die kontrovers diskutierte Relevanz humanitärer Interventionen, c) die zunehmende Erosion von Staatlichkeit 7 und Gewaltmonopolen, d) die steigende Asymmetrisierung von Konflikten, e) die Polarisierung von Säkularisierung und (Re)theologisierung des Politischen sowie f) die unentschuldbare Marginalisierung »nicht-gewinnträchtiger Konfliktzonen«. 8 Daher ist nicht Ernst-Otto Czempiel: Friedensstrategien: Systemwandel durch internationale Organisationen. Paderborn 1986. 5 Siehe dazu exemplarisch den klassischen Text von Johann Galtung: Soziale Kosmologien und das Konzept des Friedens. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 276–303. 6 Iring Fetcher: Modelle der Friedenssicherung. München 1972. 7 Das Fehlen stabiler staatlicher Strukturen führt den Theoretikern der realistischen Positionen der Konflikttheorie zufolge eher zu Anarchie und einem Naturalismus der Kräfte als zu Frieden, siehe exemplarisch Kenneth N. Waltz: Theory of International Politics. New York 1979. 102. 8 Gerade die Menschen dieser Zonen sind jedoch einer steigenden Bedrohung durch 4
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»Sprachen« des Friedens
verwunderlich, wenn die europäische Tradition einer Monopolisierung und Verrechtlichung von Gewalt, der die Etablierung bestimmter Friedens-Verhältnisse nachgesagt wird, gegenwärtig durch den Rekurs auf eine Politik der Würde erweitert wird, in deren Zentrum eine gegenseitige Achtung und Anerkennung des Anderen oder ein würdevoller Respekt steht: »Diese reflexive Selbstüberschreitung der Toleranzgrenze einer ›wehrhaften‹ Demokratie verdankt sich […] dem Universalismus der rechtlichen und moralischen Grundlagen einer liberalen Ordnung. Im strengen Sinne ›universalistisch‹ ist nämlich nur der egalitäre Individualismus einer vernünftigen Moral, die gegenseitige Anerkennung im Sinne der gleichen Achtung für und der reziproken Rücksichtnahme auf jeden fordert. Die Mitgliedschaft in der inklusiven, also für alle offenen moralischen Gemeinschaft verspricht nicht nur Solidarität und eine nicht-diskriminierende Einbeziehung, sie bedeutet zugleich das gleiche Recht eines jeden auf Individualität und Andersheit.« 9 Allerdings müssen diese Formen von Frieden, die auf einer wie auch immer konkretisierten Würde beruhen, erst hervorgebracht und geschaffen werden. Friede muss also als Wirkkraft auftreten und bedeutsam werden. Bisher konnte dies in vier Formen beobachtet werden: 1) als Überwindung von Krieg, so in der eschatologischen Variante, die eine andere Zukunft auf einer Fortschrittsachse beschreibt (als Ziel, als Vision, als Aufgabe, als Projekt, als Entscheidung usw.), 2) als Überwindung der Perfusion von Krieg (so, wenn der vermeintliche Friedenszustand auf einem Kriegsvokabular beruht, wie Foucault dies in »Die Geburt des Krieges aus dem Licht der Aufklärung« beschreibt), 10 3) als Durchbrechung von Krieg, Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Daher geht es nicht nur um die Rolle und Berechtigung humanitärer Interventionen sowie um das Dilemma ihres Missbrauchs, sondern auch um das Vergessen von Menschen, die durch ein Unterlassen den Status der »Überflüssigen« zuerteilt bekommen, für die der Preis menschlicher Assistenz nicht hoch genug ist. Daher müsste die Diskussion um das Prinzip der Intervention, das mit Kantischen Mitteln des Friedensgedankens durchgefochten wird, um die Kantischen Aporien der Würdebestimmung am Leitfaden von Wert und Preis erweitert werden, was bisher in der Literatur nicht der Fall ist. Siehe Ingeborg Maus: Volkssouveränität und das Prinzip der Nichtintervention in der Friedensphilosophie Immanuel Kants. In: Hauke Brunkhorst (Hg.): Einmischung erwünscht? Menschenrechte und bewaffnete Intervention, Frankfurt a. M. 1998. 88–116. 9 Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X. Frankfurt a. M. 2004. 30. 10 Michel Foucault: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte (Vorlesungen am
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Antje Kapust
wenn eine Ethik des Widerstandes die Ontologie des Krieges durchbricht oder »insulare Inseln in einem Meer von Krieg« auftauchen, 11 4) als temporäre Unterbrechung von Krieg, die als Enklave eine partielle Abwesenheit extremer Gewalt darstellt. Ein Frieden als Unterbrechung ist jedoch wiederum durch vier Gefahren bedroht, und zwar a) durch den Einbruch eines unerwarteten Krieges infolge der Wiederkehr eines Phantoms (z. B. in Form von Mythen, Vorstellungskomplexen, Bildern usw.), b) durch das Nicht-Verarbeiten von Wiederholungsstrukturen (von denen einige die gesamte abendländische Geschichte durchziehen), 12 c) durch das Wiederaufbrechen von Krieg durch »falsche« zeitliche Anknüpfungen (so beschreibt Ignatieff einige Kriege als den Versuch, die Wunden vergangener Demütigungen in der Gegenwart zu bekämpfen), und d) durch die Konstellation einer zeitlichen Nicht-Simultaneität der Kulturen, die insbesondere in der gegenwärtigen Diskussion von Sicherheit und Kulturen des Friedens eine Rolle spielt. 13 Gerade mit Blick auf diese zeitlichen Verschiebungen greift Paul Ricœur die methodische Polarität von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auf, um in Abweichung des Motivs »Lernen aus der Geschichte« die Frage aufzuwerfen, »was das Gedächtnis die Geschichte lehrt«, um nicht den Krieg in das Innere der Gesellschaft hineinzutragen. 14 Es wäre daher Collège de France in Paris). Berlin, 1986. 7. Siehe auch meine Ausführungen dazu in: Zur Philosophie des Krieges. Logos und Polemos. In: Böhm, Lindauer (Hg.): Welt ohne Krieg. Stuttgart 2002. 81–110. 11 Dies ist ein zentrales Element in der Philosophie von Emmanuel Levinas. Man findet es auch anderswo, so in dem Buch von Robert D. Kaplan: Reisen an die Grenzen der Menschheit. Wie die Zukunft aussehen wird. München 1996. 12 Diesem Aspekt der Wiederholung bin ich in zahlreichen Texten nachgegangen so in: On repetition and the constitution of the political. Vortrag auf dem International Meeting of the American Society for Phenomenology and Existential Philosophy (SPEP). Oregon/ USA 1999, siehe ebenfalls den Text »Returning Violence« in: Eric Nelson, Kent Still, Antje Kapust (Hg.): Addressing Levinas. Ethics, Phenomenology and the Judaic Tradition, Chicago 2005. 236–256. 13 Dieses Thema wäre eine eigene Erörterung wert. Es berührt nicht nur das Problem einer Dynamik von Säkularisierung, sondern auch die These einer versäumten Modernisierung. Siehe exemplarisch von Shlomo Avineri: Fehlgeschlagene Modernisierung als Sicherheitsproblem. In: Werner Weidenfeld (Hg.): Herausforderung Terrorismus. Die Zukunft der Sicherheit. Wiesbaden 2004. 55–65. 14 Paul Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen. Göttingen 1998. 125 ff. In diesem Sinne setzt er der ewigen Wiederholungen der Verletzungen des Gedächtnisses die Räume von Verzeihen entgegen (Paul Ricœur: Rätsel. A. a. O. 113 ff., 147 ff.).
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durchaus lohnenswert zu überlegen, inwiefern diese unterschiedlichen Formen mit den phänomenologischen Überlegungen zur zeitlichen Spaltung (der Diastase) begrifflich analysiert werden könnten. 15 Doch in dem Maße, wie beispielsweise insbesondere die neuen Kriege als »Mischgebilde aus Krieg, Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen« beschrieben werden, wäre der Rekurs auf eine andere Größe unvermeidlich, die bereits immer anwesend war, die jedoch bisher nicht explizit benannt wurde. Es handelt sich um den sogenannten »Faktor Mensch«. 16 Dem Menschen selbst würde man allerdings nur in einer unter Beweis gestellten Würdigung gerecht werden. Die Bedingungen dazu wären Bestandteil einer Theorie des Friedens, die den Menschen und nicht Prozesse, Strukturen, Verhältnisse und Agentenschaften in den Vordergrund stellt. Doch auch die Gefährdungen und Grenzen möglicher Visionen würden als Gefährdungen eines Friedens reflektiert werden müssen. Die These könnte folglich lauten: Friede wäre die Bereitschaft und die Fähigkeit zu einem menschlichen Alphabet.
2) Das »menschliche Alphabet« in der Tradition des Friedensgedankens Wie immer Frieden in der Tradition gedacht wurde, ob normenlogisch und deontisch, wertethisch oder nutzenpragmatisch, wurden zwar menschliche Angelegenheiten und Geschäfte den Regularien eines relativ geregelten Verkehrs unterworfen, der Mensch selbst taucht darin jedoch zumeist nur als Gegenstand auf, nicht als Selbst, das per se verletzbar ist (selbst Hobbes kann mit der Angst vor dem Tod eine genuine Verletzbarkeit nicht fassen). Auf vier Ebenen wird dies deutlich, und zwar 1) auf der Ebene der signifikativen Differenz von Frieden, 2) hinsichtlich der zentralen Modelle von Friedensideen, 3) hinsichtlich der Praktiken von Frieden und 4) viertens hinsichtlich der Träger und Instanzen von Frieden. Die signifikative Differenz gibt einen ersten Aufschluss: Gemeint ist die Verbalform »Friede als«, die nach der Bedeutung von 15 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik. Frankfurt a. M. 2002. 59, 174. 16 Mary Kaldor: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Franfurt a. M. 2000. 22.
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Frieden fragt und dies mit einer Verkettung durch das als beschreibt: Frieden als Burgfriede, als Waffenstillstand usw. In Relation zum Komplex der Gewalt sprechen die verschiedenen Beschreibungen die Sprache einer relativen Ausblendung des Menschlichen: Friede als a) Gewaltverzicht, als b) Ersetzung von Gewalt durch neue Formen (z. B. das Recht), als c) Durchsetzung kosmopolitischer Normen anstelle einer Friedenssicherung, als Übersteigung (und Transzendieren) von Gewalt, als d) Minimierung von Gewalt, als e) gerechtfertigte Gewalt, als f) Monopolisierung von Gewalt (Weber, van Crefeld), als g) Transformation von Gewalt (z. B. durch eine Regulierung der Affekte) und als h) Bindung von Gewalt (Allianzen, Einheitsmodelle usw.). Auch die Vielzahl von Friedensideen, die sich fünf Modellen zuordnen lassen, geht von allgemeinen Anhaltspunkten aus, in denen das Menschliche nur als »Kostenfaktor für Operationen« verrechnet wird, nicht aber als verletzbares Selbst wahrgenommen wird: a) als Vision (in Form einer Utopie, eines Entwurfs, einer eschatologischen Idee usw.), 17 b) als Unterbrechung von Gewalt (z. B. in Form einer dezidierten Sicherheitspolitik), 18 c) als Unterdrückung (Zivilisierung von Affekten, Kultivierung usw.), d) als Transformation von Gewalt (z. B. die »gute« Eris des Handels statt der destruktiven Eris des Krieges), 19 e) als situative Anpassung an Rahmenbedingungen (z. B. in Form eines lokalen Konfliktmanagements). Die zugehörigen vier Praktiken umschreiben mehr oder weniger normative Anweisungen, doch ohne Bereitschaft zum Frieden und ohne eine fähige Umsetzung sind diese Orientierungen nicht das Papier wert, auf dem sie verzeichnet sind. Zu diesen »Leitlinien« eines Friedens zählen a) die moralische und politische Ächtung von Motive des Eschatologischen finden sich in Jesaja, Hobbes, Levinas, Sternberger usw., können aber hier nicht eigens aufgeführt werden. 18 Unterbrechung ist die Figur, die Levinas zufolge die Totalität aufsprengt (Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg 2002). Ihr eminenter Sinn macht sich aber auch in konkreten politischen Sachverhalten bemerkbar, so wenn man sich vergegenwärtigt, welche Rolle das Motiv spielt, um die Instabilitäten von »mixed games« und die Aporien eines Sicherheitsdilemmas zu durchbrechen. 19 Die Gefahr eines Umschlagens friedlicher Verhältnisse in kriegerische Formen durch ein unreflektiertes Operieren spezifischer Konstellationen und Verhaltensmuster analysiere ich exemplarisch an der überdeterminierten Ambivalenz einer konkreten Figur, nämlich der Figur der Eris als einem klassischen Symbol für Streit in: Figures of conflict and the violent logic of exclusion. In: Bruce Butterfield, Jürgen Kleist (Hg.): War and its Uses: Conflict and Creativity. New York 1999. 277–286. 17
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Gewalt durch Gebote, b) die Orientierung an wechselseitigen Abmachungen und Vereinbarungen zum Gewaltverzicht, c) die Reglementierungen des internationalen Verkehrs, und d) der Entwurf von Grundsätzen und Leitlinien. Hinsichtlich der Instanzen von Frieden wird das Menschliche entweder nach Art eines »Hebelgesetzes« angesetzt (welche Mechanismen und Strukturen müssen errichtet werden, um Frieden durch Abmachungen einzuhalten), oder als Subjectum bestimmten Prozessen einer Domestikation und Züchtung unterworfen, die keineswegs seine Friedfertigkeit garantieren oder in Grenzen halten. Als Träger und Instanzen gelten: a) Recht und Regelstruktur (z. B. Sozialvertrag), b) Macht und politische Repräsentation, c) Affektkontrolle. Lediglich die Theorien, die sich um den Komplex eines »moralischen Bewusstseins« gruppieren würden (zivilisatorisches Hexagon, Reflexionen über ein Humanes usw.) böten noch Ansatzpunkte einer Verzahnung.20
3) Frieden im Rahmen einer universalen Verstndigung Die Diskurstheorie kann sicherlich als Theorie verstanden werden, die die Idee eines weltbürgerlichen Friedens in ein gegenwärtiges Idiom zu übersetzen versucht. Die zugeordneten Theorien der Anerkennung werden in den Schriften, die sich mit weltpolitischen Fragen zu Frieden und Gewalt nach dem 11. September befassen, dezidiert in die Sprache von Würde transponiert. Eine elementare Bereitschaft zum Frieden durch Achtung des Anderen wird dabei jenen abgesprochen, die gegen ein Postulat der Achtung verstoßen: »Wenn sich ein zeitgenössisches Regime wie der Iran weigert, diese Trennung zu vollziehen, oder wenn religiös inspirierte Bewegungen die Wiederherstellung einer islamischen Form von Theokratie anstreben, be20 So beschreibt Finkielkraut diese »Perversionen« des Menschlichen in: Verlust der Menschlichkeit. Versuch über das 20. Jahrhundert. Stuttgart 2 1999. Daher setzt Bollnow auch den üblichen Gattungsbegriff des Menschen von einem genuinen Begriff des Menschlichen ab, der die Fähigkeit bezeichnet, die Möglichkeiten der »Rohheit und Härte« zu friedlichem Miteinander von Gnade abzumildern (Otto Friedrich Bollnow: Die Forderung der Menschlichkeit. Tübingen 1996. 7 ff.). Vergleiche auch die sehr bedenkenswerten Überlegungen zu »Menschheit als universaler und polemischer Begriff« von Burkhard Liebsch in: Moralische Spielräume. Menschheit und Anderheit, Zugehörigkeit und Identität. Göttingen 1999. 21 ff.
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trachten wir das als Fundamentalismus. Ich würde diese fanatisch verhärtete Mentalität aus der Verdrängung kognitiver Dissonanzen erklären. Sie wird nötig, wenn man unter den kognitiven Bedingungen eines szientistischen Weltwissens und des weltanschaulichen Pluralismus, nachdem also die Unschuld der epistemischen Situation einer allumfassenden Weltperspektive längst verloren ist, die Rückkehr zur Exklusivität vormoderner Glaubenseinstellungen propagiert. Diese Einstellung erzeugt kognitive Dissonanzen, weil die komplexen Lebensverhältnisse in pluralistischen Gesellschaften normativ nur noch mit einem strengen Universalismus der gleichen Achtung für jeden vereinbar sind – seien es nun Katholiken oder Protestanten, Muslime oder Juden, Hindus oder Buddhisten, Gläubige oder Ungläubige.« 21 Lassen wir die schwierigen Fragen einer versäumten Nicht-Simultaneität von Moderne, eines »Bruchs einer Wertegemeinschaft« oder der Universalität oder Partikularität von Ansprüchen an dieser Stelle einmal beiseite, so zeigt sich doch, dass die gegenwärtigen Debatten um die Möglichkeiten und Verfehlungen von Frieden um dieses Primat der Würde kreisen. Unsere These besagt nun, dass darin jedoch eine entscheidende Komponente unterbelichtet ist, nämlich die sogenannten »Sprachen des Friedens«: Achtung ist immer ein relationales Konzept, das die Anrede des Anderen und das Geben eines geschuldeten Versprechens impliziert. Von daher ist bereits auf den elementarsten Ebenenen fraglich, was diese Sprachen des Friedens sein könnten und wie dabei der »Mensch« nicht verraten wird. Daher würde dieser Versuch sich in die bisher geforderten Modifikationen einer Reflexion über Frieden einreihen, aber diese auch weiter ausbauen. Dies beträfe zum einen die Forderung, dass das Ziel nicht die Abschaffung von Konflikten sein kann, sondern »die Transformation von Verhalten in Konfliktsituationen.« 22 Es bezieht sich auch auf die Idee, neue Konfliktbearbeitungsstrategien zu entwickeln, wie dies beispielsweise Dieter Senghaas mit einem »Zivilisierungsprojekt« vorschlägt.23 Nun ist jedoch höchst aufschlussreich, dass Habermas die Quelle für eine Gefährdung und Zerstörung von Frieden in einem speziJürgen Habermas. Westen. A. a. O. 18. Brock: Frieden. Überlegungen zu einer Theoriebildung. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 317–340, hier 327. 23 Dieter Senghaas: Frieden als Zivilisierungsprojekt. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 196–223. 21 22
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fischen Problem verortet, nämlich dem Scheitern sprachlicher Potentiale: »Die Spirale der Gewalt beginnt mit einer Spirale der gestörten Kommunikation, die über die Spirale des unbeherrschten reziproken Misstrauens zum Abbruch der Kommunikation führt.« 24 Diese Diagnostik ist nicht nur interessant, weil sie eine bisher vernachlässigte Dimension stärker ins Blickfeld rückt. Sie ist auch symptomatisch für eine Korrektur der Optiken, denn wenn wir bedenken, dass Konflikte aus einer mehrfachen Motivik heraus entstehen, und zwar moralisch formuliert aus Kämpfen um a) Güter, b) Interessen, c) Werte oder d) Optiken, so ist doch nicht zu leugnen, dass dem Sprachlichen ein genuiner Mehrwert zukommt. Ein Problem wie der Unfrieden kann zwar nur in Sprache analysiert und ausgedrückt werden, aber das Scheitern einer kommunikativen Auseinandersetzung und Verhandlung über Differenzen kann nicht mit einer operativen Sprache oder dem Instrument Sprache widerrufen werden, um Zustände der Gewalt zu beheben und Frieden zu reetablieren, wie Habermas dies suggeriert: »Wenn aber Gewalt mit Kommunikationsstörungen anfängt, kann man wissen, was schief gegangen ist und was repariert werden muss, nachdem sie ausgebrochen ist.« 25 Gemeinhin reichen Entschuldigungen, Erklärungen oder Versuche einer Diplomatie nicht, wenn gravierende konfliktuöse Zäsuren vorliegen. Habermas setzt die Grenzen von Sprache, die immanente Gewalt von Sprache (wie sie in Form von Metonomasien usw. vorliegt) und die Transzendierungspotentiale in ein bestimmtes Verhältnis, das eine Zweiteilung in eine Kommunikation als »Ausdruck latenter Gewalt« und eine Dimension friedlicher Kommunikation oberhalb dieser »gewaltsamen Assimilation an den Stärkeren« verschlägt (gemäß der Zweiteilung in strategische Perspektive oder Fokussierung auf einen Konsens). Er präsentiert dabei ein Modell von Frieden, das der »Hermeneutik der Verständigung« folgt. Prämisse dieses Modells ist eine doppelte Voraussetzung, zum einen eine komplette Symmetrie der Positionen, zum anderen die Zielanvisierung einer Verständigung jenseits der ursprünglichen Gewalt. Methode dieses hermeneutischen Friedens ist eine Perspektivverschiebung, die auf einer ersten Stufe die Einseitigkeit einer anfänglichen Deutung überwindet, indem die Dialogrollen von Sprecher und Adressat vertauscht werden und über eine Dezentrierung der eigenen Perspektive eine »Deckung« erreicht wer24 25
Jürgen Habermas: Westen. A. a. O. 23. Jürgen Habermas: Westen. A. a. O. 23.
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Antje Kapust
den kann: »Jeder kompetente Sprecher hat gelernt, wie er das System der Personalpronomina verwenden muss; zugleich hat er damit die Kompetenz erworben, im Gespräch die Perspektiven der ersten und der zweiten Person auszutauschen. In der Dynamik dieser gegenseitigen Perspektivübernahme gründet die kooperative Erzeugung eines gemeinsamen Deutungshorizontes, in dem beide Seiten zum Ergebnis einer nicht etwa ethnozentrisch vereinnahmenden oder konvertierten, sondern intersubjektiv geteilten Interpretation gelangen können.« Selektivität von Perspektiven oder das Problem, was überhaupt zur Sprache zugelassen wird und wie etwas repräsentiert wird, gehören zur »unvermeidlichen Fallibilität des endlichen Geistes«, nicht aber zum Problem von Diskursen, die Frieden gefährden, weil sie zu unaufhebbaren Inkompatibilitäten führen könnten. 26 Habermas betont, dass Verständigungsversuche nur mit Aussicht auf Erfolg gesegnet sind unter der Prämisse der »symmetrischen Bedingungen der gegenseitigen Perspektivübernahme«, da sie hilfreiche Zusatzkonstellationen wie den guten Willen oder die Abwesenheit von Gewalt, die beide nicht hinreichen, erweitern und folglich die Konstellation eines Unfriedens in Frieden überführen können: »Ohne die Strukturen einer unverzerrten, auch von latenten Machtbeziehungen freien Kommunikationssituation stehen die Ergebnisse immer im Verdacht eines Oktroys […]. Aber wenn man Kommunikation unter dieser Beschreibung ontologisiert, wenn man darin ›nichts als‹ Gewalt sieht, verkennt man das wesentliche: dass nur dem Telos der Verständigung […] die kritische Kraft innewohnt, Gewalt zu brechen, ohne sie in neuer Gestalt zu reproduzieren.« 27 Diese Prämisse einer »intersubjektiv geteilten Interpretation« spiegelt auch seine Position, mit der er die Ansätze von Friedenstheorien, die um den Aspekt des Dialogs kreisen, minimiert. 28 Gefragt nach einer stärkeren Notwendigkeit westlicher VerJürgen Habermas: Westen. A. a. O. 25. Wir werden sehen, wie sowohl eine responsive Philosophie wie auch die Theorie des Performativen eine Korrektur dieser Probleme veranschlagt. 27 Jürgen Habermas: Westen. A. a. O. 25. Es ist nicht ganz nachvollziehbar, was genau mit der »ontologischen Form« von Gewalt gemeint ist. 28 Hans Küng steht prototypisch für Philosophien, die Frieden als Dialog beschreiben. Die hier vorgestellten Überlegungen gehen von der These aus, dass ein Bewusstsein für das Menschliche und ein menschliches Alphabet als »Friedensform« nicht gleichbedeutend sind mit Empathie und daher nicht auf die Ansicht reduziert werden können, zu »friedlicheren Formen« eines Konfliktaustrags brauche es lediglich ein bisschen Moralisierung, Zivilisierung oder Humanisierung. 26
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nunft zu einer »interkulturellen Kommunikation« und den Grenzen einer »Theorie des kommunikativen Handelns«, antwortet er mit Verweis auf diese geteilten Annahmen: »Gerade weil unsere sozialen Beziehungen von Gewalt, strategischem Handeln und Manipulation durchzogen sind, sollten wir jedoch zwei andere Tatsachen nicht übersehen. Einerseits ruht die Praxis unseres täglichen Zusammenlebens auf einem soliden Sockel gemeinsamer Hintergrundüberzeugungen, kultureller Selbstverständlichkeiten und reziproker Erwartungen. Hier läuft die Handlungskoordinierung über eingewöhnte Sprachspiele, über wechselseitig erhobene und mindestens implizit anerkannte Geltungsansprüche – im öffentlichen Raum mehr oder weniger guter Gründe. Deshalb entstehen andererseits Konflikte, die, wenn die Folgen nur schmerzlich genug sind, beim Therapeuten order vor Gericht landen, aus Kommunikationsstörungen, aus Missverständnis und Unverständnis, Unaufrichtigkeit und Irreführung.« 29 Es mag seltsam anmuten, dass nach dem radikalen Bruch der Welt, der mit dem 11. September inauguriert wurde, diese Ausführungen ein relativ optimistisches und »weiches Bild« von Friedensmöglichkeiten zeichnen. Ihr Szenario beruht auf mehreren grundlegenden Bedingungen: a) einer »gemeinsamen Sprache« hinter dem »babylonischen Sprachgewirr«, b) dem einigenden Telos eines Willens, das durch die Mannigfaltigkeit der Ausdrucksformen hindurchscheint (»alle wollen letzten Endes dasselbe«), c) die Symmetrie der Sprecherpositionen, die die Gefahren der Agonalität überwinden hilft und zu einem »Jenseits« der Gewalt der Kommunikation führt und d) die Reversibilität der Perspektiven und die Fixierung von Friedensvermögen in dieser Perspektivübernahme. 30 Die Grenzen dieser Vision einer friedlichen Verständigungsgemeinschaft brechen jedoch an jenen Orten auf, die im weiteren Verlauf sichtbar werden und die hier bereits skizziert werden können: a) die »geteilten Sinnannahmen« brechen an der Inkompossibilität der Perspektiven, b) die Normativität von Frieden muss durch eine Motivation zum Frieden unterfüttert werden, c) diese kann aber nicht eingelöst werden, wenn bestimmte Figuren sich aus den Sprachspielen verabschieden, mithin zur einfachen Perspektivübernahme infolge ihres »Autismus« nicht bereit sind und d) die dialogischen Rollen sind auch im »Jenseits der Jürgen Habermas: Westen. A. a. O. 22 f. Siehe hierzu Alfred Hirsch: Der Dialog der Sprachen. Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Jacques Derridas. München, Paderborn 1995. 29 30
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Gewalt« nicht symmetrisch verteilt, sondern gehorchen der asymmetrischen Logik desjenigen, der entweder zum ethischen Antworten bereit ist oder der dieses Eintreten mit einem Bewusstsein für das Menschliche und die Achtung unter Beweis stellt.
4) Friedensfhigkeit als performatives Bewusstsein fr ein gefhrdetes Leben Diese Grenzen werden nun von Judith Butler mit der Kategorie des »gefährdeten Lebens« befragt, mithilfe derer sie in erster Instanz die Genealogie von Konflikten untersucht, die als Zustände extremen Unfriedens sichtbar werden, um anschließend »positive« Momente eines achtenden Friedens zu skizzieren, und zwar im Rekurs auf das »Theorem des ethischen Widerstandes«: Hier wird in der Kategorie der Ohnmacht ein »gefährdetes Leben« angedeutet, das jedoch gegen einen möglichen Verrat durch Tötung, Verfolgung oder Nichtachtung ethisch aufgefangen und gerettet wird. 31 Diese Kategorie ist einer methodischen wie auch einer faktischen Dimension geschuldet. Sie reiht sich epistemologisch in die Tradition der biopolitischen Studien ein, die die ererbten Vokabeln von zoé und bios in neuartige Kontexte transferieren und die sich durchaus für Friedensbestimmungen fruchtbar machen ließen. Dabei ist bemerkenswert, dass zwar ein spezifisches politisches Vokabular revidiert werden muss, um den Gegenwärtigkeiten Rechnung tragen zu müssen, jedoch auch hier ein »Primat der Würde« nicht aufgegeben werden kann: »Wenn wir den uns bevorstehenden, vollkommen neuen Aufgaben gewachsen sein wollen, werden wir uns möglicherweise dazu entschließen müssen, die Grundbegriffe, die für uns bislang die Subjekte des Politischen repräsentieren (wie der Mensch und der Bürger mit ihren Rechten, aber auch der Volkssouverän, der Arbeiter usw.), rückhaltlos aufzugeben und unsere politische Philosophie ausgehend von dieser einzigen Figur neu aufzubauen.« 32 Agambens Abweisung der KaJudith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a. M. 2005. 24, 34. Fragen wie jene, wie die Welt in ihre jetzige Form gekommen ist, die Frage »Welchen Preis ist das Leben wert?« und die Versäumnisse einer Politik des Friedens artikuliert auch André Glucksmann in Krieg um den Frieden, Berlin 1998, 109. 32 Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg, Berlin 2001. 24. Agamben meint die Kategorie des Flüchtlings, die er im Anschluss an den 1943 von Hannah Arendt formulierten Text »We refugees« gewinnt. 31
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tegorie »Mensch« soll unsere Überlegungen nicht beeinträchtigen, da wir uns wohl mit Voltaire und anderen Autoren der Gefahren und Ambivalenzen bewusst sind, allerdings auch von der Leitlinie ausgehen, dass es Frieden nur von Menschen für Menschen geben kann und man daher um ein »Menschliches« nicht herumkommt. Die verschiedenen Perspektivierungen (wie z. B. als Flüchtling, als Zeuge, als Überlebender usw.) wären Aufgabe eines anderen Textes. Selbst Agamben kommt jedoch mit diesem Radikalschlag nicht um einen »Angelpunkt wie Würde« herum, was er indirekt in dem Moment zugesteht, in dem er Levis Motivation zur Zeugenschaft des Holocaust rekonstruiert. 33 Es ist bemerkenswert, dass sich auch Butler dieses Angelpunktes nicht entziehen kann, ihn jedoch in modifizierter Form anbietet, nämlich mit der Levinasschen Figur des Antlitzes. Zunächst jedoch soll eine Analyse des gefährdeten Lebens die Perspektivik dahingehend hinterfragen, dass auch Formen einer akzeptierten, banalisierten und selbstermächtigten Gewalt hinterfragt werden und das Politische durch eine Ethik korrigiert und erweitert wird, die den Versuch einer Rückorientierung an friedlichere Verhältnisse unternimmt: »Sind wir, strategisch gesprochen, nicht daran interessiert, diese Gewalt zu reduzieren? Sind wir, ethisch gesprochen, nicht dazu verpflichtet, ihre Weiterverbreitung zu unterbinden, über unsere Rolle bei der Anstiftung zur Gewalt nachzudenken und ein anderes Gefühl für eine kulturelle und religiös vielfältige und globale politische Kultur zu fördern und zu kultivieren?« 34 Methode dieser Reflexion ist ein doppeltes Verfahren, nämlich auf der einen Seite die Dekonstruktion der sprachlichen Verfehlungen von Frieden und auf der anderen Seite eine konstruktive Verortung friedensförderlicher Potentiale mittels einer Praxis von Dezentrierungen, die in das Projekt einer Ethik einmünden. Bereits der Übergang von einem relativen Frieden in einen Unfrieden der Gewalt verdankt sich eminenten Befunden einer Schließung sprachlicher Räume, z. B. durch Zensur, öffentlichen Druck, Erzeugung von Angst usw., die nicht nur den Status eines »ernstzunehmenden sprechenden Subjektes« gefährden, sondern die eine Praxis der Grenzziehung einrichtet, die »umschreibt, was aussprech-
33 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2003. 34 Judith Butler: Leben. A. a. O. 25.
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bar ist und was lebenswert ist«. 35 Diese Schließung hat gravierende Folgen für die »Konfiguration« des öffentlichen Raumes, der nun von einer versäumten und verfehlten Repräsentation gefährdeter Gruppen betroffen ist: »Die öffentliche Sphäre wird zum Teil von dem gebildet, was in Erscheinung treten kann, und die Regulierung der Sphäre des Erscheinens ist ein Mittel, um das zu etablieren, was als Realität betrachtet wird und was eben nicht. Es ist auch eine Form festzulegen, wessen Leben als Leben gekennzeichnet werden kann und wessen Tod als Tod zählen wird.« 36 Kontrastiv setzt beispielsweise Bethke-Elshtain in diesem Raum die Rechtfertigung von »Krieg gegen Terror« an, selbst wenn dieser Krieg auf der Figur einer Selbstermächtigung beruht. 37 Um dieses Abgleiten in Krieg zu verhindern, befragt Butler die zugehörigen öffentlichen Sprachmuster. Untersucht werden Metonymien (zum Beispiel die Verschiebung vom Vokabular der Zivilisation zu einem Vokabular der Barbarei 38 ), doppelte Logiken (dass der Ausdruck »terroristisch« von bestimmten Gruppen zu bestimmten Zwecken verwendet wird, aber die eigenen Gewaltakte gleichzeitig ausgeblendet werden 39 ), oder die ungleichen Benennungen und Verteilungen signifikativer Differenzen: ein blutendes Kind oder eine Leiche wird nicht mehr in der Sprache des Schmerzes attestiert, sondern als tragischer Fehler von Präzisionswaffen bezeichnet. 40 Beispiele dieser Judith Butler: Leben. A. a. O. 15 f. Auch Habermas beschreibt sein Befremden über Phänomene der Einschränkung von Sprach- und Meinungsfreiheit als Übergang von Frieden zu einer Politik der Drohung: »Für einen europäischen Beobachter und ein gebranntes Kind wie mich war die systematisch betriebene Einschüchterung und Indoktrinierung der Bevölkerung und die Einschränkung des Spektrums zugelassener Meinungen in den Monaten Oktober/November 2002, als ich in Chicago war, irritierend. Das war nicht mehr ›mein‹ Amerika.« (Jürgen Habermas: Westen. A. a. O. 96). 36 Judith Butler: Leben. A. a. O. 16. Eng verknüpft mit der Biopolitik ist das Motiv des »Tod geben« und der Verfügung, die den Begriff von Souveränität modifiziert. 37 Jean Bethke-Elshtain: Just War against Terror. The Burden of American Power in a Violent World. New York 2003. Insbesondere in den Reflexionen zu »Problemen mit dem Frieden« untersucht Bethke-Elshtain die Frage, welche Konsequenzen sich für den Friedensbegriff ergeben, wenn die Situation als Inkompossibilität verschiedener Rollen im Sprachspiel Frieden aufgefasst wird, und zwar als Inkommensurabilität zwischen dem »Eroberer«, dem Vertreter des »Gerechten Krieges« und dem »Pazifisten«, die jeweils auf ihre Weise »Frieden anvisieren, aber dabei mit unterschiedlichen Friedensbegriffen operieren (Jean Bethke-Elshtain: War against Terror. A. a. O. 125 ff.). 38 Judith Butler: Leben. A. a. O. 19. 39 Judith Butler: Leben. A. a. O. 21. 40 Judith Butler: Leben. A. a. O. 23. 35
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Art gehören zum klassischen Repertoire menschlicher Verfehlungen, daher begnügt Butler sich nicht mit dieser Aufführung, sondern lenkt den Blick auf einen entscheidenden Sachverhalt. Um zu friedlicheren Formen einer Koexistenz gelangen zu können, muss die Ebene bloßer Argumente, traditioneller Kategorien und eingespielter Sinnannahmen zugunsten anderer »Empfindsamkeiten« überschritten werden, die eine Achtung der Würde des Anderen in Begriffen der Berücksichtigung seines gefährdeten und zu revidierenden Status beschreiben: »[…] herrschende Darstellungsformen [müssen] aufgebrochen werden […], damit etwas von der Gefährdung des Lebens erfasst wird. Dies wiederum hat Folgen für die Grenzen, die festlegen, was im öffentlichen Leben in Erscheinung treten wird und was nicht, die Grenzen eines öffentlich anerkannten Feldes des sichtbaren Erscheinens. Diejenigen, die gesichtslos bleiben oder deren Gesichter uns als so viele Symbole des Bösen präsentiert werden, ermächtigen uns, empfindungslos zu werden bei all den Menschenleben, die wir ausgemerzt haben und deren Betrauerung unendlich aufgeschoben wird. Bestimmte Gesichter müssen dem Blick der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, müssen gesehen und gehört werden, wenn ein verschärfter Sinn für den Wert des Lebens, allen Lebens, Verbreitung finden soll.« 41 Einen ähnlichen Impetus verfolgt der Pragmatismus des »liberalen Gemeinwesens«, jedoch unter Radikalisierung der Sprachspiele, die auch die Kraft einer Vokabel wie Frieden betreffen.
5) Frieden als Vermeidung von Grausamkeit und Demtigung Für den amerikanischen Pragmatisten Richard Rorty würden die Vokabeln »Würde« und »Frieden« noch dem »abschließenden Diskurs« der Metaphysik angehören, den er unter der Position des historistischen und nominalistischen Gestus des liberalen Ironikers ablehnt. Im Zentrum des ironischen Denkens steht daher »Kontingenz«. Gleichwohl soll die Zentrierung aller Überlegungen um den Schlüsselbegriff der Kontingenz nicht zu einem unreflektierten Relativismus oder indifferenten Kulturalismus verleiten. Die Möglichkeit von Frieden wird unter der Pluralität inkommensurabler Sprachspiele ausgetestet werden müssen, in der sich nicht die Kraft des Stärkeren 41
Judith Butler: Leben. A. a. O. 14.
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durchsetzt. Genealogisch wird die erste Schicht aus dem Rekurs auf eine Idee von Gerechtigkeit gewonnen, die er in bemerkenswerter Weise als Aufgabe aus der platonischen Erbschaft übernimmt, nämlich durch die Frage »Warum liegt es im eigenen Interesse, gerecht zu sein?« 42 Die anvisierte Gerechtigkeit wird dabei als spezifische Form der »Achtung« anderer Menschen verstanden, die ebenfalls nicht in positivistischer Manier, sondern ex negativo beschrieben wird. Kernstück eines friedlichen Miteinanders wäre mithin die Vermeidung des schlimmsten Übels, das nicht nur alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit treffen kann und daher verbindet, sondern von den meisten auch als Übel wahrgenommen und empfunden wird (die Ausnahmen werden noch genannt werden). Zur Beschreibung dieses »gemeinsamen Bandes« geht Rorty auf die amerikanische Philosophin Judith Shklar zurück, die in ihrer politischen Philosophie davon ausgeht, dass »Grausamkeit das Schlimmste« sei, was Menschen widerfahren kann. Als ethisches Postulat könnte daher die Aufgabe formuliert werden, »harte« und »weiche« Grausamkeiten zu vermeiden. Rorty konkretisiert diese Grausamkeiten im Terminus von Würdeverletzung, die er in der These resümiert, dass das Gemeinsame aller Menschen in der Tatsache bestünde, dass sie gedemütigt werden können. Aufgabe eines Liberalismus wäre daher die Vermeidung dieser Demütigungen und die Notwendigkeit, die Fähigkeit von Menschen auszubilden, diese potentiellen Erfahrungen als Leiden des Anderen wahrnehmen und vermeiden zu können: »In meiner Utopie würde man Solidarität nicht als ein Faktum verstehen, das erst durch das Ausräumen von ›Vorurteilen‹ oder durch den Vorstoß in vorher verborgene Tiefen erkennbar wird, sondern als ein anzustrebendes Ziel. Es ist nicht durch Untersuchung, sondern durch Einbildungskraft erreichbar, durch die Fähigkeit, fremde Menschen als Leidensgenossen zu sehen. Solidarität wird nicht entdeckt, sondern geschaffen. Sie wird dadurch geschaffen, dass wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, uns nicht vertrauter Arten von Menschen steigern. Diese gesteigerte Sensibilität macht es schwieriger, Menschen, die von uns verschieden sind, an den Rand unseres Bewusstseins zu drängen, indem wir denken: ›Sie empfinden nicht so wie wir‹, oder: ›Leiden muss es immer geben, warum sollen sie nicht leiden?‹« 43 Dieser Gedanke 42 43
Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M. 1992. 11. Richard Rorty: Kontingenz. A. a. O. 16 f. (meine Hervorhebung). Zum Schmerz (auch
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berührt sich mit Überlegungen anderer Theoretiker. So verwendet Michael Ignatieff dieses Element, um eine Emanzipation von (religiösen) Partikularismen hin zu einer »universalen Erfahrung« zu beschreiben. In seiner Perspektive kann aus der »menschlichen Anfälligkeit für Schmerz und Grausamkeit« der Rahmen einer universalistischen Ethik gewonnen werden, insofern zwar auf der einen Seite gemäß der Differenztheorie der Anerkennungspolitiken die Unterschiede zwischen Kulturen, in dem »was sie achten und schätzen«, respektiert werden können, aber doch auf der anderen Seite ein gemeinsames Band zwischen den Kulturen als Leitfaden einer Politik des Friedens vorausgesetzt werden kann, insofern »alle Kulturen Schmerz und Leid eine ähnliche Bedeutung bemessen. Unter dem Besonderen das Allgemeine entdecken, unter der Differenz die Identität, dies ist der moderne Glaube, auf dem humanitäres Recht beruht.« 44 Die pragmatische Konzeption versteht sich im Anschluss an Davidsons Sprachphilosophie als historistisch imprägniertes und nominalistisch konzipiertes Sprachspiel, da der Rekurs auf universale Begründungs- und Rechtfertigungsstrategien abgewiesen wird. Dafür gibt es »handfeste Gründe«, denn was die gewalttätige Verfolgung und Verletzung des Anderen möglicherweise verhindert und auch präventiv unterläuft, sind weder sokratisch ererbte Definitionen des Menschen und seiner Attribute (etwa eine inhärente Menschenwürde in Form von Gottebenbildlichkeit), keine normativen Universalien oder Geltungsansprüche und keine Rechtfertigungsund Begründungsstrategien für eine deontologische oder utilitaristisch vertretene Agentenschaft, sondern die »Verpflichtung« auf eine »menschenwürdige Koexistenz mit anderen«, die als Frage nach einer spezifischen Solidarität umkreist wird, nämlich warum einen der Schmerz des Anderen bekümmern solle. Methodisch wird argumentiert, dass eine nachmetaphysische Position, die nicht in das Dilemma eine abschließendes Vokabulars fallen will, idiomatisch »argumentieren« muss, also innerhalb eines bestimmten Sprachspiels, dass Optionen nur wie »Flaggen« anzeigen mit Blick auf Würdeverletzungen wie der Erniedrigung, siehe 72, 79, 117), zur Grausamkeit (siehe 229–304), zur pragmatischen »Rhetorik eines moralischen Privilegs« des Liberalismus, der zur Vermeidung von Schmerz-Zufügungen fähig wäre, (siehe 30, 50 f., 72, 77, 81, 93 f.) 44 Michael Ignatieff: Die Zivilisierung des Krieges. Ethnische Konflikte, Menschenrechte, Medien. Hamburg 2000. 187 ff.
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kann. Pragmatisch wird argumentiert, dass um der Vermeidung eines Leerlaufens von Normativitäten willen, die ihren Obligationscharakter verlieren, eine andere Quelle von »Verpflichtung« angegeben werden muss, hier die sich im Rahmen einer Einbildungskraft abspielende Empfindsamkeit für die Leiden des anderen. Philosophisch wird argumentiert, dass, wenn sich der Rekurs auf Metaphysiken verbietet, gleichwohl aber »Verpflichtungen« zur Achtung des Anderen bestehen, diese nicht positivistisch gewonnnen und eruiert werden können, sondern sich aus der »Überzeugungskraft« eines »besseren Idioms« ergeben. Dieses »bessere Idiom« ist für Rorty das einer friedlichen Demokratie, in der nicht nur die Menschenrechte, sondern auch die Freiheiten des Einzelnen gewahrt werden. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um ein relativistisches und kulturspezifisches Ideal einer »eurozentrischen Vernunft«, sondern um eine Haltung, die bestimmte Optionen des Handelns (Was wollen wir, was sollen wir?) auf einer ersten Stufe ex negativo gewinnt, nämlich aus der Einsicht, dass die erste »Aufgabe« einer privaten und öffentlichen Moral in der Vermeidung von Übeln besteht. Diese erste Stufe wird nun auf einer zweiten Stufe von Frieden konkretisiert: Mit der Vermeidung würdeverletzenden Verhaltens geht die politische Aufgabe einher, die Selbsterschaffung eines Menschen zu ermöglichen. Diese »Zielbestimmung« geht deutlich über Positionen hinaus, die Frieden in der Verbesserung bestimmter Zustände fixieren, beispielsweise in der Linderung von Armut (man erinnere sich an die Diskussion um die Genealogie des modernen Terrorismus und den Stellenwert von Armut und sozialer Ungleichheit in diesem Rahmen). Rorty verbindet die elementarste und »unterste« Ebene des Menschlichen mit der höchsten Ebene von Freiheit und Zivilisation. Die elementarste Ebene beruht auf der Annahme, dass alle Menschen Erfahrungen wie Schmerz und Demütigung teilen (können), ihnen ausgesetzt sein können und davon in Mitleidenschaft gezogen werden. Daher stellt diese »fleischlich« und leibhaftig gemachte Erfahrung ein »gemeinsames Band« zwischen Menschen her, dessen Wahrnehmung und Respektierung auch eine Art »sozialen Leim« garantieren kann, der möglicherweise ein »festeres Band« darstellt, als es Universalien oder universale Geltungsansprüche sein können, die permanent vom Hiatus zwischen Faktizität und Idealität bedroht sind. Es stellt zudem ein Band dar, dass (hypothetisch) zwischen allen Kulturen geteilt und verstanden werden kann, selbst wenn die einzelnen Interpretationen und Deutungen voneinander abweichen – 354 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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eine Differenz, aus der sich friedenspolitisch wiederum die Aufgabe einer Übersetzung zwischen den einzelnen Charakteren und die Rücksichtnahme auf den Schmerz des Anderen ergibt. 45 Diese pragmatische Wendung böte daher zumindest eine Aussicht, Frieden auch interkulturell jenseits des unergiebigen Streites von Universalismus und Partikularismus wie auch jenseits der Aporien von Inkompossibilität und Inkommensurabilität zu denken. Der negative Annäherungsversuch evoziert zudem nicht nur Assoziationen an mittelalterliche Denkversuche, die den Frieden mit »Schonen« umschrieben haben, 46 sondern zeigt auch eine strukturelle Ähnlichkeit zu einer Friedenskonzeption des ethischen Widerstandes, die ein Enthalten von einer Usurpation eines gewalttätigen Zugriffs in den Mittelpunkt des prophetischen Gebotes »Du wirst mich nicht töten« stellt. 47 Eine Phänomenologie des ethischen Widerstandes und ein Pragmatismus der Achtung des Anderen berühren sich an diesem Punkt. Als gewaltsam wird eine Handlung bezeichnet, bei der man handelt, als sei man allein auf der Welt und als sei der Rest der Welt nur existent, um diese Gewalt in Empfang zu nehmen. 48 Gemeint ist die vollständige Expansion des Eigenen unter Missachtung des oder der Anderen. Mit dieser Bestimmung ließe sich beispielsweise auch der gegenwärtige Zustand einer unangefochtenen Hegemonie einer Supermacht beschreiben, die sich über alle Schranken, Grenzen und Regeln hinwegsetzt und Ansprüche Anderer missachtet. 49 Möglicherweise könnte diese Position den Eindruck hinterlassen, nicht mehr als eine Minimaldefinition von Frieden anzubieten, 45 Auf die Frage, inwiefern Rorty hier nicht einen Rest an Metaphysik »einschmuggelt«, und zwar auf der Ebene des Gesagten (alle Menschen) wie auch auf der Ebene des Sagens (Anbieten eines Sprachspiels, das wie das Sprachspiel eines abschließenden Vokabulars formuliert ist, gegen das sich Rorty wendet), können wir hier nicht weiter eingehen. Es soll aber als Problem zumindest angedeutet sein. 46 Siehe Wilhelm Jansen: Friede. Zur Geschichte einer Idee in Europa. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 227–295, hier 227 ff. 47 Dieses Motiv wird von so unterschiedlichen Autoren wie Butler und Waldenfels diskutiert. 48 Emmanuel Levinas: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Frankfurt 1992. 18. Siehe auch von Pascal Delhom: Der Dritte. Levinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit. München, Paderborn 2000. 110 ff. 49 Sibylle Tönnies zufolge führt dieses »Wegreißen« des Völkerrechts zurück in den status naturalis, siehe: Über Menschenrechte, Völkerrecht und Weltstaatsphobie. In: Konrad Paul Liessmann (Hg.): Der Vater aller Dinge. Nachdenken über den Krieg. Wien 2001. 194–206.
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die sich auf die Würdebestimmung eines »Katalogs der Grausamkeiten« zurückzieht, die unbedingt vermieden werden müssen. Man könnte jedoch auch das Anliegen in eine andere und stärkere Perspektive bringen. Dies wäre der Fall, wenn man die Frage aufwerfen würde, wieviel bereits für den Frieden gewonnen wäre, wenn diese minimale, aber evident »produktive« Haltung realpolitisch in ein friedliches Miteinander zwischen Menschen Eingang gefunden hätte oder wenn alle Menschen die Friedensmöglichkeiten einer solchen Vision teilen würden, und zwar als geteilte »gemeinsame Sinnannahme« trotz aller partikularen Trennungen. Die Bedeutsamkeit dieses Minimalismus würde sich in dem Moment erhellen, wenn zugestanden werden muss, dass selbst diese Annahme nicht von allen geteilt wird und daher auch dieser Frieden eminent gefährdet ist. Friedensbrecher betreiben nämlich ein Sprachspiel, das sich diesen Prämissen einer elementaren Vermeidung der Übel von Schmerzzufügung und Demütigung widersetzt. Diese Verweigerungen eines Konfliktaustrags werden daher nun in einem letzten Anlauf mit der Theorie einer responsiven Philosophie ins Auge gefasst.
6) Responsive Mglichkeiten oder Verfehlungen eines Friedens Es ist unbestreitbar, dass zahlreiche Facetten eines Unfriedens unsere gegenwärtige Zeit durchziehen. 50 Es könnte durchaus aber auch die Frage aufgeworfen werden, ob für die aktuellen Zustände von Unfrieden nicht nur die asymmetrischen Strukturen von Privatisierung und Ökonomisierung von Kriegen »haftbar« gemacht werden können, oder ob nicht eine als gleichermaßen wirksam anzusetzende Quelle in den verstärkt aufbrechenden Asymmetrien der moralischen Sprachen zu verorten wäre. 51 Um dieses Problem thematisch angehen zu können, wird eine doppelte Überlegung zwischengeschaltet. Erstens wird die Figur des Friedensbrechers (der warlord Siehe hierzu das Schema und die Analysen von Egbert Jahn in: Ein bisschen Frieden im ewigen Krieg? Zu den Aussichten auf einen dauerhaften Weltfrieden am Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Astrid Sahm, Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.): Die Zukunft des Friedens. Eine Bilanz der Friedens- und Konfliktforschung. Wiesbaden 2002. 51–82, hier 58. 51 Damit wären die Theorien um die Differenz von »alten und neuen Kriegen« um einen anders gearteten Aspekt erweitert. Siehe zu ersterem Ansatz exemplarisch von Herfried Münkler die bereits klassische Studie: Die neuen Kriege. Hamburg 6 2004. 50
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usw.) als Typus eines Autisten interpretiert, der sich gegen jedes »Zureden zum Frieden« sperrt. Diese Figur wird in die Formen des Immoralisten oder sogar des Amoralisten übersetzt, der sich in Gegenposition zu jedem Argument setzt, sich einem moralischen Handeln verweigert und sich diesen Sprachspielen sogar entzieht. 52 Diese Geste eines Friedensbruchs bekundet sich als Verweigerung einer »Verpflichtung«, die einer Motivation folgen würde. Normalerweise geht die Frage, was geboten ist (Friedenszustand), implizit von der Annahme aus, dass ein grundsätzliches Interesse und eine Bereitschaft zum Frieden gegeben sei und dass auch die Bereitschaft, die entsprechenden Regeln zu befolgen, nicht in Abrede gestellt werden muss. Bedrohlich wird folglich die Ablehnung des Moralischen selbst. Gerade diese Ablehnung manifestiert sich jedoch immer stärker in zahlreichen Formen von Unfrieden (Zerfall von Staatlichkeit, Unmenschlichkeit der Verfolgung usw.). Dem Friedensbrecher ist mit bloßen Argumenten nicht beizukommen, daher stößt die Theorie des kommunikativen Handelns hier an ihre Grenze (was Habermas durchaus zugesteht). Es wäre bedenkenswert, die Formen und Grundlagen eines »responsiven Verhaltens« zu untersuchen und zu klären, welche Rolle den sprachlichen Potenzen zukommt. Diese Notwendigkeit wird in normativen Akklamationen nicht gelöst, selbst wenn diese ebenfalls auf eine Politik der Würde rekurrieren, insbesondere jene der Anerkennung: »Die aktuell immer größer werdende Bedeutung des interkulturellen Dialogs besteht nicht allein in der Kenntnisnahme und Anerkennung der Unterschiede, sondern in der Kommunikation selbst, im Ringen um Verständigung […].« 53 Befragt wird daher, was friedenspolitisch betrachtet passiert, wenn die Option für Frieden zugunsten eigener Sprachen abgewertet wird (seien sie nun Sprachen des Interesses, der Ökonomien, der Privatisierung von Gewalt usw.). Das Geschehen einer Verweigerung von Frieden beruht dabei auf der fundamentalen und elementaren
52 Aus diesem Grunde sind auch nicht die Fragen nach einem regelkonformen Handeln primär, sondern die Fragen nach dem Motivationscharakter, hier die Fragen nach einer Motivation zum Frieden, die diesem dem Vorzug vor anderen Optionen erteilt. Siehe von Kurt Bayertz: Warum überhaupt moralisch sein? München 2004. 53 Wolfgang Thierse: Grundwerte für eine gerechte Weltordnung, Frankfurt a. M. 2003. 13. In Ablehnung gegen Theorien, die Frieden um den Motivkomplex »(Frei)-Handel« verorten, geht er von der Prämisse aus, dass Frieden nur in einer »menschenwürdigen Welt« möglich sein könne (Wolfgang Thierse: Grundwerte. A. a. O. 11)
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Geste einer Missachtung des Menschen. Erst diese Verweigerung fungiert als Voraussetzung für jene Mechanismen, die als Ökonomisierung oder Privatisierung von Gewalt gefasst werden können. Die Typen der Abweichung und Verweigerung könnten mithin mit den Mitteln einer responsiven Philosophie analysiert werden. Dabei soll zunächst angesprochen werden, was »responsiv« hier überhaupt bedeutet. Das Motiv der Responsivität zielt zunächst auf die beiden zentralen Kategorien von Phänomenologie und Hermeneutik, nämlich Intentionalität und Sinn, die einer grundlegenden Revision unterzogen werden. Von dieser Revision sind Kommunikativität und Regularität berührt. Als »responsiv« gilt dasjenige, was jenseits von Sinn und Regel ist und worauf geantwortet wird. Es gilt als dasjenige, was a) über eine Regel hinausgeht, was b) nicht der Norm unterliegt und was c) nicht vollständig in einem Sinn aufgeht. Unter Response wird jedoch nicht lediglich eine »einfache« Antwort auf eine gestellte Frage verstanden, da es nicht um ein Modell von Leere und Fülle geht. Im Vordergrund steht vielmehr der Gedanke, dass auch schon die Frage eine Art Antwort auf eine Herausforderung darstellt. Die Philosophie der Responsivität wird dabei von der Sprache aus entwickelt, wird jedoch auf die bisher genannten Bereiche und Dimensionen umgewendet und »durchkonjugiert«, z. B. als Responsivität zwischen dem Eigenen und dem Fremden bis hin zu einem Responsorium der Sinne. Dies ist insofern bedeutsam, als mit der Fassung »Eigenes und Fremdes« die interkulturellen Dimensionen eines Fremden erfasst werden können, die die pragmatischen Überlegungen zu Schmerz und Grausamkeit erweitern. Der ethische Ertrag dieser Überlegungen kann auf den Prüfstand gesetzt werden, wenn man es mit dem hier vorliegenden Problem konfrontiert, und zwar der Verweigerung der Erfüllung von Obligationen (zum Frieden). Dies ist wie bereits angedeutet bei Figuren des Immoralisten und des Amoralisten der Fall, die sich wie oben gezeigt schwerlich mit Argumenten überzeugen lassen und sich dem Diskurs wie auch jeglichen Ansprüchen entziehen. Die klassischen Theorien können auf das Problem dieser Friedenverweigerer entweder nur mit den moderaten Handlungsformen von Sanktion und Repression oder mit den schärferen Interaktionsmustern von Krieg antworten. Beide Spielarten gehen jedoch der Frage aus dem Weg, warum der Frieden schon im Vorfeld einer sprachlichen Auseinandersetzung scheitert und worin der Beitrag einer Struktur des aufgekündigten »Dialogs« 358 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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durch die Verweigerung eines Hörens und Antwortens zu diesem Unfrieden besteht. Im Rahmen einer responsiven Philosophie wird durchaus zugestanden, dass das Antworten misslingen und die Responsivität in »Irresponsitivität« und Unverantwortlichkeit umschlagen kann, denn das »Weghören und Überhören, das Wegsehen und Übersehen begleitet das Hören und Sehen wie einen Schatten«. 54 Doch dieses Weghören hat weniger mit dem Hören selbst zu tun, sondern mit dem Vernehmen eines Anspruchs und dem Antworten darauf. Daher bezieht sich das Hören als verbale Perzeption auf ein Gesagtes, 55 doch erst auf einer »zweiten Stufe« kommt ein »antwortendes Hinhören« ins Spiel: Zwar hat niemand wirklich etwas gesagt im Sinne einer Präsentation eines Aussagegehaltes, und doch besteht ein Anspruch, wobei das Hören eine anfängliche Form des Antwortens darstellt: »Wir antworten nicht auf das, was wir hören, sondern wir antworten, indem wir etwas hören.« 56 Daher spricht Waldenfels mit Husserl von einem antwortenden Hinhören oder Hinsehen. 57 Relevant ist daher nicht primär das »was« als der noematische Gehalt, sondern das modale »wie«. Dieser Modus wird jedoch nicht im Sinne einer Präferenz aufgefasst, sondern mit dem Motiv des Außerhalb verknüpft, denn »etwas beginnt außerhalb seiner selbst«. »Ein Antworten, das aus dem Anhören kommt, beginnt außerhalb seiner selbst, und zwar derart, daß dieses Außen zum Antworten gehört.« 58 Doch kann in Abweichung von dem vom Autor Gesagten das Ungesagte in den Antwortregistern stärker hervorgehoben werden, indem das Motiv des antwortenden Hörens mit ethischen Grundfragen verknüpft wird: »Wenn unsere bisherigen Annahmen sich bewähren, kann die Grundfrage nun nicht mehr lauten: Was soll ich tun? Diese Frage, die durch die Angabe von Zielen und Normen beantwortet zu werden pflegt, kommt stets zu spät, wenn wir von einem Anspruch ausgehen, der uns selbst in Frage stellt. Die Grundfrage kann deshalb auch nicht lauten: Soll ich antworten oder nicht? Oder: Worauf soll ich antworten? Auf diese Weise würde man das Antworten selbst als ein Tun behandeln, dessen Initiative bei uns Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt a. M. 1998. 576, 250. Bernhard Waldenfels: Antwortregister. A. a. O. 244. 56 Bernhard Waldenfels: Antwortregister. A. a. O. 250/259. 57 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. 3. Teil 1929–1935. Husserliana. Bd. XV. Den Haag. 462. 58 Bernhard Waldenfels: Antwortregister. A. a. O. 251. 54 55
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liegt. Das Antworten wäre kein Antworten mehr, denn dies kommt mit unaufholbarer Verspätung aus dem Hören des fremden Anspruchs. Die Frage, die aus der Infragestellung erwächst, kann höchstens lauten: Was und wie soll ich antworten? Wäre jede Antwort gleich gut, so wäre sie keine Antwort mehr, die an Gesagtes anknüpft und auf fremde Angebote eingeht; gäbe es nur eine richtige Antwort, so wäre die Antwort keine Antwort mehr, die erwidert. Wir erreichen hier den Punkt, wo eine Antwort als Antwort erfunden wird und sich zur kreativen Antwort steigert.« 59 Eine Verfehlung des Hörens ließe sich daher als Negation bzw. als Verweigerung eines Anspruchs lesen, so auch des Anspruchs des Friedens oder zum Frieden. Sie bedeutet keine Negation, die einen propositionalen Gehalt betrifft. 60 Es können drei verschiedene Modalitäten von Verweigerung auseinander gehalten werden. Eine Unterlassung, die sich a) auf ein Angebot von Möglichkeiten bezieht, kann als Ablehnung bezeichnet werden, eine Unterlassung, die sich b) auf eine bittend vorgetragene Aufforderung bezieht, gilt als Abweisung, und eine Unterlassung und die sich c) auf eine befehlsartig vorgetragene Aufforderung bezieht, ist eine Verweigerung. 61 Die beiden letztgenannten Modalitäten charakterisieren jedoch jene Verhältnisse, die eine Kooperation zugunsten polemischer Konfrontationen aufkündigen. 62 Die Verweigerung bezieht sich nicht nur auf ein »was«, sondern auf ein Antlitz, das hier in der subjektiven Form von Personalität beschrieben wird: »Den Terminus Verweigerung gebrauchen wir generell für die Akte der praktischen Verneinung, mit dem jemand sich weigert, etwas Bestimmtes anzunehmen oder zu tun […]. Die Verweigerung ist eine Art von praktischer Durchstreichung. Doch anders als im Falle der puren Negation wird nicht bloß etwas negiert, sondern es wird jemandem etwas verweigert.« 63 Schließlich kann die Verweigerung auch eine Steigerungsform annehmen, die zu einem Abbruch des Dialogs führt. Diese letzte Stufe wird erreicht, wenn nicht eine bestimmte Antwort, sondern das Antworten überhaupt verweigert wird. Diese Verweigerung des Antwortens im strikten Sinne bezieht sich nicht mehr auf einen bestimmten Bernhard Waldenfels: Antwortregister. A. a. O. 576. Bernhard Waldenfels: Antwortregister. A. a. O. 362. 61 Bernhard Waldenfels: Antwortregister. A. a. O. 364. 62 Siehe stellvertretend hierzu Julian Nida-Rümelin: Demokratie als Kooperation. Frankfurt a. M. 1999. 63 Bernhard Waldenfels: Antwortregister. A. a. O. 364. 59 60
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»Sprachen« des Friedens
Anspruch, sondern auf »den Anspruch als solchen.« 64 Mithin liegt mit dieser Haltung ebenso ein Verrat des Menschlichen vor. Genau an diesem Punkt müsste eine Philosophie der Sprachspiele ansetzen, die nicht nur a) die Frage klärt, welche Typen von Sprechern und Adressaten verknüpft sind (Skeptiker, Fatalisten, Nihilisten, Realisten usw.), die b) Formen verschiedener Konstellationen untersucht (Widerstreit und Imkompossibilität), sondern auch die c) grundlegende Frage untersucht, die jede Philosophie der Begründung überschreitet, nämlich die nach dem »warum des moralischen Seins«, also nach dem Obligationscharakter. Daher müssen die grundlegenden Gesten einer Vermeidung von Übel (Schmerz und Demütigung) in eine noch elementarere Bereitschaft zurückgestuft werden, nämlich die Bereitschaft, dem Anderen im Adressieren auch zuzuhören. Aus dieser Geste der Öffnung als Grundgeste von Frieden überhaupt kann der Zerfall der disjunktiven Sprachspiele in die Gewalt unterlaufen werden. In diesem Sinne sagt auch Barth, dass das Ohr noch »lange kein menschliches Ohr« sei, wenn es die Selbstkundgabe des Anderen nicht entgegennehmen kann. 65
Bernhard Waldenfels: Antwortregister. A. a. O. 365. Karl Barth: Mensch und Mitmensch. Die Grundform der Menschlichkeit. Göttingen 1962. 55 ff. (meine Hervorhebung). Zum »Autismus« als Verweigerung dieses Gehörs siehe meine Ausführungen in: Der Krieg und der Ausfall der Sprache. München 2004. 118–124. 64 65
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Das Wagnis des Vertrauens Pascal Delhom
1. Der Frieden als gemeinsame Aufgabe Frieden ist weder ein Zustand noch ein Ereignis. Er ist eine Möglichkeit des Zusammenlebens und eine Form der Beziehung zwischen Menschen, zwischen Gruppen und zwischen den einzelnen Menschen und den Gruppen, in denen sie sich befinden. 1 Als Form der Beziehung ist der Frieden nie endgültig gegeben oder erreicht. Er muss ständig erneuert werden, um zu verhindern, dass die Beziehung erstarrt oder bricht. Ein erstarrter Frieden käme dem Tod gleich, ein gebrochener Frieden entweder dem Kampf in seinen verschiedenen Gestalten oder der Isolierung, die auch dem Tod ähnelt. Insofern ist der Frieden für diejenigen, die in Beziehung miteinander stehen, in jedem Augenblick neu zu verwirklichen. Er ist eine nie abgeschlossene Aufgabe. Da die Aufgabe des Friedens eine Form der Beziehung zwischen Menschen betrifft, ist sie eine solche, die niemand allein erfüllen kann. Frieden kann weder ohne noch gegen die anderen, sondern nur mit ihnen gemacht werden. Ein Frieden ohne die anderen wäre Ruhe, kein Frieden. Ein Frieden gegen die anderen wäre eine Ordnung, die sich gegen sie mit Gewalt durchsetzt oder sich von ihnen absetzt. Er wäre von angreifender und ausschließender Gewalt geprägt und dementsprechend auch kein Frieden. Als Form der Beziehung ist der Frieden auch nicht etwas außerhalb der Beziehung, das durch Arbeitsteilung besser oder effektiver gemacht werden könnte, prinzipiell jedoch einer Beziehung nicht beDies sind auch die verschiedenen Ebenen des Friedens, die Kant in den drei Definitivartikeln seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« gegen die Auffassung eines bloß innerstaatlichen (Hobbes) oder zwischenstaatlichen (Saint Pierre, Rousseau) Friedens etablierte. Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In: Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Bd. XI. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1996. 193–251.
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Das Wagnis des Vertrauens
darf, um gemacht zu werden. Er ist auch nichts, was ohne Beziehung bestehen könnte. Er ist also kein Ergebnis einer gemeinsamen Produktion, das von dieser Produktion selbst distinkt wäre. Er ist nicht die Frucht einer gemeinsamen poiesis, sondern eine Beziehungspraxis. In diesem Sinne ähnelt er einem Gespräch. Genauso, wie ein Gespräch ohne Beziehung zwischen den Gesprächspartnern unmöglich ist, ist der Frieden ohne Beziehung zwischen denjenigen, die miteinander leben, nicht möglich und nicht denkbar. Anders jedoch als ein Gespräch enthält der Frieden eine normative Dimension. Denn dass Menschen miteinander in Beziehung stehen, ist eine Voraussetzung des Gesprächs, sogar eines gewaltsamen und verletzenden Gesprächs. Es ist eine Bedingung, die erfüllt werden muss, wenn Menschen miteinander sprechen. Dass sie aber miteinander sprechen sollen, dies ist weder im Begriff des Gesprächs noch in dem der von ihm vorausgesetzten Beziehung enthalten. Dagegen setzt der Frieden nicht nur Beziehungen zwischen den Menschen als eine Bedingung voraus, die erfüllt werden muss, wenn sie in Frieden miteinander leben wollen. In Anbetracht der Pluralität und der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen in der Welt, ist der Frieden als Form des Zusammenlebens selber eine Norm. 2 Er ist nicht nur eine mögliche Form der Beziehungen unter Menschen, in Anbetracht derer ihr Zusammenleben gleichgültig wäre, sondern er wird auf Grund dieses Zusammenlebens gefordert. Er ist eine Norm des Zusammenlebens. Und die so verstandene Norm des Friedens ist weder ein bloßes Ideal noch ein Ziel, das in einer unbestimmten Zukunft erreicht werden soll. Auf Grund der Tatsache, dass sich die Menschen immer schon in Beziehungen miteinander befinden, ist er eine gemeinsame Aufgabe jedes Augenblicks. Diese Auffassung des Friedens als gemeinsame Aufgabe gilt als Voraussetzung der folgenden Überlegungen über das Vertrauen, über dessen Rolle in der Aufgabe des Friedens und über die Art der Normativität, die dem Vertrauen eigen ist. Das Vertrauen ist ein notwendiges Element dieser Aufgabe. Denn dass die Aufgabe des Friedens eine gemeinsame ist, die wir notwendig mit anderen Menschen teilen, bedeutet, dass sie für jeden zwei Seiten hat: die eigene und diejenige, die durch die anderen erfüllt werden muss. Das Vertrauen ist unser Bezug zu derjenigen Seite, die nicht von uns abhängt, die Vgl. u. a. Dolf Sternberger: Begriff des Politischen. Der Friede als der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen. Frankfurt a. M. 1961.
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wir nicht kontrollierten können und über die wir nicht verfügen, die aber für den Frieden genauso konstitutiv ist wie unsere Seite. Für die gemeinsame Aufgabe des Friedens, die von uns und von den anderen Menschen abhängt, gilt das, was Martin Buber über den Eintritt in die zwischenmenschliche Beziehung der Liebe sagt. Er ist eine Tat »aus Willen und Gnade in einem«. 3 Der Wille bezeichnet meinen Beitrag oder meine Seite des Eintritts in die Beziehung, die Gnade hingegen den Beitrag des anderen, auf den ich keinen Einfluss habe. Die Dimension der Gnade ist hier nicht religiös zu verstehen, sondern sie bedeutet die Infragestellung einer Selbstständigkeit und einer Autonomie, die ich in der Beziehung nicht habe. Ohne diese Gnade ist nicht nur die Beziehung unmöglich, auch mein Wille ist wirkungslos. Aus meinem Willen ohne Gnade entsteht keine halbe Beziehung, sondern überhaupt keine. Jede Seite hängt also von der anderen ab, nicht nur um zusammen das Ganze der Beziehung zu realisieren, sondern sogar um ihren eigenen Teil zu verwirklichen. Der Eintritt in die Beziehung ist nicht das Zusammenwirken zweier voneinander unabhängiger Akte, sondern ein gemeinsamer Akt, der aus der Sicht der beiden Seiten und in einer doppelten Asymmetrie aus Willen und Gnade besteht. Doch Buber konzentriert sich in seinen Ausführungen auf die Rolle des Willens und vernachlässigt die andere Seite. »Womit wir uns zu befassen, worum wir uns zu bekümmern haben, ist nicht die andere, sondern die unsere Seite; ist nicht die Gnade, sondern der Wille. Die Gnade geht uns insofern an, als wir zu ihr ausgehen und ihrer Gegenwart harren; unser Gegenstand ist sie nicht.« 4 Unsere Seite ist das, was wir unsere Verantwortung nennen. Es handelt sich hierbei nicht um die nachträgliche Verantwortung, die einer oder mehreren Person(en) für eine vergangene Handlung und ihre Folgen zugeschrieben werden kann, sondern um die Verantwortung für eine Aufgabe, die noch zu erfüllen ist, oder für eine Person, die von uns abhängt. 5 Bei Buber ist sie eine Verantwortung für etwas, das der andere »mir anvertraut hat, und das mir zu betreuen obliegt. [Der andere] spricht mich von seinem Vertrauen aus an.« 6 Das, was Martin Buber: Ich und Du. In: Buber: Werke. Erster Band, Schriften zur Philosophie. Heidelberg 1962. 82. 4 Martin Buber: Ich und Du. A. a. O. 129. 5 Obwohl die Begriffe der Verantwortung bei Buber, Jonas oder Levinas sehr unterschiedlich sind, gilt diese prospektive Orientierung der Verantwortung für alle. 6 Martin Buber: Die Frage an den Einzelnen. In: Buber: Werke. A. a. O. 222. 3
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Das Wagnis des Vertrauens
mir in der Gegenwart der Beziehung anvertraut wurde, wird in meiner Antwort als Verantwortung zum Gegenstand meiner Handlung. Durch meine Verantwortung verlasse ich die Beziehung zum Du, in der es keine Gegenstände gibt, und trete in die Welt der Objekte ein, die Buber die Es-Welt nennt und in der sich die Gegenstände voneinander unterscheiden und gegenseitig begrenzen. Meine Verantwortung führt mich also in die Welt des Wahrnehmens und des Handelns. Dies gehört zu meiner Seite der Beziehung. Über die andere Seite sagt Buber nichts. Er konzentriert sich auf den Gegenstand meiner Verantwortung und schweigt über das Vertrauen, in dem dieser Gegenstand mir anvertraut wurde. Anders gesagt, er wendet sich dem zu, was ich antworte, und schweigt darüber, worauf ich antworte 7 und was nicht von mir kommt. Er spricht nur von meiner Verantwortung und nicht von dem Vertrauen des anderen. Und obwohl er von der Gegenseitigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen ausgeht, spricht er auch nie von meinem Vertrauen als Erwartung und als Antwort auf den Willen des anderen. Doch gerade in diesem Vertrauen besteht mein Verhältnis zu dem Willen des anderen, der für mich Gnade ist. In Bezug auf den Eintritt in die Beziehung der Liebe spricht Buber von Wagnis und Opfer. Opfer, weil ich meine Möglichkeiten in der Welt der Gegenstände hinter mir lasse, Wagnis, weil ich in der Beziehung nichts von mir vorenthalten darf. Opfer und Wagnis beziehen sich aber ausschließlich auf mich, auf meine Möglichkeiten und auf mein Wesen. Das Eingehen einer Beziehung, die von der Gnade des anderen abhängt und in der ich selber auch von ihm insofern abhängig bin, als ich in die Beziehung mit dem ganzen Wesen eintrete, bedeutet aber mehr als Opfer und Wagnis. Es verlangt mein Vertrauen. Die Einseitigkeit der Aufmerksamkeit Bubers in seiner Philosophie der dialogischen Beziehung ist kein Einzelfall. Sie ist repräsentativ für die Einseitigkeit der meisten Philosophien der Verantwortung. So spielt das Vertrauen auch bei Emmanuel Levinas keine Rolle, obwohl es nahe liegen sollte, dass meine Verantwortung für die anderen Menschen in der Welt ohne ihr Vertrauen zu mir nicht dazu führen kann, dass ich für sie handle, sondern eher gegen sie,
Ich übernehme diese Unterscheidung zwischen dem, was wir antworten und dem, worauf wir antworten, von Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt a. M. 1994. 242.
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insofern meine Handlung sie nicht einbeziehen würde.8 Genauso wie es notwendig ist, das Vertrauen derjenigen zu genießen oder zu gewinnen, denen wir helfen wollen, muss die Verantwortung für die anderen damit anfangen, dass wir uns ihnen gegenüber als vertrauenswürdig erweisen. Darüber hinaus ist das Handeln mit anderen Menschen, das nicht nur ein Handeln für sie ist, ohne ihr Vertrauen zu uns und ohne unser Vertrauen zu ihnen unmöglich. Unser Vertrauen zu den anderen Menschen, das Levinas genau so wenig wie dasjenige der anderen zu uns thematisiert, und das die Kehrseite unserer Verantwortung für sie ist, ist also für das gemeinsame Handeln notwendig. Dies gilt für die Aufgabe des Friedens noch dringlicher als für jede andere Handlung mit anderen in der Welt.
2. Das Vertrauen Es macht einen Unterschied, ob das Vertrauen von der Seite desjenigen betrachtet wird, der anderen vertraut, oder von der Seite desjenigen, dem von anderen vertraut wird. Dass uns Vertrauen geschenkt wird, vermag unsere Verantwortung hervorzurufen, oder auch Stolz und Genugtuung. Es gibt uns auch die Möglichkeit, dieses Vertrauen auch in den Dienst der eigenen Interessen zu stellen und es dadurch zu enttäuschen, den Vertrauenden sogar zu betrügen. Dies sagt einiges über die Risiken, die mit dem Vertrauen verbunden sind, aber wenig darüber, was es bedeutet, Vertrauen zu schenken, und worin es besteht. Deswegen ist es angebracht, in der Analyse des Vertrauens bei demjenigen anzufangen, der Vertrauen schenkt. Aus dieser Perspektive betrachtet ist das Vertrauen als eine Beziehung zu anderen Menschen zu verstehen, von denen wir abhängig sind oder von denen wir uns in der Gabe des Vertrauens abhängig machen, von denen wir aber in dieser Beziehung der Abhängigkeit etwas Positives erwarten. Was wir erwarten können, ist ein sehr breites Spektrum von Handlungen und Haltungen uns gegenüber oder gegenüber dritten. Es kann sich hierbei um die Erfüllung einer be»Gewaltsam«, schreibt Levinas, »ist jede Handlung, bei der man handelt, als wäre man allein: als wäre der Rest des Universums nur dazu da, die Handlung in Empfang zu nehmen; gewaltsam ist folglich auch jede Handlung, die uns widerfährt, ohne daß wir in allen Punkten an ihr mitwirken.« (Ethik und Geist. In: Emmanuel Levinas: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1992. 15.
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Das Wagnis des Vertrauens
stimmten Aufgabe, das Behalten eines Geheimnisses, die Wahrhaftigkeit eines Zeugnisses oder die Treue in einer Beziehung handeln. Es kann viel allgemeiner die Tatsache sein, dass uns die anderen nicht angreifen, nicht betrügen, nicht überfallen und dass sie es auch dritten nichts antun. Wir erwarten also etwas, was unser Leben oder dasjenige von dritten betrifft und für dieses Leben wichtig ist. Wir vertrauen nicht nur jemandem, sondern wir vertrauen ihm oder ihr in Bezug auf etwas, und der Bezug zu diesem Objekt unserer Erwartung ist konstitutiv für das Vertrauen. Wir vertrauen also den anderen, indem wir ihnen etwas anvertrauen. Somit verbindet die Vertrauensbeziehung drei konstitutive Elemente, auf die ich im Folgenden eingehen möchte: Es geht um den Vertrauenden, um denjenigen, dem er vertraut und um dasjenige, was ihm anvertraut wird. 9 Ich fange mit dem zweiten Element an: 1. Die Menschen, denen wir vertrauen, sind zwar durch dieses Vertrauen in einem gewissen Sinne an unsere Erwartungen gebunden. Ihre Freiheit wird aber dadurch nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil wird sie durch das Vertrauen bekräftigt und eingesetzt. 10 Denn es gehört zum Vertrauen, dass es nicht wie ein Befehl die Freiheit der anderen unterbricht und Gehorsam erwartet. Eher wie ein Gesetz öffnet das Vertrauen einen Spielraum, innerhalb dessen verschiedene Handlungen und Verhaltensweisen möglich sind. Anders jedoch als das Gesetz droht das Vertrauen nicht mit Sanktionen, wenn es nicht beachtet wird. Es öffnet auch nicht einen Raum, der gegen alle mögliche Handlungen und Verhaltensweisen gleichgültig ist, solange sie das Gesetz nicht verletzen, sondern verbindet diesen Spielraum mit einer bestimmten Erwartung in Bezug auf die Orientierung der darin stattfindenden Handlungen. Und vor allem ist das Vertrauen nicht allgemeingültig, sondern es richtet sich an einzelne Menschen, sei es persönlich oder als Mitglieder einer Gruppe, bis hin zur ganzen Menschheit. Das Gesetz gilt für jeden einzelnen, weil es
Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen Annette Baiers: Vertrauen und seine Grenzen. In: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts. Frankfurt a. M. 2001. 45. 10 Zum Begriff der eingesetzten Freiheit, die als Antwort auf den Ruf des Anderen zu verstehen ist, wie hier die Freiheit von demjenigen eingesetzt wird, der Vertrauen schenkt, verweise ich auf Emmanuel Levinas: Die Einsetzung der Freiheit oder die Kritik. In: Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Aus dem Französischen von Wolfgang N. Krewani. Freiburg, München 1987. 116–125. 9
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für alle gilt. Das Vertrauen kann nur für alle gelten, weil es den einzelnen geschenkt wird. 11 Das Vertrauen öffnet also einen Spielraum der freien Entscheidung und der freien Handlung, 12 einen Spielraum in Bezug auf die Art und Weise, wie diejenigen, denen wir vertrauen, dank ihrer Freiheit auf unsere Erwartungen eingehen, sie entsprechend unserer Vorstellungen erfüllen oder von ihnen abweichen, ohne uns jedoch durch dieses Abweichen zu verraten. Auch und gerade durch ein sinnvolles Abweichen von unseren Vorstellungen können sich die anderen unseres Vertrauens würdig zeigen und unsere Erwartungen erfüllen. So ist die vertrauenswürdige Person diejenige, die zu entscheiden weiß, was in einer bestimmten Situation im Sinne derjenigen zu tun ist, deren Vertrauen sie genießt. Darüber hinaus ist sie auch eine Person, die das tun kann, was sie im Sinne unseres Vertrauens zu tun entscheidet, 13 und die es tut. In diesem doppelten Sinne eines ihr geöffneten Spielraums und der tatsächlichen Möglichkeit, zu handeln, ist sie frei. Neben der Freiheit verbinden wir auch das Vertrauen mit bestimmten Fähigkeiten des oder der anderen. Denn das Vertrauen setzt voraus, dass wir den anderen zutrauen können, so zu handeln oder sich so zu verhalten, wie wir es erwarten. Die mit dem Vertrauen verbundenen Erwartungen wären ohne dieses Zutrauen gegenstandlos. Doch das Vertrauen lässt sich auf dieses Zutrauen nicht reduzieren. Es ist darüber hinaus mit der Erwartung verbunden, dass der andere auch tut, was wir von ihm erwarten und was wir ihm zutrauen. Das Zutrauen hängt mit den Qualitäten und Fähigkeiten der anderen zusammen, die für die Durchführung einer bestimmten Aufgabe notwendig oder günstig sind, oder es hängt zumindest mit Ein allgemeines Vertrauen im Rahmen einer bestimmten Gruppe bedeutet nicht, dass wir jeder einzelnen Person innerhalb dieser Gruppe vertrauen, sondern es bezieht mehr Personen ein, als wir individuell vertrauen können. Und doch entsteht es aus unserem Vertrauen zu bestimmten Personen und nicht aus einer allgemein geltenden Regel des Vertrauens. 12 Vgl. Annette Baier: Vertrauen und seine Grenzen. A. a. O. 46. 13 Ich verweise hier auf die von Montesquieu vorgeschlagene Definition der politischen Freiheit, die »nicht darin besteht, zu tun, was man will. In einem Staat, das heißt in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen muss, und nicht gezwungen zu werden, zu tun, was man nicht wollen darf.« (Charles de Montesquieu: De l’esprit des lois I. Paris 1979. 292.) In einem ähnlichen Sinne ist es eine Form der Freiheit, das tun zu können, wozu das Vertrauen eines anderen uns verpflichtet. 11
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unserer Wahrnehmung dieser Fähigkeiten zusammen. Das Vertrauen geht darüber hinaus von der Bereitschaft der anderen aus, diese Fähigkeiten einzusetzen. In diesem Sinne schreibt Annette Baier, dass wir uns beim Vertrauen »auf das Wohlwollen der anderen uns gegenüber« 14 verlassen. Dies unterscheidet das Vertrauen von anderen Gründen, uns auf andere Menschen zu verlassen, etwa weil sie als Funktionsträger oder als rationale Vertreter ihrer eigenen Interessen voraussehbar handeln. Ihr Wohlwollen im Sinne ihrer Bereitschaft, auf unsere ihnen anvertrauten Erwartungen einzugehen, verweist auch auf die Freiheit der anderen, die unser Vertrauen einsetzen. 2. Wenn wir uns im Alltag dem Wohlwollen der anderen aussetzen, tun wir dies oft in Bezug auf Sachen, die uns nicht sehr wichtig sind. Eine genaue Kontrolle würde uns mehr Zeit, Energie und Nerven kosten als der mögliche Verlust durch die Enttäuschung unseres ›Vertrauens‹. Hier grenzt das Vertrauen an Gleichgültigkeit. Es entspricht eher unserer Risikobereitschaft und einer Abwägung von Nutzen und Kosten als einer wirklichen Beziehung des Vertrauens. Dagegen vertrauen wir anderen Menschen wirklich in Bezug auf das, was uns in unserem Leben kostbar ist. Gerade in diesen Fällen ist uns das Vertrauen wichtig und erhält es seinen Wert. 15 Rudolf Schottlaender nennt das, worum es in der Vertrauensbeziehung geht, einen »Einsatz«. Und er setzt es mit demjenigen gleich, um das wir uns in unserem Leben Sorgen machen, worum wir uns fürchten. »Wir fürchten uns ja nicht nur vor etwas […] sondern wir fürchten zugleich für etwas, bangen um etwas. Dieses Wofür und Worum ist nun identisch mit dem, was im Vertrauen den Einsatz bildet, den der Vertrauende hingibt. Ich fürchte etwa für meine Gesundheit, meinen Besitz, meinen guten Ruf, das Leben meiner Lieben – das sind ebenso viele Einsätze in einem möglichen Vertrauensverhältnis. Das Anver-
Annette Baier: Vertrauen und seine Grenzen. A. a. O. 42. Dies gilt natürlich nicht so eindeutig in allen Fällen des Vertrauens und müsste differenziert werden. Im Prozess der Vertrauensbildung vertrauen wir etwa einem Kind etwas an, was es nicht überfordert, was entsprechend für uns nicht sehr wertvoll ist (etwas Geld oder eine kleine Aufgabe), was aber als Zeichen des Vertrauens im Prozess der Vertrauensbildung sehr wertvoll ist. Denn dadurch bereiten wir das Kind darauf vor, dass wir ihm sein eigenes Leben anvertrauen, für das wir als Eltern verantwortlich sind. Und dieses Leben ist für Eltern das Kostbarste in der Welt. 14 15
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traute ist immer zugleich das Umbangte, wenn auch im ungestörten Vertrauen diese latente Möglichkeit nicht aktuell wird.« 16 Auch wenn wir uns dessen momentan – und wohl meistens – nicht bewusst sind, ist also das Vertrauen eine Beziehung zu anderen Menschen, in der es immer um etwas geht, das für uns wichtig ist, um das wir uns fürchten würden, wenn wir kein Vertrauen zu den anderen Menschen hätten. Diese Gleichsetzung des Objekts des Vertrauens mit dem, worum es uns in der Sorge und der Furcht geht, stellt das Vertrauen als eine mögliche Antwort auf diese Furcht und auf diese Sorge dar. Es verringert weder den Wert dessen, worum wir uns fürchten könnten, noch unsere diesbezügliche Verletzlichkeit, aber es beruhigt unsere Furcht. In einem gewissen Sinne erhöht sogar das Vertrauen unsere Verletzlichkeit, denn ein Vertrauensbruch würde uns da treffen, wo wir besonders verletzlich sind. Und doch besteht das Vertrauen darin, dass wir uns vor diesem Vertrauensbruch nicht fürchten. Denn das Vertrauen verschiebt die Furcht nicht dahingehend, dass wir uns zum Beispiel nicht mehr vor der Krankheit fürchten, sondern vor dem möglichen Fehler des Arztes, der für unsere Gesundheit sorgt. Eine solche Verschiebung wäre kein Vertrauen. Das Vertrauen befreit im Gegenteil von der Furcht, ohne selber Gegenstand der Furcht zu sein. Und es ist umso wertvoller, als es uns in Bezug auf etwas Wertvolles von unserer Furcht und von unserer Sorge befreit. Das Anvertraute macht nicht allein den Wert des Vertrauens aus. Ein Geheimnis kann zum Beispiel anvertraut werden, nicht weil dies nötig wäre, das heißt weil wir uns sonst um uns, um jemand anderes oder um etwas wertvolles fürchten müssten, sondern um eine Freundschaftsbeziehung durch das gemeinsame Geheimnis zu stärken oder weil es natürlich zu einer solchen Beziehung gehört. Doch die Vertrauensbeziehung, die von nun an als eine besondere Dimension der Freundschaft besteht, hat als solche ein Objekt: das Geheimnis und das, worauf es sich bezieht. Und in Bezug auf dieses Objekt ist der Vertrauende verletzlich, auch wenn er sich um diese Verletzlichkeit nicht fürchtet. In diesem Sinn ist das Vertrauen immer ein Wagnis. Es wird allerdings nur dann als solches wahrgenommen, wenn wir uns in einer bestimmten Situation auf jemanden verlassen müssen, dem wir nicht wirklich vertrauen. 17 Im Vertrauen Rudolf Schottlaender: Theorie des Vertrauens. Berlin 1957. 30. In solchen Situationen kann das brüchige Vertrauen weder durch das Wort des anderen (»vertraue mir«) noch durch die eigene ausdrückliche Gabe des Vertrauens (»ich
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selbst ist das Wagnis, das ihm innewohnt, nicht bewusst. Das Vertrauen verleiht ein Gefühl der Sicherheit und entlastet von der Furcht um das, was uns wertvoll ist und was wir verlieren könnten. 3. Im Rahmen einer funktionalen Analyse des Vertrauens kann diese Sicherheit als Ausdruck der Reduktion der Komplexität einer Handlungssituation begriffen werden. Nach Niklas Luhmann hängt diese Komplexität für die handelnden Menschen einerseits mit der offenen Struktur der Welt zusammen, die immer »mehr Möglichkeiten zuläßt, als Wirklichkeit werden können«, 18 und andererseits mit den anderen Menschen, die auch einen »originären Zugang zur Welt« 19 und zu eigenen Möglichkeiten haben und somit den Überschuss der Möglichkeiten über der Wirklichkeit noch erweitern. Anders gesagt, die Komplexität hängt einerseits von der Kontingenz der Handlungssituation ab, in der wir weder die Bedingungen und Möglichkeiten des eigenen Handelns völlig durchblicken noch dessen Folgen völlig abschätzen können. Sie hängt andererseits von der Freiheit der anderen Menschen ab, mit denen wir in der Welt handeln und deren Handlungen wir nicht kontrollieren können. Für Luhmann besteht die Funktion des Vertrauens als Mechanismus der Reduktion der Komplexität darin, die Offenheit der Zukunft auf die erlebbare Aktualität der Gegenwart, die durch das Vertrauen bestimmt wird, zu reduzieren und dadurch Möglichkeiten auszuschließen. Sie besteht auch darin, die äußere Komplexität der Welt nach »innen«, das heißt in die weniger komplexe Vorstellung dieser Komplexität zu verlagern. Sowohl durch die Bindung an die Gegenwart wie auch durch die Verlagerung der Handlungsproblematik von außen nach innen entsteht eine (innere) Sicherheit, die den Umgang mit der doppelten Kontingenz der Welt erleichtert. 20 In diesem Sinne ist die Tatsache, dass wir uns im Vertrauen der Freiheit und dem Wohlwollen der anderen Menschen aussetzen, keine Begrenzung unserer Freiheit, sondern im Gegenteil die Bedingung einer Freiheit, die wie die politische Freiheit nach Montesquieu »in
vertraue dir«) ersetzt werden. Das Vertrauen kann aber aus solchen Situationen und aufgrund von solchen Ausdrücken entstehen, wenn das ausgedrückte Vertrauen nicht enttäuscht wird. 18 Niklas Luhmann: Vertrauen. Stuttgart 1968. 5. 19 Niklas Luhmann: Vertrauen. A. a. O. 6. 20 Vgl. Luhmann: Vertrauen. A. a. O. 18, 32.
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der Sicherheit, oder zumindest in der Meinung, die man von seiner Sicherheit hat«, 21 besteht. Das Vertrauen ermöglicht also das eigene Handeln, indem es uns die dafür nötige Sicherheit gibt. Es stellt zwar die Autonomie des Handelns in Frage, aber nicht unsere Handlungsfähigkeit selbst. Im Gegenteil, sie ermöglicht diese erst. In diesem Sinne besteht etwa die Erziehung eines Kindes zur Selbstständigkeit nicht darin, dass es lernen soll, allein zu handeln, sondern dass es in seinen ersten eigenständigen Schritten in der Welt auf den Rückhalt der Eltern und anderer Menschen zählen kann und ihnen vertraut. Die Notwendigkeit dieses Vertrauens verschwindet nie gänzlich, auch bei Menschen nicht, die sich selbst als autonom wahrnehmen und ihre Abhängigkeit gegenüber anderen Menschen vergessen haben. Aber darüber hinaus, und hier verlassen wir die funktionalistische Perspektive Luhmanns, gibt uns das Vertrauen einen Zugang zu den anderen Menschen als Handelnden, die selber frei handeln. Sie sichern nicht nur die Möglichkeit unseres eigenen Handelns, sondern sie sind freie Menschen, mit denen wir leben, handeln und gemeinsame Aufgaben erfüllen können. Im Vertrauen ist die Freiheit der anderen nicht nur ein Element der Komplexität meiner Handlungssituation, sondern gerade das, was uns daran hindert, eine Handlungssituation oder eine Aufgabe als ausschließlich die eigene zu betrachten. Das Vertrauen ist eine Brücke, durch die wir die Ich-Bezogenheit der Handlungssituation zwar nie vollkommen verlassen, aber doch überschreiten können, und durch die wir mit den anderen Menschen handeln können. Durch das Vertrauen ist das »Mit« des gemeinsamen Handelns weder eine bloße Tatsache oder ein Faktum wie das ›Mitsein‹ in der Welt, noch eine einseitige Einbeziehung der anderen in eine Handlung, die meine bleibt, sondern die Anerkennung und das Einsetzen der anderen Freiheiten in Bezug auf eine Handlung, auf eine Aufgabe oder sogar auf das gemeinsame Leben, das wir teilen. Das »Mit« des gemeinsamen Handelns ist in besonderer Weise das Einsetzen der anderen Freiheiten in Bezug auf den Frieden als Aufgabe, die wir nur miteinander erfüllen können. Charles de Montesquieu: De l’esprit des lois A. a. O. 328. Montesquieu unterscheidet die politische Freiheit als Sicherheit von der philosophischen Freiheit, die »in der Ausübung seines Willens, oder zumindest (wenn man in allen Systemen sprechen soll) in der Meinung, in der man steht, dass man seinen Willen ausübt«, besteht.
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Das Wagnis des Vertrauens
3. Die Normativitt des Vertrauens Die Tatsache, dass das Vertrauen eine Beziehung zu den anderen als freien Menschen ist, bedeutet, dass es nie vollkommen begründet werden kann. Natürlich beruht das Vertrauen auf Erkenntnissen und Erfahrungen. Wir vertrauen bestimmten Menschen bestimmte Aufgaben auf Grund einer Einschätzung dessen an, was wir ihnen zutrauen können. Diese Einschätzung kann zwar falsch sein, aber es wäre widersprüchlich, jemandem eine Aufgabe anzuvertrauen, deren Erfüllung wir ihm nicht zutrauen. Und wir vertrauen bestimmten Leuten auf Grund der Erfahrung, dass sie unser Vertrauen in anderen Fällen nicht enttäuscht haben, oder auf Grund der Beteuerung ihrer Vertrauenswürdigkeit durch Menschen, denen wir wiederum vertrauen. Aber auch die Vertrauenswürdigkeit einer Person begründet nicht vollkommen das Vertrauen, das ihr geschenkt wird. Denn wäre eine Enttäuschung unseres Vertrauens nicht möglich, würden wir nicht von Vertrauen sprechen, sondern von Zwang oder Notwendigkeit. Dazu kommt, dass die Vertrauenswürdigkeit einer Person nur dadurch erfahren werden kann, dass sie bis jetzt das von uns oder von anderen in sie gesetzte Vertrauen nicht enttäuscht hat. Das Vertrauen zu einer Person geht also ihrer uneingeschränkten Vertrauenswürdigkeit immer voraus und kann sie nicht als Gewissheit voraussetzen. Eine notwendige, wenn auch nicht ausreichende Begründung des Vertrauens ist allerdings negativ und besteht darin, dass wir in Bezug auf eine Person und auf ein Objekt keinen Grund des Misstrauens haben. Nicht das Vertrauen, sondern das Misstrauen muss begründet werden. Und das Vertrauen soll ohne positive Begründung bestehen, solange das Misstrauen nicht begründet ist. Eine solche Privilegierung des Vertrauens erkennt sogar Thomas Hobbes in Bezug auf die Menschen im Naturzustand an: »Wird ein Übereinkommen abgeschlossen, bei dem keine der Parteien sofort erfüllt, sondern nur im gegenseitigen Vertrauen, so ist er im reinen Naturzustand – im Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden – bei jedem vernünftigen Verdacht unwirksam.« 22 A contrario ist das Übereinkommen im gegenseitigen Vertrauen ohne vernünftigen Verdacht wirksam, 22 Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Aus dem Englischen von Walter Euchner. Iring Fetscher (Hg.) Frankfurt a. M. 1984. 104 f. (leicht veränderte Übersetzung).
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sogar im Zustand des Krieges und entsprechend auch in jedem anderen Zustand. Und dies gilt nicht nur für Verträge oder Übereinkommen, sondern für alle Vertrauensbeziehungen. Dass die Begründungspflicht auf der Seite des Misstrauens steht, verweist auf eine gewisse Normalität des Vertrauens. Wir können anderen Menschen vertrauen, weil dies im Rahmen einer bestimmten Ordnung üblich ist. Doch dies allein würde offensichtlich nicht ausreichen, um die Menschen dazu zu bewegen, auf das Wagnis des Vertrauens einzugehen. Dazu bedarf es über die Normalität hinaus einer bestimmten Normativität des Vertrauens, die für die Menschen verbindlich ist, denen Vertrauen geschenkt wird, und wodurch das Vertrauen »ersichtlich eine der wichtigsten synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft« 23 sein kann, wie Simmel schreibt. Diese Normativität besagt nicht, dass wir anderen Menschen vertrauen sollen, sondern dass das Vertrauen diejenigen, denen wir es schenken, uns gegenüber und in Bezug auf das Anvertraute verpflichtet. Aufgrund dieser Verpflichtung, deren Natur noch zu klären ist, kann es dann durchaus als vernünftig erscheinen, anderen Menschen zu vertrauen, auch wenn dieses Vertrauen nicht rational begründet werden kann. Es ist zumindest solange vernünftig, wie wir keinen begründeten Verdacht gegen die anderen haben. Die Normativität des Vertrauens kompensiert in diesem Sinne seine Unbegründbarkeit. Es handelt sich dabei um eine Normativität, der das Vertrauen nicht unterworfen ist, sondern die erst durch es entsteht. Und sie entsteht dadurch, dass wir uns vertrauend den anderen aussetzen, als verletzlich in die Beziehung eintreten und aufgrund dieser Verletzlichkeit eine Verpflichtung der anderen uns gegenüber entstehen lassen. Die Verletzlichkeit des Vertrauenden ist zwar nicht als solche schon normativ. Sie wird es aber dadurch, dass sie zusammen mit dem Objekt des Vertrauens dem anderen anvertraut wird. Wie Niklas Luhmann schreibt: »Für den Vertrauenden ist seine Verwundbarkeit das Instrument, mit dem er eine Vertrauensbeziehung in Gang bringt. Erst aus seinem eigenen Vertrauen ergibt sich die Möglichkeit, als eine Norm zu formulieren, dass sein Vertrauen nicht enttäuscht werde.« 24 Eher als von einem »Instrument«, das auf die Zweckrationalität Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band 11. Otthein Rammstedt (Hg.). Frankfurt a. M. 1992. 393. 24 Niklas Luhmann: Vertrauen. A. a. O. 55. 23
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einer egologischen Perspektive verweist, möchte ich hier mit Schottlaender von einem ›Einsatz‹ sprechen, von dem also, was der Vertrauende ohne Absicherung aufs Spiel setzt, wenn er vertraut. Die Verwundbarkeit als Möglichkeit der Verletzung ist kein Instrument, das zu einem bestimmten Zweck benutzt werden könnte, sondern das Maß des Wagnisses, das der Vertrauende eingeht, wenn er vertraut. Sie ist auch das Maß, an dem die Antwort des anderen gemessen werden soll, wenn er das in ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigt oder enttäuscht. Als ein solches Maß eröffnet die Verwundbarkeit des Vertrauenden eine normative Dimension in der Vertrauensbeziehung. Diese Normativität entspricht keiner schon bestehenden Norm, die besagt, dass Vertrauen nicht enttäuscht werden darf, sondern sie lässt eine Verpflichtung entstehen aufgrund der möglichen Verletzung, die eine Enttäuschung des Vertrauens mit sich bringen würde. 25 Diese Überschreitung jeder schon bestehenden Normativität führt allerdings auch nicht in eine Beziehung jenseits der Normen, sondern sie führt eine neue Normativität in die Beziehung ein. Wie Luhmann schreibt: »Vertrauensbeziehungen werden nicht vorgeschrieben, sondern nachnormiert.« 26 Luhmann begründet dieses Nachnormieren dadurch, dass die Gabe des Vertrauens als Vorleistung Ansprüche erzeugt, »ähnlich wie die Wohltaten einen Anspruch auf Dankbarkeit.« 27 Doch das Vertrauen ist keine Gabe, die in einer Logik des Tausches eine Gegengabe etwa in der Form der Dankbarkeit hervorrufen würde. 28 Im Gegenteil wird im Vertrauen etwas vom anderen erwartet, ohne dass ihm dafür etwas gegeben worden wäre. Die Gabe des Vertrauens ist eine Aufgabe, die der andere zu erfüllen hat, und sie ist für den Vertrauenden die Aufgabe der eigenen Zuständigkeit für die Erfüllung dieser Aufgabe. 29 Diese Aufgabe 25 Dies heißt nicht, dass jede Enttäuschung des Vertrauens verletzt, aber dass die Möglichkeit der Verletzung des Vertrauenden eine normative Bedeutung für denjenigen hat, dem er vertraut. 26 Niklas Luhmann: Vertrauen. A. a. O. 55 f. 27 Niklas Luhmann: Vertrauen. A. a. O. 55. 28 Auch wenn das Vertrauen als etwas Wertvolles empfunden wird, für dessen Gabe Dankbarkeit empfunden werden kann, liegt seine Normativität nicht in dieser Dankbarkeit. 29 Dies heißt allerdings nicht, dass unsere Verantwortung für eine bestimmte Aufgabe übertragbar wäre, sondern dass die Aufgabe, mit der diese Verantwortung verbunden ist, übertragen werden kann. Wir bleiben auch im Vertrauen für das verantwortlich, was wir anderen anvertrauen. Dies macht auch eine Dimension unserer Verwundbarkeit aus, wenn unser Vertrauen enttäuscht wird.
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Pascal Delhom
verpflichtet nicht, indem sie eine Gegen(auf)gabe hervorruft, sondern indem sie auf die Verwundbarkeit des Vertrauenden im Fall einer Enttäuschung verweist. Die Normativität des Vertrauens findet also ihre Quelle im Vertrauen selbst und nicht in einer Norm außerhalb von ihm. Anders und noch einmal mit Luhmann gesagt: Das Vertrauen vermag, seine »Entstehungsbedingungen in Erhaltungsbedingungen« 30 umzuformen. Die Verwundbarkeit des Vertrauenden, die er in der Beziehung als Wagnis einsetzt, ist die Quelle einer Normativität, durch die das Vertrauen eingehalten werden soll und eine gewisse Verbindlichkeit gewinnt. Doch reicht die anvertraute Verwundbarkeit als Quelle der Normativität aus? Ist es nicht naiv und geradezu gefährlich, sich dem Anderen nicht als stark und selbstständig, sondern als verwundbar zu präsentieren? Wird dieser nicht dadurch eher zum Übergriff animiert, als dass er sich für den Vertrauenden verantwortlich fühlt? Ist denn die zur Schau gestellte Verwundbarkeit nicht eine Versuchung und sogar eine Anstiftung zur Gewalt? Auf diesen Einwand ist erstens zu antworten, dass die Verwundbarkeit nicht zur Schau gestellt, sondern dem anderen anvertraut wird. Die Aussprache oder die Zeichen des Vertrauens, und sei es nur die Tatsache, dass wir uns nicht umdrehen, wenn wir jemanden hinter uns hören oder spüren, 31 ist eine Art und Weise, nicht bloß verwundbar zu sein, was in der Tat Begierde wecken könnte, sondern unsere Verwundbarkeit mit dem Appell an die anderen zu verbinden, uns nicht zu verletzen. Indem wir uns den anderen aussetzen, erhöhen wir zwar unsere Verwundbarkeit, verwandeln sie aber zugleich in eine anvertraute Verwundbarkeit, die erst im Akt des Vertrauens entsteht und die Verpflichtung der anderen hervorruft, uns nicht zu verletzen. Diese Verbindung des Appells und der möglichen Verletzung im Vertrauen hat eine ähnliche Struktur wie das Verbot der Gewalt durch den Anderen bei Levinas. »Das Antlitz ist exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen. Zugleich ist das Antlitz das, was uns verbietet, zu töten.« 32 Nur weil es Niklas Luhmann: Vertrauen. A. a. O. 56. Dass wir uns nicht umdrehen, kann auch andere Gründe haben, etwa dass wir unsere Angst und Verwundbarkeit in bestimmten Situationen nicht zeigen dürfen. Ich spreche aber hier von dem spezifischen Fall des Vertrauens. 32 Emmanuel Levinas: Ethik und Unendliches. Aus dem Französischen von Dorothea Schmidt. Graz, Wien 1986. 65. 30 31
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den Mord verbietet und sich unserer Macht entzieht, ist das Antlitz das, wogegen Gewalt möglich ist und wogegen wir versucht werden, Gewalt anzuwenden. Aber diese Möglichkeit verweist auf das Verbot und verpflichtet uns. In einer ähnlichen Weise, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, ist unsere Verwundbarkeit im Vertrauen nicht als solche, sondern nur durch das Vertrauen den anderen gegeben, denen wir sie anvertrauen. Und dieses Vertrauen verpflichtet sie. Doch reicht auch die Normativität, die aus unserer anvertrauten Verwundbarkeit entsteht, nicht allein aus, um unser Vertrauen zu rechtfertigen. Wir müssen hier auf den Vorwurf der gefährlichen Naivität eine weitere Antwort geben, die die erste nicht widerlegt und sie nicht außer Kraft setzt, sondern sie ergänzt. Wir müssen die Normativität und die schon angesprochene Normalität des Vertrauens miteinander verbinden und zwischen zwei Ebenen des Vertrauens unterscheiden: zwischen dem Akt oder dem aktuellen Verhalten des Vertrauens und dem Ethos des Vertrauens, das nicht in Bezug auf eine bestimmte Sache und zwischen bestimmten Personen oder Instanzen stattfindet, sondern diesseits jeder Bestimmtheit die soziale Dimension des Vertrauens ausmacht.
4. Die zwei Ebenen des Vertrauens Die erste Ebene ist diejenige des aktuellen Vertrauens. Es ist meistens ein Vertrauen zu einem einzelnen oder zu einer kleinen Anzahl von Menschen, 33 die uns in irgendeiner Weise bekannt sind und von denen wir annehmen, dass sie unsere Erwartungen nicht enttäuschen werden. Dass wir einem Fremden oder einem Unbekannten Vertrauen schenken, setzt die Einbeziehung eines Dritten voraus, entweder in der Form eines Garanten unseres Vertrauens oder eines sozialen, habituellen Vertrauens, eines Vertrauens-Ethos, über das noch zu sprechen sein wird. Das aktuelle Vertrauen zu Personen kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Diese hängen davon ab, ob das Verhältnis des Vertrauenden zu den Menschen, denen er vertraut, eine Beziehung 33 Die von Luhmann vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Personen- und Systemvertrauen möchte ich insofern nicht übernehmen, als ich das Vertrauen mit der Freiheit des Adressaten des Vertrauens verbinde. Wir können uns auf ein System verlassen, vertrauen ihm aber im so definierten Sinne nicht.
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zwischen Gleichen ist, etwa zwischen Gesprächpartnern oder zwischen Personen, die einen Vertrag miteinander schließen, oder zwischen Ungleichen, wie das Vertrauen der Kinder zu ihren Eltern, der Eltern zu ihren Kindern oder von Pflegebedürftigen zu den sie pflegenden Menschen. Die Formen des Vertrauens hängen auch davon ab, ob es ausdrücklich gegeben wird oder nicht. Wenn jemand sagt: »ich vertraue Dir/Ihnen«, ist dies meistens, wenn auch nicht immer, ein Zeichen des unvollkommenen Vertrauens und zugleich ein Versuch, das Vertrauensverhältnis entweder dadurch zu stärken, dass dem anderen eine Chance gegeben wird, seine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen (hier fungiert die ausdrückliche Gabe des Vertrauens zugleich als erzieherische Maßnahme), oder dadurch, dass der andere indirekt für den eventuellen Bruch des Vertrauens verantwortlich gemacht wird (in diesem Fall ist die ausdrückliche Gabe des Vertrauens eher ein Versuch der Absicherung seitens des Vertrauenden). Meistens wird jedoch das Vertrauen nicht ausdrücklich gegeben, weil es selbstverständlich zu bestimmten Situationen und Verhaltensweisen gehört. So braucht derjenige, der zur Hilfe ruft, eine Bitte ausspricht, eine wichtige Aufgabe überträgt oder ein Geheimnis erzählt, nicht ausdrücklich sein Vertrauen auszusprechen. Auch vom Adressat eines Versprechens wird Vertrauen erwartet, ohne dass dieser es auszudrücken braucht. Das Vertrauen braucht auch nicht ausgedrückt zu werden, wenn es ein notwendiger Bestandteil bestimmter zwischenmenschlicher Beziehungen ist. Dies ist der Fall zwischen Freunden, Liebespaaren, Mannschaftskollegen oder Handelspartnern (in diesen Fällen würde ein Bruch des Vertrauens das Ende der Beziehung oder zumindest ihre tiefgreifende Beschädigung bedeuten), 34 aber auch zwischen Eltern und Kindern, Pflegebedürftigen und Pflegenden (hier würde der Bruch des Vertrauens die unvermeidbare Abhängigkeit der einen von den anderen als leidvoll erleben lassen). Dass in all diesen Fällen das Vertrauen nicht ausgedrückt wird, bedeutet allerdings nicht, dass es den Vertrauenden nicht bewusst ist. Im Gegenteil, Vertrauen ist immer eine bewusste Form der BezieDie Beteuerung der Notwendigkeit des Vertrauens in einem Metadiskurs über solche Beziehungen, auch in einem Metadiskurs, der an die Beteiligten adressiert ist, mag in manchen Fällen hilfreich und sogar notwendig sein. Aber das Vertrauen selbst braucht in diesen Beziehungen nicht ausgedrückt zu werden, denn es gehört selbstverständlich dazu.
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hung zu anderen Menschen, auch wenn dieses Bewusstsein nicht kognitiv und reflexiv ist und auch wenn das Wagnis, das mit dem Vertrauen einhergeht, selten bewusst ist. Die Grundform des Vertrauens ist ein Gefühl der Sicherheit 35 in der Beziehung mit anderen Menschen. Diese innere Sicherheit begleitet jeden Akt und jede mehr oder weniger gewollte Haltung des Vertrauens gegenüber anderen Menschen. Sie richtet sich nicht primär nach den Kriterien der äußeren Sicherheit, das heißt nach objektiven Gegebenheiten der Welt, sondern entfaltet sich im Vertrauen selbst. 36 Ein Schenken des Vertrauens, das nicht von einem entsprechenden Gefühl begleitet wäre, wäre reines Kalkül. Es wäre ein zweckrationales Vortäuschen des Vertrauens, das genauso die Basis eines Betrugs sein könnte, wie diejenige eines zukünftigen Vertrauens, falls sich der andere als vertrauenswürdig erweist. Vertrauen wäre es im besten Fall noch nicht. Umgekehrt wäre ein bloßes Gefühl der inneren Sicherheit ohne Beziehung mit anderen Menschen, denen etwas anvertraut wird, kein Vertrauen. Es wäre nicht adressiert und hätte keinerlei normative Dimension. Das aktuelle Vertrauen ist also ein Akt (oder eine Haltung) gegenüber anderen Menschen, der sich selbst im Gefühl der inneren Sicherheit gegeben ist. Allen Formen des Vertrauens ist darüber hinaus gemeinsam, dass sie asymmetrisch sind. Auch das gegenseitige Vertrauen zwischen Gleichen vermag es nicht, diese Asymmetrie aufzuheben. Denn dass die anderen uns auch vertrauen, hebt weder unsere Abhängigkeit von ihnen noch die Einseitigkeit des Wagnisses auf, auf das wir eingehen. Das Vertrauen der anderen zu mir begründet nicht mein Vertrauen zu ihnen, und mein Vertrauen wird nicht an ihrem gemessen, sondern an meiner Verwundbarkeit, die ich ihnen anvertraue, sowie an meinem Gefühl der Sicherheit ihnen gegenüber. Die Asymmetrie des Vertrauens ist genauso unaufhebbar wie diejenige Niklas Luhmann: Vertrauen. A. a. O. 32. Die mit dem Vertrauen verbundene innere Sicherheit hängt insofern doch von Bedingungen der äußeren Sicherheit ab, als es durch äußere Vorkommnisse wie Angriffe oder Unfälle zerstört werden kann. Die äußere Sicherheit allein vermag es aber nie, ein Gefühl der inneren Sicherheit zu verleihen, wenn jemand das Vertrauen zu den anderen Menschen und in der Welt verloren hat. Dies wird von allen Therapeuten betont, die unter anderen mit traumatisierten Patienten zu tun haben. Vgl. Pascal Delhom: Die Rückgewinnung der geraubten Stimme. In: Günter Bierbrauer/Michael Jaeger (Hg.): Projektverbund Friedens- und Konfliktforschung in Niedersachsen. Ergebnisberichte aus Forschungsprojekten der Jahre 2001–2003. Osnabrück 2004. 195 f. 35 36
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der Verantwortung, die nach Levinas darin besteht, »auf den anderen zuzugehen, ohne sich um dessen Bewegung zu mir hin Gedanken zu machen oder genauer: sich derart anzunähern, dass über die reziproken Beziehungen hinaus, die sich zwischen mir und dem Nächsten unweigerlich ergeben, ich immer einen Schritt mehr auf ihn hin ausgeführt habe«. 37 Dass das Vertrauen trotz seiner konstitutiven Asymmetrie und seiner Unbegründbarkeit als Gefühl der inneren Sicherheit erlebt wird, verdankt es einerseits seiner eigenen Normativität. Es wird aber auch, andererseits, durch die soziale Dimension des Vertrauens ermöglicht, das heißt durch die Tatsache, dass die meisten Vertrauensbeziehungen 38 nicht nur zwei Menschen oder Gruppen miteinander verbinden, sondern einen Dritten einbeziehen. Dieser Dritte ist auch die Bedingung dafür, dass wir Menschen vertrauen, die wir nicht kennen, von denen wir aber trotzdem annehmen, dass sie die mit unserem Vertrauen verbundene Aufgabe erfüllen werden oder zumindest, dass sie uns nicht schaden werden – auch nicht in der Anonymität einer Großstadt oder in der Einsamkeit eines Waldes. Die Einbeziehung des Dritten, die die soziale Dimension des Vertrauens ausmacht, bildet die zweite Ebene des Vertrauens neben derjenigen der aktuellen Vertrauensbeziehung. Drei sehr unterschiedliche Figuren des Dritten sind hier relevant. Die erste ist diejenige des Zeugen. Sie ist entscheidend dafür, dass etwa ein Versprechen nicht im Kreis der unmittelbar Beteiligten bleibt, sondern öffentlich wird. 39 Der Zeuge ist nicht nur der Dritte in unserem Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als sein geschieht. Aus dem Französischen von Thomas Wiemer. Freiburg, München 1992. 106. Levinas fügt zwischen Klammern hinzu: »was nur dann möglich ist, wenn dieser Schritt Verantwortung ist«. Dass er an das Vertrauen nicht denkt, ist ein Zeichen für die Ich-Zentriertheit seiner Auffassung der Ethik, die trotz aller Kritik am Begriff des Subjekts und trotz der Betonung des Vorrangs des Anderen, auf dessen Wort ich immer zu spät antworte, die anderen Menschen als moralische Akteure nicht, oder nur indirekt, etwa in Bezug auf die Problematik des Dritten am Ende von Totalität und Unendlichkeit, berücksichtigt. 38 Mögliche Ausnahmen bilden zum Beispiel die Freundschaft oder die Liebesbeziehung (wobei schon die Eheschließung Zeugen einbezieht), sowie das Anvertrauen eines Geheimnisses, das durch die Einbeziehung eines Dritten eher geschwächt als verstärkt wird. 39 Als Kriterium der Öffentlichkeit gilt hier, was nicht geheim gehalten werden kann. Die Einbeziehung eines Dritten überschreitet aber schon die Grenze der Zwei, von der Georg Simmel schreibt, sie sei für das Bewahren eines Geheimnisses entscheidend. Vgl. Georg Simmel: Soziologie. A. a. O. 101. 37
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Bund, sondern auch das erste Mitglied einer Öffentlichkeit, vor der ein Versprechen gehalten oder gebrochen wird. Entsprechend muss derjenige, der das Vertrauen eines anderen Menschen enttäuscht, dafür nicht nur vor ihm, sondern vor dem Zeugen und möglicherweise vor der Öffentlichkeit als Zeuge Rechenschaft abgeben. Somit unterstützt und stärkt der Zeuge die Verpflichtung, die aus der Gabe des Vertrauens entsteht. Der Dritte in diesem ersten Sinne kann gewählter Zeuge eines ausdrücklichen Versprechens (zum Beispiel die Trauzeugen), lebensbedingter Zeuge einer mehr oder weniger selbstverständlichen Vertrauensbeziehung (Nachbarn einer Familie, Kollegen bei der Arbeit) oder zufälliger Zeuge eines Vertrauensbruchs sein. Entscheidend ist hierbei, dass der Vertrauende ihn in seinem Vertrauen einbezieht. Dies heißt einerseits, dass er dem Dritten als Zeuge auch vertraut bzw. dass er seinen Mitmenschen vertraut, im Fall eines Vertrauensbruchs für ihn als Zeuge zu fungieren. Dies heißt andererseits, dass der Vertrauende davon ausgeht, dass derjenige, dem er vertraut, den Zeugen auch achtet und als Zeugen anerkennt. Sonst könnte der Zeuge im Fall eines Vertrauensbruchs nur das erlittene Unrecht des Betrogenen bezeugen, er würde aber keine Rolle zur Stärkung der mit dem Vertrauen einhergehenden Verpflichtung spielen. Die zweite Figur des Dritten in einer Vertrauensbeziehung ist diejenige einer Instanz, die das Einhalten eines Versprechens oder eines Vertrags nicht nur bezeugen, sondern durchsetzen kann, notfalls mit Gewalt. Sie ist genau für die Fälle relevant, bei denen der Zeuge wirkungslos ist. Diese Instanz kann persönlich sein oder anonym wie das Gesetz. In den Theorien des Gesellschaftsvertrags wird sie durch den Staat verkörpert, der dank seines Monopols der legitimen Gewalt das Einhalten der Gesetze und der durch die Bürger eingegangenen Verpflichtungen gegeneinander und gegen den Staat durchsetzen kann. Allerdings muss der Vertrauende auch hier davon ausgehen können, dass der Staat oder die durchsetzende Instanz für sein Recht sorgt und seine/ihre Gewalt nicht arbiträr oder gegen ihn einsetzt. Der Vertrauende muss auch davon ausgehen, dass derjenige, dem er vertraut, die mögliche Gewalt des Staates fürchtet. Unter diesen Bedingungen können das Gesetz, der Staat oder eine andere durchsetzende Instanzen dafür sorgen, dass das Vertrauen nicht enttäuscht wird. Allerdings ist es fraglich, ob wir es dann noch mit Vertrauen zu tun haben. Denn das Vertrauen entfaltet sich gerade in den Bereichen, die nicht durch Zwang und drohende Ge381 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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walt geregelt werden. Und auch wenn die Instanz, die das Einhalten der eingegangenen Verpflichtungen durchsetzt, Freiräume für die Art ihrer Erfüllung offen lässt, führt sie in die Vertrauensbeziehung ein Moment der Gewalt ein, das ihr widerspricht und sie zu zerstören droht. Denn wer Gewalt braucht oder mit Gewalt androht, hat kein Vertrauen. Und er bewirkt, dass die anderen nicht aufgrund des in sie gesetzten Vertrauens frei handeln, sondern aus Furcht vor der sie bedrohenden Gewalt. Wie die Autorität 40 ist das Vertrauen unvereinbar mit der Gewalt als Mittel, es durchzusetzen. Deswegen ist die Figur des Dritten, die geeignet ist, die soziale Dimension des Vertrauens zu stärken, nicht diejenige einer Instanz mit dem Recht auf Gewaltanwendung, sondern entweder diejenige einer gewaltlosen Autorität, die von allen Beteiligten geachtet wird und die als Zeuge der Beziehung fungiert, oder diejenige, die ich mit Annette Baier das Klima des Vertrauens 41, mit Kurt Röttgers das habituelle Vertrauen oder das Ethos des Vertrauens 42 nennen möchte. Das habituelle Vertrauen gründet für jeden Einzelnen auf positiven Erfahrungen des Vertrauens, die den Vertrauenden besonders geprägt haben, etwa in Fällen der Not oder im Rahmen der Erfüllung mit anderen Menschen einer gemeinsamen Aufgabe. Es gründet aber auch und nicht zuletzt auf der Abwesendheit von Erfahrungen des enttäuschten Vertrauens. Denn diese liefern gute Gründe für das Misstrauen, ohne das das Vertrauen bestehen könnte. Jenseits der individuellen Erfahrungen orientieren wir uns auch meistens an einer kollektiven Haltung des Vertrauens oder des Misstrauens innerhalb einer Gruppe. Wir vertrauen der Ärztin, der Polizistin oder der Parlamentarierin, weil man dies in unserer Gesellschaft zu tun pflegt. Wir vertrauen auch Menschen in Bezug auf bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen, zum Beispiel in unseren westlichen Gesellschaften in Bezug darauf, dass der Preis dessen, was sie uns verkaufen, angemessen ist oder dass sie bestimmte Grenzen des körperlichen Kontakts nicht überschreiten. Bei Mitgliedern anderer Gruppen wären sowohl die Grenzen wie auch das Vertrauen anders gesetzt. 43 Das soziale Vertrauen gehört somit zum Bereich der gesellVgl. Hannah Arendt: Was ist Autorität? In: Arendt.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München, Zürich 1994. 159. 41 Annette Baier: Vertrauen und seine Grenzen. A. a. O. 42, 60. 42 Kurt Röttgers: Ethos und Routine. In: G. Bentele, M. Piwinger, G. Schönborn (Hg.): Kommunikationsmanagement. Neuwied 2004. 1–22. 43 Dies heißt nicht, dass wir Menschen aus anderen Gruppen oder Kulturen nicht ver40
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schaftlichen Gewohnheitsregeln, die nicht gesetzlich verankert sind, die jedoch die Beziehungen zwischen den Menschen innerhalb der Gruppe weitgehend, wenn auch mit wechselnder und nicht klar definierter Verbindlichkeit, bestimmen. Es hat nicht die Normativität des Gesetzes, das notfalls durch Zwang durchgesetzt werden kann und muss, sondern die der Sitten. In diesem Sinne kann man von einem Ethos des Vertrauens sprechen. Das Ethos des Vertrauens, das heißt seine sittliche Praxis im Rahmen einer sozialen Ordnung, ist eine verbindende Kraft, die eine gewisse Verlässlichkeit innerhalb dieser Ordnung zu gewährleisten fähig ist, ohne Anwendung von Gewalt oder Androhung derselben. Es bestimmt auch weitgehend die Beziehung zwischen dem möglichen Vertrauen und dem notwendigen Misstrauen innerhalb einer gegebenen Ordnung. Als solches ist es die gesellschaftliche Basis für die Möglichkeit einer Gabe des Vertrauens als Akt oder als aktuelle Haltung und es bildet den Horizont jedes Vertrauensaktes und jedes vertrauensvollen Verhaltens innerhalb der Gesellschaft. Ohne soziale Basis wäre jede Gabe des Vertrauens ein tollkühner Akt, der nur in Beziehung zu wenigen Menschen und in seltenen Gelegenheiten erfolgen würde, ein Akt, den wir auch von niemandem außer von uns selbst verlangen könnten. Nur auf der Basis eines sozialen Ethos kann entsprechend das Vertrauen als Quelle sozialer Verbindlichkeit gelten. Aber auch auf dieser Basis bleibt das aktuelle Vertrauen letztlich unbegründet. Es bleibt ein Wagnis, das die Normativität des Ethos übersteigt und das auch trotz der eigenen Normativität nicht vor einer Enttäuschung abgesichert ist. Gerade in diesem Überschuss liegt allerdings der Grund nicht nur der Normativität des aktuellen Vertrauens, sondern auch der Bildung und der Veränderung des Vertrauensethos.
5. Bildung und Enttuschung des Vertrauens Das Verständnis des Vertrauensethos als sozialer Habitus bedeutet, dass dieses Ethos keine unveränderliche Basis des aktuellen Vertrauens bildet. Hiermit wird die Frage der Existenz eines Urvertrauens, trauen können. Aber die Bedingungen des Vertrauens und seiner möglichen Enttäuschung sowie der Bezug zum Anvertrauten sind in diesem Fall andere. Interkulturelles Vertrauen muss gebildet werden.
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das jedem bei der Geburt gegeben wäre, das als solches nicht bewusst und dennoch gelebt würde, das nur zerstört und nicht aufgebaut werden könnte und dessen wir uns erst im Nachhinein durch die schmerzhafte Erfahrung seines Verlusts bewusst würden, nicht beantwortet. 44 Das soziale Ethos, von dem ich hier ausgehe, ist jedoch nicht dieses Urvertrauen, sondern eine kollektive Haltung, die das Leben der Individuen seit ihrer Geburt und bis zu ihrem Tod prägt. Denn jedes Individuum wird in eine Gesellschaft hineingeboren, in der ein solches Ethos schon herrscht. Es wächst in sie hinein und sein Vertrauen zu den anderen Menschen hängt dementsprechend nicht nur von den eigenen Erfahrungen ab, sondern auch weitgehend von diesem Ethos. Insofern ist die Frage nach der Bildung und der Veränderung dieses Ethos für die Praxis des Vertrauens in einer Gesellschaft entscheidend. Zwei Elemente der Analyse müssen hier besonders hervorgehoben werden. Das Ethos hängt erstens von dem Diskurs ab, der im Rahmen einer Gesellschaft über das Vertrauen und über weitere, mit ihm zusammenhängende Themen gehalten wird: über Sicherheit (durch notfalls gewaltsame Abschirmung gegen mögliche Gefahren oder durch Vertrauen zu den anderen Menschen), über die Notwendigkeit entweder von Kontrolle (die »besser als Vertrauen« wäre) oder von vertrauensbildenden Maßnahmen, über Eigenständigkeit und Freiheit, die als Elemente einer Vertrauensbeziehung, aber auch im Gegenteil als dem Vertrauen entgegengesetzt dargestellt werden können. Wie sich Diskurse verändern und ob sie absichtlich verändert werden können, kann hier nicht diskutiert werden. Entscheidend ist jedoch die Einsicht, dass jede Rede über das Vertrauen, wie über jede gesellschaftliche Praxis, nicht nur deskriptiv ist, sondern auch als Teil dieses Diskurses oder als Widerstand gegen ihn fungiert. Sie vermag also, die Praxis des Vertrauens selbst zu beeinflussen, auch wenn die Das, was jedem einzelnen Menschen seit der Geburt gegeben ist und was ich hier voraussetze, ist eine gewisse Abhängigkeit von anderen Menschen, die für die meisten im Laufe der Erziehung geringer wird als in der frühen Kindheit, die wir aber nie ganz hinter uns lassen. Die Erziehung und das Erlernen des sozialen Lebens bestehen deswegen zum Teil darin, zu lernen, wie wir in dieser Abhängigkeit leben können. Das Vorbild der Eigenständigkeit wird zum Trugbild mit verheerenden Folgen, wenn es im Sinne einer individuellen Autonomie verstanden wird. Denn es führt uns dann entweder zur Trennung von den anderen Menschen, was nicht ohne Gewalt ihnen gegenüber möglich ist, oder zur Blindheit in Bezug auf die für unser Leben notwendigen Beziehungen, die entsprechend darunter leiden. Diese beiden Haltungen sind meistens eng miteinander verbunden.
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Tragweite und sogar die Richtung dieses Einflusses kaum bestimmt werden können. Das Ethos hängt zweitens von seiner Verwirklichung in aktuellen Vertrauensbeziehungen ab, wie auch eine Sprache nur in der aktuellen Rede lebt, sich entwickelt und verändert. Doch anders als im Fall der Sprache gibt es eine Asymmetrie zwischen dem langen und schwierigen Prozess der Vertrauensbildung und der Möglichkeit, durch wenige, besonders verletzende Erfahrungen des Vertrauensbruchs das Ethos nachhaltig zu beschädigen. Und dies umso mehr, als der in bestimmten Erfahrungen begründete Verlust des Vertrauens häufiger und wirksamer thematisiert wird und den gesellschaftlichen Diskurs tiefgehender prägt als alle positiven Erfahrungen, die einem nicht beschädigten Ethos des Vertrauens entsprechen. Aufgrund dieser Asymmetrie ist die Frage der Vertrauensbildung und -erhaltung in ausgeprägter Weise mit derjenigen seiner möglichen Verletzung gebunden. Es gilt hier, zwischen verschiedenen Arten des enttäuschten Vertrauens und den entsprechenden Verletzungen zu unterscheiden. Nicht jede Enttäuschung des Vertrauens bewirkt eine Verletzung des Vertrauenden, einen Bruch der Vertrauensbeziehung oder sogar eine Beschädigung des Vertrauensethos. Die mit dem Vertrauen verbundenen Erwartungen können zum Beispiel enttäuscht worden sein, weil dem anderen zuviel zugetraut wurde oder weil etwas Unvorhergesehenes dazwischen gekommen ist, das die Erfüllung der Erwartungen verhindert hat. Dies ist noch kein Grund, jemandem das Vertrauen zu entziehen. Auch eine Enttäuschung des Vertrauens in Bezug auf etwas Bestimmtes bedeutet nicht notwendig, dass wir derselben Person in Bezug auf etwas Anderes nicht vertrauen können. So würden wir zum Beispiel jemandem, der ein Geheimnis gelüftet hat, trotzdem die Pflege eines Tieres anvertrauen, das uns teuer ist. In Bezug auf weitere Geheimnisse allerdings reicht ein einziger Vertrauensbruch, um das Vertrauen nachhaltig zu beschädigen. Dieser Vertrauensbruch kann auch unser Vertrauen gegenüber anderen Menschen beschädigen, denen wir nur noch zögerlicher ein Geheimnis erzählen. Und für denjenigen, dessen Geheimnis gelüftet oder der angelogen wurde, kann auch darüber hinaus der ganze Bereich der sprachlichen Beziehungen zu anderen Menschen mit einem grundsätzlichen Verdacht belastet werden. Darüber hinaus gibt es Erfahrungen der erlittenen Gewalt, die Menschen in ihrem Verhältnis zu anderen Menschen tief verletzen 385 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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und ihr Vertrauen nicht nur in bestimmte Personen und in Bezug auf bestimmte Sachen beschädigen, sondern ihre grundsätzliche Haltung des Vertrauens gegenüber anderen Menschen weitgehend zerstören. So schreibt Jean Améry: »Ich weiß also nicht, ob die Menschenwürde verliert, wer von Polizeileuten geprügelt wird. Doch bin ich sicher, dass er schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen. Weltvertrauen. Dazu gehört vielerlei […] Wichtiger aber – und in unserem Zusammenhang allein relevant – ist als Element des Weltvertrauens die Gewissheit, dass der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, dass er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert.« 45 Dieses Vertrauen zu den anderen Menschen, ohne das wir nur noch in der Angst leben, kann nach einer extremen Erfahrung der erlittenen Gewalt nur mühsam und nie vollständig, wenn überhaupt, wiederhergestellt werden. Diese Wiederherstellung ist unter anderen eine der wichtigsten Aufgaben einer Traumatherapie. Sie fängt mit der Entwicklung einer Vertrauensbeziehung in der Therapie selbst an, die erst dann auch auf andere Menschen erweitert werden kann. Andere extreme Formen von Verletzungen, die nicht nur von einer Person erlitten wurden, sondern mehreren Menschen innerhalb einer Gruppe zugestoßen sind und allen zustoßen könnten – man denke an die Bedrohung durch terroristische Angriffe – können das Vertrauensethos einer ganzen Gesellschaft tiefgreifend beschädigen, wenn die Menschen ihrem Reflex eines angstbesetzten Rückzugs auf sich selbst und auf eine Sphäre der erhofften Sicherheit nachgeben. Die mit einem solchen Rückzug einhergehende Tendenz, Kontroll- und Überwachungsmechanismen außerhalb und innerhalb der eigenen Gesellschaft zu verstärken, tragen auch zur Schwächung des Vertrauensethos bei, wie jede Überwachungspolitik. Doch der dadurch erhoffte Zuwachs an objektiver Sicherheit kann die innere Sicherheit, die im Vertrauen gegeben wird, nicht ersetzen. Weniger sichtbar und auch weniger radikal kann jede Erfahrung des verletzten Vertrauens, die nicht sozial aufgefangen wird, das Vertrauensethos der ganzen Gruppe beschädigen. Die Vertrauensbildung und -erhaltung ist insofern nicht nur ein Prozess, in dem jede glückJean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977. 55 f.
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liche, das heißt nicht enttäuschte Erfahrung des Vertrauens zur Stärkung des Vertrauensethos beiträgt. Sie besteht auch darin, dass wir im Rahmen eines gegebenen Ethos und in Bezug auf bestimmte Personen und Objekte lernen, unser Vertrauen so zu schenken, dass wir uns so weit wie möglich keiner Verletzung aussetzen, die unser Vertrauen in die anderen Menschen und das Vertrauensethos dauerhaft beschädigen könnte. Wenn wir Vertrauen schenken, sind wir mit anderen Worten für die Möglichkeit einer Enttäuschung dieses Vertrauens verantwortlich sowie für die Beschädigung des Vertrauensethos durch die Folgen eines verantwortungslosen Vertrauens. Dass wir bei verantwortungsvollem Vertrauen trotzdem enttäuscht werden können, ist das Wagnis jedes Vertrauens. Deswegen muss die Vertrauensbildung und -erhaltung auch darin bestehen, dass wir mit den Enttäuschungen des Vertrauens, mit denen wir immer wieder konfrontiert werden, umzugehen lernen. Im Rahmen eines Erziehungsprozesses zum Beispiel dürfen wir ein Kind mit unserem Vertrauen nicht überfordern, aber ihm dieses Vertrauen trotzdem in Bezug auf mehr oder weniger wichtige Objekte immer wieder schenken und unsere Haltung des Vertrauens ihm gegenüber unter Beweis stellen, auch wenn es schon enttäuscht wurde. Denn nur so kann das Kind lernen, sowohl die Verpflichtung zu erfahren, die durch das Vertrauen anderer Menschen hervorgerufen wird, und entsprechend Verantwortung zu übernehmen, als auch selber bewusst Vertrauen zu schenken. 46 Auch in sozialen Beziehungen zwischen Menschen oder Gruppen darf die Verpflichtung, die aus dem aktuellen Vertrauen auf Grund der Verletzlichkeit des Vertrauenden entsteht, nicht unverhältnismäßig das Maß dessen übersteigen, was innerhalb einer bestimmten Gesellschaft auf Grund des geltenden Vertrauensethos erwartet werden kann. Doch stellt die Normativität des aktuellen Vertrauens immer einen Überschuss gegenüber der geltenden sozialen, gesetzlichen oder politischen Normativität dar. Allein dieser Überschuss vermag es, das Vertrauensethos zu stärken und dadurch auch, trotz der verschiedenen Enttäuschungen des aktuellen Vertrauens, zu erhalten. Allein das gegebene Vertrauen vermag es also, weil 46 Hier spielt die Gegenseitigkeit der Vertrauenswürdigkeit eine entscheidende Rolle, auch wenn das Vertrauen selbst immer eine asymmetrische Beziehung bleibt. Doch auf die komplexe Struktur der Gegenseitigkeit des Vertrauens kann hier nicht eingegangen werden.
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Pascal Delhom
es die sittliche Normativität des Vertrauens innerhalb einer Gesellschaft zugleich voraussetzt und übersteigt, eben diese Normativität zu bilden und zu erhalten. Das Vertrauen findet also in sich selbst, im Zusammenspiel des Vertrauensethos und der aktuellen Ausübung desselben, die Bedingungen der eigenen Entstehung und der eigenen Erhaltung. Darüber hinaus entsteht die Verbindlichkeit des Vertrauens nicht aufgrund einer Kraft oder einer Gewalt, die ihm fremd wäre, sondern auf Grund einer Normativität, die sowohl auf der Ebene des Ethos wie auch und vor allem auf der Ebene der aktuellen Ausübung ihm eigen ist. Das Vertrauen ist von sich aus verbindlich.
6. Relevanz fr eine Philosophie des Friedens Diese Verbindlichkeit des Vertrauens ist insofern friedlich, als sie keiner Gewalt und keiner Androhung derselben bedarf, um wirksam zu sein. Sie wird sogar durch die Gewalt als Durchsetzungsmittel außer Kraft gesetzt. Denn das Vertrauen setzt die Freiheit des anderen verbindlich ein, wohingegen die Gewalt diese Freiheit unterdrückt. Und während die Gewalt von der Verletzlichkeit der anderen Menschen ausgeht, um diese zu bekämpfen und zu bedrohen, setzt das Vertrauen die eigene Verletzlichkeit als das ein, was den anderen Menschen anvertraut wird. Das Wagnis des Einsatzes der eigenen Verletzlichkeit und der entsprechende Mut ersetzen im Vertrauen die Bereitschaft der Gewalt, die anderen zu verletzen und vielleicht zu töten. Das Vertrauen widersetzt sich nicht nur der Gewalt des Angriffs, der Unterdrückung und der Drohung, sondern auch der Gewalt, die nach Emmanuel Levinas darin besteht, die anderen auszuschließen. 47 Denn das Vertrauen bezieht die Handlungen der anderen Menschen in die gemeinsame Welt und in Bezug auf die gemeinsamen Aufgaben ein. Wie der Frieden ist das Vertrauen nur unter Einbeziehung der anderen Menschen möglich und es ist auch als friedliche Form der zwischenmenschlichen Beziehungen dazu geeignet, den Weg des Frieden[s] mit friedlichen Mitteln 48 zu gehen. Viele Fragen bleiben 47 48
Vgl. hier Fußnote 8. So der deutsche Titel eines Buches von Johan Galtung, aus dem Englischen von Hajo
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Das Wagnis des Vertrauens
jedoch offen: Welche Rolle kann und soll die Verbindlichkeit des Vertrauens in der friedlichen Organisation einer gesellschaftlichen Ordnung spielen? In welcher Beziehung steht sie zur sozialen Dimension der Verantwortung für die anderen Menschen und zur Forderung nach Gerechtigkeit sowie zu anderen synthetischen Kräften innerhalb der Gesellschaft und zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, Kulturen und Gemeinschaften? Vermag das Vertrauen, jenseits der eigenen Friedfertigkeit, einen wirksamen Beitrag zur immer neuen Entwicklung und zur nie vollzogenen Aufgabe der Erhaltung des Friedens innerhalb von gesellschaftlichen Gruppen und zwischen ihnen zu leisten? Und welchen Sinn haben im Rahmen dieses Friedens wesentliche Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens, wie die Freiheit und die Sicherheit der Menschen, ihre Gleichheit und die Beziehungen, die sie miteinander verbinden? Diese Fragen zu stellen ist die Aufgabe einer noch zu kommenden Philosophie des Friedens. Ich hoffe aber gezeigt zu haben, dass sie das Vertrauen als ein wichtiges Element der sozialen Verbindlichkeit wird berücksichtigen müssen.
Schmidt. Opladen 1998, in dem allerdings der Gedanke des Vertrauens keine nennenswerte Rolle spielt.
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Sektion 6: Hospitalitt
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Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalitt Iris Därmann
Kants berühmte Friedensschrift beginnt bekanntlich mit der Verbeugung vor dem satirischen Witz eines niederländischen Gastwirtes, der für seine Mundschenke mit dem Schild eines Friedhofs und der Inschrift Zum ewigen Frieden warb. 1 Kant zählt sogleich drei mögliche Adressaten dieser zweideutigen Werbung für die Gastlichkeit auf, die seinem eigenen Text den Titel gab: Sie könne sich an alle Menschen richten, die den Frieden auf Erden wegen der kriegerischen Natur der menschlichen Gattung für eine naive Illusion hielten. Der ewige Friede trete daher erst mit dem Ende der ganzen Menschheit in Kraft. Das Gasthofschild könne aber auch auf jene kriegslüsternen Politiker anspielen, die »den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung« gelten ließen (AA VIII 347). Schließlich könne es sich an die Philosophen wenden, die von der harten Realität der Politik so gar nichts verstünden und als einzige so schwärmerisch seien, »jenen süßen Traum [zu] träumen«. Gegen solch »bösliche Auslegung« will Kant sich freilich »ausdrücklich verwahrt wissen« (AA VIII 343), um mit seinem Vertragswerk, das sich mit seinen Präliminar- und Definitivartikeln an zeitgenössischen Friedensverträgen orientiert, eine erfahrungstaugliche Gegenprobe der philosophischen Vernunft zu liefern, die einen Frieden für Lebende »stiften« (AA VIII 349) will. Der Frieden zwischen den Menschen, Staaten und Völkern kann nicht natur- oder gottgegeben sein. Weder ist er ein »unausführbares Ideal« (AA VIII 371) noch auch eine »sachleere Idee« (AA VIII 343), sondern vielmehr eine menschliche »Aufgabe« (AA VIII 386), die sukzessive nur auf politisch-rechtlichem Wege eingelöst werden kann. Ganz ohne Frage ist Volker Gerhardt weist darauf hin, dass sich der Verweis auf das Schild des holländischen Gastwirts an eine »literarische Vorgeschichte« anlehnt, die von Fontenelle hin zu Leibniz reicht. Volker Gerhardt: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Darmstadt 1995. 35 f.
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Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalitt
der Kantische »Entwurf« von der Vorstellung der juristisch-politischen Instituierung des Friedens beherrscht, die der Gesetzlosigkeit eines kriegerischen Naturzustandes gegenübergestellt wird (AA VIII 348). 2 Irritierenderweise beruft er sich jedoch in seinem dritten Artikel zum Weltbürgerrecht, das die Beziehungen von Individuen zu fremden Staaten »auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität einschränkt«, auf das Naturrecht der Erde als Gemeinbesitz (AA VIII 357 f.). Damit aber bleibt die auf ein bloßes Besuchsrecht reduzierte Gastlichkeit von der Natürlichkeit des Krieges bedroht. 3 Kant selbst spricht dem Weltbürgerrecht den Status »der notwendigen Ergänzung des ungeschriebenen Kodex« von Staats- und Völkerrecht zu (AA VIII 360). Der supplementäre Charakter der kosmopolitischen Hospitalität zeugt zweifellos von der Insuffizienz des rechtlich-politischen Modells gegenüber der Ewigkeitskonzeption des Friedens. Die vertragliche Stiftung ist offensichtlich nicht hinreichend, um die friedliche Koexistenz aller Menschen auf unendliche Dauer zu stellen. Dieser Mangel des positiven Rechts verweist auf eine Dimension von Gastlichkeit, die von Rechts wegen nicht angeordnet werden kann und gerade deshalb den Krieg zu beenden verspricht. Kant scheint den ewigen Frieden unauflöslich mit der allgemeinen Gastlichkeit zu verbinden: Kein Friede ist denkbar, der nicht zugleich eine bestimmte Form der Gastlichkeit gegenüber Besuchern erforderlich machte, die sich an einem für sie fremden Ort »zur Gesellschaft anbieten« (AA VIII 358). Im Kriegszustand gibt es keine Gastfreundschaft. Nicht zufällig eröffnet Kant also seine Begrüßungsklausel mit Wie Hobbes, so ist auch Kant bei der Bestimmung des Naturzustandes als eines Kriegszustandes nicht an der Realität, sondern an der Möglichkeit des Krieges orientiert: »Denn das Wesen des Krieges [besteht] nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der es keine Garantie für das Gegenteil gibt.« Für Hobbes ist der Kriegszustand »ein Leben am Rande der Schlacht« (Thomas Hobbes: Leviathan. Dt. von Jutta Schlösser. Hamburg 1996. 104 f., 151), für Kant, »wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben« (Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Akademieausgabe. Berlin 1910–1955. Bd. VIII. 349 [im Folgenden als AA abgekürzt]). 3 In seiner Gegenüberstellung der Kantischen und Levinasschen Friedens- und Gastlichkeits-Konzeption hat Derrida darauf aufmerksam gemacht, dass »bei Kant die Stiftung [des] ewigen Friedens, eines Weltbürgerrechts und einer Gastlichkeit noch die Spur einer natürlichen, aktuellen oder drohenden, effektiven oder virtuellen Feindschaft beibehält«. Jacques Derrida: Le mot d’accueil. In: Adieu à Emmanuel Levinas. Paris 1997. 39–211, hier: 156; dt. »Das Wort zum Empfang«. In: Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas. Dt. von Reinold Werner. München/Wien 1999. 31–170, hier: 115. 2
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Iris Drmann
dem Hinweis auf ein Gasthausschild, das den Besucher zur Einkehr und zum alimentären Verzehr einlädt. Ist die Hospitalität ein Supplement zur rechtlichen Friedensstiftung, so bleibt sie, die nicht der Ordnung des positiven Rechts angehört, jedoch zugleich in der Natur des Krieges befangen. Warum aber insistiert Kant angesichts ihrer prekären Zwischenposition auf einer Einschränkung und Ökonomie der kosmopolitischen Hospitalität? Muss nicht die Ewigkeit des Friedens, die offenbar durch rechtliche und damit endliche Mittel alleine nicht sichergestellt werden kann, eine unendliche Hospitalität nach sich ziehen, die ihrerseits den Krieg unendlich aufschiebt und ihn nur so »auf immer zu endigen« (AA VIII 356) vermag? Diese Frage stellt sich um so mehr, als Kant eine kaum beachtete Konzeption der Tischgesellschaft ausgearbeitet hat, die zugleich ein kulturelles Modell für die nicht-kriegerische Bewältigung von Konfliktfällen liefert: Die für das »geschmackvolle Gastmahl« aufgestellten »Regeln« bilden einen Schutzwall, der den unvermeidbaren »ernstlichen Streit« vor dem Umschlag in die endgültige Entzweiung und tätige Auseinandersetzung bewahren soll (AA VII 281 f.). Kann »das gute Mahl in guter Gesellschaft« aufgrund der einzigartigen »Vereinigung des geselligen Wohllebens mit der Tugend« sogar Anspruch auf die »wahre Humanität« machen, dann erscheint die wenig generöse Einschränkung der kosmopolitischen Hospitalität desto problematischer (AA VII 277 ff., 282). So fragt es sich, ob Kants alimentäre Hospitalität tatsächlich für das pazifizierende Ungenügen des öffentlichen Rechts und für die kriegerische Bedrohung der Natur aufzukommen vermag, von der sie selbst bedroht wird.
1. »Das gute Mahl in guter Gesellschaft« Kant hat seine Konzeption der Tischgesellschaft in den zwischen 1772 und 1796 jeweils im Wintersemester gehaltenen Vorlesungen zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht skizziert. Insofern er dort das Reisen bzw. das Lesen von Reisebeschreibungen zu einer der wichtigsten anthropologischen Quellen erklärt (AA VII 120), ist diese neu konzipierte und absichtlich populär verfasste Wissenschaft (AA VII 122) selbst auf jene allgemeine Hospitalität angewiesen, die das Weltbürgerrecht dem Reisenden gewährt. Im Glanz der Kritiken fristet die von Kant selbst als letzte seiner Schriften 1798 heraus394 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalitt
gegebene Anthropologie freilich bis heute ein Schattendasein, zu dem er selbst nicht wenig beigetragen haben mag. Denn er lässt das Verhältnis der empirischen Anthropologie zur kritischen bzw. Transzendentalphilosophie durchaus im Unbestimmten. Auch wenn die Anthropologie deren Status nirgendwo ausdrücklich in Frage zu stellen scheint, muss jedoch eine Äußerung Kants diesbezüglich hellhörig machen: So unterstreicht er in seinen Vorlesungen zur Logik, dass seine Leitfragen »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« sich sämtlich auf die vierte Frage »Was ist der Mensch?« und damit auf die Anthropologie bezögen (AA IX 25). Unter dieser Perspektive könnten die drei ersten Fragen in der Tat wie Variationen der einen Frage nach dem Menschen erscheinen. Die bemerkenswerte Abweichung, die diese vierte Frage gegenüber dem radikalindividualistischen Bezug der übrigen Fragen auf das Ich darstellt, 4 gibt der Anthropologie ihre ganze Orientierung. 5 Kant lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass das, was der Mensch in pragmatischer Hinsicht »aus sich selber macht, oder machen kann und soll« (AA VII 119), kein vereinzelter Akt isolierter Individuen ist. Im zweiten Paragraphen, betitelt »Vom Egoismus«, setzt er dem egoistischen Individualismus eine »pluralistische« Denkungsart entgegen, bei der es nicht darum geht, »sich […] als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.« (AA VII 130) Mehr noch: Kant hebt ausdrücklich als Summe der Anthropologie die pragmatische und weltbürgerliche Bestimmung des Menschen (AA VII 120) hervor, die auf seine Kulturalisierung, Zivilisierung und Moralisierung »in einer Gesellschaft mit Menschen« abziele. Den Hang zum passiven Wohlleben als bloß tierisch bezeichnend, ruft Kant dazu auf, sich »vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die [dem Menschen] von der Rohigkeit seiner Natur Volker Gerhardt spricht in diesem Zusammenhang von einer Entschärfung des »extremen Bezugs auf das Ich«, die die vierte Leitfrage hinsichtlich der drei ersten leiste. Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben. Stuttgart 2002. 295 f. 5 Man muss jedoch mit Reinhard Brandt darauf hinweisen, dass Kant weder in den Vorlesungsnachschriften noch auch in der »Anthropologie von 1798 sich auf die Frage ›Was ist der Mensch?‹ als ihr Leitproblem bezieh[t]«; er »erwähn[t] sie nicht einmal.« Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Hamburg 1999. 16. Die Anthropologie will vielmehr und erklärtermaßen anthropologische Kenntnisse für eine praxisorientierende Klugheitslehre bereitstellen, um dabei auf die »Erkenntnis des Menschen als Weltbürger« abzuheben (AA VII 120). 4
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Iris Drmann
anhängen, […] der Menschheit würdig zu machen.« (AA VII 332 f.) Damit ist der weltbürgerliche Rahmen abgesteckt, in dem auch Kants Reflexionen zur Tischgesellschaft situiert werden müssen. Die alimentäre Frage wird anthropologisch gerade nicht aus dem Blickwinkel der naturgegebenen Tatsache vitaler Selbst- (genauer: Fremd-) Erhaltung gestellt, sondern vielmehr unter der Perspektive erörtert, was der Mensch in Gesellschaft und Geselligkeit mit anderen in kultureller, zivilisatorischer und moralischer Hinsicht aus der Notwendigkeit und Lust des Essens macht, machen kann und machen soll. Der Mensch ist ein von Natur aus essendes Wesen, das sich in alimentärer Hinsicht selbst Aufgabe und Verpflichtung ist, um erst noch das zu werden, was es ist und sein soll. Damit wird das Problem des guten Essens mit einem Ethos der Selbstverwirklichung in der Gesellschaft verknüpft. Zwar lässt Kant die »große Tischgesellschaft« lediglich als »Privatgesellschaft« durchgehen, der er die staatsbürgerliche Gesellschaft als einzige der Idee nach »öffentliche« entgegenstellt. Doch im Rekurs auf fremdkulturelle Praktiken der Gastfreundschaft scheint er selbst, wenn auch nur unfreiwillig, die »analogische« Brücke zur »allgemeinen Hospitalität« des Weltbürgerrechts zu schlagen. Dabei verleiht er den »Grundsätzen«, die die Konversation der Tischgesellschaft zu leiten haben, ein quasi-öffentliches Gewicht: »Hier ist etwas Analogisches im Vertrauen zwischen Menschen, die mit einander an einem Tische speisen, mit alten Gebräuchen, z. B. des Arabers, bei dem der Fremde, sobald er jenem nur einen Genuß (einen Trunk Wasser) in seinem Zelt hat ablocken können, auch auf seine Sicherheit rechnen kann, oder wenn der russischen Kaiserin Salz und Brot von den aus Moskau ihr entgegenkommenden Deputierten gereicht wurde, und sie durch den Genuß desselben sich auch vor aller Nachstellung durchs Gastrecht gesichert halten konnte. – Das Zusammenspeisen an einem Tische wird aber als die Förmlichkeit eines solchen Vertrags der Sicherheit angesehen.« (AA VII 279) Das von Kant formulierte Weltbürgerrecht, das dem Besucher eines fremden Territoriums ein gewaltfreies Besuchsrecht und damit den Schutz von Leib, Leben und Eigentum zusichert, will offenkundig an die Stelle solcher lokalen Praktiken der Gastfreundschaft treten, ohne freilich deren alimentären Gehalt zu übernehmen. Auch wenn für Kant außer Frage steht, dass die universale Wahrheit des vernünftigen Rechts mehr wert ist als alle lokalen Partikularismen, so wohnt doch der Einschränkung des Weltbürgerrechts auf die Be396 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalitt
dingungen »allgemeiner Hospititalität« ein »inhospitales Betragen« (AA VIII 358) inne. Diese Inhospitalität wettzumachen muss demnach der privaten Sphäre des oikos vorbehalten bleiben, ohne seinerseits rechtlich einklagbar zu sein. Während das Recht im vollen Licht der Öffentlichkeit steht, hat die Tischgesellschaft, so groß und öffentlich sie sich auch immer geben mag, für Kant den heimlichen Charakter einer privaten Beziehung, deren interne kommunikative Offenheit zu schützen gerade den »Gesetzen der verfeinerten Menschheit« (AA VII 282) aufgegeben wird. So darf, was dort zum Nachteil Abwesender gesprochen wird, den Kreis der Tafel nicht verlassen, um die Mitgenossen der Tischgesellschaft hernach nicht in lauter »Ungelegenheit« zu bringen und sie ihrerseits vor übler Nachrede zu schützen. Für Kant trägt jedes Gastmahl, »auch ohne einen besonderen dazu getroffenen Vertrag, eine gewisse Heiligkeit und Pflicht zur Verschwiegenheit bei sich«, die den, wohlgemerkt, »offenen Verkehr der Menschen mit ihren Gedanken im Umgange zur einschränkenden Bedingung ihrer Freiheit dienen soll« (AA VII 279). Die von ihm selbst gezogene Analogie der »Grundsätze« der geselligen Konversation zum arabischen oder russischen Gastrecht, das den Schutz »vor aller Nachstellung« zusichert, betrifft offenkundig den Schutz des Vertrauens für eine ungehinderte und ungesicherte Rede namens Klatsch, die Kant mit der Tugend der Offenheit assoziiert. Sie bezieht sich jedoch nicht auf die Stiftung eines gemeinschaftlichen Bandes durch die gemeinsame Mahlzeit, die aus zuvor Fremden Angehörige des gleichen Stammes zu machen und so Gefahr für Leib und Leben von ihnen abzuwenden vermag. Augenscheinlich hat Kant das Gespür dafür verloren, dass das von ihm formulierte Weltbürgerrecht sich an die Stelle solcher alimentären Formen des Gastrechts zu setzen versucht. Wenn er aber selbst keinerlei explizite Bezüge zur weltbürgerlichen Hospitalität aufzeigt, wie ist dann seine Tischgesellschaft beschaffen? Und in welcher Konstellation stehen an der von ihm gedeckten Tafel Alimentarität und Sozialität zueinander? Kant grenzt das »gute Mahl in guter Gesellschaft« (AA VII 242, 278) von anderen alimentären Praktiken ab. Da wären zunächst die sowohl moralischen als auch medizinischen Gefahren des »alleine essenden« Philosophen (AA VII 279): »Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeit an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit, die er dagegen gewinnt, wenn ein Tischgenosse ihm durch seine 397 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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abwechselnden Einfälle neuen Stoff zur Belebung darbietet; welchen er selbst nicht hat ausspüren dürfen« (AA VII 280). In dem Maße, in dem das einsame Mahl dem »belebenden Spiel der Gedanken« Abbruch tut und in »erschöpfende Arbeit« ausartet, die »Exhaustion« also an die Stelle der »Restauration« zu treten beginnt, erscheint es in gesundheitlicher Hinsicht bedenklich. Wann immer jedoch das einsame Mahl in »einsame Schwelgerei« (AA VII 280) auszuufern droht, wartet es mit einer moralischen Übertretung auf, die die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten als eine der Pflichtverletzungen gegen sich selbst wertet. Dabei handelt es sich um die »Selbstbetäubung durch Unmässigkeit im Gebrauch der Genieß- oder auch Nahrungsmittel« kurz: »Versoffenheit und Gefräßigkeit« genannt (AA VI 427). 6 Während sich der Opium- oder Alkoholberauschte eine Erniedrigung antut, die ihn noch »unter die tierische Natur« bringt, besteht die Pflichtverletzung des »Unmäßigen« im Genuss der Nahrung in der temporären Lähmung seiner Kräfte, die ihn für solche Handlungen tauglich machen, zu denen »Gewandtheit und Überlegung« erforderlich sind. In passiver Dumpfheit nähert sich der Gefräßige so dem Viehe an, während der Alkoholisierte in den Augen Kants demgegenüber immerhin den Vorzug genießt, einem tätigen Spiel seiner Vorstellungen ausgesetzt zu sein (AA VI 427). Die kasuistischen Fragen verraten freilich eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Beurteilung einer übermäßigen alimentären und alkoholischen Konsumtion in Gesellschaft. Neben dem »physischen Wohlleben« führt sie »noch etwas zum sittlichen Zweck« bei sich, »nämlich viel Menschen und lange zu wechselseitiger Mitteilung zusammen zu halten.« Sofern aber »der Schmaus als förmliche Einladung zur Unmäßigkeit in beiderlei Art des Genusses« durch eine zu große und das gemeinsame Gespräch verhindernde Teilnehmerzahl diesem sittlichen Zweck widerspricht, bleibt er »immer Verleitung zum Unsittlichen« (AA VI 428). Wie zuvor das einsame Mahl, so orientiert Kant auch die Kritik der TischKants eigene orale Obsessionen (Senf, Käse, Kaffee und Tabak), die er durch diätetische Maßnahmen und eine zwangsneurotisch ritualisierte Tagesordnung zu bezwingen suchte, brachen sich im fortgeschrittenen Alter mit zunehmender »Derangierung der Abwehrkräfte« Bahn. Siehe dazu sowie zur »opaken« kulturhistorischen Verdrängung und Austreibung des Leibes, die der Kantischen Philosophie erst ihre orthopädische Fassung verleiht, die einschlägige Studie von Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Realitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M. 1985. 438–442, hier: 442.
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Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalitt
gesellschaft an den Kriterien der Kommunikativität und des maßvollen Genusses. Doch bemerkenswerterweise übertrifft in der Anthropologie die Verurteilung der Sprachlosigkeit noch die Verwerfung der Maßlosigkeit. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als bei der Klassifizierung der Rauschmittel: »Alle stumme Berauschung, d. i. diejenige, welche die Geselligkeit und wechselseitige Gedankenmitteilung nicht belebt, hat etwas Schändliches an sich.« Während sich Opium und Branntwein gerade nicht zur Unterhaltsamkeit im gesellschaftlichen Trinken eignen, dienen Bier und Wein dagegen der geselligen Berauschung, wobei die Trinkgelage mit dem Bierseligen wiederum »mehr träumerisch verschlossen, oft auch ungeschliffen, die aber mit« dem Weintrinker »fröhlich, laut und mit Witz redselig sind« (AA VII 170). Anders als in der Metaphysik der Sitten kann sich Kant in der Anthropologie zu einer »Milderung« seiner Beurteilung selbst des »bloß lallend[en]« Betrunkenen herablassen, der in scheinbarer Sorgenfreiheit und im »täuschenden Gefühl vermehrter Lebenskraft« die »Grenzlinie des Selbstbesitzes« überschreitet. »Denn der Wirt will doch, daß der Gast durch diesen Akt der Geselligkeit völlig befriedigt (ut conviva satur) herausgehe« (AA VII 170). Kant spricht dem Wirt hier offenbar wenn nicht die Erfüllung der Pflicht der Wohltätigkeit, so doch ein Wohlwollen an der Beförderung der trügerischen Glückseligkeit anderer zu (AA VI 452). Der Wein wiederum, sofern er nur »bis nahe an die Berauschung reicht« (AA VI 428), löst die Zunge und öffnet das Herz, um sich solchermaßen als »ein materiales Vehikel einer moralischen Eigenschaft, nämlich der Offenherzigkeit« (AA VII 171) zu erweisen. Von der Einschätzung einer stetigen »Verleitung zum Unsittlichen«, die der Alkoholrausch in der Metaphysik der Sitten noch mit sich führte, ist die Anthropologie weit entfernt. Dagegen geißelt Kant im »Namen des Konversationsgeschmacks, der immer Kultur bei sich führen muß«, sowohl die Sprachlosigkeit der Gesellschaft bzw. die »Leere der Konversation«, die Musik, 7 Tanz und Spiel mit sich bringen, als auch das Übermaß der »festlichen Traktamente«. Denn »Gelag und Abfütterung« animieren nicht zum geselligen Gedankenaustausch und verstoßen daher gegen den sittlichen Zweck der kultivierten Tischgesellschaft. Von der »Üppigkeit« als des »Übermasses des gesellschaftlichen »Eine Tafelmusik bei einem festlichen Schmause großer Herren ist das geschmackloseste Unding, was die Schwelgerei immer ausgesonnen haben mag.« (AA VII 281).
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Wohllebens mit Geschmack in einem gemeinen Wesen«, der der Wohlfahrt desselben zuwiderläuft, unterscheidet Kant die öffentliche Schwelgerei, die, wie der Lordmaireschmaus, »ohne Geschmack« durchgeführt wird und krank macht. Während letztere Veranstaltung durch eine verschwenderische Vielfalt der angebotenen Speisen nur den Sinn der Zunge, des Gaumens und des Schlundes (AA VII 239) affiziert und daher »endlich Ekel [bewirkt]«, 8 belebt der auf Bällen oder in Schauspielen betriebene Luxus, der mit Eleganz für den »idealen Geschmack« ersonnen wird, immerhin die Künste und erweist sich so mit der fortschreitenden Kultur eines Volks als vereinbar (AA VII 249 f.). Wann immer sich eine Tischgesellschaft mit der bloßen Reizung des »Sinns des Schmeckens« (AA VII 250) begnügt, hat sie den wesentlichen Zweck der Mahlzeit verfehlt. Weder die Tatsache des gemeinsamen Essens und die Aufnahme der gleichen Substanz, noch auch die Teilung der Nahrung, die jedem das Seine zugesteht, können das ausmachen, was Kant hier unter Gesellschaft versteht. Der Genuss als die »innigste Einnehmung« (AA VII 157) der Nahrung stiftet keine Sozialität. Die gemeinsame Mahlzeit wird auch nicht Es sind nicht zuletzt die »faulenden« und »zur Nahrung« gebrauchten Sachen, die Ekel hervorrufen. Die Anthropologie begreift den Ekel als einen »Anreiz, sich des Genossenen durch den kürzesten Weg des Speisekanals zu entledigen (sich zu erbrechen)«. Im »Vikariat der Sinne« sind es allein die »mäßig affizierenden«, nicht aber die betäubenden und gewaltsam affizierenden Sinne (wie der Geruch), denen eine »belehrende« Kraft zugetraut wird. Wann immer das Bewusstsein »dem Eindringen der Sinneneinflüsse« nicht hinreichend zu widerstehen vermag, wird »das Denken [unterdrückt]« (AA VII 157 ff.). Anders als die übrigen hässlichen und missfälligen Dinge (»Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges«) sind die Ekel erregenden Dinge daher die einzigen, die sich einer Ästhetisierung und schönen Beschreibung (auf einem Gemälde) entziehen und jenes harmonische Spiel von Verstand und Einbildungskraft zum Abbruch zwingt, welches die Kritik der Urteilskraft als negative Lust des Denkens fasst. Der Ekel ruiniert die »Kunstschönheit« und unterminiert die kontemplative Distanz: »Denn, weil in dieser sonderbaren, auf lauter Einbildung beruhenden Empfindung der Gegenstand gleichsam, als ob er sich zum Genusse aufdränge, wider den wir doch mit Gewalt streben, vorgestellt wird: so wird die künstliche Vorstellung des Gegenstandes selbst in unserer Empfindung nicht mehr unterschieden, und jene kann alsdann unmöglich für schön gehalten werden.« (AA V 312). Derrida fasst den exklusiven Status dieser »Art des Häßlichen«, die Ekel hervorruft und sich der schönen Darstellung als »nicht repräsentierbarer Rest« entzieht, als das »Transzendentale des Transzendentalen«, das als »das Nicht-Transzendentalisierbare« und »Nicht-Idealisierbare« die Kantische Philosophie des reinen Geschmacks bedroht und daher als ihr radikal »Anderes« determiniert werden muss. Jacques Derrida: Economimesis. In: Mimesis des Articulations. Paris 1975. 57–93, hier: 90, 89, 92.
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als eine kulturelle Institution in Betracht gezogen, die den Akt des einsamen Essens als Depravation ihres sozialen Sinns hervortreten ließe; im Gegenteil kann die »leibliche Befriedigung« des Essens »ein jeder auch für sich allein haben« (AA VII 278) 9 . Diese Unterbestimmung der alimentären »Socialität« (AA VII 241), die den Sinnengeschmack ganz auf die Seite einer isolierten Animalität zu ziehen gewillt ist, hängt mit dessen Verständnis als eines bloßen »Privatsinns« (AA VII 242) zusammen. Dem Geschmack »in der eigentlichen Bedeutung des Worts« (AA VII 239) traut Kant bekanntlich keinerlei Ankündigung auf Allgemeinheit oder aber zumindest Intersubjektivität zu, auch wenn er weiß, dass es spezifische »Gewohnheiten« gibt, die Angehörige derselben Esskultur teilen: Es ist nicht zuletzt seiner strikten Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre geschuldet, dass Kant die soziale, wenn nicht ethisch-politische Dimension der Tischgesellschaft auch hinsichtlich der Frage der kosmopolitischen Hospitalität völlig aus dem Blick geraten muss. Erst William Robertson Smith’ Bahn brechende Interpretation des »Kamelopfers« der Sarazenen (als gemeinsame Mahlzeit mit der Gottheit und verwandtschaftsbegründende Institution der »Tischgenossenschaft«, wie sie sich im arabischen Gesetz der Gastfreundschaft manifestiert), hat für das ausgehende 19. Jahrhundert ein mit dem kontraktualistischen Modell konkurrierendes Paradigma der Stiftung alimentärer Sozialität bereitgestellt, das sich in Durkheims Religionssoziologie, Freuds Sozialpsychoanalyse in Totem und Tabu oder aber Simmels Soziologie der Mahlzeit Geltung verschaffen konnte. Durch die »Handlung des gemeinsamen Essens und Trinkens« werden aus zuvor einander Fremden mindestens solange Brüder, als man sich die von ihnen geteilte Nahrung »im Körper verbleibend denkt«, weshalb es zur »Festigung des zeitweiligen Bandes« der Wiederholung bedarf. Die entschieden »ethische Bedeutung« der gemeinsamen Mahlzeit sieht Robertson Smith in der Stiftung und Bewahrung von sozialen, mit kategorialer Verbindlichkeit geltenden »absoluten Verpflichtungen« eröffnet, die auf der Grundlage der Teilhabe (methexis oder Partizipation) »an einer gemeinsamen Leiblichkeit« von Fleisch, Bein, Blut und Milch jeden Fremden in einen Stammesgenossen zu verwandeln und das Band der Gemeinschaft je aufs Neue zu befestigen vermag (William Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites. First Series: The Fundamental Institutions [1889]. London 1907. 265, 270, 275). Ausgehend von Simmels Soziologie der Mahlzeit, die die Mahlzeit als soziale Institution und »Brücke zwischen den privaten und öffentlichen Funktionen von Speisen und Getränken« in Betracht zieht, sofern sie nur »von einer Gruppe gemeinschaftlich konsumiert werden«, rekurriert der Ökonom Albert O. Hirschman auf die eminent politische Funktion der Gastmähler und Opfermahlzeiten im Griechenland der archaischen und klassischen Epoche, wie sie etwa in den einschlägigen Studien von Marcel Detienne, Paul Veyne oder Nicole Loraux augenfällig gemacht worden ist, um die Mahlzeit auch gegenwärtig als eine Einrichtung anzusehen, bei der sich »das Öffentliche und Private […] vermischen und miteinander verschmelzen können.« (Albert O. Hirschman: Tischgemeinschaft. Zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Dt. von Niels Kadritzke. Wien 1997. 15, 19 f.).
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»So gilt nämlich die Geschmacksregel in Ansehung der Mahlzeiten für die Deutschen, mit einer Suppe, für Engländer aber, mit der derben Kost anzufangen; weil eine durch Nachahmung allmählich verbreitete Gewohnheit es zur Regel der Anordnung einer Tafel gemacht hat (AA VII 240).« Kant dekretiert, dass jeder für sich alleine schmeckt und dabei seine Privaturteile fällt, ohne die Empfindungen seiner Zunge durch die »Privatempfindung« anderer oder gar durch eine »allgemeine Stimme« beirren zu lassen (AA V 216). Im Beharren auf den je eigenen Geschmack, der sich gegen allgemeine »Gründe taub« stellt und ein je singuläres Urteil über das Objekt fällt, 10 sieht er freilich ein den Sinnen- und den Reflexionsgeschmack verbindendes Moment und eine der »Hauptursachen« dafür, warum man das ästhetische Beurteilungsvermögen »vornehmlich in den neueren Sprachen« (AA VII 242) »gerade mit dem Namen des Geschmacks belegt hat (AA V 285).« Dem Wirt aber, dem man bei der Auswahl und der Zubereitung der Speisen Geschmack nachsagt, will Kant den ästhetischen Geschmack gerade absprechen. Sein Urteil könne nicht »auf jedermanns Beistimmung rechtmäßigen Anspruch machen« (AA V 213), da seine Tafel lediglich eine »komparative Allgemeingültigkeit« widerspiegele. Sie zeuge von seiner Geschicklichkeit in der Wahl einer »Mannigfaltigkeit« von Speisen und Getränken, so daß ein jeder für seinen gusto durchaus etwas finden möge. Der Geschmackssinn ist jedoch in pragmatischer Hinsicht einer Kulturalisierung und Zivili-
10 Vgl. dazu die parallelen Formulierungen aus der Kritik der Urteilskraft, die die Besonderheit sowohl des ästhetischen als auch des sinnlichen Geschmacksurteils hervorheben: »Wenn mir jemand sein Gedicht vorliest, oder mich in ein Schauspiel führt, welches am Ende meinem Geschmacke nicht behagen will, so mag er den Batteux oder Lessing, und alle von ihnen aufgestellte Regeln zum Beweise anführen, daß sein Gedicht schön sei; auch mögen gewisse Stellen, die mir eben mißfallen, mit Regeln der Schönheit […] gar wohl zusammenstimmen: ich stopfe mir die Ohren zu, mag keine Gründe und kein Vernünfteln hören, und werde eher annehmen, daß jene Regeln der Kritiker falsch seien, oder wenigstens hier nicht der Fall ihrer Anwendung sei, als daß ich mein Urteil durch Beweisgründe a priori sollte bestimmen lassen, da es ein Urteil des Geschmacks und nicht des Verstandes oder des Vernunft sein soll. […] Es mag mir jemand alle Ingredenzien eines Gerichts herzählen, und von jedem bemerken, daß jedes derselben mir sonst angenehm sei, auch obenein die Gesundheit dieses Essens mit Recht rühmen: so bin ich gegen alle diese Gründe taub, versuche das Gericht an meiner Zunge und meinem Gaumen: und darnach (nicht nach allgemeinen Prinzipien) fälle ich mein Urteil (AA V 284 f.).«
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sierung fähig, von der die Kunst der Köche Zeugnis ablegt. Eine solche Verfeinerung des Geschmacks, die über die bloße »Abfütterung« weit hinaus geht, räumt Kant im übrigen selbst ein, wenn er die Allerweltsmeinung bestreitet, dass der »Hunger […] der beste Koch« sei, »und Leuten von gesundem Appetit [alles] schmeck[e] […], was nur eßbar« sei: »Nur wenn das Bedürfnis befriedigt ist, kann man unterscheiden, wer unter vielen Geschmack habe oder nicht (AA V 210).« Damit aber gibt es zumindest eine empirische Allgemeinheit des kulinarischen Geschmacks für das Angenehme, das die Tischgenossen verbinden kann und über dessen Urteile auch bei einer Tischgesellschaft zu reden sich lohnt, gesetzt, dass der Gedankenaustausch in der Wechselrede den sittlichen Zweck einer jeden kultivierten Tafel bereitstellt. Doch trotz dieses pragmatischen Zugeständnisses an einen gemeinsamen kulinarischen Geschmack, der eine Gemeinschaft der Münder, Schlünder und Gaumen herstellen mag, bleibt das »Gute« der »Mahlzeit« für Kant ein bloßes »Vehikel« für das »Gute« der Gesellschaft. Daher ist auch die »Vielheit der Gerichte nur auf das lange Zusammenhalten der Gäste […] abgezweckt«, deren gemeinsame »Unterredung gewöhnlich […] drei Stufen« durchläuft: Zunächst, während der Befriedigung des »ersten Appetits«, das Erzählen der Neuigkeiten des Tages, »zuerst einheimische, dann auch auswärtige«, wie sie »durch Privatbriefe oder Zeitungen eingelaufen« sind. Sodann das »Räsonnieren«, das bei der »Verschiedenheit der Beurteilung« über denselben Gegenstand stets in einen »Streit« mündet, »der den Appetit für Schüssel und Bouteille rege, und nach dem Maße der Lebhaftigkeit dieses Streits […] auch gedeihlich macht.« Schließlich fällt das Gespräch, nach der Anstrengung des Vernünftelns, »auf das bloße Spiel des Witzes«, von dem auch die anwesenden Damen nicht ausgeschlossen sind, sofern »die kleinen mutwilligen, aber nicht beschämenden Angriffe auf ihr Geschlecht«, ihnen wiederum Gelegenheit bieten, »sich in ihrem Witz selbst vorteilhaft zu zeigen«. So endet die Mahlzeit in gutmütigem Lachen, das durch Erschütterung von Zwerchfell und Eingeweide der Verdauung recht zuträglich sein soll (AA VII 280 f.). Kant flankiert diese thematische Strukturierung der Konversation mit einem quantitativen Kriterium, das ihm für das Gute der Tischgesellschaft unabdingbar erscheint: »Wenn ich eine Tischgesellschaft aus lauter Männern von Geschmack (ästhetisch vereinigt) nehme, so wie sie nicht bloß gemeinschaftlich eine Mahlzeit, sondern einander selbst zu genießen die Absicht haben«, so darf sie »nicht 403 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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unter der Zahl der Grazien 11 und auch nicht über der der Musen 12 sein.« Nur eine kleine Runde bietet die Gewähr, dass die Unterredung nicht ins Stocken gerät oder »sich in abgesonderten kleinen Gesellschaften mit dem nächsten Beisitzer teil[t]« (AA VII 278). Im Namen des Konversationsgeschmacks darf die ästhetische Vereinigung – mindestens auf männlicher Seite – niemanden vom Gespräch ausschließen und muss Separationen vermeiden. Die von Kant aufgestellten »Regeln eines geschmackvollen Gastmahls« dienen der Wahrung einer solchen kommunikativen Hospitalität und bieten zugleich eine Orientierung für den Umgang mit ernsthaften Konfliktfällen. So soll (a) der Gesprächsgegenstand immer so ausgewählt werden, dass er von allgemeinem Interesse ist und jedem »Anlass« bietet, etwas Passendes beizusteuern. »Tödliche Stille« (b) müsse in jedem Fall vermieden werden. Auch gelte es (c), nicht von Thema zu Thema zu springen, sondern in der Behandlung des Gegenstandes eine gewisse Kontinuität einzuhalten, um das Gemüt in der »Rückerinnerung« nicht zu verwirren. Nur so könne es in seiner Kultur fortschreiten. Rechthaberei dürfe (d) weder entstehen noch andauern. Trete sie aber dennoch auf, so sei sie sogleich durch eine scherzhafte Bemerkung »geschickt« zu entschärfen (AA VII 281). (e) »In dem ernstlichen Streit, der gleichwohl nicht zu vermeiden ist, sich selbst und seinen Affekt sorgfältig so in Disziplin zu erhalten, daß wechselseitige Achtung und Wohlwollen immer hervorleuchte, wobei es mehr auf den Ton (der nicht schreihälsig oder arrogant sein muß), als auf den Inhalt des Gesprächs ankommt; damit keiner der Mitgäste mit dem anderen entzweitet aus der Gesellschaft in die Häuslichkeit zurückkehre (AA VII 281).« Kant geht von der Unvermeidbarkeit des »ernstlichen Streites« und damit von einer »ungeselligen Geselligkeit« (AA VIII 21) aus, von der auch die ästhetisch vereinigte Tischgesellschaft nicht ausBei den Grazien handelt es sich bekanntlich um die Dienerinnen von Heras und Aphrodites. Für gewöhnlich werden drei genannt: Euphrosyne (Frohsinn), Aglaia (Glanz) und Thaleia (die Blühende). 12 Die Musen waren Zeus’ Töchter und wohnten auf dem Olympos. Die Griechen kannten insgesamt neun Musen (vgl. Hesoid, Theogonia, 77/79): Erato (Muse der erotischen Poesie und Musik), Euterpe (Muse des Flötenspiels und der tragischen Chöre), Kalliope (Muse der epischen Poesie, der Rhetorik und Philosophie), Kleio (Muse der Geschichtswissenschaft), Melpomene (Muse des Gesangs), Polyhymnia (Muse des Lyraspiels), Terpsichore (Muse des Tanzes), Thaleia (Muse der Komödie), Urania (Muse der Astronomie). 11
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genommen ist. Gleichzeitig aber betont er, dass die Konversation bei Tisch »kein Geschäft, sondern nur Spiel sein soll« (AA VII 281). Es ist bemerkenswert, dass es, neben der Disziplinierung der Affekte, beim spielerischen Umgang mit solch ernsthaften Streitfällen nicht so sehr auf den Inhalt als vielmehr auf den Ton ankommt. Dieser muss von gegenseitiger Achtung, von Wohlwollen und Witz getragen sein, um die endgültige Entzweiung zu vermeiden. 13 Kant gibt hier ein skizzenhaftes Modell vor, wie ein nach Regeln geführter Streit spielerisch und mit Esprit ausgefochten werden kann, ohne sich auf die Richtigkeit des Arguments zurückziehen und auf die affektive Gewaltsamkeit des Rechthabens versteifen zu müssen. Neben der kommunikativen Hospitalität, die niemanden vom Gespräch auszuschließen trachtet, setzen Kants Regeln auf eine argumentative Gastlichkeit, für die der Streit um die perspektivisch jeweils richtige Sache aus Achtung vor der anderen Person vernachlässigt werden und ins Hintertreffen geraten kann, ohne einer trügerischen Harmonie das Wort zu reden. 14 Es ist dieser Nachgiebigkeit in der Sache geschuldet, die kein vorschnelles Überdecken des Disparaten und Differenten, sondern dessen spielerisches In-der-Schwebe-Lassen bedeutet, dass die Tischgesellschaft schließlich ästhetisch vereinigt auseinander gehen kann. 15 13 In seiner Untersuchung über den Prozess der europäischen Zivilisation sieht Elias in den höfisch-aristokratischen Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts ein Modell der Verhaltens- und Triebregulierung (beim Essen, Schlafen, Wohnen, Kleiden, in der geistvollen Durchführung einer Unterhaltung), das sich sukzessive und unter Modifikationen im übrigen Gesellschaftskörper ausbreitet. An diesem Modell ist zweifellos auch Kants Tischgesellschaft orientiert. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1979. 409 ff. 14 Diese kommunikative Hospitalität findet freilich in der Regelverletzung der Wiederholung schaler Witze und tumber Phrasen ihre Grenze. Nicht zufällig analogisiert Kant die dadurch hervorgerufene Empfindung des Überdrusses mit dem Ekel: »Weil es aber auch einen Geistesgenuß gibt, der in der Mitteilung der Gedanken besteht, das Gemüt aber diesen, wenn er uns aufgedrungen wird und doch als Geistesnahrung für uns nicht gedeihlich ist, widerlich findet (wie z. B. die Wiederholung immer einerlei witzig oder lustig sein sollender Einfälle uns selbst durch diese Einerleiheit ungedeihlich werden kann), so wird der Instinkt der Natur, seiner los zu werden, der Analogie wegen gleichfalls Ekel genannt, ob er gleich zum inneren Sinn gehört.« Kurzum: die schlechte Tautologie sprengt jede »Geselligkeit im Genießen«, verunmöglicht die ästhetische Vereinigung und sprapaziert die Achtung vor dem Anderen, dessen Gegenwart man sich (wie bei der »Vitalempfung« des Erbrechens fauler Speisen) auf »kürzestem Wege […] zu entledigen« trachtet (AA VII 157 ff.). 15 Agnes Heller, der das uneingeschränkte Vorrecht gebührt, erstmals auf die kulturelle
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Was Kant diesbezüglich jedem Gastgeber und Gast einer Tischrunde pragmatisch nahe legt, davon will er die Philosophie freilich ausgenommen wissen, die ein anderes, mithin nichtalltägliches Modell für das Austragen und die Bewältigung von Konfliktfällen liefert. Dabei sollen ganz Platonisch gerade die besseren Gründe den Ausschlag geben. Kant geht keineswegs von einer zukünftigen Welt aus, aus der Streit, Konflikt und Zwietracht auf ewig verschwunden sind. Er denkt vielmehr an eine Welt, in der der unumgängliche Streit ein Prinzip der schöpferischen Unruhe und »Abwehrung des Todesschlafs« der Kulturen darstellt, ohne ein kriegerisches Auseinanderbrechen der Parteien im Gefolge zu haben. In seiner Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (von 1796) legt er Nachdruck auf die Unterscheidung zwischen Streit und Krieg, um deutlich zu machen, dass der ewige Friede auf den philosophisch ausgefochtenen Streit der praktischen Gründe als eines »fortwährenden Belebungsmittels zum Endzweck der Menschheit« angewiesen ist. Der »gemächlich ruhende Friede«, in dem »die Kräfte nur erschlaff[t]en« (AA VIII 418) und aller Streit beigelegt wäre, bedeutete dagegen wenn nicht die Friedhofsruhe, so doch ein »Polster zum Einschlafen« (AA VIII 415) der Vernunft. Die stasis der Vernunft wäre gewissermaßen Geißel und Wirkung noch Bedeutung von Kants Gastmahl hingewiesen zu haben, betont in ihrer Interpretation ebenfalls die nicht konsens-, sondern differenzorientierten Regeln der »wechselseitigen allgemeinen Unterhaltung«. In ihren Augen ist Kants Symposium um des ausdrücklichen Spielcharakters der Tischgespräche willen ein Theater und »simulacrum of the best social and political world«. Dabei bezieht sie sich vor allem auf den von Kant in der Anthroplogie (§ 12) tragfähig gemachten »erlaubten moralischen Schein« und den geradezu Nietzscheanisch anmutenden Gedanken, dass aus dem theatralischen Schein des Guten (der von der Zivilisiertheit, nicht aber von der Moralität der Menschen zeuge, wie schon der siebte Satz der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht zu beklagen wusste) und dem »Spiel der Verstellungen […] endlich wohl Ernst«, will sagen: moralisch wahres Sein werden könne. Damit erlange die von Kant skizzierte Tischgesellschaft den Status einer gelebten »utopian reality«, deren Nachwirkungen in Form gemeinsamer historischer Erinnerung an den thematisch geordneten, »wechselseitigen Austausch der Gedanken« als »utopia of the past« zum Tragen kämen. Agnes Heller: Culture, or Invitation to Luncheon by Immanuel Kant. In: Agnes Heller: A Philosopy of History in Fragments. Oxford and Cambridge 1993. 136–175. In seiner groß angelegten Habilitationsschrift Philosophen Essen. Einführung in die Gastrosophie ist Harald Lemke der innerhalb des europäischen Denkens weitgehend marginalisierten Philosophie des Essens auf der Spur. Dabei finden auch die einschlägigen Überlegungen Kants ihren Platz. Siehe dazu das instruktive Kapitel: Kritik der diätmoralischen Vernunft. Zur Antinomie der Kantischen Ernährungsphilosophie.
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des verheerendsten Krieges. Der ewige Friede ist aber darauf angewiesen, je aufs Neue mit der »Stärke der praktischen Gründe« erstritten zu werden, weshalb die Vernunfttätigkeit ein »unaufhörlich begleitender bewaffneter Zustand ist« und sein muss: »Die streitbare Verfassung« der kritischen Philosophie ist »noch kein Krieg«. Indem sie »diesen vielmehr durch ein entschiedenes Übergewicht der praktischen Gründe über die Gegengründe zurückh[ält]«, kann und soll sie »so den Frieden sichern« (AA VIII 417).
2. Das Gute der Tischgesellschaft: oder die spielerische Zurckhaltung des Krieges im Streit Die friedenssichernde Aufgabe der kritischen Philosophie, die darin besteht, die machthabenden und zukünftigen Politiker von der Notwendigkeit und Pflicht der rechtlich-politischen Instituierung eines ewigen Friedens zu überzeugen, setzt auf die kriegszurückhaltende, aber beileibe nicht wehrlose Verfassung eines »nach Regeln geführten Streites« 16 der besseren Argumente. Indem sie ihrerseits auf die Kriegsführung gegen unbeweisbare theoretische Systeme verzichtet, gibt sie selbst ein praktisches Beispiel für die kriegsaufschiebende Wirkung des Streits, der für Kant nichts Verwerfliches hat. Im Gegenteil: Mit der Einsicht in die Unverzichtbarkeit der philosophischen Streitführung für die Sicherung eines ewigen Friedens übernimmt die kritische Philosophie selbst jenes kulturdynamische Pensum, das Kant zuvor in seinen geschichtsphilosophischen Reflexionen dem kriegerischen »Antagonismus« zugesprochen hatte, den die Natur als ein unverzichtbares Mittel zur Kultivierung des Menschen und der »Geschichte seiner Freiheit« eingesetzt hat: »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.« (AA VIII 21 f.) Dieses Lob des Krieges erstummt, sobald sich seine kultur- und staatenbildende Zweckmäßigkeit angesichts des zwingend gebotenen Beitritts der Staaten in einen »Völkerbund« erfüllt hat und nurmehr »Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängige innere Erschöpfung [der] Kräfte« (AA VIII 24), aber nichts »Gutes« mehr hinterläßt (AA VIII 119) 17 . Volker Gerhardt: Immanuel Kants Entwurf ›Zum ewigen Frieden‹. A. a. O. 38. In seinem instruktiven Kommentar legt Volker Gerhardt ein eindrucksvolles Zeugnis von »Kants Wende zur Friedenspolitik« ab, das den Überlegungen an dieser Stelle ihre 16 17
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Spätestens mit dem ansteckenden Ereignis der Französischen Revolution, das für eine »Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« den unvergesslichen 18 Umschlagpunkt zur Freiheit nach Rechtsprinzipien bezeichnet, wird für Kant der Krieg historisch obsolet. Damit muss er sowohl intra-national als auch inter-national einer rechtlichpolitischen Friedensstiftung weichen. Der »Automatismus«, mit dem die Absicht der Natur die Menschheit historisch durch das Mittel des Krieges zur Instituierung bürgerlicher Staaten und des Völkerbundes zwingt, steht dabei durchaus quer zu der von Kant statuierten moralischen »Pflicht«, 19 aus dem Kriegszustand heraus- und in einen bürgerlichen Zustand einzutreten, 20 um das natürliche Privatrecht, das Orientierung verleiht. Volker Gerhardt: Immanuel Kants Entwurf. A. a. O. 14–23. Mit seinen widersprüchlichen Äußerungen zu Krieg und Frieden hat Kant seine Leser dauerhaft irritiert. Zur Rezeptionsgeschichte der Debatte um die Frage, ob Kant nun »Pazifist« oder aber Kriegsbefürworter gewesen ist, siehe Georg Cavallar: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs ›Zum ewigen Frieden‹ (1795) von Immanuel Kant. Wien/Köln/Weimar 1992. 383 ff. 18 In Der Streit der Fakultäten spricht Kant bekanntlich von der Französischen Revolution als einem »Phänomen«, das sich »in der Menschengeschichte […] nicht mehr [vergißt]«. Der Erinnerungswert dieses Ereignisses hat dabei nicht so sehr eine historische als vielmehr eine zukünftige Dimension: »Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt und ihrem Einflusse nach auf die Welt in allen ihren Theilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte.« (AA VII 88) 19 Mit seiner rechtslogischen Problematisierung des Naturzustandes stellt die von Kant formulierte Eintritts-Pflicht in den bürgerlichen Zustand den radikalindividualistisch begründeten Austrittszwang aus dem Hobbesschen Kriegszustand vom Kopf auf die Füße: »Das Sollen entspringt nicht einem – und sei es auch allgemeinheitsfähigen – Interesse des Aufgeforderten an Leib und Leben, sondern dem rechtlichen Anspruch anderer auf eine Ordnung des äußeren Mein und Dein. Nicht im Lichte der rationalen Ausdifferenzierung meines Interesses, sondern als pflichtmäßige Reaktion auf den legalen Anspruch eines anderen bin ich – nunmehr ausdrücklich im moralischen Sinn – verpflichtet, den status naturalis zu verlassen und der Errichtung des bürgerlichen Zustandes zuzustimmen.« Karlfried Herb/Bernd Ludwig: Naturzustand, Eigentum und Staat. Immanuel Kants Relativierung des ›Ideal des Hobbes‹. In: Kant-Studien (83) 1993. 283–316, hier: 309. 20 So heißt es in der Metaphysik der Sitten: »›du sollst in diesen Zustand treten‹« (AA VI 306). Diese Pflicht erwächst bekanntlich aus der Kantischen Eigentumslehre: Weil die ursprüngliche Erwerbung, will sie auf einen provisorischen Rechtstitel Anspruch machen können, sich »in Konformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes, d. i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit desselben (denn sonst wäre die Erwerbung abgeleitet)« zu vollziehen hat, erwächst aus ihr auch zugleich die Sollensanforderung, mit allen anderen in jenen bürgerlichen Zustand einzutreten, der allein »alle Erwerbung peremtorisch machen kann« (AA VI 264). Kant versteht die
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provisorische Recht im Naturzustand, durch das öffentliche Recht abzulösen. Die Unbedingtheit der Pflicht, den bürgerlichen Zustand herbeizuführen, verschafft er in der Metaphysik der Sitten noch dadurch Nachdruck, »daß ein jeder den anderen mit Gewalt antreiben darf«, in denselben einzutreten (AA VI 312). Diese Pflicht duldet keine staatenlosen Menschen oder Gesellschaften ohne Staat: »Alle Menschen, die auf einander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgendeiner bürgerlichen Verfassung gehören (AA VIII 349).« Doch erstreckt sich diese Hobbessche Gewaltbefugnis zur Stiftung eines rechtlichen Zustandes nicht auf die Kolonialisierung oder den betrügerischen Kauf des Bodens solcher Völker, die, »wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hottentoten, die Neuholländer«, noch »keine Aussicht zu einer bürgerlichen Verfassung« versprechen (AA VI 266). 21 Einerseits beruht das Weltbürgerrecht der Friedensschrift auf dem »Postulat« (AA VIII 349), dass alle Menschen Staatsbürger werden und sein müssen, um ihrem wechselseitigen Verkehr die Rechtssicherheit des bürgerlichen Zustandes zu verleihen. Andererseits aber wird die Hospitalität, d. h. »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden«, ausdrücklich als »Naturrecht« ausgewiesen. So steht man vor der Frage, ob das Weltbürgerrecht in seiner naturrechtlichen Begründung Staatenlose, Heimatlose und Vertriebene schlechterdings aus seinem Geltungsbereich ausschließt oder aber, ob es nur so lange Gültigkeit behält, bis alle Verhältnisse bürgerliche Gesellschaft bekanntlich als das rechtsvernünftige Resultat der Idee des vereinigten, gesetzgebenden Willens aller, die der ursprünglichen Erwerbung »geltungstheoretisch vorgeordnet [ist]« (Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Recht- und Staatsphilosophie. Berlin/New York 1984. 147). Daher werden auch alle klassischen, den Austritt aus dem Naturzustand betreffenden Motive und Forderungen wenn nicht strukturell hinfällig, so doch nebensächlich: »Die bürgerliche Verfassung ist nicht willkürlich sondern nach Gründen des Rechts und der Sicherheit der anderen nothwendig. Die Gesellschaft ist auch nicht die Ursache dieses Zustandes sondern die Wirkung. Der practische souveräne Grund des Rechts macht eine Gesellschaft.« (AA XIX. Refl. 7847, 533). 21 In ihrer Einschätzung, dass es Kant bei seinem Weltbürgerrecht um »eine grundsätzliche Kritik am europäischen Kolonialismus« zu tun sei, sind sich die meisten Leser des Entwurfs zum ewigen Frieden einig. Siehe dazu exemplarisch Günther Patzig: Kants Schrift »Zum ewigen Frieden«. In: Reinhard Merkel/Roland Wittmann (Hg.): »Zum ewigen Frieden«. Grundlagen, Aktualitäten und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt a. M. 1996. 12–30, hier: 21.
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von staatenlosen Individuen und Gesellschaften zu Staaten »zuletzt öffentlich gesetzlich« geworden und in eine »weltbürgerliche Verfassung« überführt worden sind. Das Hospitalitätsrecht entstammt der Eigentumslehre der Metaphysik der Sitten: »Alle Menschen sind ursprünglich in einem Gesammt-Besitz des Bodens der ganzen Erde« (AA VI 267) und »haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat« (AA VI 261). Kant unterstellt das Widerfahrnis der natalen Geworfenheit dem angeborenen Recht auf Freiheit, das sich in dem »Recht der Oberfläche« (AA VIII 358) niederschlägt, da zu sein, wo man jeweils ist, und sich dorthin zu bewegen, wohin man gerade gehen möchte. Denn niemand hat »[ursprünglich] an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht, als der andere (AA VIII 358).« Das Hospitalitätsrecht beruht nicht auf »Philanthropie«, sondern auf der die Rechtssphäre insgesamt auszeichnenden Gegenseitigkeit: Händler, Wissenschaftler oder Missionare haben das Recht, sich selbst und ihre Güter gewaltlos »zur Gesellschaft anzubieten« (AA VIII 358), wie sie umgekehrt darauf setzen können, nicht mit Gewalt von dem für sie fremden Territorium vertrieben zu werden. Das Weltbürgerrecht bedeutet, dass Menschen und Staaten, wo immer sie in wechselseitiger Beziehung stehen, »als Bürger eines allgemeinen Menschenstaates anzusehen sind […]. Denn wenn nur einer von diesen im Verhältnis des physischen Einflusses auf den anderen und doch im Naturzustande wäre, so würde damit der Zustand des Krieges verbunden sein (AA VII 349, Anm.).« Das Weltbürgerrecht versucht, den Naturzustand abzuschaffen, es steht gewissermaßen unter der »Gunst« der bürgerlichen Gesetzgebung (AA VI 267), ohne freilich seine naturrechtliche Legitimationsbasis in ein positives Recht überführen zu können. Der Naturzustand überlebt im Weltbürgerrecht, solange nicht alle Menschen Bürger eines Staates geworden sind oder wann immer sie ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Für Kant hebt die Geschichte und Natur des Menschen mit dem kriegerischen Antagonismus an. Daher gibt es keinen naturgegebenen Frieden. Und dennoch ist seine vorbehaltlose politisch-rechtliche »Stiftung« (AA VIII 349) auf die »notwendige Ergänzung« (AA VIII 360) durch das Naturrecht der Hospitalität angewiesen, das damit, zumindest virtuell, vom Kriegszustand bedroht bleibt. Im Herzen des Kantischen Friedens rumort die stete Möglichkeit des Krieges, den dieser rechtlich nicht zu verdrängen vermag und der von der Unangemessenheit der rechtlich-politischen Sphäre ge410 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalitt
genüber sich selbst zeugt. Wenn Rechtsfiguren alleine nicht ausreichen, um den Frieden zu verewigen, dann bedarf es notwendigerweise friedenserzeugender kultureller Praktiken. Umso unverzichtbarer erscheint daher die Gastfreundschaft und die Tischgesellschaft, die mit ihrem Modell des regelgeleiteten Streits den Kriegszustand unendlich aufschiebt, ohne ihn jedoch jemals endgültig abschaffen zu können. Warum aber schränkt Kant selbst die Hospitalität ausdrücklich auf ein bloßes Besuchsrecht ein, um damit jeden Anspruch auf ein Gastrecht zunichte zu machen, »wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erforderlich« wäre, der den fremden Besucher »auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen […] machen« würde (AA VIII 358)? Ohne diese Einschränkung der Hospitalität zu problematisieren oder wenigstens an eine großzügigere Auslegung des Hospitalitätsrechts zu denken, zeichnen wohlmeinende Kantianer Kants kosmopolitische Rechtsmoral diesbezüglich als »nichtpaternalistisch« aus. Räume sie doch den einzelnen Staaten die nationale Freiheit ein, das Besuchsrecht mit einem »Einwanderungsverbot [zu] verbinden«. 22 Indem Kant den Staaten jedoch die Freiheit lässt, sich die Wohltätigkeit und das humanitäre Engagement für Fremde und Heimatlose zu erlassen, bleiben diese in der animalischen Selbstgefälligkeit ihrer nationalstaatlichen Eigeninteressen befangen. Nicht nur billigt er den Staaten das Recht zu, sich dauerhaft vor den Einflüssen Fremder zu verschließen; er befreit sie zugleich auch von der moralischen Pflicht zur Beförderung »fremder Glückseligkeit« und verhindert solchermaßen das Staatlich- und Politischwerden der Gastlichkeit. Trifft es jedoch zu, dass der Frieden und die Gastlichkeit ein untrennbares Doppel bilden, dann kann die Politik diesbezüglich nicht sich selbst überlassen werden. Man könnte daher vermuten, dass der Frieden auch für Kant keine bloß juristisch-politische Aufgabe ist, sondern immer auch ein Frieden der rechtlich nicht regulierbaren Koexistenz von Menschen sein muss. So bliebe dem Einzelnen – zwar nicht in seiner Eignung als Staatsbürger, aber doch als moralische Person – eine Hospitalitätspflicht vorbehalten. Diese obliegt ihm freilich nur in besonderen »Notfällen« (AA VI 393), wie die Tugendlehre eigens unterstreicht. Kant belässt das Maß des eigenen »Opfers« eines »Teils meiner 22 Otfried Höffe: »Königliche Völker«. Zu Kants kosmopolitischer Friedenstheorie. Frankfurt a. M. 2001. 169.
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Wohlfahrt« ohne Aussicht auf »Wiedervergeltung« in einem als solchen unbestimmbaren »Spielraum«, da es unmöglich sei, »bestimmte Grenzen anzugeben, wie weit das gehen könne«. Allerdings darf dieses »Opfer« die Erfüllung der vollkommenen Pflicht zur eigenen Glückseligkeit unter keinen Umständen tangieren. Die Grenze der Pflicht, fremde Glückseligkeit zu befördern, wird augenscheinlich durch die Pflicht zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit gezogen: »Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte« (AA VI 393). Man müsste sich daher in der Tat noch einmal fragen, was es mit der »Aufopferung« der eigenen Sinnlichkeit aus Achtung fürs Gesetz auf sich hat und wie weit dieses gewalttätige Opfer des eigenen Begehrens in den Augen Kants überhaupt gehen darf. Die Kantische Hospitalität erweist sich sowohl in rechtlicher als auch in moralischer Hinsicht als endlich und begrenzt. Wie das sarkastische Aushängeschild des holländischen Gastwirts, so verheißt auch sie eine zweifelhafte Gastlichkeit, die für den, der ihrer als Fremder bedarf, durchaus im Frieden der Friedhöfe enden kann. Die allgemeine Hospitalität verbleibt in der Sphäre ungenötigter Freiwilligkeit und nationaler Eigeninteressen und hat die alimentäre Dimension restlos verdrängt. Dies ist umso erstaunlicher, als Kants Kritik der Tischgesellschaft das »Gute« des Essens zumindest doch als Vehikel des »Guten« der Gesellschaft begreift. Die Teilung des Essens, die das gute Essen mit dem Essensgut der alimentären Gabe verbindet, befördert zugleich die ästhetische Vereinigung. 23 Die Agnes Heller verweist zur Recht auf den elitären Charakter von Kants ästhetisch vereinigter Tischgesellschaft bourgeoiser Männer (Agnes Heller: Culture, or Invitation to Luncheon by Immanuel Kant. A. a. O. 156 f.). Dieser elitäre Charakter hat nichts gemein mit den kulturellen Praktiken und einer Ethik der Gastfreundschaft, die ungeachtet seiner sozialen Verdienste und gesellschaftlichen Stellung jedem bedürftigen Fremden zu gelten haben. Doch mit dem Rekurs auf die arabischen und russischen Formen der Gastfreundschaft kann auch Kants Tischgesellschaft den Bezug zur Hospitalität nicht vollständig kappen. In einem Interview mit Jean-Luc Nancy hat Derrida die Notwendigkeit des (guten) Essens mit dem Essensgut und der alimentären Gabe verknüpft und damit (ohne es zu erwähnen oder zu wissen) Kants »gutes Mahl in guter Gesellschaft« mit Levinas und dem »Gesetz der unendlichen Gastfreundschaft« auf die Probe gestellt: »Die unendlich metonymische Frage zum Thema ›il faut bien manger‹ darf nicht bloß für mich einen Nährwert haben, für ein Ich, das in diesem Fall schlecht essen würde, sie muß aufgeteilt (partagée) werden […], und zwar nicht nur sprachlich.
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Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalitt
wechselseitige Mitteilung der Gedanken zeichnet das »Gute« einer geselligen Gesellschaft aus, der es gelingt, ihre unvermeidliche Ungeselligkeit spielerisch und mit wohlwollendem Respekt vor dem Anderen auszutragen und damit die tätige Entzweiung zurückzuhalten. Auf diesen »Genuß einer gesitteten Glückseligkeit«, die als »Vereinigung des Wohllebens mit der Tugend im Umgang« die »wahre Humanität« und das »höchste moralisch-physische Gut« (AA VII 277) ausmacht, kann aber der rechtlich gestiftete Friede nicht verzichten. Denn auch wenn er in den Augen Kants kein natürliches Phänomen ist, so geht er doch niemals in der politisch-juristischen Ordnung auf. Was er an Gastlichkeit diesseits des Naturrechts und jenseits des positiven Rechts verkündet, kann nicht anders als durch lokale kulturelle Praktiken der Mahlzeit eingelöst werden, die zu übernehmen das Recht in seiner Universalität offenkundig nicht imstande ist. Nur dann könnte der von Kant versprochene Friede ein dauerhafter und vorbehaltloser sein. Die universale Wahrheit des rechtlich gestifteten Friedens, die alle lokalen Parikularismen zu ›Il faut bien manger‹ heißt nicht als erstes, etwas in sich aufzunehmen und zu umfassen, sondern essen zu lernen und zu essen zu geben. Lernen-dem-Anderen-zu-essen-zu-geben. Man ißt nie allein, das ist die Regel des ›il faut bien manger‹.« (Jacques Derrida: ›Il faut bien manger‹ ou le calcul du sujet. In: Cahiers Confrontations [20] 1989. 91–114, hier: 110; dt. »Man muß wohl essen« oder die Berechnung des Subjekts. In: Auslassungspunkte. Gespräche. Dt. von Karin Schreiner/Dirk Weissmann. Wien 1998. 367– 304, hier: 293) Ausgehend von der Gemeinschaft der Nahrung und der gemeinsamen Mahlzeit versucht Derridas Forderung nach einer Kultivierung der alimentären Gabe das eigene Nahrungsbedürfnis mit dem Begehren und der Pflicht, dem Anderen zu essen zu geben, chiastisch zu verkreuzen. Derrida bestreitet hier die Möglichkeit einer reinen Ökonomie des essenden Subjekts wie auch die Möglichkeit einer reinen Anökonomie des gebenden Subjekts. Simmels Soziologie der Mahlzeit zielt dagegen nicht so sehr auf eine Ethik der Gastfreundschaft als vielmehr auf die »unermeßliche soziologische Bedeutung der Mahlzeit«, die die »exklusive Selbstsucht des Individuums« mit einer »Häufigkeit des Zusammenseins, einer Gewöhnung an das Vereinigtsein knüpft«, um so das eigensüchtige Individuum über die alimentäre Institution für und im Sinne des gesellschaftlichen Kollektivs zu »zivilisieren« (Georg Simmel: Soziologie der Mahlzeit. In: Brücke und Tor. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart 1957. 243–250, hier: 243 f.). Bei Kant steht demnach die diskursive Geselligkeit und der ästhetische Genuss, bei Derrida die Kultivierung des guten Essens in der doppelten Bedeutung des geschmacklich und ethisch Guten (der genießenden Ökonomie und Gastfreundschaft), bei Simmel die soziale Bedeutung des Essens im Sinne der Kommensalität im Vordergrund. Alle drei Perspektiven, die eine Philosophie des Essens in ihrer genealogischen Gleichursprünglichkeit zusammenzuführen hätte, zielen freilich auf die (ästhetische, ethische und soziale) Vereinigungs- und Teilungsdimensionen der gemeinsamen Mahlzeit.
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Iris Drmann
übersteigen und überwinden sucht, erweist damit ihre eigene lokale und begrenzte Wahrheit. Sie übersteht nicht ohne Schaden die kritische Probe mit den alimentären Praktiken lokaler Gastrechte. Ist das positive Recht auch keine verfehlte Institution des Friedens, so bedarf sie doch stets einer habitualisierten und praktizierten Kultur des guten Essens, um den Frieden mit hospitaler Substanz und gelebter Gemeinschaftlichkeit zu füllen.
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Frieden durch Recht und Gastlichkeit? Gedanken aus der Ferne – mit Kant und Derrida Burkhard Liebsch
1. Zwischen Krieg und Frieden Längst vorbei ist die Zeit, in der man mit Hugo Grotius der Meinung sein konnte, zwischen Krieg und Frieden gebe es nichts Drittes, entweder es »herrsche« Krieg oder eben Frieden. Inzwischen sind wir so weit, dass man »nur irgendeiner Nachricht Gehör schenken« muss, um zu realisieren, dass »alle Orte der Welt, alle Orte der menschlichen Welt und gewiß nicht nur auf dem Boden der Tatsachen, ebenso viele Abgründe [sind], in denen die ›klaren Unterscheidungen‹« – wie etwa die zwischen Krieg und Frieden – »zugrundegehen«. Nicht nur in Ruanda, im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan, im Sudan, sondern grundsätzlich und überall. Wie kein anderer hat Carl Schmitt bekanntlich diese »klaren Unterscheidungen« zu verteidigen und vor einer massiven Erosion zu bewahren versucht, gerade dadurch aber, vielleicht »besser als alle anderen«, vor Augen geführt, wie sie scheitern und in eine Zone der Ununterscheidbarkeit geraten müssen, wenn man ihrer Logik nur konsequent genug folgt. Davon jedenfalls ist Derrida überzeugt, der in diesem Zusammenhang ohne Umschweife von der »Nostalgie Schmitts« spricht, um damit anzudeuten, dass er jene Zeit für endgültig überholt hält. 1 »Das Paradox und das Interesse der von Schmitt unternommenen Anstrengungen liegt ja nicht zuletzt in der Sturheit, mit der er die klassischen oppositionellen Unterscheidungen in eben dem Augenblick festhalten, restaurieren, rekonstruieren, retten oder verfeinern will, in dem seine Aufmerksamkeit für eine bestimmte Modernität (der ›Technik‹ und eines von ihr untrennbaren Krieges, des Partisanenkrieges oder des Kalten Krieges, der gegenwärtigen oder künftigen Kriege) ihn zu der Einsicht zwingt, daß die grundlegenden Unterscheidungen (als
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Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt a. M. 2002. 197.
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Burkhard Liebsch
metaphysische, theologisch-politische, sagen wir lieber: als ontotheologische Unterscheidungen) sich verwischen.« 2 Ungeachtet einer »Dekonstruktion« dieser Unterscheidungen, die den Eindruck erweckt, deren Erosion in der realen geschichtlichen Welt gewissermaßen nur nachzuvollziehen, bleiben wir aber auf begriffliche – wenn auch vielleicht weniger »klare« bzw. eindeutige – Unterscheidungen angewiesen, wenn wir nicht ganz darauf verzichten können und wollen, Frieden zu denken, um auf ihn hinzuwirken. Bleibt es nicht richtig, dass nur Wesen, die zum Krieg (in welcher neuen oder alten Form auch immer) fähig sind und fähig bleiben, sich zum Frieden erheben können, wie es Levinas in Totalität und Unendlichkeit formuliert? 3 Welchen Sinn könnte man aber noch damit verbinden, wenn auch der Unterschied zwischen Krieg und Frieden bis zur Unkenntlichkeit verwischt würde? Läuft andererseits unsere geschichtliche Erfahrung nicht genau darauf hinaus? Oder zwingt sie in anderer Weise zur Revision dieser Begriffe? 4 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 333. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Freiburg i. Br., München 1987. 322 (= TU); vgl. Burkhard Liebsch: Krieg, Genozid, Vernichtung. In: Burkhard Liebsch: Geschichte als Antwort und Versprechen. Freiburg i. Br., München 1999. Kap. IV. 4 Wenn Unterschiede »sich verwischen«, heißt das nicht, dass gar keine mehr gemacht werden können. Mit Nicole Loraux (s. u. Anm. 50) wäre überdies zu zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden seit je her »unklar« war (wie sie am auch von Derrida aufgegriffenen Beispiel polemos/stasis zeigen kann), ohne dass dadurch das Unterscheiden einfach obsolet geworden wäre. Schmitt selbst beruft sich mehrfach darauf, eindeutige Unterschiede (im Verhältnis zum Feind) müssten »gemacht« werden, wenn sie sich nicht »objektiv« bzw. als »seinsmäßige« gleichsam aufdrängen. Seine »Politik der Differenz« bewegt sich ständig zwischen Finden und Erfinden von Unterschieden. Ihm zufolge ist am seinsmäßigen Unterschied zum Feind, den man als solchen auf jeden Fall identifizieren müsse, unbedingt festzuhalten. Andernfalls öffne man den Weg in einen furchtbaren status, der klare Trennungen – und damit die Möglichkeit intensivster politischer Existenz – überhaupt zerstöre. Warum solche Existenz überhaupt sein soll (einmal abgesehen von der Frage, ob das Politische oder die »Intensität« menschlichen Lebens nicht auch anders zu fundieren wäre), klärt Schmitt ebenso wenig wie die entscheidende Frage der Gewaltsamkeit der getroffenen Unterscheidungen. Eine reine Feinderfindung stützt sich am Ende auf einen Akt purer Dezision, wenn es darum geht, sich – koste es, was es wolle – zu unterscheiden von Anderen. Wenn man dagegen darauf insistiert, gerade eine Welt »verwischter« Unterscheidungen entlaste uns nicht davon, Unterschiede (wie den zwischen Krieg und Frieden) zu »machen«, so liegt die entscheidende Differenz zu Schmitt in der Absicht, dies mit geringstmöglicher Gewaltsamkeit angesichts dieser Welt zu tun. Dem würde wohl auch Derrida zustimmen können. In Anbetracht der seit einigen Jahren wachsenden Popularität der Schmittschen Diagnose zunehmend verwischter Unterscheidungen ist diese »Klarstellung« angezeigt. Wie auch immer die Welt sich seit Schmitts Kritik der Romantik verändert haben mag, 2 3
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Frieden durch Recht und Gastlichkeit?
Dabei ist es keineswegs sicher, dass wir zum Krieg fähig bleiben. Zumindest als kollektive Form gewalttätiger Auseinandersetzung mit Waffen ist der Krieg, zumal wenn er sich in hochorganisierter Form zwischen Staaten abspielt, viel voraussetzungsvoller, als es etwa einer auch das Denken von Levinas nicht unwesentlich tragenden Tradition zu entnehmen ist, die sich an der Fiktion eines Naturzustandes orientiert, in dem angeblich ein »Krieg aller gegen alle« herrscht.5 Alleine kann man gar nicht »Krieg führen«, weder gegen den Nächsten noch gegen Dritte. Der Krieg bedarf spezieller, nur mit einigem technischem und ökonomischem Aufwand zu beschaffender Mittel, der logistischen Organisation, taktischer und strategischer Überlegungen, moralischer Unterstützung usw. Selbst der Hass steht ihm nicht ohne weiteres als Katalysator zur Verfügung. Auch heißer Hass erkaltet und stumpft früher oder später ab. Um für einen anhaltenden Krieg brauchbar zu sein, muss er immer wieder geschürt und sorgsam gehegt werden. So lassen sich zahlreiche Ansatzpunkte einer Friedensforschung benennen, die sich nicht mit dem auch bei Levinas geradezu fatalen Anschein abzufinden braucht, dass wir auf Dauer und unabänderlich »zum Krieg fähig« bleiben. Die effektive sie entbindet nicht von der Frage, in welchem Sinne wir mit Unterschieden umgehen, so »unklar« oder uneindeutig sie auch sein mögen. Aus Letzterem lässt sich eine Politik der Differenz jedenfalls nicht einfach ableiten. 5 Dieser vor allem mit Hobbes’ Sozialphilosophie verbundenen Fiktion gemäß liegt ein »Kriegszustand« auch dann vor, wenn gar nicht akut Krieg herrscht. Unabschaffbar erscheint dieser Zustand, wenn es stimmt, dass nur Wesen, die zum Krieg fähig sind (und bleiben), sich auch zum Frieden erheben können. Insofern ist kaum zu bestreiten, dass Levinas Hobbes nahe steht, obwohl er seinen zentralen Gedanken einer ethischen Nicht-Indifferenz immer wieder schroff dem neuzeitlichen Denken einander zunächst »gleichgültiger« Lebewesen entgegensetzt, die ursprünglich nur an ihrer eigenen Selbsterhaltung interessiert zu sein scheinen, ohne im Geringsten im Sinn ihrer Existenz dem Anderen verpflichtet zu sein. Noch die Begriffe Sensibilität und Nähe im Spätwerk Levinas’, die genau diesen Sinn bezeichnen sollen, sind nur als gegen jene Gleichgültigkeit gewendet verständlich; vgl. Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg i. Br., München 1992. Kap. III. Gerade dadurch bleibt Levinas auch dort Hobbes verpflichtet, wo er sich dezidiert von ihm absetzt, um sowohl den Vorrang als auch die Vorgängigkeit des Krieges gegenüber dem Frieden zu bestreiten. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass Levinas ein außer-ordentliches Verlangen nach Frieden vom Anspruch des singulären Anderen her – ethisch – begründet und von einem »vernünftigen Frieden« spricht, der politisch ermöglicht werden soll, vor allem in der Ordnung einer gerechten Staatlichkeit. Auf den Widerstreit beider Bestimmungen wird zurückzukommen sein. Vgl. Emmanuel Levinas: L’Au-Delà du Verset. Paris 1982. 216; Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. A. a. O. 21, 286; Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins. Übers. von Thomas Wiemer. Freiburg, München 1992, 26 f.
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Burkhard Liebsch
Fähigkeit, Krieg wirklich zu führen, ist keine ontologische oder anthropologische Konstante. Über diese Fähigkeit gibt weder eine Ontologie noch eine Anthropologie befriedigend Auskunft, die ein »polemogenes« Moment im Sein oder im menschlichen Leben glaubt ausmachen zu können. Gewiss kann sich jede Auseinandersetzung im Streit steigern zu einem – wie auch immer ausgetragenen – Krieg. Aber darin liegt keine Zwangsläufigkeit; auch dann nicht, wenn sich die oft geäußerte Vermutung bestätigen sollte, was oder wer wir sind, lasse sich nur im polemogenen Konflikt mit Anderen herausfinden. 6 In sog. »Neuen Kriegen«, die die Komplexität der noch immer waffenstarrenden militärischen Großmächte ebenso unterlaufen wie die Spielregeln der internationalen Diplomatie, geht es angeblich vor allem darum, eigene Identität um jeden Preis zu behaupten. Man sucht und findet in ihnen Möglichkeiten extremer Gewaltsamkeit, die nicht mehr mit großem Aufwand militärisch organisiert zu werden braucht. Auf reguläre Armeen kann man in diesen Kriegen ebenso leicht verzichten wie auf Regeln der Austragung kollektiver Gewalt. Je weniger konventionell und geordnet die Neuen Kriege stattfinden, desto schwieriger sind sie häufig von der un-friedlichen Normalität gewisser Lebensformen zu unterscheiden, in denen warlords durch den Export von Rauschgift und versklavten Frauen ihre Macht behaupten. Wenn Krieg selbst zur normalen Lebensform wird, ohne sich noch als klassischer militärischer Konflikt zwischen staatlichen Einheiten zu präsentieren, was unterscheidet ihn dann noch von einem organisierten Un-Frieden, der von ständiger Feindschaft geradezu lebt, statt auf deren Beendigung abzuzielen? Dass solche Lebensformen in einer Grauzone zwischen Krieg und Frieden angesiedelt sind und dass gewisse »höllische Künste«, von denen Kant in seinem Entwurf eines »Ewigen Friedens« in der Besorgnis sprach, sie könnten in der Zukunft jeden Frieden dauerhaft vergiften, längst zur Normalität eines welt-weiten Un-Friedens bzw. NichtKrieges gehören, der auch die Staaten infiziert, in denen sog. Rechtsfriede zu herrschen scheint, bedeutet nun aber nicht, dass man nicht mehr auf künftigen Frieden abzielen könnte. Dass wir faktisch vielWoraus folgen würde, dass man Krieg umwillen eigener Identität riskieren muss. György Konrád konstruiert daraus vor (immer noch aktuellem) europäischem Hintergrund einen engen Zusammenhang von Identität und Hysterie: Identität und Hysterie. Frankfurt a. M. 1995; Armin Maalouf: Mörderische Identitäten. Frankfurt a. M. 2000.
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fach in Zonen der Ununterscheidbarkeit zwischen Krieg und Frieden geraten, macht weder die Sehnsucht nach Frieden noch das Verlangen, ihn neu zu denken, gänzlich obsolet bzw. zur bloßen Illusion. Allerdings wird jedes Ansinnen, einem neu, nämlich definitiv jenseits der alten Opposition von Krieg und Frieden zu denkenden Frieden zuzuarbeiten, paradoxerweise nur noch um den Preis glaubwürdig erscheinen können, dass man der Erfahrung Rechnung trägt, die für die Zerstörung des Vertrauens in ihn spricht. Vor diesem Hintergrund versuche ich im Folgenden eine Art Standortbestimmung ausgehend vom bis heute wirkungsmächtigsten Ansatz zu einem dauerhaften Frieden, der einst versprach, ihn durch Recht zu garantieren. Frieden durch Recht – im Geist des Versprechens, Gewalt-Verzicht zu üben, – ist das nicht die bis heute überzeugendste Perspektive, in der ein Unterschied zwischen Krieg und Frieden, der faktisch vielfach verwischt erscheint, geradezu gesetzt und aller gegenteiligen empirischen Evidenz entgegen aufrecht erhalten wird durch diejenigen, die willens sind, »sich zum Frieden zu erheben«? 7 Genügt es nicht, in diesem Sinne weiterhin Kant zu folgen? Auf diese Frage gehe ich zuerst ein, um dann an dieser Perspektive orientierte Vorschläge aufzugreifen, die auf eine Schaffung oder Wiederherstellung des Friedens dort abzielen, wo er irreparabel zerstört erscheint. Die Diskussion dieser Vorschläge lenkt den Blick zurück auf die Frage, wie Frieden überhaupt möglich ist – eine Frage, die auch »bei uns« aktuell bleibt – und vielleicht wieder verschärft ins Bewusstsein treten wird, wenn man sich weiter leichtfertig darauf verlässt, inneren Frieden garantiere allein das Recht (bzw. die Faktizität seiner Anerkennung im Leben). Es wird sich zeigen, wie ungenügend jene Formel »Frieden durch Recht« ist. Zum einen halbiert sie in ihrer zumeist primär auf vergangenen Unfrieden abstellenden Form den Kantischen Ansatz gewissermaZum Gewalt-Verzicht als Versprechen vgl. etwa Ernst-Otto Czempiel: Der Friede – sein Begriff, seine Strategien. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem. Frankfurt a. M. 1995. 165–176, hier 169. Dieser Gedanke wäre mit Nachdruck zu revidieren angesichts subtiler Nachweise einer inneren Gewaltsamkeit, die sich selbst eine an Verständigung orientierte Sprache zuzieht, ohne dass wir je versprechen könnten, auf sie zu verzichten. Vgl. Ursula Erzgräber, Alfred Hirsch (Hg.): Sprache und Gewalt. Berlin 2001; Burkhard Liebsch: Verletzung in und mit Worten. Fragen nach dem Verhältnis von Sprache und Gewalt. In: Scheidewege 34 (2004). 243–263; Burkhard Liebsch: Für eine Kultur moralischer Sensibilität. Überlegungen zur »Gewalt in modernen Gesellschaften«. In: Divinatio. Studia Culturologica Series 20 (2004). 75–94.
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ßen. Kant bestimmt nämlich den Frieden als »Ende aller Hostilitäten« (nicht des Krieges) auch im Hinblick auf die Zukunft, in der man gemäß dem Recht der Hospitalität einander »nicht feindselig« behandeln soll, um nicht zu neuen Kriegen Grund zu geben. Der Gedanke der Hospitalität wird aber meist ganz unterschlagen. Gerade an diesem Gedanken zeigt sich zum anderen, dass Friede in der Absicht, sich kriegsträchtiger Feindschaft zu widersetzen, durch Recht allein gar nicht zu bewirken ist. Gewiss soll auch der durch Recht gestiftete Friede für die Zukunft dem Aufkeimen neuer Feindschaft vorbeugen. Gleichwohl ist damit die aus dem Kantischen Ansatz abzuleitende Aufgabe der Vorsorge noch höchst unzureichend bestimmt. Es genügt nicht, einander in der »Welt der äußeren Freiheit« nicht ins Gehege zu kommen (womit man über ein indifferentes Nebeneinander kaum hinausgelänge); zumal dann nicht, wenn die Staaten, deren weitgehende innere, juridische Pazifizierung man meist einfach voraussetzt und deren internationale Verhältnisse man nun nach dem gleichen Muster zu befrieden versucht, nicht wie Container nebeneinander existieren, ohne dass die inneren Verhältnisse der einen die der anderen überhaupt tangieren würden. Tatsächlich ruft die ökonomische Reproduktion unseres ignoranten Lebens Un-Frieden anderswo hervor, aus dem – nicht frontal, aber gewissermaßen lateral – radikale Feindschaft bis hin zum Terror entsteht, wie einschlägige Analysen zeigen. Wer erst den extremen Resultanten gewaltträchtiger Verhältnisse zwischen den Ethnien, Staaten und Kulturen Beachtung schenkt (und gemäß klassischem Vorbild nach internationaler Legislative, Judikative und Exekutivgewalt verlangt), ohne sich um die Vorgeschichte zu kümmern, kann zu einem zeitgemäßen Umdenken der Hospitalität auf den Spuren Kants nichts beitragen. Heute verlangt letztere nicht erst das »nicht feindselige« Auftreten Handeltreibender auf dem Boden Fremder, sondern eine langfristige, über das Recht weit hinausgehende Vorsorge dafür, dass auch ein keineswegs von sich aus friedlicher »Handelsgeist« nicht zu exzessiver Verfeindung beiträgt. Wenn wir wissen wollen, wie Prozesse der Verfeindung womöglich dauerhaft den Frieden gefährden, müssen wir Vorsorge treffen für eine angemessene Wahrnehmung ihrer Anfänge. Wer sich weiterhin vom Recht (oder von der Gerechtigkeit) Frieden verspricht, darf sich nicht damit begnügen, Frieden durch Recht wieder möglich zu machen, nachdem eklatante, aber nicht wahrgenommene Ungerechtigkeit zu radikaler Verfeindung beigetragen hat. 420 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
Frieden durch Recht und Gastlichkeit?
Vielmehr muss ein aktiver, sensibler Sinn für Ungerechtigkeit 8 den Anfängen der Verfeindung (aus erlittener Ungerechtigkeit, die gegenwärtig durch eine euphemistisch sogenannte »Globalisierung« noch dramatisch verschärft wird) bereits nachforschen, bevor es überhaupt dazu kommt, dass etwa den Handeltreibenden (um beim Beispiel zu bleiben) offene Feindschaft bis hin zum Hass entgegenschlägt. 9 Eine solche, präventive Hospitalität wäre nicht mehr auf ein Recht zu beschränken, wie es Kant vor Augen hatte. Aber sie könnte durchaus Kant im Geist eines Friedens verpflichtet sein, der zwar nicht das Ende aller Feindschaft (die unvorhergesehen überall und jederzeit aufkeimen kann) in Aussicht stellen, wohl aber Vorbeugung gegen eine offene und zu alten oder neuen Formen des Krieges eskalierende Austragung neuer Feindseligkeit versprechen kann. Zu ihr kommt es nach meiner optimistischen Annahme nicht, weil die Menschen nur so erfahren können, wer sie sind, weil sie als »polemogene Tiere« nicht anders können oder weil ihnen die Erfahrung intensivster, feindseliger »Dissoziation« (C. Schmitt) schlechterdings nicht ersetzbar erscheint in einem entfeindeten Leben, das nicht auf Kosten anderer geführt würde. 10 Zu ihr kommt es vielmehr im Zuge einer Antwort auf diskriminierende, demütigende Erfahrungen, die einer eskalierenden Verfeindung immer wieder und immer mehr durch eklatante Ungerechtigkeit Grund geben. Diesen Zusammenhang zwischen Erfahrungen der Demütigung und der Ungerechtigkeit hervorzuheben, bedeutet keineswegs, die Formen der Gewalt gewissermaßen zu nobilitieren, die aus ihm erwachsen. 11 Es bedeutet Vgl. Burkhard Liebsch: Sinn für Ungerechtigkeit und Perspektiven institutionalisierter Gerechtigkeit im ›globalen‹ Horizont. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 89 (2003). Nr. 4. 497–519. 9 Was nicht wenig damit zu tun hat, dass sich die sog. »Globalisierung« vielerorts als kulturell rücksichtslose Amerikanisierung vollzieht (und in Washington regierungsamtlich auch so verstanden wird). Dass die Gewaltsamkeit dieses Prozesses vielfach noch mit einer Moralisierung kaschiert wird, die sich universale »Werte« aneignet, um sie Anderen zur Nachahmung zu empfehlen, macht die Lage nicht besser, sondern konterkariert die Moral, die man zu exportieren gedenkt, durch die Art und Weise, in der man dies zum eigenen ökonomischen Vorteil tut. 10 Vgl. Domenico Losurdo: Die Gemeinschaft, der Tod und das Abendland. Stuttgart 1995. 69 ff.; M. v. Creveld: Die Zukunft des Krieges. Berlin 1998; Trutz von Trotha: Das Ende der Clausewitzschen Welt oder vom Selbstzweck des Krieges und der Vorherrschaft des »Krieges geringer Intensität«. In: Soziologische Revue 22 (1999). 131–141. 11 Vgl. Ted Honderich: Nach dem Terror. Ein Traktat. Frankfurt a. M. 2003 (der sich diesen Vorwurf nicht ganz zu Unrecht zugezogen hat). Allerdings führt Honderichs Analyse auch vor Augen, dass ein allseitiges Versprechen des Gewalt-Verzichts als 8
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vielmehr, die Aufmerksamkeit auf Spielräume möglicher Entfeindung zu lenken, in denen sich Auswege aus einer fatalen Verkettung von alten und neuen Kriegen ergeben könnten, die bislang nur von vorübergehenden Friedens-, d. h. Zwischenkriegszeiten unterbrochen wurden. Ausgehend vom bislang vorherrschenden Denken eines solchen schicksalhaften Zusammenhangs von Krieg und Frieden betreibe ich im Folgenden eine Revision Kants mit Blick auf eine heute zur Gastlichkeit zu erweiternde präventive Hospitalität im Kontext geschichtlicher Erfahrung, die uns immer wieder mit der Ununterscheidbarkeit von Krieg und Frieden konfrontiert. Dass die klassische Unterscheidung von Krieg und Frieden nicht mehr überzeugt, insofern gerade ein dritter Status (den Hugo Grotius glaubte ausschließen zu können) weltweit normal zu werden scheint, verlangt nach einer fruchtbareren Unterscheidung, die sich gerade in einer die Unterschiede zwischen Krieg und Frieden, Nicht-Krieg und Un-Frieden nivellierenden Welt zu bewähren hätte. Ich meine die Unterscheidung zwischen gastlichen und ungastlichen LebensGrundlage einer Pazifizierung der internationalen Verhältnisse gewiss nicht ausreicht, wenn es nicht auch von dem Willen getragen ist, für die positive Sicherung und Entfaltung der Existenz derer Sorge zu tragen, die andernfalls, nach langer Vernachlässigung und Demütigung, als unversöhnliche Feinde auftreten. Die Sensibilität dieser (etwa im Fall der israelischen Friedensbewegung) grenzüberschreitenden Sorge kann nicht allein dem eigenen Schutz vor fremder Gewalt dienen; sie muss vielmehr darauf abzielen, Andere vor solcher Gewalt zu schützen, die bereits in der Not und in der Erfahrung erlitten wird, im Elend sich selbst überlassen zu bleiben. Diese Sensibilität der Sorge läuft dem Recht voraus und muss es ständig daran erinnern, dass es nicht genügt und, wie sich später zeigen wird, niemals genügen kann, wenn es grundsätzlich ausgeschlossen erscheint, dass Gerechtigkeit und Recht je zur Deckung kommen (s. u.). Ich habe hier Überlegungen Georg Pichts im Blick, der den Frieden von der erlittenen Not und von der Sorge um die Not Anderer her denkt, nicht vom Krieg her, in den die verzweifelte Not sekundär umschlagen kann. Vgl. Georg Picht: Was heißt Frieden? In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 177–195. Zum Gedanken einer inter- oder transnationalen bzw. lateralen Sensibilität, die nicht auf den Binnenhorizont der eigenen politischen Zugehörigkeit beschränkt bleibt, vgl. Luc Boltanski: Distant Suffering. Cambridge 1999. Eine auf solche Sensibilität gegründete »Friedenspolitik« wird vielfach, gemessen an einem gängigen macht-politischen Politikverständnis, antipolitisch vorgehen müssen, um jene Sorge gewissermaßen zu dislozieren und zu deplatzieren, um die Not der Verachteten, der Gedemütigten, ihrem nackten Leben Überlassenen, die am Ende in der schieren Gewalt das einzige Mittel noch sehen, zu demonstrieren, dass es sie gibt, dass sie zu »zählen« begehren, anderswo – heterotopisch – zur Geltung zu bringen, bevor es zu spät ist und die Not, von interessierten Dritten angestachelt, sich Wege des Hasses und der Feindschaft zur »asymmetrischen« Gewalt sucht, wenn keine anderen Mittel zur Verfügung stehen.
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formen. Kants Ansatz ist noch heute gerade dadurch lehrreich, dass er nicht vom klassischen Gegensatz von Krieg und Frieden abhängt, sondern auf den Willen abstellt, virulente Feindschaft, die in offenen Krieg münden kann, zu beenden und nicht zu neuer Feindschaft Grund zu geben. So gesehen hängt der Friede von unserem Verhältnis zur Feindschaft ab – nicht nur in und zwischen Staaten, die ihre Verhältnisse im Geist des Gewalt-Verzichts regeln, sondern auch im Verhältnis zu Fremden und potenziellen Feinden, mit denen »uns« scheinbar nichts mehr verbindet. Es wird sich zeigen, dass dieses Verhältnis nicht in einem Recht aufgehen kann, das alle Feindschaft im Geist des Gewalt-Verzichts zu »begraben« verspräche. Paradoxerweise muss es vielmehr selbst radikalen Feinden erst einmal erlauben, uns in Anspruch zu nehmen und sich ihnen gegenüber in gewisser Weise als »gastlich« zu erweisen, so unannehmbar dieser von Derrida im Anschluss an Kant radikalisierte Gedanke auch zunächst erscheinen mag. Meine Auseinandersetzung mit Kant und Derrida führe ich am Schluss bis an den Punkt, wo sich das Desiderat einer Philosophie der Gastlichkeit kultureller Lebensformen abzeichnet, die sich weder rechtlich noch ethisch zureichend begreifen lässt.
2. Hostilitt und Hospitalitt Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Nicht allein, weil Krieg und Frieden unaufhörlich aufeinander folgen, sondern weil jeder Krieg in den nächsten Frieden übergeht, in dem sich wiederum der folgende Krieg anbahnt. Es gibt also keinen Frieden, von dem man sich mehr versprechen könnte, als den nächsten Krieg ein wenig hinauszuzögern. Das heißt, es gibt gar keinen echten Frieden. Jeder Frieden, der den Anschein erweckt, ein echter zu sein, wäre demnach misstrauisch daraufhin zu befragen, ob in ihm nicht bereits die Feindschaft von neuem keimt, die im nächsten Krieg ausbrechen wird. Die im jeweils letzten Krieg offen ausgetragene Feindschaft verschwindet nicht; sie tritt nur – wie auch immer verwandelt und von neuen Motiven gespeist – in eine Latenz zurück, die uns in die Irre führt und für Frieden halten lässt, was doch nur einem vorübergehenden Schweigen der Waffen zu verdanken ist. Friede wäre demnach genau das, was die aufeinander folgenden Kriege miteinander verkettet zu einer endlosen Geschichte der Feindschaft, die sich auch in Zwischen423 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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kriegszeiten ununterbrochen fortsetzt. 12 Krieg und Frieden würden einander so gesehen keineswegs als gänzlich heterogene Phänomene einfach ablösen, sondern sich als innigst miteinander verwandt erweisen. Handelt es sich nicht lediglich um Phasen einer andauernden Geschichte der Feindschaft, die nur ihre Erscheinungsformen, Gründe und Motive wechselt, niemals aber wirklich aufhört? In sogenanntem Frieden würde nur alte Feindschaft abebben, sich wandeln und in einer täuschenden Stille aus neuen Quellen der Verfeindung frische Kraft schöpfen, um sich schließlich wieder auf schreckliche Weise zu entladen. Ganz gleich, wie lange er äußerlich anhielte, ein so stets mit dem Krieg verkettet bleibender Friede wäre nur ein Euphemismus. Der Begriff wäre – wie der des Krieges auch – im Grunde entbehrlich und durch ein Konzept der Feindschaft zu ersetzen, die ebenso gut im Krieg exzessiv zu Tage treten wie im scheinbaren Frieden gleichsam schlafen kann. Demgegenüber würde der Begriff des Friedens nur gefährliche Illusionen nähren und über die Wirklichkeit der Feindschaft hinwegtäuschen. Dasselbe würde gelten, wenn wir uns der Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Frieden von der Einsicht her nähern wollten: nach dem Frieden ist vor dem Frieden. Für eine solche Auflösung von Krieg und Frieden in einer Geschichte der Feindschaft, die die menschliche Gattung von Anfang an bestimmt zu haben scheint, mag eine erdrückende historische Beweislast sprechen. Und niemals ist zu beweisen, dass sich eine dem Anschein nach durch und durch friedliche Nachkriegszeit nicht nachträglich doch als Vorkriegszeit erweisen wird, in der ein als Zwischenkriegszeit definierter Kriegszustand in Wahrheit andauerte. Genau so definiert Kant bekanntlich einen Frieden, der nicht etwa das »Ende aller Feindseligkeiten«, sondern die »immerwährende Bedrohung mit denselben« bedeutet. 13 Bleibt diese Bedrohung ständig bzw. »immerwährend« in der Welt, so müssen Krieg und Frieden als einander abwechselnde und auseinander hervorgehende Phänomene genau darauf relativiert werden. Für Kant ergibt sich daraus aber nicht etwa, dass Krieg und Frieden von gleichem Gewicht wären. Im Gegenteil: Wo Feindschaft nur droht, aber nicht offen ausbricht, Jan Patocˇka: Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts und das zwanzigste Jahrhundert als Krieg. In: Patocˇka: Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte. Stuttgart 1988. 146–164. 13 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Werkausgabe Bd. XI. (Hg.) Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1977. 193–251, hier 197. 12
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Frieden durch Recht und Gastlichkeit?
herrscht in Wahrheit nicht Friede, sondern der Krieg in seinen subtilsten Formen. Kant bringt das dadurch zum Ausdruck, dass er den scheinbaren Frieden als einen »Kriegszustand« bezeichnet. Demnach gäbe es gegen den Krieg in diesem weiten Sinne, der den nur scheinbar friedlichen Kriegszustand, den scheinbaren Nicht-Krieg, mit einschließt, überhaupt kein Mittel. Was sowohl im Krieg wie auch im Nicht-Krieg unabänderlich herrschen würde, wäre die durch nichts aus der Welt zu schaffende Bedrohung durch Feindschaft, die sich nur verschieden ausprägt: im offenen Krieg oder im Nicht-Krieg, den Kant als in Wahrheit un-friedlichen Kriegszustand charakterisiert. Genau genommen wird so nicht nur der Begriff des Friedens, sondern auch der des Krieges in einer Geschichte der Feindschaft aufgelöst. In Wahrheit un-friedlich ist der Nicht-Krieg, weil in ihm tatsächlich nicht das Ende aller Feindschaft eintritt, das eigentlich mit der Rede von einem echten Frieden zu verbinden wäre. Das ist Kants Ausgangspunkt gleich zu Beginn des ersten Präliminarartikels seines Entwurfs »Zum ewigen Frieden«. Im Gegensatz zu bloßem Schweigen der Waffen oder Aufschub weiterer gewaltsamer Auseinandersetzungen bedeutet »Friede das Ende aller Hostilitäten«. 14 Dieses Ende soll einerseits die Geschichte der Feindschaft, in die sich die menschliche Gattung ausweglos verstrickt zu haben scheint, endgültig abbrechen, andererseits aber nicht erst jenseits der Geschichte eintreten, sondern in ihr; d. h. es soll die unaufhörliche Verkettung von Krieg und in Wahrheit un-friedlichem Nicht-Krieg, der nur einen neuen Krieg anbahnt, unterbrechen. Während der end-gültige Abbruch der Geschichte der Feindschaft tatsächlich einen »ewigen« Frieden einläuten würde, auf den kein Krieg mehr folgen dürfte, könnte eine wirkliche Unterbrechung fortdauernder Feindschaft wenigstens einen Vorgeschmack von wirklichem Frieden in Nachkriegszeiten geben, denen später vielleicht doch wieder ein neuer Krieg folgt (was niemand im Vorhinein wissen kann). Durch diese Überlegung versucht Kant einen wahrhaften, sich nicht auf bloßen NichtKrieg reduzierenden Frieden denkbar zu machen, dem sein »echter« Charakter selbst dann nicht abzusprechen wäre, wenn später doch wieder Feindschaft aufkeimt und zu neuen Kriegen anstachelt. Solange Feindseligkeiten nur nicht ausbrechen, kann von echtem Frieden keine Rede sein. Zwischen Krieg und Frieden herrscht 14
Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 196.
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normalerweise ein indifferenter Status, der gefährlich darüber hinwegtäuschen kann, wie bedroht infolge nicht wirklich pazifizierter Feindschaft die trügerische Ruhe ist, die im bloßen Nicht-Krieg herrschen mag. Um den Frieden positiv sowohl vom manifesten Krieg als auch vom indifferenten dritten Status abzuheben, in dem NichtKrieg und Un-Frieden zusammenzufallen scheinen, bestimmt Kant ihn wie gesagt als »das Ende aller Hostilitäten«; d. h. streng genommen: als Liquidierung selbst der im dritten Status allzu oft verborgenen Potenziale neuer Verfeindung, die auch aus einem mit Vorbehalt geschlossenen Frieden resultieren können. Wenn Friede nicht nur auf ein Schweigen der Waffen hinauslaufen, sondern auch auf diese Liquidierung wenigstens abzielen können soll, muss er unbedingt – und das heißt ohne jeden Vorbehalt (reservatio moralis) – geschlossen werden. Nicht den geringsten Ansatzpunkt für eine wieder auflebende Verfeindung soll er enthalten. Echter Friede erwächst nicht daraus, dass man »zu erschöpft ist, den Krieg fortzusetzen«, bzw. aus einem bloßen »Aufschub der Feindseligkeiten«, sondern daraus, dass man sie »begräbt«. Am Grab der Feindschaft müssten diejenigen, die wie »die Staatsoberhäupter […] des Krieges nie satt werden können«, 15 Trauerarbeit leisten angesichts des endgültigen Verlusts dessen, was ihnen von neuem Grund geben könnte, einen Krieg zu entfachen. Genau genommen liquidiert ein vorbehaltloser Friede aber nur die im unmittelbar vorausgegangenen Krieg ausgetragene Feindschaft. Er kann nicht die Feindschaft als solche und künftiges Wiederaufleben unvorhersehbarer Verfeindung aus neuen Motiven und Gründen verhindern. Insofern besteht auf Seiten derer, die »des Krieges nie satt werden«, kein Grund zur Beunruhigung. Denn ein endgültiges Ende aller Hostilitäten steht nicht zu befürchten. Allerdings müsste ein zum vorbehaltlosen Willen, den Feindseligkeiten der Vergangenheit ein Ende zu bereiten, komplementär hinzutretendes Recht (und die Pflicht) der Hospitalität, die künftiger Feindschaft vorbeugen soll, immerhin in diese Richtung wirken. Im dritten Definitivartikel brandmarkt Kant das »inhospitable Betragen« der Europäer, wo sie sich ihrer Kolonien rücksichtslos bemächtigten, obgleich »ursprünglich« »niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht [hat] als der andere«. 16 Das Recht, einen 15 16
Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 195 f. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 213 f.
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Ort oder Lebensraum als seinen eigenen in Anspruch zu nehmen, kann zwar durch die Urbarmachung, durch Kultivierung und Arbeit »ursprünglich erworben« werden, wenn niemand dem widerspricht. Kant kritisiert aber die »erschreckende Ungerechtigkeit« der Europäer, für die Amerika, Afrika, die Gewürzinseln, das Kap der Guten Hoffnung etc. bei ihrer Entdeckung »Länder [waren], die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts«. In dieser Perspektive formuliert Kant das »Recht der Hospitalität« zunächst einseitig, nämlich bloß als das »Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt« und nur abgewiesen zu werden, »wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann«. Europäer, die auf amerikanischem, afrikanischem oder fernöstlichem Boden als Handeltreibende auftraten, sollten demnach das Recht der Hospitalität für sich selbst in Anspruch nehmen können. Diesem Recht müsste freilich die Pflicht entsprechen, sich dort nicht feindlich zu verhalten, wo man selbst auf dem Boden anderer zu Gast ist. Kant wirft aber den Europäern (bzw. den angeblich »gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils«) vor, sie verletzten die dem Recht der Hospitalität eigentlich korrespondierende (von Kant aber nicht ausdrücklich genannte) Pflicht massiv durch die ganze »Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken«. 17 Durch ihr »inhospitables Betragen« geben daher die Europäer ständig zu neuer Feindschaft Anlass. Sie sind also weit entfernt davon, die Geschichte der Feindschaft, als deren bloße Modulationen Krieg und Frieden in ihren bisherigen Formen erscheinen, wenigstens zu unterbrechen (oder gar abzubrechen). Kant sah nicht in eine Zukunft voraus, in der die aus dem Kolonialismus und Imperialismus der Europäer und ihrer amerikanischen Erben keimende Feindschaft in neue Kriege münden würde. Und er machte sich keine Vorstellung von der Art der Gewalt, in der diese Feindschaft sich auswirken könnte. Sein Begriff des Krieges blieb eindeutig durch die historischen Gegebenheiten auf europäischem Boden beschränkt, von denen er in Königsberg Nachricht erhalten hatte. Doch liegt in seinem Verständnis echten Friedens offenbar eine Zweideutigkeit, die es heute, unter gänzlich veränderten historischen Umständen, attraktiv macht. 17 Vgl. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin 3 1988. 43 f.
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Der echte, als Ende aller Feindschaft bestimmte Friede ist im vorbehaltlosen Willen, Kriege zu beenden, zunächst von der Vergangenheit bestimmt. In der Achtung der (fortan als Recht und als Pflicht verstandenen) Hospitalität aber richtet er sich präventiv gegen die Entstehung neuer Feindschaft in der Zukunft; wenn auch zunächst nur negativ in dem Willen, keinen Fremden feindselig zu behandeln, wobei gar nicht maßgeblich ist, ob die Feindseligkeit kriegerische Formen (im konventionellen Sinne einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Staaten) annimmt. Nicht hinzunehmende Feindseligkeit liegt für Kant schon darin, dass eine zur Globalisierung ansetzende ökonomische Praxis in fremden Ländern deren Einwohner als ein Nichts behandelt. Der vorbehaltlose Wille, die Kriege der Vergangenheit zu beenden und ihnen keine Chance zu geben, in der Gegenwart wiederaufzuleben, müsste so gesehen ergänzt werden durch den ebenso vorbehaltlosen Willen, sofort und bedingungslos damit aufzuhören, Fremde »für nichts« zu erachten, d. h. die »Menschheit« nicht in ihnen zu achten. Denn der dritte Artikel deutet an, dass darin die Quelle zu neuer Verfeindung liegt. 18 Die Idee, die Kant von einem echten Frieden hat, stellt überhaupt nicht auf eine konventionelle Form des Krieges ab (und bestimmt den Frieden deshalb auch nicht als dessen bloße Abwesenheit), sondern zielt auf das Ende der Feindschaft. Obwohl Kant sich die Zukunft der Feindschaft, die aus dem »inhospitablen« Verhalten der Europäer zu resultieren drohte, so wenig ausgemalt hat wie die Formen der Gewalt, die sie annehmen könnte, hat er bis hin zur (eher ironisch) erwogenen »Ewigkeit« des Friedens vorausgedacht, der in der Welt doch nie erreicht werden kann, wenn es immer ein Später gibt, in dem es wieder anders kommen kann. Kant hat denn auch nicht die allenfalls anzustrebende Dauerhaftigkeit des Friedens mit einer Garantie für die Ewigkeit verwechselt. Dennoch bringt er in einer eschatologischen Perspektive die Frage ins Spiel, wie ein Friede in der Gegenwart (pactum pacis) geschlossen werden müsste, um allgemein herrschendem Frieden letztlich zuträglich zu sein, der »alle Kriege auf immer zu endigen« hätte (foeWie sehr sich Kant und Levinas bei aller Gegensätzlichkeit in diesem Punkt nahe kommen, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht: Moralische Spielräume. Göttingen 1999. Anders als Kant spricht Levinas vom Anderen nicht als Person, die von vornherein einem Genus unterstellt zu denken wäre, sondern hinsichtlich seiner Singularität, von der ein unbedingter Anspruch ausgehen soll, ihr gerecht zu werden (in der Weise der Verantwortung, der Gerechtigkeit, des Gewalt-Verzichts etc.).
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dus pacificium). 19 Die Rede vom »Ende aller Hostilitäten« impliziert einen eschatologischen Maßstab, den Kant an jeden einzelnen Friedensschluss angelegt wissen will. Dem Maßstab eines letzten, die Feindschaft als solche aufhebenden Friedens würde wie gesagt nur ein vorbehaltloser Wille entsprechen, den Krieg zu beenden und mit allem Schluss zu machen, was ihn wieder aufleben lassen könnte. Wenigstens diesen Willen muss man haben, um jetzt zu tun, was in der Perspektive des Friedens letztlich zählt. Der vorbehaltlose Friedensschluss im Geist des ewigen Friedens repräsentiert gleichsam dessen Vorschein in einer heillosen Gegenwart, die doch immer wieder vom Krieg eingeholt wird. Daran soll der echte Frieden, der die normalerweise fortdauernde (aber latente oder kaschierte, in der Zwischenzeit mutierende, völlig neue Formen annehmende) Feindschaft unterbrechen soll, nicht schuld sein. Diesem Anspruch kann der echte Friede aber nur genügen, wenn er wirklich verspricht, wenigstens im Einzelfall für einen Abbruch aller Hostilität Sorge zu tragen, um so nicht zu neuen Kriegen im Vorhinein Grund zu geben, und wenn er von dem Willen getragen ist, für die Zukunft nicht Anlass zu neuer Feindschaft zu geben. So radikal der echte Friede im Lichte seiner eschatologischen Inspiration bei Kant gedacht wird, so beschränkt ist wie gesagt doch der Blick des Königsberger Philosophen durch die Erfahrung seiner Zeit. Kant hat nur »Hostilitäten« zwischen Staaten vor Augen. Weder die Genealogie des Staates im Kontext einer viel weiter zurückreichenden Geschichte der Feindschaft 20 noch auch die sich bereits zu seinen Lebzeiten anbahnende Überbietung verstaatlichter Feindschaft in tiefgreifenden Verfeindungen zwischen Völkern, die späteren Generationen im »Nationalhass« des 19. Jahrhunderts ihr vergiftetes Erbe hinterließen, bestimmt seinen Begriff einer Feindschaft, die selbst einen echten Friedensschluss zwischen politischen Souveränen zu ruinieren droht. Die einzige Gefahr, die Kant in dieser Hinsicht in Betracht zieht, sind »ehrlose Stratageme« (Listen), die einem Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 211. Vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt a. M. 2004. 421, 425 f. Foucault rekonstruiert hier mit Blick auf das Zeitalter der »Staatsraison« das Aufkommen eines entmoralisierten Konkurrenzverhältnisses zwischen den Staaten, das v. a. im 19. Jahrhundert dann evolutionär gedeutet wird. Hier wäre eine Brücke zu Hannah Arendts einschlägigen Analysen zu schlagen. Vgl. Burkhard Liebsch: Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur. Weilerswist 2005. Kap. IX. 19 20
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echten Frieden entgegenstehen, insofern sich ein »Staat in einem Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlaub[t], welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind, Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats (perduellio) in dem bekriegten Staat, etc.«. 21 Selbst »beim besten Willen« zum Frieden wäre es nicht mehr möglich, über einen (vorübergehenden) Un-Frieden bzw. Nicht-Krieg hinwegzukommen, wenn solche Feindseligkeiten vorgekommen sind: Sie vergiften unweigerlich auch die Nachkriegszeit so, dass diese zur Vorkriegszeit des nächsten Krieges werden muss. Kant schreibt solchen Feindseligkeiten eine Kraft zu, gegen die auch der vorbehaltloseste Wille zum Frieden womöglich nichts mehr auszurichten vermöchte. Deshalb verlangt er, es müsse bereits im Krieg für die Möglichkeit künftigen echten Friedens (nicht nur eines Nicht-Krieges bzw. eines unentschiedenen status zwischen Krieg und Frieden) Sorge getragen werden. In diesem Falle wäre der echte, eschatologische Friede bereits im Krieg gegenwärtig, wenn dieser sich an die Artikel des Entwurfs »Zum ewigen Frieden« halten würde. Das gleiche müsste für jedes künftige Verhalten Fremden gegenüber gelten, wenn es nur unbedingt darauf bedacht wäre, in keinem Fall das Recht (und die Pflicht) der Hospitalität zu missachten. Eine nachhaltige Gefährdung echten Friedens für die Zukunft legt Kant auch für den Fall »inhospitablen« Verhaltens zu bedenken nahe. Auch in diesem Falle gilt es Feindseligkeiten zu vermeiden, die künftigen echten Frieden ein für alle Mal unmöglich zu machen drohen. Kant führt diese zweite Seite seines Friedensentwurfs aber nicht aus, der infolgedessen von Anfang an (nicht erst in seiner heutigen Rezeption) eigenartig halbiert erscheint. Es fehlt nämlich eine Vorstellung »gastlichen« Verhaltens, das seinerseits im Vorhinein an echtem Frieden orientiert wäre. 22 Kant weiß bereits, dass die Europäer sich weit Schlimmeres als konventionellen Krieg, nämlich als Völkermord zu bezeichnende Verbrechen haben zu Schulden kommen lassen, in denen weder ordentliche Armeen noch Staaten als Subjekte des Krieges gegeneinander antraten. Und er ahnt, dass der Begriff des Krieges als BezeichImmanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 200. Eine bloß negative Bestimmung (Andere »nicht feindselig« zu behandeln) reicht in dieser Hinsicht kaum hin.
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nung für Formen der Gewalt unangemessen sein könnte, die bereits eine welt-weite Dimension angenommen hatten. Doch stellt er seine Begrifflichkeit nicht auf eine bereits über die Ebene der Staatlichkeit hinausgreifende, globale Dimension der Verfeindung um. Er bleibt trotz mancher Überlegungen, die sich wie Vorgriffe auf unsere Zeit lesen, am Bild eines militärischen Konflikts orientiert, das auch seine Einschätzung der Gefährdung echten Friedens weitgehend bestimmt. Kant weiß, dass man sich jener Stratageme tatsächlich oft bedient hat. Dass er dennoch echten Frieden weiterhin für möglich hält, erklärt sich nur daraus, dass er offenbar nicht an einen schicksalhaften Ruin jeglichen künftigen Vertrauens zwischen ehemals Verfeindeten glaubt. Nicht gleichsam automatisch also wird eine Nachkriegszeit zur Vorkriegszeit des nächsten Ausbruchs ehrloser Feindschaft. Kant geht sogar so weit, Kriegen, die nicht jegliches Vertrauen zwischen den Feinden endgültig zerstören, eine gewisse Würde zu bescheinigen und sie als dem Fortschritt der Gattung zuträglich zu beschreiben. Ist Krieg nicht ein probates Mittel der Natur, die Menschen daran zu hindern, sich müßig mit ihrer schlechten Gegenwart abzufinden und ihre Talente ungenutzt zu vergeuden? 23 Löst nicht er allein den »Widerstreit unfriedlicher Gesinnungen« auf einem dem Fortschritt der Gattung langfristig förderlichen Weg? 24 Diese Perspektive konnte Kant nur eröffnen, weil er definitiv nicht der Meinung war, jegliche als Krieg ausgetragene Form der Feindschaft würde künftigen, echten Frieden unmöglich machen. 25 Das mag daran liegen, dass er das Projekt eines dauerhaften Friedens vor dem Hintergrund der Konfessionskriege, der merkantilistischen und Kabinettskriege entwarf, während er den genozidalen Kolonialismus 26 und Völkermord allenfalls peripher wahrnahm. Vom modernen Volks- und Bürgerkrieg hat er nur wenig, vom Partisanenkampf, vom politischen Terror, von der massenhaften Liquidierung, wie sie durch das Maschinengewehr möglich wurde, sowie vom chemischen, biologischen und atomaren Krieg hat er noch gar Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 221, 226. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 224. 25 Und mit Blick auf das ideale Surrogat einer Weltrepublik, die Kant nicht für durchführbar gehalten hat, glaubte er zwar, dass die beständige Gefahr des Ausbruchs von »feindseligen Neigungen« bestehen bleibe. Aber er war offenbar doch davon überzeugt, dass sie sich beherrschen ließe. Vgl. Ernst Tugendhat: Überlegungen zum Dritten Weltkrieg. In: Die Zeit 49 (1987). 76. 26 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. 214. 23 24
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nichts wissen können. Jede dieser Erscheinungsformen kollektiver Gewalt, die ihre furchtbare Wiederholung ankündigten, musste »Zutrauen im künftigen Frieden« weit radikaler und nachhaltiger in Frage stellen als jene vergleichsweise harmlos anmutenden »Stratageme«, die Kant selbst zunächst für so unerheblich eingeschätzt hat, dass sie ihn nicht daran hinderten, dem Krieg generell einen fortschrittlichen Sinn zu attestieren. Allerdings zog er die Denkbarkeit eines »Ausrottungskriegs« in Betracht, »wo die Vertilgung beide Teile zugleich, und mit dieser auch alles Rechts« betreffen könnte, so dass »der ewige Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden« würde. Was sich wie ein Vorgriff auf die atomare Konfrontation des 20. Jahrhunderts liest, die erst einen Suizid der Gattung durch »restlose« gegenseitige Vernichtung zweier Subjekte des Krieges in greifbare Nähe gerückt hat, dient Kant nur dazu, zu bestimmen, was echtem Frieden absolut widerspricht: »Ein solcher Krieg also, mithin auch der Gebrauch der Mittel, die dahin führen, muß schlechterdings unerlaubt sein.« Lange bevor es zu einer welt-geschichtlichen Apokalypse kommen kann, die mit der Gattung auch den Frieden liquidieren müsste, den sie eigentlich zu realisieren hätte, droht der Friede bereits durch den Gebrauch dieser Mittel unmöglich gemacht zu werden. Kant spricht sogar davon, dass dies »unvermeidlich« so sein muss, weil »jene höllischen Künste, da sie an sich selbst niederträchtig sind, wenn sie in Gebrauch kommen, sich nicht lange innerhalb der Grenze des Krieges halten, […] sondern auch in den Friedenszustand übergehen«. 27 Unvermeidlich infizieren also bestimmte Formen der Feindschaft selbst den guten Willens geschlossenen Frieden und hindern ihn daran, sich über einen bloßen Nicht-Krieg zu erheben. Sie gefährden jetzt schon den Frieden, auf den es letztlich als »Ende aller [bislang vorgefallenen] Hostilitäten« und aller Potenziale weiterer, künftiger Verfeindung ankommen muss. Hat Kant damit nicht der Realgeschichte die Macht zugeschrieben, durch bestimmte Erscheinungsformen der Feindschaft den auf ewigen Frieden abzielenden Sinn der Geschichte selbst zu ruinieren? 28 »Höllische Künste« Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 200. Immanuel Kant selbst spricht vom »Endzweck« als einer in der Natur der Gattung angelegten, nicht den Menschen zur Verfügung stehenden Finalität. Aber im Entwurf »Zum ewigen Frieden« hat es ganz im Gegenteil den Anschein, dass diese Finalität keine transhistorische oder regulative Idee ist, sondern rückhaltlos der Zeit der Verfeindungen ausgesetzt gedacht werden muss.
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in einem Frieden, der sie scheinbar aus eigener Kraft nicht wieder los wird – das ist die in Kants Entwurf auch eröffnete Perspektive einer unheilbaren Vergiftung jenes dritten Status. Führt nicht gerade diese Perspektive mitten ins Herz der Gegenwart?
3. Vergiftete Gegenwart Die verbreitete Entschlossenheit, endlich den Alptraum einer sog. Nachkriegszeit abzuschütteln, die noch bis 1989 ständig mit dem Bevorstand eines Dritten Weltkrieges konfrontiert war, geht so weit, dass man sich im vollen, selbstgerechten Stolz auf eine gewisse innereuropäische Entschärfung alter Feindschaften der Illusion eines inzwischen herrschenden Friedens hingibt, der nie wirklich erklärt worden ist. Noch immer leben wir im Schatten des sog. Kalten Krieges bzw. eines »Terrorfriedens« (R. Aron), der angeblich durch das Patt gegenseitiger apokalyptischer Vernichtungsdrohungen (MAD, d. h. mutual assured destruction) gewahrt werden konnte. Schon diese Worte zeigen die wirklich heillose Verwirrung an, in der man sich befindet, will man hier noch die überkommene Begrifflichkeit des Krieges anwenden. 29 Das ist oft genug analysiert worden. Die in diese Konfrontation verwickelten Staaten konnten nicht mehr glaubhaft machen, ihre Bevölkerung vor äußerer Gewalt zu schützen – womit sie im Grunde eine in der Politischen Philosophie der Neuzeit stets für erstrangig gehaltene Grundlage ihrer Legitimität vollständig einbüßten. Sie mussten im antizipierten Gebrauch der ihnen zur Verfügung stehenden Waffen auch ihren eigenen Untergang gewärtigen. Sie mussten den unbedingten Willen glaubhaft machen, einen den Gegner vernichtenden Vergeltungsschlag auch dann auszuführen, wenn die Abschreckung bereits versagt hat, d. h. wenn die vernichtende Antwort keinerlei militärischen oder politischen Sinn mehr haben kann. Die angeblich die internationalen Verhältnisse »pazifizierende« Logik der Abschreckung musste also darauf beruhen, dass man einander ein absolut »irrationales« Verhalten glaubhaft androhte. 29 Das tut etwa Dieter Henrich, der ungeachtet des »eigentlichen Terror[s] in der Vorstellung eines wirklichen Untergangs unter massierten Kernexplosionen« von einer »pazifizierenden« Wirkung der atomaren »Massenvernichtungswaffen« spricht: Ethik zum nuklearen Frieden. Frankfurt a. M. 1990. 75 ff.
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Wer wie der berühmt-berüchtigte Analytiker der Abschreckung Herman Kahn diesem Verhalten trotz allem noch eine gewisse Rationalität abzugewinnen vermochte, suchte mit dubiosen Rechnungen zu beruhigen: »Objektive Untersuchungen zeigen, daß die Summe menschlicher Tragödie zwar in der Nachkriegszeit erheblich ansteigen würde [u. a. infolge thermonuklearer Verseuchung], daß dieses Ansteigen jedoch ein normales und glückliches Dasein für die Mehrzahl der Überlebenden und ihrer Nachkommen nicht ausschließen würde.« 30 Ungeachtet dieser speziellen moralischen Mathematik vermochte man sich keinen rechten Begriff von diesem Überleben, von dem ihm prophezeiten Glück und von seiner wieder genesenen Normalität machen. Alle diese Begriffe schienen unbrauchbar – und zwar sowohl zum Verständnis eines für die Zeit nach dem Dritten Weltkrieg wiederherzustellenden Friedens als auch zum Verständnis einer Nach- bzw. Vorkriegszeit, die unter der ständigen Drohung »höllischer Mittel« so zu leben zwang, dass Un-Friede und NichtKrieg, Kalter Krieg und Terrorfriede ununterscheidbar werden mussten. Die Denkbarkeit eines echten Friedens schien, nachdem die nukleare Waffe unwiderruflich als Mittel moderner Kriegsführung zur Verfügung stand, ebenso in weite Ferne gerückt wie das Konzept eines Krieges, der sich offenbar über jeden instrumentellen, meist mit Clausewitz gedeuteten »Sinn« hinweggesetzt hatte. Wie sollte unter der fortwährenden, unabwendbaren Drohung eines möglichen Einsatzes nuklearer Waffen noch an einen echten Frieden zu denken sein? Zwar erscheint diese Drohung im Verhältnis der sog. Weltmächte inzwischen weniger aktuell, doch hat die lange befürchtete Proliferation der Waffe stattgefunden. Sie ist nicht nur an dritte Staaten, sondern vielleicht auch schon in die Hände irgendwelcher Hasardeure gelangt, die sie als terroristisches Mittel einsetzen könnten. (Noch ist das Spekulation, doch geben die aus Beständen der ehemaligen sowjetischen Armee, aber auch im britischen Sellafield und anderswo abhanden gekommenen, womöglich bereits an meistbietende Interessenten verhökerten Mengen spaltbaren Materials genug Anlass zur Besorgnis.) Sowohl der im engeren Sinne militärische als auch der unmittelbar terroristische Gebrauch der nuklearen Waffe aber sprengt einen instrumentellen Begriff des Krieges, der Herman Kahn: On Thermonuclear War. Princeton 1961. 21. Zitiert nach Hans-Magnus Enzensberger: Deutschland, Deutschland unter anderem. Frankfurt a. M. 3 1968. 84.
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darauf abzielt, einen Gegner »zur Erfüllung des eigenen Willens« (Clausewitz) zu zwingen, ohne ihm dabei »restlose« Vernichtung anzudrohen. Infolgedessen gerät man in große Verlegenheit, will man verstehen, in welcher Lage wir uns im inzwischen »normal« gewordenen Zustand einer keineswegs nur Gegner bzw. Feinde, sondern in Anbetracht der nicht begrenzbaren Wirkungen der nuklearen Waffe grundsätzlich alle Menschen betreffenden fortwährenden Bedrohlichkeit eines möglichen Einsatzes nuklearer (u. a.) Waffen befinden, der keinem »instrumentellen« Krieg der Vergangenheit mehr gleichen würde. Als Subjekte des Krieges, der kein Krieg mehr wäre, kämen weniger Staaten als vielmehr irgendwelche Unbekannte in Betracht, die überall und nirgends sein können, ohne noch eine militärische Front aufzumachen, an der sie als Feinde erkennbar wären. Sie zwingen schon jetzt allen anderen »das Gesetz« auf (Clausewitz), das Schlimmste zu gewärtigen, das angesichts aller zur Verfügung stehenden Waffen von ihnen zu befürchten ist. Dazu bedarf es keiner für sich schon bestehenden Feindschaft. Antizipationen des Schlimmsten genügten vollauf, um die Normalität des gegenwärtigen Un-Friedens bzw. des gegenwärtigen Nicht-Krieges mit der imaginären Präsenz »höllischer Mittel« zu vergiften, von denen Kant meinte, dass sie jeden künftigen Frieden unmöglich zu machen drohen. Was Kant aber mit Blick auf einen lokalen Krieg dachte, gilt nun im globalen Maßstab. Nicht weil ein Dritter Welt-Krieg unmittelbar bevorstünde, sondern weil nun ein dritter Status jenseits von Krieg und Frieden herrscht, in dem der tatsächliche, nur angedrohte oder nur bedrohlich bevorstehende Gebrauch schlimmster Mittel, die jede bloß instrumentelle Deutung sprengen, welt-weit normal geworden ist. Dieser Lage hinkt die Philosophie des Krieges und des Friedens hinterher. Nachdem die atomare Ost-West-Konfrontation weggeblasen scheint wie ein Spuk, greift man häufig wieder auf alte Kategorien zurück, um den gerade eben vom Krieg ununterscheidbar gewordenen Frieden wieder zu denken. Zu diesem Zweck erfährt die Clausewitzsche Theorie des Krieges eine Renaissance. Zwar nimmt man sog. »Neue Kriege« 31 zur Kenntnis, die sich vielfach unterhalb der Schwelle der Staatlichkeit abspielen, aber nach der Diagnose 31 Mary Kaldor: Neue und alte Kriege. Frankfurt a. M. 1999; Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Reinbek 2002.
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Münklers etwa fallen diese Kriege in die Zeit vor Clausewitz und noch vor dem Westfälischen Frieden (1648) zurück und verlangen insofern gerade kein neues Verständnis des Krieges. Münkler erscheint Clausewitz nach wie vor als der »Philosoph des modernen Krieges«. 32 Ironischerweise gilt das aber nicht für den meist zitierten Theoretiker der »instrumentellen« Kriegsauffassung, der keine »Verselbständigung« des Krieges gegenüber der Politik akzeptieren mochte, 33 sondern vielmehr für den frühen Clausewitz, der eine »existenzielle« Theorie des Krieges entwickelt hat. Infolge einer dramatischen »Schwäche der Staatlichkeit« sieht Münkler den Krieg in die alten Bahnen vor dem Westfälischen Frieden zurückkehren. 34 Insbesondere »an den Rändern der OECD-Welt« scheint der Krieg wieder zu einer Lebensform geworden zu sein, in der sich dasjenige Subjekt, das sich des Krieges als eines Mittels bedienen sollte, ständig im und durch Krieg originär formiert, statt unabhängig von ihm zu bestehen. 35 Ob es sich nur um eine Rückkehr zu früheren Formen des Krieges handelt, mag man indessen bezweifeln. In den »Bürgerkriegsökonomien«, die Münkler vor Augen hat, wird mit Drogen, Frauen und Waffen in effektiver Anbindung an die westlichen »Friedensökonomien« gewirtschaftet, ohne dass es erkennbar um hehre Ziele wie Freiheit oder kollektive Identität ginge, die Clausewitz in seiner existenziellen Deutung des Krieges im Blick hatte. Diese »neuen«, schmutzigen Kriege, welche sich infolge vielfach gescheiterter Nationalisierungsprojekte zwischen »Völkerabfällen« und »Überzähligen« 36 abspielen, die in keiner politischen Lebensform mehr Sicherheit erfahren, haben sich aller konventionellen Formen entledigt. Und sie entziehen sich bislang jeder wirksamen rechtlichen und humanitär motivierten Bändigung. Eine regressive Entstaatlichung 37 bzw. »Privatisierung« des Krieges lässt Münkler an eine Rückkehr des Naturzustandes im Sinne einer außer-ordentlichen Herfried Münkler: Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion. Weilerswist 3 2004. Ich knüpfe im Folgenden an kritische Überlegungen zur neueren Philosophie des Krieges an; vgl. die Rezension von Arbeiten U. Kleemeiers, Herfried Münklers und Alfred Hirschs im Philosophischen Jahrbuch 112/II (2005) 478–486. 33 Herfried Münkler: Über den Krieg. A. a. O. 90. 34 Herfried Münkler: Über den Krieg. A. a. O. 148, 223. 35 Herfried Münkler: Über den Krieg. A. a. O. 232, 114 f. 36 Herfried Münkler: Über den Krieg. A. a. O. 161, 214. 37 Mit Recht wendet sich Münkler aber dagegen, die Diagnose eines »Endes der Epoche der Staatlichkeit« zu überzeichnen, wie C. Schmitt es getan hat (Herfried Münkler: 32
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kollektiven Gewalt denken, die weniger denn je in einer gehegten Ordnung aufhebbar zu werden verspricht. Während andere Autoren (wie etwa Preuß) die Rettung in der Staatlichkeit und im Vertrauen zwischen Staaten sehen, die die Gewalt im Prinzip wie im Europäischen Völkerrecht wieder in die Grenzen einer rechtlich gehegten Ordnung bannen müssten, lässt Münkler in dieser Hinsicht denn auch deutlich Skepsis anklingen. 38 Zwar affirmiert er die Rolle des Staates (trotz der abgründigen Ambivalenz, dass dem Staat eine innere Bändigung und eine unerhörte Freisetzung kollektiver Gewalt sowohl gegen äußere als auch gegen innere Feinde zu verdanken ist 39 ), doch traut er weder dem Staat noch einer überstaatlichen Organisation auf der Basis menschen- oder weltbürgerlicher Rechte zu, die Lage grundsätzlich zum Besseren zu wenden. »Alles« spreche vielmehr dafür, dass auch in Zukunft allein der Grad der Bedrohtheit der Ökonomien der »reichen Staaten des Nordens« über Interventionen in die kriegerischen Lebensformen entscheiden werde, 40 in denen die kollektive Gewalt sich ein für alle Mal ein nicht mehr zu sicherndes Terrain geschaffen zu haben scheint, wo das Äußerste ständig droht – nicht das Äußerste der Wehrlosmachung des Gegners oder seiner militärischen Vernichtung, sondern einer weit schlimmeren Liquidierung, die wir uns an dieser Stelle zu beschreiben ersparen. Auch Münkler setzt zwar auf eine nachhaltige Stärkung des Staates bzw. einer klugen Staatsraison, der allein er langfristig die Bändigung der gefährlich-exzessiven Potenziale einer Feindschaft zutraut, die sich in der kollektiven Gewalt zwischen heterogenen Lebensformen jeglichem Recht und jeglicher Gerechtigkeit zu entziehen droht. Doch beurteilt er die Zukunft des Krieges pessimistisch 41 – und zwar vor allem deshalb, weil den wilden, ethnisch, kulturell und religiös begründeten Feindschaften, die immer mehr jede staatliche Ordnung und die Grenzen zwischen Staaten ignorieren, bislang keine auf den Staat oder auf eine internationale Ordnung sich verlassende Macht entgegen gewachsen ist.
Über den Krieg. A. a. O. 205, 200, 221, zur Deterritorialisierung sowie zu Staatszerfallskriegen). 38 Vgl. Ulrich K. Preuß: Krieg, Verbrechen, Blasphemie. Berlin 2002. 39 Vgl. besonders Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004. 40 Herfried Münkler: Über den Krieg. A. a. O. 234. 41 Herfried Münkler: Über den Krieg. A. a. O. 234.
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An der Schwelle zur bereits vielfach angedachten Rechtfertigung einer effektiven Interventionsgewalt, die im Namen der Weltgemeinschaft agieren dürfte, macht Münkler halt. Er warnt vor einer Fortsetzung menschenrechtlicher Moral mit anderen Mitteln (Beck), die aufgrund eines leichtfertigen Interventionismus neue Kriege rechtfertigen könnte – wenn auch nur im Vorgriff auf quasi welt-polizeiliche Aktionen – und sieht allein in der »passiven Rolle der UN-Streitkräfte während des Massakers von Srebrenica oder des Völkermordes in Ruanda« einen bezeichnenden »Vorgriff auf die Weltordnung des 21. Jahrhunderts«. 42 Gegenwärtig ist der beschämenden Diagnose Münklers kaum etwas entgegenzusetzen, zumal die einzig verbliebene Hegemonialmacht, der ebenbürtige Gegner vorläufig abhanden gekommen sind, alles Erdenkliche unternommen hat, die wirksame Etablierung einer effektiven internationalen Strafverfolgung zu verhindern, die auch Untaten amerikanischer Soldaten belangen könnte. Statt sich der Herausforderung eines auch für sie geltenden überstaatlichen Rechts zu stellen, propagiert die US-Administration selbstherrlich einen »Krieg« gegen den Terror. In dieser für Münkler fortan nicht mehr aufzuhebenden doppelten Asymmetrie von Hegemonialmacht einerseits und Terror andererseits werden wiederum die Begriffe förmlich zerrieben, mit denen man sich traditionell den Krieg in allen seinen Erscheinungsformen verständlich zu machen suchte. Gegen eine scheinbar ubiquitäre terroristische Gefahr, die eine ultimative Vernichtungsdrohung heraufbeschwört, ist so wenig ein Krieg zu führen wie umgekehrt der Terror sich noch darauf beschränkt, einen erklärten Gegner bloß wehrlos zu machen. (Einem Terror, der auf die VerHerfried Münkler: Über den Krieg. A. a. O. 251. Musste man aber nicht in beiden Fällen von einer Verpflichtung ausgehen, präventive Gewalt zum Schutz absehbarer Opfer auszuüben, die hier eklatant verletzt worden ist? Begründet die »weltweite« Wahrnehmung von Rechtsverletzungen, die Kant bereits im 18. Jahrhundert gegeben schien, nicht eine Pflicht, ihnen zumal in derart exzessiven Fällen wirksam entgegenzutreten, wenn man dazu in der Lage ist? Ich kann diese Frage hier nicht vertiefen. Nur soviel sei zu dieser Diskussion kritisch angemerkt: Sie konzentriert sich bei besonders Besorgten allzu sehr auf die Frage, ob man Gefahr läuft, dem Krieg wieder neue Gründe zu liefern. Dabei ist nicht zu sehen, dass etwa im Fall der sich abzeichnenden Gewalttaten im ehemaligen Jugoslawien auch nur eine konsequente Embargopolitik betrieben worden wäre. (Die serbischen Panzer bezogen bis zuletzt ihren Treibstoff fast ungehindert u. a. über die Donau …). In jedem Falle wäre eine zu Mitteln der Gewalt greifende Friedenspolitik ja dazu verpflichtet, zuerst nach auch die Täter schonenden Wegen zu suchen. Das ist nur höchst unzulänglich geschehen. 42
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nichtung der »Ungläubigen« abzielt, lässt sich eine Vision künftigen Friedens mit ihnen gewiss nicht entnehmen.) Nicht nur geraten die Begriffe Krieg und Frieden auf diese Weise auch in diesem Falle in eine Zone der Ununterscheidbarkeit. Auch das Recht, durch das sie nicht zuletzt auf den Spuren Kants vermittelt gedacht worden sind, scheint unter den skizzierten Bedingungen keinen Weg mehr zu weisen in Richtung einer Überwindung der Feindschaft, wie sie bei Kant angedacht wird. Im Gegenteil herrscht nun, diesseits von Krieg und Frieden, eine politisch-rechtlich kaum mehr fassbare Feindschaft, der alle Mittel an die Hand gegeben sind. Während Münkler sich als Analytiker der »Neuen Kriege« mit vorläufig nicht auszuräumenden Zweifeln an der Kantischen Perspektive konfrontiert sieht, die es nahe legt, nach der Devise »Frieden durch Recht« auch den wieder »enthegten« und der Kontrolle staatlicher wie internationaler Rechtsstrukturen sich entwindenden Krieg in den Griff zu bekommen, können andere in solchen »realpolitischen« Diagnosen allerdings noch keinen Einwand dagegen erkennen, dass in der Tat Frieden durch Recht hergestellt werden soll. Ich gehe im Folgenden zunächst auf diese Gegenposition ein, wobei ich mich frage, ob sie die zweite, der Zukunft künftiger Feindschaft (bzw. ihrer Vermeidung) zugewandte Seite des Friedens bei Kant, nämlich die Hospitalität, nicht weitgehend vernachlässigt. Ohne eine Synthese zu beabsichtigen, greife ich danach Kant wieder ins Spiel bringende Überlegungen Derridas auf, der der Hospitalität den erweiterten Sinn einer dem Recht gar nicht unterstehenden Gastlichkeit gibt und sie in den aktuellen Kontext radikalster Verfeindung stellt, die sich längst nicht mehr an konventionelle Definitionen von Krieg und Frieden hält. Ohne den Gedanken »Frieden durch Recht« einfach zu verwerfen, trägt Derrida einer erweiterten Gastlichkeit doch so Rechnung, dass sie sich in die skizzierte Lage einer geradezu ubiquitären, die Unterscheidung von Krieg und Frieden ignorierenden, normal gewordenen Präsenz radikaler Feindschaft einfügt.
4. Von der Hospitalitt zur Gastlichkeit In den meisten Arbeiten, die jüngst zu Ehren Kants und seines vor über 200 Jahren erschienenen Entwurfs veröffentlicht worden sind, spielen Phänomene »Neuer Kriege« und »enthegter« Feindschaft eine genauso geringe Rolle wie eine eigentlich fällige Rückbesinnung 439 https://doi.org/10.5771/9783495820773 .
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darauf, was Hospitalität unter veränderten historischen Umständen heute bedeuten könnte. Man setzt vielmehr allein auf den Weg weiterer Verrechtlichung der internationalen Verhältnisse und glaubt »die von Kant vorgestellte allgemeine Friedensordnung in ihren wesentlichen Elementen in greifbare Nähe gerückt«. An der Devise Frieden durch Recht hält man unbeirrt fest – ohne sie etwa durch einen revidierten Begriff der Hospitalität bzw. einer erweiterten Gastlichkeit zu ergänzen. 43 Abstriche werden dagegen an (z. T. bereits angesprochenen) Elementen des Kantischen Ansatzes gemacht, die offenbar den Umständen seiner Zeit geschuldet sind. Dazu gehört eine gewisse Verharmlosung des Krieges (u. a. als Manifestation von »Zwietracht«, die sich ihrerseits kaum von »ungeselliger Geselligkeit« unterscheidet, oder als »Lustreise« von Souveränen, die sich als »Staatseigentümer« aufführen und es als »die unbedenklichste Sache von der Welt« betrachten, einen Krieg vom Zaun zu brechen, dessen Rechtfertigung sie, »der Anständigkeit wegen«, einem »dazu allezeit fertigen diplomatischen Corps […] gleichgültig überlassen« 44 ). Zwar zieht Kant die Denkmöglichkeit eines finalen Vernichtungskriegs in Betracht, doch kann er damit noch keine reale historische Gefahr verbinden (s. o.). Nur weil er keine Kriegstechniken vor Augen hat, deren Gebrauch auch einen bevorstehenden Abbruch der Geschichte bewirken könnten, baut er sogar auf gewisse fortschrittliche Momente des Krieges und sieht sich nicht dazu genötigt, Frieden ultimativ zu fordern. Wie sehr Kant auf die Zukunft menschlichen Fortschritts vertraut, zeigt sich auch an seiner Fehleinschätzung des »Handelsgeistes« als einer generell pazifizierenden Kraft, die zur allmählichen Beseitigung des Krieges beitragen werde (was sich mit den Phänomenen kolonialistiVgl. dazu programmatisch Matthias Lutz-Bachmann, James Bohman (Hg.): Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung. Frankfurt a. M. 1996 (s. das Zitat ebenda, 150), sowie Reinhard Merkel, Roland Wittmann (Hg.): »Zum ewigen Frieden«. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt a. M. 1996, sowie jetzt Wolfgang Schluchter (Hg.): Fundamentalismus, Terrorismus, Krieg. Weilerswist 2003. Die hier vorgelegten soziologisch-kulturwissenschaftlichen Diagnosen laufen ebenfalls auf das längerfristige Vertrauen auf einen »Verrechtlichungsschub« hinaus, der sich an universalen Menschenrechten orientieren sollte, die man gegen den Verdacht der Ethnozentrik in Schutz zu nehmen versucht. Flankiert wird diese Perspektive durch die Aussicht auf eine »Weltsozialpolitik« (Klaus v. Beyme, 149), die erst verspräche, den rezenten terroristischen Erscheinungsformen radikaler Feindschaft den Nähr- und Rekrutierungsboden zu entziehen. 44 Kants gesammelte Schriften. Akademieausgabe. Berlin 1900 ff. Bd. VIII. 351. 43
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scher und rassistischer Ausbeutung kaum vereinbaren lässt). Der Gedanke, dass Handel die Form extremer einseitiger Ausbeutung oder hegemonialer Macht annehmen und infolgedessen eine gewaltsame, mangels symmetrisch-militärischer Mittel auch asymmetrisch-terroristische Gegenreaktion provozieren kann, liegt Kant gänzlich fern. An der Schwelle zum modernen Partisanen- und Volkskrieg beschränkt er die Gefährdung des Friedens auf zwischen-staatliche, militärisch-symmetrische Auseinandersetzungen, ohne eine »ideologische« Beteiligung daran und andere Subjekte des Krieges als Staaten in Betracht zu ziehen. Dem entsprechend überschätzt Kant das bürgerliche Eigeninteresse in republikanisch verfassten Gesellschaften, von denen er glaubte, Furcht vor eigenem Schaden sei schon ein hinreichendes Motiv, nicht für Krieg zu optieren, wenn man effektiv an der Entscheidung über Krieg und Frieden beteiligt sei. So konstruiert Kant zwar einen inneren Zusammenhang von innerstaatlicher und interstaatlicher Verfassung, doch gelingt es ihm nicht, ein (öffentliches) Medium zu denken, in dem sich die Forderung nach einer Überwindung des internationalen Naturzustandes durchsetzen ließe, nachdem dies immerhin zwischen einigen, im Innern rechtlich pazifizierten Staaten gelungen scheint. Wo Kant eine Zweistufigkeit der Konstruktion von Frieden durch Recht (d. h. Überwindung »gesetzloser« oder »ungebundener« Freiheit in der Anarchie des Naturzustandes erst innerhalb der Staaten, dann zwischen ihnen) vorsieht, liegen die Verhältnisse viel komplizierter. Diese Überwindung will bis heute nicht weltweit auf ganzer Breite gelingen. 45 Aus keiner dieser Überlegungen wird aber ein grundsätzlicher Einwand gegen Kants Ansatz insgesamt abgeleitet. Man fragt sich lediglich, wie das Recht (Recht der Völker [jus gentium], Staatsrecht, Völkerrecht, Weltbürgerrecht) zu denken ist, das Kant nur hinsichtlich der Trennung von exekutiver und gesetzgebender Gewalt beschrieb, ohne eine internationale Rechtsprechung zu bedenken; ob nach wie vor der Friede zwischen (möglichst republikanischen) Staa45 Das liegt auch daran, dass bis heute »die Staaten, in denen der Frieden aufgrund einer florierenden Marktökonomie am stärksten geschützt und genossen wird, am wenigsten Bereitschaft zur Durchsetzung dieses Friedens in bellizistischen Regionen aufbringen« – nach der Diagnose Herfried Münklers in seiner Rezension von Michael Howards Buch Die Erfindung des Friedens: Von Kriegsfürsten und Friedensstiftern. In: Die Zeit 32 (2001). 41. Auch das hat Kant nicht vorhergesehen, was ihm hier nicht angekreidet, sondern nur in der Absicht angemerkt werden soll, die historische Distanz zu seinem Entwurf auszumessen.
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ten als Personen konzipiert werden sollte, die souverän bleiben, oder ob der Gedanke staatlicher Souveränität einzuschränken ist; ob man nach wie vor nicht über einen pluralistischen Völkerbund bzw. Föderalismus freier Staaten hinauskommt; ob die Idee einer Weltrepublik nach wie vor skeptisch zu beurteilen ist, die über ein welt-staatliches Gewaltmonopol verfügen würde, etc. Ungeachtet aller Einwände, bei denen es sich eher um Spezifizierungsversuche handelt, bleibt es dabei: Vom bloßen Nicht-Krieg oder »Vorfrieden« will man mit Kant zu einem als »Verrechtlichung aller konfliktträchtigen Beziehungen in der Welt der äußeren Freiheit« aufgefassten »positiven Friedenszustand« gelangen durch einen »gewaltverdrängenden Vertrag«, den idealiter alle Staaten der Welt miteinander schließen würden und der, solange dies nicht geschehen kann, schon jetzt als Probierstein der Rechtmäßigkeit der internationalen Verhältnisse gelten dürfte – genau so, wie der so genannte Gesellschaftsvertrag, der nach dem Vorbild Rousseaus aus dem »gesetzlosen Zustand«, wo »lauter Krieg« herrscht, durch ein Versprechen des Gewalt-Verzichts herausführt und innerhalb eines Staates bereits einen Vorgriff auf einen foedus pacificium darstellt, der Krieg zwischen den Menschen »auf immer zu endigen« verspricht. Analog zur Pazifizierung der zwischenmenschlichen Verhältnisse (durch Recht) im Staat sucht man mit Kant nach dem »Surrogat« eines Welt-Gesellschaftsvertrags, der nach dem gleichen Muster das Prinzip »Frieden durch Recht« global durchzusetzen verspräche. Dabei werden grob zwei ganz unterschiedlich gelagerte Fälle unterschieden. Zum einen (1.) der Friede zwischen Staaten, deren legitime Vertreter bereits erklärt haben, mit anderen in Frieden leben zu wollen und auf Gewalt zu verzichten. Das Angebot eines solchen Versprechens bedeutet, dass das darauf gegründete Recht den Frieden nicht juridisch wie aus dem Nichts konstruiert, sondern bereits als vor-rechtlichen in Anspruch nehmen kann und muss. 46 Die rechtliche Fixierung des im Sinne Kants vorbehaltlosen Willens, aller Feindschaft zwischen den Staaten ein Ende zu machen, soll freilich darüber hinausgehen und die Unterwerfung unter allgemeine Jurisdiktion zur Folge haben für den Fall eigenen schuldhaften Verstoßes gegen Vgl. Burkhard Liebsch: Das Versprechen im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie. Zwischen Hobbes und Nietzsche. In: Philosophisches Jahrbuch 113/I (2006), 143–166.
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den Inhalt des Vertrages, der den sog. Welt-Frieden dauerhaft sichern soll. Noch weit problematischer ist der zweite Fall (2.), der das Verhältnis zu Staaten betrifft, die das Versprechen des Gewalt-Verzichts nicht geben oder von denen es auf absehbare Zeit nicht zu erwarten steht. Darunter befinden sich Staaten, die entweder gegen andere Staaten oder gegen die eigene Bevölkerung derart mit Gewalt vorgehen (oder derart auf ihrem Territorium Gewalt zulassen), dass sich die Anhänger eines globalen Friedens geradezu zur sog. »humanitären Intervention« aufgefordert sehen. Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Staaten, die so zerrüttet sind, dass dergleichen als Notfallmaßnahme erforderlich scheint, um die betroffene Bevölkerung vor dem Schlimmsten zu bewahren, durch keine politische Technik wiederherzustellen sind. Jeder Beitrag zum nation building bzw. zur Rekonstruktion einer leidlich funktionierenden und im Inneren wie nach außen befriedeten Staatlichkeit muss darauf bauen, dass ihm die Betroffenen auch entgegenkommen. Demokratische Lebensformen sind auf keine Weise von außen aufzunötigen. Wo das versucht wurde, waren eher aversive Effekte in die entgegengesetzte Richtung festzustellen. Selbst international legitimierte Interventionen, die darauf abzielen, überhaupt erst Bedingungen herzustellen, unter denen innerhalb existierender Staaten »Frieden durch Recht« wieder möglich erscheint, sind auf schmerzhafte Weise mit der Unzulänglichkeit des Rechts konfrontiert, das sie wiederherstellen sollen. Ein bloß nachträglich wiederherzustellendes Recht spottet vielfach jeder Wiedergutmachung, nach der gewaltsam zerstörtes Leben eigentlich verlangt. Vor allem deshalb münden nachträgliche Interventionen in die Gewaltverhältnisse fremder Staaten, die sich einem allgemeinen Versprechen des Gewalt-Verzichts nicht angeschlossen haben, regelmäßig in die Einsicht, dass nur effektive Prävention dem Frieden zu dienen vermag, dem das Recht allemal zu spät beispringt. Die Formel »Frieden durch Recht« kann jedenfalls nicht bedeuten, dass das Recht gleichsam für sich selbst sorgt durch seine anerkannte Geltung. Geltendes Recht stellt von sich aus überhaupt keinen »Friedenszustand« her, sofern es nicht getragen wird von den kulturellen Lebensformen derer, für die es gelten soll. 47 Entweder durch die Lebensformen ge47 Der Devise »Frieden machen« ist insofern mit Skepsis zu begegnen; vor allem dann, wenn man an eine politische Technik denkt, die sogar in Form eines Handbuchwissens
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schieht Recht oder es muss gegen ihr Versagen nachträglich in Anspruch genommen werden und kann dann allenfalls einen bescheidenen Beitrag dazu liefern, den Schaden, die Verletzung oder Traumatisierung wieder gut zu machen, die im Verstoß gegen das Recht unwiderruflich geschehen ist. Das gilt für das Recht im Staat so gut wie für das Recht zwischen Staaten, für das Völkerrecht wie für das Weltbürgerrecht. Wenig wäre für letzteres effektiv dadurch gewonnen, dass jede »Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt« würde (Kant 48 ), wenn sich daraus nicht auch die Konsequenz ergäbe, derselben Verletzung – vor Ort und aus der Ferne – für die Zukunft vorzubeugen und dafür Sorge zu tragen, dass sie sich nicht an Anderen wiederholt. Wenn dem Frieden durch Recht aufgeholfen werden soll, darf man gerade nicht so weit gehen, beides einfach zu identifizieren, wie es Fichte getan hat in seinem Kommentar zu Kants Entwurf. 49 Vor allem dann, wenn eine nachträgliche Inanspruchnahme des Rechts im Verhältnis zwischen den Staaten massiver Gewalt begegnen soll, wie sie in Krieg und Genozid geschieht, muss es darauf abzielen, die gleiche Gewalt für die Zukunft zu verhüten. Das wird vor Ort – dort, wo die Gewalt menschliches Leben versehrt hat – auf Dauer nur anknüpfend an die Lebensformen gelingen, die allein dem Recht zu gelebter Wirklichkeit werden verhelfen können. Der durch das Recht zu erreichende Friede ist überhaupt kein »Zustand«, sondern überzeugt nur als gelebte Rechtlichkeit, als ein ständiges Geschehen seiner fortwährenden Erhaltung. Im Gegensatz zum »geschlossenen« und rechtlich als »Zustand« fixierten Frieden könnte man von einem im Zusammenleben fungierenden Frieden sprechen, der immer an einer Wegscheide steht, wo man sich zwischen ihm und aufkeimender, fortgesetzter und schließlich propagandistisch forcierter Feindschaft zu entscheiden hat. So gesehen kann kein vertraglich fixierter Friede je das »Ende aller Feindschaft« versprechen – weder zwischen Staaten noch innerhalb von Staaten. Wie voraussetzungsreich der Friede selbst innerbeschrieben werden könnte; vgl. Ernst-Otto Czempiel: Alle Macht dem Frieden. In: Dieter Senghaas (Hg.): Frieden machen. Frankfurt a. M. 1997. 31–47. 48 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 216. 49 »Recht ist Friede«, behauptete Fichte (womit er einem »Völkerrecht zum Krieg« widersprechen wollte). Johann Gottlieb Fichte: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant. In: Zwi Batscha, Richard Saage (Hg.): Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres. Frankfurt a. M. 1979. 83–92, hier 89.
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halb bereits rechtlich pazifizierter Gesellschaften ist, zeigt sich genau daran. Mögliche Verfeindung keimt vielfach auf unvorhersehbare Art und Weise ereignishaft auf. Jeder ernsthaftere Konflikt bietet dazu Gelegenheit. Vorsorge kann man nur dafür treffen, dass die Verfeindung nicht Nahrung erhält und angefacht wird. Wenn das nicht gelingt, steigern sich Auseinandersetzungen zum polemogenen Streit, in dem am Ende jede Gemeinsamkeit aufgekündigt und das soziale oder politische Verhältnis der miteinander Streitenden selber ruiniert wird. An der Grenze zwischen Streit (stasis) und Krieg (polemos), die durch progressive Verfeindung überschritten wird, bewegt sich menschliches Zusammenleben grundsätzlich und immer, insofern jede Auseinandersetzung in ein ernsthaftes Zerwürfnis münden kann. (So gesehen war die Unterscheidung zwischen unfriedlichem Streit und Krieg immer schon »unklar«.). Das hat Nicole Loraux in ihrer Revision eines gängigen Politikverständnisses gezeigt, das wiederum (rechtlich gesicherten) Frieden und Politik geradezu identifiziert, wie es etwa Dolf Sternberger und Hannah Arendt getan haben. 50 Im Prinzip jederzeit kann aus dem normalen Widerstreit von Meinungen, Standpunkten und Überzeugungen eine Art Bürgerkrieg entstehen, der die nirgends objektiv gezogene Grenze zum polemos hin überschreitet, in dem das politische, rechtlich befriedete Verhältnis der miteinander Streitenden selbst zerstört wird. Weder durch genealogische Verwandtschaft noch durch ein von Natur aus vorgegebenes telos des Zusammenlebens noch auch durch einen rechtlichen Vertrag ist je gänzlich auszuschließen, dass sich polemogener Streit auf dem Weg der ein- oder gegenseitigen Verfeindung verschärft und die Ordnung des Zusammenlebens von innen heraus zu zerstören beginnt. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass Politik als »innere« und als »äußere« ihrem eigentlichen Sinn nach letztlich dem Frieden zu dienen hätte – so dass es zur »Friedenspolitik« im Grunde gar keine Alternative gäbe –, kann doch nicht durch das Recht allein – zumal nicht durch ein anderswohin exportiertes Recht, das man im zerrütteten Leben Anderer technisch zu installieren versucht – dafür gesorgt werden, dass 50 Vgl. Nicole Loraux: L’invention d’athènes. Paris 1993; Dies.: »Das Band der Teilung«, in: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt a. M. 1994. 31–64; Burkhard Liebsch: Gastlichkeit und Freiheit. A. a. O. 306 ff., sowie Max Müller: Der Friede als philosophisches Problem. In: Dieter Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 21–38, zur Stadt der Antike als »Stätte des Friedens« (24).
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das politische Handeln wirklich am Frieden orientiert bleibt. Ein nur rechtlich fixierter Friede vermag das polemogene Potenzial menschlichen Zusammenlebens nicht aufzufangen; und zwar auch dann nicht, wenn er durch eine weitgehende faktische Akzeptanz des Rechts gestützt wird, bevor es überhaupt zu einem Konfliktfall kommt, in dem man das Recht gegen Andere, gleichsam als »Ausfallbürgschaft« einer anders nicht mehr zu regelnden bzw. wiederherzustellen Integration in Anspruch nehmen muss. 51 Orientiert sich diese Akzeptanz nur an etablierten Geltungsansprüchen, also daran, was als »rechtens« gilt, so läuft sie Gefahr, das polemogene Potenzial konflikthafter Erfahrungen zu übersehen, die in einer am Recht ausgerichteten Kommunikation gar nicht repräsentiert sind. Wer zwar Rechte hat, faktisch aber nicht Gehör findet, mit seiner eigenen Stimme nicht »zählt« oder nicht einmal wahrgenommen wird, kann ungeachtet seiner formellen Gleichberechtigung in die Lage geraten, sich als vom politischen Gemeinwesen getrennt und in ihm wie nicht existent zu erfahren. Selbst eine von weitgehender Akzeptanz des Rechts im Geist der Inklusion aller Gleichberechtigten getragene politische Ordnung wird sich immer in einem gewissen Missverhältnis zu denen befinden, die sich faktisch in ihr nicht wahrgenommen, gehört und beachtet sehen. Sie wird sehr leicht unterhöhlt werden, wenn sie nicht ständig von der Sorge getragen wird, die Legitimität des Gemeinwesens nicht allein auf eine – vielleicht fahrlässigerweise unterstellte – faktische Akzeptanz des Rechts stützen zu wollen und sie auch im Verhältnis zu denen immer neu deutlich zu machen, die sich weder gehört noch überhaupt wahrgenommen wissen und darin einen auch im Streit der Meinungen nicht repräsentierten Dissens erfahren, der sie dem politischen Leben entfremdet. Die übliche Rede von einer Institutionalisierung des Streits, durch die moderne Demokratien angeblich dessen zerstörerischem, polemogenem Potenzial Herr werden, lässt nur allzu leicht übersehen, dass keine institutionalisierte Ordnung je alle einschließen kann. Stets bleiben faktisch einige oder viele draußen, weil sie die Zur Frage, ob zum fungierenden Frieden nicht weit mehr noch gehören muss als nur eine faktische »Akzeptanz« des Rechts (vor allem insofern es dem Schutz des Einzelnen vor Verletzung zu dienen hat), vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 4 1994. 33 ff. Habermas bringt eine nicht wiederum allein rechtlich, durch die faktische Anerkennung gewisser Geltungsansprüche gestiftete Solidarität zwischen den Mitgliedern eines Gemeinwesens ins Spiel (51).
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Macht oder die Mittel nicht haben, sich Gehör und ihrem Standpunkt Geltung zu verschaffen. Wo das aus dem Blick gerät, hat auch eine dem Gedanken der »Friedenspolitik« verpflichtete demokratische Lebensform, die glauben macht, im institutionalisierten Streit sei ihr polemogenes Potenzial aufgehoben und die Gefahr innerer Verfeindung ein für allemal gebannt, am Ende kein adäquates Verhältnis mehr zum inneren Un-Frieden, den sie den nicht Wahrgenommenen, in ihr faktisch Ausgeschlossenen zumutet, ohne sich noch dem – sei es unartikulierten, sei es gewaltsam manifestierten – Anspruch ihrer Erfahrung zu stellen. So gesehen muss die Formel »Frieden durch Recht« ergänzt werden durch die Sorge um Frieden, die sich weniger von strittigen Geltungsansprüchen als vielmehr von unterdrückten Erfahrungen in Anspruch nehmen lässt. Ohne die pazifizierende Wirkung eines von hoher Akzeptanz getragenen Rechts gering zu schätzen, ist doch einer Reduktion des Friedens auf Bedingungen des Rechts zu widersprechen, denn es zeigt sich, wie voraussetzungsvoll schon innerhalb rechtlich pazifizierter Gesellschaften ein Friede sein muss, der nicht nur »äußerlich« – durch »bloße Koexistenz«, durch eine fragwürdige »Toleranz des Sein-Lassens« oder durch die selbstbewusste Inanspruchnahme des Rechts – zu gewährleisten ist. Zwar ist diese Überlegung nicht neu, doch besteht die starke Neigung, eine auf das Recht nicht zurückzuführende Sorge um »innerlichen« Frieden wiederum als normatives Moment des Zusammenlebens aufzufassen. 52 Damit verfehlt man aber gerade das außerordentliche Moment einer Sorge, die sich gerade nicht in der Berücksichtigung bereits artikulierter Ansprüche erschöpft, sondern dem Nicht-Artikulierten, dem ungesagt Bleibenden, dem Un-Wahrgenommenen ihre besondere Aufmerksamkeit widmet, weil sie weniger im institutionalisierten, nach Regeln ausgetragenen Streit als vielmehr im gar nicht wahrgenommenen, in Wahrheit aber vorliegenden Dissens die Quelle eines inneren Un-Friedens vermutet. So hat zuletzt Jacques Rancière die Sorge um Gerechtigkeit genau an der Grenze zwischen der jeweils etablierten rechtlich-politischen Ordnung einerseits und nicht in ihr aufgehenden Ansprüchen 52 Max Müller (Der Friede als philosophisches Problem. A. a. O. 31) betont mit Recht, das genüge niemals, um Verträglichkeit und Ertragen praktisch zu gewährleisten – zumal wenn beides mit Erfahrungen lebenspraktisch-ästhetischer Unvereinbarkeit zu tun hat, die sich im Streit um Fragen des normativ Richtigen überhaupt nicht auflösen lassen.
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lokalisiert, die überhaupt nicht angemessen wahrgenommen werden. 53 Zwar will auch Rancière nicht der Illusion Vorschub leisten, es bedürfe allemal lediglich einer erweiterten Inklusion, um schließlich allen gerechten Ansprüchen Rechnung zu tragen, doch verschärft er das Problem der Sorge nicht derart, wie es etwa Levinas und Derrida getan haben, die jedem Anderen einen radikal außerordentlichen Gerechtigkeitsanspruch zuschreiben, der in überhaupt keiner gerechten Ordnung je aufzuheben sein wird. Statt daraus ein unfruchtbares Schisma abzuleiten, suchen sie das Verhältnis zwischen der rechtlich pazifizierten Ordnung und dem Anspruch des Anderen, der darauf hinaus läuft, ihm in seiner absoluten Singularität gerecht zu werden, zu destabilisieren, um gerade aus der mit diesem Anspruch verknüpften Über-Forderung eine fruchtbare Inspiration der rechtlich gefassten Gerechtigkeit abzuleiten und sie davor zu bewahren, sich gleichsam selbst-gerecht zu genügen. Deshalb weigert sich Derrida kategorisch, Recht und Gerechtigkeit einfach gleichzusetzen – womit zugleich die Möglichkeit gänzlich entfällt, Recht und Frieden einfach zu identifizieren. Ich greife diese Überlegungen im Folgenden insoweit auf, wie sie eine im Recht gar nicht aufzuhebende Gerechtigkeit auch angesichts eines Feindes ins Spiel bringen, der heute nicht mehr einfach der leicht identifizierbare »nationale« Feind, der Staats-, Klassenoder Rassenfeind ist, sondern ein anonymer Anderer sein kann, der jede rechtliche Ordnung von außen wie von innen zu bedrohen vermag. Paradoxerweise konfrontiert Derrida das in dieser Situation geforderte Denken demokratischen Lebens mit dem Anspruch, selbst einem solchen Feind gegenüber gerecht zu sein und ihn in gewisser Weise – gastlich – bei sich aufzunehmen. Wie sich zeigen wird, entfernt uns dieses Denken auf den ersten Blick am weitesten von Kant und hält doch viel engere Verbindung zu ihm, als es ein Rechtsdenken tut, für das ausgemacht ist, dass jeder Mensch entweder zum Geltungsbereich des (wie auch immer, etwa in kosmopolitischer Absicht erweiterten) Rechts gehört oder aber »nur ein bedrohlicher Fremdling und also ohne Recht ist«. 54 Vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Frankfurt a. M. 2002; Burkhard Liebsch: Widerstreit und Dissens. Kritische Überlegungen zum polemos bei Jacques Rancière. In: Helmuth Vetter, Matthias Flatscher (Hg.): Hermeneutische Phänomenologie – phänomenologische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 2005. 135–155. 54 Dieter Henrich: Ethik zum nuklearen Frieden. A. a. O. 53. 53
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5. Singularitt und Feindschaft »Gerechtigkeit läßt sich niemals auf Recht reduzieren, auf die berechnende Vernunft, auf die Verteilung nach dem Gesetz, auf die Normen und Regeln, die das Recht bedingen […]«, weil sie »den freien Raum des Verhältnisses zur unberechenbaren Singularität des anderen« öffnet. »Genau dort überschreitet die Gerechtigkeit das Recht, setzt aber auch die Entwicklung, die Geschichte und das Werden der juridischen Vernunft in Bewegung beziehungsweise motiviert das Verhältnis des Rechts zur Vernunft […]. Die Heterogenität zwischen Gerechtigkeit und Recht schließt ihre Unzertrennlichkeit keineswegs aus, sondern fordert sie im Gegenteil: keine Gerechtigkeit ohne die Anrufung juridischer Bestimmungen und der Gewalt des Rechts; es gäbe kein Werden, keine Transformation, keine Geschichte und keine Vervollkommnungsfähigkeit des Rechts, wenn es dabei nicht an eine Gerechtigkeit appellierte, die es dennoch übersteigt.« 55 Zwar verwirft Derrida nicht gänzlich den Gedanken, Friede sei durch Gerechtigkeit auf dem Wege des Rechts zu erreichen; aber ein Friede, der damit identifiziert wäre, müsste angesichts des außer-ordentlichen Anspruchs jedes Anderen zugleich in absolute Ungerechtigkeit umschlagen. Eine rechtlich gefasste Gerechtigkeit, die nichts mehr davon ahnen ließe, dass sie gleich zu behandeln zwingt, was nicht von sich aus gleich ist, die also nicht realisiert, dass sie gleich macht, verdiente ihren Namen nicht. Daraus folgt nicht, dass nun umgekehrt ein absoluter Friede zu verwirklichen wäre, wenn man dem singulären, außer-ordentlichen Gerechtigkeitsanspruch des Anderen gerecht würde, der seinerseits von jedem anderen Anspruch entbunden zu denken wäre. Vielmehr wird der rechtlich verfasste und fixierte Friede bewusst in ein unaufhebbares Missverhältnis zu seiner Über-Forderung durch den Anderen gesetzt und diese wiederum an die rechtliche Ordnung gebunden, die sich überfordern lässt. Nur weil die Sorge um Frieden in diesem Missverhältnis niemals zur Ruhe kommen kann, hat er Zukunft. Nur weil das Geschehen des Friedens kein »Zustand« ist, sondern Inspiration, Beunruhigung um 55 Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a. M. 2003. 201–204 (Hervorhebung B. L.) Zur Zuordnung von Recht und Gerechtigkeit vgl. auch Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«. Frankfurt a. M. 1991. 21, 33, 46, 123.
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die nie definitiv zu beantwortende Frage, wie man dem Anderen zwischen Recht und Gerechtigkeit gerecht werden soll, »gibt« es Frieden. Die Formel »Frieden durch Recht« (bzw. durch eine verrechtlichte Politik, die bedeutet, miteinander vergleichbare Ansprüche Anderer abzuwägen, zu berechnen und quantitativ zu bestimmen) wird damit nicht ganz und gar falsch; aber sie wird nun gleichsam in entgegengesetzter Richtung lesbar: Das Recht ist seinerseits im Zeichen eines außer-ordentlichen, niemals in einer juridischen Ordnung aufgehenden Verlangens nach Frieden angesichts des Anderen zu verstehen. Der angesichts jedes Anderen verlangte, aber zugleich auch überforderte Frieden verdankt sich gerade nicht dem Recht oder irgendeiner politischen Ordnung, durch die man es zu garantieren versucht, sondern einem außer-ordentlichen Anspruch, dem er in einer Weise antwortet, die das Recht inspiriert. Das Missverhältnis von außer-ordentlicher Gerechtigkeit und Recht denkt Derrida dabei um den Preis, dass die Vorstellung, man könne ihm je gewaltlos zur Wirklichkeit verhelfen, aufgegeben werden muss, wenn dieses Missverhältnis als unaufhebbar zu gelten hat. So gesehen läge der Frieden gewissermaßen im Un-Frieden mit sich selbst. Und gerade darin läge zugleich die eigentliche Inspiration seines wirklichen Geschehens im Lichte seines unaufhörlichen Versagens. 56 Die dekonstruktionistische Entzauberung der Formel »Frieden durch Recht« zeigt, wie weit wir davon tatsächlich entfernt sind, uns von einer »Verrechtlichung aller konfliktträchtigen Beziehungen« (s. o.) unmittelbar Frieden versprechen zu dürfen. Das so oder so Gewaltsamkeit heraufbeschwörende Missverhältnis zwischen dem Anspruch des Anderen und dem Recht, in dem man ihm, wie mangelhaft auch immer, gerecht zu werden versucht, ist selbst überhaupt nicht zu verrechtlichen. Vielmehr zeigt es gerade die radikale ethiVor allem in Gesetzeskraft, wo Derrida sich ausdrücklich Levinas’ Denken der Gerechtigkeit als einer unbedingten Aufforderung zum »Frieden jetzt« anschließt (A. a. O. 45, 51; Jacques Derrida: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas. München 1999. 114 f.), wird ein vom Anderen her ereignishaft widerfahrender Gerechtigkeitsanspruch als geradezu gewaltsame Unterbrechung des Rechts gedeutet (und zugleich vor einer ebenso gewaltsamen Entbindung vom Recht gewarnt). Derrida ist hier weit entfernt davon, einem harmlosen Frieden das Wort zu reden, den man sich von einer »positiven« politischen Ordnung verspricht. Überhaupt geht er mit diesem Wort sehr sparsam um. Wenn ich hier dagegen Gerechtigkeit und Frieden gewissermaßen kurzschließe, so nur insofern, als der Anspruch des Anderen auf außer-ordentliche Weise nach Frieden verlangen lässt, der aber nur politisch-rechtlich zu sichern sein wird.
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sche Überforderung des Rechts an, an der sich Ansätze der Verrechtlichung produktiv »abarbeiten«, wie man heute gerne sagt. Nicht einmal angesichts eines singulären Anderen vermögen wir Gerechtigkeit und Recht zum Ausgleich zu bringen. Noch viel weniger wird dies gelingen, wenn wir es mit dem Widerstreit zwischen dem Anspruch eines Anderen und Dritter zu tun haben. 57 Schon bevor wir konkret fragen können, mit welchem Anspruch, mit welcher Gerechtigkeit und mit welchem Recht wir es jeweils zu tun haben, scheint uns auf der Ebene ihrer abstrakten Zuordnung bereits jeder Ausweg in Richtung eines solchen Ausgleichs verbaut. Wie es scheint, ist die gegenseitige Inspiration von Recht und Gerechtigkeit in ihrem unaufhebbaren Missverhältnis nur um den Preis zu haben, dass man auch deren Widerstreit nicht beschönigt. Wo aber Widerstreit vorliegt, kann eine konfliktträchtige Auseinandersetzung beginnen. Nicht schon am strukturellen Missverhältnis von Recht und Gerechtigkeit, sondern erst hier: an der Frage, wie diese Auseinandersetzung um einander widerstreitende Ansprüche ausgetragen wird, entscheidet sich das Schicksal des Friedens in den konkreten Lebensformen, die ihn verwirklichen sollen. Damit rücken dem radikalen Missverhältnis von Recht und Gerechtigkeit nachgelagerte, aber kaum weniger bedeutsame Fragen nach der »Friedlichkeit« eines konfliktträchtigen Zusammenlebens im Widerstreit in den Vordergrund. Wer unter Verzicht auf eine nicht mehr glaubwürdige »substanzielle Sittlichkeit« praktischer Vernunft mit Habermas allein noch der aufs Recht sich berufenden Kommunikation vertrauen will, verdeckt eher die klaffende Lücke, auf die die Frage nach einem im Zusammenleben selber fungierenden Frieden zielt. Levinas und Derrida verstehen die Herausforderung durch den Anspruch des Anderen bereits als eine erste Aufforderung zum Frieden, die jede politisch-rechtliche Ordnung auf außer-ordentliche Weise unterlaufe. 58 Diesem Anspruch gerecht werden, heißt das nicht, sich der Herausforderung zum Frieden angesichts des Andern stellen? Aber begegnet der Andere nicht stets als einer unter anderen Anderen, so dass das Missverhältnis zwischen der von ihm verlang57 Vgl. Pascal Delhom: Der Dritte. Levinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit. München 2000. 58 Vgl. dazu ausführlich Burkhard Liebsch: Gastlichkeit und Freiheit. A. a. O. 138 f.; Derrida: Adieu. A. a. O. 70 ff.; Emmanuel Levinas: Schwierige Freiheit. Frankfurt a. M. 1992. 29.
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ten Gerechtigkeit und dem Recht, das alle gleich behandeln soll, auf dem Fuße folgt? Wenn nun dieses Missverhältnis weder in der Richtung einer ethischen Verabsolutierung des Anspruchs des Anderen noch auch in Richtung einer rückhaltlosen Verrechtlichung aufzuheben ist, sind wir dann nicht um so mehr auf die zwischen radikaler Ethik und Recht vermittelnden Lebensformen angewiesen, wenn wir denken wollen, wie Frieden nicht nur – vom Anderen her oder »durch Recht« – verlangt oder sogar geboten, sondern auch konkret möglich ist? 59 Eine überzeugende Antwort auf diese Frage fällt um so schwerer, als ein unproblematischer Begriff praktischer Vernunft bzw. einer im Vorhinein gesicherten Sittlichkeit politischer Lebensformen nicht zur Verfügung steht. Habermas, der am Begriff der praktischen Vernunft nicht mehr festhält, spricht deshalb vom Erfordernis, eine »radikale Demokratie« 60 zu denken – deren Radikalität doch wohl darin bestehen müsste, nicht nur auf ein »Risiko des Dissenses«, sondern darauf sich einzulassen, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Genau das geschieht, wenn Nicole Loraux’ Analysen zutreffen, in der Weise polemogener Auseinandersetzung in ständig widerstreitenden Ansprüchen ausgesetzten Lebensformen, die – weit entfernt, sich auf eine prästabilierte »gegenstrebige Fügung« des Widerstreitenden in einer sittlichen Zum Begriff der Lebensform vgl. Burkhard Liebsch: Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit – Differenz – Gewalt. Berlin 2001. Derrida überspringt die Konkretheit kultureller Lebensformen auf höchst fragwürdige Art und Weise, indem er immer wieder von einer unbedingten, absoluten, nicht-limitierten Gastlichkeit zum Recht übergeht, obwohl er gelegentlich auch vom Erfordernis einer »médiation« spricht. Dieser Begriff bleibt aber eigentümlich ortlos. Zwischen radikaler Gastlichkeit und juridisch beschränkter Gastlichkeit soll nur eine erfinderische »anarchie improvisatrice« stattfinden (Jacques Derrida, E. Roudinesco: De quoi demain … Dialogue. Paris 2001. 42; Jacques Derrida: Responsabilité et hospitalité. In: Autour de Jacques Derrida. Mainfeste pour l’hospitalité – aux Minguettes –. Paris 1999. 111–124, hier 124, wo es heißt: »tout le problème, et c’est celui de tout désir de l’hospitalité, est d’en trouver la traduction et la formulation juridiques«). So sehr der Begriff der Anarchie wiederum die Sache trifft, so blass bleibt bei Derrida jede Vorstellung kultureller Praxis, auf die er konkret zu beziehen wäre. Zu den angesprochenen Problemen des Übergangs zwischen Ethik und Recht vgl. auch Jacques Derrida: Une hospitalité à l’infini. In: Autour de Jacques Derrida. A. a. O. 97–106, hier 100. Dass Derrida das Desiderat einer kulturphilosophischen Erweiterung seines Ansatzes durchaus gesehen hat, zeigt das Interview »Non pas l’utopie, l’im-possible« in: Papier machine. Paris 2001. 349–366; dt. unter dem sonderbaren Titel »Ich mißtraue der Utopie, ich will das Un-Mögliche« in: Die Zeit, Nr. 11 (1998). 47 ff., hier 49. 60 Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. A. a. O. 13, 15. 59
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»Kultur des Konflikts« einfach verlassen zu können 61 – im offenen Streit, aber auch im unterdrückten Dissens ihre Existenz riskieren. Demgegenüber auf eine durchgängige Verrechtlichung aller konfliktträchtigen Beziehungen zu setzen, erscheint eher als Flucht vor eben der Radikalität des Demokratischen, die man beschworen hat, um das demokratische Leben vor der Erstarrung in einem politischen »System« zu bewahren. Tatsächlich lastet nach wie vor auf den menschlichen Lebensformen das ganze Gewicht des Anspruchs, Frieden zu verwirklichen. So wenig wie ein radikaler, außer-ordentlicher Anspruch des Anderen kann ein Recht, das als »Ausfallbürgschaft« im Versagen sozialer Integration gedacht wird, ersetzen, was das menschliche Zusammenleben selber eigentlich leisten soll. 62 Steht jener Anspruch zunächst nur für ein Gebot des Friedens, das wir uns nach Levinas immer schon vom Anderen her »zuziehen« (und zwar gerade dann, wenn er sich als unser Feind erweisen sollte 63 ), so tangiert das Recht nur die »Welt der äußeren Freiheiten«, die zusammenstimmen sollen. Weder auf dem Weg einer radikalen Ethik, die jenem Anspruch nachgeht, noch auf dem Weg einer Philosophie des Rechts allein werden wir aber erfahren, wie für Frieden praktisch zu sorgen ist. 64 Nun ist Derrida kein »Sozialphilosoph«, der sich anheischig ma61 Vgl. Jan Assmann, Aleida Assmann: Kultur und Konflikt. In: Jan Assmann, Dietrich Harth (Hg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt a. M. 1990. 11–48. 62 Darauf werden wir um so mehr zurückverwiesen, wie das Recht jene Funktion immer weniger erfüllt, weil es ungeachtet aller Rechte, die einem zustehen, nicht in Anspruch genommen bzw. eingeklagt werden kann. Angesichts massiver Asymmetrien hinsichtlich der Möglichkeit, seinem Recht auch wirksam Geltung zu verschaffen, scheint es unverständlich, dass Habermas meint, das Recht funktioniere »gleichsam als Transformator«, der erst sicherstelle, dass das Netz der gesellschaftlichen Kommunikation nicht reißt. Im Gegenteil muss man sich fragen, wie es kommt, dass dieses Netz ungeachtet eines weitgehenden Versagens des Rechts nicht reißt (obwohl es brüchig und an vielen Stellen bereits zerrissen genug scheint). Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. A. a. O. 78. Gewiss befreit jedenfalls das Recht nicht einfach vom gewaltsamen, polemogenen Potenzial, das auch in bereits hinsichtlich der sog. »äußeren Freiheit« pazifizierten Gesellschaften angelegt bleibt. 63 Derrida spricht von einer »contamination de l’hospitalité par hostilité« in: Responsabilité et hospitalité. A. a. O. 118, an anderer Stelle auch von »hostipitalité« in: Von der Gastfreundschaft. Wien 2001. 38. 64 Derrida identifiziert mehrfach Gastlichkeit und Empfang bzw. Aufnahme (acceuil) des Anderen. Offenbar meint er aber nur einen primären Empfang des Anspruchs des Anderen, den man auch dann, wenn man sich ihm zu verschließen versucht, nicht vermeiden kann. Letzteres gilt aber gewiss nicht für die konkrete Ausgestaltung einer Gastlichkeit, die dem Anderen wirklich zugute käme. Die Radikalisierung der Gastlichkeit
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chen würde, diese Frage auf direktem Wege zu beantworten. Ihm geht es eher darum, die radikale Situation aufzuklären, die die Sorge um Frieden vorfindet und in der sie sich, um auch nur im Geringsten zu überzeugen, bewähren muss. Radikal ist diese Situation in der Sicht Derridas in genau dem Maße, wie politische (demokratische) Ordnungen als de-limitiert verstanden werden müssen. Sie sind nämlich in seinem Verständnis dem Versprechen der Einbeziehung »der namenlosen und irreduziblen Singularität von Einzelnen« verpflichtet, »deren Differenz unendlich und also jener partikularen Differenz gegenüber indifferent ist, um die es dem blindwütigen Eifer einer Identitätsbehauptung zu tun ist«. 65 Eine solche Identitätsbehauptung fließe auch überall dort ein, wo man glaube, die Frage, wem das in einer politischen Ordnung geltende Recht zukommt, durch eine eindeutige Demarkationslinie zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, Zugehörigen und Unzugehörigen entscheiden zu können. Die Folge wäre eine konsequente Entrechtung derer, die der Ordnung nicht an- oder zugehören. Aber das wäre das Ende der Demokratie selbst, denn »keine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität«. Andererseits aber etabliert auch jede politische (demokratische) Ordnung eine selektive Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern – keine Demokratie ohne diese Gleichheit, ohne Berechnung dessen, was den Gleichen zusteht, und »Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare, feststellbare, stabilisierbare, vorstellbare, repräsentierbare und untereinander gleiche Subjekte. Diese beiden Gesetze lassen sich nicht aufeinander reduzieren; sie sind in tragischer und auf immer verletzender Weise unversöhnbar. Die Verletzung bricht zugleich mit der Notwendigkeit auf«, die Gleichen »zählen, die anderen abzählen, mit den Seinen haushalten, sie einer Ökonomie unterwerfen zu müssen – dort, wo jeder andere ganz anders ist«. 66 Jeder, der dazugehört, ist »ganz anders« und konfrontiert die geht m. E. mit einer auffälligen Schwäche in dieser Hinsicht einher. Zum »Empfang« des Anderen vgl. Jacques Derrida: Adieu. A. a. O. 36 f., 40 ff., 67. 65 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 156 f. Zu Derridas Kritik an einem geradezu zum Krieg herausfordernden Identitätsbegriff vgl. Jacques Derrida: Das andere Kap. Frankfurt a. M. 1992. 10. Ich verstehe Derrida aber nicht so, dass er jedes Ansinnen, eigene Identität zu behaupten, denunzieren will. Das geht auch aus seinen Beiträgen zum Manifeste pour l’hospitalité (s. o.) klar hervor. 66 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 47; Derrida: Responsabilité et hospitalité. A. a. O. 148 f.
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Idee der Gleichheit mit jenem nicht auflösbaren Widerstreit. Gleich behandelt werden können paradoxerweise nur Ungleiche, absolut Singuläre. Dadurch zieht sich jede demokratische Lebensform in ihrem Innern eine Un-Berechenbarkeit zu (die nicht einen Mangel an Berechenbarkeit, sondern das bedeutet, was sich der Berechenbarkeit radikal in ihr entzieht 67 ). Jeder Andere, der ihr zugehört, ist als Singulärer in radikaler Weise eine Ausnahme. In diesem Sinne ist aber auch jeder Fremde ein Anderer: hinsichtlich dieser Singularität, die danach verlangt, dass man ihr gerecht werde, ist keine eindeutige Grenze in der politischen Welt zu ziehen. Jede politische Welt, die sich als solche abgrenzt, kann dies nur auf der Folie einer vorgängigen und niemals aufzuhebenden De-Limitation, welche die Überforderung des Rechts in der Ordnung durch die Gerechtigkeit jenseits der Ordnung nach sich zieht, die in sie hineinwirkt. Ob eine derart de-limitierte, d. h. auch: überforderte Politik, die mit Unberechenbarem zu rechnen hätte, das ihr sowohl von innen wie von außen, von Unzugehörigen her widerfährt, noch Politik im üblichen Sinne heißen kann und ob wir hier nicht zu einer nachdrücklichen Revision dieses Begriffs aufgefordert sind, kann an dieser Stelle offen bleiben. 68 (Auch Derrida gelangt über insistentes Fragen an dieser Stelle kaum hinaus.) Es geht hier vielmehr darum, dass politisches (demokratisches) Leben so zum Anderen, der jeder andere sein kann, geöffnet wird, dass ein Anspruch auf Gerechtigkeit selbst einem radikalen Feind nicht zu verwehren ist. Gewiss kann man versuchen – wir haben es erlebt und erleben es noch –, die staatlichen Grenzen gegen gewisse Feinde lückenlos abzudichten. Aber sind die schlimmsten Feinde der Demokratie nicht gerade jene, die sie um jeden Preis abzugrenzen versuchen? 69 Gelänge das, so könnte sich ein derart rechtlich abgeschottetes politisches System in seiner Selbst-Gerechtigkeit selbst genügen; um den Preis aber, jeden mit der Singularität des Anderen, der jeder andere sein kann, verbundenen Gerechtigkeitsanspruch zu liquidieren. 67 Jacques Derrida unterscheidet l’incalculable und le non-calculable; Derrida: De quoi demain. A. a. O. 86. 68 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 154, 264 f., 311. Diese Frage beschäftigt auch eine ganze Reihe von jüngst erschienenen Aufsätzen (von M. Abensour, S. Critchley u. a.), die ich nicht mehr berücksichtigen konnte, in: Pascal Delhom, Alfred Hirsch (Hg.): Im Angesicht der Anderen. Levinas’ Philosophie des Politischen. Berlin 2005. 69 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 69, 78.
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So gesehen wären das Recht und die Entrechtung als dessen Kehrseite, die sie den Ausgeschlossenen zuwendet, zwei Seiten derselben juridischen Struktur. Entweder wir lassen uns auf ein solches, letztlich die Gerechtigkeit auf das Recht reduzierendes Verständnis des Politischen ein, oder aber wir müssen mit einer irreduziblen Inkongruenz von Recht und Gerechtigkeit »rechnen«, die in unberechenbarer Weise bedeuten muss, dass wir einen Gerechtigkeitsanspruch auch Anderen zuerkennen, die wir nicht einmal kennen, ja die sich als unsere Feinde herausstellen können. 70 Eine wahrhaft de-limitierte Demokratie müsste sich dem Anspruch stellen, selbst dem radikalen Feind Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auch auf die Gefahr hin, das eigene Recht gänzlich zu überfordern. Sie wäre eine auf radikale Weise »offene Gesellschaft«, was sich eigentümlicherweise gerade in ihrer Gastlichkeit gegenüber Feinden erweisen würde. Gastlichkeit bedeutet hier nicht, dass man ihnen Nahrung und Unterkunft gewährt und bis auf weiteres ein Besuchs-, Gast- oder Asylrecht einräumt (obgleich auch all das in Betracht kommt), sondern zunächst, dass man realisiert, in jedem Falle bereits den Anspruch des Anderen in Empfang genommen zu haben, bevor man ihm statt gibt oder ihn abweist. Auch die Zurückweisung ist eine Weise des Verhaltens zum Anspruch des Anderen, den man in gewisser Weise nicht nicht zur Kenntnis nehmen kann. Auf die unhintergehbare »Aufgeschlossenheit« für den Gerechtigkeitsanspruch des Anderen (selbst des Feindes oder dessen, von dem wir nicht einmal wissen, was oder wer er oder sie oder es ist) bezieht Derrida, ähnlich wie Levinas, den Gedanken einer Gastlichkeit, 71 durch die sich eine Gerechtigkeit, die jedes demokratische Leben überfordert, dem Recht geradezu aufdrängt. Diese Überforderung impliziert eine »Politik der Trennung«. Man ist, unter Gleichen, zusammen, aber um davon zu zeugen, dass man eine irreduzible Singularität respektiert. Nur unter der Voraussetzung einer »unendlichen Disproportion« befindet man sich in Gemeinschaft, die in sich Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 74. Bereits in Totalität und Unendlichkeit heißt es gleich zu Beginn: »Dieses Buch stellt die Subjektivität als etwas dar, das den Anderen empfängt, es stellt sie als Gastlichkeit dar« (A. a. O. 28). Von diesem – mitnichten auf einen »guten Anderen« beschränkten – Gedanken ist es allerdings ein sehr weiter Weg zum Begriff einer einerseits rechtlichpolitisch verbindlich gemachten, andererseits in kulturellen Lebensformen praktizierten Gastlichkeit. Diese Begriffe habe ich in Gastlichkeit und Freiheit sowohl zu unterscheiden als auch aufeinander zu beziehen versucht. 70 71
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gewissermaßen »auseinandertritt«, um ein unaufhebbares Getrenntsein der Vergemeinschafteten zu realisieren. 72 Derrida spricht in diesem Zusammenhang von der nachhaltigen »Erschütterung der Struktur oder Erfahrung der Angehörigkeit oder Zugehörigkeit selbst«. Im Innern wird sie von einer irreduziblen Getrenntheit der einander An- oder Zugehörigen unterhöhlt: es handelt sich um eine »Gemeinschaft ohne Gemeinschaft«. 73 Dieser Gedanke wird erst dann radikal gedacht, wenn man der Erfahrung des Getrenntseins über jede beruhigende Identifikationsmöglichkeit hinaus nachgeht. Dann verliert sogar der innere oder äußere Feind jeden vertrauten Umriss. Ein identifizierbarer Feind wäre nicht derart beunruhigend wie ein uns bis zum Verwechseln Ähnlicher, der den Unterschied zu ihm aufzuheben droht. 74 Ein radikaler, jede Identifikationsmöglichkeit unterlaufender Feind wäre am Ende von uns selbst, vom eigenen Selbst, nicht mehr unterscheidbar. Genau das hat Carl Schmitt, der wie kein anderer nach einer verlässlichen politischen Identifikationsmöglichkeit des Feindes gesucht hat, immer wieder umgetrieben. Eben deshalb habe besonders er die »Gefahr« der Ununterscheidbarkeit des Feindes vom Selbst in einer Welt realisiert, die es dem Denken des Politischen immer schwerer, wenn nicht unmöglich machte, unverrückbare Grenzen in der Welt zu ziehen. 75 Gerade der vom Verlangen nach einem identifizierbaren Feind Besessene muss schließlich eingestehen, dass der Feind in seiner vermeintlichen Hinterhältigkeit vom Selbst nicht mehr zu unterscheiden sein wird. Keine Suche nach eindeutiger politischer Identität kommt daran vorbei. Umgekehrt bedeutet dies, dass jede (demokratische) Lebensform, die ihre unvermeidliche Öffnung zum singulären Anderen hin realisiert, der »ganz anders« sein kann, unweigerlich selbst zum
Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 297, 396 f. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 118 f., 122 f.; Jacques Derrida, Gianni Vattimo: Die Religion: Frankfurt a. M. 2001. 39, 103, zum Gedanken eines unendlichen Entferntbleibens des Anderen bzw. einer Ent-Bindung in jeder Bindung oder Gemeinschaft. 74 Zur Frage, wie sehr gegenwärtiges kulturelles Leben von dieser Problematik umgetrieben wird, vgl. Andreas Kuhlmann: Fehlt uns der Feind? In: Die Zeit 43 (1992). 73; Chandler Bertram: Auf der Suche nach dem neuen Feind. In: Die Zeit 50 (1996). 3; Alexandra Stäheli: »Mars Attacks« Oder der undarstellbare Feind im amerikanischen Film. In: Neue Züricher Zeitung 135 (2003). 49; J.-W. Müller: Feinde der Zivilisation. Neo-Souverän. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 104 (2004). N 3 f. 75 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. A. a. O. 130, 333 f. 72 73
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radikalen Feind hin gastlich sich verhalten muss. 76 D. h. vorläufig allerdings nur: Sie gewährt ihm unvermeidlich Eintritt, was uns aber die Frage nicht erspart, wie man sich dazu verhalten soll. Aus einer radikalen Ethik der Gastlichkeit ist eine konkrete Politik des Umgangs mit radikalen Feinden in keiner Weise unmittelbar abzuleiten. 77 Rückt mit einem solchen Ansatz der Friede nicht in noch weitere Ferne? Beschwört eine radikal de-limitierte Demokratie (oder demokratische Lebensform) nicht eine geradezu maß-lose Über-Forderung herauf, so dass sie dazu neigen wird, mit ihr möglichst effektiv Schluss zu machen? Oder ist umgekehrt gerade denjenigen politischen Systemen, die man gegen radikale Feinde glaubt lückenlos abschotten zu können, eine ungeahnte Verschärfung drohender Feindschaft zuzuschreiben? Derrida scheint zu glauben, dass sich eine Demokratie, die sich ihre in Wahrheit unvermeidliche und unbedingte Öffnung zum Anderen (selbst wenn er sich als radikaler Feind erweist) eingesteht, am ehesten zum Frieden eignet. Demgegenüber wären Lebensformen, die sich gewissermaßen selbst blind machen gegen ihre im unbedingten »Empfang« des Anderen tatsächlich nicht aus der Welt zu schaffende Herausforderung zum Frieden, nicht einmal in der Lage, auch nur diese Herausforderung als solche zu realisieren. Paradoxerweise würden demnach gerade politische Lebensformen, die sich rückhaltlos drohendem Un-Frieden aussetzen, am ehesten zum Frieden finden. Aber der Preis, der für eine solche Exposition zu zahlen ist, ist außerordentlich hoch. Eine bedingungslose Gastlichkeit nämlich riskiert absolut unvorhersehbare Reaktionen bis hin zum unverhohlenen Hass auf Seiten derer, die sich sogar in der generösesten Aufnahme Anderer mit radikaler Feindschaft Vgl. dazu im Anschluss an Derrida, Schmitt und Levinas Liebsch: Gastlichkeit und Freiheit. A. a. O. Kap. II, III, VII. Ich unterscheide hier eine Dimension primären (unvermeidlichen und unbedingten) Empfangs des Anderen von einer sekundären Dimension, in der es um ein dazu Stellung nehmendes Verhalten geht. Kulturelle Gastlichkeit hat es m. E. vor allem damit zu tun – aber stets im Lichte der irreduziblen ersten Dimension, aus der andererseits nicht zu entnehmen ist, was wir im Sinne wirklich praktizierter Gastlichkeit tun sollen. 77 Und zwar so wenig, dass nicht einmal auszuschließen ist, dass die Rede von einer »unbedingten« Aufnahme selbst radikaler Feinde zum Vorwand eines rigorosen politischen Umgangs mit ihnen genommen werden kann. Ich sehe nicht, dass eine Ethik der Gastlichkeit ein zwar von ihr inspiriertes, aber doch eigenständiges und positiv ausformuliertes Recht ersetzen könnte, das auch diese Feinde vor der Entwürdigung bewahren muss. 76
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konfrontiert sehen. Mitnichten nämlich pazifiziert die primäre Gastlichkeit der (unbedingten) Aufnahme Anderer das konkrete Verhalten, das man von ihnen zu erwarten hat. Was, wenn der Gast seinerseits jede Gastlichkeit verwirft oder gewaltsam verletzt? Wie sich die keineswegs unbedingte sekundäre Gastlichkeit kulturellen Lebens in einem solchen Fall zur primären, unbedingten Gastlichkeit verhält bzw. verhalten sollte, lehrt uns keine radikale Ethik und kein Recht. In Schurken bekennt sich Derrida ausdrücklich zum Gedanken einer unbedingten Gastlichkeit, die den Anderen in gewisser Weise aufnimmt, noch bevor überhaupt die Möglichkeit einer Identifikation oder Gelegenheit dazu besteht, Bedingungen zu stellen, Vorbehalte geltend zu machen und Beschränkungen vorzunehmen. Die »Ankunft« des Anderen findet in radikal ereignishafter Weise statt, die von keiner »beschränkten Gastfreundschaft« zu kontrollieren ist. 78 Es handelt sich um den »Einbruch einer unberechenbaren und exzeptionellen Singularität«, ohne den sich tatsächlich in einem radikalen Sinne »nichts und niemand« ereignen würde. »Ich sage ›nichts und niemand‹, um zu einem Denken des Ereignisses zurückzukehren, das noch vor der Unterscheidung oder Konjugation des ›Was‹ und des ›Wer‹ erwacht oder widererwacht.« 79 Im Ereignis der In-EmpfangName des Anderen in seiner absolut unberechenbaren Singularität kann man also unmöglich wissen, um was oder um wen es sich handeln wird. Jedes Wissen, jede Identifikation kommt zu spät. Die Gastlichkeit bedeutet eine unbedingte Öffnung, der sich nur nachträglich eine »bedingte«, der Ordnung des Ethischen, des Kulturellen, Juridischen oder Politischen angehörende Gastlichkeit entgegensetzen kann. 80 Eine »radikale« demokratische Lebensform sieht sich demnach mit dem Widerstreit zwischen einer unbedingten Gastlichkeit einerseits, die sie ereignishaft und unbedingt zur Aufnahme jedes Anderen herausfordert, und einer stets bedingten, mit Vorbehalten Jacques Derrida: Schurken. A. a. O. 124. Jacques Derrida: Schurken. A. a. O. 198, 201. 80 Vgl. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. A. a. O. 434. Die hier nur gestreifte, zentrale Frage, ob die Gastlichkeit von Anfang an als ethische gelten muss, beantwortet Derrida schwankend. In der Schrift Von der Gastfreundschaft gelten Ethik und Gastlichkeit bzw. Gastfreundschaft als »koextensiv« (A. a. O. 106), während in Schurken die primäre Gastlichkeit in der unbedingten Aufnahme des Anderen als auch dem Ethischen »fremd« eingestuft wird (A. a. O. 199). (Derrida behauptet hier, dies immer schon getan zu haben.). 78 79
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versehenen (sekundären) Gastlichkeit andererseits konfrontiert. Einerseits sollte eine radikale Demokratie sogar noch »den Feinden der Demokratie entgegenkommen, ihnen die andere Backe hinhalten, sich ihnen gastfreundlich zeigen«, d. h. um keinen Preis jemanden ausschließen. 81 Andererseits würde eine vorbehaltlose Aufnahme aller, selbst derer, die ihr feindlich gesonnen sind, die demokratische Lebensform sofort zerstören. Entweder diese Lebensform erweist sich als unbedingt gastlich und verkürzt nur dann nicht den Gerechtigkeitsanspruch, der von jedem Anderen ausgehen kann, auf das Recht; oder aber sie »macht Schluss« mit dieser Über-Forderung, schließt ihre Feinde aus und gewährt nur denen Recht, die ihr positiv zugehören. Damit wären die Feinde nicht nur ent-rechtet; ihnen – wie auch den Zugehörigen – käme darüber hinaus kein außer-ordentlicher Gerechtigkeitsanspruch mehr zu. In beiden Fällen erscheint die demokratische Lebensform als geradezu »suizidäres« Unterfangen. 82 Im ersten Fall riskierte sie ihre schiere Existenz, indem sie radikalen Feinden Einlass gewährt; im zweiten Fall verriete sie das außerordentliche Verlangen nach unbedingter Gerechtigkeit für den Anderen – ganz gleich, wer er oder sie sei. In beiden Fällen drohte die Demokratie im Namen ihrer Erhaltung zerstört und zu einer AutoImmunreaktion provoziert zu werden. 83 Eine gastliche Aufnahme radikaler Feinde, die ihnen »unbedingt« Gerechtigkeit widerfahren lassen würde, drohte die (de-limitierte) demokratische Lebensform wehrlos denen auszuliefern, die sie zu zerstören beabsichtigen. Die konsequente Weigerung, ihnen im Geringsten einen gerechten Anspruch zuzubilligen, würde den vom Verlangen nach einer radikalen und unbedingten Gerechtigkeit inspirierten Sinn der demokratischen Lebensform selbst ruinieren. Dieser Sinn steht und fällt mit einer De-Limitation, die das begrenzte und bedingte Recht durch eine geradezu maß-lose Gerechtigkeit überfordert. So gesehen kann der Tendenz zu einer Art Auto-Immunität, die einer solchen, möglicherweise ruinösen Überforderung 84 entgegenwirken soll, nicht jeglicher
Jacques Derrida: Schurken. A. a. O. 66. Jacques Derrida: Schurken. A. a. O. 55. 83 Jacques Derrida: Schurken. A. a. O. 57, 70, 206. 84 […] die in eine gewisse Nähe zur bekannten rechten Polemik gerät. Diese kann aber nicht über den Unterschied zwischen einer Verachtung der Gastlichkeit und einer Überforderung hinwegtäuschen, die ihr gerade verpflichtet bleibt, selbst wenn sie sich beschränken lassen muss, um im Geringsten konkretisierbar zu sein. Vgl. Jacques Derrida: 81 82
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Sinn abgesprochen werden. 85 Kommt es nämlich nicht zu einer Beschränkung der unbedingten Gerechtigkeit, so wird sie praktisch unmöglich gemacht. Öffnet sich umgekehrt die beschränkte (etwa im Recht sich manifestierende) Gerechtigkeit nicht für eine sie unaufhebbar überfordernde Inspiration durch einen unbedingten Gerechtigkeitsanspruch, der jedem Anderen, auch dem radikalen Feind zukommen kann, so liefert man sich einer Liquidierung der Gerechtigkeit im Recht aus. Es geht mir hier nicht um die Dekonstruktion von Gerechtigkeit und Recht als solche, sondern darum, wie Derrida zu einer Revision der gängigen Formel »Frieden durch Recht« zwingt (die sich weitgehend auf die Beendigung bzw. Aufhebung bereits vorgefallener Feindschaft bezieht). Zunächst hebt er jede Möglichkeit auf, den von einer unbedingten Gerechtigkeit her gedachten Frieden mit dem Recht einfach zu identifizieren. Wenn überhaupt, dann gewährleistet das Recht stets nur einen begrenzten, bedingten und auf partikulare Lebensformen zugeschnittenen Frieden, wohingegen vom singulären Anderen her ein unbedingter, unbegrenzter und außer-ordentlicher Gerechtigkeitsanspruch widerfährt. Der unbedingte Friede scheint von jenseits des Rechts her geboten; und zwar angesichts jedes Anderen, auch eines radikalen Feindes. Die so überaus griffige Formel »Frieden durch Recht« steht in dieser Perspektive für eine Verkürzung des gebotenen Friedens um seine Unbedingtheit. Sie liefert sich genau dadurch einer »inhospitablen« Inanspruchnahme gegen Feinde (nicht zuletzt gegen Feinde der Demokratie) aus, mit denen man sich nicht mehr durch ein unbedingtes Gebot des Friedens verbunden weiß. Der von Derrida im Anschluss an Levinas radikalisierte Gedanke einer Gastlichkeit, die noch vor jeder willentlichen Stellungnahme und vor jedem positiven Recht wie der Hospitalität zum Empfang eines unbedingten Anspruchs des Anderen bestimmt, beugt gewissermaßen jeder radikalen Exklusion Anderer vor, die in der Zukunft zum Wiederaufleben neuer, verabsolutierter Feindschaften beitragen könnte. So gesehen ist es nicht abwegig, im Gedankengang von der Kantischen Hospitalität – die zunächst nur das Recht bedeuten sollte, Le principe d’hospitalité. In: Papier Machine. A. a. O. 273–277. Derrida gesteht eine »irreduzible Pervertierbarkeit« der Gastlichkeit zu. 85 Instruktiv dazu ein Vergleich mit Richard Rorty: Feind im Visier. Im Kampf gegen den Terror gefährden westliche Demokratien die Grundlagen ihrer Freiheit. In: Die Zeit, Nr. 13 (2004). 49 f.
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»nicht feindselig« behandelt zu werden – zur Ethik der Gastlichkeit, die jedem Anderen einen unbedingten Gerechtigkeitsanspruch einräumt und sich von daher zu einem keinem Recht zur Disposition stehenden Frieden bestimmen lässt, ein zur üblichen juridischen Verengung des Friedensbegriffs gegenläufiges und komplementäres Moment zu erkennen. Der außer-ordentlich verlangte Friede, der auch angesichts eines radikalen Feindes sich noch bewähren soll, kann gewiss nicht versprechen, aller künftigen Feindschaft ein Ende zu machen, wie es der eschatologischen Ausrichtung des »ewigen Friedens« bei Kant entsprechen würde. Er tritt dem rechtlich gesicherten Frieden, der mit Feindschaften der Vergangenheit idealiter absolut vorbehaltlos Schluss machen würde, nur als ebenso vorbehaltloser und unbedingter Empfang des Anderen zur Seite, der sich seiner radikalen Exklusion widersetzt. Die Philosophie der Gastlichkeit, die über den Sinn dieses Empfangs Aufschluss zu geben versucht, lehrt uns freilich nicht, wie im unüberwindlichen Widerstreit zwischen dem unbedingten Anspruch des Anderen und einer in praktischen Lebensformen unvermeidlich immer beschränkten Gerechtigkeit zu »vermitteln« wäre. Die Frage nach praktischen Spielräumen des Verhaltens zwischen (unbedingter) Gerechtigkeit und (bedingtem) Recht bleibt bei Derrida weitgehend offen. 86 Wie gesagt konzipiert Derrida keine Sozialphilosophie im üblichen Sinne, von der man erwartet, konkrete, positive Bedingungen und Möglichkeiten des Friedens anzugeben. Das mag daran liegen, dass er einen tiefen Argwohn gegen jedes positive Denken hegt, das etwa erlauben würde zu sagen: ich bin, wir sind gerecht und leben insoweit »in Frieden«. 87 Ist nicht jede Spur der Beunruhigung durch ein unstillbares Verlangen nach Gerechtigkeit getilgt und herrscht Von Lebensformen, denen man im Widerstreit zwischen Recht und Gerechtigkeit eine »vermittelnde« Rolle zuschreiben könnte, ist bei Derrida ohnehin nicht die Rede, obgleich die performative Deutung der »radikalen« bzw. »de-limitierten« Demokratie als eines – stets und unvermeidlich »übermäßigen« – Versprechens (Jacques Derrida: Schurken. A. a. O. 118, 122) m. E. darauf hinauslaufen muss, gastliche Lebensformen zu denken, denen konkret ein anderer Umgang auch mit radikalen Feinden zuzutrauen wäre als derjenige, den etwa die amerikanische Administration in einer bis heute anhaltenden Auto-Immunreaktion zeigt, die am Ende auf eine radikale Exklusion der Feinde im Namen der Verteidigung der Demokratie hinauslaufen könnte. Dann hätte die (amerikanische) Demokratie in der Tat ihre Inspiration durch eine außer-ordentliche Gerechtigkeit eingebüßt, die man jedem Anderen schuldet. 87 Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A. a. O. 48. 86
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nicht die schiere Selbst-Gerechtigkeit, sobald das festzustehen scheint? Zu selbst-gerechter Affirmation eines angeblich – etwa in Europa – bereits »herrschenden« Friedens besteht tatsächlich kein Grund. Nicht nur wegen eklatant fortbestehender realer Ungerechtigkeit, aus der sich ständig neue Feindschaft nährt, die auch auf die Europäer zurückschlägt, sondern weil Friede überhaupt nicht herrschen kann. (Wenn etwas nicht herrscht und nicht herrschen kann, dann der Friede. Friede zeigt sich stets nur an der Gabelung eines Weges, an der sich auf unvorhersehbare Weise entscheidet, ob man in Richtung einer Verfeindung abzweigt, die in Krieg und Genozid münden kann, oder ob man einer bereits aufkeimenden Feindschaft den Nährboden weiterer Verfeindung zu entziehen versteht. Die »gastliche« Aufnahme selbst radikaler Feinde zwingt uns als zunächst asymmetrisches Geschehen in keiner Weise zu einer symmetrischen Erwiderung der Feindschaft.) Ein Friede, den man sich selbst überlassen zu können glaubt, weil er bereits zu »herrschen« scheint, wird schon verraten, wenn in ihm die Sorge um künftigen Frieden verkümmert. Derrida begreift diese Sorge als eine Art Skrupel in der Gerechtigkeit (die er ähnlich wie Levinas als Gebot des Friedens aufzufassen scheint); als einen Skrupel, der sich gegen die Gerechtigkeit selbst wendet, um ihr jede Selbst-Gerechtigkeit zu verwehren. Entweder in der – wie unvollkommen oder gut auch immer – realisierten Gerechtigkeit ist noch der Skrupel lebendig, für den Frieden nicht genug getan zu haben, oder die realisierte Gerechtigkeit genügt sich selbst und verrät so jeden außer-ordentlichen Anspruch, der es ihr verwehren muss, sich je mit einer – wie unzulänglich oder scheinbar perfekt auch immer – realisierten Ordnung einfach abzufinden. Entweder die Gerechtigkeit bleibt dauerhaft inspiriert von einem in ihr gegen sie selbst sich wendenden Sinn für Ungerechtigkeit 88 oder aber man befindet »dies ist gerecht«, »wir sind gerecht«, »ich bin gerecht«, so dass sich das Verlangen nach Gerechtigkeit darin erschöpft. Das aber hieße bereits, die Gerechtigkeit zu verraten. Dasselbe muss für den Frieden gelten, insoweit er von der Gerechtigkeit her oder sogar als Gerechtigkeit gedacht wird. 89 88 Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A. a. O. 41, wo von einer unabdingbaren »Empfindlichkeit« für eine Disproportion der Gerechtigkeit die Rede ist, sowie Burkhard Liebsch: Der Sinn der Gerechtigkeit im Zeichen des Sinns für Ungerechtigkeit. In: Jan Kaplow, Christoph Lienkamp (Hg.): Sinn für Ungerechtigkeit. Ethische Argumentationen im globalen Kontext. Baden-Baden 2005. 11–39. 89 Dies bietet sich an, insofern das Verhältnis zum Anderen von vornherein im Hori-
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So nimmt die Sorge um eine immerfort ausstehende Gerechtigkeit die Form der Forschung danach an, »woher sie kommt und was sie von uns will«. 90 Woher ziehen wir uns das nie wirklich zu befriedigende Verlangen nach Gerechtigkeit bzw. nach Frieden zu? Das müsste man schon wissen, um wenigstens in erster Näherung angeben zu können, welche Gerechtigkeit bzw. welches Denken der Gerechtigkeit diesem Verlangen »angemessen« Rechnung zu tragen verspricht. Denn entweder das Gerechtigkeitsdenken antwortet einem vorgängigen Verlangen oder es genügt sich als theoretisches Spiel am Ende selbst und büßt jedes weitere Interesse ein. Dieser Frage nach dem Woher möchte ich abschließend nachgehen.
6. Der Anspruch eines unvershnten Gedchtnisses Woher sich das Verlangen nach Gerechtigkeit ergibt, worauf es Antwort gibt, warum »Gerechtigkeit sein muss«, das lässt sich nicht einfach als empirisches Faktum konstatieren. Derrida sieht sich der »grenzenlosen und folglich notwendig übermäßige[n] Verantwortung« gegenüber einem kulturellen Gedächtnis verpflichtet, dem er die Aufgabe entnimmt, »die Geschichte, den Ursprung, den Sinn, will sagen die Grenzen der Begriffe der Gerechtigkeit, des Gesetzes, des Rechts […] in Erinnerung zu rufen«. 91 Nicht zuletzt vermittels dieses Gedächtnisses, glaubt er, ziehen wir uns »die Forderung nach unendlicher Gerechtigkeit« zu, der zunächst dadurch »Gerechtigkeit widerfahren« muss, »daß man auf sie hört, sie liest, sie deutet«. Aber keineswegs hat sich diese Forderung gleichsam aus eigener Kraft, von archaischen Quellen und Ursprüngen her »vererbt«. Der Prozess der Überlieferung setzt sie vielmehr rückhaltlos der Geschichte aus. Es handelt sich um ein von geschichtlichen Ereignissen heimgesuchtes, infiziertes und deformiertes Erbe. Das geht so weit, dass ihm auch die
zont der Dritten gedacht wird, denen ebenfalls Gerechtigkeit zukommt. Allerdings hege ich Zweifel an dieser in jüngster Zeit sehr beliebten Verzahnung von Ethik und Politik, Singularität und Pluralität. Sie nimmt die Exklusivität zwischen-menschlicher Erfahrung nicht ernst genug, in der, selten genug, jeder wenigstens eine Ahnung davon gehabt haben muss, was Friede sein könnte, um ihn politisch denken zu können. 90 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A. a. O. 40. 91 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A. a. O. 40.
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Erfahrung der versuchten Zerstörung der Gerechtigkeit zu entnehmen ist. 92 Den Nazismus interpretiert Derrida unumwunden als den »Versuch« bzw. als das »Projekt«, »den Zeugen einer Gerechtigkeit« zu zerstören, die »der Rechtsordnung gegenüber (selbst wenn es sich um die Menschenrechte handelt) […] ihre Heterogenität behauptet«. 93 »Man muß dieses Ereignis von seinem Anderen aus zu denken versuchen, das heißt von dem aus, was es auszuschließen und zu zerstören versucht hat, von dem aus, was es radikal exterminieren wollte«, darunter den »Gerechtigkeitsanspruch« als solchen und das Gedächtnis dieses Anspruchs. Das Gedächtnis dieser versuchten Zerstörung – »Endlösung« 94 genannt – bezeugt einerseits ihr Scheitern (indem es die Spur einer radikalen Widersetzlichkeit der GerechtigIch würde noch einen Schritt weiter gehen und (wie in Gastlichkeit und Freiheit) behaupten wollen, dass das Verlangen nach Gerechtigkeit in gewisser Weise sogar dem Versuch ihrer Zerstörung zu »verdanken« ist. Eben deshalb sind alle, Agnostiker wie Religiöse (gleich welcher Couleur), »Ketzer« wie »Heiden« dazu aufgerufen, sie zu denken – um sie einander zu gewähren. Insofern kann ich mich Levinas nicht anschließen, der die Gerechtigkeit für eine bestimmte, biblische Tradition einfach in Anspruch nimmt, wenn er sagt, alles Menschliche verdanke sich der Bibel und den Griechen, alles andere sei »nur Tanz« und Exotismus. (Vgl. Raoul Mortley: French Philosophers in Conversation. Pittsburgh 1992.) Damit verrät Levinas in meinen Augen sogar die unbedingte, selbst auferlegte Verpflichtung, das Religiöse vom Anderen her zu denken, d. h. es in der Beziehung zum Anderen – gleich wer er sei – aufzuweisen, statt es von vornherein im Lichte einer den »Vater« über die sog. Brüderlichkeit einsetzenden Tradition dieser Beziehung überzustülpen. Wer das tut, läuft Gefahr, sich die Gerechtigkeit in gewisser Weise anzueignen und sie anderen Traditionen vorzuenthalten, worin schon ein polemogenes Moment liegt. Wer das umgekehrt vermeiden und die Gerechtigkeit ihrerseits im Geist des Friedens denken will, muss m. E. konsequent auf eine gewisse Ausgrenzung Anderer aus dem originären Verlangen nach Gerechtigkeit und aus dem geschichtlichen Wissen darum verzichten. Wenn Levinas beides den genannten Traditionen vorbehält (von denen ahnungslose »Heiden« sich nur nachträglich belehren lassen müssen, wenn wir ihm folgen), impliziert er zweifellos eine solche Ausgrenzung. Demgegenüber ist alles, was ich hier beizutragen habe, von der Überzeugung getragen, dass ein gegebenenfalls in der Gerechtigkeit zum Tragen kommendes Moment der religio auch den Anderen als »Heiden« betrifft bzw. dass dieser vielfach denunziatorisch gebrauchte Begriff einer gegenüber dem Anspruch der Gerechtigkeit grundsätzlich verspäteten Kategorisierung angehört. Entweder dieser Anspruch erweist sich als ein »unbedingt« zwischenmenschlicher und muss sich dann auch jeder solchen Kategorisierung widersetzen, oder aber man arbeitet mit solchen Kategorien, verspielt dann aber seinerseits den Anspruch, eine unbedingt dem fremden, singulären Anderen verpflichtete Gerechtigkeit und Frieden für alle und vom »x-beliebigen« Anderen her zu denken. 93 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A. a. O. 119. 94 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A. a. O. 60, 115 f. 92
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keit gegen ihre Zerstörung in diesem Projekt selbst nachweist) und diktiert andererseits die Erneuerung des Verlangens nach Gerechtigkeit auf der Basis eben der Erinnerung, die den äußersten Angriff auf die Gerechtigkeit vergegenwärtigt. Diesem Angriff kann das Gedächtnis keinen Beweis entgegensetzen, dem zu entnehmen wäre, dass jedem Anderen ein unverfügbarer Gerechtigkeitsanspruch zukommt. Es muss ganz und gar auf die Bezeugung eines solchen Anspruchs setzen, ohne noch auf irgendeiner unangefochtenen Grundlage wissen zu lassen, ob es einen solchen Anspruch jenseits des Rechts überhaupt »gibt«. Diesen Angriff auf den außer-ordentlichen Gerechtigkeitsanspruch selbst deutet Derrida offenbar als eine erst in der Moderne radikalisierte Feindschaft jenseits aller konventionellen Begriffe der Feindschaft, die bis hin zu Carl Schmitt das Denken des Rechts bestimmten. Ihm setzt er in seiner Schrift »Glaube und Wissen« ein der historischen Erfahrung zum Trotz nur mehr zu bezeugendes Versprechen erneuerter Gerechtigkeit entgegen, deren Anspruch im Augenblick der Anrede widerfahren soll, die vom Anderen her kommt, wobei sich Derrida wiederum Levinas sehr annähert, der bereits in Totalität und Unendlichkeit Gerechtigkeit und Frieden von der Anrede des Anderen her beschrieben hatte. 95 Worauf es mir hier aber mehr noch ankommt, ist der von Derrida auch in der genannten Schrift einbekannte Ruin des Vertrauens infolge dieser Erfahrung. Er führt uns in gewisser Weise wiederum zu Kants Warnung vor einer Feindschaft zurück, die jegliches Vertrauen in künftigen Frieden unmöglich zu machen droht. Nur betrifft der drohende Ruin des Vertrauens diesmal nicht die Erfahrung eines Krieges, den ein vorbehaltlos geschlossener Frieden beenden könnte. Vielmehr strahlt die radikale Infragestellung des Vertrauens nun in jede Zeit aus, die sich zu ihr ins Verhältnis setzt. Bereits Kant deutete wie gezeigt an, dass rechtlich zu sichernder Friede mit der Aufgabe, jegliche ihm vorausgehende Feindschaft zu liquidieren, überfordert sein könnte. 96 Erweist sich nicht die im KonJacques Derrida: Glaube und Wissen. In: Jacques Derrida: Gianni Vattimo: Die Religion. A. a. O. 9–106, hier 33, 47. 96 Eine bloße Oblivionsklausel, die man seinerzeit Friedensverträgen angehängt hat, um der späteren Erinnerung an den beendeten Krieg keine Chance mehr zu geben, ihn doch wieder aufleben zu lassen, konnte schon damals insoweit nichts ausrichten, als das Vertrauen und die Erinnerung nicht der Verfügung des Rechts unterstanden. (Vgl. Harald Weinrich: Lethe. Kritik und Kunst des Vergessens. München 1997. 217 f.) Dies ist 95
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text jenes Projekts radikalisierte Feindschaft als schlechthin zerstörerisch hinsichtlich eines wenigstens minimalen Vertrauens »in die Denkungsart des Feindes«, das jeder spätere Frieden bereits in Anspruch nehmen muss? Kann ein künftiger Friede angesichts der Erinnerung an zerstörtes Vertrauen neues Vertrauen stiften? Vom »einfachen« Massaker über die ethnische »Säuberung« bis hin zum industriell betriebenen Massenmord in einem genozidalen Vernichtungskrieg sind inzwischen weit schlimmere Mittel als jene Stratageme eingesetzt worden, die Kant vor Augen hatte. Nicht nur haben sie vielfach Nachahmung gefunden (woran sich die hitzige Debatte um die Vergleichbarkeit der damit verbundenen Verbrechen entzündete); sie sind auch Teil der Normalität eines Un-Friedens geworden, der inzwischen wahr gemacht hat, was Kant befürchtete: dass nämlich diese »schlechterdings unerlaubten« Mittel, indem sie »in den Friedenszustand übergehen« (der so vom Nicht-Krieg ununterscheidbar zu werden scheint), »die Absicht desselben gänzlich zu vernichten« drohen. 97 Wer an dieser Absicht dennoch festhalten will, wird sich nicht im Rückblick auf eine lange Geschichte von Kriegen bestätigt finden, die den 6. Präliminarartikel (Verzicht auf Feindseligkeiten, »welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müsse«) eingehalten hätten, sondern im Gegenteil einer langen Geschichte verbrecherischer Kriege, die die nachhaltige Zerstörung jeglichen Vertrauens in künftigen Frieden zur Folge haben könnten, eine nur unzureichend begründbare, erneute »Absicht« des Friedens entgegensetzen müssen. Nicht weil die Kriege umso weniger der Fall, wie der Krieg und der Friedensschluss, der ihn beenden soll, nicht nur die Existenz politischer Souveräne und die Herrschaft über das jeweilige Territorium affizieren. Gewiss hat es nie gestimmt, dass im Krieg zwischen politischen Souveränen nur ein »Gebietswechsel« auf dem Spiel stand, wie es Carl Schmitt lapidar ausdrückte. Stets hat der Krieg in allen seinen Erscheinungsformen Menschen auf unberechenbare Weise miteinander verfeindet und auf diese Weise seine unbestimmte Fortsetzung heraufbeschworen. Spätestens seit der lévée en masse des Volkes aber unterläuft dieses auch als Subjekt des Krieges mit seiner Erinnerung an begangene Feindseligkeiten die Ebene des Rechts zwischen Staaten, dem sie nicht zur Disposition steht. Kein Waffenstillstand und kein Friedensschluss nach einem Krieg, der nicht nur Souveräne, sondern in unberechenbarer Weise ungezählte Einzelne in Mitleidenschaft gezogen hat, kann über die womöglich neue Unversöhnlichkeit heraufbeschwörende Erinnerung und über die ihr sich widersetzende Wiederherstellung eines gewissen Vertrauens in den Feind auf rechtlicher Ebene verfügen. Das gilt um so mehr, als die Palette jener Kriegsmittel, die jegliches Vertrauen zu zerstören drohen, inzwischen noch erheblich zu erweitern ist. 97 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. A. a. O. 200.
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der Vergangenheit Hoffnung auf Frieden genährt und ein gewisses Zutrauen oder Vertrauen nicht zerstört hätten, sondern nur obwohl prima facie überhaupt kein Vertrauen mehr in Anspruch zu nehmen ist, kann jene Absicht fortbestehen. Dass man kein Vertrauen mehr »in Anspruch nehmen« kann, bedeutet freilich nicht, dass es gänzlich und endgültig zerstört worden wäre und zur »Aufgabe« des Friedens keinerlei Beitrag mehr zu leisten vermöchte. Die Geschichte der europäischen Kriege, der Zwischen- und Nachkriegszeiten ist gewiss nicht nur eine Geschichte der Zerstörung jeglichen Vertrauens. Schließlich haben sich auch die Nationen diesseits und jenseits des Rheins von einer fatalen sog. »Erbfeindschaft« zu lösen vermocht, die Hitler mit Hinweis auf Versailles weidlich auszuschlachten wusste. Inszenierte Gesten politischer Versöhnung (von Straßburg bis Bitburg) können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht Sache gewisser Repräsentanten der Staatsmacht ist, eine vertrauensbildende Politik moralischer Versöhnung zu betreiben, die leicht in die Gefahr gerät, Vertrauen herbeizureden, Vergebung zu erpressen und Vergessen zu verlangen, wo die Erinnerung der Traumatisierten in Wahrheit ganz eigene, nächtliche Wege geht. 98 Zwar liefert die erinnerte Gewalt keine neuen Kriegsgründe mehr; doch entfaltet sie gleichsam geschichtliche Fernwirkungen, deren Bedeutung weit über den speziellen historischen Kontext der letzten beiden, von der Mitte Europas ausgegangenen Weltkriege hinausreichen. Zuletzt ist mit Hitler an der Spitze ein Feind auf den Plan getreten, dessen in extensiver und intensiver Hinsicht exzessive Vernichtungspläne jede militärische Logik und selbst die der eigenen Selbsterhaltung sprengten. Weder war mit einem solchen Feind rational zu rechnen noch gar in irgendeiner Hinsicht auf ihn zu vertrauen. Der Vernichtungskrieg und der in seinem Windschatten planmäßig vorangetriebene Völkermord sprengte alle »konventionellen« Begriffe, die man sich bis dahin vom Krieg gemacht hatte. Der symmetrische Krieg schlug in den asymmetrischen Exzess einer Vernichtung um, auf die nicht einmal mehr das allzu menschliche Etikett »Feindschaft« noch zu passen schien. Seine Opfer waren alVgl. dazu Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München 2004, sowie Burkhard Liebsch: Zur Kritik eines glücklichen Vergessens in der politischen Gegenwart. Ricœurs Projekt einer Versöhnung von Gedächtnis und Geschichte. In: Journal Phänomenologie 23 (2005). 52–59.
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lenfalls im paranoiden Denksystem der Vollstrecker noch »Feinde«, deren Bedrohlichkeit paradoxerweise gerade in ihrer Ununterscheidbarkeit zu liegen schien. Welcher »Sinn« einer exzessiven Vernichtungsanstrengung sollte darin liegen, gerade diejenigen, die den Tätern bis zur Ununterscheidbarkeit ähnelten, zu liquidieren, ausnahmslos, restlos und um jeden ökonomischen Preis? An diesen Fragen scheitert bis heute auch die historische Forschung, die mit Recht darauf besteht, es hier, ungeachtet aller buchstäblich maß-losen Dimensionen des Verbrechens, mit einem historischen Phänomen zu tun zu haben, das nach einer historischen Erklärung verlangt. Gleichwohl erschöpft sich die Bedeutung des Phänomens keineswegs im historischen Ereignis. Es schneidet tief ins menschliche Selbstverständnis ein, mit der Folge, dass es uns radikal im Gebrauch der Worte, in denen wir es zu beschreiben, zu erklären oder auf den Begriff zu bringen versuchen, verunsichert. Hannah Arendt hat in diesem Zusammenhang von einer regelrechten Zerstörung der Kategorien politischen Denkens gesprochen, die es ihr und im Grunde allen, die sich davon betroffen sehen, nur noch erlaube, eine Lebensform der Fremdheit (bios xenikos) zu wählen, die in die Erfahrung radikaler Selbst-Fremdheit umschlägt. 99 Weder der historischen Zeit, in der sie lebte, noch der menschlichen Gattung glaubte sie angesichts dieser Zerstörung noch ganz und gar zugehören zu können. Tatsächlich bewahrt uns nichts vor der Einsicht, dass wir und diejenigen, die diesen Exzess der Feindschaft über jedes menschliche Maß hinaus zu verantworten hatten, »vom gleichen Schlag« sind, wie Primo Levi sich ausdrückte. 100 Diese »uneingestehbare Gemeinschaft« verbindet uns selbst mit radikalen (alten und neuen) Feinden in der
99 Zur »Heimatlosigkeit« eines Denkens, das sich in den Augen der Autorin immer »außerhalb der Ordnung« halten muss, vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Bd. 1. Das Denken. München, Zürich 2 1989. 62, 189, 193. Zwar beruft sich Arendt hier auf Aristoteles, doch zweifellos bezieht sie sich auf eine historische Erfahrung, die dieser nicht gemacht hatte, wenn sie überlegt, »was es mit dieser merkwürdigen außer der Ordnung stehenden Tätigkeit, die da Denken heißt, eigentlich auf sich haben mag«. Ihre Antwort: »ich bin eindeutig denen beigetreten, die jetzt schon versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demontieren« (A. a. O. 207). Arendt begriff diese Demontage nicht als intellektuelles Spiel, sondern als durch die historische Erfahrung erzwungen. Vgl. Enzo Traverso: Auschwitz denken. Hamburg 2000. 60. 100 Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Wien 1990.
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Erfahrung, nichts mehr mit ihnen gemeinsam zu haben – damals wie heute. 101 Diese Erfahrung beschränkt sich nicht auf einen lokalen Konflikt zwischen Staaten, wie ihn sich Kant in seiner Zeit vorstellte, oder auf ein »jüdisches« bzw. »deutsches Problem«. Sie affiziert auf der Folie des Welt-Krieges auch jede Idee von einem Frieden, der sich selbst angesichts radikalster Feinde als glaubwürdig müsste verteidigen lassen. So gesehen wird die historische Erinnerung angesichts einer Geschichte, mit der wir uns nie werden versöhnen können, geradezu zum Prüfstein einer überzeugenden Idee des Friedens. Mit dieser Geschichte, die uns mit einer radikalen Selbst-Fremdheit konfrontiert, werden wir keinen »Frieden machen« können. Vermutlich würde auch Kant heute kaum mehr den Gedanken zu vertreten wagen, dem Krieg in allen seinen uns heute bekannten Erscheinungsformen, einschließlich des Vernichtungskrieges, sei aufgrund seines Beitrages zum Fortschritt der Gattung eine gewisse Würde kaum abzusprechen. Der exzessiv vernichtende Krieg hat uns jede Möglichkeit einer solchen geschichtsphilosophischen Rationalisierung aus der Hand geschlagen. Weit entfernt, durch eine – von den seinerzeit beteiligten Staaten durchaus gewollte, aber bis heute nicht förmlich erklärte – friedliche »Beendigung aller Hostilitäten« liquidiert und begraben worden zu sein, zieht er bis heute seine traumatischen Folgen nach sich – darunter die Weigerung, sich jemals wieder mit einer Geschichte auszusöhnen, die solches zugelassen hat (und, unter gewiss veränderten Umständen, wieder zulassen kann). Wer den Anspruch erheben will, danach wenigstens für die Zukunft, trotz allem, Frieden wieder denkbar zu machen, wird so gesehen den langen Weg einer Erinnerung gehen müssen, die jeden Gedanken an eine versöhnte Geschichte abweist. Lässt sich Friede in einer unversöhnten Geschichte denken – statt als deren am Ende versöhnende Aufhebung? Angesichts des letzten Welt-Krieges, aber auch der atomaren Paralyse, die auf ihn folgte, und angesichts der heutigen Allgegenwart einer Feindschaft, die sich jedes Mittels zu bedienen droht, wiederholt sich die Frage, die Kant zunächst nur im Hinblick auf die Möglichkeit eines lokalen pactum pacis, nicht eines letzten foedus pacificium erörtert hatte; die Frage nämlich, ob im Krieg (oder im welt-weit normal gewordenen Un-Frieden) Mittel gebraucht werden, 101
Vgl. Burkhard Liebsch: Gastlichkeit und Freiheit. A. a. O. Kap. VII, 4.
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die jegliches Vertrauen in künftigen Frieden zu zerstören drohen. Wenn der Gebrauch dieser Mittel genauso wie der Exzess der Feindschaft über jedes menschliche, aus der langen Geschichte der Kriege bekannte Maß hinaus durch die Generationen überliefert wird und nicht mehr aus dem Gedächtnis verschwindet, wie verhält sich dann die nach wie vor erhobene Forderung dazu, den Frieden zu denken? Lässt sich die unlängst beklagte »Ferne des Friedens im Denken« aufheben oder reduzieren? 102 Rückt der Friede nicht eher in noch weitere Ferne, wenn man mit Derrida den »Anspruch eines europäischen Gedächtnisses« 103 ernst nimmt, das uns angesichts der exzessivsten, auf europäischem Boden Wirklichkeit gewordenen Feindschaft mit einer irreduziblen Selbst-Fremdheit konfrontiert und es als gänzlich 102 Vgl. Dieter Senghaas: Vorwort. In: Senghaas (Hg.): Den Frieden denken. A. a. O. 9– 17, hier 9. 103 Vgl. Jacques Derrida: Das andere Kap. A. a. O. 56. Die Frage nach einem neu zu denkenden Frieden so, im Lichte einer bis heute traumatisierten Erinnerung zu stellen, scheint auf eine absolute Überforderung des Denkens hinauszulaufen. Wie soll etwa Vertrauen in künftigen Frieden je wieder möglich sein, wenn sich die Signifikanz der Erinnerung, durch die wir uns selbst fremd geworden sind, weit über den speziellen historischen Kontext der fraglichen Ereignisse hinaus erstreckt und jeden Vorgriff auf einen letzten Frieden in Mitleidenschaft zieht? Kann eine derart überfordernde Erinnerung überhaupt »relevant« sein für die Denkbarkeit künftigen Friedens? Oder muss man ihn gerade ohne weitere Rücksicht auf die Erinnerung zu konzipieren versuchen? Davon ist man in der weit überwiegenden Literatur, die den Frieden heute im Anschluss an Kant weiterdenkt, offenbar überzeugt. Die Erinnerung kommt, wenn überhaupt, dann nur hinsichtlich der Psychologie der Opfer und ihrer Nachkommen in Betracht. Spätestens, wenn deren Spuren sich in der Geschichte verlieren und das sprichwörtliche Gras über die Ruinen wächst, wird uns, so glaubt man, das Geschehene derart entrückt sein, dass es nur noch als historischer Gegenstand unter beliebigen anderen gelten kann. Das Gedächtnis gerinnt – einem gängigen Vorurteil zufolge – auf diese Weise zur Geschichte, wovon man sich immerhin den Vorteil verspricht, dass auch die Keime neuer Feindschaft, die jetzt noch in ihm schlummern mögen, verkümmern und schließlich absterben werden. (Der Mythos des Amselfeldes sollte freilich jeden eines Besseren belehren: die Feindschaft setzt sich spielend auch über x Generationen und deren verblasstes Gedächtnis hinweg, um sich im Nachhinein der Geschichte als Ressource ideologischer Munitionierung zu bemächtigen.) Unbelastet von einem womöglich unversöhnlichen und unversöhnbaren Gedächtnis kann man dann daran gehen, einen neuen Frieden nach neuen Kriegen zu denken, die zu erwarten stehen … Läge man damit nicht ganz auf der Linie Kants, dem es ja auch gar nicht darum ging, uns selbst mit der Wirklichkeit von Kriegen zu versöhnen, die den Artikeln seines Entwurfs eklatant widersprechen, sondern dem Krieg eine dem weiteren Fortschritt der Menschheit durchaus dienliche – allerdings nur vorläufige – Form zu geben, in der er zumindest dem Prospekt eines ewigen Friedens nicht widerspräche? (Daher der Ausschluss jener Stratageme und das Erfordernis eines auch im Krieg zu wahrenden Vertrauens in den Feind.)
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aussichtslos erscheinen lässt, mit einem radikalen Feind je wieder Frieden zu schließen? 104 Oder ist es vielmehr gerade diese Erfahrung der Fremdheit, die uns überhaupt erst ohne jegliche Beschönigung nach Frieden verlangen lässt, der niemals herrschen wird, der aber doch aussteht und im Ausstand darauf wartet, zwischen uns sich zu ereignen?
7. Schluss So gesehen verlangen wir nach einem entfernten Frieden, aus der Ferne einer Wirklichkeit, aus der uns auch Verachtung für all zu viele hehre Begriffe entgegenschlägt, die, statt ihr zur Sprache zu verhelfen, womöglich nur oberflächliche Hoffnungen auf »universale Verantwortung«, »Welt-Frieden« und »globale Gerechtigkeit« nähren sollen, um das intellektuelle Gewissen zu beruhigen. In dieser Lage einer zwischen Krieg und Frieden verschärft un-friedlichen Wirklichkeit und angesichts eines unversöhnlichen geschichtlichen Gedächtnisses darf sich kein Versuch, Frieden heute zu denken, einer unglaubwürdigen Beschönigung befleißigen. In diesem Sinne stellt Derrida dem klassischen Ansatz, mit Kant Frieden durch Recht garantieren zu wollen, eine radikale Gastlichkeit an die Seite, 105 die den Frieden nicht dem Recht vorbehält, vor dem wir gleich sind, sondern ihn jedem Anderen, selbst dem radikalen Feind im Gedächtnis und für die Zukunft anbietet (was gerade nicht bedeutet, die Radikalität der Feindschaft zu leugnen oder zu beschönigen). Dabei wird der Friede im gegenwärtig vorherrschenden dritten Status 106 eines nicht-kriegerischen Un-Friedens aber einem instabi104 Ich hege Zweifel an der Aussicht auf eine »versöhnende« Trauer, wie sie Ricœur eröffnet, und frage mich, ob ihrer Unversöhnlichkeit nicht gerade das Verlangen nach einem nicht beschönigten Frieden zu verdanken ist; vgl. Michael Ignatieff: Die Zivilisierung des Krieges. Berlin 2000. 238 f. 105 Vgl. Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft. A. a. O. 100. 106 Wer Frieden nicht nur eschatologisch denken, sondern diesen Begriff anknüpfend an die geschichtliche Erfahrung bestimmen will, muss hinnehmen, sich von späterer Erfahrung berichtigen zu lassen. Welche neuen Formen der Feindschaft, des Krieges und des Un-Friedens sich jetzt schon anbahnen, steht dahin. (Man denke nur an die vorsorglich bereits aufgebaute Militärpräsenz der USA in den Staaten des westlichen Afrika, die offenbar die Aufrechterhaltung des extrem verschwenderischen eigenen Lebensstils wenigstens noch einige Jahre durch ununterbrochene Öllieferungen gewährleisten sollen. In dieser Region versprechen sich ahnungslose »Eingeborene«, deren Felder man syste-
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len Widerstreit zwischen Gastlichkeit und Recht ausgeliefert, den allein die praktischen Lebensformen austragen können, in und zwischen denen sich die Zukunft der Feindschaft entscheidet, die weder von Natur aus noch in einer schicksalhaften Polemologie vorgezeichnet ist. Es gibt keine Feinde, deren Feindschaft nicht aus einer vorgängigen Verfeindung erst entstanden wäre. 107 In Prozessen ein-, zwei- oder vielseitiger Verfeindung aber bietet sich allemal die Chance, sowohl einem welt-weit normal gewordenen Un-Frieden als auch Neuen Kriegen den Unterschied zu echtem Frieden entgegenzusetzen, der sich progressiver Verfeindung widersetzt. Eine noch so diffus gewordene politische Wirklichkeit, in der die klassischen Unterscheidungen nahezu unkenntlich zu werden scheinen, erübrigt nicht den Versuch, nicht-willkürliche Unterschiede im Geist geringstmöglicher Gewalt wahrzunehmen und zu »machen«. Wenn die klassische Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden obsolet geworden sein sollte, können wir darum doch nicht darauf verzichten, verfeindeten Verhältnissen im Geist echten Friedens entgegenzutreten. Aber dazu genügt es gewiss nicht, sich auf das Recht zu verlassen. Eine präventive Gastlichkeit muss sich, bevor es zu spät ist, dem Aufkeimen künftiger radikaler Feindschaft entgegenstellen. Sie muss sich dem Anspruch Anderer schon jetzt stellen, die aufgrund lang anhaltender Demütigung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit vielleicht im Begriff sind, zu radikalen Feinden zu werden, ohne es schon zu sein. 108 Wenn überhaupt irgendwo, dann hat ein ferner Friede hier, in praktischen Spielräumen der Verfeindung und der Entfeindung, eine entfernte Chance.
matisch auf lohnende Ziele neuer ökonomischer Raubzüge hin durchforstet, noch eigenen Wohlstand davon. Dabei ist ihre Feindschaft infolge brutaler, bereits absehbarer Enttäuschung ihrer naiven Hoffnungen schon vorgezeichnet. Aber es kommt der amerikanischen, engstens mit der Texanischen Ölindustrie familiär verbundenen Administration offenbar nicht in den Sinn, daraus Konsequenzen hinsichtlich des way of life zu ziehen, dem man sich im eigenen Land hingibt. Man sorgt sich nur um den chinesischen Konkurrenten, der auch an den Ölquellen rund ums Kaspische Meer bereits Militär zu stationieren beginnt …) 107 Vgl. ausführlich dazu Burkhard Liebsch: Gastlichkeit und Freiheit. A. a. O. Teil B. 108 Ich verweise nur exemplarisch auf Tahar Ben Jelloun: Die Rekruten aus der Hölle. In: Die Zeit 29 (2003). 31.
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Die Autorinnen und Autoren
Robert Bernasconi, Prof. Dr., Edwin Erle Sparks Professor of Philosophy and African American Studies, The Pennsilvania State University, USA Petar Bojanic, Prof. Dr., Director of the Institute for Philosophy and Social Theory, University of Belgrade, Serbia; Director of the Center for Advanced Studies – South East Europe, University of Rijeka, Croatia Brock, Lothar, Lehrender (Senior-Professor) am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt und Gastforscher an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Getrud Brücher, Priv.-Doz. Dr., lehrt Philosophie an der Philipps Universität Marburg Monique Castillo, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Université Paris 12 Créteil Iris Därmann, Prof. Dr., lehrt Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Pascal Delhom, Dr., lehrt Philosophie an der Europa-Universität Flensburg Alfred Hirsch, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Universität WittenHerdecke Antje Kapust, Prof. Dr., lehrt Bildtheorie/Bildforschung und Philosophie der Kunst an der Ruhrakademie, Schwerte Wulf Kellerwessel, apl. Prof. Dr., lehrt Philosophie an der RWTH Aachen
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Die Autorinnen und Autoren
Burkhard Liebsch, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum Henrique Otten, Prof. Dr., lehrt Politikwissenschaft an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Dortmund und an der RWTH Aachen Simon, Hendrik, Doktorand am Institut für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Assoziierter Forscher an der HSFK Hajo Schmidt, Prof. Dr., lehrte Friedens- und Konfliktforschung am Institut für Frieden und Demokratie der FernUniversität Hagen; Projektleiter am Institut für Theologie und Frieden in Hamburg Lutz Schrader, Dr., freiberuflicher Dozent, Berater und Trainer mit den Schwerpunkten Konfliktforschung und Konfliktberatung. Christina Schües, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Universität zu Lübeck Werner Stegmaier, Prof. Dr. em., lehrte Philosophie an der Universität Greifswald Bernhard Waldenfels, Prof. Dr. em., lehrte Philosophie an der RuhrUniversität Bochum
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