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German Pages 394 Year 2015
Thomas Pohl Entgrenzte Stadt
2009-03-10 16-04-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 009b204599669648|(S.
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Thomas Pohl (Dr. rer. nat.) ist Akademischer Rat am Institut für Geographie der Universität Hamburg.
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) T00_02 seite 2 - 1118.p 204599669672
Thomas Pohl
Entgrenzte Stadt Räumliche Fragmentierung und zeitliche Flexibilisierung in der Spätmoderne
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© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Thomas Pohl, Screenshot einer Aktionsraumanalyse in Hamburg (durchgeführt mit ArcGIS 9.2) Lektorat & Satz: Thomas Pohl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1118-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
Abbildungen .............................................................................................. 7 Tabellen ..................................................................................................... 9 Vorwort.................................................................................................... 11 1 Hinführung zum Thema..................................................................... 13 1.1 Ökonomische, soziale und raum-zeitliche Entwicklungstrends zu Beginn des 21. Jahrhunderts ................ 14 1.2 Bedeutung der Globalisierung für Zeit- und Raumstrukturen.......................................................................... 19 1.3 Auswahl des Untersuchungsraumes .......................................... 32 1.4 Forschungsperspektive .............................................................. 35 1.5 Leitfragestellung und Aufbau der Arbeit................................... 39 2 Raum, Zeit und Alltag........................................................................ 41 2.1 Ansätze zur Analyse der raum-zeitlichen Alltagsorganisation .................................................................... 44 2.2 Ansätze zur Analyse raum-zeitlicher Strukturen..................... 130 3 Konzept der empirischen Untersuchung in Hamburg...................... 193 3.1 Ansatz zur Analyse innerstädtischer Fragmentierungsprozesse ........................................................ 196 3.2 Ansatz zur raum-zeitlichen Regionalisierung ......................... 203 3.3 Ansatz zur Analyse der raum-zeitlichen Alltagsorganisation .................................................................. 212 4 Sozialräumliche Fragmentierung als Kennzeichen der Stadt der Spätmoderne. Untersuchung am Beispiel Hamburgs ...................... 225 4.1 Multitemporale Faktorialökologie als Verfahren zur Analyse fragmentierter Stadtentwicklungsprozesse................ 230 4.2 Sozialräumliche Differenzierung Hamburgs ........................... 236 4.3 Sozialräumlicher Wandel: Fragmentierung oder Konsolidierung?....................................................................... 241
5 Regionalisierung von Zeitstrukturen in der Stadt der Spätmoderne..................................................................................... 247 5.1 Beschreibung der Datenbasis................................................... 249 5.2 Zeitverwendungsmuster und Aktivitätsintensität .................... 250 5.3 Tageszeitliche Rhythmik ......................................................... 253 5.4 Raum-zeitliche Regionalisierung: Chronotope in Hamburg ... 255 5.5 Zwischenergebnisse: Der Beitrag der ChronotopPerspektive zum Verständnis städtischer Strukturen .............. 260 6 Raum-zeitliche Organisation des Alltags in der Spätmoderne ........ 263 6.1 Methodisches Vorgehen, Eigenschaften der Stichprobe, Datenqualität............................................................................ 265 6.2 Auswahl und Kennzeichen der Untersuchungsgebiete ........... 269 6.3 Zugang zur Analyse von Aktionsräumen ................................ 289 6.4 Spätmoderne Arbeitsbeziehungen und raum-zeitliche Alltagsorganisation .................................................................. 303 6.5 Pluralisierung geschlechterkultureller Haushaltsmodelle und raum-zeitliche Alltagsorganisation................................... 313 6.6 Lebensstile und raum-zeitliche Alltagsorganisation ............... 324 6.7 Ortseffekte der raum-zeitlichen Alltagsorganisation............... 339 6.8 Zwischenergebnisse: Sozialer Wandel und die raumzeitliche Organisation des Alltags ........................................... 348 7 Zusammenfassende Betrachtung: Raum-zeitliche Organisation der spätmodernen Stadt.................................................................... 353 7.1 Reflexion des Forschungsansatzes und der forschungsleitenden Hypothesen............................................. 354 7.2 Zentrale Ergebnisse der empirischen Untersuchung und Bedeutung für die Zukunft der spätmodernen Stadt................ 357 7.3 Diskussion des methodischen Ansatzes und Bedeutung für die empirische Stadtforschung................................................. 360 7.4 Offene Fragen und weiterer Forschungsbedarf ....................... 363 7.5 Die vielfältige Stadt als Leitbild der Stadtpolitik? .................. 367 Literatur ................................................................................................. 371
ABBILDUNGEN
Abbildung 1: Entwicklung sozialer Indikatoren in Hamburg .............. 34 Abbildung 2: Lesehilfe für Kapitel 2 – Aufbau und Verweise............. 43 Abbildung 3: Zeitpfade mit Bezug zum Schanzenviertel in Hamburg..................................................................... 47 Abbildung 4: Felder der empirischen Untersuchung in Hamburg ..... 195 Abbildung 5: Description of the principal division of activity time .. 207 Abbildung 6: Zeitbasierte Verzerrung der Stadtteile Hamburgs ........ 209 Abbildung 7: Regionalisierung gemeinsamer Aktionsräume durch die Überlagerung von Konfidenzellipsen..................... 221 Abbildung 8: Verlauf der Untersuchung der Fragmentierungshypothese........................................... 229 Abbildung 9: Multitemporale Faktorenanalyse .................................. 233 Abbildung 10: Distribution der Faktorwerte 2007 in Hamburg ........... 238 Abbildung 11: Sozialräumliche Struktur Hamburgs 2004 ................... 240 Abbildung 12: Idealtypische sozialräumliche Entwicklungsszenarien ................................................. 242 Abbildung 13: Sozialräumlicher Wandel von 1995 bis 2007............... 243 Abbildung 14: Bedeutungsveränderung der Dimensionen sozialräumlicher Differenzierung................................. 245 Abbildung 15: Rhythmus der Stadt – Außerhäusliche Aktivität im Tagesverlauf ................................................................. 254 Abbildung 16: Schematische Darstellung der Raum-Zeit-Zonen in der Stadt (Chronotope) ............................................. 256 Abbildung 17: Lage der Untersuchungsgebiete in Hamburg ............... 270 Abbildung 18: Altersstruktur im Schanzenviertel ................................ 276 Abbildung 19: Altersstruktur in Eppendorf.......................................... 279 Abbildung 20: Altersstruktur in Hamm................................................ 283 7
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Abbildung 21: Altersstruktur in Niendorf ............................................ 288 Abbildung 22: Übersicht der analytischen Arbeitsschritte der Aktionsraumanalyse ..................................................... 302 Abbildung 23: Aktionsräumliche Typen und Berufstypisierung ......... 311 Abbildung 24: Anteile verschiedener Haushaltstypen ......................... 315 Abbildung 25: Aktionsräumliche Typen nach Haushaltstypen/Geschlechterarrangements.................. 323 Abbildung 26: Aktionsräumliche Typen in Abhängigkeit der Lebensstile .................................................................... 337 Abbildung 27: Aktionsräumliche Typen nach Wohnort ...................... 342 Abbildung 28: Kumulierte Aktionsräume Niendorf / Schanzenviertel ........................................... 346 Abbildung 29: Kumulierte Aktionsräume Eppendorf / Hamm ............ 347
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TABELLEN
Tabelle 1: Alltagsästhetische Schemata............................................... 92 Tabelle 2: Analysedimensionen der social area analysis................... 149 Tabelle 3: Quartierstypen und ihre Bewertung durch verschiedene Lebensstilgruppen............................................................. 157 Tabelle 4: Typisierung von „Zeit-Räumen“ in der Stadt................... 184 Tabelle 5: Untersuchungsperspektiven Alltagsorganisation und Aktionsraum...................................................................... 217 Tabelle 6: Aktivitätsintensität und Zeitverwendungsmuster in den Stadtteiltypen Hamburgs................................................... 252 Tabelle 7: Strukturvergleich der Untersuchungsgebiete.................... 271 Tabelle 8: Aktionsräumliche Typen................................................... 300 Tabelle 9: Aktionsräumliche Parameter nach Berufstypisierung / Kreative Klasse ................................................................. 307 Tabelle 10: Wohnstandortwahl nach Berufstypisierung / Kreative Klasse................................................................................ 309 Tabelle 11: Aktionsräumliche Typen nach Haushaltstypen (1)........... 318 Tabelle 12: Aktionsräumliche Typen nach Haushaltstypen (2)........... 319 Tabelle 13: Wohnstandortwahl und Haushaltsstrukturen / Geschlechterkulturelle Haushaltsmodelle ........................ 321 Tabelle 14: Alltagsästhetische Schemata / Hauptkomponentenanalyse............................................... 327 Tabelle 15: Soziale Milieus und alltagsästhetische Schemata............. 329 Tabelle 16: Aktionsräumliche Parameter nach Lebensstilgruppe ....... 333 Tabelle 17: Wohnstandortwahl und Lebensstilgruppen ...................... 335 Tabelle 18: Aktionsräumliche Parameter nach Wohnquartier............. 341
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VORWORT
Der aktuelle Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft geht mit räumlichen und zeitlichen Flexibilisierungen von Arbeit, Freizeit, Konsum und Mobilität einher. Dieser tiefgreifende gesellschaftliche Umbruch zeigt sich nicht nur in der individuellen Alltagsgestaltung der betroffenen Menschen, sondern führt auch zu einer Überformung des Rhythmus unserer Städte, in denen die Ursachen und Konsequenzen der Auflösung kollektiver Zeitstrukturen besonders deutlich erkennbar sind. Was sich verändert, ist sowohl die funktionale Bedeutung von vielen städtischen Orten, als auch die temporale Organisation des Alltags der Stadtbewohner selbst – die Stadt wird räumlich und zeitlich entgrenzt. Mit der vorliegenden sozialgeographischen Studie soll am Beispiel der Metropole Hamburg gezeigt werden, welche Folgen diese Entwicklung für die Städte sowie ihre Bewohner mit sich bringt und welche Herausforderungen für die Stadtplanung hieraus resultieren. Entstanden ist diese Arbeit als Dissertation im Kontext des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojektes „VERA – Verzeitlichung des Raumes“, in dem ich von Mai 2005 bis November 2007 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Universität Hamburg tätig war. Während dieser Zeit hatte ich die Gelegenheit zu vielen anregenden Gesprächen mit den drei Leitern des Projektes, Herrn Prof. Dr. Dieter Läpple, Herrn Prof. Dr. Ulrich Mückenberger sowie Herrn Prof. Dr. Jürgen Oßenbrügge. Der wissenschaftliche Diskurs im Rahmen zahlreicher Projekttreffen, aber auch die gemeinsam durchgeführten Workshops und Tagungen, haben meinen Blick auf die Veränderungen von Raum- und Zeitstrukturen geprägt und geschärft – hierfür möchte ich mich herzlich bedanken. 11
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Darüber hinaus danke ich denen, die die Entstehung der Arbeit durch kritisches Lesen des Manuskriptes befördert und mir in vielen Gesprächen wertvolle Anregungen gegeben haben: Anne Alter, Brigitte Haas, Dirk Müller, Dr. Klaus Schäfer und Jan Willing. Mein besonderer Dank gilt Herrn Thomas Böge, Kartograph im Institut für Geographie der Universität Hamburg, für die Unterstützung bei der Erstellung der Abbildungen und Grafiken für die vorliegende Publikation.
Thomas Pohl Hamburg, im März 2009
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1 HINFÜHRUNG
ZUM
THEMA
Die Globalisierung und die mit ihr einhergehenden strukturellen Entwicklungen, insbesondere die Innovationen auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie, haben zu tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt geführt. Nicht nur, dass viele Produktionsprozesse „virtualisiert“ und durch den Einsatz der EDV neu strukturiert wurden, auch die zeitgleiche Anwesenheit der Beschäftigten am selben Ort scheint heute nicht länger eine unabdingbare Voraussetzung für die Organisation von Arbeitsprozessen zu sein. Durch die ökonomischen Transformationsprozesse und die sie flankierenden technischen Innovationen sind großräumig differenzierte Produktionsnetzwerke mit einer Vielzahl unterschiedlicher und über mehrere Kontinente verteilter Standorte möglich geworden. Diese Entwicklungen läuten aber erstaunlicherweise nicht das Ende des „Zeitalters der Stadt“ ein. Obwohl gerade die wissensbasierte Dienstleistungsökonomie und insbesondere die Internetökonomie relativ unabhängig in ihrer Standortwahl sein könnten, da sie kaum auf klassische standörtliche Rahmenbedingungen angewiesen sind, ist eine grundlegende Abkehr von der (Groß-)Stadt als bevorzugtem Standort auch in dieser Innovationsbranche nicht in Sicht. Im Gegenteil lässt sich insgesamt eher eine „Renaissance des Urbanen“ erkennen – und das nicht nur im globalen Kontext, wo die Megacities als Hauptmagneten von Migrationsbewegungen zu erkennen sind, sondern auch innerhalb Deutschlands, wo Großstädte wie Hamburg, München oder Köln deutlich weniger von den Folgen des demographischen Wandels betroffen sind als viele ländliche Regionen. Angesichts der Standortungebundenheit von wissensbasierten Dienstleistungen, die für die heutige ökonomische Basis vieler Städte eine entscheidende Rolle spielen, mag 13
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diese Konzentration auf die Stadt mit Blick auf ihre Dichte, ihre ökologischen Nachteile, ihre Verkehrsbelastung oder die hohen Bodenpreise verwundern. So stellt sich die Frage, welche Vorteile die enge räumliche Konzentration der Stadt heute noch für die Alltagsorganisation ihrer Bewohner (und ebenso für Unternehmen) bietet, aber auch, welche Probleme und Widrigkeiten heute mit räumlichen und zeitlichen Strukturen in Städten verbunden sein mögen. Aufgrund der bis dato eher geringen empirischen Kenntnisse über die raum-zeitliche (Re-)Strukturierung der Gesellschaft im Globalisierungsprozess sind die konkreten Anforderungen an die „Stadt im 21. Jahrhundert“ relativ unklar, was sich auch in einer weitgehenden Inkohärenz der aktuellen Stadtpolitik äußert. Mit der vorliegenden Studie soll daher versucht werden, die empirische Basis räumlicher und zeitlicher Strukturen der Stadt zu verbessern, um hieraus Erkenntnisse zu gewinnen, die perspektivisch auch planerisch in Wert gesetzt werden können. Neben der Analyse innerstädtischer Teilgebiete ist eine derartige Betrachtung insbesondere auf die Alltagsorganisation der Bevölkerung in ihren räumlichen und zeitlichen Implikationen gerichtet.
1.1 Ökonomische, soziale und raum-zeitliche Entwicklungstrends zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ausgangspunkt für eine empirische Analyse der heutigen Bedeutung des Städtischen ist weniger eine zeitorganisatorische oder sozialräumliche als die derzeit stattfindende sozioökonomische Reorganisation der Gesellschaft. Obgleich sich der Begriff der „Industrieländer“ für die reichen Länder des sogenannten Westens als persistent erweist, ist die arbeitsintensive industrielle Massenproduktion von Gütern nicht mehr die unangefochten maßgebliche ökonomische Basis dieser Staaten. Die „verlängerten Werkbänke“ der Industrieländer reichen in die Länder mit niedrigerem Lohnniveau hinein, in die ein Großteil der arbeitsintensiven Tätigkeiten verlagert wird. Damit einher geht die Umstrukturierung der „Industriegesellschaft“ in den westlichen Nationen zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, deren Kapital weniger die ausführende Fertigung von Produkten als ihre auf Wissen und Kreativität basierende Entwicklung darstellt. Diese Transformation zur „Wissensgesellschaft“ kann als Folge eines Zusammenwirkens unterschiedlicher nationaler sowie internationaler Veränderungen interpretiert werden, für
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HINFÜHRUNG ZUM THEMA
die der hier angedeutete sektorale Wandel der Wirtschaftsstruktur nur eine Ursache darstellt. 1 Mit der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie und der Internationalisierung der Arbeitsteilung ist auch ein Wandel der Bedeutung der Staaten und damit der politischen Steuerungsoptionen verbunden. So lässt sich parallel zur Ausdifferenzierung der internationalen Arbeitsteilung eine über nationalstaatliche Grenzen hinausreichende Deregulierung der Wirtschaft unter dem Axiom neoliberaler Handlungsmaximen beobachten. Dabei ist der Druck zur Umsetzung einer weitreichenden Deregulierungspolitik, der auf den nationalstaatlichen politischen Institutionen lastet, enorm: Es kann angenommen werden, dass multilateral operierende Unternehmen in Zeiten der Globalisierung ohne eine differenzierte internationale Arbeitsteilung, die einer ökonomistischen Handlungslogik folgt, nicht mehr konkurrenzfähig sind. Unter den Rahmenbedingungen einer nahezu ubiquitären Verfügbarkeit der Informations- und Kommunikationstechnologie haben transnationale Unternehmen die Möglichkeit – und mit Blick auf die Konkurrenzsituation und den „shareholder value“ oftmals sogar die gebotene Notwendigkeit – eine Ausdifferenzierung ihrer Standorte für einzelne Produktionsschritte herbeizuführen. Die Chancen zur politischen Regulation solcher unternehmerischen Standortentscheidungen schrumpfen dabei kontinuierlich, während den transnationalen Großunternehmen bzw. den „global players“ eine immer bedeutendere Rolle für die Restrukturierung von Räumen zufällt (vgl. HEEG 2001). Die Standortentscheidungen großer Unternehmen haben nicht selten enorme sozialpolitische und sozialräumliche Auswirkungen. Infolgedessen lässt sich das Wiedererstarken regionaler Differenzen beobachten; bedingt durch den Rahmen der Globalisierung finden innerhalb nationalstaatlicher Territorien Regionalisierungstendenzen statt, die die Frage nach den stadtpolitischen Steuerungsoptionen dieser Entwicklung stellen und insbesondere die Städte in eine sich verschärfende Konkurrenzsituation zueinander führen (vgl. HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL 2008, S. 166). Die konkrete Ausgestaltung des Wettbewerbs der Städte untereinander ist allerdings nur noch zum Teil als harter Standortwettbewerb um die besten Ausgangsbedingungen für Industrieunternehmen bzw. die Produktion von Gütern zu verstehen. Die Notwendigkeit einer Transnationalisierung von Unternehmensstandorten und einer weltweit „vernetzten Produktion“ wurde politisch in den meisten west-
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Vgl. zur Debatte über die Ursachen der Transformation zur „Wissensgesellschaft“ BITTLINGMAYER 2001. 15
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lichen Staaten als faktische Realität akzeptiert. Die Schaffung eines optimalen „business climate“ durch Subventionszahlungen an Unternehmen erscheint vor diesem Hintergrund als ein Relikt einer inzwischen überholten Interventionspolitik, wenngleich diese immer noch eine Rolle im Repertoire regionaler Strukturpolitik spielt. 2 Erkennbar wird aber eine zunehmende Verschiebung der strukturpolitischen Strategie hin zu einer Verbesserung des sogenannten „people’s climate“: Viele Städte sind bereits in eine neue Form des Wettbewerbs um die „kreativen Köpfe“ als Träger der Wissensgesellschaft eingetreten. Diese neue Form der Städtekonkurrenz, die anstelle eines Vorsprungs hinsichtlich „harter Standortvorteile“ für Unternehmen mit neuen Formen des Stadtmarketings zur Attraktion von „kreativen Talenten“ operiert, kann für die zeitgenössische Stadtentwicklungspolitk als diffuser und bis dato noch primär symbolischer Orientierungsrahmen verstanden werden, der aber noch nicht in ein schlüssiges Stadtentwicklungskonzept überführt werden konnte. 3 Während eine für wissensbasierte Dienstleistungsunternehmen geeignete Infrastrukturausstattung nahezu ubiquitär verfügbar ist, rücken die Bedürfnisse der Beschäftigten, insbesondere in den innovationsstarken Branchen und den F+E-Abteilungen großer Unternehmen, hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer alltäglichen Wohn-, Arbeits- bzw. Freizeitumgebung in den Fokus von Stadtmarketingstrategien. Dabei wird diese Form der Stadtpolitik von der Hoffnung gespeist, dass einerseits die F+E-Abteilungen großer Unternehmen nicht gegen die Wünsche der hochqualifizierten Mitarbeiter dieser Abteilungen verlagert werden können und andererseits mit dem Wandel zur vernetzten Produktion kleine und mittelständische Unternehmen an Bedeutung 2
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Diese das „fordistische“ Industriezeitalter kennzeichnende Konkurrenz der Regionen um Industrieunternehmen ist zwar noch bedeutsam, wie man am Beispiel der Auseinandersetzung um den Airbus-Produktionsstandort in Hamburg erkennen kann. Dennoch weisen die öffentlichen Empörungen, die als Reaktion auf Unternehmensverlagerungen wie etwa die 2007 bekanntgegebene Werksverlagerung von Nokia von NRW nach Rumänien lautwurden, auf eine weitgehende Desorientierung der regionalen Politik und das Fehlen neuer Leitideen für eine alternative Stadt- und Regionalpolitik hin. Beispiele aus Hamburg sind hier die Strategievorschläge zur „Talentstadt Hamburg“ der CDU oder der „Kreativen Stadt“ der GAL. Unter diesen Leitideen wird eine Reihe diffuser Handlungsziele wie „Raum für Kreativität schaffen“ (CDU) oder „Kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt nutzen“ (GAL) subsumiert, deren politisch-planerische Umsetzungsschritte aber weitgehend unklar bleiben. Darüber hinaus werden unter dem Label einer neuen Strategie seit langem bestehende politische Ziele umetikettiert, etwa bildungs- oder sozialpolitische Vorstellungen.
HINFÜHRUNG ZUM THEMA
gewinnen, die hochqualifizierte unternehmensorientierte Dienstleistungen anbieten und ein „kreatives Umfeld“ benötigen. Im Wettbewerb um die „kreativen Köpfe“, die als Träger der spätmodernen Wissensgesellschaft gelten, versuchen sich die Städte als attraktive Lebenswelten für diese Zielgruppe zu positionieren. Eine neue strategische Bedeutung erlangt dabei das Image-Marketing der Städte, das über neue architektonische Großprojekte bzw. „städtebauliche Leuchttürme“ eine Aufladung des Raumes mit symbolischen Zuschreibungen zu vermitteln versucht. Darüber hinaus lassen sich Strategien zur „Kulturalisierung der Ökonomie“ sowie der generellen Fokussierung der Stadtentwicklung auf Kulturkonsum und Freizeitwert von Orten erkennen (vgl. WOOD 2003, S. 137f.). Diese Ansätze einer konzeptionellen Reorientierung der Stadtentwicklungspolitik sind primär als eine Folge der ökonomischen Restrukturierung und der technischen Entwicklung zu verstehen. Flankiert werden diese ökonomischen Entwicklungen allerdings von gesellschaftlichen Rahmentrends, die im Kontext der Anforderungen und Verhaltenszumutungen des Primats des Wirtschaftssystems zu interpretieren sind. Stand die gesellschaftliche Stratifikation der Moderne unter dem Eindruck eines fundamentalen Gegensatzes von Arbeit und Kapital, aus dem sich die gesellschaftlichen Großgruppen und damit die Zugehörigkeit zu sozialen Schichten oder Klassen herleiten ließen, ist die heutige Gesellschaft im verstärkten Maße durch Statusinkonsistenzen gekennzeichnet. Nicht nur Unsicherheiten in der Berufsbiographie, auch Unsicherheiten in der eigenen Identitätskonstruktion und den jeweils adäquaten Rollenmustern gehen damit einher. Verbindliche Rollenmuster, die dem Einzelnen eine Orientierung bieten, verblassen zunehmend. An ihre Stelle ist der Duktus einer prinzipiell wahloptionsoffenen Gesellschaft getreten, in der die eigene Zukunft als weitgehend individuell gestaltbar präsentiert wird, aber auch Lebensrisiken individualisiert werden. Die damit einhergehenden Unsicherheiten werden als Teil dieser zeitgenössischen Lebensweise aufgefasst. Mit der Deregulierungpolitik der Nationalstaaten scheint eine Entsolidarisierung der ehemals sozialstaatlichen Ordnungen untrennbar verbunden zu sein. Die normativen Implikationen für das Individuum durch das Ende der Industrie- und Arbeitsgesellschaft sind dabei vielschichtig: Stellte früher die Stellung im Produktionsprozess ein zentrales Kriterium der individuellen Identitätskonstruktion dar, ist für die soziale Positionierung in der heutigen Gesellschaft das Arbeitsverhältnis im Betrieb nicht mehr alleinig von Bedeutung, zumal da die Arbeitsbeziehungen in aller Regel auch weniger stabil sind, als dies noch in den 1960er Jahren der Fall war. Heutige Berufsbiographien sind oftmals weniger kontinuier17
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lich, Brüche und Umorientierungen sowie Phasen zeitweiliger Arbeitslosigkeit im beruflichen Werdegang sind nichts Ungewöhnliches mehr. Dieser Verlust des Integrationsmomentes „Stellung im Beruf“ geht mit einer neuen Form gesellschaftlicher Integration einher, die sich durch eine Verschiebung von der Produktion zur Konsumption kennzeichnen lässt (vgl. BAUMAN 1995). Zwar ist der demonstrativ zur Schau gestellte Konsum als Moment der gesellschaftlichen Integration auch schon aus früheren Zeitdiagnosen bekannt (vgl. VEBLEN 1986/1899), wie im Verlauf dieser Arbeit gezeigt wird, erreicht er aber inzwischen eine neue Qualität. Diese Ablösung alter und das Aufkommen neuer Integrationsmuster betrifft Beschäftigte aus verschiedenen Branchen in einer unterschiedlichen Intensität. Eine Vorreiterrolle dieser Entwicklung nehmen unter anderem die wissensbasierten Dienstleistungen, die Medien-sowie die Kulturindustrie, aber auch die auf dem Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologie tätigen Unternehmen und deren Beschäftigte ein. Demgegenüber sind andere Branchen (noch) weniger von den Prozessen des Wandels betroffen und lassen sich vielfach als noch „fordistisch“ organisierte Strukturen begreifen, die in Abgrenzung zur „new economy“ als „old economy“ angesprochen werden können. Diese skizzenartig beschriebenen, tiefgreifenden strukturellen Wandlungsprozesse der Gesellschaften der sogenannten westlichen Industrienationen, konfrontieren die sozialwissenschaftliche Forschung mit neuen Herausforderungen. Oftmals wird die Zeit des heutigen gesellschaftlichen Umbruchs mit Begriffen wie Post- oder Spätmoderne belegt, die andeuten dass die Arrangements der Moderne nicht mehr eine alleinige normative und faktische Gültigkeit beanspruchen können, andererseits aber (noch) eine weitgehende Offenheit bezüglich neuer Akkumulations- und Regulationsweisen besteht. Während der Begriff der Postmoderne (genau wie der Begriff der Zweiten oder Reflexiven Moderne) einen weitgehenden Abschluss mit der Moderne mit unklarer Folge behauptet, verweist der Begriff der Spätmoderne auf eine fortscheitende Ablösung von Integrationsschemata der Moderne, ohne dass diese bereits vollkommen überwunden wären. 4 So bringt der Begriff der
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Die Begriffe der „Reflexiven“ oder „Zweiten Moderne“ zielen ebenfalls auf die hier beschriebenen gesellschaftlichen Restrukturierungen, sind aber unschärfer. Im Folgenden wird der Begriff der „Spätmoderne“ dem Begriff der „Postmoderne“ vorgezogen. HÖRNIG/AHRENS/GERHARD (1997) sagen zum Verhältnis von Post- zu Spätmoderne Folgendes: „betont der erste [Begriff] eher die Zersplitterung ins bloß Vielfältige bis hin zur Atomisierung, so hat der letztere mehr das komplexe Geflecht (oft selbst) verschränkender Bindungen im Visier (ebd., S. 12f.).
HINFÜHRUNG ZUM THEMA
„Spätmoderne“ Brüche mit der Moderne einerseits sowie Kontinuitäten von Integrationsmustern der Moderne andererseits zum Ausdruck. Stärker noch als Begrifflichkeiten, die historische Zustände von Gesellschaften (Vor-, Hoch-, Spät-, Post-Moderne) oder sozioökonomischen Paradigmen (Fordismus/Postfordismus) beschreiben, werden die derzeitigen Veränderungen unter einem prozessualen Begriff subsumiert, der „Globalisierung“. Entgegen den vorgenannten Sammelbegriffen, die auf die (zunächst unräumlich gedachte) Welt-Gesellschaft gerichtet sind, verweist der Begriff der Globalisierung nicht nur auf eine zeitlich-prozessuale, sondern auch auf eine räumliche Dimension der Transformationen. „Globalisierung meint das erfahrbare Grenzenloswerden alltäglichen Handelns in den verschiedenen Dimensionen der Wirtschaft, der Information, der Ökologie, der Technik, der transkulturellen Konflikte und der Zivilgesellschaft (BECK 1998, S. 44). Es spricht vieles dafür, die Phase der „Spätmoderne“ als Folge der bisherigen Globalisierung zurückzuführen, allerdings bleiben derart umfassende Sammelbegriffe notwendigerweise auf einem hohen Niveau begrifflicher Abstraktion. Im Folgenden sollen daher die räumlichen und zeitlichen Implikationen dieser gesellschaftlichen Veränderungen (der „Globalisierung“ also) diskutiert werden, die mit der heutigen, als „Spätmoderne“ charakterisierten, Ära einhergehen. Anhand der näheren Beschreibung dieser gesellschaftlichen Rahmentrends soll anschließend auch eine Operationalisierung dieser Trends im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit erfolgen.
1.2 Bedeutung der Globalisierung für Zeit- und Raumstrukturen Die derzeit unter dem Schlagwort der „Globalisierung“ diskutierten Veränderungen lassen sich in einer technischen Dimension (Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologie), in einer ökonomischen Dimension (Internationalisierung von Unternehmen), in einer politischen Dimension (Deregulierungspolitik, Homogenisierung der Regulationsweise über nationalstaatliche Grenzen hinweg) sowie in einer sozialen Dimension (Veränderung der gesellschaftlichen Integrationsmuster) beschreiben. Dabei kann die Phase, in der sich die westlichen Industrienationen heute befinden, als „Spätmoderne“ gekennzeichnet werden. Mit diesem Terminus kann zum Ausdruck gebracht werden, dass die „alten“, „fordistischen“ Muster nicht länger uneingeschränkte Gültigkeit behaupten können, eine Ablösung durch eine
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ENTGRENZTE STADT
grundsätzlich neue Logik aber (noch?) nicht erreicht ist („Krise des Fordismus“, vgl. SAUER 2005). Eine besondere Wirkmächtigkeit erlangen diese mehrdimensionalen Veränderungen, da sie zeitstrukturell und raumstrukturell vermittelt sind. Mit den Begriffen der (a) Fragmentierung, (b) Entgrenzung, (c) Beschleunigung und (d) Flexibilisierung wird versucht, die zeitlichen und räumlichen Veränderungen als Folgen und als Katalysatoren des spätmodernen Wandels gleichermaßen zu verstehen und diese für soziologische und sozialgeographische Gesellschaftsanalysen fassbar zu machen. Diese im Wesentlichen aus der Globalisierung abgeleiteten, prozessualen Kernbegriffe finden sich (mit unterschiedlicher Gewichtung und stellenweise unterschiedlichen Bedeutungsaufladungen) in einer Vielzahl aktueller Publikationen zum Thema „Stadt“ wieder (vgl. exemplarisch: HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL 2008; WOOD 2003; ARL 2002). Ihnen ist gemein, dass sie die raum-zeitlichen Aspekte des Wandels in der Spätmoderne zu beschreiben versuchen. Auch für die vorliegende Untersuchung der Veränderung raum-zeitlicher Strukturen in der Stadt der Spätmoderne bilden diese Begriffe den Ausgangspunkt. Die durch sie beschriebenen Transformationen schärfen den Blick für die „Suchrichtung“ der raum-zeitlichen Veränderungen städtischer Raum- und Zeitstrukturen. Bevor eine Konkretisierung der Fragestellungen dieser Arbeit erfolgen kann, sollen daher diese zentralen Begriffe diskutiert werden.
a) Fragmentierung Die derzeit stattfindende räumliche Reorganisation lässt sich auf regionaler Betrachtungsebene als Ausdruck der beschriebenen globalen Restrukturierung interpretieren, bei der ökonomische Gewinnerregionen ein zum Teil beachtliches Wachstum verzeichnen, während peripher gelegene Verliererregionen Schrumpfungsprozesse erkennen lassen. Wachstum ist dabei nicht primär als Flächen- oder Bevölkerungswachstum zu verstehen, sondern beschreibt vor allem die „Reorganisation der Raumnutzungsstrukturen und Raumbeziehungen“ (CITY:MOBIL 1999, S. 19), die zu einer verstärkten sozialen und ökonomischen, aber auch einer funktionalen Segregation führt. Diese Prozesse können unter der Fragmentierungsmetapher zusammengefasst werden. Auch wenn mit der Differenzierung von Gewinner- und Verliererregionen nicht primär demographische Prozesse angesprochen sind, werden diese unter dem Begriff der Fragmentierung von Regionen gekennzeichneten Entwicklungen doch durch den demographischen Wandel 20
HINFÜHRUNG ZUM THEMA
verstärkt. So wird die Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung insbesondere von selektiven Wanderungsbewegungen begleitet. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter migriert verstärkt in die prosperierenden Regionen, in denen vergleichsweise viele Arbeitsplätze angeboten werden. Für die Abwanderungsregionen bedeutet dies eine Beschleunigung des Verlaufs der demographischen Alterung, vor allem aber einen massiven Rückgang der Steuereinnahmen und eine schrumpfende Kaufkraft der verbliebenen Bevölkerung. Hier schließt sich oftmals auch die Frage an, wie lange angesichts „leerer Kassen“ die bestehende Infrastrukturausstattung noch aufrechterhalten werden kann. Die Folge ist ein weiterer Attraktivitätsrückgang dieser Niedergangsregionen (vgl. HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL 2008, S. 184ff.), der weitere Abwanderungen initiiert und dadurch regionale Fragmentierungsprozesse zusätzlich verstärkt. Besonders betroffen von diesen Bevölkerungsverschiebungen sind vor allem die neuen Bundesländer und dort vor allem die ländlichen Gebiete. Aber auch in Westdeutschland ist eine tendenzielle Entleerung des ländlichen Peripherraums festzustellen. Metropolen wie Hamburg (einschließlich Umland) zählen demgegenüber gemeinhin als Wachstumsregionen. Das Bild der Region Hamburg als „Gewinnerregion“ demographischer Verschiebungen im nationalen Kontext muss aber zum Teil revidiert werden: Innerhalb der Metropolregion Hamburg identifizieren THALER/WINKLER (2005) kleinteilige Fragmentierungsprozesse hinsichtlich der Bevölkerungsdynamik. In unmittelbarer Nachbarschaft zu wachsenden Regionalzentren im Umland Hamburgs finden sich schrumpfende Gemeinden, und auch innerhalb der Kernstadt wird der Bevölkerungszuwachs nur von wenigen Stadtteilen getragen, während in anderen Gebieten deutliche Schrumpfungsprozesse erkennbar sind. Nicht nur auf der Ebene des Nationalstaates sowie im regionalen Maßstab, sondern auch im innerstädtischen Kontext lassen sich Differenzierungsprozesse erkennen, die als Fragmentierung angesprochen werden können. Über die Bevölkerungsdynamik hinaus kann Fragmentierung aber auch als mehrdimensionale sozialräumliche Differenzierung verstanden werden. Die altbekannten Muster sozialräumlicher Segregation werden dabei überformt und durch neue Stratifikationsachsen kleinräumig segmentiert. Bereits 1987 sprachen HÄUSSERMANN /SIEBEL von einer „doppelten Spaltung unserer Städte“ (ebd., S. 8), die sich einerseits in der Zunahme interregionaler Differenzen, und andererseits in der Zunahme sozialräumlicher Polarisierungen innerhalb der Städte ausdrückt. Als Hauptdimension der sozialräumlichen Polarisierung der Städte wird in der Regel die soziale Lage benannt, wobei die Transformation 21
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der Arbeit als verursachendes Moment begriffen werden kann (vgl. HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL 2008, S. 182ff.). Die Bedeutung der sozialen Spaltung durch die Veränderung des Arbeitsmarktes wurde in den Global Cities zuerst erkannt (vgl. SASSEN 1991; MOULAERT/ RODRIGUEZ/SWYNGEDOUW 2003). Auch in Deutschland wird die Transformation des Arbeitsmarktes von einer Zunahme der Einkommensungleichheit begleitet, die sich in einer Schrumpfung der Mittelschicht ausdrückt (vgl. GRABKA/FRICK 2008). Eine räumliche Polarisierung sozialer Lagen konnte KLAGGE (2005) in einer vergleichenden Studie westdeutscher Städte insbesondere für die Gebiete der erweiterten Innenstädte nachweisen. Sozialräumliche Differenzierung nach unterschiedlichen Statusgruppen ist für sich genommen noch kein neues Merkmal der Spätmoderne, vielmehr ist es das Ausmaß der Polarisierung von „Arm“ und „Reich“, das die sozialräumliche Differenzierung als Folge der Restrukturierungen erkennbar werden lässt und einen Bruch mit dem funktionalistischen Schichtungsparadigma der Moderne markiert. Die räumliche (Re-)Konzentration von Armut ist vor allem deshalb problematisch, weil sie das seit dem Zweiten Weltkrieg erreichte Niveau sozialstaatlicher Wohlfahrt zur Disposition stellt und damit dem Glauben an ein grenzenloses Wohlstandswachstum genauso ein Ende bereitet wie der Aussicht auf eine wie auch immer gestaltete Verteilungsgerechtigkeit. Das Entstehen von Niedergangsgebieten stellt „die Fähigkeit hoch entwickelter Industriestaaten in Frage, allen ihren Bürgern einen dem erreichten Wohlstandsniveau angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen und sie gleichberechtigt an den Lebenschancen in der Gesellschaft teilhaben zu lassen“ (KRONAUER 2007, S. 73). Neben einer sozialen Polarisierung der Stadt wird derzeit die Spaltung der Stadt nach ethnischen Merkmalen in einem insbesondere über die Medien transportierten Diskurs unter dem Schlagwort der Entstehung von „Parallelgesellschaften“ diskutiert (vgl. STURM-MARTIN 2007). Verbunden wird diese in der Regel stereotype Darstellung zumeist mit der normativen Frage nach der „richtigen“ Migrations- und Integrationspolitik, wobei die Problematisierung der Integrationsfrage oft entlang räumlicher Segregationsmuster („Ghettos“) verläuft (vgl. MARCUSE 1998). Unabhängig von der Bewertung, ob aus der Stadt als „melting pot“ von Menschen mit verschiedenen ethnischen Herkunftsregionen mehr Chancen oder mehr Probleme erwachsen, kann festgestellt werden, dass sich „[d]ie europäischen Metropolen [...] in den
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HINFÜHRUNG ZUM THEMA
letzten Jahrzehnten durch Zuwanderung grundlegend gewandelt [haben]“ (BAUMEISTER/STURM-MARTIN 2007, S. 6). 5 Über die ethnisch-kulturelle Differenzierung der Stadtbevölkerung hinaus werden im Kontext des gesellschaftlichen Wandels in der Spätmoderne insbesondere neue sozialkulturelle Differenzierungsmuster der Gesellschaft thematisiert, die auf die Pluralisierung von Lebensstilen rekurrieren. Auf die Entstehungsbedingungen dieser im Kontext des spätmodernen Wertewandels zu verstehenden Pluralisierung von Lebensstilen wird im weiteren Verlauf noch ausführlich eingegangen. An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass Lebensstilgruppen, die ihre soziale Kohärenz auf ähnlichen Präferenzmustern, Konsumstilen, Werthaltungen sowie Mustern alltäglicher Lebensführung begründen, inzwischen auch sozialräumliche Segregationsmuster ausbilden (vgl. z.B. POHL 2003; DANGSCHAT 2007; SPELLERBERG 2007). Diese räumliche Differenzierung der Lebensstilgruppen muss keineswegs an den Mustern räumlicher Positionierung der vertikalen Stratifikation der Gesellschaft orientiert sein oder gar mit ihr übereinstimmen. Vielmehr kann eine Ausdifferenzierung „feiner Unterschiede“ auch im räumlichen Kontext angenommen werden. Dabei kann die eingangs beschriebene Restrukturierung der Arbeitswelt durchaus mit der Ausdifferenzierung von Lebensstilen in Zusammenhang gebracht werden, zumindest hinsichtlich ihrer Wirkungsweise auf die Fragmentierung von Städten. So besteht nach Ansicht von HEYE/LEUTHOLD (2006) eine weitgehende Einigkeit darüber, „dass die sozialräumlichen Umschichtungen in den Metropolitanräumen der westlichen Großstädte auf die Pluralisierung, Individualisierung und Flexibilisierung von Arbeitswelt und Lebensstilen in der postindustriellen Gesellschaft zurückzuführen sind“ (ebd., S. 16). Prospektiv ist vor dem Hintergrund des Wandels des städtischen Arbeitsmarktes „das Herausbilden ‚neuer Orte‘ von bestimmten Milieus und Lebensstilgruppen, welche als ‚creative
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Zur Erklärung der Segregationsmuster ethnischer Gruppen bestehen verschiedene Erklärungsansätze. Der prominenteste dürfte dabei auf PARK (1925) zurückgehen, der Segregation als Folge selektiver Wanderung (etwa Familiennachzug) verstand. Ähnlich begreift FISCHER (1982) Segregation in seiner Subkulturtheorie als Folge persönlicher Netzwerkbeziehungen, betont dabei aber vor allem die Vorteile für die Betroffenen. FRIEDRICHS (1983, S. 273ff.) weist neben weiteren Erklärungsschemata insbesondere auf die Diskriminierung auf dem Mietwohnungsmarkt hin, denen „Fremde“ in stärkerem Maße ausgesetzt sind und die zu einer Beschränkung der Wohnstandortwahl auf die städtischen Teilgebiete führen, die von den weniger diskriminierten Gruppen aufgegeben oder zumindest gemieden werden. 23
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industries‘ auch stadtentwicklungspolitisch von Interesse sind“ (DANGSCHAT/HAMEDINGER 2007, S. 13), von besonderer Relevanz. Ohne an dieser Stelle auf alle heute relevanten Dimensionen der sozialräumlichen Differenzierung detailliert eingehen zu können, sollte deutlich geworden sein, dass von einer multidimensionalen Segmentierung der spätmodernen Stadt entlang von mehreren verschiedenen Ungleichheitsmerkmalen ausgegangen werden kann. Diese Multidimensionalität der Stratifikationsmuster erweckt den Eindruck einer Zerklüftung der Stadt in der Spätmoderne aufgrund vieler unterschiedlicher Merkmale der „Verschiedenheit“, die parallel zu der demographischen (quantitativen) Fragmentierung eine soziale und kulturelle (qualitative) Fragmentierung markiert: „Als hervorstechendes Merkmal postmoderner Urbanisierung wird insbesondere die Fragmentierung metropolitaner Strukturen in unabhängige Siedlungsbereiche, städtische Ökonomien, Gesellschaften und Kulturen identifiziert (‚Heteropolis‘)“ (WOOD 2003, S. 133). Obgleich diese mehrdimensionale soziale Spaltung sozialräumlich von höchster Bedeutung sein dürfte und im Rahmen der Fragmentierungsdebatte in ihren räumlichen Folgen aufgegriffen und diskutiert wird, sind empirisch fundierte Erkenntnisse über diese Entwicklung heute eher die Ausnahme. 6 Als maßgeblicher Grund für dieses Defizit an empirischen Erkenntnissen kann der Umstand angenommen werden, dass der raumzentrierte humanökologische Forschungszugriff (zu dem auch die „social area analysis“ zu rechnen ist) „von Vertretern postmoderner Stadttheorie als überholt betrachtet“ wird (WOOD 2003, S. 135). Tatsächlich ist weitgehend unklar, wie die Methoden und Modelle der Humanökologie, die in einer Zeit ungebrochener fordistischer Stadtstrukturen entwickelt wurden, auf die heutigen, als multidimensional angenommenen, sozialräumlichen Differenzierungsprozesse übertragen und angewendet werden können. Diese Frage wird im weiteren Verlauf der Arbeit wieder aufgegriffen und umfassend diskutiert.
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Eine derartige Ausnahme ist die empirische Studie von ZEHNER (2004b) über die sozialräumliche Segregation in London, die insbesondere in den zentrumsnahen Gebieten deutliche Fragmentierungsprozesse feststellt. Allerdings konzentriert sich der Blickwinkel auf Merkmale der sozialen Lage (die sich als Korrelat der Ethnizität erweisen); kulturelle Merkmale wie etwa der Lebensstil wurden nicht betrachtet.
HINFÜHRUNG ZUM THEMA
b) Entgrenzung Als zentrale Ursache für die Segmentierung des Arbeitsmarktes in der Spätmoderne wurden bereits die Globalisierung und die parallel zu ihr verlaufende Virtualisierung der Kommunikation benannt. Diese Entwicklungen ermöglichen eine Ausdehnung der Reichweite unternehmerischer Tätigkeit und infolgedessen eine räumliche Dispersion der am Produktionsprozess beteiligten (Tochter-)Unternehmen oder Zulieferbetriebe. Parallel dazu ist aber eine räumliche Konzentration der Steuerungszentralen zu erkennen, die eine weltweite Hierarchisierung des Städtenetzes initiiert, und zugleich eine Internationalisierung von Normen und unternehmerischen Handlungsmustern nach sich zieht. Dieser Prozess, der für die Ära der Globalisierung als kennzeichnend gelten kann, wird mit dem durchaus vielschichtigen Begriff der „Entgrenzung“ belegt. Von zentraler Bedeutung für diese Entwicklung ist dabei die Angleichung institutioneller Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln über nationalstaatliche Grenzen hinweg, was eine wachsende Standortunabhängigkeit für Unternehmen ermöglicht (vgl. OSSENBRÜGGE 2007, S. 836). Die Folge aus dieser wachsenden Standortunabhängigkeit ist jedoch nicht die Entstehung räumlich vollkommen disperser Muster, sondern vielmehr, „dass die Wirkkräfte, die für die Entgrenzung sorgen, gleichzeitig diejenigen Wirkkräfte verstärken, die eine räumliche Agglomeration wirtschaftlicher Aktivitäten bedingen und damit neue Ungleichheiten hervorrufen“ (ebd., S. 836). Entgrenzung ist folglich als eine Voraussetzung für Standortkonzentrationen und die Herausbildung lokaler Netzwerke zu verstehen (Glokalisierung). Verbunden mit dieser Entwicklung ist das Entschwinden nationalstaatlicher Regulationschancen. Zugleich also „verweist der Begriff der ‚Entgrenzung‘ auf die langsame Erosion der Steuerungskraft des Nationalstaates angesichts einer sich deterritorialisierenden Ökonomie“ (DANGSCHAT/HAMEDINGER 2007, S. 10). Während der Entgrenzungsbegriff von OSSENBRÜGGE (2007), aber auch von DANGSCHAT/HAMEDINGER (2007) vor allem auf räumliche und institutionelle bzw. organisatorische Aspekte rekurriert, betonen HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL (2008, S. 174ff.) sowie JURCZYK (2007) stärker die zeitlichen und alltagsorganisatorischen Folgen dieser Entwicklung für Individuen und Haushalte. „Mit ‚Entgrenzung‘ ist hier also gemeint, dass zeitliche Strukturen poröser, durchlässiger, in sich beweglicher werden: es gibt weniger verbindlich festgelegte eindeutige Zeitpunkte und –räume für bestimmte Aktivitäten“ (JURCZYK 2007, S. 160). Anlehnend an MÜCKENBERGER (1989), der die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses als zentrale Folge der Entgrenzung versteht, kann 25
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die gegenwärtige Restrukturierung der Arbeitsverhältnisse bzw. des Arbeitsmarktes hinsichtlich ihrer zeitinstitutionellen Dimension als untrennbarer Teil dieser Entwicklung verstanden werden: „Im Zusammenhang mit betrieblichen Rationalisierungsstrategien und der Einführung neuer Unternehmenskonzepte wurde in den letzten Jahren ein immer größerer Teil neu geschaffener Arbeitsverhältnisse in atypischen Vertragsformen organisiert (z.B. durch befristete Verträge, Werkverträge, Teilzeitarbeit, alternierende Telearbeit oder geringfügige Beschäftigungen). Gleichzeitig findet eine Deregulierung der Arbeitszeit statt, die zu einer Zunahme von Wochenarbeitszeit, Wochenendarbeit oder Abend- und Nachtarbeit führt. Die Auflösung und Wandlung der Unternehmens- und Betriebsstrukturen sowie die Erosion der Normalarbeitszeit und des Normalarbeitsverhältnisses resultieren in einer Pluralität von Beschäftigungsformen und Lebenslagen sowie einer teilweisen Auflösung kollektiver Zeitstrukturen.“ (HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL 2008, S. 175)
Mit diesen Entwicklungen erfahren nicht nur die standardisierten Arbeitszeiten, sondern auch die standardisierten Funktionsorte der Stadt eine Umdeutung. Es kann angenommen werden, dass „die Tendenzen einer Entgrenzung von Arbeits- und Lebenswelt [...] unmittelbare Auswirkungen haben auf die raumzeitliche Organisation städtischen Lebens“ (HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL 2008, S. 175).
c) Beschleunigung Die zeitlichen Folgen der Globalisierung sieht OSSENBRÜGGE weniger mit dem Begriff der Entgrenzung, sondern – anlehnend an ROSA (2005) – mit dem Begriff der Beschleunigung verbunden: Unter „Beschleunigung“ ist die Erhöhung der „Austauschgeschwindigkeiten der Währungs- und Finanzmärkte, die Verkürzung der Innovationszyklen und damit der zunehmende ‚Zeitwettbewerb‘ unter Konkurrenzen, die Auflösung zeitlicher Ordnungen oder der Bedeutungszuwachs kurzfristiger Renditerealisierung zuungunsten langfristiger Erwerbssicherung und nachhaltiger Formen der Wirtschaft“ zu verstehen (OSSENBRÜGGE 2007, S. 836). Bezogen auf das Thema der vorliegenden Arbeit ist in erster Linie die Frage nach der Auflösung zeitlicher Ordnungen – in diesem Fall in der „spätmodernen Stadt“ – von Interesse. Diese Dynamisierung der zeitlichen Bezüge der Gesellschaft a priori unter der Beschleunigungsmetapher zu erfassen erscheint jedoch zu kurz gegriffen. Vielmehr kann die Auflösung der (weitgehend als einheitlich und stark getakteten) zeitlichen Ordnung der Moderne gleichzeitig zu 26
HINFÜHRUNG ZUM THEMA
Be- und Entschleunigungsmomenten in verschiedenen Teilgebieten der Stadt führen. Wenn etwa in einem sozial benachteiligten Stadtquartier mit steigender Arbeitslosigkeit die ehemals kollektiv geteilten Zeitrhythmen der morgendlichen und nachmittäglichen Rush-Hour aus ihrem „fordistischen“ Takt geraten und eine Erosion der Aktivitäts- und Ruhephasen zu beobachten ist, dann kann dies wohl kaum als Beschleunigungsphänomen aufgefasst werden. ROSA wendet dagegen ein, dass die Beschleunigung zwar nicht linear verlaufe, sondern durch Schübe und auch durch Gegenbewegungen und Proteste gegen die zunehmende Geschwindigkeit der Gesellschaft gekennzeichnet sei. „[E]ntgegen dieser hochkulturellen Diskurshegemonie der Entschleuniger endete bisher noch jeder einzelne dieser ‚Kulturkämpfe‘ mit einem Sieg der Beschleuniger, das heißt mit der Einführung und Durchsetzung der neuen Technologie“ (ROSA 2005, S. 81f., Hervorhebungen im Original). Die Beschleunigung ist für ROSA also eng mit dem Aufkommen neuer Technologien verbunden, die gesamtgesellschaftlich (bis auf wenige und eigentlich unbedeutende Widerstandsnester) durchgesetzt werden. Entgegen dieser Auffassung vertreten HÖRNIG/AHRENS/GERHARD (1997) die Position, dass Technik keineswegs einseitig als Beschleuniger wirke, sondern stattdessen eine Erhöhung der Komplexität der Zeitstrukturierung befördere: „Anstelle der dominanten Vorstellung, die Zeitfunktionen der Technik seien eindeutig vorgegeben, muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass die technischen Geräte ein hohes Maß an zeitlicher Variabilität in sich tragen. Die Informations- und Kommunikationstechniken institutionalisieren sozusagen zeitliche Variabilität. […] Welche zeitlichen Bezüge sich in der Techniknutzung ausbilden, ist nicht aus den technischen Geräten einsehbar. Um dieser Perspektive gerecht zu werden, begreifen wir die neuen Techniken als temporal entgrenzt, d. h. erst in der konkreten Anwendung werden die zeitlichen Bezüge in ihrer Vielfältigkeit eindeutig gemacht und der Technik eine eindeutige Zeitlichkeit zugeschrieben.“ (HÖRNIG /AHRENS/GERHARD 1997, S. 29, Hervorhebungen von mir)
Nicht nur in Bezug auf die Bedeutung für das Individuum, auch mit Blick auf die Funktion von Beschleunigung auf Raumstrukturen ist der Beschleunigungsbegriff nicht hinreichend, um die Pluralisierung zeitlicher Ordnungen treffend zu beschreiben. Denn auch in Stadtteilen, die durch ökonomische Prosperität aufgrund einer boomenden wissensbasierten Dienstleistungsökonomie gekennzeichnet sind, führt eine Verlängerung der Aktivitätszeiten durch die Ausdehnung von Arbeitszeiten in die Abendstunden hinein augenscheinlich nicht unbedingt zu einer Beschleunigung, sondern eher zu neuen Umgangsweisen mit der 27
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Zeit, wie sie von HÖRNIG/AHRENS/GERHARD (1990, 1997) beschrieben werden. Hieraus folgt, dass der Terminus der „Entgrenzung“ nicht nur auf räumliche, sondern auch auf zeitliche Bezüge der Organisation der Gesellschaft angewendet werden kann (vgl. HÄUSSERMANN/LÄPPLE/ SIEBEL 2008, S. 174ff.). Die Beschleunigungsmetapher kann damit unter dem Oberbegriff der zeitlichen Entgrenzung subsumiert werden. Diese oben beschriebenen dispersen Entwicklungen der Zeitstrukturen werfen die Frage auf, welche Bedeutung zeitliche Bezüge für die sozial-ökologische Organisation in städtischen Gesellschaften hat. Die dahinterstehende Annahme, dass die Gesellschaft geradezu eine „Verzeitlichung“, also einen Bedeutungszuwachs zeitlicher Bezüge erfahre, wird im Verlauf der Arbeit diskutiert werden. Anzunehmen ist, dass die Aktivitäts- und Ruhezeiten der Moderne, die als weitgehend starr getaktet und kollektiv geteilt gelten können, in der Spätmoderne eine partielle Auflösung dieser temporalen Ordnung erkennen lassen, die als zeitliche Entgrenzung von Alltagsrhythmen zu verstehen ist. Die Frage nach einer „Kultur der zeitlichen Entgrenzung“ in der Spätmoderne offenbart, dass die Aspekte der räumlichen Entgrenzung nicht auf die Ökonomie reduziert werden können, sondern vielmehr weitere Teilsysteme der Gesellschaft durch räumliche Entgrenzungsphänomene berührt sind. So ist etwa erkennbar, dass sich mit der Internationalisierung von Wirtschaftsunternehmen sowie ökonomischen Institutionen auch Informations- und Kommunikationstechnologien, politische Institutionen oder soziale Normen in einem Prozess der Globalisierung befinden, der als räumliche Entgrenzung angesprochen werden kann. Diese Veränderungen betreffen die Organisation des Alltags der Menschen im Kern. Bezogen auf die Betrachtungsebene der Stadt ist vor allem die Bedeutung dieser Aspekte der räumlichen Entgrenzung für den Alltag ihrer Bewohner von Interesse: Weltweite Kommunikation über das Internet oder plurilokale Haushalte sind bereits heute oftmals Realitäten, die eine tiefgreifende Veränderung der raum-zeitlichen Organisation des Alltags nach sich ziehen. Vor allem aber lassen sich die heutigen physiognomischen und funktionalen Strukturen des städtischen Raumes auf die Ära des Fordismus beziehen, der eine räumliche und zeitliche Trennung von Arbeiten und Wohnen, aber auch von Versorgungseinrichtungen und Freizeitarealen als optimal erscheinen ließ. Diese Leitvorstellung einer städtischen Planung, die auf die Charta von Athen zurückzuführen ist, reiben sich offenkundig an den heutigen raum-zeitlichen Alltagsanforderungen vieler Stadtbewohner und sind zudem unvereinbar mit ökologischen Zielvorstellungen von einer „nachhaltigen Stadt der kurzen Wege“.
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HINFÜHRUNG ZUM THEMA
d) Flexibilisierung Die zuvor angedeuteten zeitlichen und räumlichen Veränderungen in der Gesellschaft verlaufen keineswegs linear, sondern unterliegen einer beachtlichen Variabilität, die oftmals mit dem Begriff der Flexibilisierung gekennzeichnet wird. Wie auch die Entgrenzung, so kann auch die Flexibilisierung nicht einseitig als Kennzeichen der ökonomischen Produktion in der Spätmoderne aufgefasst werden. Treffender ist Flexibilisierung als umfassende Veränderung der raum-zeitlichen Bezüge der spätmodernen Gesellschaft zu verstehen. „Unter Flexibilisierung werden Veränderungen zusammengefasst, die sowohl auf die Beziehungen zwischen Unternehmen (netzwerkorientierte Produktion) als auch [auf die (T.P.)] Arbeitsbeziehungen in den Betrieben abzielen. Ein wichtiger Indikator ist der Rückgang der Normalarbeitsverhältnisse, der durch eine zunehmende Reintegration der Arbeits- und Alltagswelt begleitet wird“ (OSSENBRÜGGE 2007, S. 837). Unmittelbare Folge der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und Arbeitszeiten in der Spätmoderne ist eine zunehmende Konvergenz der in der Moderne räumlich und zeitlich voneinander getrennten Bereiche „Arbeit“ und „Leben“ (bzw. Arbeitszeit und Freizeit), die die raum-zeitliche Organisation des Alltags nachhaltig beeinflusst („WorkLife-Balance“): „So genannte ‚new forms of work‘, zu denen eine Renaissance der Heimarbeit wie auch Arbeitsbefristungen oder Werkverträge, Leiharbeit oder Teilzeitarbeit, Subunternehmertum und Outsourcing zu zählen sind, zwingen den Menschen ein Zeitregime auf, das die mit der klassischen Industriegesellschaft verbundene Trennung zwischen heteronomer Arbeit und mehr oder weniger selbstbestimmter Freizeit faktisch aufhebt. Stabile zeitliche Strukturierungen innerhalb der Arbeitswelt werden immer stärker betrieblich zurückgefahren, Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse entgrenzt. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Alltagsorganisation, weil auf der Ebene der Lebensstile oder Lebensführung die Planung der Freizeit stärker als bisher die Kompatibilität mit flexiblen betrieblichen Zeitregimen berücksichtigen muss.“ (BITTLINGMAYER 2001, S. 19)
Dem Einzelnen wird im Rahmen dieses Prozesses der „Verarbeitlichung des Alltags“ (VOSS 1998, S. 482) ein Zwang zur Errichtung eines „flexiblen“ Zeitmanagements auferlegt, das nicht nur selbst nach dem Vorbild betrieblicher Organisation funktioniert, sondern oftmals auch an die zeitlichen Rahmenvorgaben der Arbeitswelt gebunden ist. Das zeitliche Ineinandergreifen verschiedener Lebensbereiche führt zu einer Erhöhung des gefühlten Zeitdrucks, da die Erosion gesellschaftlich geteil29
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ter zeitlicher Normen mit steigenden Ansprüchen an eine hohe Bereitschaft zur zeitlichen Flexibilität einhergeht („Zwangsflexibilisierung“). „In einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit nimmt die gesellschaftliche Bedeutung von Zeit zu und zugleich die Bedeutung tradierter zeitlicher Ordnungen ab. Paradoxerweise macht gerade die Entgrenzung von Zeit diese immer wichtiger“ (JURCZYK 2007, S. 160f.). Begriffe wie „Arbeitszeit“ oder „Freizeit“ wirken vor dem Hintergrund dieser Erosion der zeitlichen Normen in der Spätmoderne als überholte Begriffe aus einer bereits abgeschlossenen Epoche, die mit fordistischer Produktion, gewerkschaftlich ausgehandelten Arbeitszeitregelungen, eindeutigen Rollenmustern und einem scheinbar unumstößlichen Gegensatz von Arbeit und Kapital gekennzeichnet war. Dabei sind die Folgen der Flexibilisierung ambivalent: Lässt sich die Ablösung der ehemals „stabilen und eher starren Rhythmen des Industriezeitalters“ durch die „instabileren Rhythmen individualisierter Abläufe“ (ARL 2002, S. 21) zunächst als neugewonnene Freiheit im Sinne einer zunehmenden Zeitautonomie für den Einzelnen deuten, entpuppt sie sich oftmals als „eine Zwangsflexibilisierung [...], bei der der Einzelne sich nur noch den Vorgaben des Betriebes anpassen kann“ (ebd., S. 22). Die Flexibilisierung von Arbeits- bzw. Aktivitätszeiten ist offenkundig untrennbar mit räumlichen Implikationen verbunden, die als zunehmende Instabilität der raum-zeitlichen Organisation der Gesellschaft zusammengefasst werden kann: „Flexibilität bewirkt in Teilen räumliche Instabilität; diese reicht von der Verkehrsnachfrage bis hin zu kürzeren Nutzungszeiten von Gebäuden bzw. höheren Umschlagsgeschwindigkeiten, die bis hin zu einer mangelnden Identität von Stadtgebieten führen kann. Auf der individuellen Ebene wirkt sich zeitliche Flexibilität u. a. in einem Standortsplitting der Wohnstandortwahl oder der Zunahme von Wochenendbeziehungen über große Pendeldistanzen aus“ (ARL 2002, S. 22). Das Ineinandergreifen der unter dem Begriff der Entgrenzung erfassten raum-zeitlichen Bezüge und der unter dem Begriff der Flexibilisierung beschriebenen Veränderungen ist dabei offenkundig. Räumliche und zeitliche Folgen von Entgrenzung und Flexibilisierung weisen also in eine ähnliche Richtung. „Flexibilität bedeutet insgesamt, dass sich ehemalige Eindeutigkeiten wie nah und vertraut bzw. fern und fremd sowie die sequenzielle Zeitplanung mit klarer Rhythmik, Rollenzuschreibung und funktionsräumlicher Verortung auflösen“ (OSSENBRÜGGE 2007, S. 837). Dennoch lassen sich die Begriffe analytisch trennen: Während die Entgrenzung auf eine Ausdehnung von Funktionsräumen und Aktivitätszeiten verweist (gewissermaßen also eine „Kolonisierung“ von ehemals anders genutzten Räumen und Zeichen be30
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schreibt), ist die Flexibilisierung am besten mit einer Dynamisierung räumlicher und zeitlicher Routinen in Verbindung zu bringen. Statistisch ausgedrückt wäre die Entgrenzung mittels einer Veränderung der Lageparameter zu messen (etwa einer Extensivierung zurückgelegter Strecken oder einer tageszeitlich längeren Aktivitätsperiode), die Flexibilisierung hingegen durch eine Vergrößerung der Streuungsparameter. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit spielt die Flexibilisierung räumlicher und zeitlicher Strukturen eine zentrale Rolle. Auch die Frage nach der Messbarkeit räumlicher und zeitlicher Flexibilisierungsprozesse wird später wieder aufgegriffen.
Bedeutung für Stadtstruktur und Alltagsorganisation Die Darstellung von Fragmentierung, Entgrenzung, Beschleunigung sowie Flexibilisierung als raum-zeitliche Implikationen der Globalisierung sollten deutlich machen, dass die heutige Stadtgesellschaft nicht als Relikt einer eigentlich überholten Ära des Städtischen missverstanden werden darf. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass sich soziale, politische, ökonomische und technologische Veränderungen immer auch in räumlichen Dynamiken spiegeln und die Frage nach ihrer räumlichen und zeitlichen „Einbettung“ in der Spätmoderne aufwerfen. Die spätoder postmoderne Stadt sollte dabei aber immer als Sowohl-als-auch gedacht werden. Dabei muss aber angenommen werden, dass die „fordistischen“ Elemente prospektiv eine schwindende Bedeutung haben. „[...] postmodern urbanization [bezieht sich] weniger auf eine totale Transformation, eine komplette urbane Revolution oder einen eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit; aber auch ein wenig mehr als auf eine kontinuierliche, stückweise Reform ohne signifikante Richtungsänderung. So gesehen gibt es nicht nur Veränderung, sondern gleichzeitig auch Kontinuität, eine Fortdauer vergangener Trends und etablierter Formen von (moderner) Urbanität mitten einer sich aufdrängenden Postmodernisierung. In der postmodernen Stadt ist die moderne Stadt nicht verschwunden.“ (SOJA 1995, S. 144)
Die vorliegende Arbeit stellt die Frage nach dem Zusammenhang der raum-zeitlichen Organisation der Gesellschaft mit der individuellen Gestaltung des Alltags zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer sich in einem tiefgreifenden Wandel befindlichen westlichen Stadtgesellschaft, die aufgrund technologischer Innovation, politischer Deregulierung, ökonomischer Internationalisierung sowie
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sozialer Differenzierung mit neuen Herausforderungen für die alltägliche Gestaltung ihrer Arbeits- und Lebenswelt konfrontiert ist. Für die Spätmoderne kann Folgendes angenommen werden: „Wirtschaft und Arbeit verändern grundlegend ihren Charakter. Sie werden räumlich und zeitlich ‚entgrenzt‘ (ent-betrieblicht), flexibilisiert und zum Teil prekarisiert“ (MÜCKENBERGER/TIMPF 2007, S. 9). Hieraus resultieren neue Herausforderungen für die Stadtpolitik sowie für die Bewohner der Städte, die unmittelbar von diesen Veränderungen betroffen sind: „Die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft stellt die Städte in den kommenden Jahrzehnten vor deutlich veränderte Rahmenbedingungen, die sich auf die Alltagszeiten von deren Bewohnern und Nutzern spürbar auswirken werden“ (ebd., S. 8f.). Die Stadt ist aus der für diese Arbeit gewählten sozialgeographischen Perspektive zunächst Ausdrucksfeld gesellschaftlicher Entwicklungen und erst sekundär selbst Ursache sozialer Prozesse: Es wird aber die These vertreten, dass sich soziale Prozesse in (stadt)räumlichen Strukturentwicklungen spiegeln, räumliche Strukturen aber auch die Handlungsoptionen von Individuen im Sinne von „constraints“ bedingen und damit selbst den Wandel sozialer Strukturen bewirken, also strukturierend sind. Die Begriffe des Wandels und des Prozesses verweisen auf die zeitliche Dimension, der eine besondere Aufmerksamkeit beigemessen wird. Die Zeit ist in doppeltem Sinne Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Neben der Zeit als Dimension der Betrachtung für prozessuale Veränderungen in der Stadt ist insbesondere die routinisierte Alltagsgestaltung ihrer Bewohner von Bedeutung, die auf die Einbettung eines jeden Individuums in Raum und Zeit Bezug nimmt. Raum, Zeit und Gesellschaft sind, wie gezeigt werden wird, auf individueller ebenso wie auf gesellschaftlicher Ebene untrennbar miteinander verbunden.
1.3 Auswahl des Untersuchungsraumes Zur Untersuchung räumlicher und zeitlicher Folgen des sozialen Wandels sind Städte in besonderem Maße geeignet. Nicht nur sind in Zentren die raum- und zeitstrukturierenden Implikationen der Globalisierung zuerst wirksam, insbesondere kann dem städtischen Raum eine Vorreiterrolle für die Entstehung neuer gesellschaftlicher Milieus und neuer Lebensstile attestiert werden. DANGSCHAT (2007) nennt als Grund für diese Inkubatorfunktion der Stadt, dass Restrukturierungen des Arbeitsmarktes in Städten besonders deutlich erkennbar werden. Gemeint sind damit Verschiebungen „[hin] zu einem höheren Dienst32
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leistungsanteil, aber auch innerhalb der Dienstleistungen zu einem höheren Anteil an Berufen, bei denen Kreativität, Eigenverantwortung, Flexibilität und Selbstverwirklichung bedeutsam sind. Diese Verschiebungen innerhalb der Erwerbstätigkeit werden von einer Jugend-Freizeitkultur untersetzt, in der Individualisierung, Selbstverwirklichung, Distinktion und Symbolisierung einen hohen Stellenwert haben“ (ebd., S. 37). Vor diesem Hintergrund verspricht gerade Hamburg – im Unterschied zu den meisten anderen Großstädten in Deutschland, aber auch im Unterschied zu vielen anderen europäischen Metropolen – ein idealer Untersuchungsraum zu sein. So scheint in Hamburg die wirtschaftliche Restrukturierung unter den Vorzeichen eines Wandels zur Wissensgesellschaft besonders weit fortgeschritten zu sein. Der Sektor der unternehmensbezogenen Dienstleistungen kann in Hamburg als Wachstumssektor gelten. Kreativitätsbasierte Dienstleistungsbranchen wie die Medienindustrie (Werbe- und Multimediaunternehmen, Musikwirtschaft, Rundfunk- und Filmwirtschaft etc.), die IT-Branche (DV-Dienstleister, IT/Multimedia, Softwareberatung, Telekommunikation etc.), aber auch die Kulturwirtschaft weisen deutliche Konzentrationskerne in Hamburg auf. 7 Darüber hinaus siedelten sich zahlreiche Hochtechnologieunternehmen in Hamburg an (insbesondere Luftfahrtsektor und BiotechCluster). So konnte zwischen 2000 und 2006 ein Wirtschaftswachstum von 8,3% (Entwicklung BIP preisbereinigt) erzielt werden8 (vgl. Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2007, S. 4). Mit einem durchschnittlichen BIP pro Erwerbstätigem von über 81.118 Euro im Jahr 2006 weist Hamburg eine im Vergleich zum Bundesgebiet um 38% höhere Produktivität auf (vgl. ebd., S. 12). Auch im Vergleich zu anderen europäischen Metropolregionen erscheint Hamburg hinsichtlich der Produktivität gut positioniert. Dies drückt sich auch in der NettoNeuverschuldung aus, die von 820 Mio. Euro im Jahr 2000 auf 600 Mio. Euro im Jahr 2006 gesenkt werden konnte. KRONAUER (2007) stellt subsumierend fest, dass es „Hamburg [gelang], sich im internationalen Wettbewerb mit seinen neuen Industrien und der Stärke in zukunftsträchtigen Dienstleistungen gut zu positionieren“ (ebd., S. 77). 7
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Die Firmenzählung der Handelskammer Hamburg weist für 2007 14.272 Medienunternehmen aus, von denen 4.079 im Handelsregister eingetragen sind. Dieselbe Quelle weist für den IT-Sektor 7.979 Unternehmen aus (2.124 im Handelsregister eingetragen) (vgl. BWA 2007). Mit ca. 63.000 Erwerbstätigen im Mediensektor kann Hamburg als einer der bedeutendsten Medienstandorte in Deutschland angesehen werden (vgl. Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2007, S. 17). Im selben Zeitraum ist für die BRD insgesamt ein Wachstum von 6% zu verzeichnen. 33
ENTGRENZTE STADT
Abbildung 1: Entwicklung sozialer Indikatoren in Hamburg 140 130 120 110 100 90 80 70 60 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Eigene Berechnung, 1995 = Indexwert 100
Neben diesen Indikatoren für einen umfassenden Strukturwandel zur postfordistischen Dienstleistungsgesellschaft ist Hamburg aber, bedingt durch die fortschreitende Deindustrialisierung und den Verlust an Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe, durch eine zunehmende soziale Stratifikation gekennzeichnet. Aller Voraussicht nach werden sich Merkmale, die auf eine soziale Spaltung der Stadt hindeuten, zukünftig eher verfestigen als nivellieren. So kann etwa als bedeutsame Voraussetzung für die Integration in die Wissensgesellschaft ein hohes Bildungsniveau gelten. Zwar konnte die Zahl der Hochschulabsolventen in Hamburg seit dem Jahr 2001 kontinuierlich gesteigert werden, der Anteil an Schulabgängern aber, die die Schule im Jahr 2006 ohne Schulabschluss verlassen haben, liegt mit 11,5% deutlich höher als in anderen westdeutschen Großstädten wie Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Köln, Stuttgart oder München (Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2007, S. 79). Die sozialen Gegensätze verschärfend kommt hinzu, dass die Bildungsbeteiligung mit 34
HINFÜHRUNG ZUM THEMA
weiteren Merkmalen der sozialen Differenzierung korreliert. So weist etwa die Tatsache, dass nur vier von fünf ausländischen Schulabgängern die Bildungsinstitutionen mit einem Abschluss verlassen, darauf hin, dass eine drohende „soziale Spaltung“ der Stadt anhand mehrerer, sich überlagernder gesellschaftlicher Bruchlinien festzumachen ist. Während der Arbeitslosenanteil deutlichen konjunkturellen Schwankungen unterworfen ist und gegenwärtig bezogen auf alle Erwerbspersonen in Hamburg bei 11,0% liegt, 9 zeichnen sich langfristige Trendverläufe der sozialen Entwicklung Hamburgs ab, die eine Verstärkung sozialräumlicher Gegensätze in der nahen Zukunft vermuten lassen (vgl. Abbildung 1). Hierzu kann etwa der gestiegene Flächenanspruch gerechnet werden, der sich in der steigenden durchschnittlichen Wohnfläche je Einwohner (bei geringfügig wachsender Gesamtbevölkerung) ausdrückt und sich unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit als problematisch erweist. Aus sozialer Perspektive ist hinzuzufügen, dass nicht alle Einwohner gleichermaßen an der Vergrößerung der Wohnflächen partizipieren. Vielmehr deutet der Rückzug der Stadt aus dem sozialen Wohnungsbau darauf hin, dass zukünftig eine Zunahme des Konkurrenzdrucks im niedrigpreisigen Wohnungsmarktsegment zu erwarten ist. Insgesamt verweisen die sozialen Entwicklungen in Hamburg in Richtung einer zunehmenden sozialen Polarisierung, die auch in sozialräumlicher Hinsicht von Bedeutung sein könnte. Die Implikationen der „Stadt der Spätmoderne“, etwa die sozialräumliche Fragmentierung, aber auch die Ausdifferenzierung von Zeitstrukturen, die mit der zunehmenden Flexibilisierung in bestimmten Arbeitsmarktsegmenten zu erwarten ist, sollten sich also vor diesem Hintergrund am Beispiel Hamburgs besonders deutlich zeigen lassen.
1.4 Forschungsperspektive Anhand des Wandels der Städte in sozialräumlicher Hinsicht (Fragmentierung), aber auch durch die Veränderungen, Folgen und Widrigkeiten, die zeitstrukturelle Veränderungen in der Gesellschaft mit sich bringen (Entgrenzung, Flexibilisierung), lassen sich Entwicklungen sozialer Differenzierung in der Gesellschaft erkennen. Im Interesse einer engagierten Geographie, die sich selbst auch einer sozialpolitischen 9
Stand 17.04.2008, ermittelt aus GENESIS-Online – Das statistische Informationssystem; Datenquelle: BfA, Nürnberg. Die Anzahl der Erwerbspersonen wird aus der Summe der Erwerbstätigen sowie der gemeldeten Erwerbslosen ermittelt. 35
ENTGRENZTE STADT
Aufgabe verpflichtet sieht, soll erstens nach der Bedeutung für räumliche Entwicklung, etwa in Form der Stadtpolitik, gefragt werden, und zweitens die Bedingungen ihrer Entstehung geklärt werden, um Vorstellungen von einer planerischen Intervention entwickeln zu können. Diese Perspektive ist anschlussfähig an die Sozialgeographie HARTKEs, der den Raum als „Registrierplatte“ sozialen Handelns verstand (alltägliches „Geographie-Machen“) und dessen Vorstellung es war, durch die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse Wege zur Optimierung raumbezogener und raumplanerischer Politik zu ermöglichen. Ein solcher, auf Intervention ausgerichteter Zugang findet sich auch in der Zeitgeographie der Lund-Schule und der Aktionsraumforschung wieder. Auf einer derartigen wissenschaftlichen bzw. methodologischen Perspektive aufbauend die „Stadt der Spätmoderne“ erforschen zu wollen, ist indes nicht unproblematisch. Während in traditionellen bzw. prämodernen Gesellschaften das Wesen sozialer und kultureller Praktiken mit ihrer räumlichen Verortung zusammenfällt, ist dieses Zusammenfallen des „Wo“ und des „Wie“ in spätmodernen Gesellschaften nicht mehr uneingeschränkt gegeben (vgl. WERLEN 1995, S. 75ff.). Als Ursache hierfür sind vielfältige Entankerungsphänomene anzunehmen, die sich beispielsweise in der zunehmenden globalen Vernetzung (Globalisierung sowie Virtualisierung der Kommunikation durch neue Technologien) und der durch die Beschleunigung der Verkehrsmittel verursachten „Schrumpfung des Raumes“ zeigen. ROSA (2005, S. 161ff.) spricht in diesem Kontext vom „Entschwinden des Raumes“ bzw. sogar von einer „Raumvernichtung“ (ebd., S. 164). Hieraus mag man folgern, dass der Raum nicht mehr länger als „Registrierplatte“ menschlicher Handlungen zu verstehen ist. Mit Hilfe der im Raum vorzufindenden Strukturen etwas über die Entstehungszusammenhänge dieser räumlichen Muster (und damit über den sozialen Wandel) erfahren zu können scheint in der Spätmoderne nicht mehr uneingeschränkt möglich zu sein. WERLEN (1995) geht davon aus, „dass die Leistungsfähigkeit traditioneller und raumwissenschaftlicher Sozial- und Kulturgeographie umso dramatischer abnimmt, je mehr sich die soziale Wirklichkeit von der Seinsweise traditioneller Gesellschafts- und Lebensformen entfernt“ (ebd., S. 75). Da in der spätmodernen Gesellschaft – im Unterschied zur Prämoderne – die Einheit von Raum und Vergesellschaftung durch die Entankerung nach Ansicht WERLENs nicht länger gegeben ist, sei der raumzentrierte Blick nicht länger geeignet, einen sachdienlichen Beitrag zur Gesellschaftsanalyse zu leisten. Aus diesem Grund könne das Forschungsinteresse einer zeitgemäßen Sozialgeographie nicht dem Raum und den im Raum erkennbar werdenden Strukturen gelten, sondern müsse das Handeln der Menschen zum Gegenstand machen. 36
HINFÜHRUNG ZUM THEMA
Einer Forschungsperspektive, die dem Paradigma der raumwissenschaftlichen Humangeographie folgt und die Analyse räumlicher Muster sowie die Erklärung ihrer Entstehungsbedingungen zum Ziel hat, wird damit eine Absage erteilt. WERLENs Argumentation kann zwar insofern zugestimmt werden, als dass das Erkennen und Beschreiben räumlicher Strukturen und Prozesse („Welt der Dinge“) noch keine Vorstellung davon vermittelt, wie diese Strukturen zustande gekommen sind. Auch sollte die Diagnose einer in der Spätmoderne fortschreitenden Individualisierung und räumlichen Entankerung nicht vorschnell verworfen werden. Dennoch spricht einiges dafür, dass die Vergesellschaftung in der Spätmoderne nicht allein durch räumliche Entankerungsphänomene gekennzeichnet ist, sondern parallel dazu auch Momente der lokalen Verankerung im Sinne einer sozialräumlichen (Re-)Inklusion enthält (vgl. OSSENBRÜGGE 1999, S. 38). Die Bedeutung von „Raum“ ist dabei aber nicht auf physischmaterielle Aspekte reduziert, wenngleich die aus pragmatischen Gründen verkürzte Begrifflichkeit „Raum“ dies vermuten lassen könnte. Eine raum- bzw. regionalwissenschaftliche Perspektive einzunehmen ist nicht gleichbedeutend mit einer Reduktion des Begriffs des „Raumes“ auf die „Welt der Dinge“. Der Idee einer „neuen Regionalgeographie“ folgend, geht es darum, „welche Bedeutung Raum (gemeint ist das Kürzel) bei neuen Arten der sozialen Einbindung individualisierter Subjekte haben kann“ sowie um die „Formen der sozialen Integration unter spät- oder postmodernen Bedingungen“ (OSSENBRÜGGE 1997, S. 252). So ist etwa eine durch die Globalisierung verursachte Nivellierung der kulturellen Differenzen nicht festzustellen. Vielmehr kann diagnostiziert werden, dass tradierte Standortbindungen durch neue Formen der lokalen Wiederverankerung abgelöst werden: „[D]er komplementäre Prozess zur ‚Entbettung‘ ist die ‚Rückbettung‘. Der Tendenz zu einer Nivellierung kultureller Unterschiede steht die Revitalisierung lokaler Kulturen und Identitäten gegenüber“ (HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL 2008, S. 167). Insbesondere vor dem Hintergrund der bestehenden sozialen Ungleichheit – gerade hinsichtlich der hiermit fast immer verbundenen räumlichen Segregationsphänomene – ist die laufende Beobachtung des Wandels räumlicher Strukturen und der Klärung ihrer Entstehungsursachen dringend erforderlich. Vor allem in Städten bilden sich heute offenkundig lokale Milieus heraus, die durchaus mit dem Begriff der räumlichen Verankerung beschrieben werden können (etwa innerstädtische Armutsinseln, Gentrification-Gebiete oder „kreative“ SzeneViertel). Diese Phänomene können wohl kaum als bloße Reliktformen der Prämoderne angesprochen werden, sondern sind vermutlich auch
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ENTGRENZTE STADT
prospektiv überaus bedeutungsvoll für die Entwicklungsdynamik der Stadt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen adäquate Instrumente und Verfahren entwickelt und am Beispiel Hamburgs erprobt werden, mit deren Hilfe derartige räumliche Strukturveränderungen in der Stadt der Spätmoderne analysiert werden können. Ein zu diesem Zweck angemessenes Monitoring-Verfahren zur Beobachtung des sozialräumlichen Wandels wird in Kapitel 3 dieser Arbeit entwickelt und gelangt in Kapitel 4 am Beispiel Hamburgs zur Anwendung. Teil dieses Arbeitsschrittes ist dabei die Bestimmung der zentralen Dimensionen, in denen sich der heutige sozialräumliche Wandel in Städten vollzieht. Insbesondere bedeutet dies die Integration der Pluralisierung von Lebensstilen in die Analyse des raumstrukturellen Wandels. Zudem wird die Hypothese vertreten, dass zeitbezogene Ungleichheiten den sozialen Wandel in der Spätmoderne maßgeblich mitbestimmen und folglich auch die differenzierten Zeitstrukturen in Städten betrachtet werden müssen, um zu einem angemessenen Modell der sozialräumlichen Differenzierung in Städten gelangen zu können. Dieser hier verfolgte Ansatz geht zunächst also von einem „Raum als Registrierplatte“ menschlicher Handlungen aus, behauptet aber nicht, dass menschliches Handeln aus den räumlichen Strukturen heraus allein vollständig erklärt und verstanden werden kann. Konsequenterweise soll in der vorliegenden Arbeit auch nicht bei einer Betrachtung räumlicher Strukturen haltgemacht werden. Daher ist die empirische Untersuchung auf zwei Aggregatebenen angelegt: Zusätzlich zu der auf die Entwicklung städtischer Teilgebiete in der Spätmoderne ausgerichteten Perspektive sollen die Entstehungsbedingungen des raum-zeitlichen Wandels erklärt werden. Hierzu ist ein Rückgriff auf die Bedingungen alltäglichen Handelns der Menschen im raum-zeitlichen Kontext erforderlich. Diese Untersuchungsperspektive ist der Ausgangspunkt von Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit. Ausgehend von den alltäglichen Handlungen der Menschen sollen die Aktionsräume und Zeitverwendungsmuster herausgearbeitet werden, um zu einem Verständnis für die Ursachen gesamtstädtischer Fragmentierungs- und Entgrenzungsprozesse gelangen zu können. Die Ausgestaltung der Aktionsräume der Menschen wird dabei als Anpassung an die Anforderungen verstanden, die der spätmoderne Wandel erfordert. Dieser Forschungszugang steht damit einerseits in der Tradition raumwissenschaftlicher Ansätze, ohne aber eine Determination der Raumstrukturen durch das Handeln zu behaupten: Der Strukturationstheorie nach GIDDENS (1997) folgend, wird davon ausgegangen, dass raum-zeitliche Strukturen durch menschliches Handeln strukturiert wer38
HINFÜHRUNG ZUM THEMA
den, zugleich aber ebendiese räumlichen und zeitlichen Strukturen als Bedingungsfeld des Handelns verstanden werden müssen. Durch die raum-zeitlichen Strukturen werden Handlungsspielräume also gleichermaßen begrenzt wie ermöglicht. Der Alltag der Menschen ist in eine physisch-materielle sowie in eine soziokulturelle Umwelt eingebettet, die durch die Betrachtung raum-zeitlicher Strukturen zugänglich wird. Der Mensch (re-)produziert diese Strukturen durch seine Handlungen, die ihrerseits in größere Sinnzusammenhänge (Projekte) eingebunden sind.
1.5 Leitfragestellung und Aufbau der Arbeit Aus den weltweit wirksamen ökonomischen, politischen, sozialen und technologischen Veränderungen, die unter dem Schlagwort der „Globalisierung“ zusammengefasst werden können, lässt sich die Diagnose einer „Gesellschaft im Wandel“ herleiten. Besonders wirkungsmächtig sind die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die den Übergang von einer „Industriegesellschaft“ zu einer „Wissensgesellschaft“ markieren. 10 Diese Phase des Übergangs kann mit dem Begriff der Spätmoderne erfasst werden und ist insbesondere in den großen „Metropolen des Westens“ vergleichsweise weit fortgeschritten. Die räumlichen und zeitlichen Implikationen dieser „Gesellschaft im Umbruch“ bzw. spätmodernen Gesellschaft lassen sich entlang den Termini Fragmentierung, Entgrenzung, Beschleunigung und Flexibilisierung erfassen. Der Begriff der Fragmentierung beschreibt die räumlich-strukturellen Implikationen des Wandels in der Spätmoderne. Demgegenüber verweisen die Begriffe Entgrenzung, Beschleunigung und Flexibilisierung sowohl auf zeitliche und räumliche als auch auf strukturelle und individuelle Dimensionen des Wandels. Besonders deutlich wird das etwa am Begriff der „Entgrenzung“, der einerseits die transnationale Angleichung institutioneller Rahmenbedingungen (etwa Zeitordnungen) beschreibt, andererseits aber eine Entstandardisierung individueller Alltagsorganisation (z.B. Arbeitszeiten) bewirkt. Auf dieses „Aggregatebenenproblem“ wird später Bezug genommen. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass der Wandel in der Spätmoderne sowohl als Veränderung struktureller (oder besser: sozialökologischer), 10 „Wissensgesellschaft“ ist hier im weiteren Sinne zu begreifen und steht als Synonym für die postfordistische Organisation von Arbeit, aber auch für die gestiegene Bedeutung von wissens-, kreativitäts- und kulturbasierten Dienstleistungen und der I+K-Technologie („Informationsgesellschaft“) für die Informatisierung der Stadtökonomie insgesamt. 39
ENTGRENZTE STADT
als auch als Veränderung individueller Organisation von Raum und Zeit gedacht werden sollte. Eine Analyse der „Stadt der Spätmoderne“ sollte daher sowohl die sozialökologische Organisation als auch die individuelle Alltagsorganisation ihrer Bewohner in Augenschein nehmen. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit lässt sich am besten mit folgender Leitfrage zusammenfassen: Welche raum-zeitlichen Auswirkungen hat der spätmoderne Wandel auf die sozialökologische Organisation der Gesellschaft und welche Veränderungen der Alltagsorganisation ergeben sich hieraus für ihre Bewohner? Zur Beantwortung dieser komplexen Leitfrage bedarf es – neben einer weiteren Konkretisierung – vor allem eines geeigneten Analysekonzeptes. Da ein umfassendes Programm zur Analyse der raum-zeitlichen Strukturen der Stadt und der Alltagsorganisation ihrer Bewohner nicht existiert, muss dieses zunächst entwickelt werden. Basis des Konzeptes sind die bisherigen Forschungsansätze, die sich mit dem Thema Raum, Zeit und Alltagsorganisation befassen. Diese werden in Kapitel 2 dargestellt. Aufbauend auf diese Ansätze wird in Kapitel 3 ein geeigneter methodischer Zugriff konzipiert. Des Weiteren erfolgt in diesem Abschnitt auch die Explikation der Leitfrage in ein operationalisierbares Set von Hypothesen. In Kapitel 4 stehen die räumlich-strukturellen Veränderungen des Wandels in der Spätmoderne im Vordergrund. In diesem Rahmen wird auch die Leistungsfähigkeit einer „modernisierten social area analysis“, mit deren Hilfe die sozialökologische Organisation der Stadt der Spätmoderne messbar werden soll, überprüft. Die Integration zeitstruktureller Bezüge in die gesamtstädtische Betrachtung erfolgt in Kapitel 5. Kapitel 6 bezieht sich auf die Organisation des Alltags in der Spätmoderne. Hierzu wird die Erklärungskraft verschiedener deduktiv hergeleiteter Gruppenkonzepte getestet, von denen zu vermuten ist, dass sie die raum-zeitliche Gestaltung des Alltags von Menschen maßgeblich beeinflussen. Dieser Analyseschritt erfolgt vergleichend für vier unterschiedliche Quartiere in Hamburg, deren Auswahl aus den vorhergehenden Zwischenergebnissen hergeleitet wird. In Kapitel 7 werden die erzielten Forschungsergebnisse zusammengefasst und kritisch diskutiert. Darauf aufbauend wird eine Interpretation der „spätmodernen Stadt“ aus raum-zeitlicher Perspektive versucht.
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2 RAUM, ZEIT
UND
ALLTAG
Raum, Zeit und Gesellschaft sind auf vielfältige Weise komplex miteinander verbunden, allumfassende Makrotheorien sind jedoch – vermutlich eben aufgrund dieser großen Komplexität – bisher nicht in Sicht. Die derzeit zu beobachtende Pluralisierung des theoretischen Zugriffs auf den Zusammenhang von „Raum“ und „Gesellschaft“ ist durch eine Vielfalt verschiedener Ansätze gekennzeichnet, in deren Zusammenschau sich die Uneindeutigkeit der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen spiegelt. Paradigmatische Forschungsperspektiven oder gar Versuche einer Formulierung einer umfassenden Makrotheorie scheinen der Vergangenheit anzugehören. Diese zunehmende Pluralisierung theoretischer, methodologischer und methodischer Forschungszugriffe spiegelt sich in einer Beschleunigung der Ausrufung neuer „turns“ („spatial turn“, „cultural turn“, „linguistic turn“ etc.) wider, deren Halbwertzeit tendenziell abzunehmen scheint. Da es demgegenüber „die“ universale Gesellschaftstheorie nicht gibt und vermutlich auch nicht geben kann, existiert eine Vielzahl von Partialansätzen, deren Gültigkeit aufgrund ihres Modellcharakters immer nur begrenzt sein kann. Dies muss allerdings kein Nachteil sein. Die Bearbeitung der umfassenden Fragestellung der vorliegenden Arbeit erfordert eine Integration verschiedener Forschungsstränge bzw. -modelle, die aufeinander bezogen werden können. Im folgenden Kapitel soll ein Überblick über die raum-zeitbezogenen Forschungsrichtungen gegeben werden, die im Rahmen dieser Arbeit relevant sind. Dies geschieht primär im Kontext der bisher entwickelten sozialgeographischen und soziologischen Forschungsansätze. Mit der Darstellung des Forschungsstandes in diesem Kapitel ist verständlicherweise kein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden, zumal dieses im Rahmen einer 41
ENTGRENZTE STADT
Arbeit mit empirischem Schwerpunkt auch nicht zu leisten wäre; die Vorstellung und Diskussion der Forschungsansätze zielt vielmehr auf ihre jeweilige Bedeutung für die theoretische Einbettung sowie die methodische Konzeption der vorliegenden Arbeit. Die Untersuchung der Veränderungen der raum-zeitlichen Organisation der Stadt und des Alltags ihrer Bewohner erfordert im Wesentlichen die Aufnahme von zwei wissenschaftlichen Feldern: Zum Ersten bedarf es der Darstellung von Arbeiten, die sich mit der raum-zeitlichen Organisation der Stadt und ihrer Bewohner befassen, zum Zweiten sind die relevanten Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Wandels in der Spätmoderne im Kontext von Raum und Zeit zu klären. Zur besseren Lesbarkeit der Arbeit wurde eine schematische Übersicht des Aufbaus von Kapitel 2 erstellt (siehe Abbildung 2). Nach der Vorstellung sowie der Diskussion der verschiedenen Ansätze wird in Kapitel 3 ein methodischer Zugriff entwickelt, mit dem die in Kapitel 1 angesprochenen Forschungsfragen adäquat empirisch untersucht werden können. In Kapitel 2.1 erfolgt zunächst die Betrachtung der raum-zeitlichen Organisation ausgehend von der individuellen Alltagsgestaltung der Stadtbewohner im Kontext ihrer sozialen Bezüge (Zeitgeographie und Aktionsraumforschung). In Kapitel 2.2 werden Ansätze vorgestellt und diskutiert, die versuchen eine Gesellschaftsanalyse ausgehend von raumzeitlichen sowie sozialräumlichen Aggregaten vorzunehmen (Sozialökologie und die Analyse städtischer Rhythmen). Die beiden Abschnitte 2.1 und 2.2 nähern sich dem Forschungsgegenstand aus unterschiedlichen Richtungen, die aber das gleiche Phänomen beleuchten: die räumlichen und zeitlichen Bezüge der Gesellschaft. Das Vorgehen ist in den beiden Kapiteln jeweils an der chronologischen Entwicklung der Zugänge orientiert, auch wenn dieses aufgrund zeitlicher Überschneidungen der Forschungsstränge nicht in jedem Fall vollkommen stringent geschehen kann. Die Dimensionen des sozialen Wandels werden in das Kapitel 2.1 integriert, wenn sie auf das Individuum bezogen werden können (Unterkapitel 2.1.3: Sozialer Wandel und Raumnutzung bzw. Unterkapitel 2.1.4: Sozialer Wandel, Zeitstrukturen und Alltagsorganisation). Die Dimensionen des sozialen Wandels, die auf soziale sowie sozialräumliche Strukturen gerichtet sind, werden in Kapitel 2.2 behandelt (lebensstilintegrierende Sozialraumanalyse in Unterkapitel 2.2.1; räumliche Bezüge des Wandels in Unterkapitel 2.2.2; zeitliche Bezüge des Wandels in Unterkapitel 2.2.3).
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RAUM, ZEIT UND ALLTAG
Abbildung 2: Lesehilfe für Kapitel 2 – Aufbau und Verweise
Grundlagen raum-zeitlicher Organisation Raumperspektive
Zeitperspektive Kap. 2.1.1
Kap. 2.1.2
Klingbeil 1978, 1980
vom Zeitgeographie Individuum Hägerstrand 1970, 1989 ausgehend (Kap. 2.1)
Aktionsraumforschung
Dürr 1979 SAS 1979 Dangschat et al. 1980
Scheiner 2000
Ellegard et al.1977
Friedrichs 1990
von Henckel / Eberling 2002 Strukturen ausgehend Henckel 1995 (Kap. 2.2) Städtische Rhythmen
Shevky / Bell 1961 Park 1925, 1936 Hawley 1950
Kap. 2.2.3
Sozialökologie Kap. 2.2.1
Wandel der raum-zeitlichen Organisation der Stadt und des Alltags ihrer Bewohner city:Mobil 1999
Jurczyk 2007 Hermann / Leuthold 2002 Heye / Leuthold 2006 (sotomo)
Sieverts 2002
Hörnig et al. 1990, 1997
Henckel 2000, Geißler 2007
Klee 2001, 2003
Bühler 2001
Schulze 1992
Läpple 2006; Läpple / Stohr 2006
Florida 2005
Pfau-Effinger 2000
- neue soziale Milieus - Pluralisierung der Lebensstile - Stadt als Bühne
- geschlechtssp. Arbeitsteilung - Singlehaushalte - neue Haushaltstypen
- Fordismus / Postfordismus - Wissensgesellschaft - Kreative Klasse
Wertepluralisierung, Individualisierung
Veränderung der Haushaltsstrukturen
Wandel des Arbeitsmarktes
Dimensionen des gesellschaftlichen Wandels Eigener Entwurf
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ENTGRENZTE STADT
2.1 Ansätze zur Analyse der raum-zeitlichen Alltagsorganisation Jede Handlung ist eingebettet in räumliche sowie zeitliche Kontexte und weist damit eine Örtlichkeit auf. Auch wenn für viele Sachverhalte weder der konkrete Raumbezug noch der Zeitpunkt eine Rolle spielen mögen, variiert der Grad an raum-zeitlicher Beliebigkeit von Handlungen beträchtlich. Während beispielsweise der räumliche Standort der einzelnen Teilnehmer einer Telefonkonferenz im Gegensatz zur zeitlichen Synchronisierung nahezu bedeutungslos erscheinen mag, erfordern viele andere Handlungszusammenhänge die Realisierung raumzeitlicher Kopräsenz. Trotz der jeweils sehr verschieden ausgeprägten Bedeutung des raum-zeitlichen Rahmens lassen sich Aktivitäten nicht unabhängig von Raum und Zeit denken. 1 In den folgenden Unterkapiteln werden die für diese Arbeit relevanten Forschungsansätze vorgestellt und diskutiert, die auf die Analyse der raum-zeitlichen Bezüge der Alltagsorganisation gerichtet sind. Diese Zugänge sind keineswegs derart voneinander entkoppelt, wie die hier aus Gründen der Anschaulichkeit gewählte Aufteilung suggerieren mag. Vielmehr kann eine Überschneidung der einzelnen Forschungsansätze festgestellt werden. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Vorstellung von der Situiertheit des Individuums in Raum und Zeit. Daher soll zunächst der „klassische“ zeitgeographische Zugang der Lund-Schule dargestellt werden, der durch die Chronogeographie ergänzt wurde. Anschließend werden die Entwicklungslinien der Aktionsraumforschung vorgestellt, deren Erkenntnisgegenstand ebenfalls die raum-zeitliche Alltagsgestaltung von Menschen umfasst, das Individuum aber stärker als die klassische Zeitgeographie als handelndes Subjekt begreift. Die Kapitel 2.1.3 und 2.1.4 behandeln die räumlichen bzw. die zeitlichen Bezüge des sozialen Wandels in der Spätmoderne. Zentral ist dabei die Bedeutung der Pluralisierung der Lebensstile im Hinblick auf die raum-zeitliche Gestaltung des Alltags. Zudem werden weitere Aspekte des sozialen Wandels, wie etwa die Veränderung der Haus-
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OPP (1976) versteht unter einer Aktivität „jegliche Bewegung eines Akteurs“ (ebd., S. 198), was den raum-zeitlichen Aspekt als einziges Definitionskriterium herausstellt, während kognitive Prozesse im Sinne OPPs nicht als Aktivität zu klassifizieren wären. Weiter gefasst ist demgegenüber die Definition von VANBERG (1973), der unter Aktivitäten die „Menge aller Tätigkeiten im weitesten Sinne versteht“. Diese Definition schließt rein kognitive Aktivitäten mit ein, diese sind aber bedingt durch die Körperlichkeit des Menschen auch immer in Raum und Zeit lokalisierbar.
RAUM, ZEIT UND ALLTAG
haltstypen und der Geschlechterrollen, in ihrer Bedeutung für räumliche und zeitliche Strukturen diskutiert. Dabei dient der letzte Abschnitt dieses Kapitels zugleich als argumentativer „Brückenschlag“ von der in Kapitel 2.1 vom Individuum ausgehenden Perspektive zu der in Kapitel 2.2 behandelten sozialräumlichen und zeitbezogenen Forschungsperspektive.
2.1.1 Zeitgeographie Als Begründer der Zeitgeographie kann der schwedische Geograph Torsten HÄGERSTRAND gelten, der an der Universität Lund tätig war. Nach zahlreichen Veröffentlichungen, zum Großteil in schwedischer Sprache, erschien 1970 sein wegweisender Beitrag mit dem Titel „What about people in regional science?“, der die Grundannahmen seines Zugangs zusammenfasst. In der Folge wurde der zeitgeographische Ansatz 2 von HÄGERSTRAND und seinen Mitarbeitern (TÖRNQUIST, LENNTORP, ELLEGÅRD, MÅRTENSSON u. a.) terminologisch und konzeptionell wieterentwickelt und später als „Lund-Schule“ bezeichnet. Im Gegensatz zu den bis dato vorherrschenden regionalwissenschaftlichen und regionalplanerischen Ansätzen, die mehrheitlich einem „Containerraum-Konzept“ zuzuordnen sind, ist der Ausgangspunkt der Zeitgeographie das (Alltags-)Handeln von Individuen. Erklärtes Ziel ist dabei, über die aggregierte Analyse des raum-zeitlichen Verhaltens zu einer umfassenden Gesellschaftstheorie zu gelangen: „I am looking for a way of finding conceptual coherence in the geographer’s understanding of the human world all the way from home to globe and from day to lifetime“ (HÄGERSTRAND 1975, S. 29). Aufgrund der Tatsache, dass sich jeder Mensch zu jeder Zeit seines Lebens an genau einem Ort befindet, lassen sich sowohl räumliche als auch zeitliche Koordinaten für jedes einzelne Individuum angeben und mittels einer dreidimensionalen kartographischen Darstellung abbilden. Bei dieser Darstellungsform wird die Zeit zusätzlich zu zwei räumlichen Dimensionen als dritte Dimension projiziert, sodass Bewegungen von 2
Die Verwendung des Begriffs des „Ansatzes“ in dieser Arbeit folgt der Definition von FRIEDRICHS (1983). Im Gegensatz zur Theorie ist ein Ansatz als Vorschlag zur Theoriebildung zu verstehen, eine kohärente Theoriebildung ist jedoch nicht erfolgt. Dabei lassen sich theoretische Ansätze dadurch kennzeichnen, dass „1. zentrale zu erklärende Sachverhalte genannt werden, 2. Variablen, meist Klassen von Variablen, spezifiziert werden, die zur Beschreibung und Erklärung verwendet werden sollen, 3. die Ebenen der Analyse genannt werden, z.B. Individuum, Gruppe, Stadt, Region“ (ebd., S. 20). 45
ENTGRENZTE STADT
Personen in Raum und Zeit als Linien im dreidimensionalen Raum abgebildet werden können („time path“ bzw. „Zeitpfad“, vgl. HÄGERSTRAND 1970). Je nach gewähltem zeitlichem Maßstab lassen sich so raum-zeitliche Bewegungen von Individuen während ihres gesamten Lebens („life path“) oder auch während einer Woche oder eines Tages abbilden („week path“ bzw. „day path“). Die Handlungsoptionen des Individuums bei seiner Bewegung durch Raum und Zeit sind zweckrational auf die Realisierung von „Projekten“ gerichtet, denen ein geplanter „Entwurf“ der Handlung zugrunde liegt (vgl. HÄGERSTRAND 1982). Dabei wird die Umsetzung der (gedanklichen) Entwürfe zu (tatsächlichen) Projekten durch verschiedene Einschränkungen („constraints“) limitiert: Erstens sind dies physisch-materielle Axiome, die etwa durch die Unteilbarkeit des menschlichen Körpers sowie durch das natürliche Bedürfnis nach Schlaf bedingt sind, oder die von der Verfügbarkeit geeigneter Verkehrsmittel abhängig sind („capability constraints“). Zweitens existieren soziale Notwendigkeiten, sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufzuhalten („coupling constraints“). Drittens bestehen hegemoniale Reglementierungen von Zugänglichkeiten zu bestimmten Orten, etwa durch Zutrittsverbote oder Öffnungszeitenregelungen („authority constraints“). „Constraints“ können demnach als raum-zeit-institutionelle Rahmung der Handlungsoptionen des Individuums interpretiert werden. Um zu Aussagen über das Funktionieren gesellschaftlicher Zusammenhänge in Abhängigkeit von Raum und Zeit zu gelangen, konzentrieren sich die zeitgeographischen Analysen der Lund-Schule zunächst auf die „constraints“, während individuelle Zeitpfade im Wesentlichen einen deskriptiven Zweck erfüllen und nur schematisch dargestellt werden. „Similarly, the short-term paths, days and weeks, can be sampled by observation or by some diary method. In either case, one risks becoming lost in a description of how aggregate behaviour develops as a sum total of actual individual behaviour, without arriving at essential clues toward an understanding of how the system works as a whole. It seems to be more promising to try to define the time-space mechanics of constraints which determine how the paths are channeled or dammed up.“ (HÄGERSTRAND 1970, S. 11)
Tatsächlich weist schon die Darstellung einer vergleichsweise kleinen Zahl individueller Zeitpfade in einem Schaubild eine relativ große Komplexität auf (vgl. Abbildung 3), aus der sich weder Zusammenhänge über die Organisation alltäglicher Routinen (Projekte) herleiten, 46
RAUM, ZEIT UND ALLTAG
noch Aussagen über die handlungsleitenden Gründe für das Aufsuchen konkreter Orte zu bestimmten Zeiten (Entwürfe) treffen lassen (vgl. POHL 2006b). Ein detaillierterer Blick auf die institutionellen Rahmungen, die durch die „constraints“ beschrieben sind, erscheint demnach als ein adäquater Ausweg zur Annäherung an den Forschungsgegenstand. Mit anderen Worten: Der zeitgeographische Ansatz HÄGERSTRANDs betrachtet nicht, wie der Zeitpfad von Individuen tatsächlich gestaltet ist, sondern unter welchen bestehenden Restriktionen er potentiell gestaltet werden kann. Abbildung 3: Zeitpfade mit Bezug zum Schanzenviertel in Hamburg
Quelle: POHL (2006b, S. 138)
Capability constraints Capability constraints begrenzen die Aktivitäten des Individuums in Abhängigkeit biologischer Bedürfnisse sowie seiner verfügbaren Ressourcen und den hieraus resultierenden Möglichkeiten zur räumlichen Mobilität. Alltägliche Notwendigkeiten wie das Bedürfnis nach Schlaf oder die Aufnahme von Nahrung limitieren die Menge an Zeit, die prinzipiell für andere Tätigkeiten verwendet werden kann. Für die Untersuchung alltäglicher Routinisierung und letztlich auch für die Betrachtung der raum-zeitlichen Strukturierung von Orten ist von besonderer Bedeutung, dass „Bedürfnisse [...] ein mehr oder weniger regelmäßiges, rhythmisches Grundmuster [haben, (T.P.)], und [...] ihrerseits wieder Tätigkeiten und Handlungen mit ganz spezifischen Zeitprofilen 47
ENTGRENZTE STADT
[bedingen, (T.P.)]. Man kann also annehmen, dass ein Individuum unter dem Einfluss eines ganzen Spektrums von Wunsch- und Bedürfnisfunktionen steht und diese in regelmäßigen Zyklen Auswirkungen auf seine Aktivitäten haben“ (KASTER 1979, S. 13). Da zum Beispiel zum Schlafen in der Regel die eigene Wohnung aufgesucht werden muss, ergibt sich eine maximal erreichbare räumliche Wegdistanz pro Tag. Diese variiert in Abhängigkeit der verfügbaren Verkehrsmittel beträchtlich. Die Notwendigkeit zum Aufsuchen anderer Orte lässt sich nach HÄGERSTRAND modellhaft in Abhängigkeit zu einem System dreier konzentrischer Ringe verstehen, die das Individuum umgeben und als „tubes“ bezeichnet werden (vgl. ebd., S. 12f.). Je nach Form der erforderlichen Nähe zu signifikanten Anderen oder zu funktionalen Gelegenheiten ergeben sich Mobilitätszwänge. Der erste Ring umgibt den Körper des Individuums direkt und entspricht der unmittelbaren Reichweite. Diese engste Nähe ist erforderlich, wenn physische Interaktion mit Anderen erfolgen soll, zum Beispiel bei der Kinderbetreuung oder im Falle der Fürsorge und Versorgung anderer Personen. Zudem erfordert die Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse des Individuums das Aufsuchen entsprechender Versorgungsgelegenheiten. Dieser Ring kann durch technologische Innovation kaum erweitert werden. Der zweite Ring entspricht der Reichweite der Stimme. Jegliche Form der Nähe, die der Interaktion durch Kommunikation bedarf, beispielsweise ein politischer Aushandlungsprozess oder die meisten Anforderungen in der Arbeitswelt, erfordert die Nähe von Individuen im Überschneidungsbereich ihrer jeweilig „zweiten Ringe“. Die Grenzen dieses zweiten Rings sind weniger scharf als die des ersten Rings; zudem besteht die Möglichkeit, durch technische Innovation (insbesondere Telekommunikationstechnologie) die Reichweite dieses Rings beachtlich zu vergrößern. Unklar ist dabei für HÄGERSTRAND, ob Situationen der Kopräsenz zukünftig durch Innovationen auf dem Gebiet der Kommunikationstechnologien weitergehend substituiert werden können: „One hears the most divergent opinions about future possibilities of having television screens substitute for face-to-face meetings around a table. The amount of travelling undertaken by functionaries these days indicates that a break-through in terms of new behaviour patterns is still on the waiting list“ (HÄGERSTRAND 1970, S. 12). Obgleich heute die Telekommunikationstechnologien, insbesondere durch die leichte Realisierbarkeit von Internetkonferenzen mit Bild und Ton, sehr viel weiter fortgeschritten sind als zur Zeit der Veröffentlichung der Kerngedanken der Zeitgeographie vor fast 40 Jahren, scheint 48
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eine Substitution von räumlicher Mobilität durch Kommunikationstechnologien nur zum Teil und in bestimmten Branchen möglich zu sein, etwa im Fall von Telearbeit. Ein signifikanter Rückgang von Geschäftsreisen und eine Substitution von Face-to-Face-Kontakten durch „virtuelle“ Kommunikationsformen ist demgegenüber nicht festzustellen – im Gegenteil hat die Zahl der unternommenen Geschäftsreisen in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Für die nahe Zukunft erwartet die große Mehrheit der Unternehmen eine gleichbleibende bis wachsende Geschäftsreisetätigkeit (vgl. VDR-Geschäftsreiseanalyse 2006). Der dritte (und für die Sozialgeographie wohl bedeutungsvollste) Ring beschreibt die Grenzen der individuell möglichen räumlichen Mobilität. Im Mittelpunkt dieses Rings liegt das Zuhause des Individuums („home base“). Dieser Ort wird regelmäßig wieder aufgesucht, in der Regel zumindest zur Regeneration, und bildet den Dreh- und Angelpunkt des Alltags: „And once a place of this sort has been introduced, one can no longer avoid considering more closely how time mixes with space in a non-dividible timespace. [...] When he moves away from it, there exists a definite boundary line beyond which he cannot go if he has to return before deadline. Thus, in his daily life everybody has to exist spatially on an island.“ (HÄGERSTRAND 1970, S. 12f.)
Durch technische Innovationen auf dem Gebiet der Verkehrsmittel konnte in den letzten zwei Jahrhunderten die maximal erreichbare Distanz kontinuierlich vergrößert werden, was allerdings nicht zu einer grundsätzlichen Auflösung des Wirkungsprinzips der capability constraints führte: So lässt sich mit dem Flugzeug zwar in wenigen Reisestunden ein anderer Kontinent erreichen, der zwischen dem Start- und dem Zielpunkt liegende Raum bleibt für den Reisenden jedoch unzugänglich. Aus der Perspektive der Zeitgeographie führt die Innovation neuer Verkehrstechnologien also keineswegs zu einer „Raumschrumpfung“, sondern – die Analogie von HÄGERSTRAND übernehmend – zur Erweiterung der „Insel“ zu einem „Insel-Archipel“. Die capability constraints limitieren Lage und Ausrichtung des Zeitpfads eines jeden Individuums in ihren maximal erreichbaren Außengrenzen. Eine Darstellung aller theoretisch möglichen Zeitpfade eines Individuums beschreibt demnach ein durch „Raum-Zeit-Wände“ begrenztes Prisma, außerhalb dessen sich der Einzelne nicht bewegen kann und innerhalb dessen er sich bewegen muss:
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„Wherever the location and the duration of stops inside the daily prism, the path of the individual will always form an unbroken line inside the prism without backward loops. He cannot pass a certain point in space-time more than once but he always has to be at some point.“ (HÄGERSTRAND 1970, S. 14)
Coupling Constraints Neben den capability constraints limitieren insbesondere die coupling constraints den alltäglichen Zeitpfad des Individuums. Diese Form der „Zwänge“ beinhaltet, wann, wo und wie lange eine Person mit Anderen räumlich und zeitlich zu interagieren hat. In der Regel stehen die coupling constraints in Abhängigkeit zu Rollenmustern und Erwartungen der signifikanten Anderen an die Ausgestaltung dieser Rollen. So besteht etwa für den Arbeitnehmer die Notwendigkeit zur Anwesenheit am Arbeitsplatz zu bestimmten (in der Regel vertraglich vereinbarten) Uhrzeiten; von Schülern und Lehrern wird erwartet, dass sie sich während der Unterrichtszeit im Klassenraum aufhalten, das Einkaufen von Waren setzt eine Kopräsenz von Verkäufer und Käufern während der Ladenöffnungszeiten voraus, Ämter und öffentliche Einrichtungen sind nur in bestimmten Zeitfenstern zugänglich usw.. Darüber hinaus existiert eine Vielzahl nicht gesetzlich geregelter, aber normativ bestimmter und damit sanktionsbekräftigter Rollenerwartungen, die dem Einzelnen raum-zeitliche Anwesenheitsvorschriften auferlegen. Dies können etwa familiäre Verpflichtungen sein, die mit Aufgaben der Reproduktionsarbeit in Kontext stehen, oder aber „Freizeittermine“, die mit Anderen vereinbart wurden. Gemein ist den coupling constraints, dass sie funktional auf die Realisierung von Situationen der Kopräsenz gerichtet sind. Dieses raumzeitliche Zusammenlaufen von individuellen Zeitpfaden bezeichnet HÄGERSTRAND als „bundle“ (ebd., S. 14ff.). Insbesondere die Notwendigkeit zur sozialen Interaktion in Situationen der Kopräsenz ist dabei die Ursache für die Ausgestaltung alltäglicher Routinen: „Bundles are formed according to various principles. Many follow predetermined time-tables, often the same, weekday after weekday. This principle, which exists in the factory and the school, generally operates over the head of the participating individual. His freedom lies in his choice of work or place of work. After that, he has to obey the choreography of his superior, as long as he wants to maintain this contractual arrangement. [...] And always, families have to adjust to compulsory timetables.“ (HÄGERSTRAND 1970, S. 15) 50
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Damit lassen sich die coupling constraints als Motor des routinisierten Alltagshandelns verstehen. Eine Sonderform der „bundles“ sind die durch Telekommunikationstechnologien unterstützten und damit raumüberbrückenden Interaktionsformen, die keine räumliche, sehr wohl aber eine zeitliche Kopräsenz erfordern: „Telecommunication allows people to form bundles without (or nearly without) loss of time in transportation. [...] It is true that a call may save much time, especially when it concerns the arrangement of future meetings. But at the same time, it is an outstanding instrument for breaking other activities“ (ebd., S. 15). Die Zeitersparnis, die sich durch Telekommunikationstechnologien ergibt, bezieht sich folglich ausschließlich auf eingesparte Zeit, die im Falle von Face-to-Face-Kontakten für räumliche Mobilität aufgewendet werden müsste, nicht jedoch auf Kontaktzeit als solche. Vor diesem Hintergrund scheinen neuere internetbasierte Kommunikationsformen wie Messenger-Systeme oder Online-Chats, die oftmals zur Pflege sozialer Kontakte anstelle persönlicher Treffen Verwendung finden, nicht unbedingt eine „Zeitersparnis“ zu ermöglichen – jedenfalls dann nicht, wenn mit dem Einsatz neuer Kommunikationstechnologien auch die Kontaktfrequenz vergrößert wird oder aber mit der „virtuellen“ Kommunikation durch das Wegfallen von Mimik und Gestik neue Verständigungsbarrieren entstehen, die durch einen zusätzlichen Zeiteinsatz wettgemacht werden müssen.
Authority Constraints Mit der Beschreibung des Raum-Zeit-Prismas des Individuums in Form der capability constraints werden die Außengrenzen des maximal erreichbaren Raumes bestimmt. Diese Außengrenzen werden durch die sozial oder vertraglich reglemetierten Anwesenheitspflichten zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten in Form der coupling constraints weiter eingeschränkt. Neben diesen äußeren Grenzen der Erreichbarkeit ist jedoch die Bewegung des Individuums durch weitere Zugangsbarrieren limitiert, die innerhalb des Prismas liegen und von HÄGERSTRAND als „authority constraints“ bezeichnet werden. Mittels authority constraints geschützte Areale werden als „domains“ bezeichnet (ebd., S. 16f.). Diese nicht-öffentlichen Orte sind durch den Einsatz von Macht geschützt und folglich nicht für jedes Individuum beliebig zugänglich. Zweck von domains ist vornehmlich der Schutz vor dem Zugriff auf Ressourcen durch (hierzu nicht ermächtigte) Dritte. „In time-space, domains appear as cylinders the insides of which are either not accessi51
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ble at all or are accessible only upon invitation or after some kind of payment, ceremony, or fight“ (ebd., S. 16). Während kleinere domains oftmals nur temporär aufrechterhalten und über direkte Formen der Auseinandersetzung mit Konkurrenten verteidigt werden (etwa der Platz in einer Warteschlange, eine Telefonzelle, ein Sessel im Kino oder ein Liegestuhl am Strand), sind größere private domains in der Regel durch Legalität legitimiert (beispielsweise Landnutzungsrechte, Eigentumsrechte an Grund und Boden, Hausrecht in der angemieteten Wohnung etc.). Darüber hinaus lassen sich auch authority constraints identifizieren, die bestimmten sozialen Gruppen den Zugang zu Räumen gewähren, andere Gruppen jedoch ausschließen. So sind die meisten Unternehmen nur für ihre Mitarbeiter zugänglich, und Nationalstaaten reglementieren den Zugang zu ihrem Territorium für Nichtangehörige der betreffenden Nation. Hieraus ergibt sich, dass domains hierarchisiert sind: So erlaubt der Zugang zu einem Staat noch nicht den Eintritt auf jedes Gelände eines beliebigen Unternehmens, und nicht jeder, der Zutritt zu dem Unternehmen erhält, gelangt auch ohne weiteres in das Arbeitszimmer des Vorstandsvorsitzenden. Zudem ist naheliegend, dass die Kontrolle über domains auch mit normativen Verhaltenserwartungen an die Individuen einhergeht, die sich innerhalb der domain aufhalten; dabei werden die Verhaltenserwartungen der umgebenden domain an die in ihr befindlichen (sub-) domains vererbt: „Those who have access to power in a superior domain frequently use this to restrict the set of possible actions which are permitted inside subordinate domains. Sometimes they can also oblige the subordinate domains to remove constraints or to arrange for certain activities against their will“ (ebd., S. 16).
Anwendung und Weiterentwicklung der Zeitgeographie Obgleich es, wie eingangs erörtert, HÄGERSTRANDs Anliegen war, einen wissenschaftlichen Erklärungsansatz für das Verhalten von Menschen in räumlichen und zeitlichen Kontexten sehr unterschiedlichen Maßstabs zu entwickeln, richteten sich die Hauptimpluse, die von der Lund-Schule ausgingen, zunächst auf die Planungspraxis. Hier sind vor allem die Simulations- bzw. Berechnungsmodelle von LENNTORP (1976, 1978) sowie MÅRTENSSON (1978, 1979) zu nennen, von denen entscheidende Impulse für die Optimierung der regionalen Verkehrsplanung ausgingen. Auf der Basis von Zeitallokationsuntersuchungen entwarfen ELLEGÅRD/ HÄGERSTRAND/LENNTORP (1977) mögliche Zukunftsszenarien im Hinblick auf die Verkehrsentwicklung und gaben so Steuerungsemp52
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fehlungen an Planungsinstanzen. Wie KASTER (1979, S. 7) feststellt, war das Konzept der schwedischen Zeitgeographie, „Grundgedanken und Konzepte auch für Politiker und Planer allgemeinverständlich zu formulieren und Entscheidungshilfen für Problemlösungen in der Planungspraxis bereitzustellen“, sehr erfolgreich. Dabei kann der schwedischen Lund-Schule ein interventionistischer Ansatz im Sinne eines „Realexperiments“ beigemessen werden: „HÄGERSTRANDS Forderung nach einer zeit-geographisch orientierten Betrachtung des Menschen und besonders der Ereignisfolgen, die den Tageslauf und das Leben der Menschen bestimmen, entspringt einer humanistischen Einstellung gegenüber dem, was allgemein als ‚Lebensqualität‘ bezeichnet wird, und den Begrenzungen der individuellen Handlungsfreiheiten durch vorhandene oder alternative Technologien, Institutionen, Organisationen und Stadtstrukturen“ (ebd., S. 7f.). Diese Intention seiner Arbeiten bringt auch HÄGERSTRAND selbst zum Ausdruck: „A central aspect of these studies was to compare living conditions in various parts of the country and find out ways of equalising these conditions with respect to access to jobs, education, health care, cultural ressources and recreation. A second reason was my feeling that regional science [...] had too strong a bias towards studies of the purely economic landscape, neglecting other items which make up a livable world.“ (HÄGERSTRAND 1989, S. 1)
Über den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hinaus sollte die Zeitgeographie also insbesondere die Planungspraxis bereichern und ein interventionistisches Ziel verfolgen, das auf die Angleichung der Lebensverhältnisse in verschiedenen Regionen gerichtet ist. Die wissenschaftliche Rezeption und konzeptionelle Weiterentwicklung des zeitgeographischen Ansatzes erfolgte schwerpunktmäßig ab Ende der 1970er Jahre, insbesondere im angelsächsischen Sprachraum, wo ausgehend von CARLSTEIN, PARKES und THRIFT die „Chronogeography“ entwickelt wurde. Als vielleicht bedeutsamste konzeptionelle Erweiterung kann dabei der Eingang subjektiver Einschätzungen des Individuums in die zeitgeographische Modellbildung gelten. Während die klassische Zeitgeographie einen vollständig informierten Menschen unterstellt, der die Realisierung seiner Projekte insbesondere von raumzeitlichen Kopplungschancen und –zwängen abhängig macht, zeigte die Perzeptions- bzw. Wahrnehmungsgeographie eindrücklich, dass eine vollständige Information des Individuums über die Verteilung von Gelegenheiten eine unzulässige Vorannahme darstellt, die sich in den tatsächlich realisierten Zeitpfaden nicht spiegelt. Die faktische Aus53
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gestaltung von alltäglichen Zeitpfaden erfolgt unter den Bedingungen unvollständiger Information. Darüber hinaus ist die Raumwahrnehmung durch subjektive „mental maps“ nicht nur keine lagegetreue Repräsentation der physisch-materiellen Umgebung, sondern ihr Zerrbild – auch das subjektive Zeitempfinden lässt sich nur sehr bedingt mit dem vorherrschenden und durch Uhren messbaren linearen Zeitverständnis in Deckung bringen (vgl. PARKES/THRIFT 1980, S. 33). 3 Dieses relationale Konzept der „empfundenen“ Zeit als Bewertungsmaßstab für Handlungsentscheidungen scheint sich auch empirisch zu bewähren, wie KRAMER (2005) in einer Mobilitätsstudie aufzeigen konnte. Wenngleich HÄGERSTRAND die Subjektivität des Raum- und Zeitempfindens von Individuen keineswegs abstreitet (vgl. HÄGERSTRAND 1989, S. 4), spielt die individuelle Perzeption dennoch für seinen Zugang keine Rolle: „It does not matter if duration is felt in many different ways. As long as the succession of meetings and partings are recorded, individual subjective differences can be averaged out“ (ebd., S. 5). Dieses statistische „Herausmitteln“ individueller Differenzen rief eine Vielzahl von Kritikern der Zeitgeographie auf den Plan, die vor allem bemängelten, dass HÄGERSTRAND entgegen seinem selbst erklärten Anspruch eben nicht das Individuum betrachte. Er vertrete weniger ein subjektzentriertes und individuelles denn ein objektives und standardisiertes Menschenbild (vgl. SCHEINER 2000, S. 34). Der Einzelne bekommt in der Konzeption der klassischen Zeitgeographie keine Handlungsfreiheit bezüglich seiner Mobilitätsentscheidungen zugebilligt, sondern reagiert gewissermaßen nur auf die raum-zeitlichen Verhaltenszumutungen der strukturierenden Umwelt: „Das constraints-Denken reduziert die Bedeutung des overten, sichtbaren Verhaltens auf die Enge von Verhaltensspielräumen und wird damit mechanistisch. Die Bedeutungsebene des Handelns aus der Sicht des Handelnden bleibt unbeachtet“ (SCHEINER 2000, S. 42). So wird die Agitation von Individuen im Rahmen von Restriktionen und Erwartungserwartungen interpretiert. Raum-zeitliches Verhalten wird damit als bloße Reaktion auf gegebene Strukturen, Erwartungen und Normen verstanden. Die mangelnde Berücksichtigung individueller Wahrnehmungen und Handlungspräferenzen führte zu einem deutlichen Bedeutungsrückgang der klassischen Zeitgeographie, deren große Stärke jedoch der modellhafte und damit einfache Zugriff auf die raum-zeitliche Organisation der 3
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Einen ähnlichen Erweiterungsvorschlag brachte KLINGBEIL (1980) in die deutschsprachige Geographie ein, indem er einen „objektiv vorgegebenen Handlungsspielraum“ einerseits sowie einen „wahrgenommenen Handlungsspielraum“ andererseits voneinander unterschied (vgl. hierzu Kapitel 2.1.2).
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Gesellschaft ist. Gleichzeitig bedeuteten die ab den 1980er Jahren aufkommenden individualistischen und perzeptionsgeographischen Zugriffe auf die raum-zeitliche Alltagsorganisation eine ungleich höhere Komplexität des empirischen Forschungsaufwandes. Ein weiterer Grund für den Bedeutungsverlust der Zeitgeographie ist in der Regionalentwicklung selbst, vor allem der Verkehrserschließung zu sehen. So ließ gegen Ende der 1970er Jahre die mittlerweile recht ubiquitär erreichte MIV-Versorgung sowie der inzwischen massiv erfolgte Ausbau der Verkehrswege die Relevanz der Constraints-Ansätze für die Planungspraxis als rückläufig erscheinen: „Mit der Entwicklung schneller und frei verfügbarer Transportmittel ist die räumliche Entfernung als Restriktion der individuellen Handlungsfreiheit immer weniger spürbar geworden. Der Vorteil des Autos liegt ja beispielsweise in erster Linie darin, dass der Fahrer seine Projekte in der beabsichtigen Reihenfolge durchführen kann und nicht durch zeitliche Engpässe diese Reihenfolge unterbrechen oder umstellen muss, was ja zum Abbruch von Projekten führen kann. So hat man in der Planung erkennen müssen, dass auch Fahrpreisermäßigungen (Nulltarif) nur wenige Autofahrer auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen lassen.“ (KASTER 1979, S. 31)
Andererseits sind insbesondere die intensiv durch Verkehrswege erschlossenen Innenstädte zumindest während der sogenannten Stoßzeiten durch die unbeabsichtigten Folgen der hohen MIV-Dichte in Form von Staus gekennzeichnet. Die Randbedinungen für einen auf constraints beruhenden Planungsansatz sind damit zwar nicht außer Kraft gesetzt, gewinnen aber an Komplexität, da das Ausmaß an Restriktionen tageszeitlichen Rhythmusschwankungen unterworfen ist (vgl. MILLER 2005). Insbesondere seiner Einfachheit verdankte der Constraints-Ansatz aber in den 1970er Jahren seinen Erfolg als Entscheidungsinstrument für die Stadt- und Regionalplanung.
Die Bedeutung der Zeitgeographie für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung Wenngleich der Constraints-Ansatz den sozialen Interaktionsrahmen der Individuen nahezu außer Acht lässt und sich auf die Analyse der limitierenden Zwänge konzentriert, bietet er einen Zugang zur Interpretation raum-zeitlicher Bindungen individuellen Handelns und erweist sich als anschlussfähig zu empirischen Zugängen (vgl. z. B. KRAMER 2005; SCHEINER 2000) sowie zur soziologischen Theoriebildung, ins55
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besondere der Theorie der Strukturierung von Anthony GIDDENS: „Die Zeitgeographie befasst sich mit den Zwängen, die Einfluss nehmen auf die Gestaltung der Routinen des täglichen Lebens, und teilt mit der Theorie der Strukturierung die Betonung der Bedeutung des praktischen Charakters täglicher Aktivitäten unter Bedingungen von Kopräsenz für die Konstitution sozialen Verhaltens“ (GIDDENS 1997, S. 168). GIDDENS versteht Raum und Zeit im Gegensatz zur Mehrzahl soziologischer Zugänge nicht bloß als Randbedingungen des Handelns, sondern als zentrale Ordnungsdimensionen von Gesellschaft (vgl. hierzu auch LÖW 2001, S. 36ff.). Diese Ordnungsdimension manifestiert sich im Begriff der „Kontextualität“: „Zusammenkünfte sind Versammlungen von zwei oder mehr Personen in Kontexten der Kopräsenz. Mit dem Begriff ‚Kontext‘ [...] meine ich jene Raum-Zeit-‚Segmente‘ oder Raum-Zeit-‚Ausschnitte‘, in denen Zusammenkünfte stattfinden. [...] Zusammenkünfte setzen die gegenseitige reflexive Steuerung des Verhaltens in und durch die Kopräsenz voraus. Für diese Steuerungsprozesse ist die Kontextualität von Zusammenkünften in besonders inniger und grundlegender Weise konstitutiv. Der Kontext umschließt das physische Umfeld der Interaktion, stellt aber nicht nur etwas dar, ‚worin‘ sich die Interaktion abspielt. Routinemäßig stützen sich Handelnde bei der Konstitution von Kommunikation auf Aspekte des Kontextes, etwa die zeitliche Ordnung von Gesten und Gesprächen.“ (GIDDENS 1997, S. 123)
Dabei vermitteln Raum und Zeit gewissermaßen zwischen Handlung und Struktur. Durch den raum-zeitlichen Kontext, der als Rahmen jeder Handlung fungiert, werden einerseits Handlungsmöglichkeiten strukturiert, andererseits aber im Handeln auch Struktur produziert. Die interaktive Überlagerung von Akteuren, physischen Strukturen und den ihnen durch Kontext zugeschriebenen sozialen Bedeutungen bezeichnet GIDDENS als „locales“: „In Orten (‚locales‘) wird der Raum als Bezugsrahmen für Interaktion verfügbar gemacht, während umgekehrt diese Interaktionsbezugsrahmen für die Spezifizierung der Kontextualität des Raumes verantwortlich sind“ (ebd., S. 170). Im „locale“ ist damit die Dichotomisierung zwischen physisch-materieller Welt der Dinge und der sozialen Welt aufgehoben (vgl. SCHEINER 2000, S. 95). Eine Anschlussfähigkeit des Konzepts der Orte/locales an die bundles/Stationen bei HÄGERSTRAND ist auch an dieser Stelle offensichtlich. Allerdings macht GIDDENS deutlich, dass der HÄGERSTRAND’sche Zugang einige konzeptionelle Unzulänglichkeiten aufweist, die sich auf vier Haupteinwände zuspitzen lassen (vgl. GIDDENS 1997, S. 168ff.). 56
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Der erste Kritikpunkt bezieht sich auf die kaum ausgearbeitete Akteurskonzeption der Zeitgeographie. Die Individuen verfolgen zwar „Projekte“, denen (zweckrationale) handlungsleitende Motivationen vorausgegangen sind („Entwürfe“). Der normative Rahmen dieser Projekte wird aber von HÄGERSTRAND als gegeben hingenommen und nicht weiter hinterfragt. „Er (HÄGERSTRAND, T.P.) neigt [...] dazu, die ‚Individuen‘ als unabhängig von den Interaktionsrahmen, mit denen sie in ihrem Alltagsleben konfrontiert sind, konstituiert zu behandeln“ (GIDDENS 1997, S. 168). Damit wird zweitens der „Dualismus von Handlung und Struktur“ wiederholt: Die aufgesuchten Gelegenheiten und ihre topologische Anordnung wird von HÄGERSTRAND als gegeben und letztlich als unveränderlich verstanden. Das Zustandekommen sozialer Institutionen sowie ihrer infrastrukturellen Ausgestaltung entzieht sich hierdurch einem analytischen Zugriff unter Verwendung zeitgeographischer Methoden. Folglich bleibt auch der Blick auf den sozialen sowie den sozialräumlichen Wandel verstellt. Drittens betont GIDDENS, dass die Analyse der Strukturen als Zwänge (constraints) eine Verkürzung darstellt. So können alle constraints ebenso gut als handlungsermöglichende Spielräume konzipiert werden. Der vierte Kritikpunkt GIDDENS an der Zeitgeographie bezieht sich auf die unzureichend ausgearbeitete Machttheorie, die in den authority constraints nur anklingt, aber nicht weiter betrachtet wird. Von feministischer Seite wird ebenfalls die mangelnde Berücksichtigung räumlicher Manifestationen bestehender Machtungleichheit im zeitgeographischen Zugang HÄGERSTRANDs beanstandet (vgl. ROSE 1993). So lassen sich „authority constraints“ häufig auch auf sexistisch oder rassistisch motivierte räumliche Hegemonien zurückführen. Das Verwehren von Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten domains ist somit als Technik der Machtausübung zu verstehen, die gegen benachteiligte Gruppen gezielt eingesetzt wird. Für die vorliegende Arbeit, die ja auf den sozialen sowie den sozialräumlichen Wandel fokussiert ist, sind aber insbesondere die ersten beiden von GIDDENS genannten Kritikpunkte von Bedeutung. Ein Ergänzungsbedarf der klassischen Zeitgeographie liegt hier auf der Hand. Ferner interessieren räumliche Zugangsbarrieren hinsichtlich ihrer Wirkmächtigkeit auf die Herausbildung und Reproduktion sozialräumlicher Hegemonie. So lassen sich in der spätmodernen Stadt Aneignungsformen von zuvor öffentlichen Räumen beobachten, etwa wenn bestimmte Lebensstilgruppen eine Dominanz in einem Quartier ausüben können und in der Lage sind, die von ihnen erwünschte Nutzungsform gegen konkurrierende Interessen durchzusetzen. Am Beispiel von 57
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Quartieren in Hamburg wird dieser Gedanke im weiteren Verlauf der Arbeit wieder aufgenommen und weiter ausgeführt. Dieser Aspekt, der die Produktion und Aneignung von Räumen durch Handlungen anspricht, führt GIDDENS selbst jedoch nur wenig aus. Zwar sind auch Handlungen für GIDDENS in Raum und Zeit verortet, die Stärke der Zeitgeographie im Hinblick auf die Theorie der Strukturierung sieht er aber in der Verbindung von Sozial- und Systemintegration: „Die Sozialintegration hat mit der Interaktion in Kontexten der Kopräsenz zu tun. Die Verbindungen zwischen Sozial- und Systemintegration kann man zur Darstellung bringen, wenn man die Regionalisierungsweisen untersucht, welche die Raum-Zeit-Wege, denen die Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft in ihren alltäglichen Aktivitäten folgen, lenken und von ihnen gelenkt werden. Diese Wege sind weitgehend von grundlegenden institutionellen Parametern der entsprechenden sozialen Systeme beeinflusst und reproduzieren sie gleichermaßen.“ (GIDDENS 1997, S. 196)
Raum und Zeit sind für GIDDENS also konstituierend für die moderne Vergesellschaftung, zumindest von westlich-kapitalistischen Systemen, die auf einer Vermarktung von Raum bzw. Verfügungsrechten über den Raum (etwa Eigentumsrechte) sowie auf einer Vermarktung von Zeit, beispielsweise in Form von Arbeitszeiten, basieren. Die Voraussetzung hierfür ist die Messbarkeit von Raum und Zeit in stetigen und damit teilbaren Einheiten. Als Beispiel mag hier die Trennung von Wohn- und Arbeitsort dienen, die mit einer Trennung von Freizeit und Arbeitszeit zusammengedacht werden muss. Diese Separierung von raum-zeitlichen „locales“ steht in Beziehung zu den sozialen Rollen, nach denen die Individuen in den unterschiedlichen Kontexten handeln – einerseits limitieren sie die Handlungsmöglichkeiten in Abhängigkeit des Kontextes, andererseits ermöglichen sie Handlungsspielräume, die in diesen Kontexten als sozial legitim gelten. GIDDENS bezeichnet diese Kontextualisierung als „time-space zoning“. Dabei kommt der Frage nach sozialer Kontrolle eine besondere Bedeutung zu: Durch raum-zeitlich bestimmte Kontexte und den mit ihnen verbundenen Handlungsspielräumen ist der Rahmen für soziale Kontrolle bestimmt. Besonders offensichtlich wird dies etwa bei Stundenplänen für Schüler oder Zeitplänen am Arbeitsplatz. Zur zeitlichen Kontrolle kommt im Regelfall die räumliche Kontrolle hinzu, was auch in der Stratifikation der sozialen Positionen seinen Ausdruck findet. So ist das Ausüben eines statushohen Berufs in der Regel mit einer freieren Einteilung der Arbeitszeit und der Verfügung über ein 58
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eigenes Büro verbunden, sodass mit dieser größeren individuellen Verfügung über Raum und Zeit ein geringeres Maß an sozialer Kontrolle durch Andere einhergeht. Vor dem Hintergrund eines Ausgangspunktes dieser Arbeit, der zunehmenden Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt in der Spätmoderne, stellt sich die Frage, welche Veränderungen sozialer Normen sowie individueller Rollensettings zu erwarten sind, wenn die Bedeutung der „time-space zonings“ durch die raum-zeitliche Entgrenzung an Trennschärfe verliert und die Lebensbereiche stärker ineinander verwoben sind. So kann eine auch normativ bestimmte Kolonisierung der Lebenswelt angenommen werden, in der Handlungsweisen und Logiken, die zuvor der Arbeitswelt vorbehalten waren, nun in der gesamten Lebenswelt zur Anwendung gelangen. Dieser Prozess wurde von JURCZYK (2007, S. 189ff.) als „Verarbeitlichung des Alltags“ beschrieben. Gemeint ist „eine Entgrenzung und ein partielles Aufeinanderübergreifen von Erwerb, Bildung, Freizeit, Partnerschaft in räumlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht“ (ebd., S. 189). Hieraus lassen sich einige theoretische Annahmen bezüglich der raum-zeitlichen Implikationen dieser Veränderungen für das Individuum vor dem Hintergrund der für die Spätmoderne angenommenen Tendenzen anstellen, die die Bedeutung raum-zeitlicher Gestaltungsspielräume für den Alltag von Individuen verdeutlichen und zudem die Anschlussfähigkeit der Zeitgeographie an sozialwissenschaftliche Theoriebildung unterstreichen sollen. Die handlungsbeschränkenden (HÄGERSTRAND) sowie zugleich handlungsermöglichenden (GIDDENS) constraints können als „negative Kapitalform“ interpretiert werden: Die Möglichkeiten des Einzelnen sind durch die Zwänge definiert, die ihm innerhalb seiner Alltagsgestaltung auferlegt sind. BOURDIEU (1983) zufolge sind die Kapitalformen (ökonomisches Kapital, soziales Kapital, kulturelles Kapital) im begrenzten Maße ineinander transferierbar. Gleichermaßen kann aus den Ausführungen zu den verschiedenen contraints-Typen angenommen werden, dass sich constraints durch Kapitaleinsatz minimieren lassen. Besonders offensichtlich wird dies bei den coupling constraints: Individuen, die über ein hohes (ökonomisches sowie kulturelles) Kapitalvolumen verfügen, haben in der Regel eher die Möglichkeit einen Beruf zu ergreifen, der ihnen eine flexible Arbeitszeitgestaltung erlaubt. Wie bereits darstellt, sind statushohe Berufsgruppen in der Regel auch mit weniger zeitlichen Kontrollinstanzen belegt (z.B. fehlen zumeist Zeiterfassungssysteme). Selbst Fürsorgepflichten, wie zum Beispiel die Versorgung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen, lassen sich durch den Einsatz von ökonomischem Kapital zumindest in einem 59
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gewissen Rahmen durch personenbezogene Dienstleistungen kompensieren. Besonders offensichtlich ist der Vorteil eines hohen Kapitalvolumens, wenn es um die Reduzierung von authority constraints geht. So haben statusniedrige Gruppen deutlich mehr Zugangsbarrieren zu teilprivaten Orten wie kulturellen Veranstaltungen, Shopping-Malls oder Sport- bzw. Freizeiteinrichtungen, zumindest immer dann, wenn der Zugang zu diesen Orten das Zahlen von Eintrittsgeldern oder normkonformes Auftreten voraussetzt. Selbst capability constraints können durch Kapitaleinsatz in ihrer alltagsstrukturierenden Bedeutung vermindert werden: Bei einsetzender Müdigkeit einen adäquaten Schlafplatz aufzusuchen ist (zumindest in Städten) durch ein umfangreiches Hotelangebot gegeben, was allerdings die Verfügbarkeit und den Einsatz von ökonomischem Kapital voraussetzt. Ein großes und räumlich breitgestreutes soziales Netzwerk (soziales Kapital) bietet gleichsam Ansatzpunkte für die prinzipielle Ausdehnung von Zeitpfaden, wenn Übernachtungen bei guten Bekannten in anderen Städten die Zahl der potentiellen Stationen vergrößern. Diese hier nur angedeuteten Anknüpfungspunkte verdeutlichen, dass zeitgeographische Bindungen des Einzelnen – und zwar nicht nur in Bezug auf die Erwerbsarbeit, sondern auf nahezu alle Lebensbereiche bezogen – nicht unabhängig von der Kapitalverfügbarkeit zu sehen sind. Dies verweist auf eine Dimension sozialer Ungleichheit, die ihre Ursache in der unterschiedlichen Verfügung über (frei gestaltbare) Zeit hat. Die Erkenntnis, dass die freie Verfügung über Zeit eine Dimension sozialer Ungleichheit darstellt, ist zwar keineswegs neu (vgl. etwa SCHÄUBLE 1985; MÜLLER-WICHMANN 1984), erlangt aber vor dem Hintergrund der Transferierbarkeit auch von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital in raum-zeitliche Freiheitsgrade eine besondere Bedeutung: Der planerische Anspruch der Zeitgeographie, eine Zeitgerechtigkeit durch eine Optimierung der Zugänglichkeit zu infrastrukturellen Gelegenheiten zu erwirken, ist offensichtlich schon aufgrund der ungleichen Verteilung von Kapital kaum einzulösen. 4 Es besteht Grund zu der Annahme, dass die flexiblere Gestaltbarkeit von Arbeitszeiten in der Spätmoderne zu einer tendenziellen Nivellierung der sozialen Ungleichheit, die über Zeitverfügung vermittelt ist, führt. So ermöglicht etwa eine flexible Einteilung der Arbeitszeiten die
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Dennoch sollte das Herstellen von Zeitgerechtigkeit (wie auch von sozialer Gerechtigkeit im Allgemeinen) ein planerisches Leitziel sein und bleiben.
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Vergrößerung des Raum-Zeit-Prismas – und das unabhängig von dem individuell zu Verfügung stehenden Kapitalvolumen. Es ist zunächst naheliegend anzunehmen, dass coupling constraints in Zeiten erhöhter Flexibilisierung (z. B. der Arbeitszeiten) an Bedeutung verlieren, da die Menge an frei disponibler Zeit ja größer wird. Die Verhaltenszumutungen an den Einzelnen, zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten zu sein, dürften durch Flexibilisierungstendenzen genauso wie durch die Individualisierung und den damit einhergehenden größeren Freiheitsgraden in der Ausgestaltung des eigenen Lebens abnehmen. Die hohe Wirkmächtigkeit von coupling constraints ließe sich damit einem Bild der fordistischen Organisation der Gesellschaft zuordnen, deren zentrales Integrationsmoment die (räumlich und zeitlich synchronisierte) Erwerbsarbeit sowie die als „Restgröße“ zur Arbeitszeit zu begreifende Freizeit ist, worauf etwa HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL (2008) hinweisen: „Das Zeitregime des Fordismus basiert auf einer weitgehenden Standardisierung der gesellschaftlichen Zeitorganisation, wobei den fordistischen Großbetrieben die Rolle von Taktgebern zukam. Eine spezifische Erscheinungsform der normbildenden Kraft großbetrieblicher Zeitordnung war die Herausbildung des gesellschaftlichen Leitbildes des Normalarbeitsverhältnisses [...]“ (ebd., S. 158). Eine Flexibilisierung bzw. Entstandardisierung von Arbeitszeiten wirkt damit dem „Korsett der constraints“ entgegen – jedenfalls dann, wenn mit der Flexibilisierung tatsächlich eine höhere Zeitautonomie für den Einzelnen verbunden ist und nicht lediglich eine „Zwangsflexibilisierung“ eine Entstandardisierung des Normalarbeitstages verlangt, ohne dass damit eine raum-zeitliche Gestaltungsfreiheit einherginge. Ohne diese Überlegungen an dieser Stelle zu weit auszuführen oder empirische Ergebnisse vorwegzunehmen, kann hier die Anschlussfähigkeit der Zeitgeographie an aktuelle sozialwissenschaftliche Fragestellungen festgehalten werden. In den folgenden Kapiteln werden diese Anknüpfungspunkte im konkreten Kontext dieser Arbeit immer wieder aufgenommen werden.
Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit Der klassische zeitgeographische Forschungszugang der Lund-Schule hat weniger die Erklärung der tatsächlichen Ausgestaltung der Zeitpfade zum Ziel, sondern betrachtet durch den Constraints-Ansatz zentral die Handlungsmöglichkeiten des Individuums. Mit der Konzentration auf coupling constraints, capability constraints und authority constraints sind bedeutende Handlungsrahmen erfasst, was einen wichtigen Beitrag 61
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zum Verständnis der raum-zeitlichen Alltagsorganisation liefert. Dennoch bleibt die Constraints-Perspektive zu stark auf die handlungslimitierenden Rahmenbedingungen fokussiert und erklärt das raumzeitliche Verhalten von Individuen nur unzureichend. Die tatsächliche Selektion und damit das Aufsuchen konkreter Stationen im Tagesverlauf unterliegt jedoch, wie im Folgenden gezeigt wird, einer ganzen Reihe weiterer Einflussfaktoren, die im klassischen zeitgeographischen Zugriff keine Berücksichtigung finden. So kann die stark auf Modelle fokussierte Zeitgeographie nicht erklären, warum aus einer Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten tatsächlich eine ganz bestimmte ausgewählt und durchgeführt wird. Folglich wird im empirischen Teil dieser Arbeit zwar insofern auf die „klassische“ Zeitgeographie der Lund-Schule rekursiert, als dass die limitierenden und ermöglichenden strukturierenden Rahmenbedingungen des raum-zeitlichen Handelns im theoretischen Zugriff mitbedacht werden. Eine dem behavioristischen Denken verhaftete zeitgeographische Modellierung im engeren Sinne würde aber den individuellen Handlungsbezügen und Handlungen zugrunde liegenden Motiven nicht gerecht werden. Für die vorliegende Arbeit ist die Zeitgeographie insbesondere im Hinblick auf drei Aspekte von Bedeutung: Erstens bietet die Zeitgeographie, wie durch GIDDENS gezeigt wurde, einen Ansatzpunkt, die individuelle Akteursebene mit der Strukturebene in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht zu verbinden. So kann die Dichotomie von Handlung und Struktur überwunden werden. Ferner kommt in der Berücksichtigung der constraints die handlungslimitierende (bzw. in der Konzeption von GIDDENS auch die handlungsermöglichende) raum-zeitliche Rahmung des Alltags zum Ausdruck. Diese Perspektive bietet einen Ausgangspunkt für die sozialwissenschaftliche bzw. sozialgeographische Theoriebildung und erscheint anschlussfähig für weitere Perspektiven der Gesellschaftsanalyse, etwa der Analyse von Lebensstilen im raum-zeitlichen Kontext. Im Rahmen der Analyse spätmoderner Vergesellschaftung ist zu diskutieren, welche constraints in der vermeintlich raum-zeitlich „entankerten“ Spätmoderne persistent sind bzw. unter welchen Bedingungen eine Wandlung erkennbar wird. Ferner ist zu fragen, welche Dimensionen der heute relevanten sozialen Stratifikation mit welchen raum-zeitlichen Handlungsspielräumen verbunden sind. Zweitens stellt die Zeitgeographie einen analytischen sowie terminologischen Apparat bereit, der einen adäquaten empirischen Zugriff auf den gewählten Forschungsgegenstand erlaubt. Hierauf wird in Kapitel 3.2 bei der Entwicklung einer geeigneten Regionalisierungsmethode für raum-zeitliche Muster in der Stadt Bezug genommen. 62
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Drittens sollen zur Analyse der raum-zeitlichen Alltagsorganisation von Bewohnern verschiedener Stadtquartiere in Hamburg individuelle Zeitpfade erhoben werden. Um aber nicht auf der Ebene der singulären Beschreibung von Zeitpfaden von Individuen zu verbleiben, die HÄGERSTRAND ja berechtigter Weise nicht als zielführend zur Gesellschaftsanalyse verstanden hat, wird hierauf aufbauend ein Aggregationsverfahren entwickelt (vgl. Kapitel 3.3).
2.1.2 Aktionsraumforschung Während der Analysefokus der Zeitgeographie auf die in den constraints formulierten handlungslimitierenden Rahmenbedingungen konzentriert ist, betonen die aktionsräumlichen Ansätze die tatsächlich realisierten raum-zeitlichen Aktivitätsmuster von Personen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Entwicklungen dieser Forschungsrichtung zusammenfassend dargestellt und mit Blick auf ihren Beitrag zur Analyse der raum-zeitlichen Alltagsorganisation diskutiert werden.
Klassische Ansätze der Aktionsraumforschung Das Aufkommen aktionsräumlicher Forschungsarbeiten fällt wissenschaftsgeschichtlich mit den Veränderungen der sozialen und sozialräumlichen Lebensbedingungen in den urbanen Arealen westlicher Industrienationen zusammen. Bedingt durch die allgemeine Wohlfahrtsentwicklung, die später von BECK (1986) als „Fahrstuhleffekt“ beschrieben wurde, erfolgte spätestens ab Ende der 1960er Jahre eine zunehmend flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Leistungen wie Flugreisen sowie privaten PKW, die eine Ausweitung und Ausdifferenzierung von Mobilitätsmustern nach sich zog. Zeitlich parallel zu den gestiegenen Mobilitätschancen ergab sich eine größere zeitliche Disponibilität weiter Teile der Bevölkerung, insbesondere durch die gewerkschaftlich errungenen Arbeitszeitverkürzungen. So wurde die Arbeitszeit für Arbeiter von 48 Stunden (1956) auf 40 Stunden (1975) pro Woche herabgesetzt, wodurch der Samstag in der Regel arbeitsfrei wurde. Auch wenn die später erkämpfte 35-Stunden-Woche inzwischen wieder zurückgenommen wurde, sind die 1970er und die frühen 1980er Jahre dadurch gekennzeichnet, dass größere zeitliche Freiheiten eine Ausweitung der Freizeitmobilität überhaupt erst ermöglichten. Zusätzlich erfuhren die Städte durch die Wohnsuburbanisierungswelle der 1960er und 1970er Jahre eine funktionale Differenzierung in 63
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ihren Teilgebieten. Diese räumliche Entmischung zog gleichfalls gestiegene Mobilitätsanforderungen nach sich, da die relevanten Gelegenheitsstrukturen oftmals nicht in unmittelbarer Nähe der funktional homogenen Wohngebiete zu finden waren. Befördert wurde diese funktionsräumliche Differenzierung des Stadtgebietes auch durch das stadtplanerische Leitbild der auto- bzw. verkehrsgerechten Stadt, das bis zur Mitte der 1970er Jahre eine Wirkmächtigkeit behielt. Als unmittelbare Folge dieser Entwicklung hin zu dispersen Stadtstrukturen sieht FRIEDRICHS (1980, S. 302ff.) die Tendenz zu selektivem Raumverhalten an. Diese sozialen und sozialräumlichen Veränderungen induzierten in den 1970er und 1980er Jahren steigende Mobilitätsnotwendigkeiten und -bedürfnisse, deren sich die sozialwissenschaftliche und sozialgeographische Forschung mit der Aktionsraumforschung annahm. Neben der Frage nach der planerischen Herstellung eines möglichst ubiquitären Zugangs zu den Gelegenheiten vor Ort ist die Aktionsraumforschung bestrebt, die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen zu klären, die für die Ausgestaltung alltäglicher Mobilität relevant sind. Der Mobilitätsakt wird damit als Folge von notwendigen Handlungen begriffen, im Aktionsraum bildet sich das alltägliche „GeographieMachen“ von Menschen ab. Diese Vorstellung vom „Raum als Registrierplatte“ menschlicher Handlungen steht in Tradition des sozialgeographischen Denkens von Wolfgang HARTKE (1948). HARTKE verstand „Werkstatt und Ruhestatt“ (also Arbeits- und Wohnort) als „organische Pole des alltäglichen Lebens“ (ebd., S. 174), zwischen denen es gelte, die räumlichen Beziehungen zu optimieren. HARTKE, der einen Paradigmenwechsel der deutschsprachigen Sozialgeographie herbeiführte, indem er die Aufgabe der Geographie nicht in der Beschreibung der (Kultur-)Landschaft sah, sondern räumliche Phänomene als Folge menschlichen Handelns zu erklären versuchte, verband mit der Analyse dieser „Aktionskreise“ explizit einen engagierten Anspruch: Indem die Geographie die räumlichen Auswirkungen des menschlichen Handelns erforscht, gibt sie der Politik Informationen an die Hand, wie durch (raum-)planerische Steuerung eine Optimierung der räumlichen Lebensbedingungen erreicht werden kann. Damit ist der Zugang HARTKEs auf eine planerische Veränderung ausgerichtet und kann als Vorläufer der späteren „action research“ sowie der heutigen „Realexperimente“ verstanden werden. Besonders deutlich stellt KLINGBEIL (1978) dieses (planerisch-intervenierende) Hauptziel der Aktionsraumforschung heraus: „Das Interesse und die Motivation für die aktionsräumliche Forschung ist grundsätzlich von zweierlei Art: (1.) die Verbesserung von bestehenden Theorien über die Bewegungen
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im Raum und ihre Umsetzung in Modelle, (2.) ihre Verwertungsmöglichkeit für die Gestaltung von Siedlungsstrukturen“ (ebd., S. 66). Bei dem Anspruch, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in planerische Optimierung zu überführen, um eine „bessere“ oder „gerechtere“ Alltagswelt zu ermöglichen, ist eine deutliche Parallele zum Planungsfokus der schwedischen Zeitgeographie zu erkennen. Während jedoch die Lund-Schule – sowie gleichfalls die US-amerikanischen Forschungsansätze dieser Zeit (vgl. stellvertretend CHAPIN 1968; 1974) – die räumlich-strukturellen Rahmenbedingungen des routinisierten Alltagshandelns zu klären versuchte, konzentrierte sich die deutschsprachige Aktionsraumforschung stärker auf die Erfassung der raumzeitlichen Aktivitäten von (sozialgeographischen) Gruppen. Auch bei diesem Zugang ist der Einfluss HARTKEs zu erkennen, der für unterschiedliche Berufsgruppen (die als „Sozialgruppen“ bezeichnet werden) verschiedene aktionsräumliche Reichweiten annahm (vgl. HARTKE 1959, S. 427ff.). So wurden in der Aktionsraumforschung insbesondere die mit der Zuschreibung sozialer Rollen verbundenen Erwartungen an raum-zeitliche Aktivitäten von Individuen als gruppenkonstituierend gedeutet, weniger (wie in der Zeitgeographie) die Erreichbarkeit der räumlichen Gelegenheiten selbst. Dies wird etwa bei DÜRR (1972) deutlich, der unter einem Aktionsraum die „Menge der Orte, die eine Person (Gruppe) innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts zur Ausübung bestimmter Aktivitäten aufsucht, und deren zeitliche wie räumliche Relationen“ versteht (ebd., S. 72). Wenngleich DÜRR später der räumlichen Perspektive innerhalb der Aktionsraumforschung eine größere Bedeutung beimisst als der zeitlichen Perspektive (vgl. DÜRR 1979, S. 9), versteht er die aktionsräumliche Forschungsperspektive explizit als Schnittstelle von Mensch und Gruppe sowie Raum und Zeit. In anderen Aktionsraumzugängen sind Gruppenkonzepte dagegen zunächst nur nachrangig von Interesse. Für KLINGBEIL (1978) stellt „der Aktionsraum einer Person [...] ein Aggregat von einzelnen Tätigkeitsarten dar, dessen Größe sich aus der gewählten zeitlichen und räumlichen Abgrenzung ergibt. Er [der Aktionsraum, (T.P.)] ist daher in jeder seiner möglichen Definitionen ein zeiträumlicher Begriff“ (ebd., S. 117, Hervorhebung im Original). KLINGBEIL versteht den Aktionsraum also – im Gegensatz zu DÜRR (1972) – nicht als Menge aller genutzten Orte, sondern hebt die in Raum und Zeit eingebetteten Tätigkeiten selbst in den Vordergrund. Hierdurch werden die Kopplungen von Aktivitäten stärker betont, die entstehen, wenn zwei oder mehr Tätigkeiten an demselben Standort ausgeführt werden. KLINGBEIL (1978) betont auch den routinisierten Charakter von Tätigkeiten: „Die aktionsräumliche Analyse erstrebt tendenziell, dass der erhobene Aktionsraum alle sich wieder65
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holenden Tätigkeiten einer Person [...] in ihrer zeiträumlichen Verortung umschließt“ (ebd., S. 117). Paradoxerweise betont der Geograph KLINGBEIL die Bedeutung von routinisierten Tätigkeiten, während die soziologische Aktionsraumforschung (SAS 1979; DANGSCHAT et al. 1980; FRIEDRICHS 1983) wesentlich stärker auf den Raum als Betrachtungsgegenstand gerichtet ist: „Unter dem Aktionsraum einer Person verstehen wir die Menge jener Orte, die die Person innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes zur Ausübung bestimmter Aktivitäten aufsucht [...]. Trägt man die Orte in eine Landkarte ein, so erhält man eine Punktwolke; wenn man deren äußerste Punkte durch eine Linie miteinander verbindet, so ergibt sich eine Fläche, die von einigen Autoren ebenfalls als ‚Aktionsraum‘ der Person bezeichnet wird“ (DANGSCHAT et al. 1980, S. 4). 5 In diesem deutlicher auf ein empirisches Programm gerichteten Zugang wird die Routinisierung von Tätigkeiten nicht explizit hervorgehoben, sondern nur als Voraussetzung mitgedacht. Dennoch ist mit der soziologischen Aktionsraumforschung ebenfalls ein recht komplexer Erklärungsanspruch über den Zusammenhang der sozialen und räumlichen Organisation der Gesellschaft verbunden, der auch in der „klassischen Frage“ der Aktionsraumforschung zum Tragen kommt: „Wer tut was wo, wie lange und wie oft?“ (SAS 1979, S. 11). 6 Um nicht auf der individuellen (Mikro-)Ebene zu verharren und sich in einer nicht zu bewältigenden Zahl individueller Wegeketten (vgl. Abbildung 3, Seite 47) zu verlieren, liegt der Schlüssel zur Analyse von Aktionsräumen bei den meisten Studien in der Bildung hinreichend homogener Personengruppen, die ähnliche raum-zeitliche Aktivitätsmuster aufweisen. Ein früher Vorschlag in der deutschsprachigen Aktionsraumforschung zur Bildung geeigneter Personenkategorien wurde von KUTTER (1972) vorgebracht. Ausgehend von der Überlegung, dass Personen in Abhängigkeit ihrer Rolle, die sich durch Merkmale wie Stellung im Erwerbsprozess, Geschlecht oder PKWVerfügbarkeit herleiten lässt, unterschiedliche Aktivitätsmuster aufweisen, lassen sich raum-zeitlich verhaltenshomogene Gruppen ausweisen. Die Ausgestaltung des konkreten Aktionsraums ist für KUTTER eine Folge aus diesen gruppenspezifischen Aktivitätsmustern einerseits sowie der räumlichen Verteilung der Gelegenheiten (Raumstruktur, „Sachsystem“) andererseits.
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Zum Regionalisierungsverfahren von Aktionsräumen, das für den empirischen Teil der vorliegenden Arbeit gewählt wird, vgl. Kapitel 3.3. Ähnlich DÜRR (1979): „Wer übt wo und wann und wie oft seine außerhäuslichen Aktivitäten aus, und weshalb verhält er sich so?“ (ebd., S. 6).
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Für diese recht pragmatische, „rollentheoretische“ Abgrenzung von Gruppen ist KUTTER von verschiedener Seite kritisiert worden (vgl. zur zusammenfassenden Kritik an KUTTERs Zugang: SCHEINER 2000, 35ff.). Während soziale Gruppen durch Interaktions- sowie Schließungsprozesse gekennzeichnet sind, arbeiten viele in der Aktionsraumforschung gebräuchliche Gruppenkonzepte lediglich mit Merkmalsgruppen (etwa Hausfrauen, Rentner, Schüler etc.), innerhalb deren weder Gruppenschließungsprozesse noch verstärkte Binneninteraktion stattfinden. Personen mit gleichen (statistischen) Merkmalen bzw. gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen lassen sich daher allenfalls als „verhaltenshomogene Gruppen“ fassen, was wiederum Tautologieprobleme mit sich bringt: „Hausfrauen kaufen ein“, „Rentner gehen niemals zur Arbeit“ oder „Schüler besuchen vormittags die Schule“ sind mit verhaltenshomogenen Gruppen operierende rollentheoretische „Erklärungen“, die über triviale Erkenntniszusammenhänge kaum hinausreichen dürften. Neben der Frage nach einer geeigneten Gruppen-Aggregation der betrachteten Individuen erfordert die analytische Perspektive auf die Ausgestaltung der Aktionsräume eine geeignete Klassifikation möglicher Wegzwecke bzw. Tätigkeiten, die die Überwindung von Raum erfordern. Hier erwies sich die (deutschsprachige) Aktionsraumforschung insbesondere an die Münchener Schule der Sozialgeographie als anschlussfähig (ebenso wie das Operieren mit verhaltenshomogenen Gruppen). Diese Parallele zeigt sich vor allem im empirischen Vorgehen. So werden den erfassten Tätigkeiten der Probanden in der Regel Kategorien zugewiesen, die an den Daseinsgrundfunktionen orientiert sind. In den späten 1970er Jahren gingen verstärkt perzeptionsgeographische Ansätze in die Theoriebildung der Aktionsraumforschung ein. Anders als im Modell von KUTTER erachtet KLINGBEIL nicht die tatsächliche räumliche Verteilung der Gelegenheiten als bedeutsam für die Ausgestaltung des Aktionsraumes, sondern den wahrgenommenen Teil der objektiven räumlichen Struktur (vgl. KLINGBEIL 1978, S. 265ff.). Dadurch ergibt sich eine zweistufige Selektion des Aktionsraumes durch das Individuum: Der „objektive Raum“ wird selektiv wahrgenommen, woraus sich ein „Wahrnehmungsraum“ als Teilmenge des objektiven Raums erschließt. Der Aktionsraum schließlich ist als Teilmenge des Wahrnehmungsraums interpretierbar: Aus der Menge der wahrgenommenen Strukturen und Einrichtungen selektiert das Individuum in Abhängigkeit seiner Bedürfnisse die tatsächlich aufgesuchten Gelegenheiten. Die Unterscheidung von „Wahrnehmungsraum“ und „Aktionsraum“ bei KLINGBEIL folgt dem perzeptionsgeo67
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graphischen Ansatz von HORTON/REYNOLDS (1971), die „action space“ als den gefilterten objektiven Raum verstehen, während der tatsächlich genutzte Raum („activity space“) eine Teilmenge des ersteren ist. Die forschungspraktische Übersetzung dieses Zugangs erfordert also neben der Erfassung der in Abhängigkeit von Rollenerwartungen, Normen und Werten bestehenden Bedürfnisse sowie der zu ihrer Realisierung verfügbaren Mittel insbesondere die Aufnahme des individuellen Vorstellungsbildes von der Raumstruktur. Der ohnehin hohe empirische Aufwand zur Ermittlung aktionsräumlicher Erkenntnisse wird dadurch zusätzlich erhöht, worauf KLINGBEIL (1978) auch selbst hinweist: „Eine multifunktional konzipierte aktionsräumliche Analyse, die auch die Wahrnehmung von Tätigkeitsgelegenheiten einbezieht, erfährt somit eine Ausweitung und Komplexität, die in einer Untersuchung zu bewältigen kaum möglich erscheint“ (ebd., S. 32). Folglich konzentriert sich KLINGBEIL (1978) in seiner eigenen empirischen Untersuchung auf die Erfassung von Aktionsräumen (am Beispiel von Hausfrauen aus verschiedenen Wohngegenden im suburbanen Raum von München). Als erklärende Variable für das aktionsräumliche Verhalten 7 zieht er neben der Ausstattung und Lage der Quartiere insbesondere sozialstrukturelle Merkmale heran: Alter, Bildung, „Bindung an den Haushalt“ (bei SIEVERTS 2002 wird diese Dimension erweitert und als „Existenzverflechtung“ bezeichnet, vgl. Abschnitt 2.1.4) sowie die PKW-Verfügbarkeit. Die Betrachtung des aktionsräumlichen Verhaltens erfolgt jeweils durch die bivariate Analyse der betrachteten vier Einflussgrößen. Obgleich die PKW-Verfügbarkeit einen Einfluss auf die (Be)nutzung von Gelegenheiten, insbesondere räumlich weiter entfernter Gelegenheiten hat, lässt sich das aktionsräumliche Verhalten nicht alleine durch verkehrliche Erschließungs- oder Rückbaumaßnahmen beeinflussen. So stellt KLINGBEIL (1978, also in einer Zeit, in der von Rückbau von Verkehrswegen noch keine Rede war) fest, „dass die in der Praxis häufige Argumentation, verkehrliche Investitionsprojekte lösten fast automatisch eine Entwicklung von reichhaltigeren Lebensformen aus […], eine erhebliche Verkürzung darstellt. Vielmehr müssen zusätzliche Bedingungen beachtet werden, wenn Tätigkeitenmuster vervielfältigt werden sollen“
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Die wichtigsten empirischen Betrachtungsdimensionen des aktionsräumlichen Verhaltens bei KLINGBEIL (1978) sind die Zahl der Tätigkeiten, die (Gesamt-)Dauer der Tätigkeiten, die Gesamtausgangsdistanz sowie die tageszeitliche Varianz (Rhythmik) dieser Variablen. Ferner wird die Aktivitätenkopplung betrachtet.
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(ebd., S. 264). 8 Mit „zusätzlichen Bedingungen“ ist im Wesentlichen der „Wahrnehmungsfilter“ gemeint, der zur (schichtspezifisch) selektiven Perzeption des objektiven Raumes führt und damit in der Folge die unterschiedliche Ausgestaltung von Aktionsräumen erklärt. 9 Konsequenterweise sieht KLINGBEIL einen wichtigen Ansatz für die Herstellung eines gleichwertigen Zugangs zu Gelegenheiten in der Verteilung gezielter Information über die Lage von Infrastruktur- bzw. Versorgungseinrichtungen, etwa durch Bildungsinstitutionen wie der Schule (ebd., S. 265). Auch wenn es zunächst schlüssig erscheint, dass nur individuell wahrgenommene Strukturen auch genutzt werden, weist SCHEINER (2000) darauf hin, dass das Modell des zweistufigen Selektionsprozesses tautologisch ist, da die Kenntnis von Räumen („Wahrnehmungsraum“) nur durch ihre tatsächliche Nutzung erlangt werden kann (vgl. ebd., S. 39). Eine diskrete Trennung von Wahrnehmungs- und Aktionsraum ist daher kaum möglich. Dennoch ist die Kenntnis über die Lage von Gelegenheiten die unabdingbare Voraussetzung für ihre zukünftige (routinisierte) Nutzung, wobei das Aufsuchen von Gelegenheiten auch eine detailliertere Kenntnis über die Beschaffenheit des Raumes vermittelt. Der Wahrnehmungsraum schärft sich also durch die tatsächlichen Aktivitäten, die in ihm ausgeübt werden. Wahrnehmungs- und Aktionsraum stehen folglich zueinander in einem wechselseitigen Verhältnis. Das subjektive Wissen über die Lage von bisher unbekannten Gelegenheiten kann aber sowohl selbst erfahren als auch durch Kommunikation vermittelt sein: „Ändert sich die Lage der Wohnung durch einen Umzug, ändert sich die Lage der Arbeitsstätte oder lernt man neue Freunde kennen, so ändern sich auch die Wege. Man lernt bisher unbekannte Teile der Stadt kennen. Der subjektive Stadtplan erweitert sich [...]. Dabei wird man auch neue Gelegenheiten wahrnehmen“ (FRIEDRICHS 1990, S. 168f.). Doch nicht nur die Entfernung zu relevanten Infrastruktureinrichtungen sowie das Wissen um die Lage von Gelegenheiten beeinflusst das aktionsräumliche Verhalten. Bei einer eher schlechten bzw. 8
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Umgekehrt ist ebenfalls nicht anzunehmen, dass verkehrliche Rückbaumaßnahmen zu einer Verarmung bestehender Vielfalt führen. Interessant ist jedoch, welche Persistenz die „Verkehrserschließungsverheißung“ als ökonomisch rationales Merkmal aufweist. So galt etwa die verkehrliche Erschließung der neuen Bundesländer als wichtige, wenn nicht sogar wichtigste Strategie zur regionalen Wirtschaftsförderung. In der Tat konnte in perzeptionsgeographischen Studien eine selektive Wahrnehmung des Raumes in Abhängigkeit gesellschaftlicher Großgruppenkategorien (etwa sozialen Schichten oder ethnischen Minderheiten) nachgewiesen werden (vgl. DOWNS/STEA 1977, LYNCH 1965). 69
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unzureichenden infrastrukturellen Ausstattung des Wohnumfeldes werden schichtspezifische Unterschiede bedeutsam: FRIEDRICHS (1983, S. 314) nennt drei mögliche Handlungsalternativen des Individuums, auf eine mangelnde Ausstattung zu reagieren. Erstens die Möglichkeit, dass die Aktivität nicht erfolgt, weil die Distanz zur Gelegenheit als zu groß empfunden wird (Restriktionshypothese), zweitens die Möglichkeit, die Gelegenheit durch Mobilitätsaufwand an einem anderen Ort aufzusuchen (Kompensationshypothese) und drittens die Möglichkeit, anstelle der eigentlich gewünschten Aktivität eine andere Aktivität auszuüben, die mit weniger Mobilitätsaufwand verbunden ist. Während Angehörige der Mittel- und Oberschicht aufgrund einer höheren Mittelverfügbarkeit eher die Möglichkeit haben, die schlechte Ausstattung ihres Wohnumfeldes durch Mobilität zu kompensieren, unterbleibt die Aktivität bei Angehörigen der Unterschicht in der Regel (vgl. KLINGBEIL 1978; DANGSCHAT et al. 1980; SAS 1982; FRIEDRICHS 1990). Mit diesem zentralen Befund der Aktionsraumforschung ist die Feststellung verbunden, dass die Unterschicht nicht nur durch knappere Ressourcen benachteiligt ist, was oftmals mit der Notwendigkeit einhergeht, einen Wohnstandort in einem Gebiet beziehen zu müssen, das von der Infrastruktur und der Verkehrserschließung her schlechter ausgestattet ist und infolgedessen ein günstigeres Mietniveau aufweist. Hinzu kommt, dass die Benachteiligung durch die ungleiche Verteilung von Gelegenheiten über den Raum auch diese Schicht besonders betrifft, da der Mobilitätsaufwand, der im Sinne der Kompensationshypothese zum Aufsuchen weiter entfernter Einrichtungen erforderlich wäre, von dieser sozialen Schicht nicht erbracht werden kann. Die Nutzung dieser Gelegenheiten unterbleibt also häufig im Sinne der Restriktionshypothese. Die Unterschicht kann damit also als „doppelt benachteiligt“ gelten, wodurch sich mit der Aktionsraumforschung oftmals ein politisch-planerischer Aufforderungscharakter nach einer gerechteren bzw. gleichmäßigeren Verteilung infrastruktureller Gelegenheiten verbindet (vgl. DANGSCHAT et al. 1982, S. 298f.). Planerisch wurde die unbefriedigende Erreichbarkeit von Gelegenheiten allerdings nur in den seltensten Fällen mit einer ubiquitären Infrastrukturausstattung beantwortet. Zumindest wenn ökonomische Verwertungslogiken mit dieser Gelegenheitsausstattung einhergehen (z.B. Versorgungseinrichtungen, die ja wirtschaftlich arbeiten müssen), ist eine planerische Intervention oftmals auch nur schwer umsetzbar. Im Gegenteil lässt sich für die Verteilung von Gelegenheiten (dies gilt gleichsam für Versorgungszentren wie für öffentliche Einrichtungen) eher eine Standortkonzentration als eine -dekonzentration diagnostizieren (vgl. CITY:MOBIL 1999, S. 19ff.). Stattdessen richtete sich die (re70
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gional)planerische Antwort auf eine als unzureichend erachtete Infrastrukturausstattung auf eine Optimierung der Verkehrserschließung, was allerdings eine stetig ansteigende Verkehrsbelastung mit sich brachte und von den in monofunktionalen Wohngebieten lebenden Bevölkerungsgruppen einerseits ausreichende finanzielle Ressourcen zur Bewältigung der Mobilitätskosten erfordert und andererseits nach einer nicht unerheblichen Menge an frei disponible Zeit verlangt, die für Mobilität aufzubringen ist: „In diesem Zusammenspiel von Raumstruktur und Mobilitätsverhalten spielen die lokalen Angebote oder ‚Gelegenheitsstrukturen‘ im Bereich haushaltsbezogener, privater und sozialer Dienste, der Nahversorgung, von Schul- und Bildungseinrichtungen und im Bereich der Freizeit eine wesentliche Rolle. Die Stärkung solcher Strukturen und sozialer Optionen im lokalen Lebensumfeld hat großen Einfluss auf die Mobilitätsgestaltung und Verkehrsentwicklung. Umgekehrt beschleunigt die nach wie vor bestehende Auto-Orientierung der Stadt- und Regionalplanung den Verlust solcher Gelegenheitsstrukturen und benachteiligt jene Bevölkerungsgruppen, die räumlich ‚immobiler‘ sind oder deren Mobilität im Rahmen von zeitlich festgelegteren Mustern verläuft.“ (CITY:MOBIL 1999, S. 21)
Der ungleiche Zugang zu Gelegenheiten lässt sich keineswegs allein durch eine Optimierung des Verkehrsangebotes beseitigen: Durch eine Verbesserung der Verkehrserschließung wird der Periurbanisierung bzw. Flächenzersiedelung erst Vorschub geleistet, da ja weiter entfernte Orte nun relativ besser erreichbar sind. Diese durch die Attraktivierung des Verkehrs induzierte „Wachstums-Spirale“ wird als sekundär induzierter Verkehr bezeichnet (vgl. LANZENDORF/SCHEINER 2004, S. 20). Obgleich mit der Aktionsraumforschung auch ein Aufforderungscharakter an die räumliche Planung einherging, ist dieser – zumindest in Deutschland – vergleichsweise wenig in konkrete Optimierungen überführt worden. Neben der großen Komplexität und dem damit verbundenen hohen empirischen Aufwand der Aktionsraumforschung zum Zweck der Erklärung der raum-zeitlichen Alltagsorganisation kann dies als ein Hauptgrund für den Bedeutungsverlust dieser Forschungsrichtung seit etwa Mitte der 1980er Jahre angesehen werden. Hinzu kam, dass es trotz des Befundes der Benachteiligung der in schlecht ausgestatteten Quartieren lebenden Unterschicht nicht gelungen ist, das aktionsräumliche Verhalten von Menschen unabhängig von den raumstrukturellen Merkmalen ihres Wohnumfeldes zu erklären. So zeigen die aktionsräumlichen Untersuchungen zwar eine unterschiedliche raum-zeitliche Alltagsgestaltung von Innenstadt- und Umlandbewohnern, soziale Faktoren werden jedoch nur im Zusammenspiel mit raum-strukturellen 71
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Merkmalen handlungswirksam. Eine generelle Benachteiligung der Unterschicht ist also nicht festzustellen. Sie tritt erst dann auf, wenn die Ausstattung des Wohnumfeldes schlecht ist. Alleine aus sozio-demographischen Merkmalen wie Alter, Haushaltsgröße, Zahl der Kinder, Bildung, Geschlecht oder Einkommen etc. konnten keine Aktionsräume erklärt werden. Eine allgemeine Theorie zur Erklärung von Aktivitäten, die auch bessere Ansatzpunkte für eine planerische Intervention ermöglicht hätte, konnte die Aktionsraumforschung hingegen nicht entwickeln.
Handlungstheoretische Weiterentwicklung der Aktionsraumforschung Die aktionsräumlichen Forschungsansätze teilen mit der Zeitgeographie die individualistische Perspektive, die von den Zeitpfaden der Akteure ihren Ausgang nimmt. Klassische zeitgeographische Ansätze verzichten jedoch aufgrund der nicht selten überkomplex ausfallenden Empirie weitgehend auf die tatsächliche Untersuchung der Zeitpfade und bedienen sich dieses Instruments nur zu Zwecken der Veranschaulichung täglicher Routinen. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die Untersuchung der handlungslimitierenden constraints sowie die Modellierung der potentiellen raum-zeitlichen Erreichbarkeiten (vgl. exemplarisch: LENTORP 1976; MÅRTENSSON 1978). Eng verbunden mit dieser Forschungsperspektive ist die Optimierung der räumlichen Anordnung der infrastrukturellen Gelegenheiten. Die Aktionsraumforschung hingegen versucht, das raum-zeitliche Handeln von Menschen zu beschreiben und zu erklären, was sich nicht zuletzt aufgrund des umfassenden Erkenntnisinteresses, das sich in der oben zitierten „klassischen Frage der Aktionsraumforschung“ spiegelt, gleichfalls als ein komplexes Forschungsvorhaben erweist. Insbesondere betrifft dies die Frage nach den relevanten unabhängigen Variablen, also den Gründen für das Aufsuchen bestimmter Orte. So stellt DÜRR (1979) fest, dass „die Zahl denkbarer sozioökonomischer, sozialpsychologischer und raumstruktureller Einflussgrößen auf aktionsräumliches Handeln [...] so groß [ist, (T.P.)], dass bislang kein Erklärungsansatz über Teilmodelle hinausführt“ (ebd., S. 11). Diese Feststellung gilt weitgehend für die gesamte Konjunkturphase der Aktionsraumforschung in den 1970er und 1980er Jahren und kann als Ursache für das Nachlassen aktionsräumlicher Studien seit Mitte der 1980er Jahre interpretiert werden. Trotz einer Vielzahl empirischer Ergebnisse in zahlreichen aktionsräumlichen Studien gelang es nicht, eine induktiv hergeleitete allgemeine „Theorie des Aktionsraumes“ zu entwickeln, die das raum72
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zeitliche Verhalten von Personen prognostizierbar machte (vgl. HEYDENREICH 2000, S. 20). Doch nicht nur die unabhängigen, auch die abhängige Variable in Form des „Aktionsraums“ erwies sich als sperrig: Die Annahme, dass „jede Außenaktivität oder Raumüberwindung [...] ausschließlich dem jeweils untersuchten Zweck [diene, (T.P.)], ist, wie theoretische und empirische Untersuchungen zum Phänomen der zeiträumlichen Kopplung von Aktivitäten nachweisen, kaum haltbar“ (DÜRR 1979, S. 10f.). Konsequenterweise forderte DÜRR angesichts dieses Theoriedefizits (zumindest der frühen) Aktionsraumforschung, dass ein Hauptaugenmerk dieser Forschungsrichtung auf die Konstruktion umfassender (Mobilitäts-)Theorien gerichtet sein müsse (ebd., S. 12ff.). Nachdem die Zahl der aktionsräumlichen Studien in den 1980er Jahren stark zurückging und schließlich keine neuen Studien mehr entstanden, deren Erkenntnisinteresse auf die Genese von Aktionsräumen gerichtet war, 10 wurde dieser Forschungsansatz mit der richtungsweisenden Dissertation von SCHEINER (2000) wieder aufgegriffen. In Abgrenzung zu den frühen aktionsräumlichen Untersuchungen, die einem stark behavioristischen Denken verhaftet waren, gibt SCHEINER seinem Aktionsraumansatz einen handlungstheoretischen Überbau und kommt damit der Forderung DÜRRs nach, die Aktionsraumforschung im Interesse der Planungsrelevanz durch die „Konstruktion neuer, umfassender Theorien fortzusetzen. [...] Denn aktionsräumliches Handeln von Privatpersonen wird nur in dem Maße interpretierbar und steuerbar, wie es in größere sachinhaltliche Zusammenhänge gestellt und aus ihnen abgeleitet werden kann“ (DÜRR 1979, S. 12). SCHEINER sieht die frühe Aktionsraumforschung in der Verkehrsforschung (etwa KUTTER 1972), aber auch die soziologische Aktionsraumforschung (z.B. DANGSCHAT et al. 1980; SAS 1982) dem Constraints-Denken der frühen Zeitgeographie verhaftet. Das Handeln von Individuen wird in klassischen aktionsräumlichen Untersuchungen nicht als Folge eines rationalen Wahlaktes konzipiert, sondern in behavioristischer Denktradition als Reaktion des Individuums auf äußere Strukturen interpretiert. Ein zweiter fundamentaler Kritikpunkt von SCHEINER an der „klassischen“ Aktionsraumforschung bezieht sich auf das ihr zugrunde liegende objektivistische Raumverständnis: „Dies steht einer handlungstheoretischen Grundlegung der Aktionsraumforschung im 10 In den 1990er Jahren entstanden allerdings einige Arbeiten, deren Erkenntnisinteresse nicht auf die Entstehung von Aktionsräumen selbst gerichtet war, sondern mit dem aktionsräumlichen Verhalten von Personengruppen als unabhängiger Variable operierten (vgl. HEYDENREICH 2000, S. 20). 73
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Wege, denn in einer solchen Konzeption muss dem Handeln das Primat zukommen. Dann sind nicht Wahrnehmung und Verhalten (nur) aus der objektiven Raumstruktur abzuleiten, sondern Handeln und Wahrnehmung konstruieren (auch) subjektive Räume“ (SCHEINER 2000, S. 43f.). Dennoch akzeptiert auch SCHEINER die „objektive Existenz der Räumlichkeit der Welt“ (ebd., S. 43f.); die Gestaltung der Aktionsräume durch die Handelnden selbst versteht er aber nicht allein diesem objektiven Raum verhaftet. SCHEINERs Haupteinwand gegen die raum-zeitliche Perspektive auf Aktionsräume besteht in dem Umstand, dass Projekte nicht in ihrer Sinnhaftigkeit betrachtet werden, sondern lediglich in ihren Auswirkungen im „Raum als Registrierplatte“. Die Gründe für die Realisierung von Projekten bleibt somit im Unklaren, da nur Bewegungen in Raum und Zeit betrachtet werden, nicht aber die Motive des Handelnden, die die Bewegung in Raum und Zeit nur als sekundäre Folge nach sich ziehen, mit der Sinnhaftigkeit des Projektes aber nicht in kausalem Zusammenhang stehen müssen. Dennoch dürfen Mobilitätsentscheidungen keineswegs nur als „Nebenwirkung“ verstanden werden, da sie nicht zufällig getroffen werden, sondern als integraler Bestandteil des Handelns aufzufassen sind. Mobilität ist damit ein Teil des Handelns – nicht bloße Folge oder Ursache. Mobilitätsentscheidungen bekommen im Menschenbild der klassischen Aktionsraumforschung die Rolle eines Reaktionsmusters auf die räumliche Verteilung von Gelegenheiten bei dem Verfolgen von Projekten zugewiesen. Die klassische Aktionsraumforschung ist für SCHEINER damit behavioristisch und nicht handlungstheoretisch fundiert. Konsequenterweise baut SCHEINER sein aktionsräumliches Forschungskonzept auf handlungstheoretische Grundannahmen auf, insbesondere auf das Konzept der „Strukturen der Lebenswelt“ von Alfred SCHÜTZ (vgl. SCHEINER 2000, S. 111ff.). Ausgangspunkt des Handlungsmodells von SCHÜTZ ist dabei (interessanterweise ähnlich wie in der Zeitgeographie HÄGERSTRANDs, der aber andere Schlüsse daraus zieht!) die Körperlichkeit des Subjekts, seine physiologische Bindung an die physische bzw. materielle Welt also, die als „Leiblichkeit“ bezeichnet wird. Rahmenbedingung für das Handeln des Subjekts ist folglich neben dem biographischen Zustand des Einzelnen (also seinem aus dem bisher Erlebten resultierenden Erfahrungsschatz) insbesondere die Beschaffenheit bzw. Struktur der äußerlichen Welt des Subjekts. Zur äußerlichen Welt zählt neben ihrer materiellen Beschaffenheit auch die soziale Beschaffenheit, die vor dem Hintergrund des Wissens des Subjektes interpretiert wird. Aufgrund sozialer Interaktion bekommt die soziale Welt einen intersubjektiven Charakter. 74
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Für SCHÜTZ fußt das Handeln von Menschen auf Entwürfen, die einen zu erreichenden Zielzustand markieren. Auch hier lässt sich eine Parallele zum Begriff des „Projektes“ bei HÄGERSTRAND erkennen. Entscheidend ist aber im Gegensatz zum Menschenbild HÄGERSTRANDs, dass das Subjekt seinem Handeln einen Sinn zuschreibt, der kommunizierbar und damit intersubjektiv erfahrbar wird. Dem Handeln geht ein rationaler Wahlakt zwischen möglichen Alternativen durch das Subjekt voraus. Maßgeblich ist dabei neben dem Motiv, also dem zu erreichenden Ziel, das Wissen des Handelnden aus zuvor erfolgten ähnlichen Situationen. Letzteres ist bei der Analyse von Aktionsräumen, die im Regelfall stark routinisiert sind, von besonderer Bedeutung. So wird ein durch Routine geprägtes Handeln nur dann verändert, wenn das Subjekt das Auffinden einer günstigeren Handlungsalternative überhaupt erwartet und wenn die Opportunitätskosten zur Beschaffung des nötigen Wissens um mögliche Alternativen nicht als zu hoch eingeschätzt werden. Damit lassen sich auch stark routinisierte und scheinbar „unreflektierte“ Handlungen als Folgen eines rationalen Wahlaktes verstehen. Entscheidend ist, dass das dem Handeln zugrunde liegende Motiv unter den Bedingungen unvollständiger Information und unter Berücksichtigung einer Kosten-Nutzen-Abwägung (auch des Wahlaktes selbst) optimal verfolgt werden kann. Die Motive des Handelnden verweisen auf dessen Verwurzelung in der Zeit: Einerseits soll ein zukünftiger Zielzustand durch das Handeln erreicht werden („Um-zuMotive“), andererseits werden durch die bisherigen biographischen Erfahrungen Begründungszusammenhänge für das Handeln generiert („Weil-Motive“). Im Kontext der Aktionsraumforschung interessiert die Alltagswelt, die sich als raum-zeitlich relevanter Teil der Lebenswelt begreifen lässt. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Lebenswelt, wie etwa der Traum- oder Phantasiewelt, handelt es sich bei der Alltagswelt um das „Subuniversum, in das wir uns mit unseren Handlungen einschalten können, das wir dadurch umformen und verändern können und in dem wir Kommunikation mit unseren Mitmenschen herstellen können“ (SCHÜTZ 1972, S. 119, zitiert nach SCHEINER 2000, S. 112). Die „räumliche Aufschichtung der alltäglichen Lebenswelt“ (SCHÜTZ/LUCKMANN 1975, S. 3, zitiert nach SCHEINER 2000, S. 113) kann als „Alltagsraum“ angesprochen werden und stellt die „handlungstheoretische Interpretation des Aktionsraumes“ dar (SCHEINER 2000, S. 115). Der handlungstheoretische Zugriff auf Aktionsräume hat jedoch auch seine Grenzen, die SCHEINER insbesondere im subjektzentrierten Weltbild selbst sieht. So werden die außerhalb des Subjekts stehenden strukturellen Handlungsbedingungen nur in Form von Erfahrungen des 75
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Individuums als handlungswirksam betrachtet („Weil-Motive“). „Damit wird dem Subjekt die entscheidende Verantwortung für seine Lage zugewiesen. Objektive Strukturen werden negiert. [...] Die Mitwelt wird nur als relevant betrachtet, insoweit sie interpretativ konstruiert wird“ (SCHEINER 2000, S. 120). Die strukturierende Kraft der physischen Welt kann SCHEINER zufolge mit dem handlungstheoretischen Zugriff alleine nicht hinreichend erfasst werden. Dieser Einschätzung kann allerdings entgegnet werden, dass nicht die „objektiven Strukturen“ handlungswirksam sind, sondern die vom Subjekt interpretierte physische Welt. Damit wird dem Subjekt keineswegs eine Verantwortung für seine Lage zugeschrieben, sondern lediglich dem Umstand Rechnung getragen, dass physische Strukturen in Abhängigkeit des jeweiligen Kontextes durchaus unterschiedliche Bedeutungen haben können. Ferner sieht SCHEINER das Gesellschaftsbild der „phänomenologischen Geographie“ zu stark einem Gemeinschaftsbild verhaftet, das den Menschen als immobil begreift und daher Konnotationen zu Territorialitätskonzepten aufweist. Spätmoderne Entankerungsprozesse lassen sich mit dieser Konzeption nicht hinreichend analysieren. Um diesen Einwänden gegen eine alleinige handlungstheoretische Fundierung eines aktionsräumlichen Forschungsdesigns zu begegnen, zieht SCHEINER zur Konzeption ebenfalls die Theorie der Strukturierung von GIDDENS hinzu. Wie schon in Kapitel 2.1.1 deutlich wurde, sind im Verständnis von GIDDENS Struktur- und Handlungsebene wechselseitig aufeinander bezogen, was er als „Dualität der Struktur“ anspricht. Als Struktur(en) bezeichnet GIDDENS „Regeln und Ressourcen oder Mengen von Transformationsbeziehungen, organisiert als Momente sozialer Systeme“ (GIDDENS 1997, S. 77). Strukturen sind also nicht unabhängig von Individuen zu sehen, sondern werden durch ihre sozialen Praktiken vermittelt. Diese durch die Beziehungen von Individuen und Gruppen vermittelten Strukturen benennt GIDDENS als „Systeme“ (ebd., S. 77). Indem sich Individuen oder Gruppen in ihren Formen des Handelns an ihrem Vorwissen um legitime Handlungspraktiken orientieren, reproduzieren sie über die sozialen Systeme die Strukturen. Dies wird als „Strukturierung“ bezeichnet. Soziale Systeme sind damit in Raum und Zeit situiert, da Situationen der Kopräsenz ihren Rahmen bilden. Auf diesen durch Interaktion konstituierten raum-zeitlichen Bezugsrahmen wurde bereits in Kapitel 2.1.1 im Kontext der „locales“ (Orte) eingegangen. Die raum-zeitliche Zonierung in Bezug auf soziale Praktiken bezeichnet GIDDENS als „Regionalisierung“. Die Strukturationstheorie, bzw. konkret die Vorstellung der raumzeitlichen Einbettung (bzw. Regionalisierung) von Handlung und Struktur, ist für den empirischen Zugang SCHEINERs, der die Aus76
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gestaltung von Aktionsräumen im (wiedervereinten) Berlin betrachtet und die alltagspraktische Persistenz der Berliner Mauer im aktionsräumlichen Verhalten von bestimmten Bevölkerungsgruppen feststellt, von zentraler Bedeutung: Die Folgen des Handelns manifestieren sich in der materiellen Welt und bewirken so eine raum-zeitliche Zonierung von Handlungspraktiken, die als Regionalisierung angesprochen werden kann (vgl. SCHEINER 2000, S. 130). Als bedeutsame Leistung von SCHEINER ist anzusehen, dass er der zuvor oftmals als „atheoretisch“ stigmatisierten Aktionsraumforschung eine fundierte theoretische Basis gegeben hat. Neben der Anbindung der aktionsräumlichen Methodik an die Theorie der Strukturierung ist insbesondere die handlungstheoretische Fundierung der Aktionsraumforschung hervorzuheben. Allerdings konnte auch SCHEINER nicht das Grundproblem der klassischen Aktionsraumforschung lösen, die räumliche Alltagsmobilität schlüssig durch unabhängige Variablen zu erklären. Er weist zwar verschiedene Stadtnutzungsgruppen im wiedervereinten Berlin aus, diese erklären sich jedoch nicht primär aus sozio-demographischen Merkmalen, sondern aus dem Mobilitätsverhalten selbst. Es handelt sich also um „Gruppen gleichen aktionsräumlichen Verhaltens“, die hinsichtlich sozialstatistischer Indikatoren sehr heterogen sind. Dieses Vorgehen ist zwar vor dem Hintergrund, dass das Mobilitätsverhalten selbst als Handlung begriffen und damit als gruppenkonstituierend verstanden wird stringent, bietet jedoch kaum Ansatzpunkte zur Prognose des Mobilitätsverhaltens von Individuen.
Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit Die vom handelnden Subjekt ausgehende Aktionsraumforschung begreift die raum-zeitliche Alltagsgestaltung als Folge (frühe Phase) bzw. Teil (Konzeption von SCHEINER) rationaler Wahlakte unter den gegebenen strukturellen Rahmenbedingungen. Dabei erscheint die frühe Phase dieser Forschungsrichtung eher als empiristisch, die zweite dagegen theoretisch fundiert. Für die vorliegende Arbeit ist das Verständnis von Alltagsmobilität als intentionale Handlung zentral. Diese Handlungen sind in raum-zeitliche Strukturen situiert. Damit eröffnen sich auch Chancen zur Regionalisierung von Aktionsräumen (s. Kapitel 3.3). Die Gestalt alltäglicher Aktionsräume ist nicht als „Nebenfolge“ von Handlungen zu verstehen, sondern als Teil der Handlungen selbst. Zwar zeigen sich Handlungen im Raum im Sinne einer „Registrierplatte“ (HARTKE). Durch diese Handlungen werden Räumen zugleich aber auch 77
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symbolische Bedeutungen zugeschrieben, die selbst wiederum im Sinne einer „doppelten Hermeneutik“ (GIDDENS) sekundäre Handlungen induzieren können. Mit der Situierung von Handlungen in Raum und Zeit sind also neue soziale Folgen verbunden, etwa wenn mit den Handlungen symbolische Raumaneignungen einhergehen. Hierdurch resultieren räumliche Zuschreibungen (etwa durch die Produktion von Images von städtischen Subgebieten), die selbst wiederum in die soziale Welt diffundieren und Andere in der Wahl ihrer Handlungsalternativen beeinflussen. Diese Aneignungsprozesse haben in der Regel einen überindividuellen Charakter und lassen sich als Techniken der sozialen Schließung deuten. Im Extremfall resultieren hieraus „domains“ im Sinne HÄGERSTRANDs. 11 In den empirischen Quartiersstudien der vorliegenden Arbeit wird die raum-zeitliche Alltagsgestaltung von Akteuren untersucht, wobei dies anders als in den zuvor vorgestellten Untersuchungen nicht explizit mit dem Anspruch verknüpft wird, Aktionsräume in ihrer Gänze erklären zu können. Vielmehr soll durch die Analyse der raum-zeitlichen Alltagsgestaltung von Individuen ein empirischer Zugang zu den in Kapitel 1 erörterten Flexibilisierungs- und Entgrenzungsphänomenen ermöglicht werden, aus dem auch Zukunftsszenarios für die Stadtentwicklung in raum-zeitlicher Hinsicht ableitbar sind. Hierzu bedarf es neben den erstens erforderlichen methodischen Werkzeugen der Aktionsraumforschung zweitens eines Verständnisses der Einflussgrößen auf die routinisierte Alltagsmobilität. Die klassische an Rollenzuschreibungen orientierten sozialgeographischen Gruppenkonzeptionen scheinen allerdings kaum geeignet zu sein, übertriviale Erkenntnisse über Mobilitätsentscheidungen zu gewinnen. Insbesondere vor dem Hintergrund der eingangs erörterten gesellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen scheinen die klassischen soziologischen oder sozialgeographischen Gruppenkonzepte der 1970er und 1980er Jahre nicht mehr ausreichend zu sein, um zu einem analytischen Zugang zur Alltagsmobilität unter den Bedingungen der Spätmoderne zu gelangen.
11 Als ein Beispiel für eine derartige Regionalisierung kann ein großstädtischer „Szenestadtteil“ gelten. 78
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2.1.3 Sozialer Wandel und Raumnutzung Während vor allem die zeitgeographischen und aktionsräumlichen Forschungsansätze der 1970er und 1980er Jahre räumliche Mobilitätsakte bzw. Personenverkehr 12 eher als notwendige Reaktion auf die disperse Lage von Gelegenheiten auffassen, erfolgte seit dem letzten Jahrzehnt ein Umdenken, das sich schon in der aktionsräumlichen Studie von SCHEINER (2000) andeutet: Alltagsmobilität ist nicht länger nur als sekundäre Folge des Durchführens von Projekten zu verstehen, sondern Ausdruck und Teil des Handelns zugleich. Folglich soll durch die Synthese von „Mobilitätsstilen“ und „Lebensstilen“ ein besseres Verständnis räumlicher Nutzungsmuster erlangt und somit auch ein Weg zur Vorhersage raum-zeitlicher Implikationen des Handelns eröffnet werden. Hinzu kam die Erkenntnis, dass sich soziologische Gruppenbegriffe oder verhaltenshomogene Gruppen nicht hinreichend zum Verständnis des aktionsräumlichen Verhaltens eignen und damit keine Prognosemöglichkeit eröffnen. Diese Erkenntnis führte zu der Suche nach alternativen sozialen Gruppenkonzeptionen, die über die Erklärungskraft der klassischen Sozialstrukturanalyse mit ihren horizontal differenzierenden Merkmalen (Alter, Geschlecht, Haushaltsstruktur) und vertikal differenzierenden Merkmalen (Einkommen, Beruf, Bildung) hinausreichen. Die Vervielfältigung bzw. Individualisierung von räumlicher Mobilität ist zuvor schwerpunktmäßig als kausale Folge sozialer und geographischer Situiertheit und dem Aufsuchen der zur Bedürfnisbefriedigung notwendigen Gelegenheiten interpretiert worden: Aktionsräume sollten – zumindest trifft dies auf die „klassischen“ Aktionsraumstudien der 1980er Jahre zu – durch die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und die an Individuen in bestimmten Lebenssituationen gestellten Rollenerwartungen, der materiellen Ausstattung sowie der An12 Verkehr und Mobilität werden in den meisten wissenschaftlichen Untersuchungen in Abhängigkeit des spezifischen Verwendungszusammenhangs unterschieden. Der Begriff „Verkehr“ bezeichnet eine „Ortsveränderung von Personen, Gütern, Nachrichten und Energie“ (PIRATH 1934, zitiert nach LANZENDORF/SCHEINER 2004, S. 13) und geht damit vom Raum aus. „Mobilität“ bezeichnet demgegenüber die Beweglichkeit von Menschen, die sowohl räumlich als auch sozial sein kann. Räumliche Mobilität wird hinsichtlich des zeitlichen Horizonts der mit ihr einhergehenden Ortsveränderung unterschieden. Langfristige (Wohn-)Mobilität bzw. Migrationsbewegungen stehen der kurzfristigen Alltagsmobilität (z.B. Pendlerbewegungen) gegenüber. LANZENDORF/SCHEINER weisen darauf hin, „dass der Begriff Verkehr häufig negativ konnotiert ist, Mobilität dagegen positiv“ (ebd., S. 14). Dies ist umso bemerkenswerter, als Mobilität und Verkehr wechselseitig aufeinander bezogen sind. 79
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ordnung der Gelegenheiten im Raum erklärt werden (vgl. Kapitel 2.1.2). Das Axiom der kausalen Folge, das aus der Gruppenzugehörigkeit auf Mobilität bzw. Mobilitätsbedürfnisse schließt, ignoriert aber, dass das aktionsräumliche Verhalten selbst als ein Teil der sozialen Identität gelten kann: „Verkehr kann aber auch ‚intrinsisch‘ motiviert sein und als Selbstzweck aus dem Bedürfnis nach Fortbewegung und/oder Ortsveränderung entstehen, welches möglicherweise eine ‚anthropologische Grundkonstante‘ darstellt“ (LANZENDORF/SCHEINER 2004, S. 15). Wie andere expressive Handlungen kann der Mobilitätsakt selbst als eine Technik der sozialen Schließung im Sinne WEBERs aufgefasst werden: Handlungen wie Ausfahrten mit dem Auto, der Besuch von Museen, Feiern in bestimmten Diskotheken, Erholung im Grünen etc. vollziehen sich durch räumliche Mobilität selbst, die Genese von Aktionsräumen ist damit Ausdruck und konstituierendes Moment der Handlung zugleich. Aktionsräumliches Verhalten indes nur als Folge verstehen zu wollen verkennt die kulturelle Bedeutung von Mobilität für den inszenatorischen Bühnencharakter der (spätmodernen) Gesellschaft. Verkehr als bloße Funktion der räumlichen Verteilung infrastruktureller Gelegenheiten zu interpretieren, wie die Verkehrswissenschaft (und darüber hinaus die „klassische“ Aktionsraumforschung) dies mehrheitlich tut (vgl. KAGERMEIER 1997), greift in Anbetracht der symbolischen Dimensionen der Verkehrsmittelwahl zu kurz (vgl. GÖTZ 1998, S. 9). Ausgangspunkt dieses „soziokulturellen“ Zugangs zum Phänomen „Mobilität“ ist die Lebensstilforschung, die die expressiven, interaktiven, evaluativen und kognitiven Aspekte von Projekten sowie Entwürfen integriert betrachtet (vgl. KLOCKE 1994). Die Grundzüge dieser Forschungsrichtung und die im Kontext dieser Arbeit bedeutendsten Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt; darauf aufbauend erfolgt die Darstellung der Implikationen der Lebensstilperspektive im Hinblick auf die Raumnutzung.
Grundlagen der Lebenstilforschung In den letzten 20 Jahren beschäftigte die Frage nach den Umständen der Erosion gesellschaftlicher Großgruppen die Sozialwissenschaften wie kaum ein zweites Thema. Ausgangspunkt der Diskussion ist der Umstand, dass „klassische“ Konzepte sozialer Schichten oder Klassen, die mit Hilfe der Merkmale „Bildungsniveau“, „Einkommen“ sowie „Berufsprestige“ erklärt wurden, in der heutigen durch Wertewandel und Wertepluralisierung gekennzeichneten Zeit immer weniger in der Lage
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sind, zum Verständnis sozialer Strukturen westlicher Gesellschaften in umfassender Weise beizutragen. Ausgehend von Ulrich BECKs Diagnose der „Risikogesellschaft“ (1986) wurden Thesen vom Auseinanderbrechen des alten sozialen Gefüges (Individualisierungsthesen) durch die Ablösung alter Normen und kollektiver Zwänge (Wertewandelthesen) vor allem in der Soziologie diskutiert. Hierbei wurde deutlich, dass das bis dato angewandte Modell sozialer Ungleichheit, welches im Wesentlichen durch das Berufsprestige sowie unterschiedliche Einkommensverteilung und Bildungschancen bestimmt wurde, nicht länger zur alleinigen Erklärung gesellschaftlicher Zustände ausreichte: So stellt etwa GEORG (1998) fest, „dass die bundesrepublikanische Gesellschaft der 90er Jahre in ihren Repräsentationen sozialer Ungleichheit und milieutypischen Vergemeinschaftungsformen nicht mehr in der quasi-ständischen Weise der 50er Jahre um den beruflichen Status des Haushaltsvorstandes gruppiert ist“ (ebd., S. 17f.). Als Ursache hierfür sei auf verschiedene, ineinandergreifende Prozesse des sozialen Wandels, die seit den 1950er Jahren zu einer Relativierung der Einkommens-, Bildungs- und Berufsgruppenunterschiede führten, verwiesen: So glichen sich die Einkommen unterer bis mittlerer Berufsgruppen immer weiter einander an, was etwa in der Steigerung der Bruttoreallöhne von Industriearbeitern um das 4,5-fache zwischen 1950 und 1989 einen Ausdruck findet (vgl. GEISSLER 1992, S. 40ff.). Diese Zunahme der Reallöhne vor allem der Arbeiterklasse führte zur Erosion des Klassenbewusstseins, welches bis mindestens in die 1960er Jahre hinein durch die gemeinsame Erfahrung des Mangels geprägt war. Als Indikatoren für diese Veränderung lassen sich etwa die auf breiter Ebene erreichte Versorgung mit Industriegütern (z.B. Autos und Haushaltsgroßgeräte), Urlaubsreisen (Fern- und Flugreisen) oder auch der seit den 1950er Jahren kontinuierlich gesunkene Anteil des Monatsbudgets, der für Nahrung, Kleidung sowie das Wohnen ausgegeben werden muss, anführen (vgl. hierzu im Einzelnen NOLL/ WIEGAND 1993). Auch wenn in der heutigen Ära des Abbaus sozialstaatlicher Sicherungs- und Versorgungsnetze sowie zum Teil massiv steigender Lebensmittelpreise diese Entwicklung stagniert, ist eine Rekonstitution eines durch Mangelerfahrung geprägten Klassenbewusstseins in westlichen Gesellschaften derzeit nicht absehbar. Die traditionellen sozialen Milieus werden ebenfalls durch die Bildungsexpansion verändert: „Stellte die Jugend in den 1950er Jahren noch eine Lebensphase dar, die zum großen Teil durch Berufstätigkeit geprägt war, so ist sie heute weitestgehend an die Bildungsinstitutionen gekoppelt“ (GEORG 1998, S. 21). Des Weiteren ist zwischen Schulzeit
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und Berufstätigkeit eine längere Adoleszenzphase im Lebenslauf zur Regel geworden. Obwohl untere gesellschaftliche Schichten im zeitlichen Verlauf eine höhere Beteiligung an der Bildungsexpansion erfahren haben, hat sich die soziale Selektivität dieses Faktors allerdings nicht relativiert: Noch immer studieren wesentlich mehr Kinder von Selbstständigen mit Hochschulabschluss als Kinder von Arbeitern, sodass trotz der allgemeinen Bildungsexpansion „die Vererbung von Bildung [...] eine der wichtigsten Komponenten zur Reproduktion sozialer Gruppen geblieben [ist]“ (KÖHLER 1992, S. 124). Auch 16 Jahre nach dieser Diagnose KÖHLERs ist ein egalitärer und vom Status der Eltern unabhängiger Zugang zu höherer Bildung – obgleich Studien wie PISA dies nachdrücklich bemängeln – nicht in Sicht: Im Gegenteil zeugen die jüngsten Reformen der Hochschullandschaft (Bologna-Prozess und die damit einhergehende Einführung sozial stratifizierender Bachelor- und MasterAbschlüsse) sowie die Einführung allgemeiner Studiengebühren eher von einer Zu- als einer Abnahme sozialer Ungleichheit der Bildungschancen. Nichtsdestoweniger führte die allgemeine Wohlstandsentwicklung seit den Wiederaufbaujahren der Nachkriegszeit zu einer relativ ubiquitären Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse in breiten Bevölkerungsschichten. Dies ist der Ausgangspunkt für die Wertewandelthese von INGLEHART (1990): Es ist davon auszugehen, dass die Sozialisationsphase der Zwischenkriegsgeneration im Wesentlichen durch Erfahrung der Entbehrung gekennzeichnet war; physiologische Bedürfnisse sowie Sicherheitsbedürfnisse galt es vornehmlich zu befriedigen, sodass sogenannten höherrangigen Bedürfnissen 13 nur wenig Raum blieb („Bedürfnishierarchie“, vgl. MASLOW 1977). Erst die Nachkriegsgenerationen in den Industrienationen streben nach den postmateriellen Werten (wie etwa Selbstverwirklichung oder -entfaltung oder das Streben nach einer Ästhetisierung des Alltags). Gewissermaßen als dialektischer Prozess zum Wertewandel ist die Individualisierung des Lebenslaufs zu verstehen: War der Lebenslauf bis in die 1960er Jahre hinein weitestgehend institutionalisiert und mit nur wenigen Gestaltungsalternativen behaftet, ist seit Beginn der 1980er Jahre ein Prozess der Erosion der „Normalbiographie“ festzustellen (vgl. 13 MASLOW (1977) nennt in seiner Hierarchie der Bedürfnisse folgende Abfolge: 1. physiologische Bedürfnisse, 2. Sicherheitsbedürfnisse, 3. soziale Zugehörigkeit und Liebe, 4. persönliche Wertschätzung, 5. Selbstentfaltung. Seiner Theorie nach werden zuerst die niederrangigen Bedürfnisse befriedigt, bevor die höherrangigen in den Fokus der Betrachtung gelangen. 82
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KOHLI 1985; HÄUSSERMANN/LÄPPLE/SIEBEL 2008). „Die Dreigliederung des Lebenslaufs in Phasen der Ausbildung, Erwerbstätigkeit und letztlich Ruhestand, in deren Abhängigkeit weitere bedeutsame Lebensereignisse wie Verlassen der Herkunftsfamilie, Heirat und Geburt von Kindern standen“ (GEORG 1998, S. 29f.) ist nicht mehr der einzig sozial akzeptierte Lebensweg. Nur noch knapp ein Drittel aller Haushalte entsprechen heute noch der lange Zeit als Idealtyp angesehenen Haushaltsform der Kernfamilie, in Großstädten wie Hamburg sogar weit weniger (vgl. POHL 2006a). Der Anteil der Single-Haushalte nimmt demgegenüber vor allem in den Städten kontinuierlich zu (vgl. HÄUSSERMANN/SIEBEL 2000, S. 317ff.). Die traditionelle familienorientierte Lebensweise hat ihren verpflichtenden Charakter für das Individuum verloren. „Der Familie kommt nicht länger eine dominante und normative Funktion zu, da eine größere Wahlfreiheit in den persönlichen Lebensverhältnissen besteht. Sie ist entstanden im Zuge der allgemeinen Wohlstandssteigerung, der wachsenden Bedeutung von Freizeit und differenzierten Freizeitbetätigungen, zunehmenden kulturellen Wahlfreiheiten und nicht zuletzt durch eine erweiterte Frauenrolle, die auf gestiegene Qualifikationen und Erwerbschancen zurückzuführen ist. Diese Entwicklung kann auch als Enttraditionalisierung gekennzeichnet werden.“ (SCHNEIDER/SPELLERBERG 1999, S. 77)
Neben dieser durch die Enttraditionalisierung verursachten Pluralisierung der möglichen Lebensentwürfe und dem zuvor angesprochenen Bedeutungsverlust der Einkommens-ungleichheit, dem immer geringer werdenden Beitrag, den die berufliche Position zur Erklärung sozialwissenschaftlicher Sachverhalte zu leisten vermag, ist zudem eine Zunahme der Statusinkonsistenz seit den 1960er Jahren zu verzeichnen (vgl. BOLTE 1990, S. 41). Durch das Bild eines promovierten Taxifahrers auf der einen Seite, wie eines „Neureichen“ mit vergleichsweise niedriger formaler Bildung auf der anderen wird uns in den Medien täglich auf recht plakative Weise vor Augen geführt, dass soziale Schichten an Kohärenz verlieren. Ohne diese gesellschaftlichen Entwicklungslinien an dieser Stelle umfassend nachzeichnen zu können, dürfte deutlich geworden sein, dass die skizzierten Auflösungserscheinungen bzw. Entkopplungsphänomene die klassische Ungleichheitsforschung mit neuen Herausforderungen konfrontiert haben. Eine mögliche Antwort auf die Frage, an welchen Indikatoren soziale Ungleichheit adäquat festzumachen wäre, versucht der Lebensstilansatz zu geben, der zumindest teilweise als ein Versuch eines Paradigmenwechsels weg von den Konzepten sozialer Klassen oder Schichten zu interpretieren ist. Lebensstile sind als „relativ stabile, 83
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ganzheitliche und routinisierte Muster der Organisation von expressivästhetischen Wahlprozessen“ zu verstehen (GEORG 1998, S. 13), wobei sich mit der Segmentierung der Gesellschaft in Gruppen gleichen oder ähnlichen Lebensstils nicht nur ein Indikator des sozialen Wandels anbietet, sondern auch die Hoffnung verbindet, einen plausibleren Erklärungsansatz für soziale Ungleichheit zu erhalten: So ist die Integration in eine Lebensstilgruppe für das Individuum einerseits identitätsstiftend im Sinne der Konstruktion einer internen Gruppenhomogenität, andererseits handelt es sich bei der Lebensstilisierung aber auch um eine Strategie zur Distinktion gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen. Auf die Techniken der sozialen Schließung durch die herrschenden Klassen zum Zweck der Unterbindung des sozialen Aufstiegs unterprivilegierter Gruppen hat bereits Max WEBER (1972) hingewiesen. Gewissermaßen eine moderne „Neuauflage“ erfährt WEBERs zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestellte Diagnose der ständischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Form der Lebensstilanalyse: An Stelle des eindimensional vertikal stratifizierten Gesellschaftsbildes wird die Analyse sozialer Strukturen mittels des Konzeptes der Lebensstile vorgeschlagen, das die Trennungslinien sozialer Großgruppen in den westlichen Industrienationen anhand erweiterter Kriterien wie der persönlichen Einstellung zu bestimmten Normen und Werten und den daraus resultierenden Umständen der Alltagsgestaltung differenzierter zu erklären versucht (vgl. BOURDIEU 1982). Obgleich die wissenschaftliche Lebensstilforschung mit BOURDIEU ihren Anfang nahm, kommen BOURDIEUs Überlegungen eine Sonderrolle zu. Im Gegensatz zu Lebensstiltheoretikern, die von einer Ablösung der Bedeutung der sozialen Hierarchien durch lebensstilspezifische Merkmale ausgehen (z.B. SCHULZE 1992, HITZLER 1994), betrachtet er unterschiedliche Lebensstilgruppen der klassischen vertikalen Einteilung der Gesellschaft in soziale Klassen nicht als entgegengesetzt. Stattdessen geht er konventionell von der berufsgruppenbezogenen Unterteilung in drei Klassen aus. BOURDIEU unterscheidet die herrschende Klasse (selbstständige Akademiker, Hochschullehrer, leitende Angestellte), das Kleinbürgertum (gleichbedeutend mit mittleren Berufspositionen wie Angestellte und Beamte) sowie die Arbeiterklasse voneinander. Diesen drei Klassen ordnet er grobe Geschmackspräferenzen zu – so ist die herrschende Klasse um Distinktion zu den unteren Schichten bemüht, die durch einen Luxusgeschmack erreicht wird (vgl. BOURDIEU 1982, S. 405ff.). Das Kleinbürgertum zeichnet sich durch Bildungsbeflissenheit aus, um den Aufstieg zur herrschenden Klasse zu schaffen oder dies wenigstens zu suggerieren (vgl. ebd., S. 503ff.). Demgegenüber bleibt der Arbeiterklasse nur der 84
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„Notwendigkeitsgeschmack“, der sich durch das Fügen in die eigene Lage auszeichnet und keinerlei Spielräume für eine individuelle Lebensstilisierung zulässt (vgl. ebd., S. 585ff.). Diese drei Klassen werden intern in Klassenfraktionen eingeteilt, die von BOURDIEU als „Raum der sozialen Positionen“ bezeichnet werden und ihren nach außen hin sichtbaren Ausdruck in den Lebensstilen („Raum der Lebensstile“) finden (vgl. ebd., S. 277ff.). Diese „feinen Unterschiede“ innerhalb der Klassen äußern sich in unterschiedlicher Ressourcenausstattung, wobei BOURDIEU drei verschiedene Ressourcen (von ihm als Kapitalarten bezeichnet) voneinander unterscheidet: das ökonomische Kapital (definiert durch Einkommen und Besitz materieller Güter bzw. direkt in Geld überführbares Eigentum), das kulturelle Kapital (neben formaler Schul- und Hochschulbildung auch z.B. das Wissen um Literatur, Komponisten und deren Werke, Malerei etc., aber auch die Kenntnis von Verhaltens- und Benimmvorschriften) sowie das soziale Kapital (im Wesentlichen handelt es sich um soziale Netzwerke) (vgl. BOURDIEU 1983). Die Kapitalausstattung jedes einzelnen Individuums bestimmt dann in Kombination mit dem von ihm erlernten Verhalten (von BOURDIEU als „Habitus“ bezeichnet) den jeweiligen Lebensstil. Im Wesentlichen ist für BOURDIEU die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, das soziale Prestige also, für die Position in der Gesellschaft bestimmend. Die so aufgeteilten Berufsgruppen werden mit spezifischen Lebensstilen verknüpft, ohne sich damit von der vertikalen Stratifikation zu lösen. Entgegen den Entstrukturierungstheorien, die einen Bedeutungsverlust der Berufsgruppe zur Erklärung sozialer Phänomene postulieren, hält BOURDIEUs Lebensstilkonzept somit an der Variable fest, der am wenigsten Prägekraft für die Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts nachgesagt wird. Sein Ansatz kann daher „als theoretischer Gegenpol zu den Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Entstrukturierungsthesen gesehen werden. [...] Individuelle Formen der Lebensführung und Lebensstile sind in seinem Ansatz [...] in erster Linie Ausdruck der Klassenzugehörigkeit“ (REICHENWALLNER 2000, S. 23). Der BOURDIEU’sche Ansatz betont stark die Korrelation zwischen sozialen Lagen und Lebensstilen, die Erweiterung des Marx’schen Kapitalbegriffs unterstreicht dieses Anliegen: „Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, inkorporierter Form“ (BOURDIEU 1983, S. 183). Entgegen den Lebensstiltheoretikern, die eine grundsätzlich freie Wählbarkeit des individuellen Stils postulieren (vgl. z.B. SCHULZE 1992; HITZLER 1994; LÜDTKE 1995), versteht er die soziale Welt nicht als Ort der „vollkommenen Konkurrenz und Chancengleichheit“, sondern sieht die Konstanz der „Vererbung von erworbenen Besitztümern und Eigen85
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schaften“ (BOURDIEU 1983, S. 183). GEORG (1998, S. 64) stellt heraus, dass „BOURDIEUs zentrales Anliegen [...] die Entmystifizierung des Geschmacks“ ist, den er mit sozialem Status verknüpft sieht. Es sind also nicht die Lebensstile, die ursächlich gesellschaftliche Realitäten schaffen, sondern nach wie vor die Klassenunterschiede, die durch unterschiedliche Lebensstile nach außen dargestellt werden. Für BOURDIEU ist der Lebensstil von Personen somit „als leicht dekodierbarer Indikator für ihre materielle und kulturelle Kapitalausstattung und somit für ihre Klassenzugehörigkeit“ (MÜLLER-SCHNEIDER 2000, S. 361) anzusehen.
Symbolische Bezugssysteme als Lebensstilgeneratoren Lässt sich bei BOURDIEUs Lebensstilansatz ein enger Zusammenhang von Berufsgruppe, Klassenlage und Lebensstil feststellen, so ist dies bei anderen Perspektiven auf soziale Milieus, wie etwa der in der „Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard SCHULZE (1992), ausdrücklich nicht der Fall. Im Gegensatz zu BOURDIEU löst sich SCHULZE von der strukturalistischen Perspektive, die einen engen Zusammenhang von sozialer Lage und Lebensstil behauptet. Stattdessen verfolgt SCHULZE eine voluntaristische Perspektive, die eine grundsätzliche Wahlfreiheit bei der Verwirklichung eines Lebensstils behauptet. Die einzelnen sozialen Milieus 14 14 SCHULZE verwendet nicht den Begriff der „Lebensstilgruppe“, sondern den Begriff des „sozialen Milieus“. HRADIL (1992, S. 15f.) unterscheidet soziale Milieus und Lebensstile analytisch dahingehend voneinander, dass er soziale Milieus „auf der Ebene der grundlegenden Werthaltungen und Einstellungen“ verankert sieht, während Lebensstile „ihren Kern in gemeinsamen Verhaltensweisen von Menschen“ haben und damit stärker handlungstheoretisch ins Gewicht fallen. Der Milieubegriff betont also die Voraussetzungen für Handlungen, während der Lebensstilbegriff eher auf die Handlungen selbst fokussiert und damit die Expressivität in den Mittelpunkt stellt. Davon zu unterscheiden ist der Subkulturbegriff, der auf die Ziele der Handlungen abhebt. Allerdings „wird sichtbar, dass sich Subkultur-, Milieu- und Lebensstilkonzepte ergänzen“ (HRADIL 1990, S. 138). DANGSCHAT (2007) plädiert noch stärker für eine analytische Trennung der Termini „Lebensstil“ und „soziales Milieu“. Soziale Milieus versteht er als „Wertegemeinschaften, die einerseits durch unmittelbare soziale Kontakte stabilisiert und verstärkt (Mikro-Milieus), andererseits auch durch medial vermittelte weltanschauliche Prägungen und allgemeine Trends gebildet werden (Makro-Milieus)“ (ebd., S. 33). Lebensstile sind für DANGSCHAT hingegen „Verhaltensweisen mit einem gewissen Kontinuitätsgrad […] und damit (ein Teil der) Ausdrucksform sozialer Milieus und dahinter stehenden Wertvorstellungen“ (ebd., S. 33). Forschungspraktisch erscheint diese terminologische Trennung allerdings 86
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versteht SCHULZE als mehr oder weniger abgeschlossene Welten mit einer jeweils eigenen symbolischen Ordnung und einem eigenen Wissenshintergrund: „Soziale Milieus sind Gemeinschaften der Weltdeutung. Unterschiedliche Erfahrungshorizonte und auseinanderlaufende Routinen der Verarbeitung wahrgenommener sozialer Wirklichkeit führen dazu, dass es in unserer Gesellschaft mehrere Welten gibt. Gleiche reale Ereignisse, etwa politischer Art, kommen schon unterschiedlich gefiltert und aufbereitet in den verschiedenen Milieus an, um dort in weit auseinanderliegenden semantischen und normativen Bezugssystemen noch einmal unterschiedlich interpretiert und in Handlungen [...] umgesetzt zu werden. Dass gerade die eigene Reaktion normal ist, dass es neben der eigenen Welt keine wirklich vernünftige andere gibt, ist selbstverständlich, denn das teilkulturelle Umfeld reagiert ja genauso.“ (SCHULZE 1992, S. 267)
Die in der Eigengruppe als „legitim“ erachtete Reaktion ist demnach abhängig von den jeweils vorherrschenden Wertvorstellungen. Da aus den „Gemeinschaften der Weltdeutung“ je spezifische „vernünftige“ Handlungsmuster abgeleitet werden, besteht zwischen der evaluativen Ebene (soziales Milieu) und der Ebene der Handlungspraxis (Lebensstil) ein enger Zusammenhang. SCHULZE zeigt zunächst auf theoretischer Ebene drei sehr unterschiedliche normative Bezugssysteme (die expressiv durch spezifische Präferenzstrukturen in Erscheinung treten) der bundesdeutschen Gesellschaft auf, die er als „alltagsästhetische Schemata“ bezeichnet: das Hochkulturschema, das Trivialschema sowie das Spannungsschema. Diese Schemata unterscheiden sich voneinander hinsichtlich dreier Merkmale: Das erste Unterscheidungskriterium ist, was durch das jeweilige Schema als Genuss definiert wird, das zweite ist die Art der Distinktion gegenüber den anderen Schemata, und das dritte ist die Lebensphilosophie des jeweiligen Schemas, welche für SCHULZE eine Art kollektives Zielsystem beschreibt. Zu dem, was im Sinne des Hochkulturschemas als Genuss zu verstehen ist, sagt SCHULZE Folgendes: wenig fruchtbar, da Lebensstile nicht nur expressive Merkmale berühren, sondern auch eine evaluative Haltung ihres Trägers erfassen. Zudem erfolgt die empirische Erfassung von sozialen Milieus (etwa bei SCHULZE) keineswegs nur auf der Basis von Wertvorstellungen und Weltanschauungen, sondern vielmehr im Rückgriff auf gemeinsame Handlungsoder Verhaltensweisen. SCHULZES „soziale Milieus“ können folglich als Lebensstile verstanden werden. Das empirische Vorgehen im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist i.W. am Vorgehen SCHULZES orientiert; die Begriffe „soziales Milieu“ und „Lebensstil“ werden daher synonym verwendet. 87
ENTGRENZTE STADT
„Als Formel für das Muster von Genuss, das im Hochkulturschema kodiert ist, sei der Ausdruck Kontemplation gewählt. Somatisch gesehen ist Kontemplation ein Zustand der Ruhe, psychisch ein Vergnügen des Dekodierens [...]. Die intensive, introvertierte Zuwendung zum Zeichen ermöglicht sowohl besonders tiefe Ich-Erfahrung als auch Ich-Überschreitung – wenigstens ein Abglanz dessen, was in der philosophischen Mystik des europäischen Mittelalters mit ‚Kontemplation‘ gemeint war, die unmittelbare Vereinigung mit dem Göttlichen.“ (SCHULZE 1992, S. 145)
Der Inhalt dessen, was unter Genuss im Hochkulturschema zu verstehen ist, bleibt dabei prinzipiell austauschbar: „Nicht auf den Inhalt der poetischen Mitteilung kommt es an, sondern auf die Form“ (SCHULZE 1992, S. 144). Daher ist es im Hochkulturschema zwar im Laufe seiner langen Tradition zu Veränderungen der Zeichen gekommen, nicht aber zur Veränderung der Zeichengruppen, die dem entsprechen, was BOURDIEU als „legitimen Geschmack“ bezeichnet: „Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Hochkulturschema immer mehr mit kunstgeschichtlicher Masse angereichert: Es schluckte unter anderem Barock, Wiener Klassik, Romantik, aber auch Ibsen, Musil, Brecht, Beckett, Beuys. Es verleibte sich Andy Warhols Coca-Cola-Flaschen und dessen Siebdrucke von Marilyn Monroe ein sowie Fotografien, Graffiti und Industriekultur, sobald sich die Definition solcher Objekte als zugehörig zum Hochkulturschema durchgesetzt hatte.“ (SCHULZE 1992, S. 142)
Die Austauschbarkeit des Inhalts und die Betonung der Form, die Frage nach dem „wie“ anstelle der Frage nach dem „was“ ist kennzeichnend für die gesamte Lebensphilosophie des Hochkulturschemas. Es handelt sich um ein Streben nach Perfektion, wobei durch den Fokus auf das „wie“ auch gegensätzliche Inhalte prinzipiell miteinander vereinbar werden: „Die Aufmerksamkeit für Perfektion bleibt dem Inhalt gegenüber neutral. Nicht die kulturell ausgedrückten Werte interessieren, sondern die Art des Ausdrucks, sei sie im Werk selbst angelegt [...] oder in seiner Präsentation“ (SCHULZE 1992, S. 149f.). Während SCHULZE bis in die 1960er Jahre hinein noch einen engen Zusammenhang von ökonomischen Ressourcen, Bildung und Adaptation des Hochkulturschemas diagnostiziert und das Hochkulturschema somit als Expression der Zugehörigkeit zur bildungsbürgerlichen Oberschicht in einem mehr oder weniger eindimensionalen sozialen Schichtungssystem zu verstehen ist, unterliegt dieser Zusammenhang seit den 1970er Jahren einem Erosionsprozess: 88
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„Hochkultureller Stil distinguiert heute nicht mehr primär zwischen Gruppen mit verschiedenem ‚Auskommen‘, weil die Zugehörigkeit dieses Stils nur noch unwesentlich von der ökonomischen Situation abhängt. Wie schon die Analyse des kontemplativen Genussschemas gezeigt hat, ist die Zugänglichkeit des Hochkulturschemas dagegen nach wie vor bildungsabhängig.“ (SCHULZE 1992, S. 146)
Ausdruck dieses Bildungsvorsprungs und damit Mittel der Distinktion ist somit das Wissen um das, was als verfeinert, kultiviert und gebildet verstanden wird. Man grenzt sich vom „Typus des Barbaren in seiner aktuellen Version“ (ebd., S. 146) ab. In Anlehnung an BOURDIEU kann die im Hochkulturschema beinhaltete Distinktion als „antibarbarisch“ charakterisiert werden. „Als kulturelle Feindbilder der Gegenwart fungieren unter anderem der biertrinkende Vielfernseher, der Massentourist, der Bildzeitungsleser“ (SCHULZE 1992, S. 146). Diese Feindbilder finden ihre Projektion im Trivialschema: Steht das Hochkulturschema für „individuelle Kultiviertheit“ und „ästhetischen Anspruch“, so beschreibt SCHULZE das Trivialschema mit „Massengeschmack“ und „vergnügungsorientierter Anspruchslosigkeit“. Als symbolische Zeichen nennt er unter anderem „Blasmusik und deutsche Schlager, Volksmusik, Liebesfilm und Familienquiz, Heiratroman und Bunte Illustrierte“ (ebd., S. 150). Auffallend ist hier, dass es für diesen alltagsästhetischen Komplex nahezu ausschließlich abwertende Bezeichnungen gibt: „Kitsch, Schnulze, Rührseligkeit, Spießigkeit, schlechter Geschmack, Geschmacklosigkeit“ (ebd., S. 150). Bedarf das Hochkulturschema einer hinreichenden Komplexität um Distinktion über den Bildungsvorsprung herstellen zu können, ist das Trivialschema durch Einfachheit gekennzeichnet. Es schließt nicht aus, sondern integriert: „Der Gegenstand des Erlebens ist einfach. Verse reimen sich, Rhythmen werden auf den ersten Taktschlag betont, Texte sind mit Bildern versehen oder bestehen nur aus Bildern. Das Ergebnis strengt nicht an. Zum hochkulturellen Prinzip der Variation elaborierter formaler Strukturen finden wir hier das Gegenprinzip: die Wiederholung des Schlichten. Man sucht nicht das Neue, sondern das Altgewohnte. Das schöne Erlebnis im Trivialschema kommt für den deutschsprachigen Beobachter am besten in dem Wort ‚Gemütlichkeit‘ zum Ausdruck. [...] Man ist einander nahe; die Gesichter sind freundlich; für das leibliche Wohl ist gesorgt; man sitzt; alles ist vertraut; nichts wird vom einzelnen verlangt, außer, die Gemütlichkeit nicht zu stören.“ (SCHULZE 1992, S. 151)
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Die Notwendigkeit der Abgrenzung besteht somit gegenüber all dem, was den Genuss der Gemütlichkeit, das Streben nach innerer Harmonie zu stören vermag; Distinktion verläuft also gegenüber denen, die offenkundig nicht dazugehören wollen. Gedacht wird dabei eine imaginäre Gemeinschaft, der man sich selbst zugehörig fühlt, die in der symbolischen Praxis beschworen wird und oft nur hier erfahrbar ist: „Abgelehnt werden die Fremden, die Individualisten, vor allem, wenn sie den Eindruck erwecken, mit ihrer Eigenart auch noch provozieren zu wollen“ (ebd., S. 152). Die Form der Distinktion kann somit als antiexzentrisch beschrieben werden. Als entstehungsgeschichtlich jüngstes alltagsästhetisches Schema nennt SCHULZE das „Spannungsschema“, dessen Zeichenkodex sich in den 1960er Jahren zu entwickeln begann. Ursache für die Entstehung ist seiner Ansicht nach die Zunahme der „Geschwindigkeit des Alltagslebens“, die eine neue Dynamik nach sich zog und mit der Grunderfahrung der gesellschaftlichen Beschleunigung (vgl. ROSA 2005) einhergeht. Diese tiefgreifenden sozialen Veränderungen, verbunden mit der Tatsache, dass nun erstmalig eine Generation mit dem Bewusstsein heranwuchs, dass es ihr nicht in jedem Fall wirtschaftlich bessergehen würde als der Elterngeneration, brachte eine Vielzahl gesellschaftskritischer und lebensphilosophischer Tendenzen mit in die Alltagskultur. Rock- und Popmusik bildeten einen integrierenden Fokus einer „Gegenkultur“, die sich vor allem ab Mitte der 1970er Jahre in unterschiedliche subkulturelle Strömungen aufgliederte. Gemein blieb diesen Subkulturen ihre Affinität zu einer ständigen Dynamisierung, Bewegung und Expressivität. Die Suche nach immer neuen, bewegenden Erlebnissen, die in dem Begriff „Spannung“ zum Ausdruck kommt, treibt seither – angeheizt von der Durchdringung des Alltags mit massenkommunikativen Medien wie Radio, Fernsehen, Internet – immer neue Früchte. Dabei finden recht unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen ihren Ausdruck in diesen zunächst gegenkulturellen Zeichen. Sowohl politischer Aktionismus als auch demonstrativ zur Schau gestellter Hedonismus finden in diesem Schema ihren alltagskulturellen Ausdruck. Eine zentrale Rolle für die Vorstellung von Genuss im Spannungsschema spielt die Selbstinszenierung, die auch auf den Körper bezogen sein kann: „Man agiert sich aus (Disco, Sport, Pop-Konzerte), verwendet Zeit und Geld für die äußere Erscheinung, zeigt sich her, mustert die anderen“ (SCHULZE 1992, S. 154f.). Im Vordergrund steht die Suche nach dem Erlebnis der Abwechslung, das Verlangen nach immer neuen, immer stärkeren Reizen. Nichts ist schlimmer als Langeweile – „Unruhe und ein erhöhtes Aktionspotential kombiniert [...] mit der Bereitschaft, sich durch starke Erlebnisreize stimulieren zu lassen“ (ebd., S. 155) ent90
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sprechen der Grundorientierung. Eine Abgrenzung erfolgt gegen alles, was Langeweile und Stillstand symbolisiert – die Distinktion des Spannungsschemas kann daher als antikonventionell charakterisiert werden. Maßstab und gleichzeitig Gegenstand dieser Inszenierung ist das eigene Ich. Während nach SCHULZE die Lebensphilosophie des Hochkultur- sowie des Trivialschemas über die eigene Person hinaus weisen, ist die Lebensphilosophie im Spannungsschema darauf ausgerichtet, sich in Szene zu setzen und „das Selbst gut zu stimulieren“ (ebd., S. 156). MÜLLER-SCHNEIDER (2000, S. 364) sieht die Präferenzen des Spannungsschemas eng „mit einer narzisstischen Lebensphilosophie verbunden“. Aufbauend auf diesen theoretischen Ansatz, der ja operationalisierbare Hypothesen enthält (vgl. die in Tabelle 1 genannten Symbole), hat SCHULZE eine empirische Untersuchung mit 1014 Probanden in Nürnberg durchgeführt. Mit Hilfe von Faktoren- und Korrespondenzanalysen konnte er fünf unterschiedliche soziale Milieus (= Lebensstilgruppen) aufzeigen. Kennzeichnend für SCHULZEs soziale Milieus ist, dass sich jedes Milieu unterschiedlich zu den drei alltagsästhetischen Schemata positioniert, das heißt, dass einem Schema entweder zugesprochen oder aber mit Ablehnung begegnet wird. Die Schemata sind also nicht als Alternativen, sondern als Kombinationsmöglichkeiten zu verstehen. Das Niveaumilieu ist durch Zuspruch zum Hochkulturschema und einer Ablehnung des Trivialschemas sowie des Spannungsschemas gekennzeichnet. In diesem sozialen Milieu befinden sich vor allem ältere, höher gebildete Personen, die zumeist akademischen Berufen nachgehen. Die Freizeit wird außerhäuslich vorwiegend durch Museums-, Konzert-, Opern- und Theaterbesuche gestaltet, bei der im Haus verbrachten Freizeit dominiert das Lesen als „gehoben“ geltender Lektüre. Falls ferngesehen wird, dann vor allem politische Magazine, Sendungen zur Zeitgeschichte sowie Nachrichten. Exklusivität wird ähnlich wie bei dem von VEBLEN (1986) beschriebenen „demonstrativen Konsum“ zur Schau getragen: Mitgliedschaften im Lions Club sowie Golfclub sind häufig, der Kleidungsstil ist elegant. Die allgemeine Wertorientierung kann als konservativ bezeichnet werden; politisches Engagement findet in konservativen oder liberalen Parteien statt. Das Harmoniemilieu bezieht seine alltagsästhetischen Zeichen vor allem aus dem Trivialschema, zu den beiden anderen Schemata ist eine Distanz festzustellen. Auch in dieser Lebensstilgruppe finden sich ältere Personen, die im Gegensatz zum Niveaumilieu aber zumeist über ein geringeres Bildungsniveau verfügen. Hinsichtlich der in diesem Milieu zu findenden Berufsgruppen sind vor allem Rentner zu nennen, des Weiteren ist der Anteil an Arbeitern und einfachen Angestellten (z.B. 91
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Einzelhandel) recht hoch. Die Freizeit wird vorwiegend im häuslichen Bereich verbracht, der Fernsehkonsum (vorwiegend Quizsendungen, Fernsehshows, Heimatsendungen) ist hoch. Oftmals wird die soziale Welt außerhalb der Eigengruppe (Familie, Freunde) mit Misstrauen betrachtet und somit vorwiegend aus der Perspektive der Gefahr erschlossen, was ein Streben nach Harmonie und Geborgenheit innerhalb der Eigengruppe nach sich zieht. Tabelle 1: Alltagsästhetische Schemata Hochkulturschema
Trivialschema
Spannungsschema
Genuß
Kontemplation
Gemütlichkeit
Erlebnis, „Action“
Distinktion
Antibarbarisch
Antiexzentrisch
Antikonventionell
Lebensphilosophie
Streben nach Per-
Streben nach
Unterhaltung und
(Ziele)
fektion
Harmonie
Selbstverwirklichung
Symbole (Beispiele) Klassische Musik
Deutscher Schlager
Rockmusik
Museumsbesuch
Arztroman
Thriller, Actionfilme
Theaterbesuch
Fernsehquiz
Kneipenbesuche
„gute“ Bücher lesen
Discobesuche Kinobesuche
Quelle: SCHULZE (1992, S. 163), ergänzt
Gewissermaßen eine Zwischenstellung zwischen dem Niveaumilieu auf der einen und dem Harmoniemilieu auf der anderen Seite nimmt die von SCHULZE als Integrationsmilieu beschriebene Lebensstilgruppe ein. Bei einer ähnlichen Altersstruktur (vorwiegend Personen über 40 Jahre) finden sich in dieser Gruppe vor allem die Personen mit mittleren Bildungsabschlüssen und mittleren Berufspositionen (hoher Anteil an Beamten, mittleren Angestellten). Die alltagsästhetische Orientierung bezieht dabei Zeichen aus dem Trivialschema sowie dem Hochkulturschema ein, während man dem Zeichenkodex des Spannungsschemas mit moderater Ablehnung begegnet. SCHULZE bezeichnet als besonderes Kennzeichen des Integrationsmilieus seine Durchschnittlichkeit (vgl. ebd., S. 301). Wichtig sind Werte wie Ordentlichkeit. So richtet sich „die Aufmerksamkeit des Integrationsmilieus auf das, was sich gehört, was man soll, was legitim ist, was kein Aufsehen erregt“. Allzu demonstrativ zur Schau gestellter Exklusivität und Extravaganz des Niveaumilieus steht man genauso ablehnend gegenüber wie der proletarischen Derbheit des Harmoniemilieus. Das Selbstverwirklichungsmilieu zeichnet sich durch eine Nähe zum Hochkulturschema sowie zum Spannungsschema aus, die Zeichen des Trivialschemas werden dagegen abgelehnt. In dieser Lebensstilgruppe 92
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sind vor allem jüngere Personen (unter 40 Jahren) mit mittlerer oder höherer Bildung zu finden. Keine andere Lebensstilgruppe tritt so deutlich in Erscheinung wie das Selbstverwirklichungsmilieu, das durch seinen „Drang nach außen“ sowie der starken „Neigung zur Selbstdarstellung“ den öffentlichen Raum der Städte mit Leben füllt. Cafés, Bars, Restaurants, Discotheken, Kinos, Konzerte, (freie) Theater und Kleinkunstbühnen: All diese Räume leben maßgeblich vom Selbstverwirklichungsmilieu und dienen diesem als Bühne zur Inszenierung des eigenen Ichs. Innerhalb dieses Milieus gibt es eine starke innere Differenzierung. Das Selbstverwirklichungsmilieu zerfällt wie kein anderes Milieu in kleinere Subgruppen, denen allerdings dieselbe alltagsästhetische Orientierung zu eigen ist: „Es schließt Alternative ein und Yuppies, Weiblichkeit alten und neuen Stils, Aufsteiger und Aussteiger, Konsumsüchtige und Abstinente. Doch die existentielle Anschauungsweise begründet Verwandtschaft.[...] Dieser Selbstbezug – ‚Weil ich es so will‘ – definiert Verwandtschaft über die symbolischen Differenzen hinweg“ (SCHULZE 1992, S. 312). So ist es auch zu erklären, dass sowohl der „stille Genuss“ des Hochkulturschemas als auch der Drang des „Ausagierens“ des Spannungsschemas im Selbstverwirklichungsmilieu vereinbar sind. Zentral ist die im Gegensatz zu den anderen drei Milieus im Selbstverwirklichungsmilieu bestimmende Ich-Verankerung des Handelns, während die anderen Schemata eine Welt-Verankerung aufweisen und somit normorientiert sind. Während das Selbstverwirklichungsmilieu evidente Zeichengruppen aus Hochkulturschema und Spannungsschema in sich vereint und so ein sich auf den ersten Blick scheinbar widersprechendes Zielsystem aus Kontemplation und „Action“ zu konstruieren vermag, bezieht sich das Unterhaltungsmilieu ausschließlich auf das Spannungsschema, während zu den anderen beiden alltagsästhetischen Schemata Distanz gewahrt wird. Gemein sind dem Selbstverwirklichungs- sowie dem Unterhaltungsmilieu nicht nur die Altersstruktur (überwiegend Personen unter 40 Jahren), sondern auch die ichbezogene Weltsicht, die an den eigenen spontanen Bedürfnissen orientiert ist und narzisstische Züge zeigt. Anders als im Selbstverwirklichungsmilieu sind es vor allem Personen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen, aus denen sich das Unterhaltungsmilieu rekrutiert. Obgleich konsumatorische Ziele einen hohen Stellenwert in dieser Lebensstilgruppe genießen, ist das Unterhaltungsmilieu im öffentlichen Raum im Gegensatz zum in den Szenevierteln der Großstädte omnipräsenten Selbstverwirklichungsmilieu kaum sichtbar, was durch „das Verschwinden in Angebotsfallen“ begründet ist: „Kino, Fußballplatz, Automatensalon, Videothek, Autorennen, Fitneßstudios 93
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[...]“ (SCHULZE 1992, S. 322) sind die Räume des Unterhaltungsmilieus, und dort ist es nahezu unter sich. Das Selbstverwirklichungsmilieu und das Unterhaltungsmilieu sind die beiden sozialen Gruppen, die eine Affinität zum entstehungsgeschichtlich jüngsten der drei alltagsästethischen Schemata, dem Spannungsschema, aufweisen, während die anderen Milieus diesem ablehnend oder indifferent gegenüberstehen. Selbstverwirklichungssowie Unterhaltungsmilieu sind damit nicht nur von der Altersstruktur her als jüngere Lebensstilgruppen anzusehen, sie sind auch entstehungsgeschichtlich die jüngeren Milieus, da sie erst mit Auftreten des Spannungsschemas Ende der 1960er Jahre erscheinen. Das Spannungsschema und die ihm affinen Milieus lassen sich damit als Ausdruck der Wertepluralisierung verstehen. Der fundamentale Unterschied dieser neuen Milieus im Vergleich zu den älteren Milieus ist die Weltsicht der Individuen, gewissermaßen die Positionierung des Ichs in der Welt: Können die älteren Milieus als normorientiert gelten, was eine (um)weltverankerte Einordnung des Ichs impliziert, so manifestiert sich in den neueren Milieus eine ich-verankerte Sichtweise bzw. Positionierung in der Welt: „Rangstreben, Geborgenheitsstreben und Konformitätsstreben, die Problemdefinitionen der [...] älteren Milieus, haben ihre mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln in einer ursprünglich außenorientierten Lebensplanung. Anders das Ziel der Selbstverwirklichung [das ja seine Zeichen aus dem Spannungsschema bezieht, T.P.]: es war von Anfang an als innenorientiertes Projekt gemeint.“ (SCHULZE 1992, S. 315)
Obgleich SCHULZE keine explizite sozialräumliche Verortung der von ihm beschriebenen Milieus vornimmt, sind Querbezüge zur Raumnutzung und -aneignung offenkundig. Die Qualität von Orten eignet sich in sehr unterschiedlichem Maße zur Realisierung eines Lebensstils, wie am Beispiel des Selbstverwirklichungsmilieus (Cafés, Bars, Restaurants, Discotheken, Kinos, Konzerte, (freie) Theater und Kleinkunstbühnen), des Unterhaltungsmilieus („Kino, Fußballplatz, Automatensalon, Videothek, Autorennen, Fitnessstudios“) oder des Niveaumilieus („Museums-, Konzert-, Opern- und Theaterbesuche“) gezeigt werden kann (vgl. SPELLERBERG 2007). Diese sozialen Milieus können relativ direkt bestimmten „locales“ zugeschrieben werden, die allesamt dem Typus der „vorderseitigen Regionalisierung“ (GIDDENS 1997, S. 175ff.) entsprechen. Demgegenüber scheinen das Harmoniemilieu und das Integrationsmilieu an Orten vom Typus der „vorderseitigen Regionali-
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sierung“ deutlich unauffälliger zu agieren. Von größerer, sozial integrativer Bedeutung für diese Lebensstilgruppen sind Orte der „rückseitigen Regionalisierung“, die keinen expliziten Bühnencharakter aufweisen. Dies führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der verschiedenen Sozialen Milieus im Stadtbild und insbesondere im Image verschiedener Quartiere: Lebensstilgruppen mit einer geringeren Chance zu vorderseitigen Regionalisierungen droht die Marginalisierung. Nur im Stadtbild präsente Gruppen werden als kohärente soziale Gruppen wahrgenommen. Hiermit einher geht die Artikulationsfähigkeit partikularer Interessen, etwa wenn Auseinandersetzungen um Lärmemissionen in Kneipen- bzw. Ausgehvierteln zu führen sind, wo das Selbstverwirklichungsmilieu und seine Interessen viel deutlicher wahrgenommen werden als das Interesse der (heterogenen und nicht als soziale Gruppe in Erscheinung tretenden) Anwohner auf Ruhe. An dieser Stelle wird der Querbezug zum eingangs erläuterten Begriff der „authority constraints“ von HÄGERSTRAND deutlich: Die verschiedenen Durchsetzungschancen zur Kontrolle über den Raum scheint im Kontext zu Sozialen Milieus bzw. Lebensstilen zu stehen. Nicht nur dass die Organisations- und Artikulationsfähigkeit interessenshomogener Gruppen besser ist, auch ihre Machtchancen hinsichtlich der Ausübung räumlicher Hegemonie ist höher. So wird das „Vergnügungsviertel“ einer Stadt von den vergnügungswilligen Wochenendbesuchern aus dem Umland nicht nur symbolisch in Besitz genommen: Für Menschen, die dieser Form des Hedonismus entgehen wollen, bleibt nur die Möglichkeit, zu den betreffenden Zeiten diesen Ort zu meiden. Eine ähnliche temporäre Raumaneignung findet etwa statt, wenn eine Großgruppe Fußballfans, begleitet von den typischen Fangesängen, zu einem Stadion zieht. Auch wenn diese Beispiele der Raumaneignung durch Milieus drastisch wirken mögen: Derart im öffentlichen Raum wahrnehmbar werden Soziale Milieus nur durch ihr periodisches oder episodisches Auftreten. Darüber hinaus muss aber in den besten Lagen der Großstädte eine Dominanz des Niveaumilieus mit den hiermit einhergehenden symbolischen Raumaneignungen angenommen werden (Kultureinrichtungen wie Opernhäuser, Konzertsäle, Theater, Museen etc.), 15 während dem Unterhaltungsmilieu eher die B-Lagen zugewiesen werden (Sportstätten am Rande der Stadt, Großraumkinos an Hauptausfallstraßen etc.). Dieser Anspruch des Niveaumilieus auf die „besten Lagen“ findet auch einen planungspraktischen Ausdruck, etwa wenn es
15 An dieser Stelle sei auf die geplante Elbphilharmonie verwiesen, die in exponierter Lage der HafenCity entstehen soll. 95
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darum geht, mit Hilfe von städtebaulichen Großprojekten eine Stadt der Reichen, Schönen und vor allem der „Kultivierten“ zu verwirklichen. Die Hamburger HafenCity dürfte hierfür ein Musterbeispiel darstellen. Die Aneignungsformen des Selbstverwirklichungsmilieus lassen sich als alltagsästhetische Auseinandersetzung um die räumliche Hegemonie mit den entstehungsgeschichtlich älteren Milieus (Integrationsmilieu, Niveaumilieu, Harmoniemilieu) deuten, mit denen es vor dem Hintergrund seiner Kapitalausstattung konkurrieren kann (vgl. hierzu auch Kapitel 2.2.1). Die mit dieser Entwicklung verbundenen und heute im Stadtraum identifizierbaren Prozesse sind vor allem die Aufwertung innenstadtnaher Altbauquartiere (Gentrification) sowie die Formierung von Szene- und Ausgehvierteln.
Lebensstile und Wertewandel Betrachtet man die Entwicklung der Lebensstilforschung aus dem Blickwinkel der eingangs diesen Kapitels skizzierten Diagnose eines gesellschaftlichen Wertewandels, so ist es nicht verwunderlich, dass die Lebensstilforschung seit etwa Mitte der 1980er Jahre Konjunktur hat: Mit zunehmender Pluralisierung der Wertorientierung in der Gesellschaft ist das eindimensionale Schichtmodell nicht mehr zur Erklärung sozialwissenschaftlicher Fragestellungen hinreichend, da eine konkurrierende Weltsicht Einzug in den gesellschaftlichen Diskurs halten konnte. Neben der weltverankerten Perspektive ist es die ich-verankerte Perspektive (bei SCHULZE durch den Begriff des Spannungsschemas beschrieben), die einen maßgeblichen Einfluss auf die gesellschaftliche Realität hat. Es ist der Zersetzungsprozess traditionaler Einbindungsformen, von BECK (1986) mit dem Begriff der Individualisierung beschrieben, der sich in der Ablösung der weltverankerten Perspektive durch die ich-verankerte Perspektive (SCHULZE) manifestiert. „So wird die Sanktionsgewalt [im Individualisierungsprozess, (T.P.)] dichter Kontrollnetze mit geschlossener Weltanschauung, klaren Autoritätsverhältnissen und Verpflichtungen abgeschwächt und äußere Kontrolle in eine innere Disziplinierung überführt“ (MICHAILOW 1996, S. 74). Zusätzlich tritt vor dem Hintergrund des gewachsenen allgemeinen Wohlstandes eine Subjektzentrierung der Individuen ein, die durch einen Zuwachs an Optionen und Lebenschancen und damit durch gestiegene Wahlmöglichkeiten individueller Lebensgestaltung gekennzeichnet ist. Infolgedessen kommt es nach BECK (1986) zu einer „Subjektivierung des Weltzugangs“ insgesamt. Der Zugriff auf die soziale Konstruktion 96
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der Welt vieler Menschen der westlichen Gesellschaften erfolgt nunmehr gewissermaßen von „innen“ heraus. Das Handeln ist im Wesentlichen auf subjektive Befriedigung und die Anreicherung des Innenlebens ausgerichtet. Genau diese Kennzeichen sind es, die SCHULZE zur Charakterisierung des Unterhaltungsmilieus bzw. des Selbstverwirklichungsmilieus anführt. MÜLLER-SCHNEIDER (2000, S. 34) zeigt auf, dass als Folge des Wertewandels „Lebensgenüsse enttabuisiert und rigide Verhaltenskontrollen zunehmend durch eine permissive Stiltoleranz ersetzt wurden“. Der Prozess der Individualisierung führt aber nicht zu einem Atomismus der Gesellschaft, sondern zu neuen sozialen Integrationsprozessen in Form einer (Lebensstil-)Gruppenbildung, wie ALLMEDINGER/LUDWIG-MAYERHOFER (2000) belegen. Da Menschen kollektive Referenzsysteme zur Validierung ihrer Identität benötigen, kommt es zu einer Herausbildung von Lebensstilgruppen, die eine „umfassendere“ Antwort auf die Frage nach Referenzrahmen geben und somit Sinnzusammenhänge definieren. „Neue Werte“ sind also der Auslöser für das In-Frage-Stellen der klassischen Sozialstrukturanalyse. Die Lebensstilforschung kann somit als alltagsweltliche Überführung des Wertewandels interpretiert werden.
Die Lebensstilforschung aus der Perspektive der Raumforschung Obgleich, wie bereits gezeigt wurde, insbesondere der Ansatz von SCHULZE Querbezüge von sozialen Milieus zu raum-zeitlicher Alltagsorganisation erkennen lässt, erfolgte die Adaption zeit- oder raumbezogener Zusammenhänge zunächst nur für den „Mikroraum“, der das Individuum unmittelbar umgibt und mit ihm und seinem Lebensstil in direkter Wechselwirkung steht. Gemeinhin ist dies der Wohnraum, der nach der Kleidung gewissermaßen als „dritte Haut des Menschen“ (SCHNEIDER/SPELLERBERG 1999, S. 78) gelten kann und in dem sein Stil einen wahrnehmbaren Ausdruck erfährt. Erst seit etwa Mitte der 1990er Jahre erfolgten Betrachtungen, die das aktionsräumliche Verhalten unterschiedlicher Lebensstilgruppen thematisierten. Besonderes Augenmerk lag zunächst auf dem Raum als „Bühne“, auf der sich der jeweilige Akteur inszeniert und damit zur Expressivität von Lebensstilen wesentlich beiträgt (vgl. DANGSCHAT 1996). Es konnte gezeigt werden, dass Lebensstilgruppen mit einem großen, stark außerhäuslichen Aktionsraum oft besonders hohe Ansprüche an Wohnraum stellen, obgleich sie vergleichsweise wenig Zeit dort verbringen. Demgegenüber messen 97
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Lebensstilgruppen mit kleinerem Aktionsraum, die einen Großteil ihrer Zeit innerhalb der eigenen vier Wände verbringen, der Gestaltung des Wohnraumes oft eine eher geringe Bedeutung bei (vgl. SPELLERBERG 1996). Sozialräumliche Bezüge sind mit diesen Befunden allerdings bestenfalls indirekt angesprochen. Als Erster hat sich BOURDIEU (1982; 1991; 2005) mit dem Zusammenhang von Wohnen, Wohnlage und Lebensstil beschäftigt. Ausgehend von der Situation in Frankreich skizziert BOURDIEU ein Modell eines Stadt-Land-Gefälles, wobei er den Zugang zu kulturellen Einrichtungen und damit zum kulturellen Kapital in den Großstädten am ehesten verwirklicht sieht. Die Lebensstile der herrschenden Klasse sind für BOURDIEU in der Stadt zu finden, wie er am Beispiel Frankreichs für die Primatstadt Paris ausführt. Mit zunehmender Entfernung vom kulturellen Zentrum (der Stadt also) sinkt der Anteil der herrschenden Klasse; in ländlichen Regionen dominieren kleinbürgerliche Lebensstile. BOURDIEUs Raumbegriff erscheint jedoch aus geographischer Sicht unscharf, da er neben dem physischen Raum den „sozialen Raum“ analysiert, der als „eine Struktur des Nebeneinanders von sozialen Positionen“ (BOURDIEU 1991, S. 26) zu verstehen ist. Die Positionierung von Individuen im „sozialen Raum“ werden ohne größere Umschweife auf den physischen Raum übertragen: „Der soziale Raum weist die Tendenz auf, sich mehr oder weniger strikt im physischen Raum in Form einer bestimmten distributionellen Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen. [...] Daraus folgt, dass alle Unterscheidungen in Bezug auf den physischen Raum sich wieder finden im [...] sozialen Raum“ (ebd., S. 26). Die soziale Hierarchie einer Gesellschaft wird daher erkennbar, indem man ihre räumlichen Segregationsmuster untersucht: „Die gesellschaftlichen Akteure [...] und ebenso die Dinge, insofern sie von den Akteuren angeeignet, also zu Eigentum gemacht werden, sind immer an einem konkreten Ort des Sozialraums angesiedelt, den man hinsichtlich seiner relativen Position gegenüber anderen Orten [...] und hinsichtlich seiner Distanz zu anderen definieren kann. [...] So bringt sich die Struktur des Sozialraums in den verschiedensten Kontexten in Gestalt räumlicher Oppositionen zum Ausdruck, wobei der bewohnte (bzw. angeeignete) Raum wie eine Art spontane Symbolisierung des Sozialraums funktioniert. In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert wäre und nicht Hierarchien und soziale Abstände zum Ausdruck brächte.“ (BOURDIEU 2005, S. 117f.)
Die Kontrolle über Raum – etwa Wohnungen, Häuser oder Büros – ist damit als expressive Dimension von Macht zu begreifen. Verbote für 98
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bestimmte Personen bzw. Personengruppen, sich an bestimmten Orten aufzuhalten („authority constraints“ nach HÄGERSTRAND, vgl. Kapitel 2.1) lassen sich als Ausübung von Dominanz durch die herrschende Klasse verstehen. Dabei interpretiert BOURDIEU die Auseinandersetzung um die Aneignung des Raums auch und vor allem als Kampf um die Erreichbarkeit erstrebenswerter Güter und Dienstleistungen, die ungleich über den Raum verteilt sind (vgl. ebd., S. 118). Die physischen Distanzen zu erstrebenswerten Gütern und Dienstleistungen sind ein Ausdruck der sozialen Distanzen. Für eine Personengruppe raum-zeitlich schwer zu erreichende Infrastrukturgelegenheiten sind für diese Personengruppe damit auch milieuspezifisch nicht direkt zugänglich. Ohne dass BOURDIEU direkt auf die Zeitgeographie HÄGERSTRANDs Bezug nimmt, erscheint seine Vorstellung von räumlicher bzw. physischer Distanz an zeitgeographisches Denken anschlussfähig, da er „physische Distanz“ nicht als metrisch messbare Größe versteht, sondern die Erreichbarkeiten von Gelegenheiten hervorhebt: „Die geographischen Entfernungen können nach einer räumlichen, oder besser, zeitlichen Metrik gemessen werden, insofern ein Ortswechsel, je nach Zugang zu öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln, einen mehr oder weniger langen Zeitaufwand erfordert. Die Macht über den Raum, die vom Kapital in seinen verschiedenen Formen verliehen wird, ist dementsprechend immer zugleich auch Macht über die Zeit.“ (BOURDIEU 2005, S. 120)
Bei der Aneignung erstrebenswerter Güter oder Dienstleistungen versuchen die Akteure ihre Ausgaben – und zwar insbesondere ihre zeitlichen Aufwendungen – zu minimieren (ebd., S. 121). Die sozialen Distanzen zwischen verschiedenen Klassen finden ihren Ausdruck in den raum-zeitlichen Distanzen, also den Erreichbarkeiten in der physischen Welt. Festzuhalten ist aber, dass das zentrale Erkenntnisinteresse BOURDIEUs nicht auf den Raumbezug von Lebensstilen gerichtet ist, sondern allenfalls auf die Unterschiedlichkeit sowie die raum-zeitlichen Entfernungen von Räumen, in der sich habituelle (und damit: hierarchisierte) Differenzierungen der Gesellschaft zu spiegeln vermögen. Dies fassen SCHNEIDER/SPELLERBERG wie folgt zusammen: „Das eigentliche Interesse BOURDIEUs [...] gilt dem Zusammenhang von sozialer Stellung, Kultur und Herrschaft. [...] Seiner Theorie entsprechend werden soziale Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe immer auch in Form von Kämpfen um den ‚legitimen‘ Geschmack und damit als Lebensstilauseinandersetzungen geführt. Diese Prozesse überträgt er ohne große Um99
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schweife auf die Raumnutzung: Je nach Klassenlage treten unterschiedliche Vorlieben für Wohnlagen und Wohnausstattungen auf. Die Konkurrenz um Raum und die Verfügung über bestimmte Quartiere ist nach seiner Theorie eine Dimension von Status- und damit Lebensstilkonflikten.“ (SCHNEIDER/SPELLERBERG 1999, S. 84)
ZAPF/HABICH (1996) konnten im Gegensatz zu dem, was aufgrund BOURDIEUs Dialektik von Habitus und Habitat zu erwarten gewesen wäre, zumindest in Deutschland keinen signifikanten Unterschied hinsichtlich der Anteile verschiedener Lebensstile in der Stadt sowie auf dem Land feststellen. 16 Allerdings zeigen sie kleinräumigere Segregationen verschiedener Lebensstilgruppen auf, als Beispiele seien hier die Gentrifizierung innenstadtnaher Wohngebiete sowie die Tendenz junger Familien zum Wohnen im suburbanen Raum erwähnt. SCHNEIDER/SPELLERBERG (1999) stellten ebenfalls eine Präferenz von erlebnisorientierten bzw. hedonistischen Lebensstilgruppen für vielfältige urbane Quartiere fest. Darüber hinaus konnten sie aber auch eine Konzentration von Lebensstilgruppen mit einer Affinität zu traditionellen Werten in ländlichen Wohngebieten aufzeigen. KLEE (2001, 2003) zeigte anhand einer empirischen Untersuchung in Nürnberg, dass „Zusammenhänge zwischen dem Lebensstil und der Lage der Wohnung zum Stadtzentrum, der Bebauungsstruktur sowie des Wohnwertes“ (KLEE 2003, S. 68) bestehen. Wohnpräferenzen für innenstadtnahe, gentrifizierte Stadtteile lassen sich insbesondere für die Gruppe der „postmaterialistischen Hedonisten“ erkennen, denen ein hohes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Selbstinszenierung zu eigen ist: „Zur Realisierung ihres Lebensstils legt diese Gruppe Wert auf die Nähe zu szenetypischen Geschäften und Kneipen sowie auf größere Altbauwohnungen in zentrumsnaher Lage. Ihre alltagskulturellen Orientierungen, Bedürfnisse und Wünsche lassen sich insbesondere in den Gründerzeitvierteln verwirklichen, wo beispielsweise HinterhofTheater, spezialisierte Buchläden mit Lesungen oder Künstlerwerkstätten anzutreffen sind“ (ebd., S. 70). Zu recht ähnlichen Ergebnissen kam eine vergleichende Lebensstil-Untersuchung in Köln in einem gebietsweise deutlich gentrifizierten urbanen Quartier einerseits und einem suburbanen Wohnvorort andererseits (vgl. POHL 2003): Zwar lassen sich prinzipiell alle Lebensstilgruppen in beiden Untersuchungsgebieten finden, der Anteil an Personen mit kultur- und erlebnis-
16 BOURDIEU (2005, S. 119) unterscheidet im Wesentlichen zwischen „Paris“ und „Provinz“. Allerdings spricht er auch kleinräumigere Differenzierungen bis hin zu benachbarten Wohngebieten an. 100
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orientierten Präferenzmustern ist jedoch in urbanen Quartieren deutlich höher als am Stadtrand. Ob die sozialräumliche Einbettung eine alltagsästhetische Adaption eines Lebensstils befördert oder aber Personen gezielt eine ihrem Lebensstil angemessene Wohnumgebung wählen, ist aus den Ergebnissen dieser Studien nicht abschließend zu beurteilen. Der von BOURDIEU (1994, S. 277ff.) formulierten Vorstellung einer Dialektik von Habitus und Habitat folgend, wird aber die Interdependenz von Lebensstilen und räumlichen, mit Einschränkung auch zeitlichen Strukturen deutlich. Menschen können einerseits nicht unabhängig von den sie umfassenden zeit-räumlichen Strukturen handeln, konstituieren aber durch ihr Handeln auch die zeit-räumlichen Strukturen. In Anlehnung an die empirischen Befunde zur Interdependenz von Lebensstil und Raumstrukturen kann angenommen werden, dass dem Prozess der Segregation der Lebensstilgruppen ein selbstverstärkendes Moment beigemessen werden kann, da durch die selektive Raumnutzung die symbolische Bedeutung von Orten erst konstruiert wird: „Insbesondere aufgrund der selektiven Nutzung des Raumes durch soziale Aggregate bilden sich sozialräumliche Milieus heraus und werden verfestigt. Durch unterschiedliche Entwicklungsverläufe von Orten und die (ungleiche) Konkurrenz zwischen Orten wird mit ‚Raum‘ eine neue Kategorie sozialer Ungleichheit geprägt.“ (DANGSCHAT 1996, S. 107)
Die Analyse von Lebensstilen verspricht diesen Überlegungen zufolge ein Ansatz zu sein, der zeit-räumliche Handlung und Strukturierung in der spätmodernen Stadt besser verstehen helfen könnte. Versuche, die Erkenntnisse der Lebensstilforschung nicht nur auf die Wohnstandortentscheidung und Wohnmobilität, sondern auch auf die Alltagsmobilität anzuwenden, erfolgten allerdings erst in den letzten Jahren. Auf diese späte Adaption der Lebensstilforschung für raum-zeit-bezogene Fragestellungen weisen auch HAMMER/SCHEINER (2002) hin: „Obwohl Lebensstile stark über Verhaltensmerkmale bestimmt werden und somit stets einen räumlichen und zeitlichen Bezug aufweisen [...] ist der Anschluss an raumbezogene Forschungskonzepte bisher ungenügend“ (ebd., S. 4). Dabei ist zu beachten, dass sich Lebensstil und Raumstruktur wechselseitig bedingen. Denn einerseits gestalten die Träger der Lebensstile ihre Umwelt aktiv mit, was etwa die Gentrifizierung innenstadtnaher Altbauquartiere eindrucksvoll belegt, andererseits eröffnen die Raumstrukturen aber auch „neue Handlungsräume, insbesondere soziale und kulturelle Räume zur Differenzierung und Zur-Schau101
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Stellung von Lebensstilen“ (CITY:MOBIL 1999, S. 21; vgl. hierzu auch POHL 2003). Mit Hilfe von Lebensstilen Erklärungsmodelle für raum-zeitliches Handeln entwickeln zu wollen mag tautologisch erscheinen, da Ursache und Folge nur schwer als unabhängige Variablen konzipiert werden können. Andererseits eröffnet die Analyse der raum-zeitlichen Alltagsorganisation als integraler Bestandteil des Lebensstils die Chance, Verkehrsströme, den Wechsel von Ruhe- und Aktivitätszeiten in Quartieren und schließlich städtische Rhythmen nicht bloß als Folge massenhaft notwendiger Distanzüberwindung zum Zweck des Aufsuchens bestimmter Gelegenheiten zu verstehen, sondern als einen Ausdruck der Situiertheit im Sinne einer Vermittlung von Handlungen und Struktur (vgl. die Kritik von GIDDENS an der klassischen Zeitgeographie in Kapitel 2.1.1). Bei der Erklärung des Mobilitätsverhaltens unter Zuhilfenahme von Lebensstilgruppen muss allerdings bedacht werden, dass Merkmale der sozialen Lage, die ebenfalls das Mobilitätsverhalten beeinflussen, als Prädiktoren für Lebensstile gelten können, zumindest wenn ein strukturalistisches Verständnis von Lebensstilen in Anlehnung an BOURDIEU zugrunde gelegt wird (vgl. SCHEINER 2006, S. 44f.). Während Lebensstilgruppen soziologische Gruppen im engeren Sinn darstellen, sind sozialgeographische „verhaltenshomogene Gruppen“ (etwa in der Konzeption der Münchener Schule) nicht als soziologische Gruppen operationalisiert. Bis auf die Tatsache, dass verhaltenshomogene Gruppen oftmals ähnliche Mobilitätsansprüche aufweisen, haben diese Personengruppen keinerlei gemeinsame Kennzeichen im Sinne einer identitätsstiftenden Gruppenkonstitution. Eine Schnittstelle zwischen den Konzepten von Lebensstilgruppen und verhaltenshomogenen Gruppen könnten Mobilitätsstilgruppen bilden, die berücksichtigen, dass „die Zugehörigkeit zu Gruppen mit gemeinsamen Lebensorientierungen auch hinsichtlich des Verkehrsverhaltens relevant ist“ (CITY:MOBIL 1999, S. 21). In den letzten Jahren sind in Deutschland einige Studien durchgeführt worden, die eine Adaption der Lebensstilforschung an raumzeit-bezogene Fragestellungen versuchen. Beispielhaft seien hier das Projekt „Stadtleben“ (vgl. BECKMANN et al. 2006), die ZIMONAStudie 17 (vgl. HUNECKE/SCHUBERT/ZINN 2005) sowie der Forschungsverbund „CITY:MOBIL“ (1999) genannt. Das erstgenannte Projekt betrachtet schwerpunktmäßig die langfristigeren Mobilitätsentscheidungen (Wohnmilieus), während die letzteren beiden auf die lebensstilspezi-
17 „ZIMONA“ steht für „Zielgruppen und deren Mobilitätsbedürfnisse im Nahverkehr“. 102
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fische Alltagsmobilität (insbesondere Verkehrsmittelwahl) fokussiert sind. Gemein ist diesen Studien, dass neben der Entdeckung der Beweggründe für Mobilitätsentscheidungen und -formen ein interventionistisches Ziel verfolgt wird, um eine „ökologische Verkehrswende“ zu befördern. Exemplarisch werden die grundlegenden Ergebnisse der Studie CITY:MOBIL (1999) vorgestellt, da sich an dieser Studie am deutlichsten Querbezüge von Alltagsmobilität und Lebensstilen aufzeigen lassen.
Mobilitätstypen als raum-zeitliche Erweiterung des Lebensstilansatzes Das Ziel des Forschungsverbundes CITY:MOBIL ist es, durch die mehrdimensionale Betrachtung der (Alltags-)Mobilität zu einem besseren Verständnis der Mobilitätsentscheidungen zu gelangen und hieraus planungspraktische Umsetzungsideen zu entwickeln, die mittelfristig zu einer nachhaltigeren Verkehrsnutzung führen sollen. Vor dem Hintergrund zunehmender Wegelängen bzw. sich ausweitender Aktionsräume spätestens seit der Massenautomobilisierung bedeutet dies insbesondere, eine Modal-Split-Verschiebung des MIV-Anteils zugunsten des ÖPNVAnteils zu befördern. Das auf die Herstellung von gleichwertigen Lebensbedingungen ausgerichtete Planungsideal der Aktionsraumforschung wird dabei nicht aufgegeben: „Vorrangiges Ziel muss es […] in den Städten sein, die alltägliche Mobilität von Menschen und Gütern zu sichern, ohne dass dies zu einer permanenten Zunahme des (motorisierten) Verkehrs führt. Zugleich muss auf eine sozial gerechte Verteilung von Mobilitätschancen […] geachtet werden“ (CITY:MOBIL 1999, S. 43). Dabei ist das planungspraktische Ziel des Projektes die Entwicklung von Strategien für eine Verkehrswende in Form der „Entkopplung von Mobilität und Automobilität“ (ebd., S. 29), also eine Umorientierung vom MIV zum ÖPNV. Lebensstilen wird dabei eine besondere Bedeutung beigemessen -insbesondere hinsichtlich der mit der Mobilität verbundenen kulturellen Symboliken als Mittel zur Distinktion (vgl. ebd., S. 28f.). Ausgangspunkt des zugrundegelegten mehrdimensionalen Zugangs zum Phänomen „Mobilität“ ist dabei die auf JAHN/SCHULTZ (1995) bzw. JAHN/WEHLING (1998; 1999) zurückgehende Unterscheidung verschiedener Mobilitätsaspekte (vgl. CITY:MOBIL 1999): • Räumliche Mobilität: Bewegung von Personen und Dingen im physischen Raum, messbar durch Geschwindigkeit und Entfernung. • Sozialräumliche Mobilität: Erreichbarkeit von Gelegenheiten (Arbeit, Einkauf, Freizeit, Bildung) in Abhängigkeit ihrer räum103
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•
lichen Verteilung und Zugänglichkeit sowie der Bedürfnisse bzw. Motive der Akteure. Soziokulturelle Mobilität: Realisierung von Statusgewinnen durch die Bezugnahme auf symbolische Zeichen bzw. expressives Verhalten, z. B. durch den Besitz eines bestimmten Autotyps, Besuch eines bestimmten Restaurants, häufige Flugreisen etc.
In alltäglichen Mobilitätsvorgängen sind diese drei Dimensionen miteinander verknüpft, analytisch sollten diese jedoch voneinander unterschieden werden, da mit diesen Einzelaspekten auch unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten verbunden sind. Während bisherige raumund verkehrsplanerische Vorhaben, sowie auch die Perspektiven der klassischen Aktionsraumforschung, zumeist auf die ersten beiden Dimensionen der Mobilität konzentriert waren, wurden die soziokulturellen Aspekte der Mobilität bis dato kaum betrachtet. Die Integration der Lebensstilforschung in die Betrachtung von Mobilitätsverhalten erfolgt insbesondere, weil die Erklärungsleistung, aber insbesondere die Prognosemöglichkeit der klassischen Aktionsraumforschung als unzureichend gelten kann: „Wir können noch so viel über das Wer? Wie weit? Wie lange? Wie oft? Mit welchem Verkehrsmittel? wissen, es reicht nicht aus, um abschätzen zu können, ob ein neues S-Bahnsystem oder eine neue Buslinie auf ausreichend hohe Akzeptanz stoßen wird“ (CITY:MOBIL 1999, S. 23; Hervorhebung im Original). Ausgehend aber von den Erkenntnissen der Lebensstilforschung, die auf bestimmte expressive Dimension des routinisierten Alltagshandelns, etwa die Ausübung bestimmter lokalisierbarer Freizeitaktivitäten gerichtet ist, kann die Zugehörigkeit zu bestimmten Lebensstilgruppen bzw. Milieus als bedeutungsvoll für das Mobilitätsverhalten angenommen werden: „Raumstrukturen eröffnen [...] auch neue Handlungsräume, insbesondere soziale und kulturelle Räume zur Differenzierung und Zur-Schau-Stellung von Lebensstilen. [...] Lebensstile sind zugleich ‚symbolisch gesicherte Territorien mit festen Zugehörigkeitsmerkmalen und Ausschlussregeln‘, deren vergesellschaftende Leistung an Zeit und Raum gebunden sind“ (CITY:MOBIL 1999, S. 21). Dies verweist auf die soziokulturellen Momente des Mobilitätsverhaltens. Aber auch die sozialräumlichen Aspekte der Mobilität lassen Querbezüge zu Lebensstilen erkennen, etwa wenn es um die Wahl von außerhäuslichen Aktivitäten und den damit verbundenen räumlichen Zielen geht. Dies betrifft nicht nur das Freizeitverhalten: „So sind beispielsweise die Aktivität, das räumliche Ziel und die Verkehrsmittelwahl in vielen Situationen (etwa dem Wochenendeinkauf auf der ‚grünen Wiese‘ mit dem PKW) eng miteinander verknüpft“ (ebd., S. 34). 104
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Motivationen bzw. Projekte und ihre spezifische Umsetzung in Form des alltäglichen Verkehrsverhaltens müssen daher in einem Zusammenhang gesehen werden. Diesen Überlegungen folgend, versucht der Projektverbund CITY:MOBIL im Rahmen einer empirischen Studie, die mobilitätsbezogenen Einstellungen von Individuen zu erfassen und analog zur Methodik der Lebensstilforschung „Mobilitätsstile“ herauszuarbeiten. Diese Analyse hat das Ziel der Aufdeckung von „typischen Zusammenhängen zwischen soziokulturellen Orientierungen und LebensstilElementen sowie Formen des Verkehrsverhaltens und der Verkehrsmittelnutzung“ (ebd., S. 56). Durch die differenzierte Betrachtung von Milieus wird der Individualisierung von Lebensformen sowie der zunehmenden Bedeutung des Freizeitverhaltens Rechnung getragen. Das methodische Vorgehen ist dabei zweistufig: Im ersten Schritt wurde in einer explorativen, qualitativen Forschungsphase ein „Meinungsklima zu den Themen Mobilität im allgemeinen sowie zu Auto, öffentlicher Verkehr, Fahrrad und Zufußgehen“ (ebd., S. 57) erhoben, um Hypothesen für die quantitative Untersuchungsphase zu generieren. Zudem können so die Einstellungen größerer Personengruppen zu Mobilitätsaspekten getestet werden, indem diese zu den Originalzitaten aus der qualitativen Forschungsphase Stellung beziehen. In einem zweiten Schritt wurden dann insgesamt 1993 zufällig ausgewählte Probanden mittels eines standardisierten Interviews befragt. Mit diesem Forschungsdesign wurden in zwei Städten (Freiburg und Schwerin) die differenzierten Grundorientierungen zu Mobilität erhoben und mit dem tatsächlichen Mobilitätsverhalten verglichen. Letzteres wurde mittels eines Wegeprotokolls an einem Stichtag erfasst. Hierbei zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen den Einstellungen und dem tatsächlichen Mobilitätsverhalten (vgl. ebd., S. 63ff.). Zudem lassen sich Differenzen zwischen den beiden Untersuchungsgebieten feststellen (vgl. ebd., S. 59f.). Besonders pointiert zeigen sich diese Unterschiede zwischen den Befragten in Freiburg und Schwerin an der Einstellung zum Auto und den hiermit verbundenen symbolischkulturellen Aufladungen: „In Schwerin ist das Auto weniger ein Symbol des Status als vielmehr ein zentraler symbolischer Ausdruck für die gesellschaftliche Integration. Autobesitz und Autofahren drücken die Zugehörigkeit zum Kernbereich der Gesellschaft aus. Dieser Kernbereich wird nicht durch einen Oben-Unten-Maßstab abgebildet, sondern eher durch die Metapher ‚drinnen‘ vs. ‚draußen‘. In einer gesellschaftlichen Situation, die durch eine ständige Marginalisierungsbedrohung gekennzeichnet ist, signalisiert der Autobesitz, dass man sich noch
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in der Mitte der Gesellschaft befindet und nicht am Rand. […] Anders dagegen in Freiburg: In Freiburg symbolisiert das Auto stärker die potentielle Flucht aus dem Alltag und die Möglichkeit spontaner Ortsveränderungen. Das Auto erscheint als ‚kleine Freiheit‘, die als individuelle Selbstverwirklichung vor allem in der Freizeit erlebt wird.“ (GÖTZ 2006, S. 13)
Dieser empirische Befund ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist Mobilität im Sinne der ursprünglichen semantischen Bedeutung als „die Möglichkeit Aktivitäten auszuüben“ (HOLZ-RAU 2002, S. 7; Hervorhebung T.P.) als integraler Bestandteil der Lebensstil-Inszenierung und des eigenen Identitätskonstruktes zu verstehen. Zum Zweiten zeigt sich im Vergleich der beiden Untersuchungsregionen ein signifikanter Unterschied, der auf die räumliche Verortung von Milieus hinweist, die eine Prägekraft auf andere Lebensstilaspekte im Sinne eines „Ortseffektes“ wahrscheinlich erscheinen lassen. Konsequenterweise erfolgte die Ausweisung von Mobilitätsstilen auch getrennt für diese beiden Untersuchungsregionen. In Freiburg wurden fünf „Mobilitätstypen“ clusteranalytisch herausgearbeitet (vgl. CITY:MOBIL 1999, S. 60ff.), von denen zwei stark MIV-orientiert sind, während die drei anderen Mobilitätstypen schwerpunktmäßig als Kunden für den ÖPNV in Frage kommen.18 Die beiden eindeutig autoaffinen Typen lassen unterschiedliche symbolische Aufladungen erkennen, die allgemein mit Automobilität und insbesondere mit dem „eigenen Auto“ verbunden werden. Bei den „risikoorientierten Autofans“ steht der Erlebnischarakter des Autofahrens im Vordergrund, der Momente des zuvor erörterten Spannungsschemas von SCHULZE (1992) erahnen lässt. Das Auto dient primär als „Symbol der Unabhängigkeit und der Flucht aus dem Alltag“ (CITY:MOBIL 1999, S. 60). Demgegenüber spielt für die „statusorientierten Automobilen“ der mit dem eigenen Auto verbundene Distinktionsgewinn eine größere Rolle. Insbesondere Freizeitfahrten werden mit dem Auto unternommen. Dem Auto ablehnend stehen die „ökologisch Entschiedenen“ gegenüber. Diese Gruppe ist eher jung, fahrradbegeistert und steht technischen Entwicklungen überwiegend positiv gegenüber. Hierin unterscheiden sie sich von den „traditionell Naturorientierten“, die das Autofahren zwar ebenfalls aus Umweltgründen ablehnen, aber stärker das Naturerleben in den Vordergrund stellen. Die „traditionell Häuslichen“ schließlich 18 Ein ähnlicher Forschungsansatz wurde in der ZIMONA-Studie verfolgt, allerdings mit Schwerpunkt auf die Einstellung zum ÖPNV. Hier konnten sechs Mobilitätstypen differenziert werden (vgl. HUNECKE/SCHUBERT/ ZINN 2005). 106
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werden als „familien- und sicherheitsorientiert“ beschrieben, vertreten aber gegenüber Mobilitätsfragen keine derart bestimmte Auffassung wie die anderen vier in Freiburg ausgewiesenen Gruppen. In Schwerin wurden vier Mobilitätstypen unterschieden: Als besonders auto-affin erweisen sich die „aggressiven Autofahrerinnen und Autofahrer“, für die das Auto ein zentrales Symbol gesellschaftlicher Integration darstellt und Teil der eigenen Identitätskonstruktion ist. Die „mobilen Erlebnisorientierten“ werden zwar als „erlebnishungrig und hedonistisch“ charakterisiert, sind dabei aber weniger auf das Auto als alleiniges Verkehrsmittel fixiert. Für beide Gruppen kann eine Nähe zu den alltagsästhetischen Zeichen des Spannungsschemas nach SCHULZE (1999) angenommen werden. Diesen beiden Schweriner Mobilitätstypen gegenüber steht die Gruppe der „unauffälligen Umweltbesorgten“. Sie schätzen zwar das Auto als sicheres Transportmittel, äußern jedoch Ambivalenzen gegenüber diesem Verkehrsmittel, die insbesondere mit ökologischen Argumenten begründet werden. Durch einen rationalen Zugang zur Mobilität, bzw. zum Autofahren im Besonderen, zeichnen sich schließlich die „verunsicherten Statusorientierten“ aus, die den vierten Mobilitätstypus in Schwerin bilden. In dieser Gruppe sind familienorientierte Personen mit einem überdurchschnittlichen Einkommen überrepräsentiert. Kennzeichnend für diesen Typus ist, dass risikoreiches bzw. schnelles Fahren abgelehnt und eine „generelle Verlangsamung“ befürwortet wird (CITY:MOBIL 1999, S. 62). Dieser Wunsch nach einer Verlangsamung des Alltags weist über die Mobilität im engeren Sinne hinaus und lässt sich als Reaktion auf die Beschleunigungszumutungen in der Spätmoderne begreifen. Diese selbstreflexive Auseinandersetzung mit der „Verzeitlichung des Lebens“ kann als „Perspektive auf das eigene Leben als zeitlich zu gestaltendes Projekt“ (ROSA 2005, S. 355) gedeutet werden. Über die schon aufgezeigten Parallelen zu den alltagsästhetischen Schemata nach SCHULZE hinaus wird in der Beschreibung der Cluster deutlich, dass sozio-strukturelle Variablen als Prädiktoren für die Einstellung zur Mobilität gelten können, obgleich ausschließlich einstellungsbezogene Variablen zur Ausweisung der Mobilitätstypen verwendet wurden. Neben dem Wohnmilieu (Schwerin bzw. Freiburg) spielen insbesondere das Alter, das Geschlecht sowie Merkmale vertikaler Ungleichheit (Bildung, Einkommen) eine bedeutende Rolle für die Bewertung der Verkehrsmittel als Träger von Lebensstilen. Dies betrifft allerdings nicht nur die Einstellung gegenüber Mobilität, sondern auch das tatsächliche Verkehrsverhalten:
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„Erstens finden wir Gruppen, deren Lebensstil kaum von räumlicher Mobilität geprägt ist – soziale Mobilität ist weitgehend von räumlicher Fortbewegung entkoppelt. Zum zweiten gibt es Gruppen, deren soziale Mobilität mit räumlicher Fortbewegung verkoppelt ist, und diese zudem noch mit Automobilität. Diese Gruppe wird sich den Maßnahmen zur Reduzierung der Autonutzung entgegenstellen. Und drittens gibt es soziale Gruppen, die bereit und in der Lage sind ohne Auto mobil zu sein. Hinsichtlich dieser Gruppe gibt es nur ein Problem: Die Handlungspotentiale sind bisher noch nicht ausreichend aktiviert worden – nur ein zielgruppenspezifisches Vorgehen kann dies leisten.“ (GÖTZ 2006, S. 16)
Dabei kommen recht unterschiedliche Dimensionen zum Tragen, die je zielgruppenspezifisch unterschiedlich gewichtet werden müssen. GÖTZ (1998, S. 5) nennt vier für die Ausprägung individueller Mobilitätsstile relevante Dimensionen, die sehr unterschiedliche Strategien zur Veränderung des Mobilitätsverhaltens nahelegen: Erstens ist dies eine Risiko- und Erlebnisorientierung, die durch den Mobilitätsakt befriedigt wird, zweitens die Relevanz sozial adäquater Positionierung bei der Mobilität, drittens das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz vor (empfundener) Bedrohung und viertens eine normative Natur-, Umweltund Körperorientierung. Es ist naheliegend, dass diese Dimensionen sehr unterschiedliche Aspekte der Mobilität ansprechen und damit nicht in eine einzelne Strategie für die Veränderung des Mobilitätsverhaltens hin zu einer ökologisch nachhaltig handelnden Gesellschaft münden können. Während bei der Frage nach dem Bedürfnis nach Schutz während des Mobilitätsaktes die Überwindung einer Distanz im Zentrum der Handlungsorientierung steht, steht bei der Risiko- und Erlebnisorientierung der Mobilitätsakt selbst als Handlung im Fokus der Betrachtung. Folglich überrascht es wenig, dass sich der mit dem Projekt CITY:MOBIL verbundene Anspruch, die gewonnenen Erkenntnisse zur Förderung einer ökologisch nachhaltigeren Verkehrswende auch planerisch durch Interventionen in Wert zu setzen, in der praktischen Umsetzung als schwierig erwies. GÖTZ (2006) sieht als Ursache hierfür insbesondere die auch heute noch zu geringe Interdisziplinarität der Verkehrsforschung. Diese interessen- und disziplingeschichtlich bedingte Aufspaltung der Verkehrsforschung in Einstellung, Verhalten, Motivhintergrund und Zielgruppenorientierung erschwere zudem ein adäquates Verständnis von Mobilität. Auffallend ist, dass bisherige Ansätze, Lebensstile in Zusammenhang zur Alltagsmobilität zu stellen, oftmals mit einem verkehrspolitischen Steuerungsanspruch verbunden sind und eine regionale Verkehrswende zum Ziel haben. „Sie [diese Ansätze, T.P.] fußen auf der 108
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These, dass sich Verkehrsverhalten durch Normen und Werte sowie (sub-)kulturelle und symbolische Orientierungen besser erklären ließe als durch ‚klassische‘ Schicht- und Lebenslagemodelle. Auch dies richtet sich primär auf die Verkehrsmittelnutzung, während Aktionsräume und zurückgelegte Distanzen bisher nur wenig Beachtung finden“ (SCHEINER 2006, S. 47). Dies erklärt auch die starke Bedeutung der Verkehrsmittelwahl für die Bezeichnung der vorgestellten Mobilitätstypen. 19 Das sich in jüngster Zeit herausbildende Forschungsfeld der Verkehrsgeneseforschung versteht in Anlehnung an die MobilitätsstilForschung den Mobilitätsakt selbst als soziales Handeln und nicht bloß als Zweck zum notwendigen Erreichen von Orten (vgl. DALKMANN/ LANZENDORF/SCHEINER 2004, S. 7). Mit dieser Perspektive verbunden ist auch die Forderung, die bestehende fachdisziplinäre Segmentierung der Verkehrs- und Mobilitätsforschung zu überwinden und interdisziplinäre Ansätze zur Erklärung von Mobilität zu entwickeln. Die bestehenden Partialansätze aus der klassischen ingenieurwissenschaftlichen Verkehrsforschung, der soziologischen und geographischen Aktionsraumforschung, der Psychologie und der Politikwissenschaft sollten zusammengeführt werden, um zu einem besseren Verständnis der Verkehrsgenese zu gelangen und Strategien zur Steuerung zu entwickeln. Bisher scheint das verkehrsplanerische Leitbild der 80er Jahre, die „Stadt der kurzen Wege“, nur wenig in konkrete Planungsstrategien Eingang gefunden zu haben, geschweige denn dass eine „ökologische Trendwende“ auf absehbare Zeit in Sicht wäre (vgl. GRESSER 2001; BMVBS 2005). Die funktionsentmischte Stadt, die durch eine fortschreitende Suburbanisierung gekennzeichnet ist, geht mit einer Zunahme des motorisierten Individualverkehrs einher. BRUNSING/FREHN (1999, S. 7) sprechen von einer Zunahme „entfernungsintensiver Lebensstile“ im Kontext „veränderter individueller Präferenzen“ und der Auflösung „starrer Wochenarbeitszeiten“, was den Zusammenhang räumlicher und zeitlicher Flexibilisierung für die Alltagsgestaltung deutlich macht.
19 Die starke Bedeutung der Modalität für die Differenzierung unterschiedlicher Mobilitätstypen ist allerdings nicht auf Studien beschränkt, die einen expliziten verkehrspolitischen Steuerungsanspruch verfolgen. Als Beispiel sei hier die qualitative Studie von KRAMER (2005) genannt, in der fünf „qualitative Mobilitätstypen“ ausgewiesen werden, deren Kennzeichnung entlang der monomodalen Festlegung auf ein bestimmtes bzw. der intermodalen Nutzung verschiedener Verkehrsmittel erfolgt. 109
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Diese Ausdehnung der Aktionsräume, verbunden mit einem Anwachsen der zurückgelegten Distanzen, stellen auch LANZENDORF/ SCHEINER (2004) als ein Basismerkmal zur Charakterisierung der Personenverkehrsentwicklung in den letzten Jahrzehnten heraus (vgl. ebd., S. 12). In den letzten Jahrzehnten sei das Reisezeitbudget pro Person und Zeiteinheit zwar relativ konstant geblieben, 20 allerdings findet eine Verlagerung der Verkehrsmittelnutzung hin zum MIV auf Kosten der Fußwege statt, was im Durchschnitt zunehmende Reisegeschwindigkeiten in den letzten Jahrzehnten bedeutet. Als schwierig erweist sich jedoch die Prognose der zukünftigen Entwicklung der Aktionsräume und des Verkehrsaufkommens. Während die Verkehrsprognose des Bundesverkehrswegeplans 2003 mit einem weiteren Wachstum des Verkehrsaufkommens rechnet, nehmen andere Prognosen vor dem Hintergrund der rückläufigen Bevölkerungsentwicklung das Gegenteil an (vgl. LANZENDORF/SCHEINER 2004; CHLOND/ MANZ/ZUMKELLER 2002). Allerdings ist es für die zukünftige Bedarfsabschätzung und die planerische Steuerung des Verkehrsaufkommens problematisch, dass die Bestimmungsgrößen für die Verkehrsgenese bis dato noch nicht umfassend bekannt sind (LANZENDORF/SCHEINER 2004, S. 12f.). LANZENDORF/SCHEINER (2004) benennen als bekannte Einflussfaktoren der Verkehrsgenese erstens strukturelle Rahmenbedingungen wie Raum- und Siedlungsstrukturen, das Angebot an Verkehrssystemen und den hierdurch sekundär induzierten Verkehr, Zeitstrukturen, ökonomische Rahmenbedingungen sowie das intervenierende bzw. steuernde Handeln von Akteuren aus Politik und Planung. Zweitens bestehen seitens der Verkehrsnachfrager individuelle Handlungsvoraussetzungen, die als soziale und psychologische Faktoren angesprochen werden können. Diese Einflussgrößen bestehen in Abhängigkeit der Bevölkerungsentwicklung und den damit einhergehenden sozioökonomische Faktoren, der sozialen Lage, Lebens- und Mobilitätsstilen, Einstellungen zu Umweltnormen sowie der Verkehrsmittelverfügbarkeit. Die Studie CITY:MOBIL hebt hier die Bedeutung von Routinen und Habitualisierungen besonders hervor (vgl. ebd., 1999, S. 22). 20 Zu einem gegenteiligen empirischen Befund gelangt allerdings KRAMER (2005) in ihrer vergleichenden Sekundäranalyse der Zeitbudgetstudien aus den Jahren 1991/92 und 2001/02. Für diese Dekade konstatiert sie eine absolute Zunahme der Wegezeiten: „Die Menschen verbrachten 2001/02 deutlich mehr Zeit für Mobilität als 1991/92. Besonders deutliche Zunahmen erfuhren z.B. Wege für Arbeit (vor allem im Osten) oder Wege für Freizeit“ (ebd., S. 408). 110
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Zwischen diesen strukturellen Rahmenbedingungen einerseits und den individuellen Handlungsdispositionen andererseits bestehen drittens Wechselwirkungen, die für die Prognose zukünftiger Verkehrsentwicklung bedeutungsvoll sind (vgl. LANZENDORF/SCHEINER 2004). 21 Neben der grundsätzlichen Standortentscheidung bezüglich des Wohnortes ist dies vor allem die Frage nach der Rolle neuer Technologien, die das Verkehrsaufkommen sowohl substituieren als auch induzieren könnten. Die Beziehungen zwischen räumlich-strukturellen Einflussgrößen, Verkehrsaufkommen sowie Lebenslage, Lebensstil und damit einhergehenden Wohnstandortentscheidungen ist folglich als sehr komplex zu bezeichnen. So erweisen sich Lebensstilansätze als erklärungsstark, wenn es um die Erklärung des Freizeitverhaltens in seiner aktionsräumlichen Dimension geht (vgl. SCHEINER 2006, S. 59f.). Ebenso lassen sich Querbezüge von Lebensstilen und Wohnansprüchen erkennen (vgl. SCHNEIDER/SPELLERBERG 1999; SPELLERBERG 2006). Merkmale der sozialen Lage scheinen jedoch Lebensstilmerkmalen überlegen zu sein, wenn es um die Erklärung des gesamten Verkehrsverhaltens geht, von dem die Freizeitmobilität nur einen Teilbereich darstellt (vgl. SCHEINER 2006). Allerdings scheint aufgrund einer deutlichen Zunahme des Anteils der zu Freizeitzwecken zurückgelegten Wege in der Dekade zwischen 1991/92 und 2001/02 die Bedeutung des Lebensstilansatzes zur Erklärung des Mobilitätsverhaltens insgesamt zuzunehmen (vgl. KRAMER 2005, S. 261ff.). Darüber hinaus spielen Merkmale der räumlichen Gelegenheitsausstattung, insbesondere im Kontext mit Merkmalen der sozialen Lage, eine entscheidende Rolle für die Ausgestaltung von Aktionsräumen (vgl. FRIEDRICHS 1990). Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit soll dem Rechnung getragen werden, indem sowohl strukturelle (Kapitel 3) als auch individuelle (Kapitel 4) Zugriffe auf die Alltagsmobilität angestrebt werden. Dabei ist allerdings einschränkend festzustellen, dass eine Klärung des komplexen Feldes der raum-zeitlich routinisierten Alltagsgestaltung nur annäherungsweise gelingen kann, denn: „Eindeutige, direkte und lineare Wirkungsbeziehungen zwischen einzelnen Faktoren, etwa zwischen Verkehrsangeboten und Verkehrsverhalten oder zwischen Raumstruktur und Verkehrsverhalten, existieren nicht“ (CITY:MOBIL 1999, S. 22).
21 Ähnlich HAUTZINGER/MAIER (1999), die als maßgebliche Einflussgrößen auf die Verkehrsnachfrage die vorhandene Verkehrsinfrastruktur, die räumliche Verteilung von Gelegenheiten, personenbezogene soziodemographische und ökonomische Rahmenbedingungen sowie individuelle Orientierungen, Normen, Handlungsmotive und Bedürfnisse ansehen. 111
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Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit Während die Aktionsraumforschung Werkzeuge zur raum-zeit-bezogenen Analyse des routinisierten Alltagshandelns an die Hand gibt, erweist sich ihre Gruppenkonzeption als unzulänglich, insbesondere im Hinblick auf die Analyse der raum-zeitlichen Bezüge unter den Bedingungen des sozialen Wandels in der Spätmoderne. Zudem greift der hieraus implizit resultierende theoretische Zugriff, Alltagsmobilität (und damit die raumzeitliche Alltagsgestaltung) allein aus den gesellschaftlichen Erwartungen an soziale Rollen erklären zu wollen, zu kurz, da individuelle Motive, Präferenzen und damit einhergehende Habitualisierungen keine Berücksichtigung erfahren. Ein umfassenderes Verständnis des routinisierten Alltagshandelns kann daher mit der klassischen Aktionsraumforschung allein nicht erreicht werden. Diese Lücke schließt der Lebensstilansatz, der in der Lage ist, die „Rolle des Individuums, des Akteurs, zu betonen und damit eine handlungszentrierte Betrachtungsweise zu eröffnen. Über evaluative Bezüge des Lebensstils hinaus drückt sich der Lebensstil in verschiedenen expressiven Bezügen des Alltags aus, zu denen auch das Freizeit- und Urlaubsverhalten zählt, das heißt die Zeitverwendung in dem Bereich des Lebens, der nicht durch äußerliche Restriktionen vorstrukturiert ist“ (KRAMER 2005, S. 87). Insbesondere vor dem Hintergrund einer Zunahme der Freizeitmobilität erscheint dieser Zugang bedeutungsvoll. Die Pluralisierung von Lebensstilen kann als zentrales Merkmal des sozialen Wandels in der spätmodernen Gesellschaft verstanden werden. Das Aufkommen neuer Lebensstile und damit einhergehend neuer Routinen des raum-zeitlichen Handelns wirft die Frage auf, inwiefern Arbeits- und Lebenswelt heute noch in allgemeingültiger Weise raumzeitlich sowie organisatorisch voneinander getrennt sind oder ob für bestimmte Lebensstilgruppen Tendenzen zur Konvergenz dieser ehemals voneinander getrennten Bereiche feststellbar sind. Mit Blick auf die vorgestellte Milieuuntersuchung SCHULZEs kann angenommen werden, dass die verschiedenen alltagsästhetischen Schemata sehr unterschiedliche symbolische Bezüge zur Bedeutung von „Arbeit“ aufweisen und auch durch unterschiedliche Grade an räumlicher Entgrenzung von Arbeits- und Lebenswelt gekennzeichnet sind. Zur Überprüfung der Annahme einer auch im raum-zeitlichen Kontext zunehmenden Konvergenz von Arbeit und Leben soll daher der Milieu- bzw. Lebensstilansatz (anlehnend an SCHULZE) im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit wiederaufgenommen werden. Die Umsetzung einer Lebensstil-Perspektive ist allerdings, bedingt durch die Datenqualität insbesondere bei sekundäranalytischen Zugriffen (Kapitel 4; 112
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Gesamtstädtische Betrachtung), nur zum Teil einzulösen. Auf die Möglichkeit der Integration einer Lebensstilperspektive in die Analyse von räumlichen Aggregaten wird in Kapitel 2.2.2 detailliert Bezug genommen. Die eigene empirische Untersuchung (Primärerhebung in vier Stadtteilen Hamburgs) wurde demgegenüber explizit als Lebensstilstudie angelegt und ermöglicht so die integrierte Analyse von expressiven Präferenzmustern und raum-zeitlicher Alltagsorganisation.22 Wenngleich sich Lebensstilanalysen bislang als unabhängige Variable zur Erklärung des raum-zeitlichen Alltagshandelns nur ausschnittsweise in Bezug auf die Freizeitmobilität als fruchtbar erwiesen haben und die Ergebnisse der Mobilitätsstilforschung darauf hinweisen, dass Mobilität eher als Teil des Lebensstils zu verstehen ist denn als seine Funktion, steht eine Überprüfung der Erklärungskraft von Lebensstilen für die zeitlichen Bezüge der routinisierten Alltagsgestaltung noch aus. Vermutet wird, dass die Pluralisierung von Lebensstilen eine maßgebliche Rolle für die Entgrenzung von Aktivitäten spielt. Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Konvergenz von Freizeit und Arbeit, das heißt einer erneuten Austarierung der sogenannten WorkLife-Balance scheint die Analyse von Lebensstilen ein vielversprechender Zugang zu sein. Während die Aspekte veränderter individueller Präferenzen und die Herausbildung einer differenzierten Lebens- bzw. Mobilitätsstilforschung zuvor dargestellt wurden, sollen im folgenden Kapitel 2.1.4 die sich flexibilisierenden Zeitstrukturen näher beleuchtet werden. Dies folgt dem Gedanken des im einleitenden Kapitel beschriebenen und für die Spätmoderne als kennzeichnend angenommenen gesellschaftlichen Reorganisationsprozesses lokaler Zeitstrukturen und Rhythmen.
22 Vgl. Kapitel 3.3 zur Methodik und Kapitel 6.6 zu den Ergebnissen. 113
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2.1.4 Sozialer Wandel, Zeitstrukturen und Alltagsorganisation So wie raumbezogenes Handeln viele Querbezüge zum Lebensstil erkennen lässt, 23 ist auch der „Zeitverwendungsstil in Grenzen ein Korrelat des Lebensstils“ (LÜDTKE 1995, S. 155). In der räumlichen und zeitlichen Koordination des Alltags spiegeln sich neben diesen durch individuelle Präferenzen bestimmten Mustern aber auch die gesellschaftlichen Arrangements der Kultur wider, die durch Rollenerwartungen und normative Handlungsziele, aber auch durch Notwendigkeiten (bzw. constraints) vermittelt sind. Während die raum-zeitlichen Routinen eines Bauernhaushaltes in einer Agrargesellschaft im Jahresgang oder die werktäglichen Alltagsroutinen eines Fabrikarbeiterhaushalts in einer (fordistischen) Industriegesellschaft im Allgemeinen weitgehend standardisiert sind, stellt sich die Frage, wie unter den Bedingungen der Enttraditionalisierung, Entstandardisierung und der Pluralisierung der Lebensstile raum-zeitliche Alltagsorganisation normativ vermittelt wird.
Arbeitsmarktsegmentierung, Haushaltstypen und Zeitstrukturen Wie die Beispiele des Industriearbeiters oder des Bauern nahelegen, scheint die raum-zeitliche Alltagsorganisation der Haushalte eng mit der raum-zeitlichen Koordinationsfunktion der Arbeit verkoppelt zu sein. Wenngleich, wie zuvor dargestellt, in der Spätmoderne von einem Rückgang der Arbeit als gesellschaftliches Integrationsmoment ausgegangen werden kann, so ist auch heute noch ein Großteil der Alltagszeit durch die Arbeitszeit bestimmt. Allerdings befindet sich die Arbeitsund Lebenswelt in den Städten der westlichen Industrienationen derzeit in einem Transformationsprozess, der sich als „Krise des Fordismus“ interpretieren lässt (vgl. SAUER 2005). Obgleich sich noch kein stabiles neues Muster der Akkumulation eingestellt hat und auch Anzeichen für eine Persistenz fordistischer Regulationsweisen erkennbar sind, ist dieser Umbruch, der die industriellen Rahmenbedingungen der Produktion von Gütern und Dienstleistungen schrittweise ablöst, unverkennbar. Der Rückgang industrieller Arbeitsplätze geht einher mit der Herausbildung einer wissensbasierten Ökonomie in den Städten, als deren Kennzeichen Kreativität, soziale Interaktion und vernetzte Produktion gelten (vgl. LÄPPLE/STOHR 2006). Dieser sozioökonomische 23 Wie bereits erörtert, kann etwa ein Zusammenhang von Lebensstilen und Wohnstandorten angenommen werden (vgl. BOURDIEU 1991; SCHNEIDER/ SPELLERBERG 1999; POHL 2003; KLEE 2003; SPELLERBERG 2007). 114
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Restrukturierungsprozess lässt sich als hochdynamischer Wandel im Bereich der flexibilisierten „neuen Ökonomie“ beschreiben, der tiefgreifende Veränderungen in den Beziehungsmustern zwischen Lebensund Arbeitswelt induziert; zugleich ist jedoch eine Persistenz der fordistischen Struktur im Bereich der „alten Ökonomie“ festzustellen. Als sozial-strukturelle Begleiterscheinung dieser divergierenden Entwicklung kann die Pluralisierung von Lebensstilen interpretiert werden. LÄPPLE (2006) unterscheidet vier Segmente des städtischen Arbeitsmarktes, deren Adaptionsfähigkeit an die Herausforderungen des ökonomischen Strukturwandels sehr verschieden ausgeprägt ist: Erstens handelt es sich um das Segment der wissens- und kulturbasierten Dienstleistungsbeschäftigten, das sich im Wesentlichen aus zumeist gut ausgebildeten und jungen Menschen zusammensetzt. Diese Gruppe, der in der spätmodernen Wissensgesellschaft eine besondere Bedeutung für die ökonomische Entwicklung von Städten und Regionen in westlichen Industrienationen beigemessen werden kann, wird von Richard FLORIDA (2002) als „creative professionals“ angesprochen. Kennzeichen für dieses Arbeitsmarktsegment sind deutliche Flexiblisierungstendenzen von Arbeitszeiten, die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse sowie eine hohe Dynamik zwischen Arbeitskräftenachfrage und -angebot. Als „brüchige Wagenburgen des Fordismus“ lässt sich zweitens das Segment der in die Krise geratenen klassischen „Normalarbeitsverhältnisse“ bezeichnen, die insbesondere auf dem Sektor der industriellen Produktion von Gütern sowie in traditionellen Dienstleistungsunternehmen anzutreffen sind und die in der Regel einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweisen. Kennzeichen dieses Arbeitsmarktsegmentes sind in Abgrenzung zu den wissens- und kulturbasierten Dienstleistungsbeschäftigten standardisierte und stark geregelte Arbeitszeiten, eine tiefgreifende (tayloristische) Arbeitsteilung, abhängige Vollzeitbeschäftigung sowie „Stammbelegschaften“ in großen Unternehmen. Drittens ist ein „Risiko-Segment“ des städtischen Arbeitsmarktes zu erkennen, das aus gering qualifizierten Arbeitskräften besteht und das permanent von Arbeitslosigkeit bedroht oder zeitweise betroffen ist. Eine berufliche Weiterqualifikation ist aufgrund der in der Regel einfachen Tätigkeitsprofile kaum möglich. Für das als viertes von LÄPPLE (2006) genannte „Segment der Ausgegrenzten“ schließlich besteht infolge mangelnder Qualifikation kaum eine Chance zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Diese Gruppe umfasst ungelernte Personen, für die – zumindest im Bereich des städtischen Arbeitsmarkts – kaum noch eine Nachfrage besteht.
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Verstärkte Flexibilisierungsanforderungen der Arbeitswelt einerseits sowie die zunehmende „positive Verankerung von Arbeit in der individuellen Identitätskonstruktion“ (BAETHGE 1991, S. 12, zitiert nach LÄPPLE/STOHR 2006, S. 179) andererseits lassen insbesondere im Segment der wissens- und kulturbasierten Dienstleistungsbeschäftigten eine Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt erwarten, die zu einer Ausdifferenzierung der raum-zeitlichen Alltagsorganisation führt. Parallel zu der Segmentierung des städtischen Arbeitsmarktes ist ein zweiter gesellschaftlicher Wandlungsprozess erkennbar, der verstärkt seit den 1980er Jahren zu einer neuen Dynamik der Arbeitswelt geführt hat: Angesprochen ist die zunehmende Partizipation von Frauen am Erwerbsprozess und die Pluralisierung der Modelle geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der Familie. Legte früher das der Frau zugeschriebene Rollenbild in der klassischen bürgerlichen Kleinfamilie spätestens mit der Geburt des ersten Kindes ihr Ausscheiden aus dem Erwerbsprozess und die Konzentration auf die häusliche Reproduktionsarbeit nahe, so lässt sich mit dem Auflösungsprozess der Normalbiographie auch eine Ausdifferenzierung der Arbeitsteilungsprozesse in Familien diagnostizieren. Diese Pluralisierung normbasierter Geschlechterverhältnisse einerseits sowie der institutionelle Wandel (insbesondere des städtischen Arbeitsmarktes) und die hieraus folgende Reflexion der Geschlechterordnung andererseits verweist auf eine Neubewertung des kulturellen Geschlechter-Arrangements in der spätmodernen Gesellschaft (vgl. PFAU-EFFINGER 2000, S. 68ff.). Damit verbunden sind Aushandlungsprozesse zwischen den Geschlechtern, die sich auf der institutionellen Ebene der Familie in unterschiedlichen Modellen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Zeitverwendungsmustern spiegeln (vgl. JURCZYK 2007). Anknüpfend an den Geschlechter-Arrangement-Ansatz nach PFAUEFFINGER weist Elisabeth BÜHLER (2001) für die Schweiz anhand einer Sekundäranalyse statistischer Daten eine Segregation der „geschlechterkulturellen Familienmodelle“ nach. Zur Operationalisierung des Geschlechterarrangements in Familienhaushalten verwendet sie die Beteiligung beider Geschlechter am Erwerbsprozess als Indikator: 24 • Traditionelles bürgerliches Modell: Mann Vollzeit, Frau nicht erwerbstätig 24 Nachteil der einseitigen Konzentration auf die Aufteilung der Erwerbsarbeit ist, dass der Anteil der Reproduktionsarbeit, der auf Männer und Frauen in Familienhaushalten entfällt, nicht betrachtet wird. So legen jüngere Untersuchungen nahe, dass auch bei gleicher Beteiligung beider Geschlechter an der Erwerbsarbeit auf Frauen ein deutlich höherer Anteil an hauswirtschaftlichen Tätigkeiten entfällt (BMFSFJ 2006, S. 215ff.). 116
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Modernisiertes bürgerliches Modell: Mann Vollzeit, Frau in Teilzeit erwerbstätig Egalitär-erwerbsbezogenes Modell: Frau und Mann in Vollzeit erwerbstätig Egalitär-familienbezogenes Modell: Frau und Mann in Teilzeit erwerbstätig
Aus den Befunden des Wandels der Geschlechterrollen einerseits sowie der eingangs erläuterten skizzierten Segmentierung des städtischen Arbeitsmarktes andererseits lassen sich idealtypische Formen familiärer Alltagsorganisation zusammenführen. LÄPPLE/STOHR (2006, S. 180ff.) beschreiben vier heuristische „Typen raum-zeitlicher Koordination“, die Parallelen zu den geschlechterkulturellen Familienmodellen aufweisen. Erstens ist dies der „Fordistische, suburbane Typ“, der einem weitgehend klassischen Modell der bürgerlichen Kleinfamilie entspricht. Der männlichen Rolle kommt dabei die Funktion des materiellen Versorgers im Rahmen eines Normalarbeitsverhältnisses zu, während die weibliche Rolle treffend mit der Bezeichnung „Hausfrau“ beschrieben werden kann: „Faktisch gehörte die Hausfrau zum fordistischen Lebensmodell, denn das Einkommen des Mannes reichte aus, um die Familie und ihre Ausrüstung mit Konsumgütern zu finanzieren“ (HÄUSSERMANN/ LÄPPLE/SIEBEL 2008, S. 150). Die typische Wohnlage dieses Haushaltstyps ist der monofunktionale und sozial weitgehend homogene suburbane Wohnvorort der Großstadt, deren Zentrum den fordistisch organisierten Arbeitsplatz des Mannes beherbergt und von ihm an Werktagen regelmäßig aufgesucht wird. Spezifische räumliche und soziale Strukturierungsmomente sind damit als integraler Bestandteil des Fordismus zu begreifen. So sind die „Räume des Fordismus auch die Räume des Massenkonsums, der Standardisierung von Räumen (durch funktionale Zonierung) sowie einer Standardisierung von privater Lebensführung (Kleinfamilie, geschlechtsspezifische Verhaltensmuster etc.)“ (WOOD 2003, S. 140). Die Persistenz des fordistischen Modells auch in der „Stadt der Spätmoderne“ manifestiert sich raum-zeitlich in dem als „Rushhour“ bekannten Verkehrsphänomen, das als eine Folge des täglichen Berufspendelns zu weitgehend standardisierten und kollektiv geteilten Zeiten zu verstehen ist. Diese Art der Alltagsorganisation scheint am ehesten mit dem als „traditionelles bürgerliches Modell“ bezeichneten geschlechterkulturellen Familienmodell vereinbar zu sein. HÄUSSERMANN/ LÄPPLE/SIEBEL (2008) stellen diese Rollenverteilung wie folgt idealtypisch und pointiert dar:
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„Die suburbanen Eigenheimsiedlungen, die ja faktisch kaum eine unterstützende Infrastruktur boten, setzten die informelle Arbeitsleistung der Hausfrauen immer voraus, sei es, um die Kinder von der einen Einrichtung zu einer anderen zu bringen, sei es, um die Einkäufe zu erledigen und den anschwellenden Berg von Konsumgütern ins Eigenheim zu transportieren.“ (ebd., S. 152f.) „Die Leitbilder der männlichen ‚Ernährerrolle‘ und der ‚Normalbiographie‘ waren [...] wichtige gesellschaftliche Voraussetzungen für den mit der Suburbanisierung verbundenen Erwerb von Einfamilienhäusern, der ein kontinuierliches, antizipierbares Einkommen voraussetzte und in der Regel mit einer klaren geschlechtlichen Rollenverteilung verbunden war.“ (ebd., S. 155f.)
Ferner kann allerdings auch das „modernisierte bürgerliche Modell“ mit dem fordistischen Haushaltstyp zusammen gedacht werden, allerdings lässt eine periphere Wohnlage deutlich erhöhte Opportunitätskosten beim Erreichen der Arbeitsplätze mehrerer Haushaltsmitglieder vermuten, was die Unterhaltung mehrerer PKW nahelegt. Dies verweist auf die zweite idealtypische Form der raum-zeitlichen Koordination, die LÄPPLE/STOHR (2006) als „Übergangstypus“ kennzeichnen. Ohne dass das familiäre Wohnideal am Stadtrand als überholt verstanden und aufgegeben wird, wird den veränderten Anforderungen der Arbeitswelt (Stichwort: Zwangsflexibilisierung) sowie den sich veränderten Geschlechterrollen mit technischen Maßnahmen und raumzeitlichen Optimierungsstrategien begegnet. Dies beinhaltet beispielsweise die Anschaffung eines weiteren PKW oder die Wegoptimierung des alltäglichen Berufspendelweges, etwa wenn Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen in der Nähe des Arbeitsplatzes eines Elternteils gewählt werden. Diese Reaktion auf eine sich verändernde Arbeits- und Lebenswelt bezeichnen LÄPPLE/STOHR als „neo-fordistische Lösungsversuche“ (ebd., S. 181). Diese erfordern einen hohen raum-zeitlichen Koordinationsaufwand. Als paralleles geschlechterkulturelles Familienarrangement zu diesem Typus kann das „modernisierte bürgerliche Modell“ verstanden werden, das zwar dem Bild des „männlichen Haupternährers“ verhaftet bleibt, den geschlechterkulturellen Wandel aber insofern aufnimmt, als der Frau über die klassische Hausfrauenrolle hinaus eine Teilzeit-Erwerbstätigkeit und damit die Beteiligung am zur Identitätskonstruktion bedeutsamer werdenden Arbeitsleben zugebilligt wird. Die nötigen Opportunitätskosten sowie der deutlich erhöhte raumzeitliche Koordinationsaufwand werden hierfür in Kauf genommen. Das dritte von LÄPPLE/STOHR genannte Haushaltsmodell steht geradezu idealtypisch für das Segment der hochqualifizierten wissensund kulturbasierten Dienstleistungsbeschäftigten und lässt sich durch 118
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das Attribut „postfordistisch“ typisieren. Die eingangs beschriebene prozessuale Konvergenz von Arbeit- und Lebenswelt ist bei dieser Form der Alltagsorganisation am weitesten fortgeschritten, wobei einerseits der Aspekt der Identitätskonstruktion durch Arbeit eine bedeutsame Rolle spielt, andererseits aber auch eine weitgehend flexibilisierte Arbeitszeit eine Trennung von Arbeits- und Nichtarbeitszeit erschwert. Zudem ist die räumliche Trennung von Arbeitsort, Wohnort und Orten der Freizeit oftmals aufgehoben und entspricht dem Bild der sogenannten Digitalnomaden bzw. der von Holm FRIEBE und Sascha LOBO im Rahmen einer populären Auseinandersetzung mit dem Titel „Wir nennen es Arbeit“ beschriebenen „Digitalen Boheme“. Traditionelle Vorstellungen über geschlechtsspezifische Arbeitsteilung werden weitgehend abgelehnt, sodass Frauen gleichermaßen wie Männern nicht nur eine Integration in einen (zeitlich weitgehend flexibilisierten) Erwerbsalltag offen steht, sondern auch damit verbundene Karriereoptionen erst möglich erscheinen. Die Vereinbarkeit dieses „urbanen Modells der Arbeits- und Lebensorganisation kreativer Wissensarbeiter“ (LÄPPLE/STOHR 2006, S. 182) mit Familienmodellen gleich welcher haushaltsorganisatorischen Arbeitsteilung ist angesichts des hohen zeitlichen Koordinationsaufwandes stark eingeschränkt. Wird trotz dieser Widrigkeiten und der Zeitbindungen, die das Verfolgen einer Karriere beider Partner mit sich bringt, eine Familie gegründet, so liegt vor dem Hintergrund der skizzierten Geschlechterrollen das „egalitär-erwerbsbezogene Modell“ nahe. Aufgrund der Überlappung von Arbeits- und Lebenswelt infolge der raum-zeitlichen Koordinationszwänge und der damit einhergehenden notwendigen Nähe zu Versorgungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen ist dies aber kaum an monofunktionalen Stadtrandlagen zu realisieren. Zweckmäßiger erscheint ein Wohnstandort, der eine große raum-zeitliche Nähe zu Infrastruktureinrichtungen jeglicher Art aufweist, sodass Zeitverluste durch Mobilitätszwänge weitgehend reduziert werden können. Für neue, auf egalitär-erwerbsbezogenen Geschlechterarrangements basierende Paar- und Familienhaushalte ist ein urbaner und funktionsvielfältiger Wohnstandort dabei gleichermaßen attraktiv wie für Einpersonenhaushalte, deren Alltag durch eine deutliche Konvergenz von Arbeit und Leben gekennzeichnet ist – „nicht nur wegen der Nähe zu Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, sondern auch aufgrund des dichten und heterogenen infrastrukturellen Angebots an kulturellen und von Hausarbeit entlastenden Einrichtungen […]. Eine längere Wohnbiographie von zehn, zwölf, 15 Jahren an innenstadtnahen Wohnstandorten
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führt häufig dazu, dass diese auch dann nicht aufgegeben werden, wenn Kinder geboren und aufgezogen werden.“ (DANGSCHAT 2007, S. 39). Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, eine strikte Parallele des egalitär-erwerbsbezogenen Familienmodells zu den wissens- und kulturbasierten Dienstleistungsbeschäftigten postfordistischen Typs zu unterstellen. So weisen HEYE/LEUTHOLD (2004) darauf hin, „dass die doppelte Vollzeiterwerbstätigkeit [...] mehrheitlich von einkommens- und ausbildungsmäßig unterprivilegierten Bevölkerungsschichten praktiziert wird, das heißt aus Gründen der materiellen Notwendigkeit“. Dieser Hinweis führt zu dem letzten von LÄPPLE/STOHR genannten Haushaltstypus, der „Dienstbotenökonomie“. Gemeint sind hiermit die „selbstausbeuterischen Erwerbsformen in den hochgradig prekarisierten Arbeitsmarkt-Segmenten“ (ebd., 185). Anders als LÄPPLE/STOHR, die anlehnend an JARVIS (2005) für dieses Arbeitsmarktsegment aufgrund eines vorherrschenden traditionellen Verständnisses geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung sowie einer zwangsflexibilisierten Arbeitszeit des prekär beschäftigten Mannes ein dem traditionellen bürgerlichen Modell entsprechendes Geschlechterarrangement annehmen, kann mit HEYE/ LEUTHOLD (2004) auch von einer dem egalitär-erwerbsbezogenem Familienmodell entsprechenden Arbeitsteilung ausgegangen werden. Interessanterweise lassen sich zwischen dem prekarisierten Milieu der Dienstbotenökonomie einerseits und dem Segment der hochqualifizierten wissens- und kulturbasierten Dienstleistungsbeschäftigten andererseits auch einige alltagsorganisatorische Gemeinsamkeiten erkennen. So sind diese beiden Arbeitsmarktsegmente etwa durch symbiotische Beziehungen miteinander verbunden, da die Servicekräfte der Dienstbotenökonomie genau die Leistungen und Infrastrukturen anbieten, die von den hochflexibilisierten Kreativarbeitern der Wissensökonomie nachgefragt werden. Neben dieser raum-zeitlichen Kopräsenz der beiden Gruppen lassen sich Parallelen hinsichtlich der Klassenlage erkennen, worauf etwa HORX (2004) hinweist, wenn er feststellt dass „Service-Worker und Kreative vieles gemeinsam [haben, (T.P.)]: Ihre oft prekäre Vertragssituation und die damit verbundenen Stress- und Strategieprobleme verbinden die beiden Klassen eher als dass sie sie trennen“ (ebd., S. 14). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Ausdifferenzierung des Arbeitsmarktes einen Einfluss auf die zeitliche und damit auch die räumliche Ausgestaltung des Alltags hat. Im Wesentlichen scheint dabei eine alltagsorganisatorische Konfliktlinie zwischen den klassischerweise „fordistisch“ organisierten Arbeitsbeziehungen und Lebensweisen einerseits und den „postfordistisch“ strukturierten und durch eine Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt gekennzeichneten 120
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Segmenten andererseits erkennbar. Zur letzteren Gruppe ist sowohl das Segment der Dienstbotenökonomie als auch das Segment der hochqualifizierten wissens- und kulturbasierten Dienstleistungsbeschäftigten zu rechnen, wobei sich beide nicht durch die an sie herangetragenen raumzeitlichen Flexibilisierungsansprüche unterscheiden, sondern der Unterschied im Wesentlichen an dem Grad der Selbst- bzw. Fremdbestimmtheit der ausgeübten Tätigkeiten festgemacht werden kann. Darüber hinaus bestehen offenkundige Querbezüge zwischen den Segmenten des städtischen Arbeitsmarktes und den Formen der geschlechterkulturellen Arbeitsteilung in (Paar- und) Familienhaushalten. Es kann angenommen werden, dass das fordistische Alltagsorganisationsmuster, das eine räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten als zu verwirklichendes Ideal propagiert, den zukünftig eher steigenden Anforderungen an eine raum-zeitlich flexible Alltagsorganisation immer weniger gerecht zu werden vermag.
Lebensstile und Zeit Die geforderten Anpassungsleistungen an die spätmoderne Arbeitsorganisation evozieren die Selbstreflexion der eigenen Integration in alltagsorganisatorische Routinen, die verhandelbar erscheinen und im spezifischen Rahmen der eigenen Möglichkeiten ausgestaltbar sind. Hierauf weisen die Untersuchungsergebnisse von HÖRNIG et al. (1990; 1998) hin, die sich mit den sozial-zeitlichen Bezügen im Kontext unterschiedlicher Lebensstile beschäftigen. Ausgehend von den veränderten Arbeitsbeziehungen in der Spätmoderne betrachten HÖRNIG/GERHARD/ MICHAILOW (1990) die unterschiedlichen Umgangsweisen mit individuellen Zeitbudgets. Dabei können zunächst „Zeitpioniere“ von „Zeitkonventionalisten“ unterschieden werden. Als „Zeitpioniere“ werden Personen bezeichnet, „die ihre Zeitvorstellungen in der Arbeit und im außerbetrieblichen Alltag zu verwirklichen suchen, sich dabei Hindernissen und Brüchen stellen und darüber eigenständige Gestaltungsformen von Zeit entwickeln“ (ebd., S. 6). Ausgehend von dem Anspruch, einen höheren zeitlichen Gestaltungsspielraum im Alltag zu verwirklichen, versuchen Zeitpioniere ihre Arbeitszeit gezielt zu flexibilisieren, vor allem aber zu reduzieren, um ein Optimum von erzieltem Einkommen einerseits und für Lohnarbeit aufgewendeter Zeit andererseits herzustellen. Die individuelle Zeitgestaltung des Alltags verstehen HÖRNIG/GERHARD/MICHAILOW (1990) dabei als Aspekt des Lebensstils; Zeitpioniere sind somit als eine Lebensstilgruppe anzusprechen: „Wir gehen davon aus, dass Lebensstile eigene Zeitstrukturen ausbilden und 121
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sich dabei auf andersartige Zeitstrukturen in ihrer Umwelt einstellen, diese mithin als eigene andere Zeiten abbilden“ (ebd., S. 30). Die bei dem Ansatz von HÖRNIG/GERHARD/MICHAILOW gewählte Perspektive auf „Zeitstrukturen“ als soziales Konstrukt beruht auf einer Trennung von drei verschiedenen Zeitlogiken, die parallel nebeneinander existieren und – in Abhängigkeit des individuellen Lebensstils – auf unterschiedliche Arten miteinander synchronisiert werden: erstens die „gesellschaftliche Zeit“, zweitens die „Systemzeit“ und drittens die „subjektive Zeit“. Die „gesellschaftliche Zeit“ kann als sozialer Referenzrahmen gelten. Während die vormoderne gesellschaftliche Zeit von der Vorstellung wiederkehrender Zyklen geprägt war, zeichnet sich die Zeitvorstellung der Moderne durch Linearität, Metrik und intersubjektive Messbarkeit aus. Die heutige Vorstellung von einer linear fortschreitenden Zeit und ihrer metrischen Messbarkeit ist somit keineswegs universal, sondern in hohem Maße abhängig von der jeweiligen kulturellen Einbettung. Diese Zeitdimension, die ROSA als „unsere Zeit“ bzw. in Anlehnung an GIDDENS als „longue durée“ bezeichnet, ist „zugleich Zeit unseres Alltags, unseres Lebens und unserer Epoche“ (ROSA 2005, S. 31) und bezieht damit generationale Vorstellungen explizit mit ein.25 GRABOW/HENCKEL (1988, S. 152ff.) nennen zwei Hauptgründe für die Linearisierung der gesellschaftlichen Zeit in der Moderne, die für die moderne Ökonomie bedeutungsvoll sind: Erstens wirkt die Ablösung einer zyklischen Zeitvorstellung durch eine lineare in Richtung einer Beherrschung der Natur und ist damit anschlussfähig an technokratische Weltbilder. Naturgesetzlich bedingte zyklische Schwankungen wie Tages- oder Jahreszeiten werden durch die Linearisierung regelrecht „geglättet“. Die Natur erscheint damit kontrollierbar oder sogar beherrschbar. 26 Zweitens bewirkt die Linearisierung eine Verstetigung technischer und ökonomischer Prozesse und der mit ihnen verbundenen Wertschöpfungsketten: Unabhängig von den zyklischen Abläufen der Aktivitäts- und Ruhezeiten produzierende Maschinen bewirken eine konstante Produktion, während Ruhezeiten kaum mit dem „kategorisch25 Dies kommt etwa in Aussagen älterer Menschen wie „zu meiner Zeit war das noch anders“ zum Ausdruck. Auch beziehen sich Aussagen wie „zur Zeit Goethes“ auf diese epochalen Zeitordnungen, die Querbezüge zu einer je spezifischen alltagskulturellen Praxis herstellen. 26 In diesem Kontext stellt sich die Frage, inwiefern vor dem Hintergrund der heutigen Erkenntnisse über den Klimawandel, der die Vorstellung einer durch den Menschen beherrschbaren Natur ad absurdum führt, dazu gereicht, die gesellschaftlichen Zeitvorstellungen infrage zu stellen oder sogar zu revolutionieren. Eine Diskussion dieser Frage würde an dieser Stelle jedoch zu weit vom engeren Gegenstand der Arbeit wegführen. 122
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en Wachstumsimperativ“ der Moderne vereinbar seien (ebd., S. 153). Demzufolge ist die Linearisierung der Zeitordnung in einem engen Zusammenhang zur Entstehung des Industriekapitalismus zu verstehen. Die zweite von HÖRNIG/GERHARD/MICHAILOW benannte Zeitlogik, die „Systemzeit“, verweist auf den normativen Anspruch an die Gestaltung der individuellen Lebenszeit. Diese Zeitdimension, die ROSA mit dem Begriff der „Lebenszeit“ und GIDDENS in Anlehnung an HEIDEGGER mit dem Begriff des „Daseins“ benennt (vgl. ROSA 2005, S. 31), umfasst sowohl die eigene Lebenserfahrung bzw. -geschichte als auch die Planung der eigenen Zukunft in unterschiedlichen Zeithorizonten. In der Moderne kann die Systemzeit ebenfalls als „industrialisiert“ interpretiert werden (HÖRNIG/GERHARD/MICHAILOW 1990, S. 33), wobei sich die industrialisierte Zeitlogik nicht nur auf die Arbeitswelt beschränkt, sondern die Lebenswelt kolonisiert hat: „In der Arbeitswelt wird ein rationaler Umgang mit Zeit, wird wirtschaftliches Haushalten mit Zeit, Zeitersparnis, Pünktlichkeit, Synchronizität, Stetigkeit usw. gefordert; hier wird die Aufspaltung von Lebenszeit in die Zeitblöcke von Arbeitszeit und Freizeit vermittelt, werden Zeitgrenzen und Zeitmarkierungen formalisiert und in den außerbetrieblichen Alltag gegeben“ (ebd., S. 33). Zum Dritten können subjektive Zeiten (HÖRNIG et al.) bzw. „Zeitstrukturen des Alltagslebens“ (ROSA) als Zeitreferenz des Individuums aufgefasst werden. Hierbei handelt es sich um die zeitliche Ordnung und Abfolge routinisierter Alltagshandlungen, die in der Regel im wochenund tageszeitlichen Rhythmus wiederkehren. Referenzrahmen der subjektiven Zeit ist die eigene Biographie, wobei alltägliche Handlungspraktiken mit bisherigen Erfahrungen in Übereinstimmung gebracht werden. Dabei werden zeitliche Erfahrungen durch die Zuschreibung von Sinn strukturiert und bewertet: „Die Rhythmen der inneren Dauer, das heißt das Ausmaß der Zeiterfahrungen, variiert durch subjektiv motivierte Kategorien der Aufmerksamkeit, das heißt durch spezifische Erlebnisstile, die an verschiedene Themen, Sinnschemata oder Handlungsketten angebunden sind, die wiederum durch körperliche Zustände und auferlegte Veränderungen […] überformt werden können“ (HÖRNIG/GERHARD/MICHAILOW 1990, S. 35). Diese individuelle Zeiterfahrung ist also als Teil der eigenen Sozialisation zu begreifen. Sie konfrontiert das Individuum mit Synchronisationszumutungen, um das eigene Handeln mit dem Handeln der Anderen temporal in Übereinstimmung zu bringen und so soziales Handeln zu ermöglichen. Die Vermittlungsfähigkeit der subjektiven Zeit ist damit abhängig von gesamtgesellschaftlich vorherrschenden Deutungsmustern: Nur wenn die eigene subjektive Zeit den Anderen vermittelbar 123
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und für diese nachvollziehbar ist, können Synchronisationsleistungen hergestellt werden. „Das vorherrschende Zeitverständnis prägt entscheidend die zeitlichen Deutungsmuster der Gesellschaftsmitglieder und damit auch die Artikulationsmöglichkeiten und Erfahrungsweisen subjektiver Zeit“ (ebd., S. 36). Als Vermittlungsinstanz von gesellschaftlicher Zeit, Systemzeit und subjektiver Zeit fungiert nach HÖRNIG/GERHARD/MICHAILOW (1990) der Lebensstil. Mit zunehmender Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile in der Spätmoderne ist es naheliegend, dass Chancen zur Synchronisierung der verschiedenen subjektiven Zeiten der Akteure sinken (vgl. ROSA 2005, S. 30). Der Lebensstil ist damit für die Zeiterfahrung, -deutung und nutzung mindestens ebenso konstitutiv wie für die Raumnutzung (vgl. Kapitel 2.1.3). Zudem ist festzustellen, dass die subjektive Zeiterfahrung nicht als unabhängig von der Systemzeit und der Einbettung in die soziale Strukturierung verstanden werden kann: „Diese drei Zeitebenen und die damit verbundenen Zeithorizonte bestimmen in ihrem Zusammenspiel erst das ‚In-der-Zeit-Sein‘ eines Akteurs, und sie müssen immer wieder von Neuem miteinander in Einklang gebracht werden“ (ROSA 2005, S. 31). Mit Verweis auf die GIDDENS’sche Theorie der Strukturierung muss die Zeit (genauso wie der Raum) als konstitutiv für die Einbettung der individuellen Akteure in gesellschaftliche Zusammenhänge angenommen werden. Umgekehrt werden, wie ROSA (2005) zeigt, Milieu-, Kultur- und sogar Gesellschaftsanalysen möglich, indem die je spezifischen Zeitstrukturen betrachtet werden. Zeitstrukturen sind folglich als (wenngleich in diesem Kontext: unräumliche!) „Registrierplatte“ einer Analyse der spätmodernen Gesellschaft zu interpretieren: „Wenn Zeitmuster und -perspektiven somit also den paradigmatischen Ort der Vermittlung von Struktur und Kultur, von System- und Akteursperspektiven und damit auch von systemischen Notwendigkeiten und normativen Erwartungen darstellen, so bedeutet dies zugleich, dass sie einen privilegierten Zugang für die sozialwissenschaftliche Analyse der kulturellen und strukturellen Gesamtformation eines Zeitalters eröffnen.“ (ROSA 2005, S. 38)
Wenn also unter den Bedingungen der durch Flexibilisierung gekennzeichneten spätmodernen Arbeitsbeziehungen auch verstärkt der Wunsch nach einer freieren und flexiblen Gestaltung der Lebenszeit lautwird, so ist dies als Beleg für die soziale Integration des Subjekts in genau diese „systemischen Notwendigkeiten und normativen Erwartungen“ zu verstehen. Dabei gestaltet die Lebensstilgruppe der „Zeit-
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pioniere“ (im Gegensatz zu den „Zeitkonventionalisten“) ihren Alltag bewusst und mit dem Ziel, ein möglichst hohes Maß an eigener zeitlicher Gestaltungsfreiheit zu erreichen und sich Arbeits- und Lebenszeit frei einteilen zu können. „Zeit wird als Optionschance genutzt, und veränderte Zeiteinteilungspraktiken werden zur Lebensstilausformung verwendet. Dabei kommt es den Zeitpionieren in erster Linie darauf an, mehr Zeit zur individuellen Verfügung zu haben, d. h. Zeitautonomie zu erreichen“ (HÖRNIG/GERHARD/MICHAILOW 1990, S. 171). Im Unterschied zur Studie von HÖRNIG/GERHARD/MICHAILOW (1990), die ihren Ausgangspunkt in den veränderten Arbeitsbeziehungen nimmt, betrachtet die Analyse von HÖRNIG/AHRENS/GERHARD (1997) die temporale Ordnung der Gesellschaft ausgehend von der Umgangsweise mit Technik sowie der Kommunikation. Sie arbeiten drei sogenannte Lebensstilfiguren heraus, die sich im Hinblick auf ihre Zeitpraktiken sowie ihre Umgangsweisen mit Technik und Kommunikation voneinander unterscheiden lassen. Erstens ist dies der Typus des „technikfaszinierten Wellenreiters“, der in der Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien eine Lösungschance seiner Zeitprobleme sieht. Neue Kommunikationstechnologien werden im Rahmen dieser „Lebensstilfigur“ als eine Art „Zeitsparmaschine“ angesehen. Dieser sehr technokratische Typus erscheint dabei nicht als Vertreter der Spätmoderne, sondern eher als Idealfigur der klassischen Moderne, da seine Lösungsstrategie für Zeitprobleme dem von SCHULZE (2003) beschriebenen „Steigerungsspiel“ folgt, das für die Moderne kennzeichnend ist. Im Gegensatz zum „technikfaszinierten Wellenreiter“ ist der zweite von HÖRNIG/AHRENS/GERHARD (1997) dargestellte Idealtyp, der „zeitjonglierende Spieler“, durch ein hohes Maß an Selbstreflexivität hinsichtlich seiner Zeitverwendungsmuster gekennzeichnet. Er bindet neue Kommunikationstechnologien in seinen Alltag ein, jedoch ohne diese zu fetischisieren. Im Gegensatz zum „technikfaszinierten Wellenreiter“ erkennt er die Begrenztheit der Optionen, die durch neue Technologien eröffnet werden. Zeitlichen Zwängen versucht der „zeitjonglierende Spieler“ durch das Hinterfragen von Zeitnormen und die aktive Entstandardisierung von Zeitregulativen zu begegnen; sein Ziel ist dabei eine möglichst große Autonomie über seine raum-zeitliche Alltagsgestaltung. Dabei erkennt er die Beschleunigungsmomente der Spätmoderne und macht sie sich durch zeitliche Flexibilisierung zu eigen. „Zeit bildet die bevorzugte Sinndimension, aus der dieser Typus seine Stilisierung erfährt“ (ebd., S. 140). Neue Kommunikationstechnologien werden dabei unideologisch in die raum-zeitliche Alltagsgestaltung integriert. 125
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Einen gänzlich anderen Umgang mit Technologie und Kommunikation zeigt drittens der Typus des „kommunikationsbesorgten Skeptikers“. Dieser Idealtyp sieht die zunehmende Virtualisierung sozialer Beziehungen durch das Aufkommen neuer Kommunikationstechnologien primär als Gefahr und versucht daher, seinen Alltag nach Möglichkeit von technischen Innovationen freizuhalten. Den Beschleunigungsmomenten der spätmodernen Gesellschaft versucht er durch bewusste Entschleunigung zu begegnen, was nur durch einen hohen Zeitaufwand möglich ist. Entscheidend ist dabei seine Sorge um die zunehmende Entankerung. „Wertvolle“ Kommunikation ist für diesen Typus mit der Notwendigkeit raum-zeitlicher Kopräsenz verbunden, sodass er einen erhöhten Koordinationsaufwand zur Pflege sozialer Kontakte aufbringen muss. Insbesondere die Figur des „kommunikationsbesorgten Skeptikers“ erscheint dabei als Verlierer des Beschleunigungsspiels der Spätmoderne. Während der „technikfaszinierte Wellenreiter“ die negativen Auswirkungen der Beschleunigung nicht wahrnimmt und positiv nach technischen Lösungsoptionen für Zeitdilemmata sucht und der „zeitjonglierende Spieler“ durch die Integration technischer Innovationen in seinen Alltag zusätzliche Handlungsspielräume gewinnt, benötigt der „kommunikationsbesorgte Skeptiker“ ein möglichst großes disponibles Zeitbudget, das er frei einteilen kann. Die Grenzen der freien Zeiteinteilung des Alltags können dabei als abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen betrachtet werden. So weist etwa SIEVERTS (2002) auf diese Rahmenbedingungen für Zeitverwendungsmuster und – damit verbunden – auf die Raumnutzung hin und sieht sie als konstituierend für die Stadtstruktur und insbesondere Wohnstandortentscheidungen an. SIEVERTS unterscheidet anhand der „Gebundenheit von Zeitbudgets aufgrund von Lebensstilen und Existenzverflechtungen“ (ebd., S. 254) verschiedene Freiheitsgrade der raum-zeitlichen Gestaltung des Alltags. Während sich „feinkörnige Zeitbudgets“ durch einen „engen Tagesrhythmus mit einem kurzzeitigen Wechsel von Arbeit und Freizeit“ kennzeichnen lassen, sind „mitteloder grobkörnige Zeitbudgets“ durch einen Wechsel von Arbeits- und Freizeitphasen in wöchentlichen, monatlichen oder saisonalen Rhythmen gekennzeichnet (ebd., S. 254f.). Je grobkörniger das Zeitbudget des Individuums ist, desto eher besteht die Möglichkeit einer freien Wahl des Wohnstandortes – entsprechende Verfügbarkeit des hierzu erforderlichen ökonomischen Kapitals vorausgesetzt. Demgegenüber können feinkörnige Zeitbudgets als Folge der fortschreitenden Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt in der Spätmoderne und den
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damit verbundenen Momenten der „Zwangsflexibilisierung“ verstanden werden. Neben der „Körnigkeit“ und der Kapitalverfügbarkeit sind bestehende Existenzverflechtungen von zentraler Bedeutung für das Ausmaß an Freiheitsgraden der individuellen raum-zeitlichen Gestaltung des Alltags. Existenzverflechtungen sind als netzwerkbezogene Restriktionen zu verstehen, welche die Wohnstandortwahl limitieren. Erstens sind dies „symbiotische Existenzverflechtungen“, die als unabhängig von Wirtschaftsabläufen zu verstehen sind und auf zu erbringenden Versorgungsbzw. Unterstützungsleistungen basieren (etwa die Versorgung von Kindern oder die Pflege von Alten oder Kranken). Zweitens können „synergetische Existenzverflechtungen“ bestehen, die im Kontext „der arbeitsteiligen Erbringung von wechselseitigen Leistungen und Produkten in jeweils produktbezogener Zusammenarbeit von Spezialisten“ (ebd., S. 255) zu begreifen sind. Drittens nennt SIEVERTS „synkulturelle Existenzverflechtungen“, die eine Kohabitation aufgrund kultureller, religiöser oder weltanschaulicher Momente nahelegen. Ein großes Maß an bestehenden Existenzverflechtungen läuft aus naheliegenden Gründen einer „freien“ bzw. wahloptionsoffenen Ausgestaltung des Aktionsraums zuwider. Das Konzept der Existenzverflechtungen weist damit eine Parallele zu den eingangs dieses Kapitels erörterten „coupling constraints“ auf, ohne dass explizit auf die zeitgeographische Lund-Schule Bezug genommen wird. Während Existenzverflechtungen eher den sozialen Aspekt der Einbettung des Individuums beleuchten, beschreiben constraints mehr den technisch-organisatorischen Aspekt. Körnigkeit und Existenzverflechtungen der Zeitverfügbarkeit stellen für SIEVERTS einen Ermöglichungsspielraum für die Ausgestaltung individueller Aktionsräume dar. Die tatsächliche raum-zeitliche Alltagsgestaltung ist aber in höchstem Maße von persönlichen Präferenzen abhängig, die in Lebensstilen zum Ausdruck kommen: „Die verschiedenen Zeitbudgets werden erst raumwirksam über die unterschiedlichen Lebensstile, die u.a. durch unterschiedlich strukturierte Zeitbudgets ermöglicht werden: Aktionsräume individualisieren sich entsprechend der Ausdifferenzierung der Lebensstile“ (ebd., S. 256). Die zukünftige Stadtplanung sollte SIEVERTS zufolge verstärkt auf die raum-zeitlichen Ansprüche von Personen in Existenzverflechtungen mit feinkörnigen Zeitbudgets Bezug nehmen. Diese Gruppen „tendieren zu einer Synthese aus Arbeit und Freizeit und sind aus unterschiedlichen Gründen – aber nicht zuletzt aus Gründen der Zeitökonomie – an komplexen Stadtstrukturen mit vielfältigen und unterschiedlichen, auch räumlich gut erreichbaren Dienstleistungsangeboten interessiert“ (ebd., S. 261). 127
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Diesen Gruppen wird SIEVERTS zufolge in der Stadtplanung gegenüber den Personen in traditionellen Normal-Arbeitsverhältnissen derzeit noch zu wenig Beachtung geschenkt, obgleich sie sich durch besondere Anforderungen auszeichnen (vgl. ebd., S. 262) und für die mutmaßliche Zukunft der (spätmodernen) Stadt eine hervorgehobene Rolle spielen. Auch wenn SIEVERTS nicht explizit auf die Konvergenz von Arbeit und Leben als Kennzeichen der spätmodernen Gesellschaft Bezug nimmt, ist seine Diagnose des gesellschaftlichen Wandels der Stadtgesellschaft auf dasselbe Phänomen gerichtet: Neben einer Persistenz „fordistischer“ Zeitstrukturen, Arbeitsbeziehungen und räumlichen Alltagsorganisationsweisen kann für bestimmte gesellschaftliche Gruppen eine zeitliche Flexibilisierung von Arbeitszeiten sowie eine raum-zeitliche Entgrenzung der ehemals getrennten Bereiche „Leben“ und „Arbeiten“ als konstitutiv angenommen werden. Die Konsequenzen dieser neuen Herausforderungen für die städtische Planung scheinen indes noch weitgehend offen zu sein. Die bisherigen Anpassungen der städtischen Strukturen auf die Flexibilisierungstendenzen von Arbeitszeiten und -beziehungen sowie die Pluralisierung von Haushaltstypen und Zeitverwendungsmustern fallen eher marginal aus, wie auch DANGSCHAT (2007) feststellt: „Die meisten städtischen Siedlungsstrukturen sind [...] nach den Traditionen der industriellen Arbeit mit ihren fixen zeitlichen Regeln aufgebaut und organisiert und an der Arbeitsteilung der Kleinfamilie orientiert. Das bedeutet, dass auf die neuen Standortpräferenzen und die zeitlichen Nutzungsmuster sowohl in der gebauten Struktur, aber auch bezüglich der ‚Zeittakte‘ der Stadt(teile) reagiert werden muss. […] Die Städte unterliegen also auch einer neuen Segmentation traditioneller Arbeitsformen und Haushaltsstrukturen auf der einen und der der ‚neuen‘ auf der anderen Seite.“ (DANGSCHAT 2007, S. 38)
Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit Die Spätmoderne kann als Phase einer tiefgreifenden „Krise des Fordismus“ beschrieben werden. Die Integrationskraft der Funktion „Arbeit“ in der Spätmoderne ist dabei weitgehend uneindeutig. Während für das Segment der wissens- und kulturbasierten Dienstleistungsbeschäftigten eine zunehmende Bedeutung von Arbeit für die Identitätskonstruktion angenommen werden kann, geraten die fordistischen „Normalarbeitsverhältnisse“ unter Druck: Sie vermögen immer weniger eine uneingeschränkte Normalität zu repräsentieren und vermitteln daher auch nicht mehr uneingeschränkt gesellschaftliche Integration. 128
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Der soziale Wandel in der Spätmoderne ist nicht nur mit dem Hinterfragen von räumlichen Nutzungsmustern, sondern auch mit alltagszeitlichen Strukturveränderungen verbunden. Die Pluralisierung unterschiedlich gestalteter zeitlicher Alltagsorganisationsweisen bzw. Alltagsroutinen in der Spätmoderne ist im Kontext mit • der Segmentierung des Arbeitsmarktes (LÄPPLE/STOHR 2006), • der Pluralisierung der Geschlechterrollen bzw. -arrangements (BÜHLER 2001), • der Lebensstildifferenzierung (HÖRNIG et al. 1990, 1997; SIEVERTS 2002), den bestehenden Existenzverflechtungen (SIEVERTS 2002) • zu verstehen. Den sich ausdifferenzierenden Ansprüchen an die zeitliche Organisation des Alltags stehen die derzeitigen raum-zeitlichen Strukturen unserer Städte entgegen, die eine Folge der fordistischen Organisation der Gesellschaft darstellen. Ihre wesentlichen Kennzeichen sind die zeitliche und räumliche Trennung von Beruf und Familie, das normativ vorherrschende „Male Bread Winner“-Modell (fordistische Kleinfamilie mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung) sowie starre zeitliche Alltagsroutinen. Es besteht Grund zur Annahme, dass diese Strukturen der fordistischen Stadt vor dem Hintergrund zunehmender Flexibilisierungsanforderungen als raum-zeitliches „Korsett“ wirken und flexibilisierten „postfordistischen“ Alltagsorganisationsweisen zuwiderlaufen. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben stellt sich insbesondere die Frage nach der Vereinbarkeit von „Beruf“ und „Familie“, aber auch generell die Frage nach dem Ausmaß der Konvergenz von Arbeit und Leben. In der empirischen Untersuchung soll die Bedeutung der Segmentierung des Arbeitsmarktes, der Pluralisierung von Geschlechterarrangements und Haushaltsstrukturen (symbiotische Existenzverflechtungen) sowie der Differenzierung von Lebensstilen für die raumzeitliche Alltagsorganisation überprüft werden. Dieser Analyseschritt erfolgt ausgehend von der empirischen Untersuchung in vier Stadtteilen Hamburgs (Kapitel 6). Darüber hinaus sollen die Zeitverwendungsmuster auf gesamtstädtischer Ebene abgebildet werden (Regionalisierung von Chronotopen). Dabei soll überprüft werden, welche Teile der Stadt die besten Chancen für eine zeitlich flexible Alltagsgestaltung bieten und daher den Anforderungen der Wissensgesellschaft am ehesten entsprechen. Diese gesamtstädtische Analyse der Zeitstrukturen erfolgt in Kapitel 5.
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2.2 Ansätze zur Analyse raum-zeitlicher Strukturen Gingen die in Kapitel 2.1 vorgestellten Forschungskontexte vor allem vom (handelnden) Individuum aus, wird im Folgenden versucht, ausgehend von sozialräumlichen sowie sozial-zeitlichen Forschungsperspektiven, die Einbettung des Individuums in räumliche sowie zeitliche Strukturen darzustellen. Als guter Startpunkt zur strukturorientierten Erforschung der raumzeitlichen Organisation der Gesellschaft erscheint die Human- bzw. Sozialökologie. In Abschnitt 2.2.1 sollen ausgehend von den klassischen Ansätzen der Human- oder Sozialökologie die Entwicklungslinien sozialräumlicher Forschung nachvollzogen werden. Aus naheliegenden Gründen kann in diesem Abschnitt keine umfassende Darstellung aller Facetten sozialräumlicher Forschungsperspektiven erfolgen. Daher wird eine Konzentration auf die in dieser Arbeit zur Anwendung kommenden Ansätze angestrebt. Ferner sollen die Bezüge der Sozialökologie zur Zeitforschung herausgearbeitet werden. Mit Blick auf den empirischen Teil dieser Arbeit sind hierfür vor allem die methodologischen Aspekte von Interesse, insbesondere die deduktive „social area analysis“ sowie die induktiv vorgehende Faktorialökologie. Des Weiteren werden die Reformvorschläge zur „Revitalisierung“ der forschungspraktisch etwas „aus der Mode geratenen“ Sozialraumanalyse diskutiert. Vor allem sind dies Erweiterungsversuche, die auf eine Integration der Lebensstil- und Milieuorientierung in die Sozialraumanalyse gerichtet sind. In Abschnitt 2.2.2 wird die Debatte um die „Kreative Stadt“ und die hieraus resultierenden planerischen Perspektiven zur Förderung wirtschaftlicher Prosperität in Städten aufgenommen. Das Ziel dieses Unterkapitels ist es, Anknüpfungspunkte dieser Forschungsrichtung an die „Analyse sozialer Räume“ herauszuarbeiten. Offenkundige Querbezüge der Kreativitätsdebatte zur Sozialökologie bestehen zum Ersten in der Erkenntnis, dass die Ressource „Kreativität“ ungleich über den Raum verteilt ist. Zum Zweiten verweist der Begriff der „kreativen Klasse“ auf soziale Schließungsprozesse von Lebensstil- oder Milieugruppen, die ihre Distinktionsgewinne durch die alltagsästhetische Zurschaustellung ihrer „Kreativität“ realisieren. Die hierzu geeigneten Orte (bzw. „Bühnen“) sind ebenfalls höchst ungleich über den Stadtraum verteilt. Obgleich die Kreativitätsdebatte genau wie auch die Sozialökologie implizit die sozial-zeitliche Organisation der Stadt berührt, ist bei beiden Forschungszugängen der Blick auf die temporale Organisation der Gesellschaft eher unscharf. In Abschnitt 2.2.3. soll daher versucht werden, zeitintegrative Perspektiven in sozialräumliche Untersuchungs130
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kontexte einzubeziehen. Diese haben insbesondere in Form der interventionistischen „lokalen Zeitpolitik“ in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Auch werden in diesem Abschnitt die einleitend beschriebenen Tendenzen raum-zeitlicher Entgrenzungs- und Beschleunigungsphänomene wiederaufgenommen, die für die spätmoderne Stadtentwicklung als konstitutiv angesehen werden können.
2.2.1. Sozialökologische Organisation der Gesellschaft Erste Untersuchungen über die Lebensbedingungen in Städten erfolgten in der Zeit der Industrialisierung, die durch ein massives Städtewachstum gekennzeichnet war. So lassen sich etwa die „poverty map“ Londons 27 von BOOTH (1969, zuerst 1892), die Darstellung der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ von ENGELS (1972/1845) oder die Untersuchungen des „Deutschen Vereins für Socialpolitik“ als Vorläufer der Betrachtung sozialer Ungleichheit in räumlichen Kontexten verstehen. Zum systematischen Forschungsgegenstand wurde die Stadt in ihrer sozialen Dimension erst mit den Methoden und Modellen der „Chicago School for human ecology“ ab den 1920er Jahren, die mit den Namen PARK, BURGESS und MCKENZIE verbunden ist. Die Konzentration auf die Stadt als Forschungsgegenstand wurde dadurch begründet, dass „Städte, vor allem Großstädte, in denen Selektion und Segregation der Bevölkerung am weitesten entwickelt sind, [...] bestimmte morphologische Eigenschaften [besitzen], die man bei kleineren Bevölkerungsaggregaten nicht findet“ (PARK 1974, S. 91). Waren frühe Forschungsschwerpunkte der Chicago School durch das Interesse für die Entwicklung von Metropolen, den Wandel zum kommerziell-industriellen Stadttypus und die damit verbundene Veränderung in der Bevölkerungsstruktur dominiert (z.B. BURGESS 1925), galt das Hauptinteresse bald den Fragen nach der inneren Differenzierung des Stadtraumes sowie der damit einhergehenden Dynamik. Methodisch wurden dabei einerseits räumliche und andererseits soziale Indikatoren im Sinne einer Mehrebenenanalyse berücksichtigt. Dem zugrunde lag die theoretische Annahme, dass eine Gesellschaftsanalyse nur im Kontext der physisch-materiellen Umwelt zielführend sei, da Mensch und Raum eine systemische Einheit, gleichsam eine Symbiose bildeten: „Die wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten der Spezies sind in einem gemeinsamen Habitat offensichtlicher und enger 27 Diese (vermutlich ersten) thematischen Karten, die soziale Ungleichheit im ausgehenden 19. Jahrhundert in London thematisieren, sind online unter http://booth.lse.ac.uk verfügbar. 131
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als anderswo. Ferner: In dem Maße, in dem sich als Folge gegenseitiger Anpassung konkurrierender Spezies die Beziehungen erhöht haben und die Konkurrenz sich verringert hat, tendieren Habitat und Bewohner dazu, den Charakter eines mehr oder minder vollständig geschlossenen Systems anzunehmen“ (PARK 1936, S. 4, zitiert nach FRIEDRICHS 1983, S. 32f.). Daraus leitet PARK (1936) zwei zentrale Aufgaben der Humanökologie 28 ab, die auf der Grundannahme basieren, dass menschliche Vergesellschaftung und physische Umweltbedingungen untrennbar miteinander verbunden sind: „Humanökologie ist hauptsächlich ein Versuch, die Prozesse zu untersuchen, 1. durch die die biotische Balance und das soziale Gleichgewicht aufrechterhalten werden, wenn sie einmal bestehen, und 2. durch die ein Übergang von einer relativ stabilen Ordnung zu einer neuen erreicht wird, wenn die biotische Balance und das soziale Gleichgewicht gestört sind“ (PARK 1936, S. 15, zitiert nach FRIEDRICHS 1983, S. 34). Die Vorstellung eines sich einstellenden Gleichgewichtszustandes fußt auf den naturwissenschaftlichen Forschungen HAECKELs, der das Einstellen ökologischer Gleichgewichtszustände in Abhängigkeit spezifischer Umweltbedingungen in der Natur beobachtete (vgl. HAWLEY 1950, S. 3; RIEGE/SCHUBERT 2002, S. 10). An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sich nicht nur die Chicago School diese Grundannahme zu eigen machte. Vielmehr ist die Vorstellung eines sich einstellenden Equilibriums für die zu dieser Zeit in der Soziologie und Ethnologie verbreitete strukturfunktionalistische Forschungsrichtung kennzeichnend.29 Die spezielle Perspektive der 28 In deutschsprachigen Publikationen ab etwa Mitte der 1970er Jahre findet sich anstelle des Begriffs „Humanökologie“ für diese Forschungsrichtung oftmals die Bezeichnung „Sozialökologie“. FRIEDRICHS (1983) schlägt vor, den Ausdruck „Sozialökologie“ zu verwenden, „um den Teil der Humanökologie zu bezeichnen, der sich auf Aussagen über Aggregate (oder Kollektive) von Individuen bezieht“ (ebd., S. 28). Da eine dezidiert mikrosoziologische Humanökologie allerdings nicht etabliert ist, können die beiden Termini als weitgehend synonym verstanden werden. 29 Diese offensichtliche Parallele der Humanökologie zum Strukturfunktionalismus veranlasst SAUNDERS, die Humanökologie „als Subdisziplin innerhalb der strukturell-funkionalen Theorie“ einzuordnen (ebd., 1987, S. 84). Dies erscheint insofern auch plausibel, als die Humanökologie mit dem gleichen methodologischen Problem konfrontiert ist wie auch der Strukturfunktionalismus: Wenn der Zustand der Gesellschaft eine Folge evolutionärer Prozesse ist und eine Klimaxsituation beschreibt, stellt sich die Frage, wodurch sozialer Wandel initiiert wird. „Es ist eine Theorie des Status quo, die die existierenden sozialen Arrangements dadurch unterstützt, dass sie sie als Ergebnis invariater Prinzipien erklärt“ (ebd., S. 83). Für SAUNDERS, der der Auffassung ist, „dass mangels allgemeiner Kriterien zwischen Wissenschaft und Ideologie wissenschafts132
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Humanökologie behauptet aber über einen sich einstellenden Gleichgewichtszustand der sozialen Systeme hinaus ein Equilibrium von Mensch bzw. sozialen Systemen einerseits und räumlicher Struktur andererseits: Durch die Anpassung der menschlichen Population an ihre jeweilige Umwelt bilden sich ökologische Einheiten heraus.30 Der Prozess der Vergesellschaftung ist damit eine Anpassungsreaktion an die je spezifischen Umweltbedingungen. Die räumliche und soziale Entstehung der Stadt ist folglich „ein Produkt natürlicher Kräfte“ (PARK 1974, S. 91). Ihre interne Heterogenität folgt ebenfalls diesem ökologischen Prozess der Selbstorganisation und nicht etwa einer politischen Steuerung. Somit lassen sich Populationen städtischen Teilgebieten zuordnen, die als „natural areas“ 31 bezeichnet werden und die der Chicago School zufolge jeweils ideale Standortbedingungen für die dort lebenden „natürlichen Gruppen“ aufweisen (vgl. PARK 1974, S. 95f.). Ausgehend von prozessualen Betrachtungen der Formierung verschiedener ökologischer Raummuster durch Konzentrations- und Dekonzentrationsprozesse und der hiermit einhergehenden funktionalen Differenzierung der Stadtstruktur, wurde insbesondere die Genese sozialer Milieus – oftmals mit einer Fokussierung der räumlichen Auswirkung von Zuwanderung – thematisiert (vgl. PARK 1952). Der mit dem Städtewachstum einhergehende Anpassungsprozess der dort lebenden Population wird dabei von PARK ambivalent bewertet. Einerseits verstand er die Veränderung sozialer Milieus als Chance zur Entwicklung individueller Freiheit und Selbstverwirklichung. So sah er die vernachlässigten Quartiere in den Städten nicht nur als Problemgebiete an, sondern auch als Orte, „wo Künstler und Radikale Zuflucht vor dem
theoretisch nicht unterschieden werden kann“ (ebd., S. 168), ist die humanökologische Perspektive daher „vernichtend reaktionär“ und als Ideologie abzulehnen (vgl. ebd., S. 83). 30 In der deutschsprachigen Sozialgeographie erfolgte eine Rezeption dieser Vorstellungen (über zwei Jahrzehnte später) vor allem durch Hans BOBEK, der von einer engen Beziehung zwischen Landschaftsformen und Sozialstruktur ausging (ebd., 1948). 31 Der Begriff der „natural areas“ geht auf Friedrich RATZEL zurück und verweist auf die Suche nach „natürlichen Grenzen“ von Völkern, wenngleich das Verständnis von „natural areas“ im Sinne der Humanökologie viel kleinräumiger ist. Die Arbeiten RATZELs bildeten einen bedeutenden Ausgangspunkt für die geopolitische Lebensraumideologie Karl HAUSHOFERs, was heute auch einen werturteilsfreien Zugang zur klassischen Humanökologie erschwert. Ähnlich wie die „natürlichen Grenzen der Völker“ erfolgte die Abgrenzung von „natural areas“ durch BURGESS entlang physischen Grenzen wie Eisenbahntrassen und Hauptverkehrsstraßen, aber auch topographischen „Grenzen“ wie Flüssen und Böschungen. 133
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‚Fundamentalismus‘ und der heilen Welt der Rotarier suchen und im allgemeinen auch den Begrenzungen und Einschränkungen einer Welt von Philistern entfliehen wollen“ (PARK 1974, S. 92). Für PARK ist „eine gewisse Isolierung und ein gewisser Widerstand gegenüber sozialen Einflüssen und sozialen Suggestionen [...] ebenso Voraussetzung für ein vernünftiges persönliches Leben wie auch für eine funktionierende Gesellschaft“ (ebd., S. 99). Andererseits ging PARK anlehnend an DURKHEIM von einem Verlust sozialer Kontrolle durch den relativen Bedeutungsverlust von Institutionen wie Familie oder Kirche aus, die mittelfristig zur Anomie und sozialer Desorganisation führe (vgl. SAUNDERS 1987, S. 57). Von DURKHEIM übernahm PARK nicht nur die Annahme, dass mit dem Wachstum der Städte eine Zunahme der Anomie einhergehe. Auch die Vorstellung eines unter den Bedingungen des städtischen (Bevölkerungs-)Wachstums zunehmenden Wettbewerbs und hierdurch größer werdenden Konkurrenz ist an die Arbeiten DURKHEIMS zur städtischen Arbeitsteilung und dem damit verbundenen Übergang von mechanischer Solidarität zur organischen Solidarität angelehnt (vgl. DURKHEIM 1977). FRIEDRICHS zufolge stellt das Verhältnis von Konkurrenz und sozialer Kontrolle in den Städten den grundlegenden Gegenstand der Forschungsarbeiten von PARK, BURGESS und MCKENZIE dar (ebd., 1983, S. 30). Insbesondere die biologische Artenkonkurrenz, die in menschlichen Vergesellschaftungen einer ökonomischen Konkurrenz um die begehrtesten Güter und Positionen gewichen ist, wird in vielen Arbeiten der „Chicago School“ betont: „Der Wettbewerb ist durch Gewohnheit, Tradition und Gesetz eingeschränkt worden, und der Kampf ums Dasein hat die Form eines Kampfes um Lebensunterhalt und Status angenommen“ (PARK/BURGESS 1969, S. 512, zitiert nach FRIEDRICHS 1983, S. 30). An der starken Bedeutung des Konkurrenzdrucks für moderne (städtische) Gesellschaften, der zwischen den Individuen herrscht und sich in einem Kampf um soziale Positionen äußert, ist die gedankliche Nähe der Chicago School zur These Darwins vom „Kampf ums Dasein“ zu erkennen. So ist die Humanökologie durch evolutionstheoretische Vorstellungen gekennzeichnet, die die Herausbildung eines ökologischen Gleichgewichtes von charakteristischen Lebensgemeinschaften im Kampf ums Dasein je nach den spezifischen Umweltbedingungen behauptet. Die Erforschung des sozialräumlichen Konkurrenzdrucks und der hiermit einhergehenden Prozesse hat die zentra-
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len Termini hervorgebracht, die heute noch immer die raumbezogene Sozialforschung kennzeichnen.32 Eine unmittelbare Folge des Wettbewerbs bzw. der Konkurrenz der Individuen untereinander ist nach PARK/BURGESS (1969) die Entstehung von Konflikten. Während der Wettbewerb unpersönlich („subsozial“), kontinuierlich und weitgehend unbewusst ist, setzt der Konflikt soziale Kontakte voraus und ist ein zumeist kurzfristiger und bewusster Ausdruck des Konkurrenzdrucks (vgl. FRIEDRICHS 1983, S. 32). Zur Beherrschung des Konflikts bestehen PARK/BURGESS zufolge zwei Strategien: Zum einen besteht die Möglichkeit der kollektiven Anpassung („accomodation“), die darauf zielt, den Wettbewerb durch Gesetze und Normen zu kontrollieren, um Konflikte zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Zum anderen besteht die Möglichkeit der individuellen Anpassung („assimilation“), die darauf gerichtet ist, dem Wettbewerb durch Integration zu begegnen und so zukünftig Konkurrenz zu vermeiden. Folglich wird „unter (kollektiver) Anpassung [...] eine veränderte soziale Organisation der Interessen der Individuen verstanden, unter Assimilation eine Veränderung der individuellen Interessen bei gleich bleibender sozialer Organisation“ (FRIEDRICHS 1983, S. 32). 33 Im Rahmen der Überführung der theoretischen Ansätze der Humanökologie in ein empirisches Forschungsprogramm setzte sich das „humanökologische Grundprinzip“ durch, das besagt, dass die empirische Sozialforschung die räumliche Eingebundenheit der Menschen berücksichtigen solle. Siedlungen sollten danach in drei erkenntnisleitenden Perspektiven wahrgenommen werden (vgl. RIEGE/ SCHUBERT 2002). Erstens ist dies die Erforschung der grundlegenden Existenzbedingungen im Untersuchungsraum, etwa die Produktionsweise sowie die gesetzlichen oder normativen Reglementierungen. Diese Forschungsperspektive folgt der Annahme von PARK/BURGESS von der Existenz eines „unpersönlichen Wettbewerbs“ und wird als „study of sub-social relations” bezeichnet. Zweitens begründen die Annahmen von PARK/BURGESS, dass individuelle oder kollektive Anpassungsstrategien den Konkurrenzdruck kontrollieren, die Erforschung der Institutionen, der sozialen Prozesse 32 Zu nennen sind hier im Wesentlichen die folgenden prozessualen Begriffe: Invasion, Sukzession, Segregation, Dispersion, Expansion sowie Zentralisierung und Dezentralisierung (vgl. MCKENZIE 1926; FRIEDRICHS 1983). 33 Faktisch ist wohl bei den meisten sozialräumliche Sachverhalte betreffenden Konflikten ein Ineinandergreifen von accomodation und assimilation festzustellen. So werden politische Anpassungs- bzw. Integrationsappelle oftmals von gesetzlichen Reglementierungen begleitet, wie am Beispiel der „Integrationspolitik“ von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland gut nachvollziehbar ist. 135
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sowie der physischen Merkmale des Raums („study of social-cultural areas”). Drittens erfolgt die hieraus resultierende Analyse der räumlichen Verteilung sozialer Phänomene („study of spatial distributions”). Für die Erforschung dieser Perspektiven hat die Humanökologie die methodischen Instrumente entwickelt, die in der Stadtforschung seitdem für die Charakterisierung sozialer Räume grundlegend sind und als „humanökologische Raumanalyse“ aufgefasst werden können: • Abgrenzung bzw. Zonierung eines Raums • Beschreibung der Charakteristik nach räumlich-funktionalen Strukturen und Verteilungen • Ermittlung der Beziehungen zwischen den Gebieten • Betrachtung der historischen Entwicklung im Hinblick auf die „Trägheit“ des Raums (bedingt durch soziale wie physische Potentiale) Die Forschungsperspektive ist dabei in der Regel auf den zeitlichen Vergleich ausgerichtet und konzentriert sich auf die Interdependenz räumlicher und sozialer Strukturen. Die Zeit ist aber – im Gegensatz zum Raum – kein expliziter Forschungsgegenstand der klassischen Humanökologie. Zwar „(...) wurde bereits in der Chicagoer Schule der Sozialökologie die Uhr als Symbol der Ordnung in einer Stadt wahrgenommen, jedoch nicht näher betrachtet“ (KRAMER 2005, S. 29). Erst in späteren Arbeiten der Humanökologie wurde die Bedeutung der Zeit für die soziale Organisation herausgearbeitet (s.u.). Abschließend zu dieser sehr kurzen Darstellung der Grundzüge der „klassischen“ Humanökologie kann festgehalten werden, dass aus dieser Forschungsrichtung die ersten theoretisch fundierten Arbeiten der Stadtsoziologie (und auch der Sozialgeographie) hervorgegangen sind, wenngleich „die theoretischen Auseinandersetzungen [...] nie die Bedeutung gewonnen [haben (T.P.)] wie ihre starken Einflüsse auf die Entwicklung empirischer Methoden der Stadtforschung“ (RIEGE/SCHUBERT 2002, S. 10). Kennzeichnend für diese Forschungsrichtung sind vor allem die terminologischen Analogien zur (Tier- und Pflanzen-)Ökologie und das hiermit einhergehende Axiom der biotischen Einheit von sozialer Welt und physischer (Um-)Welt („Habitat“). Des Weiteren ist die starke Betonung des ökonomischen Konkurrenzdrucks als Motor für städtische Entwicklungsdynamik charakteristisch für die „klassische“ Humanökologie.
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Kritik an der klassischen Humanökologie und Weiterentwicklung Die an der klassischen Humanökologie der Chicago School schon ab den 1940er Jahren aufkommende Kritik lässt sich – neben einigen fehlgehenden Kritikmustern (vgl. die zusammenfassende Darstellung bei SAUNDERS 1987, S. 69ff.) – im Wesentlichen auf zwei Aspekte zuspitzen. Erstens wurde der Vorwurf laut, dass die Humanökologie die menschliche Vergesellschaftung zu eng in Anlehnung an die Tierökologie betrachtet und hierdurch eine zu stark biologistische Perspektive einnimmt, die in einen Naturdeterminismus mündet. Die bedeutende Rolle, die Kultur für die Ausgestaltung von Gesellschaft hat, werde durch diese programmatische, aber auch begriffliche Verengung systematisch unterschätzt, was einer theoretischen Weiterentwicklung im Wege stehe. Obgleich auch FRIEDRICHS (1983) der Humanökologie ein Theoriedefizit attestiert (ebd., S. 37f.), weist er den Biologismus- bzw. Determinismusvorwurf als unhaltbar zurück: „Keiner der sozialökologischen Autoren hat je eine einseitige Determination der Individuen durch ihre Umwelt behauptet, sondern nur, dass Umweltbedingungen das Handeln von Individuen oder Kollektiven beeinflussen“ (ebd., S. 43). Bei allen terminologischen und theoretischen Parallelen sei PARK und seinen Mitarbeitern bewusst gewesen, dass zwischen menschlichen Populationen einerseits und Pflanzen- oder Tiergesellschaften andererseits fundamentale Unterschiede bestehen. Im Unterschied zu Pflanzen sind Menschen räumlich mobil, darüber hinaus sind sie in der Lage, ihre Umwelt zu beeinflussen und ggf. zu verändern, was auf Tiere und Pflanzen bestenfalls in einem sehr beschränkten Maße zutrifft. Die Übertragbarkeit von (biotischer) Spezialisierung der Arten zur (kulturellen) Spezialisierung der Berufe im arbeitsteiligen Prozess hat ferner ihre Grenzen, da die evolutionäre Entwicklung von Spezies nicht umkehrbar ist, während die Berufswahl von Individuen als Folge des durch Konkurrenzdruck erfolgten Arbeitsteilungsprozesses durchaus reversibel ist. 34 Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die im Wesentlichen durch PARK geprägte Sichtweise, dass sämtliche sozialräumliche Prozesse ihre 34 Auch begrifflich versucht sich PARK (1952, S. 181ff.) dieser Unterscheidung der biotischen von der kulturellen Ebene zu nähern: Während die biotische Perspektive durch den Terminus „Gemeinschaft“ angesprochen wird, bezeichnet der Begriff „Gesellschaft“ die kulturelle Dimension. Da er diese terminologische Unterscheidung jedoch nicht explizit macht und klar definiert, bleibt der Zugriff auf diese analytischen Kategorien unscharf (vgl. hierzu die Kritik der Humanökologie bei SAUNDERS 1987, S. 64ff.). 137
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Ursache im Konkurrenzdruck der Individuen finden. Diese Annahme brachte der Humanökologie den Vorwurf ein, rein ökonomistisch zu argumentieren und für mögliche andere, außerhalb des „Kampfes um das Dasein“ stehende Faktoren, die städtische Entwicklungsprozesse initiieren mögen, nahezu blind zu sein. Zudem zeigten verschiedene empirische Studien, dass die Hypothese, sämtliche innerstädtische Dynamiken seien auf ökonomischen Konkurrenzdruck zurückführbar, nicht haltbar war (vgl. z.B. FIREY 1945; TREINEN 1965; HUNTER 1974). Insbesondere Aspekte, die die symbolische Bedeutung von Orten und hierdurch induzierte Mobilität aufnehmen, wurden durch die Reduktion auf ausschließlich ökonomische Faktoren vernachlässigt. HOLLINGSHEAD (1947) forderte eine Einbeziehung der Kultur in die humanökologische Forschung, da unterschiedliche soziale Gruppen auch verschiedene sozialräumliche Handlungsweisen an den Tag legten. Die Forderung nach Einbeziehung von kulturellen Dimensionen wie Normen, symbolischen Bezügen, Rollenmustern oder Wertorientierungen in die humanökologische Forschung ist allerdings auf wenig Resonanz in der Weiterentwicklung der Humanökologie gestoßen. Dies mag unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass Indikatoren, die eine angemessene Operationalisierung für diese Dimensionen darstellen könnten, in der Regel nicht flächendeckend vorliegen und sekundärstatistisch auch nur näherungsweise entwickelt werden können. 35 FRIEDRICHS (1983) merkt zudem an, dass die Integration von Normen, Werten und Symbolen in die sozialökologische Forschung mit einem (handlungstheoretischen) Rückgriff auf die Ebene der Individuen verbunden ist, während die „Sozialökologie eine makrosoziologische Analyse von Aggregaten (Stadt, Stadtteile)“ darstelle (ebd., S. 38). Verständlicherweise impliziert dies eine Reihe von theoretischen und forschungspraktischen Problemen, zumindest wenn man eine „klassische“ Aufteilung einer strukturtheoretisch ausgerichteten Makrosoziologie und handlungstheoretisch ausgerichteten Mikrosoziologie als gegeben annimmt. FRIEDRICHS stellt daher die Frage, „ob es nicht sinnvoller ist, Sozialökologie als eine makrosoziologische Analyse beizubehalten und ihre Erklärungskraft zu prüfen, ohne handlungstheoretische Elemente in sie einzubauen“ (ebd., S. 38). Mit Blick auf die in Kapitel 2.1.1 (Zeitgeographie) erörterte Theorie der Strukturierung von Anthony GIDDENS kann umgekehrt allerdings auch angenommen werden, dass gerade durch die Konvergenz von handlungs- und strukturtheoretischen
35 Auf dieses Problem, das ein Kernproblem der vorliegenden Arbeit darstellt, wird im folgenden Kapitel 3 noch ausführlicher eingegangen. 138
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Perspektiven ein weiterführender empirischer Zugriff auf sozialräumliche Phänomene erfolgen kann. Die Weiterentwicklung der Humanökologie der Chicago School etwa ab den 1950er Jahren war kaum durch die Aufnahme der Kritik und einen weiteren Ausbau der bisherigen theoretischen Ansätze zu einer kohärenten Theorie gekennzeichnet. Vielmehr kann von einer Aufgliederung in verschiedene Schulzweige der human- bzw. sozialökologischen Forschung gesprochen werden (vgl. FRIEDRICHS 1983, S. 39ff.; RIEGE/SCHUBERT 2002, S. 10ff.). Die im Kontext der vorliegenden Arbeit bedeutendste theoretische Weiterentwicklung der Humanökologie ging dabei von HAWLEY (1950; 1963) aus. Sein Zugang, den RIEGE/SCHUBERT (2002) als „neo-orthodox“ bezeichnen, da er mit den Begrifflichkeiten der klassischen Humanökologie operiert und diese wie auch PARK als eigenständige Forschungsrichtung zu etablieren gesuchte, ist auf die Ursachen für den Wandel städtischer Gesellschaft („urban society“) gerichtet. Zentraler Gegenstand seiner Forschungsarbeiten ist die Entwicklung von sozialen Beziehungsnetzen in räumlichen Kontexten. Im Unterschied zur klassischen Humanökologie wird „Raum“ aber nur als einer von vielen Bestandteilen ökologischer Organisation verstanden. Im Gegensatz zur klassischen Humanökologie ist für HAWLEY hingegen die Dimension „Zeit“ eine durchaus bedeutsame Dimension der sozialökologischen Organisation menschlicher Gesellschaften. Sein Analyserahmen, mit dem er den Prozess der Anpassung menschlicher Bevölkerungsgruppen an die Umwelt erfasst, basiert zunächst auf vier „ökologischen Prinzipien“, die als Interdependenz, Schlüsselfunktion, Differenzierung und Dominanz beschrieben werden (vgl. HAWLEY 1950; SAUNDERS 1987). Als Interdependenz bezeichnet HAWLEY die aus dem Prozess der Umweltanpassung folgenden Formen sozialer Beziehungen unter den Mitgliedern. Dabei können symbiotische Beziehungen, die auf funktionaler Unähnlichkeit der Einzelnen beruhen, von kommensalistischen Beziehungen, die auf funktionaler Ähnlichkeit basieren, unterschieden werden. Beide Formen der sozialen Beziehung verbessern dabei die Handlungsoptionen ihrer Mitglieder gegenüber den Handlungsmöglichkeiten, die ihnen als Individuen offen stehen. Da die Funktion der Art der Zusammenschlüsse unterschiedlich ist, gehen Individuen sowohl symbiotische als auch kommensalistische Bindungen ein. SAUNDERS weist dabei im Rahmen seiner Rezeption der Humanökologie auf die Bedeutung symbiotischer Zusammenschlüsse für den kreativen Prozess hin:
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„Ein symbiotischer Zusammenschluss steigert die kreativen Kräfte menschlicher Gruppen (weil er Spezialisierung ermöglicht), während ein ‚kommensalistischer‘ Zusammenschluss ihre defensiven Kräfte vergrößert (weil er zahlenmäßige Stärke ermöglicht). Symbiotische Zusammenschlüsse sind daher produktiv, ‚kommensalistische‘ bieten Schutz. [...] Das Muster ökologischer Organisation in einer gegebenen Bevölkerung innerhalb eines gegebenen Territoriums ist daher durch die beiden Achsen Symbiose und ‚Kommensalismus‘ determiniert.“ (SAUNDERS 1987, S. 76)
Das zweite „ökologische Prinzip“ bezeichnet HAWLEY (1950) als „Schlüsselfunktion“. Damit bringt er zum Ausdruck, dass für die Umweltanpassung der menschlichen Population nicht alle Einheiten gleich bedeutsam sind, sondern bestimmten Einheiten eine Primatfunktion zukommt, der eine besondere Bedeutung für die Anpassung zu eigen ist. Im Kapitalismus geht die Schlüsselfunktion von den privaten Unternehmen aus. In Abhängigkeit der jeweiligen Produktivität der Einheit, der die Schlüsselfunktion beizumessen ist, ergibt sich die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, die das dritte „ökologische Prinzip“ HAWLEYs darstellt. Die funktionale Differenzierung ist als eine Folge der Anpassung der Population an ihre Umwelt zu interpretieren. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass sich mit zunehmender Produktivität einer Gesellschaft auch ihre funktionale Differenzierung erhöht. Das vierte „ökologische Prinzip“, das ebenfalls in Abhängigkeit zur Schlüsselfunktion besteht, ist die Dominanz. Mit dem Begriff der Dominanz drückt HAWLEY die Vorherrschaft einer Funktion im ökologischen System aus, die in kapitalistischen Gesellschaften nicht von der Regierung, sondern von der Ökonomie ausgeht. Dies führt nicht nur zu einer ökologischen Anpassung der Gesellschaft in Abhängigkeit von Handel und Gewerbe, sondern auch zu einem (dominanten) strukturierenden Einfluss der Ökonomie auf die Umwelt (HAWLEY 1963). HAWLEY versteht dabei im Gegensatz zur klassischen Humanökologie, für die die Dimension „Zeit“ keine entscheidende Rolle spielte, Rhythmus, Tempo und Synchronisation als zentrale Organisationskriterien menschlicher Vergesellschaftung und entscheidend für die strukturierende Funktion des ökologischen Prinzips der Dominanz. Sein analytischer Bezugspunkt ist dabei ein Verständnis von Raum und Zeit als integrierte Einheit: „All forms of collective behaviour are in one way or another adaptive to time and hence may be measured on the temporal dimension. Space and time are
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RAUM, ZEIT UND ALLTAG
separable from one another only in abstraction. [...] A temporal pattern is implicit in each and every spatial pattern.“ (HAWLEY 1950, S. 288)
Kommensalistische Beziehungen bedürfen HAWLEY zufolge der Synchronisierung von Aktivitäten (ebd., S. 292), während symbiotische Beziehungen ihre Aktivitäten zwar zeitlich koordinieren, dieses aber nicht in jedem Fall auch einer Synchronisation bedarf. In der Konsequenz bedeutet dies, dass stark arbeitsteilige Gesellschaften zur Desynchronisation von Aktivitäten neigen. Da der Grad der Spezialisierung der Berufe aus Sicht der Humanökologie eine Funktion der Größe einer Stadt ist, hängt der Grad der Synchronisation der tageszeitlichen Aktivitätsrhythmen von der Größe der Stadt ab (ebd., S. 305). In kleineren Städten sind die Rhythmen deutlicher aufeinander abgestimmt als in großen Städten, wo sie sich tendenziell in einem Prozess der kollektiven Desynchronisation befinden. Insbesondere die Nachtzeit, die im Gegensatz zur städtischen Industriegesellschaft in archaischen und damit schwerpunktmäßig auf kommensalistischen Beziehungen beruhenden Gesellschaften allein der Erholung dient, erfährt in komplexeren Gesellschaften (und dort insbesondere in den Metropolen) eine Aktivitätszunahme. Die notwendige Bedingung zur Ausweitung von Aktivitäten in die Nachtstunden ist das elektrische Licht; erst mit der Erfindung der elektrischen Beleuchtung war diese Entgrenzung der Aktivitätszeiten möglich. Funktional ging die zeitliche Kolonisierung der Nachtzeiten mit der Angebotsausweitung der Freizeit- bzw. Vergnügungsindustrie und ihren Angeboten einher: „The incandescent lamp brought light conditions under control, minimizing the limiting effects of night on the spacing and duration of activities. Consequently a host of new units, serving amusement interests for the most part, came into existence to occupy the former period of darkness. The nocturnal phase of the daily round has steadily approached equivalence to the diurnal phase, especially in the larger communities. As periodicity gives way to continuity the community acquires greater temporal and functional symmetry.“ (HAWLEY 1950, S. 305)
Ein bemerkenswerter Effekt dieser Entgrenzung von Aktivitätszeiten ist eine effizientere Ausnutzung der städtischen Angebots- und Infrastruktur (vgl. ebd., S. 305). Allerdings nimmt mit fortschreitender Tageszeit der Grad der Routinisierung von Aktivitäten ab: „It appears that as man’s work is more definitely set to the clock and paced by the machine his leisure activities are therefore much less routinized than are those of the daytime“ (ebd., S. 306). 141
ENTGRENZTE STADT
Für HAWLEY ist die zeitliche Beschleunigung ein Wesensmerkmal der modernen Gesellschaft. Er versteht Beschleunigung als Funktion der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Technologieentwicklung. Eine bedeutende Rolle kommt dabei der Entwicklung der Telekommunikation sowie der Beschleunigung auf dem Transportsektor zu. Diese Beschleunigungstendenzen gehen vom Sektor der Produktion von Gütern und Dienstleistungen aus, färben aber auf sämtliche anderen zwischenmenschlichen Beziehungen ab: „Every advance in specialization and in the elaboration of mechanical technology has increased the rate of recurrence; and in the modern community an unprecedented pace has been reached. In many instances, the tempo is carried well beyond the limits of man’s reaction time by the incorporation of manual skills in precision machinery. Mechanical communication permits a continuous flow of instantaneous contacts between physically seperated points with little or no regard for distance. Even transportation is approaching the speed of sound. Numerous ramifications of these mechanical conquests of time are felt throughout the structure of the community, affecting the tempo of all human relations.“ (HAWLEY 1950, S. 306)
Die Kommunikationsnetzwerke sowie die Transportwege, die für HAWLEY ein Motor der gesellschaftlichen Beschleunigung sind, laufen in den Zentren der Metropolen zusammen. Dies bewirkt eine temporale Differenzierung des Raumes: „The tempo of life is quicker in the community center than in the outlying area“ (ebd., S. 306). Daher sei es auch nicht verwunderlich, dass der Anteil an Menschen, der an psychischen Erkrankungen infolge dieser stressauslösenden Beschleunigungsphänomene leidet, in den Zentren der Metropolen am höchsten sei (vgl. ebd., S. 307). Als Ursache für die gesellschaftliche Beschleunigung nimmt HAWLEY die funktionale Dominanz von Handel und Gewerbe an. Diese drückt sich sowohl sozialpolitisch als auch räumlich in Form einer Dominanz der entsprechenden Funktionen an den zentralen Standorten sowie zeitlich durch die höchsten Tempi in den Zentren aus. Die Einheiten, die die Schlüsselfunktion einer Gesellschaft ausüben, besetzen somit die höchstbewerteten Standorte und üben nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dominanz („temporal dominance“) aus. Die Folge ist eine räumliche und zeitliche Segregation („temporal segregation“) der geringer bewerteten Funktionen. „Die zeitliche Dimension von Dominanz offenbart sich in der Weise, in der der Rhythmus der Hauptversorgungseinheit anderen Gemeinschaftsaktivitäten auferlegt wird. Ebenso wie die Dominanz von Handel und 142
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Gewerbe räumlich im Muster der Flächennutzung zum Ausdruck kommt, so tut sie dies zeitlich – z.B. in der rush-hour“ (SAUNDERS 1987, S. 78f.). Die raum-zeitliche Strukturierung der Stadt kann mit HAWLEY also als eine Folge der Dominanz der Ökonomie verstanden werden. Als Teil der ökologischen Anpassung in Form des raum-zeitlichen Wandels innerhalb des Systems sind auch Expansionsprozesse der Stadt in ihr Umland zu beobachten. Der Prozess der Verstädterung ist HAWLEY zufolge als ein sich ausdehnendes System stadtökologischer Beziehungen zu interpretieren. In diesem Kontext stellt HAWLEY die Bedeutung des Habitats für das Verständnis von Sozialraum heraus und berücksichtigt damit die kulturell spezifische Raumnutzung als bedeutsam für den Prozess der ökologischen Anpassung (HAWLEY 1950, S. 80ff.). Damit löst er sich auch weitgehend von dem Konzept der „natural areas“ und schlägt stattdessen einen Perspektivwechsel auf politisch-administrative Einheiten als Untersuchungsgegenstand vor. Dabei lassen sich aus der Erforschung der jeweiligen Population Erkenntnisse über ihren Lebensraum gewinnen: „As it has turned out, however, most of our knowledge about population is cast in territorial units that approximate the cultural area conception more closely that the natural area conception. These, to be more specific, are the political or administrative areas into which the world has been subdevided. [...] To a very large extent our knowledge of areas has advanced with our knowledge of their occupants. Habitat and inhabitant are different facets of the same prism.“ (HAWLEY 1950, S. 91)
Diese Vorstellung einer dialektischen Beziehung von Habitus und Habitat macht HAWLEYs Zugang auf theoretischer Ebene anschlussfähig an die Kultursoziologie BOURDIEUs (1992), der gleichfalls Kontextbeziehungen von Habitus und Habitat hervorhebt, allerdings ohne auf HAWLEYs Habitat-Verständnis Bezug zu nehmen. Einen direkten Eingang findet HAWLEYs Ansatz dagegen in der von FRIEDRICHS (1983) formulierten „Theorie sozialräumlicher Organisation“. FRIEDRICHS versteht „die Struktur einer Stadt als Produkt einer sozialen und räumlichen Organisation“ (ebd S. 57). Als relevante Dimensionen zur Analyse der Struktur einer Stadt (ergo des Zusammenhangs sozialer und räumlicher Organisation der Gesellschaft) nennt er die Raumausstattung, die Zeit (die allerdings nicht als Variable, sondern nur als Messdimension operationalisiert wird), die Technologie (im Sinne des zur Verfügung stehenden Wissens) sowie die Aktivitäten der
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Bevölkerung. FRIEDRICHS stellt fest, „dass die soziale Differenzierung zu einer räumlichen Differenzierung führt, dass aufgrund einer sozialen Bewertung der Differenzierung die soziale Ungleichheit zu einer räumlichen Ungleichheit führt“ (ebd., 1983, S. 92). Dabei benennt er als die wichtigsten Indikatoren der sozialen Ungleichheit a) den sozialen Status und b) die Stellung im Lebenszyklus. Wenn sich nun aber, wie in Kapitel 2.1.3 gezeigt werden konnte, mit der Individualisierung und der Pluralisierung der Lebensstile eine neue Ungleichheitsdimension herausgebildet hat, stellt sich die Frage, ob diese Differenzierung der Lebensstile gleichfalls zu einer räumlichen Ungleichheit in Form einer Lebensstilsegregation führt. Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss allerdings geklärt werden, wie Merkmale des Lebensstils auf der aggregierten Ebene städtischer Teilräume erkennbar werden und empirisch erfasst werden können. 36 Für FRIEDRICHS ist „der wichtigste Prozess, der die soziale und die räumliche Ungleichheit verbindet, [...] die Mobilität“. Dabei ist zwischen langfristiger Mobilität, die zur Segregation führt, und alltäglicher Mobilität, die sich in Aktionsräumen manifestiert, zu unterscheiden. Konsequenterweise sind der Theorie der sozialräumlichen Organisation zufolge „die Untersuchungen der Segregation und der Aktionsräume die wichtigsten Bereiche der Stadtanalyse“ (FRIEDRICHS 1983, S. 92). Obgleich FRIEDRICHS mit diesen Befunden des Zusammenhangs von sozialer und räumlicher Ungleichheit seine aktionsräumlichen Forschungen begründet (vgl. hierzu Kapitel 2.1.2) und die Erreichbarkeit von Gelegenheiten als zentralen (räumlichen) Indikator der Ungleichheit ausmacht, ist die Betrachtung der Dimension „Zeit“ in seinem Zugang vergleichsweise unterentwickelt. Zeit ist für FRIEDRICHS eine (metrische) Messdimension, etwa wenn es um die Messung des Alters der städtischen Bevölkerung oder die Erfassung von Reisezeiten (Zeitdistanzen) geht. Veränderungen des Umgangs mit der Zeit oder gesamtgesellschaftliche Trends wie die Entgrenzung von Aktivitätszeiten sind für ihn weder Explanans noch Explanandum. Demgegenüber erscheinen die Befunde HAWLEYs – wohlgemerkt in einer Zeit weit vor dem Beginn „spätmoderner“ Flexibilisierungs-, Beschleunigungs- und Entgrenzungstendenzen zu Papier gebracht – bemerkenswert, insbesondere da wir heute im Rückblick die 1950er Jahre als ruhig und gemächlich einstufen würden. Ob die Tendenz gesellschaftlicher Beschleunigung als kennzeichnendes Kerncharakteristikum der Spätmoderne interpretiert werden sollte, so wie ROSA (2005) 36 Vgl. hierzu Kapitel 3.1. 144
RAUM, ZEIT UND ALLTAG
dies vorschlägt, scheint mit Blick auf die Ausführungen HAWLEYs zweifelhaft. Die von HAWLEY beschriebenen sozial-zeitlichen Strukturen der städtischen Gesellschaft sind allerdings empirisch weder von ihm noch von den ihm nachfolgenden Humanökologen überprüft worden. Obwohl also schon 1950 die raum-zeitliche Differenzierung der Stadt auf theoretischer Ebene durch HAWLEY erkannt und beschrieben wurde, existiert bis heute noch kein erprobtes methodisches Verfahren zur Analyse städtischer Rhythmus- bzw. Aktivitätsdifferenzen. Wenngleich HAWLEYs Ansatz eine theoretische Weiterentwicklung der Humanökologie darstellt, nimmt er mit seiner Vorstellung von den „ökologischen Prinzipien“ der Schlüsselfunktion und der Dominanz, die in kapitalistischen Staaten von privaten Unternehmen ausgeht, nicht den eingangs dieses Kapitels genannten zweiten zentralen Kritikpunkt an der Humanökologie auf, der die humanökologische Sichtweise als ökonomistisch und damit blind für kulturelle Impulse des Wandels erachtet. Der Zweig der Humanökologie, der sich am ehesten dieser Kritik annimmt, ist der „soziokulturelle Ansatz“ von DUNCAN (1966). DUNCANs Anspruch war es, den makrosoziologischen Ausdruck kultureller Werte, Normen und Symbole bei der Erklärung von systemischer Veränderung der sozial-ökologischen Organisation der Gesellschaft zu berücksichtigen. Hierzu wird der Strukturanalyse der physischen Welt die Untersuchung der immateriellen Kultur gegenübergestellt. Als konzeptioneller Analyserahmen dienen dabei vier Dimensionen, die als „population“, „organisation“, „environment“ und „technology“ bezeichnet werden (abgekürzt: POET). Unter „population“ wird die Größe und die Dynamik der Bevölkerung sowie die ethnische Zusammensetzung in einem bestimmten Gebiet verstanden. Die Dimension „organisation“ beschreibt sowohl die ökonomische Basis und die Wirtschaftsweise als auch die soziale und sozialpolitische Ausgestaltung in Form sozialer Institutionen. Unter „environment“ lassen sich die physisch-geographischen Merkmale des zu untersuchenden Gebietes erfassen, während „technology“ auf die vorhandene Infrastruktur, etwa in Form von Transportwegen, Energieversorgung oder Kommunikation, verweist. Das Forschungsinteresse des Ansatzes von DUNCAN richtet sich auf die Dimension „organisation“, die mit Hilfe der anderen drei Dimensionen erklärt werden soll (vgl. DUNCAN 1966, S. 681; FRIEDRICHS 1983, S. 40f.; RIEGE/SCHUBERT 2002, S. 11). Obgleich die Arbeiten von DUNCAN ebenfalls auf eine Erweiterung der theoretischen Konzeption der Humanökologie zielten, erwies sich die Überführung in forschungspraktische Anwendungen als schwierig. Dies ist nicht zuletzt dem recht umfassenden Verständnis der zu erklärenden Dimension „organisation“ geschuldet, die zum einen Aspekte 145
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der Arbeitsteilung und der Akkumulation enthält, zugleich aber auch die Regulationsweise durch Kontrollinstitutionen umfasst. So ist FRIEDRICHS zufolge „nicht zu erkennen, wie dieser Ansatz zu empirischer Forschung führen kann“ (ebd., 1983, S. 42). Hierzu müssten die vier Dimensionen theoretisch abgeleitet und durch Indikatoren operationalisierbar werden. Die vielleicht größte Rezeption, mit Sicherheit aber die größte empirische Bedeutung, ging aber von dem aus der Humanökologie stammenden Schulzweig der „social area analysis“ aus. Dieser Zugang suchte entgegen den zuvor kurz vorgestellten Weiterentwicklungen der Humanökologie weniger dezidiert nach den Ursachen für die Organisation der Gesellschaft. Vielmehr sollte ein methodisches Werkzeug zur quantitativen Analyse von Städten und städtischen Teilräumen entwickelt werden, um sozialräumlichen Wandel innerhalb von Städten beschreiben und städtische Teilräume nach grundlegenden Kriterien analytisch miteinander vergleichen zu können. Da der empirische Teil der vorliegenden Arbeit ebenfalls auf dieser Methode aufbaut, werden im Folgenden die Grundzüge und Entwicklungslinien dieser Forschungsrichtung dargestellt.
Social Area Analysis und Faktorialökologie Diese Forschungsmethode, die maßgeblich durch SHEVKY/BELL (2002, zuerst 1955) beeinflusst wurde, stellt ein quantitatives Verfahren zur empirischen Analyse städtischer Heterogenität unter dem Blickwinkel von sozialem Wandel und sozialer Ungleichheit dar. Das Ziel ist dabei die Klassifizierung städtischer Teilgebiete hinsichtlich der als relevant erachteten sozialen Differenzierungsmerkmale der Gesellschaft zu relativ homogenen Subgebieten. Die Idee von der Existenz in sich homogener Subgebiete, die als „soziale Räume“ bezeichnet werden, folgt dabei dem (klassischen) humanökologischen Forschungsansatz, der die Existenz von Habitaten bzw. „natural areas“ annimmt (vgl. HATT 1946). Ausgangspunkt der als deduktive Forschungskonzeption angelegten Sozialraumanalyse ist also die humanökologische Grundannahme einer Korrelation zwischen sozialen und räumlichen Merkmalen: „Ein Zusammenhang zwischen den Begriffen natürlicher Raum und Subkultur sowie unserem Begriff des sozialen Raums ist durchaus gegeben, da ein sozialer Raum unserer Ansicht nach Personen mit ähnlicher sozialer Stellung innerhalb der Gesellschaft zusammenschließt. [...] Wir behaupten, dass der
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soziale Raum ganz allgemein Personen mit gleichem Lebensstandard, der gleichen Lebensweise und dem gleichen ethnischen Status zusammenfasst.“ (SHEVKY/BELL 2002, S. 81)
Aufgrund dieser hypothetischen Annahme benennen SHEVKY/BELL drei Dimensionen, die zur sozialräumlichen Kennzeichnung (städtischer) Subgebiete zur Anwendung gelangen sollen. So werden erstens „Personen mit gleichem Lebensstandard“ über die räumliche Verteilung der (vertikalen) sozialen Stratifikationsmerkmale erfasst, wobei als quantifizierbare Indikatoren zur Messung dieses Faktors im Wesentlichen die Kategorien Berufsstellung, Ausbildungsniveau, Ausstattungsmerkmale der Wohnung und Miethöhe herangezogen werden. Als Typisierung dieses Faktors schlagen SHEVKY/BELL „Soziale Position“ bzw. „wirtschaftlicher Status“ vor. Stadträumlich drückt sich diese Dimension in „bessergestellten“, „einfachen“ oder „vernachlässigten“ Wohngebieten aus. Die zweite von SHEVKY/BELL betrachtete Dimension wird als „Verstädterung“ („urbanism“) bezeichnet und beschreibt die ungleiche Verteilung von Haushaltstypen über den Stadtraum. Dies verweist auf die sozialräumliche Kohärenz „gleicher Lebensweisen“. Als Indikatoren zur Messung dieses Faktors ziehen SHEVKY/BELL die Geburtenrate, den Anteil an berufstätigen Frauen sowie den Anteil an Einpersonenhaushalten heran. Die Bezeichnung dieser Dimension ist in verschiedenen Sozialraumanalysen recht unterschiedlich. Neben „Verstädterung“ finden sich oftmals die Termini „Urbanismus“, „Haushaltsstatus“, „Haushaltsstruktur“ sowie „Familienstatus“. Da in der Regel der Anteil von Familien mit Kindern an allen Haushalten in einem Subgebiet mit zunehmender Entfernung vom Zentrum zunimmt, erscheint die Interpretation hoher Anteile von Ein- und Zweipersonenhaushalten als „urban“ („Urbanismus“) als naheliegend, nimmt aber die räumliche Konzentration (die ja gemessen und anschließend beschrieben werden soll) vorweg. So sind die suburbanen [sic!] Vororte unserer Städte die bevorzugten Wohnstandorte (junger) Familien. Aus methodologischer Sicht erscheint die Vorwegnahme der (vermuteten) räumlichen Konzentration von Familien am Stadtrand durch die terminologische Benennung einer Dimension nicht sinnvoll. Schließlich wäre es ja denkbar, empirisch gänzlich von einem Zentrums-Peripherie-Gefälle abweichende räumliche Muster vorzufinden. Im Weiteren wird daher die Bezeichnung „Haushaltsstruktur“ bevorzugt, der die – vermuteten – räumlichen Konzentrationsmuster im Gegensatz zum Begriff des „Urbanismus“ nicht terminologisch vorwegnimmt.
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ENTGRENZTE STADT
Der dritte deduktiv abgeleitete und für die soziale Differenzierung von städtischen Subgebieten als relevant erachtete Faktor misst die „relative Isolierung von rassischen und nationalen Gruppen“ (SHEVKY/BELL 2002, S. 71) und kann (terminologisch an die heute gebräuchlichen Begrifflichkeiten angepasst) als „Ethnizität“ verstanden werden. SHEVKY/BELL schlagen für diese Dimension den Terminus „Segregation“ vor. 37 Der idealtypische räumliche Ausdruck dieses Differenzierungsmerkmals sind die Chinatowns oder Little Italys USamerikanischer Großstädte. In allgemeinerer Form lassen sich diese Gebiete oftmals als „Ghettos“ ansprechen, zumindest wenn der freien Wohnstandortwahl der Bewohner durch gesetzliche Regelungen und/oder Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt enge Grenzen gesetzt sind. An dieser Stelle muss kritisch angemerkt werden, dass insbesondere die Dimension „Segregation“ verdeutlicht, dass ein Merkmal, anhand dessen soziale Gruppen voneinander unterschieden werden, eine Funktion der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (BERGER/LUCKMANN 1972) ist. Nur eine Gesellschaft, die „rassische“ – oder in ihrer modernen Form: „ethnische“ – Unterschiede kennt, kann derartige Unterschiede sozialräumlich erkennen. Das Kennen „rassischer“ Unterschiede setzt voraus, dass nach ihnen gesucht wird, diese sozial konstruiert und zur Grundlage sozialer Handlungspraktiken werden. Dies trifft nicht nur auf das als quasi-biologisches Faktum konzipierte Konstrukt „Rasse“ zu, sondern auch auf sein kulturalisierendes Pendant namens „Ethnizität“. Diese Diagnose lässt sich auf die anderen beiden Dimensionen der social area analysis „Sozialer Status“ und „Haushaltsstatus“ übertragen, wenngleich sie hier weniger evident ist: Die gesellschaftliche Bedeutung sozialer Stratifikation oder die Unterschiedlichkeit verschiedener Lebensentwürfe wird, mit Blick auf die kapitalistische Systemlogik einerseits und die familienpolitischen Steuerungsversuche wider den demographischen Wandel andererseits, deutlich weniger hinterfragt und eher als gegeben angenommen als „rassische“ Unterschiede. Letztendlich ist jedoch festzuhalten, dass jegliche Merkmale sozialer Stratifikation ihre Ursache in gesellschaftlichen Konstrukten finden. Diese 37 Den Terminus „Segregation“ allein auf ethnische Heterogenität anzuwenden erscheint vor dem Hintergrund der breiteren Verwendung dieses Begriffs nicht treffend. FRIEDRICHS (1983, S. 34) versteht unter Segregation das „Ausmaß der disproportionalen Verteilung von Bevölkerungsgruppen (oder Nutzungen) über die Teilgebiete (z.B. Ortsteile) eines Gebietes“. Dabei wird das Merkmal, das zur Gruppenbildung angewendet wird, nicht näher spezifiziert. 148
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Konstrukte sollten jedoch – jedenfalls wenn sie für die Gesellschaft in maßgeblicher Weise strukturierend wirksam sind – auch in ihrer räumlichen Verteilung untersucht werden, und zwar ungeachtet etwaiger Vorbehalte gegen die Gruppenkonstrukte selbst. SHEVKY/BELL schlossen mittels eines Standardisierungsverfahrens von den theoretisch hergeleiteten Indikatoren auf die ersten beiden Dimensionen „soziale Position“ bzw. „Haushaltsstatus“. Die dritte Dimension „Segregation“ hingegen wird nur durch einen einzelnen Indikator beschrieben. Obgleich die social area analysis bestimmten theoretischen Grundannahmen folgt – etwa dass die Dimensionen „soziale Position“, „Haushaltsstatus“ und „Segregation“ relevante Merkmale zur Differenzierung sozialer Räume seien – handelt es sich nicht um eine kohärente Theorie in engerem Sinne, sondern eher um eine quantitative Methode mit deduktiv hergeleiteten Annahmen. Dies tat dem Eingang der social area analysis in die Forschungspraxis jedoch keinen Abbruch. Erstmals stand mit diesem Verfahren ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe soziale Milieus in Städten lokalisierbar wurden und stadtplanerische Ziele an den sozial-strukturellen Differenzierungen ausgerichtet werden konnten. Tabelle 2: Analysedimensionen der social area analysis Benennung der Dimensionen bei SHEVKY/BELL Social rank
Urbanism
Segregation
Gebräuchliche Bezeichnungen in der deutschsprachigen Forschung
Messindikatoren bei SHEVKY/BELL
Soziale Position
Berufliche Stellung
Sozialer Status
Ausbildung/Schuljahre
Wirtschaftlicher Status
Höhe der Miete
Haushaltsstatus/-struktur
Fruchtbarkeitsrate
Familienstatus
Frauenerwerbsquote
Urbanismus/Verstädterung
Anteil Einpersonenhaushalte
Segregation
Quote der im Ausland gebor-
Ethnischer Status
enen Bevölkerung
Eigene Darstellung
Während der Ansatz von SHEVKY/BELL ein deduktives Vorgehen zur Analyse städtischer Teilräume darstellt, ist die Weiterentwicklung dieser Forschungsrichtung im Wesentlichen durch einen induktiven Zugang gekennzeichnet. Bei diesem als „Faktorialökologie“ bezeichneten Forschungsprogramm werden die Indikatoren zur Beschreibung sozialräumlicher Differenzierung nicht aus theoretischen Annahmen herge-
149
ENTGRENZTE STADT
leitet, sondern mittels einer explorativen Hauptkomponentenanalyse ermittelt. Dieses strukturentdeckende Vorgehen mag zunächst theorielos erscheinen, eröffnet aber Chancen zur Entdeckung bislang wenig beachteter oder sogar unbekannter Dimensionen, die sozialräumliche Differenzierung des Stadtraums bewirken. Eine frühe faktorialökologische Analyse der Stadt wurde von MURDIE (1969) in Toronto durchgeführt. MURDIE konnte die drei von SHEVKY/BELL deduktiv hergeleiteten Dimensionen faktoranalytisch reproduzieren und stellte signifikante räumliche Muster fest: Während die soziale Stratifikation in der Stadt ein sektorales Muster aufweist, nimmt der Urbanismus mit zunehmender Entfernung vom Stadtzentrum ab. Die ethnische Segregation ist dagegen punktuell auf bestimmte Quartiere bezogen. Die ersten beiden von SHEVKY/BELL erarbeiteten Dimensionen konnten auch in weiteren faktorialökologischen Studien in anderen Städten bestätigt werden, was auch durch die weitgehende Übereinstimmung der Gesamtheit der in den amtlichen Statistiken zur Verfügung stehenden Indikatoren zu erklären ist. Während die ersten beiden Dimensionen relativ stabil über nahezu alle quantitativen faktorialökologischen Untersuchungen sind und diese die schon von SHEVKY/BELL benannten Dimensionen „soziale Position“ und „Haushaltsstatus“ faktoranalytisch nachzeichnen, variiert ab der dritten Dimension die inhaltliche Bedeutung der weiteren Faktoren zwischen den einzelnen Untersuchungen (vgl. FRIEDRICHS 1983, S. 186). Zudem liegt der Vorauswahl der Variablen, die in die Faktorenanalyse eingehen, in der Regel eine implizite Annahme zugrunde, die bestimmten (i.d.R. sozialökologischen) Hypothesen folgt (vgl. ebd., S. 185). Die Zahl der ermittelten Faktoren ist abhängig von der Zahl der eingehenden Variablen, deren Interkorrelationen sowie vom gewählten Verfahren. 38 DAVIES/MURDIE (1991) konnten eine weitere Aufgliederung der sozialräumlichen Dimensionen in 24 kanadischen Stadtregionen zeigen, die sie allerdings nicht auf die Vielzahl der verwendeten Indikatoren, sondern auf eine Ausdifferenzierung der Dimensionen zurückführten. Zu der immer noch vorhandenen sektoralen Segregation des sozialen Status, die MURDIE bereits 1969 beschrieben hatte, treten nun punktuell im Stadtraum „Verarmungsinseln“ hinzu. Dieses Phänomen ist auch aus Städten in Deutschland bekannt und betrifft zumeist die in den 1960ern und 1970ern entstandenen Großwohnsiedlungen. Des Weiteren erkann38 In der Regel wird die Faktorenanalyse auf Faktoren beschränkt, deren Eigenwert größer als 1 ist. Damit wird verhindert, dass Faktoren ermittelt werden, die eine geringere Erklärungskraft haben als eine einzelne in die Analyse eingehende Variable. 150
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ten DAVIES/MURDIE (1991) eine Ausdifferenzierung des als „Urbanismus“ bzw. „Haushaltsstatus“ beschriebenen Merkmals. Bedingt durch die Ablösung einer allgemeingültigen Normalbiographie durch ein wahloptionsoffenes Muster der Lebensgestaltung, insbesondere aber durch eine verlängerte Phase der Adoleszenz, bilden sich auch plurale residenzielle Muster aus. Insbesondere tritt zu den Alleinlebenden einerseits und den Familienhaushalten andererseits eine nennenswerte Anzahl von Mehrpersonenhaushalten ohne Kinder hinzu. Dieser Trend ist, wie noch gezeigt werden wird, ebenfalls in bundesdeutschen Großstädten zu beobachten. Die Methode der „social area analysis“, insbesondere in ihrer faktorialökologischen Ausrichtung, ist in den 1970er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein ein oft angewendetes Verfahren zur Analyse der inneren sozialräumlichen Differenzierung von Städten gewesen. Auch im deutschsprachigen Raum wurden eine Reihe faktorialökologischer Stadtuntersuchungen durchgeführt. Als bedeutender Grund für diese Konjunkturphase der Sozialraumanalyse in Deutschland ist das Städtebauförderungsgesetz von 1971 zu sehen, das vorbereitende Untersuchungen bei der Ausweisung von Sanierungsgebieten voraussetzt. Diese Ergänzung des Baugesetzbuches sah erstmals vor, die Sanierungsbedürftigkeit sowohl baulich als auch sozial festzustellen (vgl. RIEGE/SCHUBERT 2002, S. 21ff.). Ferner gab die sozial-strukturelle Entwicklung der in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen Großwohnsiedlungen Anlass zur wissenschaftlichen Begleitforschung sozialer Segregationstendenzen in den Großstädten (vgl. URBAN/WEISER 2005, S. 39). Das Vorgehen bei gesamtstädtischen Sozialraumanalysen war dabei in der Regel zweischrittig: Zunächst wurden die relevanten Dimensionen mittels einer Hauptkomponentenanalyse über eine Auswahl der zur Verfügung stehenden Indikatoren ermittelt. Im zweiten Bearbeitungsschritt wurden die städtischen Teilgebiete mittels einer Clusteranalyse auf ihre Ähnlichkeit hinsichtlich der zuvor ermittelten Dimensionen klassifiziert und so homogene Gebiete ausgewiesen. Parallel zur social area analysis, die auf die innere soziale Differenzierung der Stadt und die Identifikation städtischer Teilräume gerichtet ist, entwickelten sich sozialräumliche Forschungsperspektiven für kleinräumigere Anwendungsgebiete. Diese, zumeist eher an qualitativen Forschungsmethoden orientierten Zugänge, sind darauf gerichtet, „ein Verständnis vom räumlichen Verhalten der Bewohnerschaft und ihren alltäglichen Nutzungsmustern“ (RIEGE/SCHUBERT 2002, S. 41) zu eröffnen. Neben Methoden wie der (teilnehmenden) Beobachtung, der Begehung sowie dem Führen von Leitfadeninterviews kommt vor allem die (in Kapitel 2.1.2 dargestellte) Aktionsraumanalyse zum Einsatz. 151
ENTGRENZTE STADT
Dem Verständnis von RIEGE/SCHUBERT (2002, S. 42ff.) folgend, kann die Aktionsraumforschung somit als Teilgebiet der Analyse von sozialen Räumen verstanden werden.
Kritik an der Sozialraumanalyse und die Suche nach kulturalistischen Konzepten Die einseitige Fokussierung auf strukturelle Faktoren in der humanökologischen Raumanalyse ist vielfach kritisiert worden, da das komplexe soziale Geschehen im Raum unterhalb der statistischen Aggregate im Allgemeinen ausgeblendet wird. Als in den 1980er Jahren objektivierende und quantifizierende Wissenschaftsansätze im Allgemeinen verstärkt in die Kritik gerieten, wurde auch das strukturzentrierte Verständnis von Sozialräumen der Faktorialökologie in Frage gestellt. Statt soziale Aggregate und ihre statistischen Merkmale zu betrachten, wurden Sozialräume bezugnehmend auf SCHÜTZ und HUSSERL ab den 1980er Jahren verstärkt als „Lebenswelten“ verstanden (vgl. RIEGE/SCHUBERT 2002). Der methodologische Hintergrund des Lebenswelten-Ansatzes ist, dass ein spezifischer Raum nicht über ihm inhärente Eigenschaften verfügt, sondern räumliche Phänomene nur deshalb bestimmte Eigenschaften haben, weil sie von Menschen wahrgenommen und interpretiert werden. Diese handlungstheoretisch fundierte Forschungsperspektive ist also darauf gerichtet, ein Verständnis der relevanten Merkmale des Raums zu erlangen, die von den jeweiligen Nutzern aus ihrer individuellen Sicht erfasst und mit spezifischen Bedeutungen belegt werden. Sozialräumliche Phänomene werden damit aus den subjektiven Sinnzusammenhängen der sie konstruierenden Handelnden erklärt. Die alltägliche Lebenswelt der Individuen wird aus dieser Forschungsperspektive als soziokulturell überformte Umwelt und damit als sprachlich verfasste Wirklichkeit begriffen (vgl. Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit). Der empirische Zugriff auf den Raum muss in dieser Perspektive notwendigerweise vom Individuum ausgehend erfolgen. Methodologisch wird dabei die Subjektivität betont und eine Verstehensmethodologie (Hermeneutik) gefordert. Die Lebensweltanalyse nimmt ihren Ausgang also von Individuen (oder ggf. Gruppen); auf keinen Fall aber stellen räumliche Aggregate eine Analyseeinheit dar. Die entscheidenden Impulse, Sozialräume auch als Konstruktion des Verhaltens zu begreifen, gingen aus naheliegenden Gründen nicht von der als strukturfunktionalistisch geltenden Humanökologie aus. Der Perspektivenwechsel von einer strukturzentierten zu einer verhaltens152
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zentrierten Sichtweise zeichnete sich bereits in den ausgehenden 1960er Jahren mit der Entwicklung der zeit-räumlich ausgerichteten Aktionsraumforschung ab. So betont HÄGERSTRAND (1970) den Zusammenhang von aktionsräumlichem Verhalten mit der Organisation des Raumes sowie der Rolle der Zeit. Dies ist nur unter Berücksichtigung individueller Projekte und Motivationen darstellbar (vgl. Kapitel 2.1.1 dieser Arbeit). CHAPIN (1974) verstand individuelle Motivationen und Denkweisen als Prädispositionen des Verhaltens, welches die spezifischen Nutzungsmuster des Raums mitbestimmt. Er betont dabei die Dialektik von Raumansprüchen und Raumausstattung und entwickelte ein zeit-räumliches Modell der „urban activity systems“ als umfassendes Konzept für die Art und Weise, wie Individuen, Haushalte, Unternehmen und Institutionen ihre alltägliche Interaktion in Abhängigkeit von Zeit und Raum organisieren. Neben der Gestaltung des Raumes durch den Menschen geht er davon aus, dass die vorhandene Ausstattung des Raums in Form von Verfügbarkeiten von Gelegenheiten und die Wahrnehmung ihrer Qualität einen großen Einfluss auf das Verhalten hat. Dieser hier nur angedeutete Paradigmenwechsel in der Anthropogeographie führte zu einer Renaissance hermeneutischer Verfahren, was mit einer Ablehnung der als positivistisch geltenden quantitativen Sozialraumanalyse einherging. Zusätzlich zu dem Wechsel der methodologischen Perspektive traten etwa ab Mitte der 1980er Jahre theoretische Bedenken gegen die faktorialökologische Sozialraumanalyse auf, die sich aus dem Aufkommen der Debatte um den sozialen Wandel und der Pluralisierung sozialer Werte speisten (vgl. Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit). ZEHNER (2001) nennt als Ursache für diesen Bedeutungsverlust der quantitativen Sozialraumanalyse den Umstand, dass die zur Untersuchung der sozialräumlichen Struktur von Städten zur Verfügung stehenden Variablen kaum geeignet waren, die Aspekte des gesellschaftlichen Wandels, wie etwa neue soziale Milieus oder Lebensstilgruppen, hinsichtlich ihrer sozialräumlichen Verteilung adäquat abzubilden: „Ein wesentlicher Grund für die Aufgabe dieser Forschungsrichtung bestand darin, dass das aus den amtlichen Volks-, Gebäude- und Arbeitsstättenzählungen stammende Variablenset unverrückbar feststand und keine inhaltlichen Erweiterungen zuließ. Somit lieferten Hauptkomponentenanalysen immer wieder gleichartige Faktoren, die dem gesellschaftlichen Wandel zunehmend weniger gerecht wurden“ (ZEHNER 2001, S. 63). Die heute als relevant erachteten Dimensionen sozialer Stratifikation scheinen mit Hilfe der von den kommunalen Statistikämtern bereitgestellten Indi-
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katorensets nur noch unzureichend abbildbar zu sein (vgl. HERMANN/ LEUTHOLD 2002). Eine weitere zentrale Kritik an der quantitativen Sozialraumanalyse behauptet, dass durch die Betrachtung räumlicher Aggregate (i. d. R. Stadtteile) eine interne Homogenität der Untersuchungsaggregate unterstellt werde, die aber de facto nicht gegeben sei (vgl. ZEHNER 2001, S. 65). Das Bild der Stadt aus der Perspektive der Sozialökologie sei der Existenz eines Containerraums im Sinne der „natural areas“ verhaftet. Gegen eine kleinräumigere Wahl der Analyseeinheiten, die dieser Kritik begegnen könnte, etwa Baublocks oder Blockseiten, sprechen oftmals zwei Einwände (vgl. FRIEDRICHS 1997, S. 16ff.): Einerseits ist der Verfügbarkeit geeigneter Indikatoren auf kleinräumigen Aggregaten in der Regel eine enge Grenze gesetzt. So werden viele wichtige Variablen nicht von den statistischen Ämtern kleinräumig vorgehalten. Andererseits bestehen, so denn geeignete Indikatoren kleinräumig vorhanden sind, datenschutzrechtliche Bedenken gegen eine Weitergabe an Forschergruppen (vgl. URBAN/WEISER 2006, S. 55ff.). Bedingt durch diese methodischen Schwierigkeiten sowie die grundsätzlichen methodologischen Bedenken, aber insbesondere auch durch die gesellschaftlichen Prozesse des sozialen Wandels und der Wertepluralisierung, die die Sozialraumanalyse ihrer theoretischen Fundierung zu berauben drohten, lässt sich spätestens seit den 1990er Jahren eine „Phase der konzeptionellen Re-Orientierung [...] insbesondere [des (T.P.)] Kernbereichs sozialgeographischer Stadtforschung, der sich mit Wohnstandortentscheidungen, Sozialraumanalysen und Segregationsmustern beschäftigt“ diagnostizieren (HELBRECHT/POHL 1997, S. 4). Der mit dieser konzeptionellen Reorientierung verbundene Bedeutungsverlust der quantitativen Sozialraumanalyse führte allerdings nicht zur Etablierung einer neuen Methode, mit der die soziale und alltagskulturelle Differenzierung in den Städten der Spätmoderne adäquater bzw. plausibler hätte analysiert werden können. Folglich kann diese Entwicklung als recht problematisch angesehen werden, da sich die Sozialgeographie mit der Aufgabe der quantitativen Sozialraumanalyse ein Instrumentarium vergibt, das zur Beobachtung von Segregationsprozessen und zur Analyse der fragmentierten Entwicklung städtischer Teilräume geradezu ideal geeignet und im Sinne eines Monitoring-Verfahrens zur Beobachtung städtischer Entwicklungsprozesse einsetzbar wäre. Verschärfend kommt hinzu, dass eine neue Methode, die dies anstelle der Sozialraumanalyse leisten könnte, bis dato nicht existiert. Die Notwendigkeit einer begleitenden Beobachtung der sozialräumlichen Dynamik ist indes ungebrochen, „denn ohne Zweifel zählt die soziale und sozialräumliche Polarisierung zu den zentralen Gegenwarts154
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problemen unserer Gesellschaft. [...] Es fehlt aber an empirischen, flächendeckenden Untersuchungen der sozialräumlichen Entwicklung und Struktur von Großstädten, wie sie eine revitalisierte ‚social area analysis‘ zu produzieren in der Lage wäre“ (ZEHNER 2004, S. 54). Allerdings ist auch evident, dass die aus den Ausdifferenzierungstendenzen von Lebensstilgruppen resultierende zunehmende Bedeutung der „feinen Unterschiede“ auch im räumlichen Kontext (vgl. BOURDIEU 1991) die klassische „social area analysis“ ergänzungsbedürftig erscheinen lässt. Dies stellt die Frage nach einem für die Stadt der Spätmoderne adäquaten Analyserahmen, der die heute relevanten Dimensionen sozialer Ungleichheit auch in räumlichen Kontexten abzubilden in der Lage ist.
Lebensstilintegrierende Sozialraumanalyse Obgleich DANGSCHAT (2007) kritisiert, dass „die breite Debatte über die Formen sozialer Ungleichheit von den Stadt- und Regionalsoziologen/innen und den Geografen/innen kaum wahrgenommen“ (ebd., S. 41) wird und die Untersuchung residenzieller Segregation einem veralteten Ungleichheitsmodell folgt (gemeint ist das ausschließliche Denken in sozialen Schichten), werden seit einigen Jahren erste Versuche unternommen, Aspekte des Wertewandels und der Pluralisierung von Lebensstilen in die sozialraumanalytische Forschung zu integrieren. Der im Rahmen dieser Arbeit bedeutsamste Vorschlag, die Sozialraumanalyse in diese Denkrichtung zu ergänzen, kommt von der Nachwuchsforschergruppe „sotomo“ (sociotopological modeling) aus Zürich, hier insbesondere von HERMANN, LEUTHOLD und HEYE (vgl. HERMANN/ LEUTHOLD 2002; HEYE/LEUTHOLD 2004, 2006; HERMANN/HEYE/ LEUTHOLD 2005). Theoretische sowie methodische Bezüge ihres Ansatzes beziehen sie aus der oben vorgestellten humanökologischen Sozialraumanalyse nach SHEVKY/BELL, wobei aber die humanökologischen Rahmenannahmen weitgehend aufgegeben werden. Sozialräumliche Disparitäten sind ihrem Verständnis nach weniger durch eine „Konkurrenz der Arten“ im „Kampf ums Dasein“ zu erklären, sondern als Folge des Zusammenspiels von individuellen Präferenzen einerseits sowie ökonomischen und soziokulturellen Restriktionen andererseits zu interpretieren. Ein zweiter theoretischer Anker ihres Zugangs bildet das in Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit dargestellte Konzept des sozialen Raums von Pierre BOURDIEU. Der sotomo-Ansatz kann daher als „lebensstilbezogene Sozialraumanalyse“ bezeichnet werden.
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HERMANN/LEUTHOLD (2002) zufolge lässt sich die Methode der deduktiven Sozialraumanalyse der Chicago School auch heute noch anwenden, allerdings muss hierzu das zugrunde liegende Modell modifiziert werden. Neben einer sozialen Stratifikation in gesellschaftliche Schichten, die sich sozialräumlich abbilden lassen, „muss vor allem berücksichtigt werden, dass in der Spätmoderne neue Teilungen der Gesellschaft wirksam sind, die mit den klassischen Indikatoren der Sozialstrukturanalyse nur ungenügend erfasst werden“ (ebd., S. 1). Gemeint sind „Differenzierungen nach Lebensstilen und Weltanschauung“. Folglich soll mittels eines Lebensstil- bzw. Individualisierungsindexes der soziale Raum, der sich im physischen Raum spiegelt, auf der Aggregatebene (Stadtteile oder andere administrative Einheiten) gemessen und hinsichtlich seiner räumlichen Disparitäten abgebildet werden (vgl. HERMANN/HEYE/LEUTHOLD 2005; HEYE/LEUTHOLD 2006). Ausgangspunkt der lebensstilbezogenen Sozialraumanalyse ist dabei die Überlegung, dass unterschiedliche Lebensstilgruppen auch divergierende Ansprüche an ihre Wohnung, die Wohnungseinrichtung sowie an das infrastrukturelle, das bauliche und das soziale Umfeld stellen (vgl. HERMANN/LEUTHOLD 2002). Diese verschieden ausgeprägten Präferenzen erzeugen im Zusammenspiel mit den bestehenden sozialen und ökonomischen Restriktionen eine differenzierte Bewertung von Wohnquartieren, die zu Bevorzugung der Quartiere bei der Wohnstandortwahl führen, in denen die individuellen Präferenzen am ehesten befriedigt werden können. Für die innerstädtische Segregation bedeutet dies, dass sich heuristisch idealtypische Quartiere in Abhängigkeit von Lebensstil und Status beschreiben lassen (vgl. Tabelle 3). Zum einen sind dies Areale, die von nahezu allen sozialen Gruppen hoch bewertet werden und die sich durch eine hohe Nachfrage und, damit verbunden, hohe Bodenpreise auszeichnen (A-Quartiere). Dies sind die klassischen Wohnstandorte der Oberschicht. Andererseits existieren generell als schlecht bewertete Unterschichtquartiere, die durch vergleichsweise niedrige Bodenpreise gekennzeichnet sind und gewissermaßen als „Auffanggebiet“ für die aus den übrigen Quartieren verdrängten Bevölkerungsgruppen fungieren (D-Quartiere). Die Segregation nach Lebensstilen ist in den Quartieren wirksam, die sich durch ein mittleres Preisniveau auszeichnen und die in Abhängigkeit lebensstilspezifischer Präferenzmuster von verschiedenen Gruppen unterschiedlich bewertet werden (B- und C-Typen). In diesen Quartierstypen stellen sich Segregationsprozesse ein, die „nicht direkt das Resultat von ökonomischen Restriktionen, sondern abhängig von Habitus und Lebensstil der Zuziehenden“ (ebd., S. 4) sind. Ein Quartier, das von nur einer bestimmten Lebensstilgruppe als gut bewertet wird, 156
RAUM, ZEIT UND ALLTAG
zeigt HERMANN/LEUTHOLD zufolge Tendenzen zur sozialen Homogenisierung. Aufgrund ihrer Homogenität lassen sich diese als CQuartiere bezeichneten Teile der Stadt in der Regel mit Begriffen wie „Familienquartier“ oder „Arbeiterquartier“ treffend typisieren. Tabelle 3: Quartierstypen und ihre Bewertung durch verschiedene Lebensstilgruppen Quartiertyp
A-Quartier
Bewertung
Effekte
B-Quartier
C-Quartier
D-Quartier
Generelle Bewertung als gutes Wohnquartier
Von verschiedenen Gruppen als gutes Wohnquartier bewertet
Von einer Gruppe als gutes Wohnquartier bewertet
Generell als schlechtes Wohnquartier bewertet
starke Nachfrage
mittlere Nachfrage
mittlere Nachfrage
kleine Nachfrage
hohe Preise
mittlere Preise
mittlere Preise
tiefe Preise
Ökonomisch starke Gruppen setzen sich durch und prägen das Quartier
Mehrere Gruppen prägen das Quartier
Die eine Gruppe dominiert das Quartier und prägt den Ruf
Ökonomisch und sozial schwache Gruppen werden in dieses Quartier verdrängt
Oberschichtquartier
durchmischtes, multikulturelles Quartier
Homogene Bevölkerung (Familienquartiere, Arbeiterquartiere)
Unterschichtsquartier
Quelle: HERMANN/LEUTHOLD 2002
Quartiere, die von unterschiedlichen Lebensstilgruppen als gut bewertet werden, sind demgegenüber heterogen (B-Typ). In diesen durchmischten Quartieren leben verschiedene Lebensstilgruppen zusammen, was gegenseitige Toleranz erfordert. Diese Teile der Stadt lassen sich mit symbolischen Zuschreibungen wie „bunt“, „lebendig“ oder „multikulturell“ charakterisieren. HERMANN/LEUTHOLD (2002) konnten mit Hilfe einer standardisierten Befragung empirisch bestätigen, dass unterschiedliche Lebensstilgruppen auch unterschiedliche Präferenzen für verschiedene Stadtteile haben. Diese Betrachtung auf der Ebene der Individuen (als Träger der Lebensstile) lässt allerdings noch keine Aussage darüber zu, ob die Präferenzen für unterschiedliche Quartiere maßgeblich zur Herausbildung von „lebensstilsegregierten“ Quartieren führt, da weitere (insbesondere anbieterseitige) Selektionsmechanismen den Wohnungsmarkt ebenfalls beeinflussen. Hierzu bedarf es eines Forschungsdesigns, das Aussagen über Lebensstilgruppen auf der Ebene räumlicher Aggregate (z.B. Stadtteile) zulässt. LEUTHOLD, HEYE und HERMANN unternahmen verschiedene Versuche, ihren theoretischen Zugriff in ein empirisches Forschungs157
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programm zu überführen und einen Lebensstil- bzw. Individualisierungsindikator auf unterschiedlichen sozialräumlichen Aggregaten sekundärstatistisch abzubilden. HERMANN/HEYE/LEUTHOLD (2005) entwickelten mittels eines deduktiven Vorgehens einen „Individualisierungsindex“, mit dem der „Individualisierungsgrad der Lebensformen“ in der gesamten Schweiz gemessen werden soll. In diesen Indexwert gehen in je unterschiedlichen Gewichtungen der Anteil an Einpersonenhaushalten sowie an Wohngemeinschaften in der Altersklasse der 30bis 50-Jährigen, der Anteil erwerbstätiger Frauen an der weiblichen Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 44, der Anteil an Frauen ohne Kinder an der weiblichen Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 44 sowie der Anteil der Haushalte, die dem traditionell-bürgerlichen Familienmodell entsprechen, ein. 39 Demgegenüber gehen HEYE/LEUTHOLD (2004, 2006) induktiv vor. Mittels einer varimaxrotierten Faktorenanalyse extrahierten sie einen sogenannten Lebensstil-Faktor, der positiv durch den Anteil an über 65Jährigen in Einpersonenhaushalten, den Anteil an Personen in Wohngemeinschaften in der Altersklasse der 30- bis 50-Jährigen, den Anteil an 35- bis 44-jährigen Frauen ohne Kinder sowie den Anteil an 25- bis 44-jährigen vollerwerbstätigen Frauen mit Kindern geladen wird. Negativ gehen der Anteil der Personen unter 16 Jahren sowie der 25- bis 44jährigen Hausfrauen mit Kindern in diesen Faktor ein. Der in ihrer Hauptkomponentenanalyse extrahierte zweite Faktor beschreibt den sozialen Status. Obgleich, wie schon in Kapitel 2.1.4 gezeigt wurde, Zusammenhänge zwischen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Lebensstilmerkmalen bestehen, stellt sich die Frage, ob die von LEUTHOLD, HEYE und HERMANN gemessenen Merkmale treffend als lebensstilvariate Indikatoren angesprochen werden können. So verweisen die meisten der in den „Lebensstil-Faktor“ von HEYE/ LEUTHOLD eingehenden Variablen eher auf das „klassisch sozialökologische“ Merkmal des Familienstatus bzw. des Urbanismus. Demgegenüber finden sich keine Indikatoren, die das kulturelle Kapital zu messen in der Lage wären – für eine an der Theorie BOURDIEUs orientierte Lebensstilkonzeption einigermaßen erstaunlich. Zwar gehen Indikatoren wie der Anteil an Personen mit Universitätsabschluss in die Faktorenanalyse ein, laden aber auf dem zweiten extrahierten Faktor, der die soziale Lage beschreibt (vgl. HEYE/LEUTHOLD 2006, S. 23). BOURDIEU behauptet zwar – wie auch HEYE/LEUTHOLD – dass ein Zu-
39 Vgl. zur Definition des „traditionell-bürgerlichen Familienmodells“ Kapitel 2.1.4. 158
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sammenhang von sozialer Lage und Lebensstil bestünde, dies aber widerspricht dem gewählten methodologischen Forschungszugriff des sotomo-Ansatzes: Die varimaxrotierte Faktorenanalyse generiert voneinander unabhängige Dimensionen. Der „Lebensstil-Faktor“ und der „Status-Faktor“ im Modell von HEYE/LEUTHOLD hängen im empirischen Modell folglich nicht zusammen – im theoretischen Zugriff allerdings sehr wohl. Bei Betrachtung der sozialräumlichen Muster der von HEYE/LEUTHOLD abgebildeten „Lebensstilsegregation“ mit den derart ermittelten Indikatoren liegt die Interpretation dieser Dimension als „Urbanismus“ nahe, zeigen die sozialräumlichen Muster doch relativ deutlich das klassische Muster eines Stadt-Land-Gefälles, das auch schon von MURDIE (1969) beschrieben wurde. So stellen HEYE/LEUTHOLD (2006) ein „konzentrisches Segregationsmuster nach Individualisierungsgrad der Lebensstile“ (ebd., S. 27) fest, messen tatsächlich aber den Urbanismus. Das deduktive Vorgehen von HERMANN/HEYE/LEUTHOLD (2005) ist demgegenüber enger an die Methode von SHEVKY/BELL angelehnt, wirkt aber etwas willkürlich: Ob Lebensstile tatsächlich mit den vorgeschlagenen Indikatoren valide erfasst werden, erscheint zumindest fraglich. Ein Indikator, der die Ausstattung mit kulturellem Kapital zu messen in der Lage wäre, geht in den Faktor ebenfalls nicht ein. Dieses Defizit war HERMANN/HEYE/LEUTHOLD wohl auch bewusst, sodass die von ihnen entwickelte Dimension nicht als „Lebensstil-Faktor“, sondern als „Individualisierungsindex“ bezeichnet wird. Allerdings ist ihrem empirischen Zugriff nach nicht das Individuum Träger des Individualisierungsprozesses, sondern der Haushalt. Des Weiteren werden Aspekte der Wertepluralisierung allenfalls sekundär über die geschlechterkulturellen Familienmodelle erfasst. Nicht zuletzt ist die Gewichtung der einzelnen in den Faktor eingehenden Indikatoren zueinander recht beliebig und kaum nachvollziehbar. Trotz einiger methodologischer Schwächen des sotomo-Ansatzes ist es ein großer Verdienst von LEUTHOLD, HEYE und HERMANN, Wege für die sozialräumlich aggregierte Abbildung von Lebensstilen aufzuzeigen. Insbesondere der gewählte theoretische Zugriff, lebensstilspezifische Präferenzen bei der Wohnstandortwahl infolge divergierender Raumansprüche zu regionalisieren, erscheint in diesem Zusammenhang vielversprechend. Ein Teil der empirischen Untersuchung der vorliegenden Arbeit knüpft an diesen Ansatz an.
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Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit Während die in Kapitel 2.1 vorgestellten Perspektiven ihren Ausgangspunkt beim handelnden Individuum nehmen, erfolgt der Zugriff auf den Forschungsgegenstand der Sozialraumanalyse auf der Ebene räumlicher Aggregate. Die Methode der Sozialraumanalyse, sowohl in ihrer deduktiven Ausrichtung als auch in ihrem stärker induktiven Derivat namens „Faktorialökologie“ ist als empirisches Erkenntnisprogramm der Humanökologie zu interpretieren. Die wissenschaftstheoretische Grundperspektive der Humanökologie weist Parallelen zum strukturfunktionalistischen Denken auf. Diese Feststellung ermöglicht ein Verständnis für die potentielle Reichweite humanökologischer Erklärungen und damit auch eine Bewertung des Erklärungsgehalts von Analysen sozialräumlicher Organisation. Mittels der Sozialraumanalyse kann ein theoriegeleiteter Zugriff auf die räumliche Konfiguration der relevanten Dimensionen erfolgen, nach denen sich Gesellschaften unterscheiden. Diese Dimensionen sind ein räumlicher Ausdruck der relevanten Differenzierungsmerkmale einer Gesellschaft. Über die Persistenz der sozialen Differenzierungsmerkmale der Moderne hinaus treten in der Spätmoderne vermutlich weitere relevante Dimensionen auf, die für innerstädtische Segregationsprozesse bedeutsam sein können. Diese Dimensionen gilt es strukturell zu entdecken und zu beschreiben. Mit Blick auf die in Kapitel 2.1.3 beschriebene Ausdifferenzierung der Lebensstile ist insbesondere ein Bedeutungsgewinn von Dimensionen festzustellen, die die Segregation von sozialen Gruppen verschiedener Werthaltung beschreiben. Von besonderem Interesse hierfür könnte die Einstellung zur Konvergenz von Arbeit und Leben sein, die für die Spätmoderne kennzeichnend ist (vgl. Kapitel 2.1.4). Die Voraussetzung der Entdeckung einer derartigen Dimension auf ökologischer Ebene ist die Verfügbarkeit geeigneter Indikatoren. Während mit diesem Vorgehen eine „Raumökologie der Stadt“ gelingen kann, stellt sich die Frage, wie ein Zugriff auf eine „Zeitökologie der Stadt“ in diesen Ansatz integrierbar wäre. Die klassische Humanökologie bietet keinen Ansatzpunkt zur empirischen Untersuchung der Zeitökologie – vermutlich da PARK der Zeit keine besondere Relevanz beigemessen hat. Zwar wies HAWLEY (1950) auf die Bedeutung der Zeit für soziale Ungleichheit in Städten hin, was allerdings nicht zu einem empirischen Erkenntnisprogramm führte. So verspricht die Sozialraumanalyse zwar, ein fruchtbarer methodologischer Ausgangspunkt für die Entwicklung eines raum-zeit-bezogenen Regionalisierungsverfahrens zu sein, bedarf allerdings ergänzender Analyseschritte, die ebenfalls 160
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Aspekte der Zeitverwendung und Alltagsrhythmik erfassen. Hierauf wird in Kapitel 3 Bezug genommen.
2.2.2. Sozioökonomische Entwicklung der Städte in der spätmodernen Wissensgesellschaft Etwa zeitgleich mit der Etablierung der kleinräumigen Sozialraumanalyse als Anwendungsfeld der innerstädtischen Raumbeobachtung verloren großräumigere Zugänge wie die gesamtstädtische Sozialraumanalyse in Tradition der Chicago School mit dem Aufkommen der Individualisierungsdebatte an Bedeutung. Als wesentlicher Grund hierfür kann angesehen werden, dass die klassischen Merkmale der kommunalen Sozialstatistik in Zeiten der Wertepluralisierung und der damit einhergehenden Lebensstildifferenzierung als nicht mehr hinreichend zur Charakterisierung sozialer Ungleichheit in Städten galten. Obgleich in den letzten Jahren einige neue sozialräumliche Untersuchungen entstanden (z.B. HERMANN/LEUTHOLD 2006, URBAN/ WEISER 2006, KLAGGE 2005, SCHWABE 2005), ist eine generelle Renaissance der Sozialraumanalyse, wie von ZEHNER (2004) gefordert, zumindest momentan nicht in Sicht. Die planungspraktische Relevanz der auf die Thematisierung sozialer Ungleichheiten ausgerichteten gesamtstädtischen Sozialraumanalyse mag auch in Zeiten wachsender Städtekonkurrenz weniger gegeben sein, da sich der Fokus der kommunalen Planung seit den späten 1980er Jahren in Richtung eines zunehmenden Städtewettbewerbs und eines damit einhergehenden Stadtmarketings verschoben hat (vgl. MARKUSEN 2007). Insbesondere kann ein Wandel lokaler und regionaler Governance-Strukturen festgestellt werden: Sah die Stadtpolitik früher ihre Aufgabe in der Verwaltung von Städten und Regionen, ist diese Sichtweise der Vorstellung eines Stadt- oder Regionalmanagements als zentrale Funktion der Stadtpolitik gewichen (vgl. HARVEY 1989). Im Zuge dieser Entwicklung kann neben der Bedeutungsabnahme der innerstädtischen Sozialraumanalyse der Bedeutungszuwachs von Zugängen verstanden werden, die sich mit der Relation von Städten zueinander beschäftigen. Die bestehenden sozioökonomischen Unterschiede von Städten zu erklären, insbesondere aber diese Erkenntnisse in strategische Planungskonzepte zu überführen, steht bei diesen Forschungszugängen im Zentrum. Als Beispiel für diese Perspektiven kann die Analyse von Wirtschaftsclustern und die hieraus resultierende „Clusterpolitik“ angeführt werden, die auf die produktionsseitigen Steuerungsoptionen der Stadtpolitik gerichtet ist. Darüber hinaus haben 161
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aber auch Forschungsfragen an Relevanz gewonnen, die den konsumtiven Aspekt des Urbanen in den Vordergrund stellen und in der Regel in Revitalisierungskonzepte münden (z.B. in Form einer zunehmenden Eventorientierung der Stadtpolitik). Im Kontext dieser Bedeutungsverschiebung der planungspraktischen Perspektive auf die Stadt ist auch zu verstehen, dass die Untersuchungen von Richard FLORIDA (2002; 2005) eine überaus große Resonanz seitens der räumlichen Planung erfahren haben. So gelingt es mit FLORIDAs Konzept der „Kreativen Klasse“, produktions- und konsumtionsseitige Förderstrategien der Stadtpolitik gleichermaßen zu bedienen.40 Grundlage hierfür bildet eine vergleichende empirische Studie, die FLORIDA in den USA durchgeführt hat. Er untersucht die Hintergründe für die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung von verschiedenen Städten und Regionen und schlägt hierauf aufbauend Planungsstrategien vor, die zu einem ökonomischen Wachstum von Städten führen sollen. Zentrale Annahme seines Ansatzes ist dabei, dass die Ursache für regionale ökonomische Prosperität die Wohnstandortentscheidung von kreativen Menschen ist, da ein hohes Maß an Kreativität in einer Region mit Wirtschaftswachstum einhergeht. Kreativität versteht FLORIDA dabei als die Fähigkeit, Wissen neu zu generieren und bereits vorhandenes Wissen erfolgreich anzuwenden. Mit der Einengung des Kreativitätsbegriffs auf „Wissen“ lassen sich Parallelen zum Begriff des Humankapitals erkennen (vgl. MOHR 1997), insbesondere aber die Vorstellungen eines (spätmodernen) Wandels zur Wissensgesellschaft in Beziehung setzen. FLORIDAs Kreativitätsbegriff kann demnach einerseits als Verengung auf ökonomisch inwertsetzbare Kontexte verstanden werden, andererseits ist er aber auch recht breit gefasst, insbesondere hinsichtlich einer Ausweisung „kreativer Berufe“: Nahezu alle wissensintensiven Dienstleistungen, beispielsweise der gesamte Hochtechnologiesektor sowie Finanzdienstleistungen, Berufe im Unternehmensmanagement, Juristen oder auch Ärzte zählen seinem Verständnis nach zur „kreativen Klasse“ (sogenannte „creative professionals“, vgl. FLORIDA 2002, S. 328). Kennzeichnend für die Bewertung als „kreativer Beruf“ ist dabei, dass kreatives Problemlösen, der Umgang mit komplexen Wissenskontexten und die Suche nach innovativen Lösungsstrategien die Kernkompetenzen der beruflichen Tätigkeit bilden, was in der Regel hohe Bildungsqualifikationen voraussetzt (vgl. FLORIDA 2005, S. 34).
40 Hierauf weist etwa FAINSTEIN (2005) hin: „The concept of the creative class promotes an elision between the previous analytically separated categories of production and consumption“ (ebd., S. 12). 162
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Darüber hinaus weist FLORIDA einen „Kern der kreativen Klasse“ („super-creative-core“) aus, der zumindest teilweise an dem umgangssprachlichen Verständnis von Kreativität orientiert ist: „The super-creative-core of this new class includes scientists and engineers, university professors, poets and novelists, artists, entertainers, actors, designers, and architects, as well as the thought leadership of modern society: nonfiction writers, editors, cultural figures, think-tank researchers, analysts, and other opinion-makers. Members of this super-creative-core produce new forms or designs that are readily transferable and broadly useful – such as designing a product that can be widely made, sold, and used, coming up with a theorem or strategy that can be applied in many cases, or composing music that can be performed again and again.“ (FLORIDA 2005, S. 34)
FLORIDA stellt fest, dass der Anteil der Kreativen in den USA räumlich sehr unterschiedlich verteilt ist. Die Ursache hierfür ist FLORIDA zufolge die hohe Affinität der in „kreativen“ Berufen Beschäftigten zu einem umfassenden kulturellen Angebot. Darüber hinaus sind die „Kreativen“ auch ökonomisch und strukturell in der Lage, dieses Bedürfnis als Faktor für ihre Wohnstandortentscheidung einzubeziehen und einen Wohnstandort zu wählen, an dem ihre Präferenzmuster am besten zu realisieren sind. FLORIDA arbeitet am Beispiel der USA heraus, dass sich die Kreative Klasse in bestimmten Regionen konzentriert. Diese „Creative Centers“ sind zugleich die Regionen mit der höchsten ökonomischen Prosperität und der niedrigsten Arbeitslosigkeit. FLORIDA zufolge migriert die Kreative Klasse allerdings nicht in diese Regionen, da sie sich dort die besten Karriereoptionen versprechen. Nicht die Kreativen folgen den Jobangeboten, sondern die Unternehmen, die auf „kreative“ Mitarbeiter angewiesen sind, folgen den (Wohn-) Standortentscheidungen der Kreativen Klasse: „The Creative Centers are not thriving for such traditional economic reasons as access to natural resources or transportation routes. [...] They are succeedding largely because creative people want to live there. The companies follow the people – or, in many cases, are started by them. Creative Centers provide the integrated ecosystem or habitat where all forms of creativity – artistic and cultural, technological and economic, can take root and flourish.“ 41 (FLORIDA 2005, S. 35) 41 An dieser Stelle ist anzumerken, dass die von FLORIDA verwendete Terminologie an die im Kapitel zuvor vorgestellte Humanökologie erinnert, allerdings ohne konkrete theoretische Bezüge zu ihr herzustellen. 163
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Entscheidend für die Wohnstandortentscheidung der Kreativen Klasse ist FLORIDA zufolge nicht die Verfügbarkeit von Infrastruktureinrichtungen wie Sportstadien, Einkaufszentren, Touristen- und Vergnügungsvierteln oder einer guten Verkehrsinfrastruktur. Diese Angebote werden von der Kreativen Klasse oftmals sogar als unattraktiv angesehen. Bedeutsam sei vielmehr das Leben in einem als „kreativ” empfundenen Umfeld: „What they [the Creative Class, (T.P.)] look for in communities are abundant high-quality experiences, an openness to diversity of all kinds, and above all else the opportunity to validate their identities as creative people“ (ebd., S. 36). Diese Suche der Kreativen Klasse nach neuen Erfahrungen bzw. Erlebnissen und ihre Vorliebe für kulturelle Vielfalt und alles Antikonventionelle weist deutliche Parallelen zu den in Kapitel 2.1.3 beschriebenen kulturellen Zeichen des Spannungsschemas nach SCHULZE (1992) auf. Obgleich FLORIDAs Perspektive stellenweise ökonomistisch und SCHULZEs Ansatz kulturalistisch wirkt, beschreiben beide (aus ihrer je spezifischen Perspektive) einen ähnlichen Zeichenkodex. Die bei FLORIDA zusätzlich zum Tragen kommende, für die Identitätskonstruktion bedeutsame Selbstversicherung als Mitglied der Kreativen Klasse verweist auf die Bedeutung von (kreativer Wissens)Arbeit sowie der Anwesenheit von anderen Kreativen für den (zumindest ansatzweise gewählten) Lebensstil. Auch in der oft als „beliebig“ und „kurzlebig“ geltenden Spätmoderne ist eine maßgebliche Funktion von Arbeit ihre Bedeutung für die Entwicklung eines kohärenten Selbstbildes, einer Identität, die auf die Integration in ein passendes soziales Milieu angewiesen ist. Indes stellt sich die Frage, inwiefern für derartige Lebensstile eine konsequente Differenzierung von Arbeits- und Lebenswelt in der Wissensökonomie überhaupt möglich sein kann. Eine inhaltliche Entgrenzung dieser beiden in der Moderne noch strikt getrennten Lebensbereiche ist dabei kaum von einer zeitlichen Entgrenzung zu trennen: Ob etwa die Genese neuer (kreativer) Ideen nur auf eine festgelegte und standardisierte Bürozeit limitiert werden kann, muss bezweifelt werden, sodass auch an dieser Stelle die Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt als nahezu zwingende Folge erscheint. Die Anwesenheit einer großen Zahl von kreativen Personen macht FLORIDA zufolge Regionen auch für andere Kreative attraktiv, was einen sich selbst verstärkenden Zuwanderungsprozess der Kreativen Klasse erklärt, allerdings noch keine Idee davon vermittelt, welche Basisfaktoren in einer Region gegeben sein müssen, um diesen Prozess zu initiieren oder gar planerisch zu befördern. In Orten, in denen bereits viele Kreative leben, tritt also ein sich selbst verstärkender Effekt ein. 164
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Demnach „stellen kreative Städte gewissermaßen Brutkästen für zukünftiges Wachstum dar“ (FRISCH/STÜTZER 2007, S. 15). FLORIDA zufolge sind drei Faktoren bedeutsam, um einen „Nährboden“ für die Kreative Klasse zu bestellen, in dem diese „Wurzeln schlagen“ kann: Technologie, Talent und Toleranz. Zur Operationalisierung dieser sogenannten „3 T’s“ (Technologie, Talent, Toleranz) bedient sich FLORIDA einer Reihe von Variablen, die als Indizes bezeichnet werden. Während der High-Tech-Index den Anteil an Beschäftigten in der High-Tech-Industrie erfasst, wird unter Talent der Anteil an Personen mit höheren Bildungsabschlüssen in einer Region verstanden (vgl. FLORIDA 2002, S. 249ff.). Zumindest Technologie und Talent sind damit von der Verfügbarkeit entsprechend ausgebildeter Fachkräfte abhängig – die jeweils zum großen Teil auch Bestandteil der Kreativen Klasse sind. Hier zeigt sich eine Unschärfe in der analytischen Trennung von Humankapital (ausgebildete Fachkräfte) und Kreativität bei FLORIDA (vgl. MARKUSEN/ KING 2003). FLORIDAs vom „Talent“ ausgehender Zugang zur Erklärung für die initiale Herausbildung der Kreativen Klasse in einer Region wirkt aus dieser Perspektive tautologisch, zumindest aber unbefriedigend. Hierauf weist er ansatzweise auch selbst hin: „The statistical correlations between Talent Index and the Creative Class centers are understandably among the strongest of any variables in my analysis because Creative Class people tend to have high levels of education“ (FLORIDA 2005, S. 39). Dass eine hohe Zahl von Unternehmen des High-Tech-Sektors sowie ein hohes Bildungsniveau Prädiktoren für ökonomische Prosperität in einer Region sind, mag indes auch wenig überraschend sein. Als einzig unabhängige und planerisch in Wert setzbare (Steuerungs-)Größe bleibt aus Sicht FLORIDAs folglich die Toleranz in einer Region, die allerdings zugleich auch die am schwierigsten zu operationalisierende Variable sein dürfte. FLORIDA schlägt hierfür verschiedene (quantitativ messbare) Indikatoren vor, die das Maß an gesellschaftlicher Toleranz in einer Region widerspiegeln sollen. Die Toleranz gegenüber anderen Menschen und neuen Ideen drückt sich FLORIDA zufolge in der Offenheit gegenüber sozialer Vielfalt („Diversity“) innerhalb einer Region aus. Wenngleich FLORIDA nicht mit dem Lebensstilbegriff operiert, kann hierunter durchaus auch das Zusammenleben verschiedener Lebensstilgruppen in einer Region verstanden werden. Zur Messung von „Diversity“ kommen insbesondere drei (jeweils gleich gewichtete) Variablen zum Einsatz, die als „Melting Pot Index“, „Gay Index“ und „Bohemian Index“ bezeichnet werden. Der „Melting Pot Index“ beschreibt den Anteil der im Ausland geborenen Einwanderer und kann als ethnische Vielfalt interpretiert 165
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werden (ebd., S. 40). Zwischen dem Anteil an Immigranten und dem Anteil an Beschäftigten in der High-Tech-Industrie stellt FLORIDA für die von ihm untersuchten Regionen in den USA eine Korrelation fest. FLORIDA erklärt diesen Zusammenhang damit, dass Regionen mit einer größeren Offenheit gegenüber „Fremden” mehr Talente anziehen, da die Menge der infrage kommenden Talente nicht bereits im Vorfeld durch Exklusionsmechanismen verringert wird: „Regions that are open to diversity are thus able to attract a wider range of talent by nationality, race, ethnicity, and sexual orientation than are those that remain relatively closed.“ (FLORIDA 2005, S. 91). 42 Ökonomische Prosperität einer Region und eine hohe residenzielle Mobilität treten gemeinsam auf, was allerdings im Sinne der zuvor erörterten Humanökologie als ökologischer Zusammenhang verstanden werden sollte: So wäre die Annahme, dass es in jedem Fall die Immigranten sind, die in der High-Tech-Industrie beschäftigt sind, ein ökologischer Fehlschluss. Denn ebenso ist es denkbar, dass eine Region mit einem hohen Anteil an Beschäftigten in der High-Tech-Industrie einer „Dienstbotenökonomie“ im Sinne LÄPPLEs (2006) bedarf, die Immigranten genau diese Funktion erfüllen und mehrheitlich auf dem Sektor der personenbezogenen Dienstleistungen ihr Auskommen finden. Folglich erscheint auch fraglich, ob durch eine liberalere Einwanderungspolitik ökonomische Prosperität gefördert werden kann. 43 FLORIDA gibt allerdings auch keine kausale Richtung des von ihm gemessenen Zusammenhangs zwischen „Melting Pot Index“ und „High Tech Index“ an, sondern versteht die prinzipielle Offenheit gegenüber Einwanderern als Merkmal der Offenheit gegenüber sozialer Vielfalt und damit als Kennzeichen ökonomisch erfolgreicher Regionen. Als zweite operationalisierbare Variable für die Toleranz einer Region zieht FLORIDA den Anteil an Homosexuellen in einer Region hinzu. Für FLORIDA stellen Homosexuelle die in westlichen Gesellschaften am stärksten diskriminierte Gruppe dar. Eine Region, die sich durch eine hohe Konzentration von Homosexuellen auszeichnet, ist ihm zufolge tolerant und offen gegenüber allen möglichen anderen (sub-) 42 FLORIDAs empirische Untersuchung erfasst die regionale Varianz von „Diversity“. Der hier vorgestellte, sozialraumanalytische Zugang geht von einer wesentlich kleinräumigeren Differenzierung und folglich einer innerhalb der Stadt sehr heterogenen Verteilung der „Kreativen Klasse“ aus. 43 Andererseits zeigen zahlreiche Beispiele aus der Geschichte, dass durch Diaspora-Situationen sehr wohl Innovationen befördert werden. So wurde etwa im frühen 19. Jahrhundert die Frühindustrialisierung im (katholischen) Köln maßgeblich durch (protestantische) Einwanderer befördert, obgleich diese weit weniger politische Rechte hatten (vgl. KELLENBENZ/ VAN EYLL 1972; BECKER-JÁKLI 1983). 166
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kulturellen Strömungen. Auch hier findet er einen statistischen Zusammenhang zwischen dem „Gay Index“ und dem Anteil an Beschäftigten in der High-Tech-Industrie in einer Region. Darüber hinaus stellt FLORIDA einen Zusammenhang des regionalen Anstiegs des Gay Index einerseits sowie des Wachstums des High-Tech-Sektors andererseits fest. „Gays not only predict the concentration of high-tech-industry, they also predict its growth“ (FLORIDA 2005, S. 41). Allerdings kann die Validität der Operationalisierung zur Bestimmung des „Gay Indexes“ in einer Region angezweifelt werden. FLORIDA verwendet hierzu den Anteil an männlichen gleichgeschlechtlichen Zweipersonenhaushalten (vgl. ebd., S.94). Damit werden prinzipiell auch Wohngemeinschaften mit zwei männlichen Mitbewohnern als „gay“ klassifiziert. Insbesondere vor dem Hintergrund vergleichsweise hoher Mieten in prosperierenden Regionen darf aber auch ein höherer Anteil an Personen, die (aus ökonomischen Gründen) in Wohngemeinschaften leben, angenommen werden. Der dritte zentrale Index zur Bestimmung der Toleranz in einer Region ist der „Bohemian Index“, der den Anteil an Autoren, Designern, Musikern, Schauspielern, Regisseuren, Kunstmalern, Bildhauern, Fotografen und Tänzern an den Berufstätigen beziffert. Mit diesen Berufsgruppen ist der Kern der Kreativen Klasse beschrieben, sodass die „Erklärung“ der Konzentration der Kreativen Klasse in einer Region mittels des „Bohemian Indexes“ tautologisch wäre. Neben einer Korrelation dieses Indexes mit dem Anteil an Beschäftigten in der High-TechIndustrie weist der „Bohemian Index“ einen Zusammenhang mit dem allgemeinen Bevölkerungswachstum sowie der regionalen Beschäftigungsrate auf (vgl. ebd., S. 41f.). Offen bleibt allerdings, ob ein hoher Anteil an „Bohemians“ das Wachstum einer Region induziert oder ob in wachsenden Regionen eine bessere „(sozial)ökologische Nische“ für „Bohemians“ gegeben ist. Wie bei den zuvor genannten Indizes auch handelt es sich lediglich um ökologische Zusammenhänge: „We found that talent or Creative Capital is attracted to places that score high on our basic indicators of diversity – the Gay, Bohemian, and other indices. It is not because high-tech industries are populated by great numbers of bohemians and gay people. Rather artists, musicians, gay people, and the members of the Creative Class in general prefer places that are open and diverse. (FLORIDA 2005, S. 38)
Obgleich die Operationalisierung der zur Messung von „tolerance“ herangezogenen Indikatoren nicht optimal ist, gelingt es FLORIDA einen Zusammenhang von tolerance und ökonomischem Wachstum für die 167
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Regionen der USA nachzuweisen. Über diesen empirischen Befund hinaus gibt er jedoch auch planungspraktische Vorschläge, wie ökonomische Prosperität künstlich hergestellt werden kann. So besteht FLORIDA zufolge nicht nur ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsentwicklung und Anteil der Kreativen, sondern auch eine eindeutig bestimmbare Richtung dieses Zusammenhangs, die er allerdings nicht empirisch belegt. So lautet seine Hypothese, dass die ökonomische Prosperität von Städten und Regionen davon abhängt, inwieweit diese in der Lage sind, „kreative Wissensarbeiter“ anzuziehen. Diese „Kreative Klasse“ als Träger symbolischer Innovation induziert zudem eine zusätzliche Attraktivität entsprechender Konzentrationspunkte der „Kreativen“, da ihr Lebensstil als erstrebenswert gilt und die Nähe zu ihnen damit hoch bewertet wird. Tatsächlich lassen sich zwar Korrelationen zwischen einem hohen Anteil an „Kreativen“ und der ökonomischen Entwicklung von Städten und Regionen nachweisen (vgl. FLORIDA 2002; für Deutschland: FRITSCH/STÜTZER 2007), allerdings ist die kausale Richtung des Zusammenhangs unklar. Für die Überführung dieses Forschungsergebnisses in planerische Strategien zur Beförderung der ökonomischen Prosperität nimmt FLORIDA an, dass eine hohe Zahl an Kreativen ökonomischen Aufschwung bewirkt. Folglich schlägt er den politisch Verantwortlichen von Städten und Regionen vor, Toleranz bzw. „diversity“ zu fördern, um einen Nährboden für die Etablierung und Entfaltung der Kreativen Klasse zu bieten. Ist die Stadt erst einmal als Wohnstandort der Kreativen Klasse etabliert, stellt sich seiner Hypothese folgend das Wirtschaftswachstum als gleichsam zwingende Folge ein. Insbesondere aufgrund dieses Postulats einer für die wirtschaftliche Prosperität bedeutsamen Kreativen Klasse erfährt das Konzept von FLORIDA seit einigen Jahren einen Eingang in stadtentwicklungspolitische Leitvorstellungen. Ohne eine abschließende Bewertung der aus dieser Annahme folgenden Planungsstrategie an dieser Stelle vorwegzunehmen, sollte zwischen FLORIDAs Analyse des Zusammenhangs zwischen Lebensstil und Wirtschaftswachstum einerseits und der planungspraktischen Anwendung (Anziehung von Kreativen als Wirtschaftsförderungsstrategie) andererseits unterschieden werden. Während der faktische Zusammenhang empirisch bestätigt werden konnte, beruht die Vorstellung einer planerischen Beförderung des regionalen Wirtschaftswachstums durch eine „Kreativitäts-Strategie“ auf der (empirisch noch nicht eingehend überprüften) „job follows people“-Hypothese. Ungeachtet der aus planerischer Perspektive zweifellos attraktiven Vorstellung von einer Überführung der von FLORIDA gemessenen Zusammenhänge in stadt168
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und regionalpolitische Strategiekonzepte weist FLORIDA auf eine zunehmende Bedeutung der wissensbasierten Dienstleistungs- bzw. Kreativökonomie für Städte im 21. Jahrhundert hin. Dieses zentrale Ergebnis seiner Studie kann als empirischer Beleg für einen derzeit stattfindenden Umbruch von der Industrie- zur Wissensgesellschaft gedeutet werden.
Kritik und Weiterentwicklung FLORIDA ist für die Konzeption seines Ansatzes, insbesondere aber für die planerische Inwertsetzung seiner Untersuchungen, von verschiedener Seite (zum Teil scharf) kritisiert worden (vgl. BARIS 2003; FAINSTEIN 2005; GLAESER 2004; MARKUSEN/KING 2003; MALANGA 2004; MALISZEWSKI 2004; PECK 2005). Dabei reicht die Kritik von methodischen Problemen, mit denen sein empirischer Zugang behaftet ist, über die bereits dargestellte Unschärfe der Trennung von Humankapital und Kreativität (vgl. MARKUSEN/KING 2003) bis hin zu der Einseitigkeit der von FLORIDA propagierten politisch-ökonomischen Steuerungsinstrumente zur Förderung einer regionalen Wachstumspolitik mittels einer Instrumentalisierung des Kerns der Kreativen Klasse als Katalysator der Regionalentwicklung. Auf die methodischen Unschärfen in den Arbeiten FLORIDAs wurde bereits hingewiesen. Insbesondere ist fraglich, ob die Offenheit gegenüber anderen Lebensweisen, die im Tolerance-Index gemessen wird, als Ursache für die Attraktion der Kreativen Klasse verstanden werden kann. So weist etwa GLAESER (2004) darauf hin, dass es zwar einen Zusammenhang zwischen Kreativität, Innovation und regionaler ökonomischer Prosperität gebe. Die von FLORIDA zur Messung der Kreativen Klasse herangezogenen Indizes (insbesondere der „bohemian index“ und der „gay index“) verstellen seiner Ansicht nach den Blick auf die wesentliche Ausgangsgröße für den wirtschaftlichen Erfolg einer Region. Zentrales Kennzeichen der Kreativen Klasse in einer Region ist GLAESER zufolge nicht die Offenheit gegenüber anderen Lebensweisen oder die Anzahl an Bohemians, sondern das Bildungsniveau der dort lebenden Bevölkerung: „Sure, creativity matters. The people who have emphasized the connection between human capital and growth always argued that this effect reflected the importance of idea transmission in urban areas. But there is no evidence to suggest that there is anything to this diversity or Bohemianism, once you control for human capital“ (ebd., S. 4). Folglich werden Ursache und Wirkung vertauscht, wenn 169
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versucht wird, den Zuzug der Kreativen Klasse mittels einer Optimierung der Offenheit gegenüber vielfältigen Lebensweisen zu erklären. Im Gegenteil konnte GLASER sogar eine leicht negative Korrelation zwischen der Anzahl an Homosexuellen in einer Region einerseits und Indikatoren wirtschaftlicher Prosperität wie der Anzahl der Patentanmeldungen pro Einwohner andererseits feststellen: „I would certainly not interpret this as suggestion that gays are bad for growth, but I would be awfully suspicious of suggesting to mayors that the right way to fuel economic development is to attract a larger gay population. There are many good reasons to be tolerant, without spinning an unfounded story about how Bohemianism helps urban development.” 44 (GLAESER 2004, S. 4)
Mit diesem Einwand einer vermuteten Scheinkorrelation zwischen den verwendeten Indikatoren einerseits und der wirtschaftlichen Entwicklung von Regionen andererseits geht auch ein fundamentalerer Vorbehalt einher, der sich auf die Frage der Inwertsetzung von FLORIDAs Zugang für stadt- und regionalplanerische Fragestellungen bezieht: Selbst wenn die Kreativität in einer Region (wie auch immer diese zu messen ist) mit der regionalökonomischen Entwicklung korreliert, ist unklar, ob diesem Zusammenhang ein kausallogischer Prozess zugrunde liegt, der durch planerische Eingriffe künstlich reproduziert werden kann. Die Messung von Anteilen einzelner Bevölkerungsgruppen und Indikatoren wirtschaftlicher Prosperität sind schließlich als bloße ökologische Korrelationen zu verstehen, die keine Aussagen über kausale Zusammenhänge zulassen. Zudem erweist sich insbesondere die unscharfe Trennung von unabhängigen und abhängigen Variablen als problematisch, wenn der Ansatz FLORIDAs in ein empirisches Forschungskonzept überführt werden soll: Kennzeichnend für die Anwesenheit der Kreativen Klasse in einer Region ist ein überdurchschnittlich hohes formales Bildungsniveau, ein hoher Anteil an Beschäftigten in wissensintensiven Berufsfeldern sowie eine große Offenheit gegenüber vielfältigen Lebensstilen. Dieses sind aber zugleich die Kriterien, die eine Region für die Kreative Klasse attraktiv machen. Wenn die Pull-Faktoren, die die Kreative Klasse zur Immigration bewegen, ein hohes Maß an Technologie, Talent und Toleranz in einer Region sind, zugleich aber das Maß an Techno44 Hinzu kommt – worauf in der Darstellung des empirischen Vorgehens FLORIDAs bereits hingewiesen wurde – dass die Operationalisierungen der Indizes, insbesondere des „Gay Indexes“, jeglichen Validitätskriterien kaum standhalten. 170
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logie, Talent und Toleranz von der Anwesenheit der Kreativen Klasse abhängig ist, so kann hierdurch nicht erklärt werden, wie sich manche Regionen zu Zentren der Kreativen Klasse entwickeln, während anderen dies nicht vergönnt ist. Gesetzt den Fall, dass der Zuzug von Kreativen überhaupt durch planerische Maßnahmen beeinflusst werden kann, lässt sich aus den von FLORIDA erarbeiteten empirischen Erkenntnissen folglich auch nur schwer eine planerische Förderstrategie ableiten. FLORIDA folgend sollte sich eine tolerante – und damit für die Kreative Klasse attraktive – Stadtgesellschaft dann etablieren, wenn die Bevölkerungsstruktur hinsichtlich verschiedener Lebensstile, Lebensformen sowie Ethnien heterogen ist. Diese Vorstellung führte zur Etablierung vielfältiger „Diversity Management Strategien“ (nicht nur) in Städten. FAINSTEIN (2005) weist aber darauf hin, dass eine tolerante Gesellschaft keineswegs die zwangsläufige Folge von einer auf Diversity ausgerichteten Planung sein muss. Insbesondere die institutionellen Rahmenbedingungen spielen eine entscheidende Rolle für die Frage, ob aus sozialer bzw. kultureller Vielfalt Toleranz und Offenheit oder aber Polarisierung, Konkurrenzverhalten und soziale Schließung resultiert: „The effectiveness of any of these strategies [e.g. diversity or creativity strategies, (T.P.)], however, depends on the national policy context in which they operate. Without a national regime that is committed to equity, heightened competitiveness of a particular city will likely only produce polarization, and diversity may result in rivalry rather than tolerance.“ (FAINSTEIN 2005, S. 15f.)
Ungeachtet dieser problematischen (und vermutlich nicht ohne entsprechende Rahmenbedingungen zutreffenden) Vorstellung, dass Toleranz durch Diversity-Strategien zu befördern sei wird von konservativer Seite kritisiert, dass FLORIDA die Bedeutung einer offenen und toleranten Atmosphäre für die ökonomische Prosperität von Regionen systematisch überschätze und die Rolle eines investitionsfreundlichen Klimas dagegen nahezu ausblende (vgl. exemplarisch für diese Argumentationsrichtung: MALANGA 2004). Nicht ein hohes Maß an „tolerance“ sei für das regionale Wirtschaftswachstum verantwortlich, sondern eine politische Deregulierung sowie niedrige Steuersätze (ebd., S. 40ff.). Interessanterweise erweist sich FLORIDAs Ansatz, obgleich er von konservativer Seite kritisiert wurde, bei näherer Betrachtung als anschlussfähig an neoliberale Wachstumsideologien (vgl. MALISZEWSKI 2004). So werden die Kreative Klasse und ihre Lebensweise durchweg 171
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positiv gesehen; etwaige Probleme, die mit der spätmodernen Stadtökonomie einhergehen und sich beispielsweise in der Zwangsflexibilisierung von Arbeitszeiten oder einer Kolonisation sämtlicher Lebensbereiche durch eine ökonomistische Logik äußern (Verschiebung der „Work-Life-Balance“ bzw. Konvergenz von Arbeit und Leben), werden von FLORIDA nicht thematisiert. Die Substitution von „klassischen“ Normalarbeitsverhältnissen durch die deregulierten Arbeitsbeziehungen der Kreativen Klasse erscheint in diesem Kontext als alternativlos und als scheinbar erstrebenswert für die „Kreativen“ selbst. Zudem bedarf der Lebensstil der Kreativen einer unterstützenden „Dienstleistungskaste“ (vgl. Kapitel 2.1.4), deren Partizipationschancen an einer durch die Kreativen getragenen Konjunktur als eher gering einzuschätzen sind. Die soziale Ungleichheit zwischen der Kreativen und der Dienstleistungsklasse dürfte durch die von FLORIDA nahegelegte stadtpolitische Förderung der Kreativen Klasse eher verstärkt als nivelliert werden. Die Förderung der Kreativen Klasse ist damit als Elitenförderung zu interpretieren. „The Rise of the Creative Class both glorifies and naturalizes the contractedout, ‚free-agent‘ economy, discursively validating the liberties it generates, and the lifestyles it facilitates, for the favored class of creatives. FLORIDA is inclined to revel in the juvenile freedoms of the idealized no-collar workplaces in this flexibilizing economy, while paying practically no attention to the divisions of labor within which such employment practices are embedded. There is little regard for those who are on the thin end of FLORIDA’s ‚thick labor markets’, beyond the forlorn hope that, one day, they too might be lifted – presumably acts of sheer creative will – into the new overclass. There is certainly no need for unions or large-scale government programs, creativitystifling institutions that these are held to be, since FLORIDA’s vision of a creative meritocracy is essentially a libertarian one.“ (PECK 2005, S. 756f.)
Da FLORIDAs Ideen gerade im Kontext der politisch-planerischen Stadtund Regionalentwicklung sehr stark rezipiert werden, besteht die Tendenz, (Sub-)Kulturen aus politisch-planerischen Motiven im Interesse der Förderung der ökonomischen Prosperität zu unterstützen und zu instrumentalisieren.45 Zwar mag die Kunst- und Kulturförderung 45 Die Rezeption des Ansatzes von FLORIDA durch die Stadtentwicklungspolitik ist gerade in Hamburg besonders gut erkennbar. So ist die „Kreative Stadt“ das planerische Leitbild von Bündnis90/Die Grünen in Hamburg. Ein inhaltlich ähnliches, zumindest aber anschlussfähiges Programm für Hamburg mit dem Titel „Talentstadt Hamburg“ entwickelte die CDU. 172
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durch die Erkenntnis ihrer ökonomischen Bedeutung zunächst gestärkt werden, allerdings besteht die Gefahr, dass kulturelle Projekte im Hinblick auf ihren Nutzen für das Standortmarketing bewertet werden, da ja die „Kreative Klasse“ umworben und für die Region begeistert werden soll. Damit drohen die Verabschiedung von einer „Kulturpolitik für alle Bewohner der Region“ und eine Ausrichtung der Kulturförderung an den Präferenzen der Jungen, Mobilen, Flexiblen, gut Ausgebildeten und Kreativen. In Abgrenzung zu klassischen Konzepten der Wirtschaftsförderung, die auf eine Verbesserung der Produktionsbedingungen in einer Region gerichtet sind, lässt sich FLORIDAs Konzept zur regionalen Wirtschaftsförderung als Optimierungsstrategie der Konsumptionsbedingungen in einer Region verstehen: Die Kreative Klasse fühlt sich dort am wohlsten, wo sie sich durch demonstrativ zur Schau gestellten Konsum auf den urbanen Bühnen ihrer selbst versichern kann. Daraus folgt die explizite Empfehlung FLORIDAs an die politisch Verantwortlichen, ihre Steuerungsinstrumente an ebendiese konsumistischen Ansprüche der begehrten Bevölkerungsgruppe auszurichten. Hierdurch erhält die Wirtschaftsförderungspolitik, aber auch die Stadtpolitik insgesamt eine sozialraumgestaltende und interventionistische Ausrichtung. Die Gestalt der Stadt bzw. bestimmter Stadtquartiere an den Ansprüchen einer bestimmten Lebensstilgruppe (der Kreativen Klasse) auszurichten, bedeutet aber insbesondere, dieser Gruppe ein Vorrecht auf bestimmte hoch bewertete Räume einzuräumen. Dieser Logik folgend wird etwa Gentrification als durchweg positiver Wandlungsprozess von Stadtquartieren interpretiert, der die Herausbildung von quartiersspezifischen Alleinstellungsmerkmalen befördert und so dazu beiträgt, dem Quartier zu einem „trendig-kreativen“ Image zu verhelfen, das über die Stadtgrenzen hinausweist und weitere „Kreative“ anzieht. Da durch Gentrification die Bedürfnisse und Ansprüche von anderen, weniger durchsetzungsfähigen Gruppen (etwa alten Menschen, Migranten, Familien mit Kindern etc.) berührt und oftmals verletzt werden, ist mit der politischen Förderung der Kreativen Klasse gleichsam eine Politik der sozialen Exklusion verbunden. Allerdings muss für die empirische Anwendung von FLORIDAs Zugang zwischen dem Erklärungsanspruch seines Ansatzes einerseits und den kulturpolitischen Steuerungsansprüchen, die aus seinen Befunden abgeleitet werden, andererseits unterschieden werden. In der Rezeption seiner Schriften greifen diese Aspekte allerdings oftmals ineinander. Obgleich die Fragen nach der Art und Weise der planerischen „Politik für die Kreative Klasse“ interessant erscheinen, sind sie für die vorliegende Arbeit nur randlich von Bedeutung. Interessanter erscheint im 173
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Kontext der Fragestellung der Arbeit die Frage, ob und in welcher Weise mit einer Ausdifferenzierung einer Kreativen Klasse ein sozialräumlicher Differenzierungsprozess verbunden ist, der neue Formen sozialräumlicher Ungleichheit in Städten bewirkt. Daher wird im Folgenden nur auf weiterführende Ansätze Bezug genommen, die im Kontext der Empirie dieser Arbeit bedeutungsvoll erscheinen. FLORIDAs Befunde sind auf die Rolle der Regionen im nationalen Standortwettbewerb konzentriert. Vor dem Hintergrund einer internen Heterogenität von Regionen soll im Folgenden dargelegt werden, dass der Blick auf Regionen als Ganzes zu unscharf ist, wenn residenzielle Mobilitätsentscheidungen der Kreativen Klasse nachvollzogen werden sollen. Weiterführende Überlegungen hinsichtlich der internen Heterogenität von „kreativen Regionen“ kommen dabei insbesondere von MARKUSEN (2007). Ähnlich wie FLORIDA versteht auch MARKUSEN (2007) die Kreative Klasse, insbesondere im Hinblick auf das mit ihr angesprochene Humankapital, als Katalysator wirtschaftlicher Prosperität. Ausgehend von der Überlegung, dass in der Wissensgesellschaft im Gegensatz zur Industriegesellschaft eine große Zahl von Beschäftigten in der Lage ist, ihren Wohnstandort relativ unabhängig von Unternehmensstandorten zu wählen, wird die Standortpolitik von Unternehmen zukünftig in stärkerem Maße von Aspekten der Lebensqualität für die Mitarbeiter abhängen. Dies stellt auch die Standortpolitik von Städten und Regionen vor neue Herausforderungen und erfordert eine Verschiebung der stadtplanerischen Steuerungsstrategien von „harten Instrumenten“ wie dem Ausbau der Verkehrs- und Infrastruktur mit dem Ziel der Optimierung der Industrieansiedlung hin zu Beförderung der Standortqualitäten für wohnstandortmobile Bewohner. Städte und Regionen stehen zukünftig noch stärker als heute in einem Standortwettbewerb zueinander, der neben Strategien des regionalen Marketings einer Optimierung innerstädtischer Lebensqualität für die Bewohner bedarf: „I argue that especially for the urban core, industrial targeting is inadequate, [...] because it focusses on firms as decision-makers, many of which are caught up in the dispersal process. Cities should also engage in occupational targeting, recognizing that many skilled workers have some discretion about where they will live and work and that some show strong preferences for the urban core.“ (MARKUSEN 2007)
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Mit MARKUSEN ist also (wie auch mit FLORIDA) davon auszugehen, dass zukünftig die Standortentscheidungen der Unternehmen ebenfalls häufiger den Wohnortentscheidungen der hochqualifizierten Mitarbeiter folgen als umgekehrt. Um diesen Befund planungspraktisch in Wert zu setzen, bedarf es nach MARKUSEN aber erstens einer differenzierten Sicht auf die Heterogenität des Stadtraums selbst und zweitens eines tieferen Verständnisses für die Standortpräferenzen der (hochqualifizierten) Beschäftigten. Während Güter produzierende Unternehmen und Technologieunternehmen sowie ihre Mitarbeiter sich als suburban-orientiert erweisen, bevorzugen wissensbasierte Dienstleistungsunternehmen, die Medienbranche, oder die Kultur- sowie die Werbeindustrie und deren Mitarbeiter, innenstadtnahe Standorte (vgl. MARKUSEN 2007). Die Segmentierung des innerstädtischen Arbeitsmarktes, die von LÄPPLE (2006) beschrieben wurde, ist demnach auch auf bestimmte räumliche Strukturen projizierbar. Diese innerstädtisch differenzierende Perspektive steht im Gegensatz zu FLORIDA (2002; 2005), der in seinen Untersuchungen die Städte und Regionen als intern homogene Entitäten betrachtet. Hieran anzuschließen ist die Frage, inwiefern eine „modernisierte“ Sozialraumanalyse geeignet wäre, genau diese innerstädtische Heterogenität aufzudecken. Die Präferenz der Beschäftigten der wissens- und kulturbasierten Dienstleistungsunternehmen für innenstädtische Wohnstandorte führt MARKUSEN auf eine bessere Gelegenheitsausstattung sowie auf Skaleneffekte zurück, wie sie am Beispiel der Kreativen (in Minneapolis/St. Paul) herausarbeitet: Prinzipiell finden Kreative für die von ihnen angebotenen Güter und Dienstleistungen in Zentren, die im Allgemeinen auch Zentren des kulturellen Angebotes in Form von Theatern, Bühnen, Musikclubs, Galerien usw. sind, mehr Nachfrager. So tragen die Kreativen insbesondere auch zur Revitalisierung innerstädtischer Lagen und zur Stärkung der lokalen Ökonomie bei. Zentrales Kennzeichen der Kreativen Klasse ist die Präferenz für ein kreatives und vielfältiges sowie tolerantes Wohnumfeld, das sowohl die Entfaltung der Kreativität (auch durch den Kontakt zu anderen Kreativen) fördert als auch zur eigenen Konstitution der Identität als „Kreativer“ förderlich ist. Eine konsumatorische Ausrichtung des Lebensstils ist, wie bereits erörtert wurde, damit mitgedacht. Diese bedarf augenscheinlich einer Infrastruktur, die diesen Bedürfnissen entspricht. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass „durchkapitalisierte Konsumorte keine nachhaltigen Gelegenheiten darstellen, um untereinander zu kommunizieren, sich zu vernetzen und präsentieren zu können“ (LANGE 2007, S. 45). Kreativität erfordert ein entsprechen175
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des lokales Milieu, das zur Unterstützung dieses Lebensstils in der Lage ist. Ausgangspunkt für die Herausbildung eines solchen lokalen Milieus sind Großstädte. Ein entsprechendes Kultur-, Freizeit- und Bildungsangebot trifft hier auf eine entsprechende Nachfragergruppe. Durch die ungleiche Verteilung dieser Gelegenheiten über den Stadtraum ist auch eine räumliche Konzentration der Orte innerhalb der Stadt bedingt. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, allein die unterstützende Gelegenheitsdichte als Katalysator der Segregation der Kreativen Klasse anzusehen. Über die infrastrukturelle Raumausstattung hinaus ist vor allem auf den Distinktionsgewinn hinzuweisen, der durch das gegenseitige Versichern der unbedingten Gültigkeit von Werten wie Individualität, Selbstverwirklichungsstreben und nicht zuletzt Kreativität erzielt wird und einer raum-zeitlichen Basis mit „Bühnenfunktion“ bedarf. Geeignet für diese Bühnenfunktion erscheinen insbesondere die Stadtteile, die ein breites Publikum an „Zuschauern“ liefern. Gemäß der in Kapitel 2.2.1 diskutierten sozialräumlichen Differenzierung der Stadt nach Lebensstilgruppen wären dies insbesondere die B-Stadtteile, die von mehreren Lebensstilgruppen als gutes Wohnquartier bewertet werden und in denen genau die symbolischen Bezüge verräumlicht werden, die in dem sprachlichen Symbol „Diversity“ zum Ausdruck kommen: „In Stadtvierteln des Typs B, die für verschiedene Gruppen attraktiv sind, wird die Mischung der verschiedensten Lebensstile zum prägenden Element. Die Segregation erfolgt aufgrund von Einstellungen wie Toleranz oder Interesse am Fremden oder aufgrund des Bedarfs nach Toleranz (Randgruppen). Aufgrund der Heterogenität ihrer Bewohner bezüglich des Lebensstils werden sie mit Adjektiven wie bunt, lebendig oder multikulturell bezeichnet.“ (HERMANN/LEUTHOLD 2002, S. 4)
Die erforderliche symbolische und kontextuelle Einbettung der „Kreativen Klasse“ in ein Milieu ist damit sowohl sozial als auch räumlich zu verstehen. Der Wert von FLORIDAs Ansatz besteht in erster Linie darin, dass er auf diese sozialräumliche Verankerung der Wissensgesellschaft hingewiesen hat und diese empirisch belegen konnte. Der Annahme von einem „Entschwinden des Raums“ bzw. einer „spätmodernen Entankerung“ wird hierdurch eine Absage erteilt. Obgleich die zur Ausübung von Kreativberufen nötige technische Infrastruktur nahezu ubiquitär verfügbar ist und durch die Beschleunigung der Verkehrsmittel ein zentral gelegener Wohnstandort keineswegs unvermeidlich ist, lässt sich kein Bedeutungsverlust der Städte erkennen. Der Grund hierfür ist in den Wohnpräferenzen der Kreativen Klasse zu sehen. 176
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Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit FLORIDAs Zugang hebt die Rolle der Wohnstandortwahl der hochqualifizierten Arbeitskräfte als zentrales Moment für die wirtschaftliche Prosperität einer Region in Zeiten der Wissensgesellschaft hervor. Damit bietet er, bei aller Kritik an seinem methodologischen sowie methodischen Zugriff, einen Zugang zum Verständnis der Rolle von Regionen in einer sich globalisierenden, aber eben nicht ubiquitären Welt. Anders als klassische oder neoklassische Standorttheorien – und ebenfalls in Abgrenzung zu Netzwerk- oder Clustertheorien – bietet FLORIDA zudem einen alternativen Ansatz zum Verständnis für die Ursachen regionaler Disparitäten innerhalb eines Landes. Als hierfür bedeutsames zentrales und unabhängiges Kriterium für die Lagegunst benennt FLORIDA mit „tolerance“ eine normative Größe, deren milieuspezifische Ausprägung regional verschieden ist und die Faktoren wie „Weltoffenheit“, Bereitschaft zur Verschiedenheit und Multikulturalität umfasst. FLORIDA weist damit auf eine neue Dimension sozialer Ungleichheit hin, die zumindest im regionalen, eventuell aber auch im lokalen Kontext zu segregieren scheint. Mit „tolerance“ bzw. „diversity“ ist eine Werthaltung angesprochen, die am besten in einem kulturell vielfältigen und sozial heterogenen Umfeld zu verwirklichen ist. Diese Präferenzmuster finden in den großen Städten – und dort vor allem in den innenstadtnahen Altbauquartieren (B-Quartiere) – ihre Entsprechung. Zu erwarten ist also eine Segregation entlang einer evaluativen Differenzierungsachse der Gesellschaft, die als Lebensstilachse zu interpretieren ist. Wenn also die Kreativen Ansprüche wie „tolerance“ und „diversity“ an ihr Wohnumfeld stellen und in der Lage sind ihren Wohnstandort gemäß dieser Präferenzmuster auszuwählen, so ist die Entmischung von verschiedenen (fordistischen bzw. postfordistischen) Lebensstilen die zu erwartende Folge. Mit der „Kreativen Klasse“ ist ein bestimmter (vor allem normativer) Anspruch an das Lebensumfeld verbunden, der in dem Konzept der tolerance bzw. „openness to diversity“ zum Ausdruck kommt. „openness to diversity“ wird damit zur lebensstilvariaten Distinktionsachse der spätmodernen Stadtgesellschaft (vgl. POHL 2008). Des Weiteren ist FLORIDAs Ansatz für die vorliegende Arbeit von Bedeutung, da mit der Vorstellung, dass kreative Wissensarbeiter ein durch Toleranz und soziale Vielfalt geprägtes Lebensumfeld schätzen und nutzen, die Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt ebenjener „Kreativen“ bereits mitgedacht ist. Die Vorstellung einer Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt sowie einer damit einhergehenden Auf177
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hebung der räumlichen Trennung von (kreativer) Arbeit und (vielfältig gestaltbarer) Freizeit kann als zentraler Bestandteil des Lebensstils der „kreativen Wissensarbeiter“ verstanden werden: Das Vorhandensein einer hohen Vielfalt und Toleranz an einem Ort scheint als sozialer Fakt über die einzelnen Individuen hinauszuweisen. In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, diesen „fait sociaux“, der sich hinter der Idee regional verschieden ausgeprägter Toleranz verbirgt, auch kleinräumiger (auf Quartiersebene) zugänglich zu machen. Damit soll eine für die heutige sozialräumliche Differenzierung bedeutsame evaluative Lebensstildimension für die social area analysis fruchtbar gemacht werden.46 Des Weiteren soll so ein Verständnis von sozialräumlicher Differenzierung postfordistischer, wissensbasierter und auf Konvergenz von Arbeit und Leben beruhender Lebensstile einerseits, und fordistisch organisierter und auf der Trennung von Arbeits- und Lebenswelt beruhender Lebensstile andererseits erreicht werden. Hierdurch soll ein Zugang zur Analyse der Bedeutung „kreativer Milieus“ a) für sozialräumliche Differenzierungsprozesse und b) für die raum-zeitliche Organisation des Alltags (Zeitstrukturen) geschaffen werden. Im Kontext dieser Zielsetzung sei auf eine jüngst von DANGSCHAT (2007) benannte Forschungslücke verwiesen: „Aktuell wird intensiv über ‚kreative Milieus‘/‚Klassen‘ resp. ‚kreative Industrien‘ und ‚lernende Regionen‘ gesprochen, sei es, um sie als neues Phänomen zu beschreiben oder aber, um die im Sinne der Standortsicherung und -entwicklung zu instrumentalisieren. Bislang ist wissenschaftlich wenig über deren Entstehungsbedingungen und Stabilisierungen, ihre Raum- und Zeitmuster bekannt. Inwiefern sich diese neuartigen sozialräumlichen Konfigurationen im Sinne von ‚Industrien‘ oder aber zu zivilgesellschaftlichen Formationen nutzen und entwickeln lassen, ist noch wenig untersucht worden.“ (DANGSCHAT 2007, S. 45)
46 Vgl. zur Operationalisierung Kapitel 3.1. 178
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2.2.3. Städtische Rhythmen im Spannungsfeld von Beschleunigung und Entgrenzung Mit der Adaption der Untersuchungsergebnisse Richard FLORIDAs durch die Stadt- und Regionalplanung in Zeiten verstärkter Städtekonkurrenz stellt sich nicht nur die Frage nach geeigneten Steuerungsinstrumenten zur Beförderung der wirtschaftlichen Prosperität von Städten und Regionen. Die in Kapitel 2.2.1 beschriebene „Krise der Sozialraumanalyse“ zog auch die Frage nach sich, welches denn die heute als relevant zu erachtenden Determinanten der sozialräumlichen Organisation der Gesellschaft sind und welche planerische Relevanz gesellschaftlichen Großgruppen sowie Subkulturen beigemessen werden kann. Neben den in Kapitel 2.1.3 vorgestellten Ansätzen, die auf die räumlichen Bezüge sozialer Milieus bzw. Lebensstilgruppen fokussiert sind (vgl. CITY:MOBIL 1999; POHL 2003; SPELLERBERG 2007 u.a.), gewinnt in jüngster Zeit die Frage nach der zeitlichen Organisation der Gesellschaft an Bedeutung. Dieser Bedeutungszuwachs erscheint zunächst paradox: In der Spätmoderne, die, wie im einleitenden Kapitel dargestellt, durch die tendenzielle Ablösung der Produktion von Gütern durch die Produktion von Information in der sogenannten Wissensgesellschaft charakterisiert ist, erfährt die gesellschaftliche Beschleunigung durch die Möglichkeiten der technischen Kommunikation eine neue Qualität, die von manchen Autoren als „Entschwinden der Zeit“ beschrieben wird (vgl. GRABOW/HENCKEL 1988; ROSA 2005). Bedingt durch die internet- oder telefonbasierte Kommunikation nimmt die Übermittlung von Information über weite Distanzen so gut wie keine Zeit mehr in Anspruch. Parallel zu diesem Trend der „Entzeitlichung“ kann aber auch ein Bedeutungsverlust des Raumes („Entankerung“) diagnostiziert werden. So lassen sich etwa anhand von Zeitkarten „Raumschrumpfungsprozesse“ aufzeigen, die aus einer Beschleunigung der Verkehrsmittel resultieren. Die zur Raumüberwindung erforderliche Zeit wird stetig weiter verkürzt, sodass sich – gemessen in Zeiteinheiten – räumlich weit entfernte Orte einander annähern (vgl. WEGENER/SPIEKERMANN 2002, S. 131ff.; HARVEY 1990, S. 201ff.; GEISSLER 2007, S. 33). Diese „moderne Grunderfahrung der Raumvernichtung“ (ROSA 2005, S. 164) veranlasst ROSA dazu, der Zeit gegenüber dem Raum eine Vorrangstellung einzuräumen. Raumstrukturen sind seiner Meinung nach eine Folge der Veränderungen der Temporalstrukturen (ebd., S. 63). In diesem Kapitel soll die Bedeutung von Veränderungen zeitlicher Strukturen für städtische Teilgebiete diskutiert werden. Der für diese Arbeit wichtigste Zugang, der sich mit den räumlichen Auswirkungen 179
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einer sich verändernden gesellschaftlichen Zeitorganisation befasst, ging von der Forschergruppe um Dietrich HENCKEL aus (GRABOW/HENCKEL 1988; HENCKEL et al. 1989; HENCKEL 1995, 2000, 2007; EBERLING/ HENCKEL 2002a/b u. a.). Der empirische Teil der vorliegenden Arbeit baut auf diesem Forschungsansatz auf. Daher erfolgt eine Konzentration auf die analytische Perspektive dieses Ansatzes. Die zeitpolitischen Regulationsbestrebungen, die auf die Etablierung einer lokalen und regionalen Zeitpolitik gerichtet sind und ebenfalls von HENCKEL (aber auch anderen zeitpolitisch interessierten Forschern) hervorgehoben werden, werden hingegen nur am Rande behandelt.
Sozialräumliche Organisation der Zeiten in der Stadt Resultierend aus dem Wechsel von (täglichen) Aktivitäts- und (nächtlichen) Ruhezeiten lassen sich in Städten rhythmisch wiederkehrende Phänomene beobachten. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die alltägliche „Rushhour“, die aus räumlicher Perspektive durch die funktionale Differenzierung innerstädtischer Quartiere und aus zeitlicher Perspektive durch kollektiv geteilte Arbeitszeiten erklärbar ist. Die eingangs dieser Arbeit beschriebenen Flexibilisierungstendenzen der Arbeitsbeziehungen geben Anlass zu der Vermutung, dass sich auch städtische Alltagsrhythmen in einem strukturellen Wandlungsprozess befinden, zumindest aber eine Überformung erfahren. Zu diesen den Flexibilisierungstendenzen der Arbeitswelt zugeschriebenen zeitlichen Entgrenzungsphänomenen treten neue technologische Entwicklungen hinzu, die die Beschleunigung von Produktions- und Kommunikationsprozessen ermöglicht haben. Die „Erkenntnis, dass sich neue Arten der Produktion, der Kommunikation, der Dienstleistung oder der Informationsverarbeitung direkt auf der kommunalen Ebene niederschlagen und Auswirkungen auf Verkehr, Standortwahl, Flächennutzung etc.“ (GRABOW/HENCKEL 1988, S. 150) haben, stellt die Frage nach der Bedeutung von technischen Innovationen für die gesellschaftlichen Zeitordnungen auch in ihrer lokalen Dimension. Der Stadt, die als Innovationszentrum für technische wie soziale Neuerungen gelten kann, kann dabei eine besondere Vorreiterrolle beigemessen werden: In ihr müssten sich räumliche Auswirkungen der „neuen Arten der Produktion“ zuerst zeigen. Zudem stellt sich die Frage, ob sich Veränderungen der gesellschaftlichen Zeitbezüge auf die Differenzierung des Stadtraums auswirken. Ähnlich der zuvor vorgestellten sozialräumlichen Differenzierung kann eine zeitbezogene Differenzierung des Stadtraums in aktivere und 180
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weniger aktive, in schnellere und langsamere sowie in tageszeitlich unterschiedlich intensiv getaktete Teilräume angenommen werden. Als Katalysator für diese „Verzeitlichung unserer Gesellschaft“ (ebd., S. 151) und die damit verbundene institutionelle Bedeutung zeitlicher Taktung fungiert GRABOW/HENCKEL (1988) zufolge die Ökonomie, unterstützt durch die mit ihr verbundene technologische Entwicklung: „In der heutigen Gesellschaft sind Wirtschaft und Technik zu den wesentlichen Taktgebern geworden. Zeit wird als abstraktes Element des Wirtschaftens begriffen, als ökonomische Ressource. Das Verständnis der Zeit als ein zu bewirtschaftendes Element geht einher mit der in abendländischen Kulturen vorherrschenden linearen Zeitauffassung. Zeit wird begriffen als stetige Abfolge, als logisches Aufeinanderfolgen von Vorher – Nachher, von Ursache und Wirkung“ (ebd., S. 151). 47 GRABOW/HENCKEL (1988) unterscheiden drei Tendenzen der Zeitentwicklung, deren Ursache sie in der Technikentwicklung in den westlichen Industriegesellschaften sehen: Erstens das „Entschwinden der Zeit“, das sich durch die Substitution von Warentransport durch Informationsübermittlung ergibt. Dieser Prozess geht zweitens einher mit der „zeitlichen Verdichtung“, die die Beschleunigungsprozesse der Arbeitsabläufe beschreibt. Drittens erfährt die Gesellschaft eine „Vertaktung“, indem „die Zeit des einzelnen und die der Gesellschaft mehr und mehr […] in einzelne Bausteine [zerlegt wird, (T.P.)], die mit klar umschriebenen Funktionen und Inhalten belegt sind“ (ebd., S. 154). Durch die Technologieentwicklung werden GRABOW/HENCKEL zufolge zwei sich scheinbar widersprechende zeitliche Veränderungen ermöglicht: zum einen der Prozess der Entkoppelung (womit das Funktionieren von Produktionssystemen ohne menschliche Einwirkung gemeint ist), zum anderen der Prozess der Synchronisierung (der die zeitliche Abstimmung technischer Systeme aufeinander beschreibt). Dieser zunächst noch recht einseitig auf die technische Entwicklung als auslösendes Moment zeitlicher Reorganisation und Entgrenzung konzentrierten Sichtweise fügen EBERLING/HENCKEL später drei weitere Dimensionen hinzu (ebd., 2002a, S. 33ff.): Erstens ist dies die ökonomische Entwicklung, die bedingt durch die Internationalisierung von Unternehmen eine abnehmende Bedeutung nationaler Zeitordnungen für unternehmerisches Handeln erkennen lässt. Zudem bewirkt der mit der Internationalisierung einhergehende verstärkte Konkurrenzdruck die Notwendigkeit zur Beschleunigung der
47 Vgl. zu unterschiedlichen Zeitauffassungen sowie zur Tendenz der Linearisierung der Zeit seit der Moderne Kapitel 2.1.4. 181
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Produktionsprozesse, um durch Just-in-time-Produktion die Opportunitätskosten geringzuhalten. Zu dieser Veränderung der Akkumulationsweise tritt zweitens die Deregulierungspolitik nahezu aller westlichen Regierungen hinzu. Diese politische Entwicklung ist ebenfalls durch einen Abbau zeitlicher Regulierungen gekennzeichnet. Der Anspruch zur zeitlichen Steuerung gesellschaftlicher Prozesse ist im Zuge dieser ökonomischen Liberalisierungswelle immer weniger gegeben. 48 Während die Ausweitung der Kommunikation, die Internationalisierung von Unternehmen sowie die Deregulierungspolitik der westlichen Regierungen als Teilaspekte der (ökonomischen) Globalisierung aufzufassen sind, führen EBERLING/HENCKEL (2002, S. 35) schließlich auch soziale Entwicklungen als auslösendes Moment zeitlicher Entgrenzungsprozesse an. Bedingt durch die gesellschaftliche Individualisierung kommt es zu einer Veränderung der normativen Vorstellungen über die Zeitordnung. Kollektiv geteilte, für alle gültige und damit starre tages-, wochen- oder jahreszeitliche Rhythmen werden demnach als Hindernisse für Individualisierungsprozesse begriffen. Hinzu tritt die Veränderung der Geschlechterrollen, die eine Nachfrage nach von der Normalarbeitszeit abweichenden Arbeitsverhältnissen induziert und so tendenziell zur Auflösung kollektiv geteilter Zeitrhythmen beiträgt. Kollektiv geteilte Zeitrhythmen oder auch Zeitkonventionen sind aller Wahrscheinlichkeit nach entstehungsgeschichtlich der Moderne zuzurechnen. War der „Takt des Alltags“ in der Vormoderne vor allem durch Tag- und Nachtphasen und durch verschiedene Jahreszeiten vorgegeben, ermöglichten technische Innovationen wie das elektrische Licht eine weitgehende Unabhängigkeit von natürlichen Zeitvorgaben. Hierdurch wurden von Menschen gestaltbare Zeittaktungen (z.B. Schichtarbeit, Arbeitszeitregelungen) überhaupt erst verhandelbar. Insgesamt kann für die Moderne ein Bedeutungsverlust „natürlicher“ Zeitstrukturen und ein Bedeutungsgewinn institutioneller Zeitregulierungen angenommen werden (vgl. EBERLING 2002). Wenn diese kollektiven Zeitnormen der Moderne nun vor dem Hintergrund des spätmodernen Wandels neuerlich zur Disposition stehen bzw. unter dem Eindruck einer positiven Bewertung von Werten wie „Flexibilität“ neu verhandelt werden, so stellt sich die Frage nach der Verteilung der Macht über die zeitlichen Rahmenbedingungen von Gesellschaften.
48 Als Beispiele für diesen abnehmenden sozial-zeitlichen Steuerungsanspruch lassen sich in Deutschland die Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes sowie die Rücknahme der gewerkschaftlich errungenen Arbeitszeitregulierungen in den letzten Jahren anführen. 182
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Zwar spielen auch heute noch natürliche Taktgeber wie der Wechsel der Jahreszeiten oder die Ablösung von Tag und Nacht eine Rolle. Die neuen „künstlichen“ Taktgeber gewinnen jedoch nach EBERLING (2002) seit Beginn der Moderne stetig an Bedeutung. EBERLING (2002) unterscheidet hierbei institutionelle (gesetzliche Regelungen), soziokulturelle (Religion und zivilgesellschaftliche Verbände) und ökonomische Taktgeber voneinander. Waren die Regulierungsbestrebungen in der Moderne auf eine Vereinbarkeit von institutionellen, soziokulturellen und ökonomischen Taktgebern ausgerichtet, verlieren inzwischen – so seine zentrale Hypothese – die institutionellen und soziokulturellen Taktgeber gegenüber den ökonomischen Taktgebern mehr und mehr an Bedeutung. Während die institutionellen und die soziokulturellen Taktgeber als Instanzen gesellschaftlicher Regulation zu interpretieren sind, befördern die ökonomischen Taktgeber als Vertreter des Akkumulationsregimes die Deregulierung zeitlicher Normen. Die von EBERLING (2002) vorgebrachte Position findet im politisch derzeit dominanten Trend zur (Zwangs-)Flexibilisierung von Arbeitszeiten ihren Ausdruck: Ladenschlussregelungen stehen zur Disposition, ebenso die Steuerfreiheit bzw. Zulagen für Wochenend- und Nachtarbeit. Diese Bedeutungsverschiebung weg von den institutionellen sowie den soziokulturellen Taktgebern in Richtung eines Bedeutungszuwachses ökonomischer Taktgeber werden von gesellschaftlichen Rahmentrends flankiert, die für den spätmodernen Wandel als kennzeichnend gelten können. Die gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung sind eine deutliche „Komplexitätssteigerung im Bereich der sozialen Synchronisation“ (EBERLING/HENCKEL 2002, S. 36), eine Zunahme gesellschaftlicher Zeitkonflikte und insbesondere „veränderte Anforderungen an den Raum, die sich unter anderem ausdrücken in der Individualisierung der Verkehrsmittelwahl, neuen Standortwahlmustern bei Haushalten und Betrieben, neuen Konfigurationen der funktionalen Spezialisierung und Integration, veränderten Verträglichkeiten unterschiedlicher Funktionen“ (ebd., S. 37). Parallel zum Wandel der zeitlichen Bedingungen des Alltags kann auch eine Veränderung der räumlichen Bedingungen der Alltagsorganisation diagnostiziert werden: Trotz der Beschleunigung der Verkehrsmittel bleiben die Zeiten, die für Mobilität aufgewendet werden, im besten Fall konstant. Tendenziell kann sogar eine Zunahme der Zeit, die für Mobilität verwendet wird, zwischen 1992 und 2002 festgestellt werden (vgl. KRAMER 2005, S. 194ff.), sodass eine deutliche Ausweitung der Aktionsräume festzustellen ist (vgl. hierzu auch: EBERLING/HENCKEL 2002, S. 39). 183
ENTGRENZTE STADT
Tabelle 4: Typisierung von „Zeit-Räumen“ in der Stadt Gebietstyp
Beschreibung
Aktivitätsrhythmus
Zitadellen der Kontinuität
Kontinuierlich aktive 24/7Zonen (24 Stunden, 7 Tage)
Vollständig entgrenzt, keine definierten Rhythmen
Funktional gemischte Gebiete
Überlagerung vielfältiger Nutzungen durch verschiedene Nutzergruppen (Wohnen, Arbeiten, Freizeit)
z.T. entgrenzte Zeiten, polyrhythmisch
Fordistische Industriegebiete
Massenbewegungen zu definierten „Stoßzeiten“
z.T. entgrenzte Zeiten, starre Rhythmen
Schlafstädte
Extremer Wechsel von Tag und Nachtbevölkerung; monofunktional auf Wohnen ausgerichtet
Weitgehend kollektiv geteilte Zeiten, starre Rhythmen
Verkehrsknoten
Überlagerung verschiedener Verkehrsträger, Anlagerung einer unterstützenden Dienstleistungsökonomie
Entgrenzte Zeiten, unterschiedlich ausgeprägte Rhythmik
Bankenviertel und CBD
Geringe funktionale Differenzierung (ausschließlich Arbeiten und Versorgung)
Weitgehend kollektiv geteilte Zeiten, starre Rhythmen
Marienthalghettos
Niedergangsgebiete mit extrem hoher Arbeitslosigkeit
Auflösung zeitlicher Strukturen und Individualisierung von Rhythmen
Quelle: EBERLING/HENCKEL (2002, S. 313f.); ergänzt
Diese räumlichen Folgen treten allerdings nicht universell auf, sondern konzentrieren sich an bestimmten Orten in Abhängigkeit ihrer branchenstrukturellen Ausgangslage (vgl. EBERLING/HENCKEL 2002, S. 308). Vorreiter dieser Entwicklung sind dabei städtische Agglomerationen mit einem hohen Anteil an Branchen mit stark deregulierten Arbeitsbeziehungen sowie Standorte international vernetzter Unternehmen, die somit zu „Zentren kontinuierlicher Aktivität“ werden. Doch auch innerhalb dieser städtischen Agglomerationen ist eine deutliche Ausdifferenzierung der „Zeiten in der Stadt“ wahrscheinlich. Analog zu der in Kapitel 2.2.1 vorgestellten sozialräumlichen Strukturierung der Stadt kann eine zeitliche Strukturierung der Stadt angenommen werden, wobei sich „die zeitliche Struktur eines Gebietes […] aus seiner räumlichen Typisierung nicht ohne weiteres ablesen lässt“ (ebd., S. 312). 49 EBERLING/HENCKEL (2002) schlagen ausgehend von heuristischen Überlegungen eine Klassifizierung idealtypischer „Zeit-Räume in
49 Eine solche empirische Analyse der „Chronotopen“ einer Stadt – also der Zusammenhang von zeitlichen mit räumlichen Strukturen – ist bis dato noch nicht entwickelt worden und folglich auch Teilziel der vorliegenden Arbeit. 184
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der Stadt“ vor, die einen terminologischen Orientierungsrahmen zur Benennung von Chronotopen bieten kann (vgl. Tabelle 4). Aus den Beschreibungen der jeweiligen Gebietstypen lassen sich Erkenntnisse über die in ihnen vorherrschenden täglichen Aktivitätsrhythmen ableiten. Wenngleich die von EBERLING/HENCKEL vorgeschlagene Typisierung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und nur einen heuristischen Charakter hat, lässt sich hieraus ein Analyserahmen zur Erfassung der zeitlichen Strukturierung städtischer Teilgebiete entwickeln. So können etwa fordistisch geprägte Areale der Stadt von spätmodernen Gebieten unterschieden werden. Während Erstere ein hohes Maß an Synchronisation aufweisen und durch starre Rhythmen geprägt sind, sind Letztere die Quartiere, in denen zeitliche Entgrenzungsprozesse mit polyrhythmischen Mustern zusammentreffen. Darüber hinaus lassen sich zeitliche Entgrenzungsprozesse auch in Quartieren feststellen, in denen fordistische Strukturen vorherrschen, was am Beispiel der Industriegebiete deutlich wird. Im Unterschied zu den spätmodernen und zeitlich entgrenzten Quartieren mit einer vielfältig ausgeprägten Rhythmik weisen diese fordistischen Areale aber kaum einander überlagernde Rhythmen auf, sondern sind durch deutliche Massenbewegungen (etwa zu den Zeiten des Schichtwechsels) gekennzeichnet. Dabei scheinen sich der Grad an funktionaler Differenzierung einerseits sowie die zeitliche Struktur eines städtischen Teilgebietes andererseits wechselseitig zu bedingen: EBERLING/HENCKEL vermuten, dass städtische Quartiere dann besonders durch die Auflösung kollektiver Rhythmen sowie eine zeitliche Entgrenzung gekennzeichnet sind, wenn sie eine hohe funktionale Vielfalt aufweisen. In monofunktionalen Quartieren ist dagegen in der Regel von einer Persistenz eines deutlichen Wechsels von Aktivitäts- und Ruhezeiten auszugehen. Diese Areale, beispielsweise reine Wohngebiete, sind kaum von zeitlichen Entgrenzungen betroffen; kollektive Zeitnormen der fordistischen Ära gelten hier nach wie vor. 50 Entscheidend für die Betrachtung der Veränderung gesellschaftlicher Zeitstrukturen in der Spätmoderne ist also, dass sich „zeitliche Veränderungen [...] räumlich unterschiedlich nieder [schlagen, (T.P.)]. Ausgehend von der Ausgangsverteilung von Branchen, sind zwangsläufig Räume, in denen sich ausdehnungsaffine
50 Eine Ausnahme wäre hier der rein durch die Wohnfunktion geprägte Typus des „Marienthal-Ghettos“, in dem durch die Arbeitslosigkeit eines Großteils der Bewohner die Erwerbsarbeit ihre Funktion als Taktgeber verliert. Aufgrund fehlender kollektiver Zeitinstanzen kann eine Erosion der ehemals monochronen Zeitstruktur vermutet werden. 185
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Betriebe ballen, von Ausdehnungstendenzen 51 in besonderer Weise betroffen“ (HENCKEL 2007, S. 141). Der Typus der „Zitadelle der Kontinuierlichkeit“ markiert dabei das Ende einer idealtypischen Entwicklung spätmoderner Auflösungstendenzen kollektiv geteilter Zeiten in funktionsgemischten Quartieren. Diesen Orten der totalen zeitlichen Entgrenzung kann demzufolge ein Prototypcharakter zugeschrieben werden, der eine Art Versinnbildlichung des gesamtgesellschaftlichen Trends zur Auflösung kollektiver Rhythmen darstellt und zukünftig – so die Annahme – vor allem in den Städten verstärkt zu finden sein wird: „In der Tendenz ist [...] auf dem Weg in die kontinuierlich aktive (rund-um-die-Uhr) Gesellschaft eine zunehmende Überformung des Tag-Nacht-Rhythmus vor allem in den Städten zu konstatieren“ (HENCKEL 1995). Mit dieser Diagnose verbindet HENCKEL (in Analogie zur Zeitgeographie und Aktionsraumforschung, die auf eine Optimierung der Zugänglichkeiten zu Gelegenheiten gerichtet sind) auch die Formulierung eines sozial inspirierten zeitpolitischen Steuerungsbedarfs: „Das Schlagwort der ‚kontinuierlichen Gesellschaft‘ kennzeichnet wohl am besten die Zukunftsvision, der wir zustreben, sofern nicht gegensteuernd eingegriffen wird. Und dass dies notwendig ist, daran besteht aus unserer Sicht kein Zweifel“ (GRABOW/HENCKEL 1988, S. 153). Ein Steuerungsbedarf ergibt sich dabei insbesondere aus den miteinander konkurrierenden Ansprüchen an funktionsgemischte Quartiere: „Insgesamt kann man feststellen, dass insbesondere funktionsgemischte Quartiere unter den gegenwärtigen Bedingungen des zeitlichen Ausdehnungsdrucks diesen eher verstärken. Dadurch entstehen allerdings Verträglichkeitsprobleme, wenn sich unterschiedliche Rhythmen überlagern – etwa wenn die Rhythmen derer, die lange in dem Quartier arbeiten, und derer, die sich vergnügen wollen, mit den Ruhebedürfnissen der dort Wohnenden nicht vereinbar sind. (Dadurch kann sich ein Steuerungsbedarf ergeben – sei es raumplanerischer, sei es zeitsteuernder Art.)“ (EBERLING/HENCKEL 2002, S. 311)
51 Anstelle des Begriffs der zeitlichen Entgrenzung verwendet HENCKEL den Terminus „Ausdehnung“. Wie die Entgrenzungsmetapher beschreibt auch der Ausdehnungsbegriff sowohl räumliche als auch zeitliche Veränderungen: „Die zeitliche Ausdehnung geht mit der räumlichen Ausdehnung Hand in Hand. Zeitersparnisse durch Beschleunigung werden zu einem großen Teil in mehr Fahrten und größere zurückgelegte Entfernungen umgesetzt [...]“ (ARL 2002, S. 21). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der „Entgrenzung“ bevorzugt, da er stärker als der Begriff der „Ausdehnung“ das Überwinden ehemals festgelegter zeitlicher Konventionen (also: „Zeit-Grenzen“) zum Ausdruck bringt. 186
RAUM, ZEIT UND ALLTAG
Obgleich schon 1988 die politische Regulation der Zeitnormen gefordert wurde, findet dieser zeitpolitische Gestaltungsanspruch in Deutschland erst ab etwa 2002 mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik einen breiteren institutionalisierten Ausdruck.52 In den letzten Jahren ist eine Reihe von Schriften publiziert worden, die eine zeitpolitische Regulation fordern, um der von den ökonomischen Taktgebern forcierten Entgrenzung und Flexibilisierung der Arbeitszeiten steuernd zu begegnen (vgl. GEISSLER 2006, 2007; RINDERSPACHER 1990, 2000; MÜCKENBERGER/TIMPF 2007). Allerdings ist bislang noch wenig über die sozialräumliche Bedeutung zeitlicher Veränderungen bekannt, vor allem weil quantitative empirische Studien zu Zeitstrukturen in Städten bis dato weitgehend fehlen. Im besonderen Maße trifft diese Diagnose einer bestehenden Forschungslücke auf die sozioökonomischen Effekte zeitlicher Veränderungen zu (vgl. HENCKEL 2007, S. 120ff.). Als Katalysator der Veränderungen der Zeitstrukturen kann der Übergang von einer (hinsichtlich ihrer Alltagsrhythmen) fordistisch organisierten Industriegesellschaft zur postfordistischen Wissensgesellschaft gelten. Die Branchen der unternehmensbezogenen Dienstleistungen sind in besonderem Maße durch die Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeitszeiten gekennzeichnet (vgl. HENCKEL 2007, S. 124). Dabei sind tendenziell nicht nur die klassischen Arbeitstage (Montag bis Freitag) von der Entwicklung zur zeitlichen Entgrenzung berührt – vielmehr finden auch im Privatleben zeitstrukturelle Veränderungen statt, deren Ursache in einem „allgemeinen Ökonomisierungstrend [...], der immer mehr Lebensbereiche beeinflusst und der auch die Zeit immer stärker erfasst“ (HENCKEL 2007, S. 124) zu sehen ist. Diese Gesellschaftsdiagnose HENCKELs ist im Zusammenhang mit der Debatte um die Konvergenz von Arbeit und Leben zu verstehen (vgl. Kapitel 2.1.4). KRAMER (2005) hebt vor allem die Erosion des Wochenendes als „freie Zeit“ als zentrale Folge einer fortschreitenden Entgrenzung der Arbeitszeit hervor: „Der moderne ‚flexible‘ Umgang mit der Arbeitszeit betrifft bisher weniger den Jahresrhythmus, auch in geringerem Maße nur den tageszeitlichen Rhythmus, da diesem immer noch ‚natur52 Im internationalen Kontext besteht zum Teil eine längere Tradition der zeitpolitischen Regulation, auch wenn dies nicht in jedem Fall konkret als „Zeitpolitik“ benannt wurde. So kann etwa der planerische Gestaltungsanspruch der Zeitgeographie der Lund-Schule (vgl. Kapitel 2.1.1) als Zeitpolitik in den 1970er Jahren gelten. In den 1980er Jahren entstanden in einigen Städten Italiens soziale Bewegungen, die auf eine Verbesserung der zeitlichen Alltagsorganisation ausgerichtet waren („tempi della città“ – „Zeiten der Stadt“). Vgl. hierzu: BONFIGLIOLI 2000; HEITKÖTTER 2007. 187
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bedingte‘ Schlaf- und Wachphasen gegenüberstehen, sondern er wirkt sich vor allem im Wochenrhythmus aus. Die Einteilung der Woche in sieben Tage, von denen für die Mehrheit der Bevölkerung zwei Tage frei sind, ist eine Einteilung, die religiös-kulturellen Ursprungs ist, und der keine ‚natürliche‘ Grenze gesetzt ist“ (KRAMER 2005, S. 85). Vor diesem Hintergrund ist nicht nur von einer zeitlichen Flexibilisierung und Entgrenzung der tageszeitlichen Aktivitätsrhythmen, sondern zusätzlich noch von einer Überformung der Wochenrhythmen in der Stadt der Spätmoderne auszugehen. Die Folgen dieser Entwicklung dürften insbesondere für Familien spürbar sein, da die gemeinsamen Zeiten an den freien Wochenenden zur Disposition stehen. Mit welchen Konsequenzen verschiedene in der Stadt lebende Gruppen (etwa unterschiedliche Haushaltstypen, Lebensstilgruppen etc.) durch die zeitliche Entgrenzung und Flexibilisierung konfrontiert sind, kann aufgrund des Ansatzes der Forschergruppe um HENCKEL allerdings nur implizit erschlossen werden. Ebenso ist offen, inwiefern der soziale Wandel, der ja neben der technologischen und ökonomischen Entwicklung sowie der Deregulierungspolitik als Auslöser zeitlicher Entgrenzungsprozesse zu sehen ist (vgl. EBERLING/HENCKEL 2002), durch eine Pluralisierung der Zeitverwendungsstile selbst zur „zeitlichen Verdichtung“ oder zur „Vertaktung“ beiträgt. Mit der Veränderung der städtischen Ökonomie und dem Bedeutungszuwachs der Informationsund Kommunikationstechnologie in Zeiten der Globalisierung wird von EBERLING/HENCKEL zwar der Übergang zur Wissensgesellschaft angedeutet, was auf eine besondere Rolle der Arbeitskontexte verweist. HENCKEL hebt hier vor allem die besondere Rolle der unternehmensbezogenen Dienstleistungen für die Veränderung der Temporalstrukturen hervor. Die Debatten um die Ausdifferenzierung der Geschlechterarrangements in Paar- und Familienhaushalten oder die Bedeutung der Pluralisierung von Lebensstilen in der Spätmoderne werden allerdings nicht im Hinblick auf ihre Bedeutung für die „zeitliche Zersiedelung“ (GRABOW/HENCKEL 1989) betrachtet. So weisen EBERLING/HENCKEL (2002) zwar auf den sozialen Wandel als auslösendes Moment zeitlicher Restrukturierung hin, konzentrieren sich aber schwerpunktmäßig auf die Rolle der ökonomischen Entwicklungen und der Technologie. Dieses Übersehen einer möglichen Funktion der sozialen Differenzierung für die Temporalstrukturen stellen auch DANGSCHAT/HAMEDINGER (2007) fest: „Während bei HENCKEL und EBERLING (2002) noch vom ‚Mensch an sich‘ resp. vom allgemeinen sozialen Wandel die Rede ist, stellt sich im Kontext der veränderten Formen sozialer Ungleichheit die Frage nach der sozialen Selektivität dieser neuen Zeitmuster. Sie werden einerseits durch 188
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Merkmale sozialer Ungleichheit in unterschiedlicher Weise gebildet und wirken sich andererseits möglicherweise ungleichheitsverstärkend aus“ (ebd., S. 13). Gerade wenn also soziale Differenzierung resp. die soziale Ungleichheit in Städten auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimension betrachtet werden soll, bedarf es einer Erweiterung der (ansonsten sehr fruchtbaren) Forschungsperspektive von HENCKEL und EBERLING. Hierauf wird in Kapitel 3 wieder Bezug genommen.
Empirische Erfassung von Temporalstrukturen in der Stadt Wie aus den vorhergehenden Ausführungen deutlich wurde, verbleiben die bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit Temporalstrukturen in Städten befassen, im Wesentlichen auf einer heuristischen Betrachtungsebene sowie auf der Ebene allgemein beschreibender Modelle. Insbesondere sind konkrete empirische Studien, die eine Regionalisierung von Zeitzonen in bestimmten Städten mit quantitativen Methoden vornehmen, bislang nicht durchgeführt worden. Angesichts der Entwicklungen auf dem Sektor der Geographischen Informations-Systeme (GIS) insbesondere in der jüngsten Dekade, mit deren Hilfe derartige Analysen auch an Arbeitsplatz-PCs technisch durchführbar wurden, mag dies verwundern. Der Hauptgrund hierfür dürfte im Fehlen geeigneter methodologischer Zugriffe (und damit auch: methodischer Ansätze) liegen: Wie nicht direkt in der physischen Welt sichtbare Phänomene wie „Zeitstrukturen“, „Zeitregime“ oder „Aktivitätsrhythmen“ anhand geeigneter Indikatoren operationalisierbar und damit kartographisch erfassbar sind, liegt nicht ohne weiteres auf der Hand. Darüber hinaus sind Indikatoren, die die Messung von Zeitstrukturen mittels quantitativer Methoden erlauben würden und auf konkrete geographische Koordinaten bezogen werden können, bis dato nur spärlich verfügbar. 53 Schließlich mag auch die derzeit in weiten Teilen der Humangeographie vorherrschende Distanz zu „räumelnden“ Ansätzen dem Einsatz von GIS-Tools für die sozialgeographische Stadtforschung aus prinzipiellen Erwägungen im Wege stehen. Die wenigen empirischen Arbeiten, die Zeitstrukturen und Zeitorganisation in Städten zum Thema haben, lassen sich im Wesentlichen in zwei Forschungsfelder untergliedern. Zum einen sind in den letzten Jahren Versuche unternommen worden, die klassische Zeitgeographie der Lund-Schule (vgl. Kapitel 2.1.1)
53 Eine Ausnahme bildet der Datensatz „Mobilität in Deutschland 2002“, s. Kapitel 3.2 sowie Kapitel 5 dieser Arbeit. 189
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wiederaufzunehmen und aus modellorientierter Perspektive mit Hilfe von GI-Systemen konkrete Analysewege zur Erreichbarkeit von Gelegenheiten aufzuzeigen (vgl. exemplarisch für diese Forschungsrichtung: AHMED/MILLER 2007; KWAN/JANELLE/GOODCHILD 2003; MILLER 2004, 2005, 2006; RAUBAL/MILLER/BRIDWELL 2004; YU 2006; YU/SHAW 2007). Diese Zugänge basieren zwar auf quantitativen Methoden, führten jedoch bislang nicht zu einer (geostatistischen) Regionalisierung von Zeitzonen, sondern verblieben auf der Ebene von Personen oder Personenaggregaten als Erkenntnisgegenstand. Zum anderen wurden Regionalisierungen von Zeitstrukturen in Städten unternommen, die sich an der kartographischen Erfassung von Taktgebern orientieren oder auf der Basis stochastischer Modelle entwickelt wurden (vgl. STABILINI/BONFIGLIOLI o.J.). Diese „Chronomaps“ 54 sind bisher vor allem für italienische Städte (Rom, Pesaro, Bologna, Bozen, Mailand) erstellt worden, was auf die im internationalen Vergleich weit fortgeschrittene Implementierung lokaler Zeitpolitik in Italien zurückführbar ist. In Deutschland wurden ChronomapUntersuchungen vor allem in Stadtteilen Bremens realisiert (Sebaldsbrück, Vegesack); auch bei diesen Repräsentationen waren lokale Taktgeber der Betrachtungsgegenstand. Zugänge, die eine Regionalisierung von Temporalstrukturen aus der Taktnehmerperspektive (Bewohner, Beschäftigte, Einkaufspendler, Touristen etc.) in den Vordergrund stellen, sind bisher kaum vorgenommen worden. Eine Ausnahme bildet die Mental-Map-Untersuchung wahrgenommener Zeitstrukturen in einem Stadtviertel in Bremen (Stephaniviertel) von MÜCKENBERGER/BAUMHEIER/POHL (2008). Diese explorative Studie operiert allerdings mit einer relativ kleinen Fallzahl. Gesamtstädtische Chronotop-Analysen, die etwa auf die Entdeckung der von HENCKEL/EBERLING (2002) genannten „Zeit-Räume“ (siehe Tabelle 4) gerichtet wären und auf einem quantitativ-statistischen strukturentdeckenden Verfahren beruhen, sind demgegenüber bislang noch nicht durchgeführt worden. In Kapitel 3 wird daher eine geeignete
54 MÜCKENBERGER (2004) versteht unter Chronomaps ganz allgemein alle kartographischen Darstellungen, die soziale sowie kulturelle Beziehungen und Bindungen in Bezug zu zeitbezogenen Informationen setzen. Die Definition von STABILINI/BONFIGLIOLI (o.J.) ist noch weiter gefasst: „A map is a chronographic map when objects represented describe one or more temporal variables“ (ebd., S. 3). Ausgehend von einer erkennbaren Anschlussfähigkeit von Chronomaps an die Theorie der Strukturierung lassen sich Chronomaps als kartographische Abbildungen oder Bildsequenzen verstehen, mit deren Hilfe die raum-zeitliche Strukturierung spezifischer Orte repräsentiert werden kann (vgl. hierzu ausführlicher: POHL 2009). 190
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Methode zur Regionalisierung von Zeitzonen in der Stadt entwickelt, die in Kapitel 5 am Beispiel Hamburgs zur Anwendung gelangen soll.
Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit Die Veränderungen der Temporalstrukturen in der Spätmoderne können mit den eingangs dieser Arbeit dargestellten Begriffen der Flexibilisierung, Entgrenzung und Beschleunigung beschrieben werden. Dabei betonen HENCKEL/EBERLING (2002) vor allem die Bedeutung der ökonomischen Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft für zeitliche Strukturen der raum-zeitlichen Gestaltung des Alltags. Dadurch ist ein Interpretationszugang für die Ursachen der Veränderungen von Temporalstrukturen in der spätmodernen Stadt gegeben. Eine besondere Rolle für die Veränderung von zeitlichen Alltagsrhythmen fällt dabei den ökonomischen Taktgebern zu, die in der Spätmoderne gegenüber den institutionellen und soziokulturellen Taktgebern an Bedeutung gewinnen. Diese Entwicklung ist, anlehnend an EBERLING (2002) als Teil der Deregulierungspolitik der westlichen Staaten zu verstehen, die sich in einem Transformationsprozess von der Industriezur Wissensgesellschaft befinden. Zwar wird auch der soziale Wandel als Verursacher für zeitliche Entgrenzung und Flexibilisierung angeführt, die Rolle verschiedener haushaltsbezogener Geschlechterarrangements oder unterschiedlicher Lebensstilgruppen wird aber von den zeitpolitischen Forschern um HENCKEL nicht näher spezifiziert. Hieraus lässt sich ein Ergänzungsbedarf des vorgestellten Ansatzes um Perspektiven ableiten, die die Folgen der Pluralisierung von Haushaltstypen und Lebensstilen aufnehmen (vgl. DANGSCHAT/HAMEDINGER 2007). Eine Methodologie zur empirischen Analyse unterschiedlicher Zeitordnungen in Städten bzw. städtischen Teilräumen ist demgegenüber noch wenig ausgearbeitet. Hierfür bietet die idealtypische Betrachtung von Zeit-Räumen in der Stadt von EBERLING/HENCKEL (2002) eine gute Grundlage zur Entwicklung einer empirischen Forschungsstrategie. Aus den heuristischen Beschreibungen der verschiedenen Gebietstypen („Zeit-Räume“ in der Stadt) lässt sich eine Operationalisierung der jeweiligen Aktivitätsrhythmen entwickeln. Wie die bisherigen kartographischen Zugänge zur Repräsentation von Chronotopen verdeutlichen, fehlen bislang noch weitgehend empirische Erkenntnisse über die Differenzierung von Temporalstrukturen in Städten, die auf quantitativstatistischen Methoden fußen. 191
3 KONZEPT DER IN HAMBURG
EMPIRISCHEN
UNTERSUCHUNG
Aus den in Kapitel 1 formulierten Forschungsfragen sowie den in den Kapiteln 2.1 und 2.2 dargestellten Forschungsergebnissen und den hiermit verbundenen theoretischen Ansätzen soll im Folgenden ein Konzept zur empirischen Untersuchung sozialräumlicher und sozial-zeitlicher Strukturierung in Hamburg entwickelt werden. Dabei gelangen die vorgestellten Zugänge – in unterschiedlicher Gewichtung – zur Anwendung. Den Rahmen der Untersuchung bilden die eingangs dargelegten sozialen, ökonomischen, politischen sowie technologischen Innovationen. Die heutige gesellschaftliche Integration kann als ein Nebeneinander industrieller (bzw. fordistischer) und postindustrieller (bzw. postfordistischer) Integrationsmuster interpretiert werden. Diese Phase wurde als „Spätmoderne“ bezeichnet. Es kann angenommen werden, dass diese durch die Globalisierung verursachten Transformationsprozesse zu einer Reihe von Veränderungen der sozialräumlichen Organisation, der raumzeitlichen Struktur der Stadt, aber auch zu neuen Umgangsweisen mit der raum-zeitlichen Alltagsgestaltung der in ihr lebenden Bevölkerungsgruppen führen. Die auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zu verortenden Transformationsprozesse sind dabei zugleich Anlass und Rahmung der vorliegenden empirischen Untersuchung in Hamburg. Betrachtet werden allerdings die raum-zeitlichen Auswirkungen dieser spätmodernen Entwicklungen, nicht ihre Ursachen. Die im Folgenden aufgrund der Anschaulichkeit getrennt behandelten drei Untersuchungsfelder sind in Abbildung 4 schematisch dargestellt. Als Bedingungsfelder der spät-
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modernen Veränderungen werden die technologischen Innovationen (insbesondere I+K Technologie und die Entwicklung zur Wissensgesellschaft), die politische Regulation (Tendenz zur Deregulierung und Entstehung neuer, auf Flexibilisierung beruhender Arbeitsbeziehungen), die ökonomische Restrukturierung (Postfordismus, Glokalisierung) sowie die Prozesse des sozialen Wandels verstanden. Diese sollen in ihrer Auswirkung auf verschiedene Felder untersucht werden, die im Kontext der „Stadt der Spätmoderne“ von Interesse sind. Diese Untersuchungsfelder betreffen sowohl die Stadtentwicklung als auch auf die Organisation des Alltags der Bewohner Hamburgs. Während die sozialräumlichen Veränderungen auf struktureller Ebene im städtischen bzw. regionalen Kontext von Bedeutung sind, beziehen sich die verschiedenen Arten der Alltagsorganisation auf die Bewohner (Individuen und Haushalte). Vermittler zwischen diesen Ebenen sind die raum-zeitlichen Muster. Aus diesen Überlegungen lassen sich drei empirische Felder differenzieren, die in getrennten Untersuchungsschritten behandelt werden: Zum Ersten sollen sozialräumliche Transformationsprozesse in Hamburg in den letzten Jahren betrachtet werden. Ziel dieser Analyse ist die Herausarbeitung der relevanten sozialräumlichen Differenzierungsgrößen der Spätmoderne. Es soll überprüft werden, inwiefern sich Individualisierungs- und Wertepluralisierungstendenzen auch sozialräumlich erfassen lassen und welche Bedeutung derartige alltagsästhetische bzw. alltagskulturelle Größen für Segregationsprozesse haben. Im Extremfall wäre eine Fragmentierung von sozialen Integrationsmustern, die der Moderne zugerechnet werden können, und „neuen“ Integrationsmustern, die als spätmodern aufzufassen sind, denkbar. Zweitens stellt sich die Frage nach der raum-zeitlichen Strukturierung der Stadt als Vermittlungsinstanz zwischen der Alltagsorganisation der Individuen und der Differenzierung sozialer Räume in der Stadt. Überprüft werden soll mit diesem Schritt, ob die sozialräumliche Differenzierung Hamburgs auch in alltäglichen Handlungsroutinen ihrer Bewohner zum Ausdruck kommt. In diesem Fall kann die Stadt der Spätmoderne nicht nur als sozialräumlich, sondern auch als sozial-zeitlich differenziert betrachtet werden. Hierzu wurde in Kapitel 1 die diese Veränderungen kennzeichnenden Begrifflichkeiten der zeitlichen Entgrenzung und der Flexibilisierung eingeführt. Vermutet wird, dass in bestimmten Subgebieten Hamburgs fordistische Zeitstrukturen eine größere Persistenz aufweisen und sich diese Areale folglich durch einen relativ starren Wechsel von Aktivitäts- und Ruhezeiten auszeichnen,
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KONZEPT DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG IN HAMBURG
während andere Areale zeitlich entgrenzte und flexibilisierte Aktivitätsmuster zeigen und so eine postfordistische Kennzeichnung erfahren. Drittens soll versucht werden, die raum-zeitliche Alltagsorganisation der individuellen Akteure im Kontext verschiedener strukturierender Bedingungen nachzuvollziehen. Als strukturierende Bedingungen werden Existenzverflechtungen im weitesten Sinne verstanden. Da eine solche, von Individuen ausgehende Untersuchung auch die Frage nach den Chancen und Restriktionen (constraints) zur Realisierung bestimmter Aktionsräume berührt, erfolgt dieser Analyseschritt nicht auf einer gesamtstädtischen Ebene, sondern aus forschungspragmatischen Gründen in vier ausgewählten Stadtteilen Hamburgs. Die Auswahl dieser Beispielquartiere wird aus den zuvor erfolgten gesamtstädtischen Analyseergebnissen hergeleitet. Zwischen den drei Analysefeldern bestehen enge Zusammenhänge und Überschneidungen. Dennoch soll diese Aufteilung, die der gewählten empirischen Praxis folgt, zunächst aus Gründen der Anschaulichkeit beibehalten werden. Im abschließenden Kapitel dieser Arbeit erfolgt eine Synthese der einzelnen Untersuchungsfelder. Abbildung 4: Felder der empirischen Untersuchung in Hamburg
Gesellschaft
Technologische Innovation
Stadt / Region
I+K Technologie Wissensgesellschaft
politische Regulation
Deregulation neue Arbeitsbeziehungen (Zwangs-)Flexibilisierung
Individuum / Haushalt
sozialräumliche Prozesse
ökonomische Restrukturierung
Übergang Postfordismus Kreativität als Ressource Glokalisierung
Sozialer Wandel
Individualisierung Pluralisierung der Lebensstile neue Haushaltstypen
raum-zeitliche Muster
Organisation des Alltags
Eigener Entwurf
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3.1 Ansatz zur Analyse innerstädtischer Fragmentierungsprozesse Wie in Kapitel 2.2.1 dargestellt, galt die durch SHEVKY/BELL (1961) geprägte „social area analysis“ lange Zeit als das wegweisende Instrumentarium zur Entdeckung und Beschreibung sozialräumlicher Differenzierung in Städten. Ab den 1980er Jahren ist allerdings ein deutlicher Rückgang quantitativ angelegter Sozialraumstudien zu verzeichnen, was auch auf die Debatten um die Ausdifferenzierung von Lebensstilen und die Pluralisierung von Werten zurückzuführen ist. Die zur Untersuchung der sozialräumlichen Struktur von Städten zur Verfügung stehenden Variablen der kommunalen Statistischen Ämter erscheinen oft ungeeignet, die Aspekte des gesellschaftlichen Wandels (etwa neue soziale Milieus oder Lebensstilgruppen) hinsichtlich ihrer sozialräumlichen Verteilung adäquat abzubilden. Die klassische social area analysis ist gegenüber den „feinen Unterschieden“ nahezu blind. Zwar brachten HERMANN/LEUTHOLD (2002) neue Vorschläge zur Erfassung lebensstilbezogener Segregationsmuster vor, diese sind jedoch aufgrund des hohen empirischen Aufwands nur bedingt umsetzbar oder aber werden aus Gründen der Datenverfügbarkeit zumeist auf sekundäre Indikatoren reduziert, die in der Regel eher die Haushaltsstruktur als den Lebensstil beschreiben (vgl. HEYE/LEUTHOLD 2004, ausführliche Darstellung des Ansatzes in Kapitel 2). Des Weiteren sind auf Primärerhebungen beruhende Lebensstilanalysen nicht retrospektiv durchführbar, sodass etwaige innerstädtische Fragmentierungsprozesse der vergangenen Jahre mit einem derartigen Vorgehen nicht abgebildet werden können. Ein in der Praxis verwendbares Instrument zur Analyse und Beschreibung der Entwicklungsdynamik urbaner Quartiere sollte daher auf der Sekundäranalyse bestehender Daten aufbauen, dabei aber auch die evaluativen, habituellen und expressiven Merkmale sozialer Differenzierung abzubilden in der Lage sein. Im Folgenden sollen die aktuellen Dimensionen sozialer Ungleichheit in Städten deduktiv hergeleitet werden. Diese Dimensionen sollen in Kapitel 4 hinsichtlich ihrer Segregationsmuster am Beispiel Hamburgs unter Anwendung einer dergestalt theoriegeleiteten und „revitalisierten“ Sozialraumanalyse betrachtet werden. An dieser Stelle soll dann auch überprüft werden, ob die eingangs formulierten Polarisierungsszenarien empirisch bestätigt werden können und eine verstärkte sozialräumliche Fragmentierung in den letzten zehn Jahren festgestellt werden kann.
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KONZEPT DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG IN HAMBURG
Determinanten sozialräumlicher Differenzierung der Spätmoderne Obgleich weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass die Debatte um die Ausdifferenzierung von Lebensstilen aufgenommen und in sozialgeographischen Forschungsansätzen berücksichtigt werden sollte (vgl. etwa HELBRECHT/POHL 1997; ZEHNER 2004), sind schichtbezogene, vertikale Stratifikationsmuster nach wie vor von großer Relevanz für die Konstitution westlicher Gesellschaften. Insbesondere der herkunftsabhängige Zugang zu höherer Bildung sowie die zunehmende Einkommensungleichheit 1 weisen eher auf eine Bedeutungszunahme anstelle einer -abnahme „klassischer“ sozialstruktureller Einflussgrößen für gesellschaftliche Gruppenschließungsprozesse hin (vgl. GEISSLER 2002; STANAT 2002). Sozialräumlich lassen sich diese Prozesse zunehmender vertikaler Ungleichheit vor allem in den Städten erkennen: Zwar führten seit etwa der Mitte der 1980er Jahre Gentrification-Prozesse insbesondere in den gründerzeitlich geprägten Altbauquartieren der erweiterten Innenstädte zu einer der sozialen Polarisierung entgegenwirkenden Tendenz (vgl. KLAGGE 2005), andererseits unterstreicht aber die intensiv in den Medien ausgetragene politische Debatte über die Existenz einer „neuen Unterschicht“ sowohl die Aktualität als auch die Brisanz der sozialen Ungleichheitsforschung. Dabei weist die Stigmatisierung eines „abgehängten Prekariats“ über bloße Schichtenkonzepte der klassischen Sozialstrukturanalyse hinaus und verdeutlicht die öffentliche Rezeption evaluativer und habitueller Konzepte sozialer Stratifikation sowie den Eingang der Lebensstilforschung in den sozialpolitischen Diskurs. 2 1
2
Der Laeken-Indikator 2, der die Relation der Einkommenssumme des obersten Quintils zu der Einkommenssumme des untersten Quintils erfasst, ist von einem Wert von 3,07 im Jahr 1998 auf einen Wert von 3,83 im Jahr 2003 gestiegen. Auch wenn die Tendenz im Jahr 2004 mit 3,79 leicht rückläufig ist, muss insgesamt von einer deutlichen Zunahme der Einkommensungleichheit in den letzten Jahren ausgegangen werden. (Berechnungen des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik nach SOEP-Daten, vgl. BIRKEL 2004; ENGELS/SCHELLER 2005). Dies bestätigen auch die jüngsten Untersuchungen des DIW, die eine zunehmende Polarisierung der Einkommen und ein Schrumpfen der Mittelschicht feststellen (vgl. GRABKA/FRICK 2008). Die Ausweisung eines sozialen Milieus, das als „abgehängtes Prekariat“ bezeichnet wird, geht auf die Ergebnisse der von der TNS Infratest Sozialforschung Berlin im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Erhebung „Gesellschaft im Reformprozess“ von 2006 zurück. Ziel der Studie ist die Beschreibung und Unterteilung der wahlberechtigten Bevölkerung in „politische Typen“. Neben Merkmalen der sozialen Lage 197
ENTGRENZTE STADT
Zumeist wird soziale Ungleichheit in räumlichen Bezügen kontextualisiert, Stadtquartiere bis hin zu ganzen Regionen werden als Armuts- oder Problemgebiete angesprochen. Angesichts dieser breiten medialen Aufbereitung des Themas 3 erscheint die bisherige sozialgeographische Rezeption erstaunlich gering, was das Fehlen eines geeigneten Untersuchungsinstrumentariums zur Messung der bestimmenden Differenzierungsachse sozialer Ungleichheit in der Spätmoderne offenbart. Ungeachtet der evaluativen oder habituellen Dimensionen sozialer Ungleichheit, die durch klassische Stratifikationsvorstellungen nicht erfasst werden (etwa Lebensstile), weist die Debatte um die aktuellen Prozesse sozialer Ungleichheitsentwicklung in Städten auf eine nach wie vor hohe Bedeutung der materiellen Basis für soziale Differenzierung hin. Ökonomisches Kapital kann auch heute weiterhin als eine relevante Größe für Segregationsprozesse verstanden werden. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass in der jüngsten Vergangenheit sozialräumliche Polarisierungen sehr stark durch Einkommensunterschiede begründet wurden. Darauf weist etwa die Untersuchung von KLAGGE (2005) zur Armut in westdeutschen Großstädten hin. „Dagegen treten überdurchschnittliche Zunahmen der Sozialhilfedichten zum einen in Stadtteilen des sozialen Wohnungsbaus auf, und zwar insbesondere in solchen, in denen neu gebaute oder aber durch Fluktuation frei gewordene Sozialwohnungen neu belegt wurden. Zum anderen sind in einigen besonders
3
werden vor allem Wertvorstellungen und Einstellungen zur Typisierung herangezogen. Mit der Veröffentlichung der Studie war eine breite Medienrezeption des Armuts- bzw. Unterschichttypus festzustellen, etwa in verschiedenen Fernsehberichten, insbesondere aber in Printmedien. (Als Beispiele seien genannt: Dossier „Neue Armut in Deutschland“ in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Oktober 2006, „Ausgeschlossen aus dem Ganzen“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 22.10. 2006, „‚Prekariat‘ statt ‚Unterschicht‘“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Oktober 2006). Obgleich in der Studie explizit nicht von „Armut“ die Rede ist, ist sie dennoch anschlussfähig an die insbesondere durch den rechtskonservativen Historiker Paul Nolte angeregte öffentliche Debatte über die Existenz einer „neuen Unterschicht“: „Ernährungsdefizite und Bewegungsmangel, Sprachdefizite und Bildungsrückstände, übermäßiger Fernseh- und auch Handykonsum konvergieren in jenen neuen Unterschichten“ (Paul NOLTE im Tagesspiegel vom 25. Juli 2004, zitiert nach KESSL 2005). Vgl. exemplarisch zur massenmedialen Aufbereitung des Themas „soziale Ungleichheit im räumlichen Kontext“ folgende Beispiele aus Hamburg: Welt am Sonntag vom 20.08.2006 („Reiches Hamburg, arme Kinder“), DIE ZEIT vom 03.08.2006 („Armutszeugnis für Hamburg“), Süddeutsche Zeitung vom 08.11.2005 („Stadtviertel auf der Kippe“).
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KONZEPT DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG IN HAMBURG
benachteiligten Stadtteilen der erweiterten Innenstädte (relative) Verarmungsprozesse zu verzeichnen.“ (KLAGGE 2005, S. 227f.)
Auf bestehende Zusammenhänge zwischen Merkmalen der sozialen Lage und Merkmalen des Lebensstils hat bereits BOURDIEU (1991) hingewiesen. Wie HEYE/LEUTHOLD (2004; 2006, vgl. Kapitel 2.1.4 dieser Arbeit) zeigen konnten, besteht zudem ein Zusammenhang zwischen Lebensstilen einerseits und Haushaltsstrukturen andererseits in Form verschiedener „geschlechterkultureller Familienmodelle“. In der Aufteilung von Erwerbstätigkeit und Betreuungsarbeit in Familienhaushalten drücken sich haushaltsspezifische Rollenmodelle aus. Geschlechterkulturelle Familienmodelle bieten so Ansatzpunkte für die Messung des Individualisierungsgrades von Lebensstilen (vgl. BÜHLER 2001). Durch diesen Prozess initiiert, lässt sich eine Ausdifferenzierung der Haushaltstypen annehmen, die dem ehemals als „Urbanismus“ beschriebenen sozialräumlichen Differenzierungskriterium eine neue Qualität verleiht und in Abhängigkeit von den jeweils bestehenden haushaltsspezifischen „symbiotischen Existenzverflechtungen“ unterschiedliche Ansprüche an das Wohn- und Lebensumfeld vermuten lässt (vgl. SIEVERTS 2002, S. 255ff., siehe Kapitel 2.1.4 dieser Arbeit). Neben den beiden beschriebenen Kriterien (1.) der vertikalen sozialen Ungleichheit und (2.) der existenzverflechtungsabhängigen Haushaltsstrukturierung erfordert eine angemessene Betrachtung der sozialräumlichen Differenzierung in der Spätmoderne die Integration einer Perspektive, die die in städtischen Teilräumen jeweils vorherrschenden Dispositionen unterschiedlicher Lebensstil- bzw. Wertorientierungen aufnimmt. Grundannahme dieser Perspektive ist, dass zwischen „Habitus“ und „Habitat“ ein dialektischer Zusammenhang besteht. So werden Lebensstile einerseits durch das je spezifische aktionsräumliche Umfeld in Form von Alltagserfahrungen rückgekoppelt, während andererseits von einer die Raumstruktur prägenden Wirkmächtigkeit der jeweils lokal dominanten Lebensstilgruppen auszugehen ist (vgl. Kapitel 2.1 dieser Arbeit). Als Katalysator dieser auch für städtische Fragmentierungsprozesse bedeutsamen Größe lässt sich die Krise der Arbeitsgesellschaft und der damit verbundene Zwang zur Flexibilisierung städtischer Arbeitsbeziehungen annehmen (vgl. HENCKEL 2000). Die industrielle Arbeitsgesellschaft als zentrales Moment gesellschaftlicher Integration zu Zeiten der Moderne hat bereits seit den frühen 1980er Jahren massiv an Wirkmächtigkeit eingebüßt (vgl. etwa OFFE 1984). Konnte in der Moderne über den Komplex „Arbeit“ und damit verbundene gemein199
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same Erfahrung gleicher Stellung im Produktionsprozess ein soziales Zugehörigkeitsgefühl vermittelt und so persönliche Identität gestiftet werden, ist unter den Bedingungen der Individualisierung und Wertepluralisierung eine Verschiebung der sozialen Integrationsfunktion von der Produktion zur Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen festzustellen (BAUMAN 2003). Dieses als „Konsumismus“ bezeichnete Wertesystem hat sich kontinuierlich zu einem heute bedeutsamen Ausdruck sozialer Differenzierung etabliert: Die Aneignung prestigeträchtiger Waren stellt für eine stetig zunehmende Zahl von Personen ein Mittel der Selbstinszenierung dar, das den geschmacklich als legitim erachteten Konsum bestimmter Güter und Dienstleistungen zum bedeutsamen Moment gesellschaftlicher Integration werden lässt. Die Ästhetisierung der individuellen Lebens- und Alltagswelt und ihrer symbolischen Bezüge dient gleichsam dem Gewinn sozialer Distinktion und befördert so die Konstruktion (individueller wie kollektiver) Identitäten durch die Ausdifferenzierung vielfältiger Lebensstile, die sich in expressiven Merkmalen der Alltagsgestaltung, Raumnutzung und Zeitverwendung spiegeln. Einhergehend mit den Flexibilisierungsprozessen der Arbeitswelt bilden sich neue milieuspezifische Zeitverständnisse und Zeitpraktiken heraus (vgl. HÖRNING/AHRENS/GERHARD 1998), die tendenziell auch die Ausweitung der Aktivitätszeiten bevorzugter städtischer Quartiere initiieren, sodass nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Differenzierungsprozesse in der Stadt zu beobachten sind (vgl. EBERLING/HENCKEL 2002; POHL 2006b). Neben dem stilisierenden Moment des Konsumismus erfahren aber auch die spätmodernen Arbeitsprozesse selbst eine alltagsästhetische Aufladung, die zur wachsenden Bedeutung von Lebensstilgruppen für die räumliche und zeitliche Organisation der Stadt beiträgt. „Die Zeiten für Arbeit, Freizeit, Familie, Kultur, Bildung etc. beginnen ineinander zu greifen und erfordern eine zunehmende Fähigkeit zum ‚Multitasking‘. Die Kompetenz, verschiedene Funktionen überlagert und im schnellen Wechsel ausüben zu können, wird angesichts sich beschleunigender Verhältnisse immer wichtiger“ (OSSENBRÜGGE/HAFERBURG 2004, S. 8). Dies betrifft in besonderem Maße die Beschäftigten in den auf Vernetzung hochspezialisierter arbeitsteiliger Prozesse beruhenden Dienstleistungsunternehmen mit „synergetischen Existenzverflechtungen“ (vgl. SIEVERTS 2002, S. 255ff.): „Diese Art von Ökonomie benötigt offensichtlich ein ‚kreatives Milieu‘ für einen Lebens- und Arbeitsstil, in dem vielfältige, schnell verfügbare Dienstleistungen erforderlich sind und in dem ein auch räumliches Zusammenspiel zwischen Arbeit und Freizeit gefordert wird“ (ebd., S. 260). Prädestinierte Wohnstandorte für dieses „Segment der wissens- und kulturbasierten Dienstleistungs200
KONZEPT DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG IN HAMBURG
beschäftigten“ (LÄPPLE/STOHR 2006, S. 176) scheinen zumindest gegenwärtig bevorzugt die innenstadtnahen Arbeiterquartiere der Gründerzeit zu sein. Diese gründerzeitlichen Altbauareale bilden einen Gegenentwurf zu monofunktionalen Quartieren und eröffnen durch ihre strukturelle Vielfalt Kopplungschancen zur Realisierung einer kompakten „Stadt der kurzen Wege“, da zeit- und ressourcenintensive Transaktionskosten für Mobilität oftmals vermieden werden können. Ebenso zeichnen sich diese Viertel heute durch eine hohe soziale und kulturelle Heterogenität ihrer Bewohner aus und bieten damit in besonderem Maße Anknüpfungspunkte für Toleranz und Offenheit gegenüber von klassischen Lebensmodellen und Erwerbsbiographien abweichenden Lebensstilen bzw. Alltagsroutinen. Diese hier skizzierte und in den verschiedenen städtischen Teilräumen offenkundig sehr unterschiedlich ausgeprägte Disposition einer Lebensstil- bzw. Wertorientierung, die an die von Richard FLORIDA (2002; 2005) eingeführten Begrifflichkeiten von „tolerance“ und „openness“ anknüpft und auf die Kreative Klasse in Form der spätmodernen Wissensgesellschaft gerichtet ist, erscheint neben (1.) der sozialen Ungleichheit und (2.) der Haushaltsstruktur heute als drittes bedeutsames Kriterium sozialräumlicher Differenzierung. Anlehnend an die breit rezipierten Untersuchungen FLORIDAs kann diese Kerngröße sozialräumlicher Differenzierung der Spätmoderne treffend mit dem Terminus „Openness to Diversity“ beschrieben werden. Um die Implikationen von Openness to Diversity für städtische Fragmentierungsprozesse empirisch überprüfen zu können, soll diese Dimension mittels eines strukturentdeckenden quantitativen Verfahrens aus den in den amtlichen Statistiken verfügbaren Indikatoren hergeleitet werden. Entgegen dem auf einer regionalen Differenzierung beruhenden Zugang FLORIDAs wird dabei angenommen, dass die Lebensstil- und Wertorientierung, die durch den Faktor Openness to Diversity zum Ausdruck gebracht werden, sich analog zum sozialen Status und den Haushaltstypen nicht homogen über den Stadtraum verteilen. Insbesondere da verschiedene städtische Quartiere ein sehr unterschiedliches Potential für die Etablierung neuer, auf Flexibilisierung und Konsumismus beruhender Lebensstile bieten, lässt sich eine Segregation von Personen mit dieser Wertorientierung im Stadtraum vermuten (vgl. POHL 2008). Für die „Stadt der Spätmoderne“ lassen sich demnach mindestens drei stratifizierende Dimensionen annehmen: Neben den zuvor beschriebenen sozioökonomischen Schichtungsmerkmalen und den haushaltsstrukturellen Differenzierungen wird, anlehnend an die Debatte über die Ausdifferenzierung von Lebensstilen, eine immer bedeutsamer werden201
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de Segregation der Wertorientierungen in der Stadt erwartet. Diese sozialräumlichen Prozesse, die eine Koexistenz gesellschaftlicher Integrationsmuster des Fordismus einerseits und postfordistischer, flexibilisierter Integrationsmuster andererseits nahelegen, sollen am Beispiel Hamburgs in Kapitel 4 im Hinblick auf ihre Entwicklungsdynamik seit Mitte der 1990er Jahre überprüft werden. Ferner soll diese Analyse der sozialräumlichen Entwicklung der „Stadt der Spätmoderne“ als Basis für die darauf aufbauende zeitbezogene Stadtanalyse dienen. Die zentrale Hypothese, die diesem Zugang zugrunde liegt, behauptet eine zunehmende Fragmentierung der innerstädtischen Subgebiete entlang dieser drei Dimensionen. Dabei wird erwartet, dass die evaluative Differenzierungsachse („Openness to Diversity“) seit spätestens Ende der 1990er Jahre an Bedeutung gewinnt und somit Lebensstilbezüge auch in sozialräumlicher Perspektive wichtiger werden. Diese Ausführungen, die im Folgenden unter dem Stichwort der „Fragmentierungshypothese“ zusammengefasst werden, sollen wie folgt in Teilhypothesen zerlegt werden, um sie für die empirischen Untersuchungsschritte fassen zu können: • (F1) Die sozialräumliche Differenzierung nimmt im letzten Jahrzehnt deutlich zu. Die Schere zwischen statushohen und statusniedrigen Quartieren öffnet sich. Dabei entstehen aus bereits zuvor benachteiligten Gebieten innerstädtische Armutsinseln. • (F2) Mit der zunehmenden sozialräumlichen Differenzierung der Stadt lösen sich die altbekannten Muster sektoraler Statussegregation und konzentrischer Haushaltsstrukturierung tendenziell auf. Die Folge ist eine sozialräumliche Desorganisation, die ein räumliches „Nebeneinander“ von sehr verschiedenen Quartierstypen bewirkt und sich als sozialräumlich fragmentierte Stadt kennzeichnen lässt. • (F3) Klassische Merkmale sozialer Differenzierung, insbesondere nach sozialem Status sowie nach Haushaltsstrukturen, sind dabei nach wie vor bedeutsam für die sozialräumliche Struktur der Stadt. Zusätzlich zu den altbekannten Kriterien sozialräumlicher Stratifikation gewinnt aber ein weiteres Differenzierungskriterium seit Ende der 1990er an Bedeutung, das auf neue Segregationsmuster entlang von verschiedenen Lebensstilen in der spätmodernen Wissensgesellschaft hinweist. Die Fragmentierungshypothese (bzw. ihre Teilhypothesen F1–F3) wird auf gesamtstädtischer Maßstabsebene am Beispiel Hamburgs in Kapitel 4 überprüft.
202
KONZEPT DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG IN HAMBURG
3.2 Ansatz zur raum-zeitlichen Regionalisierung Die aus den Prozessen des sozialen, politischen, technologischen und ökonomischen Wandels resultierenden Implikationen für sozialräumliche Differenzierungsprozesse in Städten machen nicht bei raumstrukturellen Veränderungen halt. Vielmehr ist anzunehmen, dass die zuvor beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen auch einen Wandel der temporalen Organisation der Stadt hervorrufen. Die von verschiedenen Autoren beschriebenen Transformationsprozesse finden ihren Ausdruck in der Flexibilisierung der ehemals starren zeitlichen Takte des städtischen Lebens, Tendenzen der gesellschaftlichen Beschleunigung sowie zeitlichen Entgrenzungsprozessen (s. Kapitel 1). Diesen Vorstellungen ist gemein, dass sie eine zunehmende Bedeutung von Zeitstrukturen (bzw. der Pluralisierung von Zeiten) für die spätmoderne Gesellschaft behaupten. Die Relevanz dieser temporalen (Re-)Organisation für das Verständnis heutiger städtischer Strukturen ist zwar nahe liegend, bisher aber noch nicht in ein empirisches Erkenntnisprogramm überführt worden. Bevor ein Ansatz zur Regionalisierung von Zeiten in der Stadt erarbeitet wird, sollen einige heuristische Überlegungen die Bedeutung von Temporalstrukturen für eine Stadtanalyse verdeutlichen. Die derzeit stattfindenden Umbrüche in der Arbeitswelt werden von einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses sowie des Normalarbeitstages begleitet. Eine zeitlich weitgehend standardisierte 40-Stunden Woche, die an fünf „Werk“-Tagen abgearbeitet wird, kann mit Blick auf die Arbeitszeitflexibilisierungen nicht mehr länger eine „Normalität“ behaupten (vgl. GROß/SEIFERT/SIEGLEN 2007). Der mit der Zunahme von Arbeitsbeziehungen mit „freier“ bzw. flexibilisierter Zeiteinteilung einhergehende Erosionsprozess relativ starr getakteter Normalarbeitsverhältnisse bleibt indes nicht ohne Konsequenzen für die Gestalt der zeitlichen Aktivität in städtischen Teilräumen. Mit der Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen verlängern sich nicht nur die täglichen Aktivitätszeiten der Stadt – auch ihr Rhythmus wird komplexer. Die zunehmende Diskordanz einer Vielzahl verschiedener Alltagsrhythmen muss daher angenommen werden (vgl. EBERLING/HENCKEL 2002; DANGSCHAT 2007). Diese alltagsrhythmisch differenzierten Muster lassen auch Veränderungen hinsichtlich der Nutzung von Gelegenheitsstrukturen im Raum vermuten. Eine temporale Entgrenzung der Ladenöffnungszeiten etwa kann aus dieser Perspektive als notwendige Antwort auf die (Zwangs-)Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse der Kunden des Einzelhandels verstanden werden: Wenn der sogenannte Nine-to-Five-Job nur noch von einer Minderheit der Beschäftigten 203
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praktiziert wird, wie GROß/SEIFERT/SIEGLEN (2007) feststellen, dann ist eine Anpassung der Zeitregulationen (etwa Öffnungszeiten) an diese neue Zeitpraktik die Folge. Hinzu treten Prozesse der Beschleunigung, die vor allem durch die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie die Globalisierung der Ökonomie initiiert werden. Steigender Konkurrenzdruck und die Internationalisierung der Märkte führen zu einer Verkürzung der Produktzyklen (vgl. ROSA 2005). Dies geht einher mit räumlichen Folgen, von denen etwa die Verkürzung der Standort- und Gebäudenutzungszyklen nur eine – wenngleich im Stadtbild sehr augenfällige – Folge darstellt (vgl. ARL 2002, S. 18ff.). Die derart skizzierten Veränderungen der Alltagsorganisation der Stadt lassen sich als Bedeutungszunahme temporaler Strukturen begreifen, die mit dem Begriff der „Verzeitlichung“ belegt werden können. Noch offen ist allerdings, wie diesem Prozess der Verzeitlichung im Rahmen wissenschaftlicher Perspektiven auf die Stadt angemessen begegnet werden kann. Obgleich HENCKEL schon zu Mitte der 1990er Jahre „eine zunehmende Überformung des Tag-Nacht-Rhythmus vor allem in den Städten“ und eine „Tendenz auf dem Weg in die kontinuierliche (rund-um-die-Uhr)Gesellschaft“ konstatierte (HENCKEL 1995, S. 159), existiert bislang noch kein strukturentdeckendes Verfahren zur Regionalisierung von Zeitzonen in der Stadt. 4 Somit sind auch die raumstrukturellen Konsequenzen zeitlicher Flexibilisierungs- und Entgrenzungsphänomene sowie der Wirkung der Beschleunigung bis dato noch weitgehend ungeklärt. Um eine Analyse des raum-zeitlichen Strukturwandels in Städten zu ermöglichen, sollen die gesellschaftlichen Rahmentrends, die im Wesentlichen auf eine Veränderung der Zeitstrukturen gerichtet sind, in die Stadtforschung integriert werden. Im Folgenden wird aufbauend auf die Ansätze der Zeitgeographie ein methodischer Zugang zur raumzeitlichen Regionalisierung städtischer Quartiere erarbeitet. Die empirische Erprobung des so entwickelten Instruments am Beispiel Hamburgs erfolgt in Kapitel 5.
4
Erste Versuche zur Regionalisierung von Zeitzonen sind vor allem in Italien erfolgt (z.B. Chronomap Pesaro, ZEDDA 1999), allerdings entzieht sich das Verfahren zur kartographischen Ausweisung von Zeitzonen einer empirischen Überprüfbarkeit und eignet sich nicht zur Entdeckung von Strukturen.
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Methodik zur Entdeckung städtischer Chronotope Mit dem Begriff des „Chronotops“ ist das Zusammenfallen von Raum und Zeit an einem spezifischen Ort angesprochen (vgl. POHL 2006b). Die Zonierung und Ausweisung von Chronotopen kann folglich als Ergebnis einer raum-zeitlichen Regionalisierung der Stadt verstanden werden. Die raum-zeitliche Strukturierung der Stadt ist die Folge des Zusammenspiels von infrastruktureller (angebotsseitiger) Gelegenheitsausstattung einerseits und nachfrageseitiger Nutzung dieser Gelegenheiten andererseits. Es ist offensichtlich, dass Gelegenheiten nur dann von handelnden Akteuren genutzt werden können, wenn sie im Rahmen von räumlichen sowie zeitlichen Beschränkungen auch zugänglich sind. Öffnungszeitenregelungen, Arbeitszeitvereinbarungen oder Betriebszeiten (etwa von öffentlichen Verkehrsmitteln) strukturieren somit ein zeitliches Bedingungsfeld, während die infrastrukturelle Gelegenheitsausstattung ein räumliches Bedingungsfeld definiert. Die Überlagerung zeitlicher und räumlicher Bedingungsfelder bewirkt die raum-zeitliche Strukturierung von Orten, die sich auf gesamtstädtischer Ebene in der funktionalen sowie sozialräumlichen Differenzierung der Stadt spiegelt. So definieren die symbolisch in den Raum eingeschriebenen sozialen Strukturen sowie die Verteilung der Gelegenheiten über die Stadt den Ermöglichungsspielraum zur Herausbildung zeitlicher Aktivitätsmuster. Aus der Perspektive der handelnden Individuen trägt die räumliche Verteilung der Gelegenheitsstrukturen und ihre Erreichbarkeit unter den Bedingungen einer begrenzten Zeitkapazität zur Ausprägung der „capability constraints“ im Sinne HÄGERSTRANDs (1970) bei. Da eine raum-zeitliche Regionalisierung nicht bei der Betrachtung der Bedingungsfelder haltmachen darf, sondern die Analyse der tatsächlichen Nutzungsintensität städtischer Areale zu unterschiedlichen (Tages-, ggf. auch Wochentags- oder Jahres-)Zeiten durch Akteure erfordert, erscheint die Integration einer handlungsorientierten Perspektive in die Analyse von Chronotopen in der Stadt unerlässlich. Dabei sollte das raumrelevante Handeln von Menschen an spezifischen Orten hinsichtlich des Zwecks und der Dauer der ausgeübten Tätigkeiten erfasst werden. Aus dem aggregierten Handeln der Individuen an spezifischen Orten lässt sich die strukturierende Bedeutung unterschiedlicher Zeitverwendungsmuster in städtischen Teilräumen erkennen. Die Funktionen, die in bestimmten Quartieren wahrgenommen und genutzt werden, können als Prädiktoren für die Gestaltung und das Ausmaß der zeit-räumlichen Aktivität eines Ortes interpretiert werden, da mit ihnen
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der Umfang der Kopplungschancen im Sinne der HÄGERSTRAND’schen „coupling constraints“ quantifizierbar wird. Für die Regionalisierung der raum-zeitlichen Aktivität städtischer Quartiere scheinen die außerhäuslichen Aktivitäten der Akteure von besonderer Bedeutung zu sein. Diese Fokussierung auf die Aktivitäten außerhalb der „eigenen vier Wände“ folgt den Überlegungen von GIDDENS, der „vorderseitige“ von „rückseitigen“ Regionen unterscheidet (GIDDENS 1997, S 175ff.). Nur außerhalb der eigenen Wohnung stattfindende Aktivitäten können potenziell für die Gestalt städtischer Zeitstrukturen relevant sein, da nur bei diesen Aktivitäten „Situationen der Kopräsenz“ erzeugt werden und soziale Interaktion entstehen kann. Nur für Andere wahrnehmbare Aktivitäten erfüllen die Stadt mit „Leben“ und verleihen somit unterschiedlichen Arealen zu unterschiedlichen (Tages-, Wochen-, Jahres-)Zeiten einen aktiven, „urbanen“ bzw. einen passiven, „toten“, „ausgestorbenen“ oder „verschlafenen“ Charakter. 5 Die Betrachtung der Art der außerhäuslichen Zeitverwendung in unterschiedlichen Teilen der Stadt eröffnet einen Zugang zur Unterscheidung von Freizeitarealen, Einkaufs- bzw. Versorgungszentren oder vorwiegend durch Erwerbsarbeit geprägten Gebieten. Die Analyse der absoluten Konzentrationen der außerhäuslichen Aktivitäten lässt auch eine Differenzierung von „aktiven“ (vorderseitigen) Regionen einerseits und „passiven“ (rückseitigen) Regionen andererseits zu. So können beispielsweise sogenannte Schlafstädte abgebildet werden, die sich durch eine insgesamt geringe außerhäusliche Aktivität auszeichnen. Schließlich soll die tageszeitliche Rhythmik von Aktivitäten erfasst werden, um Gebiete mit starren Rhythmen, etwa einem deutlichen Aktivitätswechsel von Tag und Nacht, von Gebieten mit einer zeitlich ausgedehnten Aktivität unterscheiden zu können. Dahinter steht die Annahme, dass sich die einleitend skizzierten raum-zeitlichen Entgrenzungs- und Flexibilisierungstendenzen nicht in der gesamten Stadt uniform vollziehen, sondern bestimmte städtische Teilräume bessere Gelegenheitsstrukturen zur Ausbildung tendenziell zeitlich ausgedehnter Aktivität aufweisen (vgl. POHL 2006a). So kann als Arbeitshypothese eine zeitlich relativ starre Taktung etwa für Industriegebiete oder infrastrukturschwache suburbane Einfamilienhaussiedlungen angenommen werden. Demgegenüber lassen sich Auflösungserscheinungen dieser
5
An dieser Stelle sei auf die Konzepte zur Revitalisierung der Innenstädte der 1970er und 1980er Jahre verwiesen, die in Folge der großen Suburbanisierungswellen bestenfalls noch zu den Hauptgeschäftszeiten einen „urbanen“ Charakter hatten.
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relativ starren Rhythmen in Gebieten mit einem hohen Anteil an flexibilisierten Arbeitsbeziehungen vermuten. Hier deutet sich ein methodisches Problem der Datenintegration an, das als Aggregatebenenproblem angesprochen werden kann: Während sich die sozialräumliche Differenzierung auf der Ebene räumlicher Aggregate abbilden lässt, ist die zeitliche Strukturierung der Stadt an ihre Nutzung gekoppelt, die eine Folge des routinisierten Alltagshandelns der Menschen ist. Das Handeln der einzelnen Individuen muss analytisch von den über den Stadtraum verteilten alltäglichen Wegeketten entkoppelt werden, wenn eine Chronotop-Perspektive eingenommen werden soll, die ja auf die Örtlichkeit von bestimmten Aktivitäten in ihrer Zeitlichkeit verweist. Für die hier vorgestellte Analyse der Chronotope sollen die (außerhäuslichen) Aktivitäten aus zwei Perspektiven analysiert werden, und zwar erstens hinsichtlich der Art und dem Ausmaß der Aktivität (Zeitverwendungsmuster und Aktivitätsintensität) und zweitens hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit selbst (Rhythmus und Dauer). Abbildung 5: Description of the principal division of activity time AVAILABLE POPULATION TIME PRODUCTION TIME PRODUCTION & CONSUMPTION SPECIALLY STUDIED
OTHER PRODUCTION & CONSUMPTION CONSUMP
PRODUCTION
PRODUC FULL-TIME
WORKING FULL-TIME
T1
CONSUMPTION TIME
PRODUC. PART-TIME
WORKING PART-TIME
WORKING
CONSUMP. PART-TIME
WORKING AND STUDYING FULL-TIME
STUDYING PART-TIME
WORKING AND STUDYING
STUDYING
REMAINDER
T2
CONSUMP. FULL-TIME
T3
STUDYING FULL-TIME
I3
OTHERS
I2
TIME I1 AVAILABLE POPULATION (INDIVIDUALS)
Quelle: ELLEGÅRD/HÄGERSTRAND/LENNTORP (1977)
Zur Lösung des Aggregatebenenproblems erfolgt die Inwertsetzung der von ELLEGÅRD/HÄGERSTRAND/LENNTORP (1977) aufgezeigten Option zur Aggregation gesamtgesellschaftlicher Zeitverwendungsmuster 207
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im Kontext der Stadt. Ausgehend von der Überlegung, dass jeder Mensch täglich 24 Stunden zur Verfügung hat, die (abzüglich der zu Regeneration erforderlichen Zeit) individuell auf Arbeit, 6 Bildung oder weitere Funktionen verteilt werden können, lässt sich die gesamte Zeitmenge aufsummieren, die von einer Gesellschaft für einzelne Funktionen aufgewendet wird (Abbildung 5). In Rückgriff auf die individuellen Zeitpfade lässt sich zudem feststellen, an welchen spezifischen Orten (z.B. bestimmten innerstädtischen Quartieren) dieser „Zeitkonsum“ erfolgt. Durch die Aggregation der Gesamtmenge der Zeit, die für die einzelnen Funktionen an bestimmten Orten aufgewendet wird, gelingt, ausgehend vom routinisierten Alltagshandeln (das mittels der Zeitpfade abgebildet wird), sowohl die Überwindung der sozialen Aggregatebene vom Individuum zur Gesellschaft (Mikro-Makro-Link) als auch die Verbindung von sozialem Handeln zur raumbezogenen Betrachtung (Mensch-Raum-Link). Ein solcher zeitgeographischer Zugang ermöglicht eine Analyse innerstädtischer Differenzierung, die ihren Ausgangspunkt nicht in der infrastrukturellen Verteilung verschiedener Funktionen über das Stadtgebiet hat, sondern in dem tatsächlichen Aufsuchen der lokalen Gelegenheiten. Anders als bei ELLEGÅRD/HÄGERSTRAND/LENNTORP werden die Zeitverwendungen in der vorliegenden Untersuchung damit nicht auf die gesamte Gesellschaft aggregiert. Stattdessen bildet die sozialräumliche Zonierung der Stadt (die in Kapitel 4 erfolgt) die Basis für die Differenzierung unterschiedlicher Zeitverwendungsmuster: Durch die Aggregation der Gesamtmenge der Zeit, die für einzelne Funktionen in bestimmten sozialräumlichen Zonen aufgewendet wird, kann, ausgehend vom routinisierten Alltagshandeln von Menschen, sowohl die Überwindung der sozialen Aggregatebene vom Individuum zur Gesellschaft (Mikro-Makro-Link) als auch die Verbindung von sozialem Handeln zur raumbezogenen Betrachtung (Mensch-Raum-Link) gelingen, ohne dabei die Dichotomie von Handlung und Struktur zu wiederholen. Die zu leistende raum-zeitliche Regionalisierung der Stadt in Form einer strukturellen Entdeckung innerstädtischer Chronotope erfordert die Integration der funktionalen und sozialräumlichen Strukturen einerseits sowie die Betrachtung ihrer Nutzung andererseits. Die Anforderungen an eine Chronotop-Analyse lassen sich, ausgehend von der sozialräumlichen Differenzierung städtischer Quartiere, auf folgende Fragen zuspitzen, die es zu beantworten gilt: „Welche außerhäuslichen Tätigkeiten 6
Im Folgenden beschränkt sich der Begriff der „Arbeit“ auf den Bereich der Erwerbsarbeit. Nicht entlohnte Arbeit, insbesondere Reproduktionsarbeit (SPITZNER 1993), wird durch die MiD/Kontiv-Erhebungsmethodik (trotz bedeutender Verbesserungen) bis dato noch unzureichend erfasst.
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finden in den unterschiedlich strukturierten Teilräumen der Stadt statt?“ – „Wie groß ist das gesamte Zeitbudget, das auf diese Tätigkeiten entfällt?“ – „Wann werden diese Tätigkeiten ausgeübt?“ und „Wie ausgeprägt ist die Rhythmik von städtischen Quartieren, die als Amplitude der Aktivität im Tagesverlauf erkennbar wird?“ Abbildung 6: Zeitbasierte Verzerrung der Stadtteile Hamburgs
Quelle: POHL 2006a
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Aus diesen zentralen Fragen bzw. den zuvor dargelegten Überlegungen lässt sich für die konkrete Analyse von Chronotopen in der Stadt ein zeitgeographisches Regionalisierungsverfahren ableiten, das im Kern drei zentrale Analyseebenen integriert: • Die funktionale und sozialräumliche Differenzierung städtischer Quartiere als strukturierendes Bedingungsfeld. • Die spezifischen Zeitverwendungsmuster und die jeweilige Intensität unterschiedli-cher Aktivitäten in städtischen Teilräumen (Art der Aktivität). • Die tageszeitliche Rhythmik von Aktivitäten (Aktivitätsamplituden). Diese Analyseebenen sollen im Folgenden als Basis zeitgeographischer Regionalisierung verstanden werden. Dieser Kern der zeitgeographischen Regionalisierung ist je nach Zielsetzung um zusätzliche Dimensionen erweiterbar. 8 Neben zeitlichen Betrachtungshorizonten, 7 8
Die Flächenverzerrung der Stadtteile erfolgte proportional zum aggregierten außerhäuslichen Zeit-konsum insgesamt (Datenbasis MiD 2002). LAUER (1981, S. 28 ff.) schlägt zur Analyse der zeitlichen Strukturen in Gesellschaften fünf Dimensionen vor, unter anderem den Rhythmus (bzw. 209
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die etwa jahreszeitliche, monatliche oder wöchentliche Rhythmen berücksichtigen, können dies vor allem weitere analytische Perspektiven sein, die von sozialen Gruppenkonzepten mit ihren jeweils spezifischen Raumansprüchen ausgehen. In Frage kommen hier beispielsweise differenzierte Betrachtungen verschiedener Bevölkerungsgruppen wie Einwohner, Touristen oder Geschäftsreisende (MARTINOTTI 1997; EBERLING/HENCKEL 2002), Gruppen unterschiedlicher Existenzverflechtungen (SIEVERTS 2002) oder auch verschiedene Mobilitätsstilgruppen (HAMMER/SCHEINER 2002). In der folgenden Untersuchung der raum-zeitlichen Strukturierung der Stadt am Beispiel Hamburgs erfolgt eine Beschränkung auf die drei oben genannten zentralen Analyseebenen. Dies ist zum einen einem pragmatischen Grund geschuldet: So ist dieser empirische Analyseschritt als Sekundäranalyse der im Rahmen der Studie „Mobilität in Deutschland 2002“ erhobenen Daten angelegt; dies impliziert durch den endlichen Variablenpool im MiD 2002-Datensatz eine Begrenztheit der möglichen operationalisierbaren Gruppenkonzepte. Zum Zweiten soll die raum-zeitliche Regionalisierung der Stadt Hamburg dazu dienen, unterschiedliche Chronotop-Typen auszuweisen, die anschließend im Rahmen einer vergleichenden Quartiersstudie genauer betrachtet werden. Eine Fokussierung auf die unterschiedlichen Ansprüche bzw. raum-zeit-strukturellen Nutzungsmuster verschiedener Nutzergruppen bereits in diesem Analyseschritt würde der Ausweisung von Chronotoptypen für die Quartiersstudie im Wege stehen. Bei der Analyse der raum-zeitlichen Strukturierung der Stadt ist zu berücksichtigen, dass Chronotope auf sehr unterschiedlichen Maßstabsebenen bedeutsam werden können. So kann etwa ein Verkehrsknotenpunkt wie ein Hauptbahnhof zwar als Chronotop gelten, mit der im Folgenden vorgestellten Untersuchungsmethodik jedoch nicht erfasst werden, da er sich aufgrund seiner kleinräumigen Organisation einem gesamtstädtischen Betrachtungsmaßstab entzieht. Das hier vorgestellte Vorgehen zielt auf die raum-zeitliche Zonierung der Stadt und ist für kleinräumige Phänomene nahezu blind. 9
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die Periodizität) von Ereignissen sowie ihre Dauer. Daneben nennt er noch die Synchronisation, die Geschwindigkeit und die Sequenz, die in dem hier vorgestellten Zugang nicht näher betrachtet werden. Hieraus folgt, dass lokale Phänomene zeitlicher Entgrenzung wie z.B. die „Zitadellen der Kontinuität“ (EBERLING/HENCKEL 2002, S. 315 f.) nicht auf gesamtstädtischer Maßstabsebene zugänglich sind. Allerdings lassen sich mit der hier vorgestellten Methode Zonen potenzieller kontinuierlicher Aktivität entdecken, die dann in lokalen Einzelfallstudien überprüft werden können.
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Diesen Generalisierungseffekten zum Trotz verspricht eine derartige gesamtstädtische Chronotopanalyse einen empirischen Zugang zum Verständnis der raum-zeitlichen Organisation der Gesellschaft zu eröffnen. Insbesondere die vermuteten Tendenzen der zeitlichen Entgrenzung und Flexibilisierung sollten so in ihren innerstädtischen Kristallisationspunkten erkennbar werden. Vermutet wird eine starke zeitliche Entgrenzung und Flexibilisierung insbesondere für die Quartiere, die besonders deutlich vom Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft gekennzeichnet und raumstrukturell durch die „Kreative Klasse“ geprägt sind. Demgegenüber wird eine Persistenz vergleichsweise rigider zeitlicher Takte für die monofunktionalen Gebiete angenommen, die raumstrukturell als „fordistisch“ angesprochen werden können. Aus diesen Überlegungen lassen sich folgende Annahmen zur raumzeitlichen Organisation in der Stadt entwickeln, die in diesem Untersuchungsschritt im Vordergrund stehen sollen und im Folgenden unter dem Schlagwort der „Verzeitlichungshypothese“ subsumiert werden: • (V1) Die sozialräumliche Organisation der Stadt weist Querbezüge zu (insbesondere tages-)zeitlichen Alltagsrhythmen auf (Chronotope). Es wird erwartet, dass Gebiete mit hoher Openness to Diversity zugleich auch Gebiete sind, in denen zeitliche Entgrenzungsund Flexibilisierungsprozesse am deutlichsten zu erkennen sind. • (V2) Raum-zeitliche Muster des Fordismus, die sich als raum-zeitliche Trennung von Arbeits- und Lebenswelt charakterisieren lassen, koexistieren in der Stadt neben postfordistischen Mustern, die durch ein räumliches und zeitliches Ineinandergreifen der verschiedenen Lebensbereiche gekennzeichnet sind. Während der CBD, die Gewerbe- und Industriegebiete sowie die suburbanen Vorortgürtel eine deutliche raum-zeitliche Taktung aufweisen, lassen sich in funktionsgemischten Quartieren Tendenzen zur Auflösung der starren tageszeitlichen Rhythmen erkennen. Die Teilung der Stadt in Areale mit verschiedenen Rhythmen ist damit zugleich eine Teilung der Stadt nach unterschiedlicher Alltagsorganisation. • (V3) Diese funktionsgemischten Quartiere sind nicht nur durch eine Auflösung der Rhythmen gekennzeichnet, sondern weisen Tendenzen einer Entgrenzung der tageszeitlichen Aktivitätszeiten auf Kosten kollektiver Ruhezeiten auf. Es bilden sich „Zitadellen kontinuierlicher Aktivität“ aus, die rund um die Uhr aktiv sind. Eine Überprüfung der Implikationen der Verzeitlichungshypothese (V1– V3) am Beispiel Hamburgs erfolgt in Kapitel 5.
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3.3 Ansatz zur Analyse der raum-zeitlichen Alltagsorganisation Die Untersuchung der Stadt der Spätmoderne im Hinblick auf ihre Wechselwirkungen mit den gesellschaftlichen Phänomenen, die zuvor mit den Schlagworten Fragmentierung, Entgrenzung und Flexibilisierung beschrieben wurde, ist eine klassische „Makrohypothese“: Der Untersuchungsgegenstand ist ein vermuteter Zusammenhang zwischen sozialer und physisch-materieller Welt. Makrohypothesen bergen die Gefahr ökologischer Fehlschlüsse, da unter Umständen statistische Zusammenhänge sozialer oder sozialräumlicher Aggregate festgestellt werden, die in keinem sachlogischen Bezug zueinander stehen. Auf dieses Problem wurde in Kapitel 2.2 dieser Arbeit bereits im Kontext der Sozialraumanalyse sowie der Kreativitäts-Debatte hingewiesen. Um ökologische Fehlschlüsse zu vermeiden, aber dennoch stadtstrukturelle Entwicklungstrends abbilden zu können, ist die vorliegende Untersuchung auf mehreren Aggregatebenen angelegt. Der Zusammenhang zwischen sozialem und sozialräumlichem Wandel kann als Strukturebene angesprochen werden, die vor dem Hintergrund der „Folie der Stadt“ am Beispiel Hamburgs erörtert wird. Diese in den vorherigen Abschnitten dargelegte Analyseebene bezieht sich auf die Struktur und den Wandel städtischer Teilräume und damit auf „klassisch geographische“ Raumaggregate und ist an die humanökologische Forschungstradition der „social area analysis“ angelehnt. Diese strukturanalytische Perspektive soll durch eine Betrachtung der Alltagsorganisation der Stadtbewohner ergänzt werden. Daher wurde in ausgewählten Quartieren Hamburgs eine Primärerhebung (schriftliche Befragung von netto 694 Probanden) durchgeführt, um die raum-zeitliche Alltagsgestaltung der Individuen besser zu verstehen. Ein derart holistisches Vorgehen war auch schon für die klassische Humanökologie kennzeichnend. So wurden in der humanökologischen Raumanalyse „nicht nur strukturelle, auf Indikatoren gestützte Verteilungen sozioökonomischer Merkmale im Raum [betrachtet, (T.P.)], sondern auch die realen Nutzungen gleichwertig in die Betrachtung einbezogen“ (RIEGE/SCHUBERT 2002, S. 13). Auf der gesamtstädtischen Analyseebene können Prozesse wie etwa die Fragmentierung städtischer Teilräume beschrieben werden; die dahinter liegenden Wirkungszusammenhänge erfordern allerdings eine Betrachtung „niedrigerer“ Aggregate, also der Ebene in Raum und Zeit handelnder Akteure. Insbesondere soll mit diesem Analyseschritt ein besseres Verständnis für
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die Entstehungsbedingungen der raum-zeitlichen Organisation der spätmodernen Stadt ermöglicht werden. Wie im einleitenden Kapitel dieser Arbeit dargestellt, kann die Veränderung der Arbeitsbeziehungen als immanent bedeutsames Feld für die Veränderungen der raum-zeitlichen Prozesse in der Stadt verstanden werden, da mit dem Wandel der Arbeitsbeziehungen auch eine Restrukturierung der alltäglichen Routinen ihrer Einwohner einhergeht. Mit der Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen und der Entgrenzung von Arbeitszeiten ist ein gestiegener Aufwand für die Organisation des Alltags des Einzelnen verbunden. Diese Veränderungen sind zunächst auf der Ebene der Individuen im Kontext ihrer jeweiligen Existenzverflechtungen wirksam und sollen im Hinblick auf ihre raum-zeitlichen Implikationen analysiert werden.
Methodologische Vorüberlegungen: Soziale Gruppen, handelnde Individuen und Raum Während die Analyse räumlicher Aggregate (in diesem Fall: Stadtteile) mit quantitativen Methoden handhabbar ist, sind mit der Betrachtung individueller Akteure methodische Schwierigkeiten verbunden, auf die bereits in Kapitel 2.1 im Kontext der Aktionsraumforschung hingewiesen wurde: Das Handeln vieler einzelner Akteure ist nur dann systematisch erfassbar, wenn die Individuen wiederum zu Aggregaten zusammengefasst werden (etwa zu sozialen Gruppen oder aber zu Personenmengen gleichen sozialgeographischen Verhaltens). Akteure, die sich hinsichtlich ihres raum-zeitlichen Verhaltens ähnlich sind, müssen aber keineswegs Ähnlichkeiten in Bezug auf soziale Interaktions- oder Schließungsprozesse aufweisen und können damit nicht als soziale Gruppen, sondern nur als verhaltenshomogene Gruppen angesprochen werden. Verhaltenshomogene Gruppen wiederum sind bloße Artefakte zur Beschreibung raum-zeitlichen Verhaltens und tragen kaum zum Verständnis von Aktionsräumen bei (vgl. Kapitel 2.1.2). Erklärungsversuche zur Analyse der Mobilität unter Rückbezug auf verhaltenshomogene Gruppen sind zudem einem raumdeterministischen Denken verhaftet und erscheinen oftmals tautologisch („Fernpendler pendeln täglich weite Distanzen.“, „Hausfrauen kaufen ein.“). Der Versuch, aktionsräumliches Verhalten aus „echten“ sozialen Gruppen (wie etwa Lebensstilgruppen) heraus zu erklären, ist, wie das in Kapitel 2.1.3 erörterte Beispiel der Mobilitätsstilforschung zeigt, bis dato noch wenig erfolgversprechend.
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Als zusätzliche methodologische Schwierigkeit kommt hinzu, dass gerade für die Spätmoderne eine Entankerung von räumlicher und sozialer Organisation angenommen werden kann (vgl. WERLEN 2004, S. 312). WERLEN schlägt deshalb vor, „dass weder ‚Raum‘ noch ‚Gruppen‘ den Gegenstand sozialgeographischer Forschung bilden [sollten, (T.P.)], sondern die menschlichen Tätigkeiten, und zwar unter der Berücksichtigung der sozialkulturellen und physisch-materiellen Bedingungen“ (ebd., S. 310). Dies würde in Bezug auf die Rahmenfrage der vorliegenden Arbeit nicht nur die Ablehnung sozialräumlicher Dynamik als Explanandum bedeuten, sondern auch hinsichtlich der raum-zeitlichen Koordination des Alltags eine Abkehr der Betrachtung sozialer Gruppen und eine Fokussierung auf die Untersuchungseinheit „Weg“ nahelegen. 10 Ob sich der Sinn von Handlungen (resp. der Sinn unternommener Wege) allerdings gänzlich ohne eine Betrachtung der Projekte, in die sie eingebettet sind, erfassen lässt, darf bezweifelt werden. Darauf weist auch WERLEN hin, wenn er Handlungen als „intentionalen Akt“ begreift, „bei dessen Konstitution sowohl sozialkulturelle, subjektive wie auch physisch-materielle Komponenten bedeutsam sind“ (ebd., S. 313). Die Akteure und ihre Projekte erscheinen also zumindest für das Verständnis ihrer Handlungsmotive als relevant. Zwar mögen für die Gestaltung städtischer Rhythmen – etwa im Sinne HENCKELs – die Sinnzusammenhänge der Handlungen zunächst nur sekundär von Interesse sein, spätestens aber wenn Prognosen zur Entwicklung alltäglicher Rhythmen in unterschiedlichen Stadtquartieren erfolgen sollen, ist die Kenntnis der sinnhaften Zusammenhänge der Handlungen unverzichtbar. Zudem stellt sich die Frage, ob die für die Spätmoderne kennzeichnende Entankerung von räumlicher und sozialer Organisation zwingend zu einer Aufgabe von Forschungsperspektiven führen muss, deren Er10 Unklar ist dabei die grundsätzliche Ablehnung WERLENs von sozialen Gruppen als Betrachtungsgegenstand der sozialgeographischen Forschung. Denn selbst wenn soziale Gruppen nicht handeln, so vermitteln sie dennoch über Werte Zielsysteme, die es durch individuelles Handeln zu erreichen gilt. Hieraus sollten zumindest kollektiv geteilte Handlungsziele erkennbar werden, die auch von sozialgeographischer Relevanz sein könnten. Dies sagt WERLEN auch selbst: „Bei der subjektiven Sinngebung geht der Einzelne […] nicht beliebig vor, sondern orientiert sich mehr oder weniger bewusst an einem intersubjektiven (das heißt allgemeingültigen) Bedeutungszusammenhang. Letzterer ist ein gesellschaftlich und kulturell vorbereitendes Orientierungsraster und umfasst bestimmte Werte, Normen und Postulate, welche die Handlung mit einer idealen Vorstellung in Beziehung bringen, sowie ein bestimmtes Erfahrungswissen“ (WERLEN 2004, S. 318). Dabei gilt: „Nur Individuen können Akteure sein. Aber es gibt keine Handlungen, die ausschließlich individuell sind“ (ebd., S. 321). 214
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kenntnisgegenstand räumlicher Art sind, wie WERLEN dies vorschlägt. Für WERLENs Geographie alltäglicher Regionalisierung ist Raum nur insofern von Interesse, als „das Räumliche als Dimension des Handelns gesehen (werden soll, T.P.), nicht umgekehrt“ (WERLEN 2004, S. 309). Damit erfolgt eine Reduktion des Erkenntnisprogramms der Sozialgeographie, die WERLEN als „raumorientierte Handlungswissenschaft“ (ebd., S. 310) versteht. WERLEN zufolge wären hingegen räumliche Verteilungsmuster kein Untersuchungsgegenstand der heutigen Geographie. Ähnlich wie WERLEN geht auch THRIFT (1993) von einer zunehmenden raum-zeitlichen Entankerung der Gesellschaft in der Spätmoderne aus, deren Ursache insbesondere in einer zunehmenden Bedeutung von indirekter Interaktion zu suchen ist. Allerdings kommt THRIFT zu gänzlich anderen Schlüssen hinsichtlich des (sozial-)geographischen Erkenntnisprogramms als WERLEN: Da die Spätmoderne mit einer Auflösung der räumlichen Kammerung der Gesellschaft einhergehe, sollte der Forschungsschwerpunkt der Regionalen Geographie nicht mehr auf Orte, sondern auf Mobilität gerichtet sein. Ähnlich argumentiert auch SCHEINER (2000), wenn er den „Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse wie etwa der Individualisierung, die sich in zunehmender Heterogenität von Aktionsräumen äußert“ (ebd., S. 99) als bedeutsames Forschungsfeld der heutigen Geographie versteht. Die Abkehr vom Raum als Explanandum geographischer Forschung brächte zudem mit sich, dass (wieder) erstarkende Territorialisierungsstrategien durch eine derartige „neue Raumblindheit“ der Geographie übersehen würden. Dies ist gerade in Bezug auf die derzeit zu beobachtende Aneignung von Szene-Stadtteilen durch bzw. für die Kreative Klasse von Bedeutung. Diese Entwicklung lässt sich als Reterritorialisierung bzw. Wieder-Verankerung im Sinne von WERLENs alltäglicher Regionalisierung11 verstehen, die durchaus nicht nur eine symbolische, sondern insbesondere auch eine physisch-räumliche Komponente aufweist, als deren Folgen Verdrängungsprozesse und Entmischungstendenzen angenommen werden müssen und im Extremfall eine Verschärfung der sozialen Spaltung der Stadt in räumlicher sowie zeitlicher Perspektive droht. Eine engagierte Stadtforschung sollte daher (auch) den Raum als Registrierplatte des sozialen Wandels nutzen, gerade auch wenn es darum geht, mittels planerischer Interventionen unerwünschten Tendenzen der sozialräumlichen Polarisierung in Städten entgegenzuwirken.
11 Regionalisierung ist für WERLEN eine Form der sozialen Praxis, „anhand derer die Subjekte die Welt auf sich beziehen“ (WERLEN 1997, S. 16). 215
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Zur quantitativen Analyse derartiger Prozesse sind adäquate Gruppenkonzepte notwendig, die als Explanans verwendet werden können. Diese sollen deduktiv hergeleitet werden.
Relevante Gruppenkonzepte zur Analyse der raum-zeitlichen Organisation Für die in der Spätmoderne zu beobachtenden räumlichen und zeitlichen Veränderungen müssen neben dem Wandel technologischer und institutioneller Rahmenbedingungen insbesondere gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozesse als konstituierend angenommen werden. Dabei gehen Prozesse der Pluralisierung von Werten und Normen mit Prozessen des Wandels von Arbeitsbeziehungen einher. Die im Hinblick auf die räumlichen sowie zeitlichen Bezüge bedeutsamsten dieser Entwicklungen sind in den Kapiteln 2.1.3 und 2.1.4 dargestellt worden. Als raum-zeitlich relevante Prozesse des sozialen Wandels wurden dabei die Ausdifferenzierung verschiedener Lebensstile, die veränderten Praktiken geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in Familien- und Paarhaushalten sowie die Pluralisierung von Haushaltstypen herausgestellt. Mit der Veränderung der Arbeitsbeziehungen der Spätmoderne, die diesen sozialen Wandel mitbedingen, ist insbesondere der Abbau von Normalarbeitsverhältnissen, die (Zwangs-)Flexibilisierung von Arbeitszeiten sowie die steigende Bedeutung von Kreativität als Ressource der Wissensgesellschaft kennzeichnend und – was im empirischen Teil dieser Arbeit gezeigt werden soll – hinsichtlich der raum-zeitlichen Alltagsorganisation bedeutsam. Als Folge dieser Entwicklung kann für viele Individuen und Haushalte eine zunehmende Konvergenz von Arbeit und Leben angenommen werden (Veränderung der „Work-Life-Balance“), die mit einer Veränderung raum-zeitlicher Rahmenbedingungen (constraints) einhergeht. Entlang der, aus diesen Überlegungen herleitbaren gesellschaftlichen Großgruppen sollen Querbezüge zur raum-zeitlichen Organisation des Alltags herausgearbeitet werden. Die zentralen Bestimmungsgrößen für das raum-zeitliche Verhalten und die Ausgestaltung von Aktionsräumen ergeben sich dabei aus den Ausführungen in Kapitel 2. Zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls in welchem Maße verschiedene soziale Gruppen auch durch eine unterschiedliche raum-zeitliche Alltagsorganisation gekennzeichnet sind. Vor dem Hintergrund des zu erwartenden Fortschreitens des gesellschaftlichen Wandels in Richtung „spätmoderner Wissensgesellschaft“ kann, so die relevanten Bestimmungsgrößen bekannt sind, eine Prognose für die Entwicklung des aktionsräumlichen 216
KONZEPT DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG IN HAMBURG
Verhaltens (und damit auch der Ansprüche an den Stadtraum) abgeleitet werden. Ferner sind Interdependenzen von Wohnstandortwahl und Aktionsräumen anzunehmen. Bereits in früheren Aktionsraumstudien konnte nachgewiesen werden, dass die Erreichbarkeit von Gelegenheiten die tatsächliche Nutzung bedingt, insbesondere dann, wenn weitere Einflussfaktoren (etwa die Kapitalausstattung des Haushaltes) mitbetrachtet werden (vgl. FRIEDRICHS 1990). Weitere Interdependenzen ergeben sich dadurch, dass eine bewusste Wohnstandortentscheidung unterstellt werden muss, die (zumindest teilweise) auch aufgrund der benötigten individuellen Infrastrukturausstattung in Abhängigkeit der raum-zeitlichen Alltagsgestaltung getroffen wurde. Schließlich können normative Quartierseffekte (Lernprozesse) unterstellt werden, die auch die raum-zeitliche Alltagsgestaltung (etwa über Präferenzmuster) mitbedingen. Tabelle 5: Untersuchungsperspektiven Alltagsorganisation und Aktionsraum Untersuchungsfelder / Perspektiven
Fordistischer Idealtyp
Postfordistischer Wandlungstyp
Kennzeichnung der Arbeitsbeziehungen
Normalarbeitsverhältnis, Industriegesellschaft, bürokratische Ordnung, Gewerkschaftliche Organisation
Flexibilisierte Arbeitsbeziehungen, „kreative Wissensgesellschaft“
Haushaltsstrukturen und Existenzverflechtungen
Deutliche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familienhaushalten
Egalitäre Geschlechterrollen in Mehrpersonenhaushalten
Vorwiegend symbiotische Existenzverflechtungen
Vorwiegend synergetische und synkulturelle Existenzverflechtungen
Differenzierung der Lebensstile
Affinität zum Trivialschema bzw. Hochkulturschema (je nach Status), Distanz zum Spannungsschema
Affinität zum Spannungsschema, ggf. in Kombination mit Hochkulturschema oder Trivialschema (je nach Status), Konsumismus
Wohnstandortentscheidungen und Wohnpräferenzen
Suburbaniten, räumliche und zeitliche Trennung von Arbeit und Leben (Berufspendler)
(Re-)Urbaniten, räumliche und zeitliche Konvergenz von Arbeit und Leben, lokale Organisation des Alltags
Eigener Entwurf
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Als sozial relevante Felder, anhand deren ein postfordistischer Wandlungstyp in raum-zeitlicher Perspektive von einem fordistischen Idealtyp unterschieden werden kann, sollen dabei die vier in Tabelle 5 aufgeführten Dimensionen als Ausgangspunkt der Analyse dienen. Diese lassen sich aus den zuvor beschriebenen Tendenzen des spätmodernen Wandels deduktiv ableiten. Für diesen „fordistischen“ sowie den „postfordistischen Idealtyp“ können im Rückgriff auf die zuvor erörterten Untersuchungsfelder (bzw. -perspektiven) eine unterschiedliche raum-zeitliche Alltagsorganisationsweise angenommen werden. Die gesellschaftlichen Perspektiven werden anhand sozialstatistischer Indikatoren operationalisiert. Darauf aufbauend sollen diese Gruppen dann hinsichtlich ihrer raum-zeitlichen Alltagsorganisation analysiert werden. Überprüft werden soll, ob für die Ausdifferenzierung von Aktionsräumen die neuen Haushaltsstrukturen und Existenzverflechtungen, die neuen Lebensstilformen sowie der Wandel der Arbeitsbeziehungen als konstitutiv verstanden werden können. Die hiermit verbundenen Implikationen werden in Kapitel 6 noch näher erörtert.
Aktionsraum als Abbild der routinisierten raum-zeitlichen Alltagsgestaltung Aus den zuvor dargestellten Ausführungen wurde bereits deutlich, dass durch den Aktionsraum von Individuen die jeweilige routinisierte raumzeitliche Alltagsgestaltung erkennbar und quantitativ erfassbar wird. Klassische Variablen zur empirischen Analyse von Aktionsräumen sind insbesondere die Zahl der zurückgelegten Wege pro Tag sowie die Länge der Wege. In Abhängigkeit vom jeweiligen Erkenntnisinteresse werden insbesondere noch Verkehrsmittelwahl (inkl. Modal Split), Zahl der Begleiter, Grund des jeweils unternommenen Weges, genaue Ortsangaben der Ziele sowie die Uhrzeiten von Beginn und Ende jedes Weges betrachtet. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist die Verkehrsmittelwahl und die Begleitmobilität nicht von zentralem Interesse, diese werden im Folgenden nicht näher betrachtet (allerdings wurden diese Indikatoren im Rahmen der schriftlichen Befragung miterhoben). In der Analyse des raum-zeitlichen Alltagshandelns erhalten die zeitbezogenen Größen vor dem Hintergrund der angenommenen zeitlichen Entgrenzung und Flexibilisierung in der vorliegenden Studie ein größeres Gewicht als in der klassischen Aktionsraumforschung.
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KONZEPT DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG IN HAMBURG
Unter Rückgriff auf die Kombination zeitlicher und räumlicher Aktionsraumparameter sowie die Wegzwecke können verhaltenshomogene Gruppen ausgewiesen werden, deren Aktionsräume durch eine mehr oder weniger starke Konvergenz von Arbeit und Leben geprägt sind. Da es sich bei der Konvergenz von Arbeit und Leben um ein relationales Konzept handelt, erfolgt die konkrete Operationalisierung erst nach Erläuterung der empirischen Messwerte der Untersuchung in Hamburg (Kapitel 6.3). An dieser Stelle soll festgehalten werden, dass eine raum-zeitliche Messung der Konvergenz von Arbeit und Leben anhand aktionsräumlicher Parameter möglich ist. Mit Hilfe derart generierter Aktionsraumtypen sollen fordistische von postfordistischen Alltagsorganisationsweisen unterscheidbar werden. Neben der „Work-Life-Balance“ wurde insbesondere die räumliche Verteilung der relevanten Gelegenheiten als kennzeichnend für die Differenzierung von fordistischen bzw. postfordistischen Aktionsräumen erkannt. Die dahinterstehende Vorstellung behauptet eine Differenzierung des Raumes in verschiedene Domains, die geometrisch als Schnittmengen der Aktionsräume bestimmter Gruppen repräsentiert werden können: Während das Bild des im suburbanen Raum wohnenden Berufspendlers mit einer „fordistischen“ Trennung von Arbeit und Leben gekoppelt zu sein scheint, wird für „postfordistische“ Alltagsgestaltungen eine räumlich dichte Anordnung von Gelegenheiten und eine starke Bedeutung des Quartiers angenommen. Demnach sollten Orte mit einer hohen Konzentration an Arbeitsplätzen oder auch monofunktionale Wohnstandorte Domains der „fordistischen Arbeitnehmer“ sein. Demgegenüber sind funktionsvielfältige Quartiere, die eine hohe Konvergenz von Arbeit und Leben ermöglichen, als Domains der „postfordistischen Wissensarbeiter“ (resp. der „creative professionals“) anzusprechen. Im Rahmen der empirischen Untersuchung der Aktionsräume von Bewohnern ausgewählter Quartiere Hamburgs soll diese Hypothese überprüft werden. Neben der Weglänge als Indikator für die räumliche Nähe spielt dabei die Ausrichtung der Aktionsräume eine Rolle, was die Frage nach der physisch-materiellen Gestalt von Aktionsräumen aufwirft. Entgegen der Vorstellung, dass der Aktionsraum als Fläche repräsentierbar ist (zweidimensionale Struktur), können Wege eher als linienhafte, eindimensionale Strukturen verstanden werden, zumal unklar ist, inwiefern die abseits der Wege liegenden Gebiete dem Individuum bekannt sind, geschweige denn zu seinem Aktionsraum im engeren Sinne gerechnet werden können. KLINGBEIL (1978) versteht den Aktionsraum sogar nur als bloße Anordnung von Punkten im Raum. Dieser Vorstellung zu folgen würde allerdings bedeuten, dass die Größe eines Aktionsraums 219
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(verstanden als nulldimensionale Anordnung von Punkten) im engeren Sinne überhaupt nicht kartographisch erfassbar ist: „Demnach ist der Aktionsraum von Personen oder Gruppen ein relationaler Begriff, der die Beziehungen von Individuen zu Orten zum Inhalt hat. Er enthält keinen Flächenbezug, da die Aktivitätenorte als Punkte behandelt werden können. Die Aktionsräume der Individuen können sich folglich auch auf mannigfache Weise auf derselben Fläche durchdringen“ (KLINGBEIL 1978, S. 118). Wenn nun aber Aussagen, etwa über die Nutzung von im Stadtraum verteilten Gelegenheiten, getroffen werden sollen, die über das Individuum hinausweisen, müssen Aktionsräume zwangsläufig regionalisiert – also auf eine Fläche bezogen – werden. Nur so können etwa Schnittmengen von Aktionsräumen erkannt werden, die einen raumanalytischen Zugang zu Domains erlauben. Bei einer Interpretation dieser Analyse sollte der ausschließlich modellhafte Charakter einer „flächenhaften“ Aktionsraumvorstellung berücksichtigt werden. Zur Regionalisierung von Aktionsräumen wird das von RINDSFÜSER/PERIAN/SCHÖNFELDER (2001) vorgeschlagene Verfahren der Konfidenzellipsen angewendet. Hierbei handelt es sich um eine geostatistische Methode, mit Hilfe deren die von einem Individuum (oder einer Gruppe) aufgesuchten Stationen im Raum durch eine einfache geometrische Struktur (Ellipse) repräsentiert werden. Der innerhalb der Ellipse liegende Raum wird somit als regionalisierter Aktionsraum verstanden. Bei der Durchführung des Verfahrens werden die Ellipsen so im zweidimensionalen Raum positioniert, dass ein zuvor definierter Teil der aufgesuchten Stationen (resp. der Punkte im Raum) innerhalb der Ellipse liegen (im vorliegenden Fall: Konfidenzintervall 90%). Durch eine räumliche Überlagerung der so gebildeten Flächen mit Hilfe eines GIS können Areale ausgewiesen werden, die modellhaft als „gemeinsamer Aktionsraum“ der untersuchten Personengruppen gelten können. Abbildung 7 verdeutlicht das Verfahren an einem Beispiel von acht Wegeprotokollen aus der durchgeführten Aktionsraumstudie in Hamburg. Dargestellt sind die individuellen Aktionsräume von jeweils vier Probanden aus dem Schanzenviertel sowie aus Niendorf. Neben den Überschneidungsbereichen der Ellipsen, die als schematische Darstellungen des „geteilten“ Aktionsraumes aufgefasst werden können, ist insbesondere die Exposition der Aktionsräume erkennbar. Mit einem derartigen kartographischen Verfahren soll es in Kapitel 6 gelingen, die „Ortseffekte“ der Aktionsräume zu visualisieren und für einen analytischen Zugriff handhabbar zu machen.
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Abbildung 7: Regionalisierung gemeinsamer Aktionsräume durch die Überlagerung von Konfidenzellipsen. Mann (38 J.) lebt in modernisiert-bürgerlichem Familienhaushalt (2 Kinder) Leitender Angestellter Startzeit: 7:45h Rückkehr: 19:10h
Mann (58 J.) lebt in modernisiert-bürgerlichem Familienhaushalt (2 Kinder) Betriebswirt (angestellt) Startzeit: 8:30h Rückkehr: 19:30h
Mann (37 J.) lebt in traditionell-bürgerlichem Familienhaushalt (1 Kind) Technischer Angestellter Startzeit: 6:50h Rückkehr: 18:45h Frau (64 J.) lebt in Paarhaushalt beide Partner Rentner Startzeit: 8:40h Rückkehr: 16:45h
Mann (32 J.) Sülldorf lebt in Wohngemeinschaft Student, Iserbrook Job: Web-Designer Startzeit: 10:00h Osdorf Rückkehr: 20:40 Frau (26 J.) lebt in Wohngemeinschaft Nienstedten Studentin, Job: Musikmanagement Startzeit: 7:50h Rückkehr: 23:20h Frau (42 J.) lebt in egalitär-erwerbsbezogenem Finkenwerder Paarhaushalt ArtNeuenfelde Director (Angestellte) Startzeit: 9:00h Rückkehr: 21:50h Francop
Steinwerder
Mann (41 J.) lebt in Wohngemeinschaft Fotograf (selbstständig) Waltershof 9:00h Startzeit: Rückkehr: 22:40h Altenwerder
Eigener Entwurf
Zentrale Annahme bei der Untersuchung von Aktionsräumen ist, dass bestehende Existenzverflechtungen, zeitliche Normen in bestehenden Arbeitsverhältnissen, Lebensstile sowie die infrastruktrellen Gegebenheiten (Ortseffekte) die Gestalt von Aktionsräumen maßgeblich mitbestimmen. Unter den Bedingungen des spätmodernen Wandels, für den eine räumliche und zeitliche Entgrenzung der ehemals getrennten Bereiche „Leben“ und „Arbeiten“ angenommen wird, wird eine tendenzielle Auflösung der starren zeitlichen Taktung des Alltags sowie eine Auflösung der räumlichen Trennung von Arbeitsort und Wohnort vermutet. Dieser Wandel kann als Konvergenz von Arbeit und Leben angesprochen werden, der auch in raum-zeitlicher Hinsicht erkennbar werden sollte. Dabei wird für den Grad an Konvergenz von Arbeit und Leben eine Abhängigkeit von sozialen Rahmenbedingungen vermutet.
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ENTGRENZTE STADT
Diese Hypothese lässt sich unter dem Stichwort „Konvergenzhypothese“ (K1–K4) zusammenfassen und wie folgt explizieren: • (K1) Es besteht eine Ausdifferenzierung von Aktionsräumlichen Typen in der Spätmoderne, die auf die verschiedenen Organisationsweisen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in Familien- und Paarhaushalten zurückzuführen ist. Angenommen wird, dass Aktionsräume, die als „klassischer Berufspendlertyp“ anzusprechen sind (wenige Wege am Tag bei zugleich relativ großen Wegdistanzen), typisch sind für Haushalte mit einer deutlichen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Dieser Aktionsraumtyp bedarf eines unterstützenden Komplementärs, dem die Reproduktionsarbeit zufällt und dessen alltäglicher Aktionsraum durch viele, zumeist kurze Wege gekennzeichnet ist. Demgegenüber zeichnen sich Haushalte mit einer egalitären geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung durch einen erhöhten Mobilitätsaufwand für alle Haushaltsmitglieder aus, in dem Momente der Konvergenz von Arbeit und Leben auch aktionsräumlich zum Ausdruck kommen. • (K2) Veränderungen der Muster raum-zeitlicher Alltagsorganisation und Aspekte des sozialen Wandels stehen zueinander in einem wechselseitigen Zusammenhang: Im aktionsräumlichen Verhalten drückt sich auch die Pluralisierung von Lebensstilen aus. Lebensstilgruppen, die eine Affinität zum Spannungsschema aufweisen, sind in größerem Maße außerhäuslich orientiert und lassen aktionsräumlich eine stärkere Konvergenz von Arbeit und Leben erkennen. Stadtquartieren, die sich zur Zurschaustellung expressiver Lebensstilmerkmale besonders eignen, kann dabei eine „Bühnenfunktion“ beigemessen werden (sogenannte Szeneviertel). • (K3) Verschiedene Stadtviertel bieten eine sehr unterschiedliche Chance zur Realisierung einer „spätmodernen“ Alltagsorganisation. Funktionsoffene Quartiere, die durch ihre soziale sowie bauliche Struktur eine Umnutzung von Wohngebäuden zu kleinen und mittelständischen Büros, von Ladenlokalen zu Bars und Cafes ermöglichen, sind besondere Gunsträume der spätmodernen Wissensgesellschaft bzw. der Kreativen Klasse, da sie die Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt am besten unterstützen. • (K4) Es findet eine Segregation nach alltäglichen Zeitverwendungsmustern statt. Während eine raum-zeitliche Trennung von Arbeit und Leben eine Wohnstandortwahl im suburbanen Raum ermöglicht, sind besonders von Konvergenz von Arbeit und Leben geprägte Berufs- oder Lebensstilgruppen auf eine „Stadt der kurzen Wege“ angewiesen, die ihre Alltagsorganisation unterstützt und in vielen Fällen erst möglich macht. Dies führt zu Ortseffekten, die in eine 222
KONZEPT DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG IN HAMBURG
raum-zeitliche Spaltung der Stadt hinsichtlich unterschiedlicher Quartiersrhythmen mündet und entlang der Achse „fordistische vs. postfordistische Stadt“ beschrieben werden kann. Die empirische Überprüfung der Konvergenzhypothese (bzw. ihrer Teilhypothesen K1-K4) wird mittels einer Aktionsraumstudie in Kapitel 6 durchgeführt. Basis für die Auswahl der Untersuchungsgebiete der Aktionsraumstudie ist die gesamtstädtische Strukturanalyse, die hinsichtlich des raumstrukturellen Wandels in Kapitel 4 und hinsichtlich der Zeitverwendungsmuster und der Aktivitätsrhythmen in Kapitel 5 erfolgt.
223
4 SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG ALS KENNZEICHEN DER STADT DER SPÄTMODERNE. UNTERSUCHUNG AM BEISPIEL HAMBURGS
Die soziale Ungleichheit in Städten zählt zu den zentralen Gegenwartsproblemen unserer Gesellschaft. Obgleich ein offenkundiger Zusammenhang von Merkmalen der sozialen Lage und der Wohnlage zu bestehen scheint, der zu Konzentrationen von städtischen Armutsgebieten einerseits und „Nobelbezirken“ andererseits führt, existieren – zumindest für deutsche Städte – kaum aktuelle Untersuchungen, die im Sinne eines sozialräumlichen Monitorings auch über den Wandel städtischer Teilräume Auskunft geben könnten. 1 Die Gründe für diesen Bedeutungsverlust quantitativer empirischer Verfahren zur Messung und laufenden Beobachtung sozialer Ungleichheit in Städten wurden bereits in Kapitel 2.2.1 diskutiert. Der wohl bedeutsamste Einwand gegen diese sozialräumlichen Analysen kann in dem Umstand gesehen werden, dass die Folgen der Individualisierung und des Wertewandels bislang nicht hinreichend durch die von den kommunalen Statistikämtern bereitgestellten Indikatoren abgebildet werden konnten. Mit der Fragmentierungshypothese wird gleichsam ein mehrdimensionaler Wandel städtischer Teilräume vermutet, der über die vertikale
1
Eine Ausnahme ist die Stadt Berlin, die im Jahr 2000 ein „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ installiert hat. Folgeuntersuchungen wurden in den Jahren 2004, 2006 und 2007 durchgeführt. Allerdings wurde die Erhebungsmethodik zwischen den einzelnen Zeitschnitten verändert, sodass eine Beobachtung der Entwicklung der städtischen Teilräume zwischen 2000 und 2007 nur eingeschränkt möglich ist. 225
ENTGRENZTE STADT
soziale Ungleichheit hinausweist und zu einer sozialräumlichen Desorganisation bzw. Zerklüftung der Stadt führt (Teilhypothese F2). Während die Teilhypothese F1 eine Zunahme der sozialen Stratifikation im stadträumlichen Kontext behauptet, wird mit der Teilhypothese F3 ein Bedeutungszuwachs sozialkultureller Differenzierungskriterien für Segregationsprozesse seit Mitte der 1990er Jahre vermutet (vgl. Kapitel 3.1). In diesem Kapitel soll die Fragmentierungshypothese (F1-F3) am Beispiel Hamburgs überprüft werden. Die für diesen Untersuchungsschritt relevanten Dimensionen der sozialräumlichen Differenzierung wurden in Kapitel 3.1 theorieorientiert hergeleitet. Als eine die klassische sozialökologische Perspektive ergänzende sozialräumliche Dimension, anhand deren sich sozialkulturelle Differenzierungsprozesse in der Stadt erkennen lassen sollten, wurde der Indikator Openness to Diversity entwickelt. Ausgangspunkt der Überlegung, dass sich eine Segregation entlang dieser evaluativen Dimension beobachten lassen könnte, ist der Ansatz von Richard FLORIDA. Die Vorstellung von einer in ihrer Wohnstandortwahl weitgehend freien Kreativen Klasse ist anschlussfähig an Vorstellungen einer spätmodernen Stadtentwicklung, in der Aspekte des Lebensstils an Bedeutung gewinnen und der öffentliche Raum als Bühne der Selbstinszenierung und Selbstversicherung durch Inklusionserfahrungen dient. Von besonderer Bedeutung für die Wohnstandortentscheidungen sind dabei die Wohnbedürfnisse und Präferenzmuster verschiedener Bevölkerungsgruppen. Die Wohnbedürfnisse der „Kreativen“ lassen sich dabei einerseits in ihrer physisch-materiellen und zeitstrukturellen, andererseits in ihrer symbolisch-kulturellen Perspektive beschreiben: Neben entsprechenden infrastrukturellen Angeboten, die auf die Bedürfnisse dieser Gruppe zugeschnitten sind, scheinen vor allem die vorherrschenden Werte der Bewohner von Bedeutung zu sein, die sich in Toleranz gegenüber anderen (Lebensstil-)Gruppen und einer „Offenheit gegenüber Vielfalt“ (Openness to Diversity) äußern. Bis dato werden Städte oder Regionen in der Planungspraxis hinsichtlich ihres „Kreativitätspotentials“ zumeist als homogene Einheiten betrachtet; dies gilt nicht nur für die von FLORIDA vorgenommenen quantitativen Analysen der Kreativen Klasse in den USA, sondern auch für ähnliche Forschungszugänge im europäischen Kontext.2 Es kann jedoch angenommen werden, dass die Kreative Klasse keineswegs
2
Vgl. etwa die Untersuchung zur Geographie der Kreativen Klasse in Deutschland von FRITSCH/STÜTZER (2007)
226
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
homogen über das Stadtgebiet verteilt ist, sondern vielmehr Segregationsprozesse eine Konzentration dieser Bevölkerungsgruppe in bestimmten „Szenevierteln“ bewirken (vgl. HESSE/LANGE 2007). Quantitative empirische Untersuchungen, die über die sozialräumliche Verteilung der Kreativen Klasse innerhalb von Städten Aufschluss geben, fehlen allerdings bislang noch. Im Folgenden soll am Beispiel Hamburgs versucht werden, die Kreative Klasse in ihrer sozialräumlichen Verteilung dem in Kapitel 3.1 dargestellten Untersuchungskonzept folgend empirisch zu erfassen und eventuelle Segregationsmuster zu erkennen. Teilziel dieses Arbeitsschrittes ist der Entwurf eines aktuellen Bildes der sozialräumlichen Differenzierung Hamburgs in der Spätmoderne, das als Basis für die daran anschließenden zeitgeographischen Untersuchungen dienen soll. Vermutet wird, dass die bekannten sozialräumlichen Differenzierungsgrößen der humanökologischen Stadtforschung (sozialer Status, Haushaltsstruktur, Ethnizität) nicht mehr zur Erklärung sozialräumlicher Differenzierung ausreichend sind. Mit der Betrachtung der räumlichen Verteilung der Kreativen Klasse über ihre Präferenzmuster soll zugleich eine Lebensstildimension in die Sozialraumanalyse integriert werden. 3 Insbesondere als Indikator für die innere Strukturierung der spätmodernen Stadt ist die sozialräumliche Verteilung der Kreativen Klasse von Bedeutung. So legt die Fragmentierungsthese nahe, dass in der Spätmoderne bestimmte Teilgebiete der Stadt (noch) als „fordistische Stadt“ angesprochen werden können, während sich in anderen (vor allem: innerstädtischen) Subgebieten die „kreative Wissensgesellschaft“ konzentriert. In diesen Arealen der Stadt sollten auch die Bedürfnisse und Alltagsroutinen besonders deutlich zu erkennen sein, die die Bewohner an eine „postfordistische Stadt“ stellen und die mit einer zunehmenden Bedeutung der Wissensgesellschaft verstärkt in stadtentwicklungsplanerischen Leitvorstellungen berücksichtigt werden müssen. Um die sozialräumliche Organisation der Stadt in ihrem Charakter zu erfassen und signifikante Änderungen der sozialräumlichen Differenzierungsmuster der „fordistischen“ Stadt nachvollziehen zu können, ist die Sozialraumanalyse multitemporal angelegt. Angenommen wird, dass mit den technischen, ökonomischen, sozialen und politischen Ver3
Wie in Kapitel 2.1.3 dargestellt, können Lebensstile auf der Individualebene kaum über eine einzige Dimension erfasst werden; auf der Ebene sozialer oder raumbezogener Aggregate ist diese Differenzierung in verschiedene habituelle, expressive oder evaluative Dimensionen allerdings schwerer zu reproduzieren. Sowohl Wertewandel- als auch Lebensstiluntersuchungen auf der Ebene sozialer Aggregrate operieren i.d.R. mit einer Lebensstilachse (vgl. Inglehart-Index, Sinus-Milieus oder auch den explizit raumanalytischen Ansatz von HEYE/LEUTHOLD 2006). 227
ENTGRENZTE STADT
änderungen ab etwa Mitte der 1990er Jahre die lebensstil-bezogene Segregation der „kreativen Wissensgesellschaft“ eine besondere Wirkmächtigkeit erfahren hat. 4 Des Weiteren ist zu fragen, ob es sich bei der gesellschaftlichen Herausbildung einer durch alltagsästhetische Muster konstituierten Kreativen Klasse im städtischen Kontext tatsächlich um ein neues Phänomen handelt, wie dies die Beschreibungen Richard FLORIDAs nahe legen. In diesem Fall würde nicht nur die stadtplanerische Relevanz von „Kreativität in der Stadtentwicklung“ gestärkt werden. Insbesondere würde hiermit die Notwendigkeit zur theoretischen Einbettung einer Perspektive, die die Bedeutung der auf Kreativität basierenden spätmodernen Wissensökonomie für innerstädtische Differenzierungsprozesse aufnimmt, deutlich werden. Parallel zu dieser neuen sozialräumlichen Differenzierung entlang der Achse „fordistische vs. postfordistische Stadt“ wird eine zunehmende statusbezogene Polarisierung der Stadt angenommen. So ist mit der Änderung der ökonomischen Basis der Städte in der Wissensgesellschaft offenkundig die Zunahme sozialer Ungleichheit verbunden, die aus einer tendenziell geringer werdenden Erwerbsbeteiligung von Personen mit unteren und mittleren Bildungsabschlüssen resultiert. Während in der (idealtypisch gedachten) fordistischen Stadt eine große Zahl von Industriearbeitern ein Auskommen fand, schwinden die Beschäftigungsmöglichkeiten für diese Personengruppen mit der Zunahme der Technisierung der Produktion einerseits sowie der Verlagerung arbeitsintensiver Produktionsschritte in Staaten und Regionen mit einem niedrigeren Lohnniveau andererseits. Inwiefern diese soziale Ungleichheit mit einer räumlichen Reorganisation seit 1995 verbunden ist, soll ebenfalls nachvollzogen werden. Angenommen wird eine zunehmende „Öffnung der sozialen Schere“ zwischen den statushohen und den statusniedrigen Quartieren sowie die Entstehung städtischer Armutsinseln gemäß der Fragmentierungshypothese F1. Schließlich ist zu überprüfen, ob die räumliche Überlagerung der Effekte, die durch die soziale Ungleichheit einerseits und die Lebensstildifferenzierung andererseits entstehen, zu einer Auflösung der altbekannten sozialräumlichen Muster führt. Gemäß der Fragmentierungs4
So kann die beginnende Expansionsphase des Internets etwa auf diese Zeit datiert werden (sogenannte Dot-Com-Ära). Etwa zeitgleich erfahren die Probleme, die mit der Globalisierung verbunden sind, eine verstärkte Medienrezeption und werden in einer zunehmend breiter werdenden Öffentlichkeit diskutiert, wenngleich sich eine breitere globalisierungskritische Bewegung erst mit den Protesten von Globalisierungsgegnern im Rahmen des Treffens der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle im Dezember 1999 formierte.
228
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
hypothese F2 würde dies bedeuten, dass aus sozialräumlicher Perspektive von einer mehrdimensional fragmentierten Stadt gesprochen werden kann. Diesen Überlegungen folgend ist die empirische Überprüfung der Fragmentierungshypothese F1–F3 in drei Arbeitsschritte gegliedert (vgl. Abbildung 8). Im ersten Analyseschritt soll überprüft werden, ob sich die „Kreative Klasse in Städten“ unter Verwendung eines sekundäranalytischen Vorgehens abbilden und in die sozialräumliche Betrachtung städtischer Teilräume integrieren lässt. Darüber hinaus sollen weitere relevante Dimensionen herausgearbeitet werden, die die sozialräumliche Differenzierung in der Spätmoderne beschreiben. Darauf aufbauend soll im zweiten Schritt die sozialräumliche Differenzierung erfasst werden. Abschließend soll in einem dritten Schritt die Bedeutung der herausgearbeiteten sozialräumlichen Differenzierungskriterien für innerstädtische Fragmentierungsprozesse analysiert werden. Neben der Betrachtung der Entwicklung der untersuchten städtischen Teilgebiete zwischen 1995 und 2007 ist insbesondere zu fragen, welcher Stellenwert einer Lebensstil-Dimension, die mit der Kreativen Klasse angesprochen ist, im Vergleich zu klassischen Merkmalen der sozialen Ungleichheit für die soziale Differenzierung der Stadt beigemessen werden kann. Abbildung 8: Verlauf der Untersuchung der Fragmentierungshypothese 1. Reproduktion der relevanten sozialräumlichen Differenzierungsachsen mit einem induktivem Verfahren
Ist die theoretisch hergeleitete Dimension Openness to Diversity mit einem induktiven Verfahren reproduzierbar? Lässt sich eine Differenzierung der Haushaltsstrukturen sowie des sozialen Status auch heute noch erkennen?
2. Erfassung der sozialräumlichen Strukturen in Hamburg
Ist eine räumliche Fragmentierung anhand der Auflöung sozialräumlicher Strukturmuster zu erkennen?
Auswahl der IndikatorClusteranalyse variablen Faktorenanalyse (social area analysis)
3. Betrachtung der Entwicklung der städtischen Teilgebiete im Hinblick auf Fragmentierung, Bewertung der Dimensionen Welche Entwicklungstendenzen sind für städtische Teilräume seit Mitte der 1990er Jahre zu erkennen? Welche Bedeutung haben die einzelnen sozialräumlichen Dimensionen für inner städtische Differenzierungsprozesse? Zeitreihenanalyse der Faktorwerte Entwicklung der Quartilsabstände
Eigener Entwurf
229
ENTGRENZTE STADT
4.1 Multitemporale Faktorialökologie als Verfahren zur Analyse fragmentierter Stadtentwicklungsprozesse Der Zugang zur empirischen Untersuchung innerstädtischer Fragmentierungsprozesse beruht darauf, die drei in Kapitel 3.1 deduktiv herausgearbeiteten Determinanten sozialräumlicher Differenzierung für verschiedene Bezugsjahre getrennt faktoranalytisch zu reproduzieren. 5 Auf diese Weise sollen nicht nur unterschiedliche Stadtquartiere sozialraumanalytisch charakterisierbar sein, sondern darüber hinaus signifikante Veränderungen ihrer spezifischen Sozialstruktur gemessen werden (vgl. zur Methodik der Messung sozialräumlicher Veränderungen WARME6 LINK/ZEHNER 1996). Als räumliche Aggregationsebene wurden die Stadtteile Hamburgs gewählt. Die Wahl dieser Betrachtungsebene erfolgte insbesondere aufgrund der Verfügbarkeit entsprechender sekundärstatistischer Daten. Der größte Nachteil einer Analyse auf Stadtteilebene besteht in der Problematik der relativ großen internen Heterogenität der einzelnen Gebiete. Stadtteile können gewissermaßen als „Relikte historischer Einteilungen und Abgrenzungen städtischer Raumeinheiten [verstanden werden (T.P.)]. Insbesondere die außerhalb der Altstädte gelegenen Stadtteile haben sich jedoch in den letzten 150 Jahren erheblich weiterentwickelt und können heute sozial wie baulich durchaus unterschiedliche, mitunter sogar gegensätzliche Siedlungs- und Quartierstypen einschließen“ (ZEHNER 2004c, S. 488). Andererseits sind aber die Stadtteile Hamburgs im Gegensatz zu etwaigen kleinräumigeren Einheiten zum großen Teil stark symbolisch verankert. Alltagsorganisatorische und kulturelle Aspekte sozialräumlicher Differenzierung (wie die Nutzung unterschiedlicher Subgebiete der Stadt zu unterschiedlichen Zeiten) sollten aufgrund des symbolischen Bezugsrahmens also vor allem auf der Ebene der Stadtteile erkenntlich werden. 7 Ferner kann Stadtteilen (im Unterschied zu kleineren räum5
6 7
In der vorliegenden Analyse wird die Entwicklung von 1995 bis 2007 in Dreijahresschritten untersucht. Die jüngsten Daten, die derzeit beim Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein erhältlich sind, beziehen sich auf das Jahr 2006. Abweichend zu den übrigen vier Zeitschnitten beziehen sich die in die Analyse eingehenden Wahlergebnisse nicht auf die letzte vergangene Bürgerschaftswahl, sondern auf die jüngste Wahl zur Bürgerschaft am 24.02.2008. Voraussetzung für die Abbildung von Entwicklungen ist die Stabilität der Faktoren zwischen den einzelnen Untersuchungsjahren. Die Stadtteile Hamburgs sind im Gegensatz zu anderen Gebietsabgrenzungen deutlich vom Prozess der „alltäglichen Regionalisierung“
230
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
lichen Einheiten wie etwa Baublocks oder den relativ alltagsfernen statistischen Gebietseinheiten) LÄPPLE/WALTER (2007) zufolge eine soziale Integrationsfunktion zur Vermittlung zwischen System- und Lebenswelt beigemessen werden. Zur sozialräumlichen Differenzierung wurden aus dem zur Verfügung stehenden Variablenset der amtlichen Statistik 14 Indikatoren ausgewählt 8 , die mittels einer explorativen Faktorenanalyse zu drei Hauptkomponenten pro Zeitschnitt verdichtet wurden (Abbildung 9). Diese Hauptkomponenten lassen sich als abstrakte Dimensionen interpretieren, die sich für die konkreten Ausprägungen der Indikatoren verantwortlich zeichnen. Die Auswahl der in die Analyse eingehenden Indikatoren erfolgte deduktiv (vgl. Kapitel 3.1): Neben Indikatoren, die „klassische“ Merkmale sozialräumlicher Differenzierung abbilden (sozialer Status, Haushaltsstruktur), wurden Variablen hinzugezogen, die sich aus dem von FLORIDA verwendeten „Melting Pot Index“ herleiten (Ausländeranteil, Mobilitätskennzahl). Die Operationalisierung des von FLORIDA vorgeschlagenen „Gay Index“ sowie des „Bohemian Index“ wurde aufgrund der in Kapitel 2.2.2 erörterten methodologischen Unschärfen nicht weiterverfolgt. Stattdessen sollte die Werthaltung, die FLORIDA mit den Begriffen der „tolerance“ bzw. „openness“ beschreibt, mittels der Präferenz für verschiedene Parteien gemessen werden. Während die Integrationspolitik konservativer Parteien für eine kulturelle Assimilation von Ausländern und damit konträr zu einer Hochbewertung ethnischkultureller Vielfalt steht, stehen insbesondere die Grünen für eine Wertorientierung, die auf die Förderung kultureller Vielfalt gerichtet ist. Dies spiegelt sich parteipolitisch nicht nur in der Position zur Ausländerintegration, sondern auch in der Frage nach dem Umgang mit anderen Minderheiten wie etwa Homosexuellen wider. 9
8
9
geprägt, die vor allem in den lokalen Medien ihren Ausdruck findet. Als ein Beispiel mag das Stadtmagazin „Szene Hamburg“ dienen, das seit 2006 in jedem Heft einen anderen Stadtteil in einem mehrseitigen Leitartikel vorstellt. Eine ähnliche Reihe mit dem Titel „Mensch, Hamburg!“ wurde zwischen 2005 und 2007 in dem wöchentlich im NDR-Fernsehen ausgestrahlten „Hamburg Journal“ gezeigt. Parallel zu den einzelnen Sendungen finden sich Reportagen über die jeweils vorgestellten Stadtteile im „Hamburger Abendblatt“, das die Stadtteilreportagen unter http://www.abendblatt.de/daten/2005/10/12/491639.html auch online zur Verfügung stellt (Zugriff vom 28.02.2008). Die Auswahl erfolgte v.a. im Hinblick auf die statistische Eignung für das Verfahren (KMO-Kriterium). Zum methodischen Vorgehen vgl. BACKHAUS et al. (2005). An dieser Stelle ist anzumerken, dass neben den Grünen auch andere politische Parteien eine auf kulturelle Vielfalt, Minderheitenintegration 231
ENTGRENZTE STADT
Der erste extrahierte Faktor erfasst die Indikatoren der vertikalen sozialen Ungleichheit und lässt sich als sozialer Status typisieren. Dieser wird positiv durch den Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern, die Anzahl der PKW je Einwohner, die durchschnittliche Größe der Wohnung sowie die durchschnittliche Wohnfläche je Einwohner geladen. 10 Der Anteil an Sozialhilfeempfängern sowie der Anteil an Arbeitslosen laden diesen Faktor negativ. Zudem manifestieren sich die Zusammenhänge zwischen ökonomischer Kapitalausstattung und dem Wahlverhalten in diesem Faktor: Mit steigendem sozialem Status geht tendenziell ein Zuspruch zur CDU und eine Abneigung zur SPD einher. Ferner korreliert der soziale Status negativ mit dem Anteil an Ausländern in einem Quartier. Der zweite ermittelte Faktor bildet die Haushaltsstruktur ab, wobei positive Faktorwerte mit einem hohen Anteil von Familien mit Kindern zusammenhängen. So wird der Faktor im Wesentlichen durch den Anteil der unter 18-Jährigen an der Bevölkerung sowie durch die durchschnittliche Haushaltsgröße 11 bestimmt. Des Weiteren laden der Anteil an Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern sowie die durchschnittliche Wohnungsgröße den Faktor positiv. Wie aus einer Vielzahl anderer faktorialökologischer Sozialraumanalysen bekannt, so bilden auch in der vorliegenden Untersuchung der sozialräumlichen Differenzierung Hamburgs die ersten beiden extrahierten Faktoren einerseits den sozialen Status und andererseits die Struktur der Haushalte (Haushalts- oder Familienstatus) ab (vgl. etwa die jüngere Sozialraumanalyse Kölns von HEYMANN 2002 sowie die methodische Überblicksdarstellung zur Sozialraumanalyse von URBAN/ WEISER 2006).
und interkulturelle Verständigung ausgerichtete Politik verfolgen. Allerdings werden diese Themen oft durch Fragen der vertikalen sozialen Ungleichheit (Umverteilungsfragen, Arbeitsmarktpolitik etc.) überlagert, sodass eine Herausarbeitung alltagskultureller bzw. lebensstilbezogener Zeichen erschwert bzw. durch die soziale Stratifikation verdeckt wird. 10 Faktorladungen lassen sich als Korrelationen der jeweiligen Variablen mit dem Faktor interpretieren. 11 Diese Variable liegt nur für ein Erhebungsjahr (1999) vor, sodass Aussagen über die Veränderungen der Haushaltsstrukturierung nur eingeschränkt möglich sind. 232
-0,05 -0,03
+0,58 +0,54 +0,49 +0,66
+0,37
-0,87 -0,88 -0,81 -0,90 -0,94
SPD-Anteil letzte Bürgerschaftswahl
-0,25 -0,25 -0,35
+0,16 +0,20 +0,21 +0,19
-0,95 -0,92 -0,91 -0,91 -0,84
-0,36 -0,33 -0,41
-0,54 -0,57
-0,41 -0,52 -0,41 -0,40 -0,52
-0,17 -0,16
-0,23 -0,34
+0,81 +0,77 +0,69 +0,71 +0,85 +0,58 +0,62 +0,50 +0,50 +0,73
+0,42
Arbeitslosenanteil in % der 15- bis unter 65-Jährigen
+0,62 +0,61 +0,53 +0,56 +0,49
+0,37 +0,45 +0,46 +0,46
+0,74 +0,70 +0,70 +0,73 +0,61
+0,96 +0,97 +0,97 +0,96 +0,95
-0,18 -0,20 -0,10 -0,07
-0,33
+0,16 +0,19 +0,16 +0,23 +0,26
-0,08 -0,15 -0,22 -0,20 -0,30
+0,22
+0,21
+0,45 +0,45 +0,44 +0,45
-0,58
+0,96 +0,96 +0,95 +0,97 +0,89
-0,80 -0,83 -0,86 -0,85
-0,97 -0,92 -0,90 -0,90 -0,89
+0,89 +0,88 +0,89 +0,89 +0,87
-0,08 -0,10 -0,10 -0,20 -0,30
-0,33
Openness to Diversity
Anteil der Sozialhilfeempfänger/innen
Durchschnittliche Wohnfläche je Einwohner/in
Durchschnittliche Wohnungsgröße
+0,75 +0,68 +0,75 +0,74 +0,77
+0,55 +0,56 +0,62 +0,60 +0,65
-0,70
+0,74 +0,75 +0,82 +0,80 +0,84
+0,08 +0,08 +0,18 +0,14 +0,28
+0,48 +0,35 +0,29 +0,26 +0,19
-0,64 -0,64 -0,57 -0,53
+0,67 +0,56 +0,74 +0,75 +0,82
-0,72 -0,62 -0,64 -0,66 -0,57
-0,26 -0,20 -0,34 -0,48 -0,41
-0,60 -0,60
-0,35 -0,43
Haushaltsstruktur
CDU-Anteil letzte Bürgerschaftswahl
Private PKW je 1000 Einwohner
Anteil an Wohnungen in Einund Zweifamilienhäusern
Anteil der Ausländer/innen
Anteil der unter 18-Jährigen
durchschnittliche Haushaltsgröße
Anteil der über 65-Jährigen
Mobilitätskennzahl
GAL-Anteil letzte Bürgerschaftswahl
Sozialer Status
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
Abbildung 9: Multitemporale Faktorenanalyse
Eigener Entwurf
233
ENTGRENZTE STADT
Diese Stabilität, die sich in nahezu allen methodisch vergleichbaren faktorialökologischen Sozialraumanalysen zeigt, ist durch die vergleichsweise große Einheitlichkeit der in den amtlichen Statistiken vorgehaltenen Indikatorensets bedingt. Der Vorwurf des „naiven Empirismus“, der häufig faktorialökologischen Sozialraumanalysen entgegengebracht wurde (vgl. HEYE/LEUTHOLD 2004), wird an dieser Stelle aber entschieden zurückgewiesen. Die Relevanz dieser beiden Dimensionen wurde bereits in Kapitel 3 herausgestellt, folglich war die Extraktion der ersten beiden Faktoren durch die gezielte Vorauswahl der Variablen intendiert. Die durch die Faktorenanalyse extrahierte dritte, anlehnend an die Terminologie von Richard FLORIDA (2002, 2005) als Openness to Diversity bezeichnete Dimension kann im Vergleich zu vielen anderen faktorialökologischen Sozialraumanalysen als eher atypisch angesehen werden. Der Faktor Openness to Diversity wird durch eine hohe Zustimmung zur Grün-Alternativen-Liste, eine hohe Wohnmobilität (Mobilitätskennzahl) sowie einen hohen Anteil an Nichtdeutschen unter der Wohnbevölkerung gekennzeichnet. Die Zahl der PKW auf 1000 Einwohner, der Anteil der CDU-Wähler an der letzten Bürgerschaftswahl sowie der Anteil der über 65-Jährigen laden diesen Faktor negativ. Im Gegensatz zu den anderen beiden „klassisch sozialräumlichen“ Dimensionen (Haushaltsstruktur und sozialer Status) kommt in diesem Faktor neben strukturellen Merkmalen deutlich die Disposition einer Wertorientierung zum Tragen, die mit FLORIDAs Begrifflichkeiten von „tolerance“ bzw. „openness“ beschrieben werden kann. So lässt sich der geringe Zuspruch zur CDU in Stadtteilen mit hoher Openness to Diversity als Ausdruck einer Ablehnung wertkonservativer Ansichten verstehen. Ein demgegenüber überproportionaler Zuspruch zur Grün-Alternativen-Liste (GAL) verweist auf die Interessenslagen und Werthaltungen einer neuen Mittelschicht, deren Ablehnung sogenannter „rechts-autoritärer Werte [...] aus den konkreten Konfigurationen der Markt- und Arbeitserfahrungen in der postindustriellen Gesellschaft“ (vgl. KLEIN/FALTER 2003, S. 34) zu verstehen ist. 12 So kommt mit dem Zuspruch zur GAL der Wunsch nach einer pluralen, toleranten und wahloptionsoffenen Gesellschaft mit sozialökologischer Grundorientierung zum Ausdruck, die eine Anschlussfähigkeit an die präferierten Wertmuster der Kreativen Klasse bzw. der „kreativen Wissensgesellschaft“ erkennen lässt. In diesem Kontext ist insbesondere die (soziale sowie ökonomisch-technologische) Innovationsorientierung, 12 So ist die übergroße Mehrheit der Mitglieder der Grünen, aber auch der Wähler der Grünen als Postmaterialisten (gem. Inglehart-Index) anzusprechen (vgl. KLEIN/FALTER 2003, S. 105 sowie S. 169). 234
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen und die positive Bewertung gesellschaftlichen Wandels zu nennen. 13 Neben diesen Merkmalen der Werthaltung, die in der Parteienpräferenz zum Ausdruck kommen, lassen sich Stadtteile mit einer überdurchschnittlichen Openness to Diversity auch durch strukturelle Merkmale kennzeichnen, die als Prädiktoren dieser Werthaltung interpretierbar sind: Die Bevölkerungsstruktur ist tendenziell jünger, hinsichtlich ihres Wohnstandortes mobiler und ethnisch inhomogener. Im Rahmen sozialwissenschaftlicher Fragestellungen sind faktoranalytisch extrahierte Dimensionen als soziale Phänomene interpretierbar, die einen Einfluss auf die messbaren Variablen ausüben (vgl. zur Methode BACKHAUS et al. 2006, S. 259ff.). Die Faktorladungen der vorliegenden Analysen (1995, 1998, 2001, 2004, 2007) verdeutlichen, dass die in die Analyse eingehenden Variablen durchaus unterschiedliche soziale Phänomene auf sehr verschiedene Weisen beschreiben können. So ist ein hoher Anteil an CDU-Wählern zum einen mit einem hohen sozialen Status eines Quartiers verbunden, verweist darüber hinaus aber auch in der evaluativen Dimension auf eine unterdurchschnittliche Openness to Diversity. Gleiches gilt in umgekehrter Ausrichtung für den Anteil an Ausländern in einem Quartier: Dieser Indikator ist gleichsam mit einem unterduchschnittlichen sozialen Status sowie mit einer überdurchschnittlichen Openness to Diversity verbunden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die sozialräumliche Differenzierung der Stadt über drei relevante Dimensionen bzw. Achsen zu erfassen ist. Die erste Achse verläuft entlang dernUnterschieden des sozialen Status (niedriger vs. hoher sozialer Status), die zweite entlang der Struktur der Haushalte (Einpersonenhaushalte vs. Mehrpersonenbzw. Familienhaushalte).
13 Auf den Zusammenhang von Parteienpräferenz, Werthaltungen, Innovationsorientierung und der Bewertung des gesellschaftlichen Wandels weist ELFF (2005) hin: „Der Einfluss der Wertorientierungen auf die Zustimmung für die Grünen und die Unionsparteien bestätigt die Erwartungen, dass Grüne einerseits und Unionsparteien andererseits für gegensätzliche Positionen auf der durch den Wertewandel entstandenen neuen politischen Konfliktlinie stehen. Die Zustimmung für die Grünen steigt mit der Beteiligungsorientierung, sei sie durch den modifizierten InglehartIndex oder durch den Index der präferierten Gesellschaftseigenschaften gemessen. Allerdings ist die Innovationsorientierung, die Präferenz neuer Ideen gegenüber Bewährtem, ein noch wichtigerer Einflussfaktor auf die Zustimmung für die Grünen als die Beteiligungsorientierung. Die Grünen stehen also selbst zwanzig Jahre nach ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag für den gesellschaftlichen Wandel“ (ebd., S. 327ff.). 235
ENTGRENZTE STADT
Die dritte extrahierte Dimension ist als Lebensstilachse zu beschreiben und verläuft entlang der Achse „niedrige Offenheit gegenüber Vielfalt“ vs. „hohe Offenheit gegenüber Vielfalt“. In der Lebensstilachse kommen die Werte zum Ausdruck, die als anschlussfähig an die relevanten Merkmale der von FLORIDA beschriebenen Kreativen Klasse gelten. Obgleich also aufgrund methodologischer sowie forschungspragmatischer Gründe eine zu FLORIDA abweichende Operationalisierung verwendet wurde, kann Openness to Diversity als kohärente Dimension sozialräumlicher Strukturierung verstanden und faktoranalytisch reproduziert werden. Hierzu lassen sich die Daten aus der amtlichen Statistik sowie die Wahlergebnisse sekundäranalytisch in Wert setzen. Alle drei extrahierten Faktoren erweisen sich über die vier Zeitschnitte zwischen 1995 und 2007 als überaus stabil, sodass Veränderungen der Faktorwerte in einzelnen Stadtteilen nicht auf eine Veränderung des Faktors zurückgeführt werden können, sondern auf eine relative Entwicklung des betreffenden Stadtteils hindeuten.14
4.2 Sozialräumliche Differenzierung Hamburgs Für den folgenden Analyseschritt wurde eine sozialräumliche Analyse unter Verwendung der zuvor extrahierten Dimensionen „sozialer Status“, „Haushaltsstruktur“ sowie „Openness to Diversity“ durchgeführt. Die topographische Betrachtung der Faktorwerte bietet einen ersten Zugang zur schematischen Beschreibung der sozialräumlichen Struktur der Stadt (siehe Abbildung 10 auf Seite 238). Während die innerstädtische Differenzierung des sozialen Status tendenziell ein vom Stadtkern aus betrachtet sektorales Muster aufweist, 15 nimmt der Anteil an Familien mit zunehmender Entfernung vom Zentrum zur Peripherie hin zu. Eine Affinität zu den Werten, die in dem Faktor Openness to Diversity zum Ausdruck kommen, ist insbesondere in den innenstadtnahen Altbauquartieren ausgeprägt. In dieser Dimension heben sich die zum Teil als „Szenestadtteile“ über die 14 Die geringste intertemporale Korrelation weist der Faktor 3 (Openness to Diversity) zwischen 1995 und 2004 mit r = 0,86 auf. Alle weiteren Korrelationen sind höher. 15 Einschränkend ist zu bemerken, dass das Erkennen eines sektoralen Differenzierungsmusters der Abgrenzungen der Gebietseinheiten geschuldet ist. ZEHNER (2004c) weist richtigerweise darauf hin, „dass vor allem die Siedlungsgebiete am Stadtrand in Wirklichkeit ein eher inselhaftes denn flächenfüllendes Verteilungsmuster aufweisen und somit [...] lediglich Kunstprodukte darstellen“ (ebd., S. 488). 236
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
Grenzen Hamburgs bekannten Quartiere St. Pauli, St. Georg, Altona und Ottensen besonders hervor. Zur Abbildung sozialräumlicher Ähnlichkeiten wurde über die drei ermittelten Dimensionen (sozialer Status, Haushaltsstruktur und Openness to Diversity) eine Clusteranalyse durchgeführt (Abbildung 11). 16 Augenfällig ist zunächst die strukturelle Ähnlichkeit eines Großteils benachbarter Stadtteile. Die an den Central Business District (CBD) 17 angrenzenden urbanen Quartiere zeichnen sich durch die höchsten Werte des Lebensstilfaktors aus (mehr als zwei Standardabweichungen oberhalb des gesamtstädtischen Mittelwertes). Diese Stadtteile weisen einen im Vergleich zur Gesamtstadt unterdurchschnittlichen Anteil an Familienhaushalten (bestimmt durch hohe Faktorwerte in der Dimension „Haushaltsstruktur“) auf. Diese innenstadtnahen Gebiete haben einen relativ hohen Altbaubesatz, der zum Teil im Rahmen der Gentrifizierungswellen der 1990er-Jahre eine bauliche und soziale Aufwertung erfahren hat. Ferner zeichnen sich diese städtischen Teilgebiete, die als urbane Quartiere mit hoher Openness to Diversity beschrieben werden können, überwiegend durch eine große funktionale Mischung und eine vielfältige Gelegenheitsstruktur aus. Zudem befindet sich in diesem im Wesentlichen innenstadtnahen Areal eine Konzentration von Unternehmen der wissensbasierten Dienstleistungsökonomie.
16 Die Clusteranalyse wurde mittels eines agglomerativen Verfahrens durchgeführt. Verwendet wurde der (fehlerquadratsummenminimierende) Ward-Algorithmus mit quadrierter euklidischer Distanz. Nur Stadtteile mit einer Einwohnerzahl größer als 2.000 wurden berücksichtigt. 17 Als einziger der in der vorliegenden Sozialraumanalyse ausgewiesenen Quartierstypen wurde der Central Business District nicht faktorialökologisch herausgearbeitet. Dies wäre zwar durch die Integration zusätzlicher Indikatoren, die auf die Zentralität (Bedeutungsüberschuss) hinweisen, möglich gewesen, hätte aber die Extraktion einer weiteren Hauptkomponente in der Faktorenanalyse (und damit eine deutliche Zunahme der Komplexität der Untersuchung) zur Folge gehabt. Da Merkmale der Zentralität im folgenden Analyseschritt nicht hinsichtlich etwaiger Veränderungsdynamiken betrachtet werden, wurde an dieser Stelle darauf verzichtet. Stattdessen wurden nur Stadtteile mit einer Einwohnerzahl von mehr als 2000 Bewohnern betrachtet, sodass neben (weitgehend unbewohnten) Industrie- und Hafengebieten die drei zentralen administrativen Stadtteile Hamburg-Altstadt, Klostertor und Hammerbrook keinen Eingang in die Faktorenanalyse fanden. Während sich in der Altstadt die höchsten zentralörtlichen Funktionen Hamburgs konzentrieren, besteht der Stadtteil Hammerbrook im Wesentlichen aus der „City-Süd“, einem ab Ende der 1980er Jahre entwickelten monofunktionalen Büroviertel. Die zwischen den beiden Stadtteilen liegende administrative Einheit „Klostertor“ umfasst neben dem relativ kleinen Münzviertel (Stand 2007) einen Großteil an Verkehrs- sowie Konversionsflächen. 237
ENTGRENZTE STADT
Abbildung 10: Distribution der Faktorwerte 2007 in Hamburg
Eigener Entwurf
238
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
Die zentrumsnahe Hamburger Außenalster wird von den urbanen Mischgebieten mit gehobenem Wohnen umringt. Ähnlich wie die zuvor beschriebenen Areale, die als urbane Quartiere mit hoher Openness to Diversity interpretiert werden können, ist dieser Cluster durch einen geringen Anteil an Familienhaushalten gekennzeichnet, im Gegensatz zum vorgenannten weist er jedoch eine im Vergleich zur Gesamtstadt nur leicht überdurchschnittliche Openness to Diversity auf. Der soziale Status dieser Stadtteile ist überdurchschnittlich, was auf die Aufwertungstendenzen der vielfach gut erhaltenen gründerzeitlichen Bausubstanz mit relativ großzügigen Wohneinheiten zurückgeführt werden kann. Die zentrumsnahen, einfachen Wohngebiete mit wenig Familien haben demgegenüber einen wesentlich geringeren Anteil an gründerzeitlicher Altbaubesatz, dem ein Gentrifizierungspotential beigemessen werden könnte. In diesen Arealen überwiegen Ein- und Zweipersonenhaushalte der mittleren Einkommensgruppen. Einen überdurchschnittlichen Familienstatus bei einem ähnlichen sozialen Status weisen dagegen die suburbanen einfachen Wohngebiete mit niedriger Openness to Diversity auf. Die Wohngebiete mit hohem sozialem Status sind durch einen hohen Anteil an Familien gekennzeichnet und umfassen sowohl die klassisch statushohen Elbvororte Blankenese, Nienstedten und Othmarschen als auch die suburbanen Walddörfer und die Marschlande, die einen dörflicheren Gesamtcharakter zeigen. Im Gegensatz zu diesen „klassischen Oberschichtquartieren“ sind die familienfreundlichen Vororte mit hoher Openness to Diversity durch eine heterogene Bevölkerungsstruktur gekennzeichnet. 18 Dennoch erscheint der Vielfalt und Toleranz gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen ausdrückende Lebensstilfaktor schwerpunktmäßig als ein urbanes Phänomen, das allerdings ein von der Haushaltsstruktur (bzw. dem sogenannten Urbanismus) weitgehend unabhängiges räumliches Muster ausbildet. Die Wohngebiete mit niedrigem sozialem Status sowie die Quartiere mit prekärem sozialem Status sind Gebiete, die tendenziell durch soziale Benachteiligungen geprägt sind. Insbesondere die beiden als prekär bezeichneten Stadtteile sollten vor dem Hintergrund eines weit unterdurch18 Auf das methodologische Problem der zum Teil großen inneren Heterogenität der Stadtteile wurde bereits hingewiesen; in diesem sozialräumlichen Cluster tritt dies besonders deutlich in Erscheinung. So weist etwa der suburban geprägte Stadtteil Curslack eine hohe Openness to Diversity auf; Ursache hierfür dürfte das Asylanten-Quartier „Siedlung Curslack“ sein, das zwar administrativ zum Stadtteil gehört, aber außerhalb des alten Siedlungskerns liegt. 239
ENTGRENZTE STADT
schnittlichen sozialen Status und einer ausgeprägten multiethnischen Struktur (die mit dem Indikator Openness to Diversity gleichsam abgebildet wird) im Blickfeld sozialer Stadtentwicklungspolitik bleiben. Abbildung 11: Sozialräumliche Struktur Hamburgs 2004 19
Wohldorf-Ohls. Duvenstedt
Lemsahl-Mell.
Bergstedt
Langenhorn Poppenbüttel
5 km
Hummelsbüttel
Volksdorf
Sasel
Wellingsbüttel
Schnelsen Niendorf
Fuhlsbüttel Ohlsdorf Bramfeld
Groß Borstel Alsterdorf
Eidelstedt
Lurup
Lokstedt Stellingen
Rissen Sülldorf Iserbrook Blankenese Nienstedten
Rahlstedt
FarmsenBerne
WinterhudeBarmbek-Nord Tonndorf
DulsbergWandsbek Barmbek-Süd HarvesteBahrenfeld UhlenEimsbüttel hude horst RotherMarienthal Eilbek baum Groß Altona1 HammFlottbek Nord St. St. Nord 2 Pauli NeuGeorg Hamm-Mitte Horn stadt Othmarschen Ottensen AltonaHammAltst. Süd 3
Osdorf
Eppendorf 4
Steilshoop
Jenfeld
1 Hohenfelde 2 Borgfelde 3 Hoheluft-West 4 Hoheluft-Ost
Billstedt
Rothenburgsort Finkenwerder Veddel Neuenfelde
Lohbrügge
Wilhelmsburg Allermöhe
Bergedorf
Hausbruch Neugraben-Fi. Heimfeld Harburg
Curslack
Ochsenwerder
Eißendorf Neuengamme
Wilstorf
Altengamme Marmstorf
Langen- Rönnebek burg Sinstorf
Urbane Quartiere mit hoher Offenheit gegenüber Vielfalt Urbane Quartiere mit gehobenem Wohnen Zentrumsnahe, einfache Wohngebiete mit wenig Familien Suburbane einfache Wohngebiete mit niedriger Offenheit g. Vielfalt Wohngebiete mit niedrigem sozialem Status
Kirchwerder
Quartiere mit prekärem sozialem Status, hohe Offenheit g. Vielfalt Wohngebiete mit hohem sozialem Status, familienorientiert Familienfreundliche Vororte mit hoher Offenheit gegenüber Vielfalt Central Business District nicht betrachtete Gebiete (vorwiegend Hafen- und Gewerbeflächen)
Eigener Entwurf
19 Da die Sozialraumanalyse als Grundlage für die zeitbezogene Betrachtung der Stadt auf Basis einer Sekundäranalyse des MiD-Datensatzes 2002 dienen soll (s. Kapitel 5), erfolgte die Clusteranalyse mit den 2004er Daten. Die sozialräumlichen Cluster sind bis auf wenige Ausnahmen zwischen 2004 und 2007 stabil. 240
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
4.3 Sozialräumlicher Wandel: Fragmentierung oder Konsolidierung? Im folgenden Untersuchungsschritt soll der Frage nachgegangen werden, ob sich die zunehmende soziale Ungleichheit einerseits sowie lebensstilbezogene Individualisierungsprozesse andererseits auch in Stadtentwicklungsprozessen niederschlagen und zu Fragmentierungsprozessen in der Stadt führen. Hierzu soll die Dynamik der städtischen Teilräume zwischen 1995 und 2007 betrachtet werden. Bei dieser Analyse innerstädtischer Fragmentierungsprozesse werden die faktorialökologisch ermittelten Hauptkomponenten „sozialer Status“ sowie „Openness to Diversity“ vorrangig betrachtet. Dieses Vorgehen folgt dem eingangs dieses Kapitels formulierten Ziel, zusätzlich zu der Frage nach einer zunehmenden vertikalen Stratifikation der Gesellschaft auch in stadträumlichem Kontext eine vermutete Fragmentierung der Stadt nach verschiedenen Wertmustern herauszuarbeiten. Das Maß an „Offenheit gegenüber Vielfalt“ in einem Stadtteil kann dabei als Lebensstilachse verstanden werden. Sozialräumliche Veränderungen der einzelnen Stadtteile können als Vektor in einem zweidimensionalen Koordinatensystem dargestellt werden. 20 Idealtypisch lassen sich Fragmentierungs- bzw. Konsolidierungsszenarien denken, die den in Abbildung 12 dargestellten Mustern folgen. So sollte sich eine Angleichung der Lebensverhältnisse in verschiedenen Stadtteilen zu einer Veränderung der Faktorwerte der Stadtteile in Richtung des Mittelwertes abbilden (Typ Konsolidierung). Demgegenüber weisen größer werdende Distanzen der Faktorwerte einzelner Stadtteile vom Mittelwert auf eine zunehmende Ungleichheit in der Stadt hin (Typ Fragmentierung). Vertikale Veränderungen bilden die Fragmentierung bzw. die Konsolidierung sozialer Ungleichheit zwischen den Stadtteilen ab. Horizontale Veränderungen lassen dagegen Aussagen über die Dynamik der innerstädtischen Lebensstilsegregation zu. Hierbei ist zu beachten, dass die Veränderungen einzelner Stadtteile immer relativ zu einer möglichen gesamtstädtischen Entwicklung gemessen werden und damit „Fahrstuhl-Effekte“ quantifizieren, nicht jedoch die absolute Veränderung städtischer Lebensverhältnisse. Stadtteile, die im Bereich um eine Standardabweichung um den Mittelwert variieren, können im Vergleich mit der Gesamtstadt als „durchschnittliche“ Stadtteile interpretiert
20 Die in einer varimax-rotierten Faktorenanalyse extrahierten Dimensionen sind linear unabhängig. 241
ENTGRENZTE STADT
werden. Stadtteile mit mehr als zwei Standardabweichungen vom Mittelwert können als „Ausreißerstadtteile“ verstanden werden. Abbildung 12: Idealtypische sozialräumliche Entwicklungsszenarien Sozialräumliche Konsolidierung 2
1
Sozialer Status
0
-1
-2
-2
-1
0
1
2
Openness to Diversity
Sozialräumliche Fragmentierung 2
1
Sozialer Status
0
-1
-2
-2
-1
0
1
2
Openness to Diversity Eigener Entwurf
Mehrstufige Aufwertungsszenarien vom Typus der Gentrifizierung sollten vom Ausgangspunkt eines unterdurchschnittlichen sozialen Status zunächst einen Zuwachs in der horizontal aufgetragenen Dimension Diversity aufweisen (Pionierphase). In der zweiten Phase des 242
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
Gentrifizierungsprozesses wird eine Erhöhung des sozialen Status bei gleichzeitigem Rückgang der Diversity erwartet. Wie Abbildung 13 zeigt, gestaltet sich der sozialräumliche Wandel Hamburger Stadtteile zwischen 1995 und 2007 deutlich komplexer, als dies die idealtypischen Entwicklungsszenarien „Fragmentierung“ kontra „Konsolidierung“ nahelegen. Die Beurteilung von Konsolidierungsbzw. Fragmentierungsprozessen in Hamburg erfordert folglich eine detailliertere Betrachtung. Abbildung 13: Sozialräumlicher Wandel von 1995 bis 2007 21
2
1
Sozialer Status
St. Pauli Stadtteil mit mehr als 0,5 Std. Abw. Dynamik Sasel
Stadtteil mit weniger als 0,5 Std. Abw. Dynamik
Wohldorf-Ohlstedt
Wellingsbüttel
Faktorwert 1995
Nienstedten Blankenese Othmarschen
Faktorwert 1998 Faktorwert 2001
Groß Flottbek Ochsenwerder Poppenbüttel
Rissen
Sasel Neuengamme Volks- Harvestehude dorf
Uhlenhorst BergAlten- stedt gamme
KirchMarienthal werder
Faktorwert 2004
Lemsahl-Mellins.
Faktorwert 2007 Faktorwert 2007 (Dynamik > 0,5 Std. Abw.) Duvenstedt Eppendorf Hoheluft-Ost
Winterhude Hoheluft-West Alsterdorf Curslack HohenFuhlsbüttel Sinstorf Sülldorf felde Rotherbaum Groß Iserbrook Langenbek Borstel Lokstedt Ohlsdorf Hummelsbüttel Eilbek Barmbek- Rothenburgsort Schnelsen Eißendorf Süd Rahlstedt Stellingen HammBarmbekNeustadt Wandsbek Tonndorf Nord Bramfeld Bahrenfeld St. Nord Borgfelde Langenhorn Bergedorf Osdorf NeuenAltonaFarmsen-Berne Lohbrügge felde Altstadt Eidelstedt HammFinkenwerder NeugrabenMitte Heimfeld Fischb. HammSüd Wilstorf Marmstorf
Niendorf
0
-1
Hausbruch Lurup
Rönneburg Horn Steilshoop
Dulsberg
Eimsbüttel Ottensen
Georg AltonaNord
St. Pauli
Harburg
Allermöhe
Jenfeld Billstedt
-2
Wilhelmsburg
Veddel
-3
Openness to Diversity -2
-1
0
1
2
3
4
Eigener Entwurf
Der Übersichtlichkeit halber ist in Abbildung 13 eine vektorielle Veränderung lediglich für die als „dynamisch“ beurteilten Stadtteile verzeichnet worden; als solche werden im Folgenden die Stadtteile verstanden, die zwischen zwei beliebigen Zeitschnitten eine Veränderung von mindestens 0,5 Standardabweichungen in einer der beiden Betrachtungsdimensionen aufweisen. Diesen 16 „dynamischen“ Stadtteilen
21 Es wurden nur Stadtteile mit mehr als 2.000 Einwohnern berücksichtigt. 243
ENTGRENZTE STADT
stehen die übrigen 69 Stadtteile gegenüber, 22 die eine geringere Dynamik zeigen; etliche Stadtteile verändern sich im Betrachtungszeitraum gar nicht oder nur marginal. Tendenzen zur sozialen Aufwertung in der Dimension „sozialer Status“ zeigt zwischen 1995 und 2007 einzig der Stadtteil Rothenburgsort. Eine deutliche Entwicklungsdynamik in Richtung eines sozialstrukturellen Abstiegs lässt sich für die Stadtteile Wilhelmsburg, Veddel und Allermöhe feststellen; die Veränderung in Allermöhe ist im Wesentlichen auf neu erschlossene Wohnflächen für den sozialen Wohnungsbau im Betrachtungszeitraum zurückzuführen, die zwischen 1995 und 2004 zu einer Vervierfachung der Einwohner des Stadtteils geführt hat. 23 Die Entwicklung in Wilhelmsburg und Veddel verdeutlicht, dass sich, ausgehend von einer bereits prekären Ausgangslage, die Situation in den Quartieren in den letzten Jahren noch verschlechtert hat. Mit mehr als zwei Standardabweichungen unterhalb des Durchschnittswertes für Hamburg insgesamt können diese Quartiere als „abgehängte Gebiete“ Hamburgs verstanden werden. Darüber hinaus sind eine Reihe weiterer Stadtquartiere im Bereich von einer bis zwei Standardabweichungen unterhalb des gesamtstädtischen Sozialstatus angesiedelt, zeigen aber nicht unbedingt in den letzten 12 Jahren eine Entwicklung, die eine weitere Verschärfung erkennen lässt. Allerdings ist einschränkend zu bemerken, dass durch die innere Heterogenität der Stadtteile eine negative Entwicklung in besonders benachteiligten Subgebieten eines Stadtteils übersehen wird, da nicht immer ein gesamter Stadtteil als sozial benachteiligtes Gebiet angesprochen werden kann. Neben diesen vertikalen Differenzierungsprozessen lässt sich in etlichen Stadtquartieren eine dynamische Entwicklung auf der „Lebensstilachse“ erkennen, die die Offenheit gegenüber Vielfalt in einem Stadtteil (Openness to Diversity) zum Ausdruck bringt. Die über die Grenzen Hamburg hinweg als „Szeneviertel“ bekannten Stadtteile St. Georg und St. Pauli zeigen einen Rückgang der (allerdings im Vergleich zu Hamburg insgesamt immer noch weit überdurch22 Von den 103 Stadtteilen Hamburgs gingen nur die 85 Stadtteile in die Untersuchung ein, die mehr als 2000 Einwohner haben. Nicht betrachtet wurden die Stadtteile Altenwerder, Billbrook, Billwerder, Cranz, Francop, Gut Moor, Hamburg-Altstadt, Hammerbrook, Kleiner Grasbrook, Klostertor, Moorburg, Moorfleet, Neuland, Reitbrook, Spadenland, Steinwerder, Tatenberg und Waltershof. 23 Bedingt durch die bauliche Entwicklung des Quartiers Neu-Allermöhe stieg die Einwohnerzahl des Stadtteils von 3651 im Jahr 1995 auf 14.905 im Jahr 2006; Quelle: Statistisches Amt für Hamburg und SchleswigHolstein. 244
SOZIALRÄUMLICHE FRAGMENTIERUNG IN HAMBURG
schnittlichen) Openness to Diversity, was einerseits als tendenzielle Angleichung der „Szenestadtteile“ an die Gesamtstadt und andererseits (wenngleich mit Einschränkungen, da eine eindeutige soziale Aufwertung nicht erkennbar ist) als zweite Phase eines Gentrifizierungsprozesses zu interpretieren ist. Eine entgegen gesetzte Entwicklung zeigt etwa der Stadtteil Eimsbüttel, der sich in der Lebensstildimension vom gesamtstädtischen Mittel entfernt und Tendenzen einer zunehmenden Anschlussfähigkeit für die Kreative Klasse vermuten lässt. Demgegenüber zeigen die (sozial benachteiligten) Stadtteile Jenfeld und Billstedt Schließungstendenzen (abnehmende Openess to Diversity).
Z-Werte
Abbildung 14: Bedeutungsveränderung der Dimensionen sozialräumlicher Differenzierung 1,6
1,5
1,4
1,3 Sozialer Status Haushaltsstruktur
1,2
Openness to Diversity Erwartungswert bei Normalverteilung
1,1
1
1995
1998
2001
2004
2007
Eigener Entwurf
Neben diesen deutlichen Veränderungen in einzelnen Stadtteilen lässt sich eine Aussage über die Bedeutungsveränderung der relevanten Dimensionen sozialräumlicher Differenzierung insgesamt durch die Betrachtung der Veränderung der Quartilsabstände treffen. Wie Abbildung 14 verdeutlicht, wird der Quartilsabstand der Dimension Diversity zwischen 1995 und 2004 größer, was auf eine zunehmende Relevanz soziokultureller Milieus auch im räumlichen Kontext hinweist. Vor dem Hintergrund der eingangs erörterten Koexistenz moderner und spätmoderner Integrationsmuster ist dies als Hinweis auf eine sich verstärkende Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Integrationsmuster auch in ihrer sozialräumlichen Strukturierung zu deuten. Der dialektische Bezug von Habitus und Habitat gewinnt in den letzten zehn Jahren offenkundig an Bedeutung.
245
ENTGRENZTE STADT
Demgegenüber stagniert die Relevanz haushaltsstruktureller Merkmale für die sozialräumliche Differenzierung in Hamburg seit 1995. Hieran lässt sich die Tendenz zu einer Egalisierung lagebezogener Kriterien für unterschiedliche Haushaltstypen erkennen. Obgleich der Quartilsabstand der Dimension „sozialer Status“ seit 2001 leicht rückläufig ist, ist dieses „klassischste“ aller Ungleichheitskriterien heute noch immer bedeutsam. Eine Verschärfung der sozialräumlichen Gegensätze im Sinne einer Erosion der Mittelschichtwohngebiete ist zwar nicht zu erkennen, ungeachtet dessen lässt sich für einzelne benachteiligte Stadtteile wie Jenfeld, Billstedt, Wilhelmsburg und Veddel aber ein negativer Entwicklungstrend hinsichtlich der sozialen Benachteiligung konstatieren. Der Vergleich der drei untersuchten Differenzierungsmerkmale zum Erwartungswert bei (als ideal angenommener) Normalverteilung zeigt, dass für die Stadt Hamburg eine sozialräumliche Polarisierung der Stadtteile in allen drei Analysedimensionen festgestellt werden kann. 24
24 Bei normalverteilten Größen sind 50% der Stichprobe (entspricht dem Quartilsabstand) in einer Distanz von +/- 0,67 Standardabweichungen vom arithmetischen Mittel erfasst. Demnach beträgt der Quartilsabstand der Normalverteilung 1,34. 246
5 REGIONALISIERUNG VON ZEITSTRUKTUREN IN DER STADT DER SPÄTMODERNE
Als zentrale Kennzeichen der Stadt in der Spätmoderne können die raum-zeitliche Flexibilisierung sowie die Entgrenzung alltäglicher Aktivitätsrhythmen verstanden werden. Dabei wird vermutet, dass diese „Verzeitlichungstendenzen“ in unterschiedlichen Teilen der Stadt sehr verschieden ausgeprägt sind und eine zeitstrukturelle Differenzierung des Stadtraums erkennbar wird. Um diese Tendenzen der temporalen Reorganisation der Stadt bestimmen und quantifizieren zu können, ist die empirische Überprüfung der zuvor nur auf theoretischer Ebene beschriebenen Entwicklungen erforderlich. Dies erfordert die Ergänzung der Betrachtung der sozialräumlichen Organisation der Gesellschaft um eine „sozial-zeitliche“ Analyseebene. Der Begriff des „Chronotops“ bezeichnet eine spezifische temporale Strukturierung an einem konkreten Ort. Chronotopen sind folglich als spezifische Raum-Zeit-Arrangements zu verstehen, in denen sich typische chronologische und chorologische Merkmale überlagern. Ausgehend von dem in Kapitel 2.2.3 dargestellten theoretischen Zugang zur raum-zeitlichen Regionalisierung, soll in diesem Kapitel die empirische Entdeckung und Beschreibung von Chronotopen in Hamburg erfolgen. Die zur Anwendung gelangende Methode zur Chronotop-Entdeckung wurde in Kapitel 3.2 entwickelt. Diese zeitbezogene Erweiterung der Sozialraumanalyse umfasst, wie bereits dargestellt, zwei zentrale Gegenstände: Einerseits ist dies die Art der Zeitverwendungsmuster in ihrer unterschiedlichen Aktivitätsintensität (1.), andererseits handelt es sich um die Analyse der tageszeitlichen Rhythmen (2.).
247
ENTGRENZTE STADT
Dabei wird erstens erwartet, dass sich die für die Spätmoderne als typisch angesehenen temporalen Muster in einer auch in der Stadtnutzung zur Geltung kommenden deutlichen Entgrenzung der Zeitverwendungsmuster auszeichnen (Verzeitlichungshypothese V1). Ein Chronotop ist typischerweise dann als Teil der „postfordistischen Stadt“ zu verstehen, wenn sich unterschiedliche Alltagsbereiche funktional, strukturell und temporal an einem Ort vereinen. Eine derartige Chorologie der Gelegenheiten (und ihrer Nutzung!) kann folglich als Indiz für eine Entgrenzung der ehemals raum-zeitlich funktional differenzierten Stadt verstanden werden. Demgegenüber lassen sich monofunktionale Quartiere als der „fordistischen Stadt“ zugehörig interpretieren. Wenn ein städtisches Areal nur durch wenige verschiedene Nutzungen bzw. Aktivitäten gekennzeichnet ist, bietet es wenig Anknüpfungspunkte für eine zukünftige Funktionsvielfalt, die als voraussetzungsvoll für eine Entgrenzung des Alltags zu sehen ist. Zweitens lassen sich mit der Analyse der tageszeitlichen Aktivitätsrhythmen raum-zeitliche Flexibilisierungstendenzen erkennen. So sind etwa starr getaktete Quartiersrhythmen mit eindeutig vorhersagbaren tageszeitlichen Peaks, wie sie etwa für den schwerpunktmäßig durch die Arbeitsfunktion geprägten CBD einer Stadt oder auch suburbane „Schlafstädte“ typisch sind, als Kennzeichen der fordistisch strukturierten Stadt zu verstehen. Demgegenüber verweisen vielfältige, sich überlagernde Aktivitätsrhythmen nicht nur auf eine zeitliche Entgrenzung der Nutzungszeiten in den Quartieren selbst, sondern auch auf eine funktionale Entgrenzung des Alltags der Personen, die diese Quartiere routinemäßig nutzen. Erwartet wird also eine deutliche funktionale sowie raum-zeitliche Differenzierung der Stadt gemäß der Verzeitlichungshypothese V2, die eine Teilung der Stadt in Areale mit verschiedenen Alltagsrhythmen behauptet und eine Koexistenz fordistischer und postfordistischer Strukturen widerspiegelt. Darüber hinaus wird erwartet, dass sich gemäß der Verzeitlichungshypothese V3 „Zitadellen kontinuierlicher Aktivität“ in einzelnen Subgebieten der Stadt erkennen lassen. Als Basis für die Analyse der zeitlichen Strukturierung soll die sozialräumliche Differenzierung Hamburgs dienen, die in Kapitel 4 mittels einer Sozialraumanalyse erfasst wurde. Hierauf aufbauend sollen die Zeitverwendungsmuster in den unterschiedlichen Arealen der Stadt sowie die tageszeitliche Rhythmik der Quartiere erfasst werden. Diese von Aktionsräumen der Individuen ausgehende Perspektive soll mittels einer Sekundäranalyse der Mobilitätsdaten aus der Studie „Mobilität in Deutschland – MiD 2002“ abgebildet werden.
248
REGIONALISIERUNG VON ZEITSTRUKTUREN
5.1 Beschreibung der Datenbasis „Mobilität in Deutschland 2002“ (kurz: MiD 2002) ist eine vom infasInstitut für angewandte Sozialwissenschaft und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen durchgeführte bundesweite Erhebung zum alltäglichen Mobilitätsverhalten. Ähnliche Umfragen wurden bereits 1976, 1982 und 1989 unter dem Namen „KONTIV“ (Kontinuierliche Erhebung zum Verkehrsverhalten) durchgeführt. Für wissenschaftliche Sekundäranalysen, zu denen die vorliegende Untersuchung zu rechnen ist, können die Daten von der Clearingstelle des Instituts für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt bezogen werden. Untersuchungseinheit der Studie sind Haushalte, wobei die Mobilität jedes einzelnen Haushaltsmitglieds (auch von den im Haushalt lebenden Kindern) erfasst wird. Der Umfang der Basisstichprobe von MiD 2002 beträgt bundesweit ca. 25.000 Haushalte mit insgesamt etwa 62.000 Personen. Auf Hamburg entfällt nur ein vergleichsweise kleiner Teil der untersuchten Haushalte (750), sodass die MiD 2002-Datenbasis im Auftrag der Hamburger Behörde für Bau und Verkehr sowie des Hamburger Verkehrsverbunds um weitere 750 Haushalte aufgestockt wurde, um einen größeren Personenkreis zu erfassen. Zusätzlich wurden in der Aufstockungsstichprobe weitere 1.250 Haushalte aus dem Hamburger Umland (angrenzende Kreise) erfasst. Die Stichtage der Untersuchung waren über das gesamte Jahr verteilt, um saisonale, witterungsbedingte sowie wochentagsbezogene Effekte zu berücksichtigen. 86% der Befragten waren an dem jeweiligen Stichtag ihrer Befragung mobil (das heißt, sie haben mindestens einen Weg unternommen). Demgegenüber haben 14% am jeweiligen Stichtag das Haus nicht verlassen (vgl. DIW 2004). An einem durchschnittlichen Wochentag legen die Befragten (deutschlandweit und über alle Altersgruppen hinweg) 3,6 Wege zurück (Hin- und Rückweg jeweils einzeln erfasst). Bezogen auf den am Stichtag mobilen Teil der Befragten, ergibt sich eine durchschnittliche Wegezahl von ca. vier Wegen. An Samstagen werden durchschnittlich 3,0, an Sonntagen durchschnittlich 2,2 Wege unternommen. Im Schnitt werden pro Tag 74 Minuten zur Bewältigung der räumlichen Mobilität verwendet. Dabei werden im Schnitt etwa 44 Kilometer zurückgelegt; in Städten sind die gesamten zurückgelegten Tageskilometer allerdings deutlich kürzer (vgl. DIW 2004). Seit der letzten KONTIV-Erhebung 1989 ist die Mobilität in Deutschland stark angestiegen. Die Zahl der zurückgelegten Wege nahm 249
ENTGRENZTE STADT
im Zeitraum von 1989 bis 2002 um etwa 10% zu (bezogen auf Westdeutschland). Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Wegelänge (zurückgelegte Personenkilometer) um etwa 20%. Während der Anteil der Wege, die zum Zweck des Aufsuchens des Arbeitsplatzes zurückgelegt werden, über den Zeitverlauf abnimmt, ist insgesamt ein Anwachsen des Freizeitverkehrs festzustellen. Die meisten Wege werden bundesweit mit dem privaten PKW als Selbstfahrer zurückgelegt (ca. 45%), weitere 16% als Mitfahrer in einem privaten PKW. 23% der Wege sind reine Fußwege. Auf den ÖPNV entfallen bundesweit nur 9% aller Wege, allerdings ist dieser Anteil in den Städten, die über ein vergleichsweise gutes ÖPNV-Netz verfügen, um einiges höher. Etwa 30% der Befragten aus Hamburg nutzen den ÖPNV täglich oder fast täglich, weitere 20% mindestens wöchentlich (vgl. DIW 2004). Neben diesen Kennwerten, die eine Quantifizierung des räumlichen Mobilitätsverhaltens erlauben und insbesondere über Weglängen, Anzahl der Wege, Wegzweck und den Modal Split Aufschluss geben, liegen die jeweiligen Start- und Zielpunkte zu etwa der Hälfte der erhoben-en Einzelwege geokodiert vor. Diese Informationen können zur Untersuchung der temporalen Nutzungsstrukturen in Wert gesetzt werden, da die Differenz zwischen der Ankunftszeit an einem Ort und dem Aufbruch zum darauf folgenden Weg die jeweilige Verweildauer an dem jeweiligen Ort zu erkennen gibt. Darüber hinaus lassen sich aus den angegebenen Wegzwecken die jeweiligen Tätigkeiten an den Zielorten erfassen und zur Analyse der quartiersspezifischen Aktivitäten in Wert setzen. Die Aktivitätsrhythmen der verschiedenen innerstädtischen Subgebiete können durch die raum-zeitliche Aggregation der im MiD 2002Datensatz erfassten Tätigkeiten der Probanden analysiert werden.
5.2 Zeitverwendungsmuster und Aktivitätsintensität Im Folgenden werden die außerhäuslichen Zeitverwendungsmuster in ihrer je spezifischen Aktivitätsintensität in den sozialräumlichen Stadtteiltypen betrachtet. Hierzu erfolgt eine Aggregation der im MiD 2002Datensatz enthaltenen geokodierten Wegedaten 1 (Wegeziele und Wegezwecke) in den Grenzen der sozialräumlichen Cluster (Abb. 4). 1
Im (aufgestockten) Datensatz MiD20002 sind insgesamt 6.599 Personen aus 2.892 verschiedenen Haushalten erfasst, die am betreffenden Stichtag des Haushalts zumindest eine Aktivität in Hamburg bzw. den Hamburger
250
REGIONALISIERUNG VON ZEITSTRUKTUREN
Da die Aktivitätsintensität (absolute kumulierte Menge an außerhäuslich verbrachter Zeit pro Flächeneinheit) sehr heterogen über den Stadtraum verteilt ist, erfolgt die vergleichende Betrachtung der Aktivität in den sozialräumlichen Clustern im Vergleich zur Aktivitätsintensität des „aktivsten Clusters“ in Hamburg, dem Central Business District. 2 Die dortige gesamte Aktivitätsintensität über alle Funktionen wird für die Analyse mit dem Indexwert 100 belegt. Hierdurch wird auch der Vergleich der Aktivitätsintensitäten bestimmter Funktionen (z.B. Arbeit, Einkaufen, Freizeit etc.) zwischen den verschiedenen Stadtteiltypen unabhängig von ihrer absoluten Gesamtfläche ermöglicht. Ein Blick auf die gesamten Aktivitätsintensitäten in den Stadtteiltypen weist auf eine abnehmende Aktivität mit zunehmender Entfernung vom Zentrum hin. So erreichen die „urbanen Quartiere mit hoher Openness to Diversity“ und die „urbanen Mischgebiete mit gehobe-nem Wohnen“ 43,4 % bzw. 36,1 % der Gesamtaktivität des CBDs, die „zentrumsnahen, einfachen Wohngebiete mit wenig Familien“ immerhin noch 14,6 %. Die raum-zeitlich als aktiv zu interpretierenden Gebiete der Stadt sind vergleichsweise innenstadtnah konzentriert. Die anderen Stadtteiltypen, die jeweils weniger als ein Zehntel der Gesamtaktivität des CBDs aufweisen, lassen sich im Vergleich hierzu als raum-zeitlich passive Gebiete ansprechen. Die Zusammensetzung der Zeitverwendungsmuster ist in den verschiedenen Stadtteiltypen sehr unterschiedlich. So dominiert etwa die Funktion „Arbeit“ mit über 80 % der insgesamt im CBD außerhäuslich verbrachten Zeit diesen Stadtteiltyp bei weitem. Bezogen auf den gesamten CBD spielt die Funktion „Einkaufen“ nur eine untergeordnete Rolle, da die Arbeitsfunktion den CBD maßgeblich prägt. Dies ist auch durch die enge räumliche Konzentration des Einzelhandels auf die Mönckebergstraße und die anliegenden Straßen bedingt. Allerdings zeigt ein Vergleich der Aktivitätsindizes der Funktion „Einkaufen“ in den verschiedenen Stadtteiltypen, dass die Flächenintensität verglichen mit den anderen Stadtteiltypen im CBD am höchsten ist (Aktivitätsindex 2,9). Eine etwas geringere Flächenintensität in dem Bereich „Einkaufen“ weisen die „urbanen Mischgebiete“ sowie die „urbanen Quartiere mit hoher Openness to Diversity“ auf. Diese beiden sozialräumlichen Cluster sind auch die Vorreiter im Bereich der Freizeitaktivitäten: Hier
2
Umlandkreisen durchgeführt haben. Insgesamt haben diese 6.599 Probanden 18.215 Wege zurückgelegt, von denen 9.795 Wege vollständig geokodiert aufgenommen wurden und die Basis der vorliegenden Untersuchung bilden. Der Central Business District umfasst die Stadtteile Hamburg-Altstadt, Klostertor und Hammerbrook. 251
ENTGRENZTE STADT
finden sich die höchsten freizeitbezogenen Flächennutzungen (Aktivitätsindex 9,8 bzw. 6,8). Ferner lässt sich der CBD ebenfalls als „Ort der Freizeit“ fassen (Aktivitätsindex 5,4), was unter anderem mit der touristischen Bedeutung der Hamburger Altstadt im Zusammenhang zu sehen sein könnte. Im Bereich „Bildung“ weisen neben dem CBD die „urbanen Mischquartiere“ die höchsten Aktivitätsintensitäten auf – in diesem Quartierstyp liegt unter anderem ein Großteil der universitären Einrichtungen. Während sich im Central Business District eine vorwiegend durch Arbeit geprägte Aktivitätsstruktur aufzeigen lässt, zeigen die übrigen raum-zeitlich aktiven Cluster stärker diversifizierte Zeitverwendungsmuster. Zwar entfällt in allen raum-zeitlich aktiven Gebieten über die Hälfte der dort außerhäuslich verbrachten Zeit auf die Arbeitsfunktion, die funktionale Mischung der Zeitverwendungsmuster ist jedoch wesentlich deutlicher ausgeprägt. Dabei spielt insbesondere die Freizeitfunktion eine bedeutsame Rolle. Für eine weitgehend entgrenzte und flexibilisierte Alltagsgestaltung, die ohne einen größeren Mobilitätsaufwand zu verwirklichen ist, bieten innenstadtnahe Quartiere die günstigsten Gelegenheitsstrukturen.
Central Business District
Aktivitätsindex 80,8 2,9 4,3 5,4 6,6 kumulierter Zeitanteil 80,8% 2,9% 4,3% 5,4% 6,6% Urbane Quartiere Aktivitätsindex 26,0 1,6 1,6 9,8 4,3 mit hoher Diversity kumulierter Zeitanteil 60,0% 3,6% 3,7% 22,7% 10,0% Urbane Mischgebiete Aktivitätsindex 20,5 2,1 3,1 6,8 3,5 mit gehobenem Wohnen kumulierter Zeitanteil 56,8% 5,9% 8,7% 18,9% 9,7% Zentrumsnahe, einfache WohnAktivitätsindex 7,8 0,2 2,0 3,1 1,5 gebiete mit wenig Familien kumulierter Zeitanteil 53,6% 1,5% 13,4% 21,5% 10,0% Suburbane einfache Wohngebiete Aktivitätsindex 2,3 0,7 0,9 2,5 1,4 mit niedriger Diversity kumulierter Zeitanteil 28,8% 8,7% 11,9% 32,4% 18,3% Wohngebiete mit niedrigem Aktivitätsindex 4,1 0,5 0,7 2,1 1,1 sozialem Status kumulierter Zeitanteil 48,0% 6,2% 8,3% 24,7% 12,8% Quartiere mit prekärem sozialem Aktivitätsindex 3,0 0,0 0,2 1,9 0,4 Status, hohe Diversity kumulierter Zeitanteil 54,4% 0,0% 3,0% 35,6% 7,0% Wohngebiete mit hohem sozialem Aktivitätsindex 0,7 0,1 0,5 1,0 0,6 Status, familienorientiert kumulierter Zeitanteil 23,1% 4,9% 15,7% 35,3% 20,9% Familienfreundliche Aktivitätsindex 0,2 0,1 0,1 1,3 0,8 Vororte mit hoher Diversity kumulierter Zeitanteil 6,7% 2,3% 5,2% 54,3% 31,6% nicht betrachtete Gebiete Aktivitätsindex 0,2 0,0 0,0 0,1 0,1 kumulierter Zeitanteil 50,1% 10,1% 0,0% 28,8% 11,0% (*) einschließlich Begleitung von Personen, private Erledigungen, dienstliche/geschäftliche Tätigkeiten
252
Gesamt
sonstiges(*)
Freizeitaktivität
Bildung
Einkaufen
Arbeit
Tabelle 6: Aktivitätsintensität und Zeitverwendungsmuster in den Stadtteiltypen Hamburgs
100,0 100% 43,4 100% 36,1 100% 14,6 100% 7,9 100% 8,6 100% 5,5 100% 3,0 100% 2,3 100% 0,3 100%
REGIONALISIERUNG VON ZEITSTRUKTUREN
5.3 Tageszeitliche Rhythmik Ausgehend von den eingangs skizzierten Überlegungen raum-zeitlicher Entgrenzungs-phänomene soll als abschließender Baustein der temporalen Analyse der Stadt die tageszeitliche Rhythmik in unterschiedlichen städtischen Subgebieten betrachtet werden. Auch hier dienen die Wegedaten der Studie MiD 2002 als Basis für die Untersuchung. Die räumliche Aggregationsbasis für die Wegeziele und die Verweildauer vor Ort bilden in diesem Schritt die Stadtteile, wobei die peripher gelegenen Stadtteile zum Teil aufgrund relativ kleiner Fallzahlen zusammengefasst wurden. In Abbildung 15 sind vier Zeitschnitte aus einer Animationssequenz dargestellt, die die Aktivitätsintensitäten (normiert auf die Fläche) zu verschiedenen Tageszeiten abbilden. Je höher die jeweiligen Peaks in bestimmten Teilen der Stadt sind, desto mehr Zeit wird dort außerhäuslich (also außerhalb der eigenen Wohnung) verbracht. Um 7 Uhr morgens ist der suburbane Raum noch durch eine höhere Aktivität gekennzeichnet als das Stadtzentrum. Neben den Wohngebieten zeigen vor allem die Gewerbe- und Industriegebiete Aktivität. Im Laufe des Vormittags nimmt vor allem die Aktivität im Stadtzentrum (CBD und angrenzende Stadtteile) sowie in Harburg zu, bis sie gegen 12 Uhr einen Höhepunkt erreicht. Bis etwa 16 Uhr fällt der innerstädtische „Peak“ nur leicht ab; etwa ab 17 Uhr ist ein deutlicherer Rückgang zu verzeichnen. In den Abendstunden weisen die innenstadtnahen Altbauquartiere eine etwa gleich hohe Aktivität wie der CBD auf. Da die durchschnittliche Dauer von Aktivitäten, die in den innenstadtnahen Alt-bauquartieren stattfinden, nicht signifikant größer als die durchschnittliche Dauer von Aktivitäten in den übrigen Teilen der Stadt ist, kann eine Überlagerung verschiedener tageszeitlicher Rhythmen angenommen werden. Die Ursache hierfür ist einerseits in den hier stärker diversifizierten Zeitverwendungsmustern zu sehen (Kapitel 3.2; insbesondere Arbeits- und Versorgungsfunktion tagsüber und verstärkte Freizeitnutzung in den Abendstunden), andererseits lässt sich aber auch eine stärkere zeitliche Flexibilisierung der tageszeitlichen Arbeitsrhythmen vor allem in den innenstadtnahen Altbauquartieren erkennen. Dennoch wird bei der Betrachtung des tageszeitlichen Rhythmus der gesamten Stadt deutlich, dass dieser auch heute noch in einem ganz wesentlichen Maße durch deutlich getaktete (Normal-)Arbeitsverhältnisse bestimmt zu sein scheint. Zwar verweist die relativ hohe Aktivität der innerstädtischen Quartiere in den Abendstunden auch auf eine Ausdehnung bzw. Flexibilisierung der Arbeitszeiten, der allerdings (noch?) keine dominante Funktion beizumessen ist. 253
ENTGRENZTE STADT
Abbildung 15: Rhythmus der Stadt – Außerhäusliche Aktivität im Tagesverlauf
07:00 Uhr
12:00 Uhr
17:00 Uhr
22:00 Uhr
254
REGIONALISIERUNG VON ZEITSTRUKTUREN
Industrie- und Gewerbeflächen (insbesondere Billbrook und Moorfleet) weisen einen ebenso starr getakteten Rhythmus auf, der allerdings tageszeitlich etwas früher beginnt und endet, als dies im CBD der Fall ist. Die tageszeitlich ausgedehnteste Aktivität mit nur wenig erkennbaren rhythmischen Strukturen erfahren die innenstadtnahen Altbauquartiere, darüber hinaus das innerstädtische Subzentrum Harburg sowie (in etwas geringerem Maße) Bergedorf und Wandsbek, die die deutlich getakteten tageszeitlichen Rhythmen des CBDs und die teilweise entgrenzten tageszeitlichen Rhythmen der urbanen Mischquartiere in sich zu vereinen scheinen. Der Central Business District sowie die Industrie- und Gewerbeflächen mit ihren relativ stark getakteten tageszeitlichen Rhythmen können als zeitlich fordistisch organisierte Teile der Stadt angesprochen werden. Sie sind also nicht nur funktional, sondern auch temporal spezialisiert. Demgegenüber sind innenstadtnahe Altbauquartiere nicht nur Gebiete mit einer hohen funktionalen Vielfalt hinsichtlich der Zeitverwendungsmuster, sondern auch die Orte mit der tageszeitlich ausgedehntesten Aktivität und den vielfältigsten Rhythmen. Die entgrenzten und weitgehend flexibilisierten Alltagsrhythmen legen die Interpretation dieser Quartiere als zeitlich postfordistisch organisierte Teile der Stadt nahe. Dieser Befund einer temporal differenzierten Stadt führt zur Frage nach typischen Formen chorologischer und temporaler Muster in der Stadt, der Frage nach der Regionalisierung von Chronotopen.
5.4 Raum-zeitliche Regionalisierung: Chronotope in Hamburg Konkrete Orte, an denen spezifische räumliche Strukturen mit bestimmten sozial-zeitlichen Organisationsweisen zusammenfallen, können als „Chronotope“ bezeichnet werden. Durch die Synthese von räumlichen und zeitlichen Parameter soll im Folgenden die raum-zeitliche Strukturierung der Stadt erschlossen werden. Als Datenfelder dieser „Chronotop-Zonierung“ kommen die zuvor dargestellten Teilergebnisse zum Einsatz. Ziel ist dabei die Integration der sozialräumlichen Differenzierung Hamburgs (s. Kapitel 4), der tageszeitlichen Rhythmik unterschiedlicher städtischer Areale (Kapitel 5.4) sowie die örtlichen Zeitverwendungsmuster in ihren je spezifischen Intensitäten der Aktivitäten (Kapitel 5.3). Eine schematische Darstellung der Überlagerung sozialräumlicher Differenzierung und sozial-zeitlicher Regionalisierung ist in Abbildung 16 dargstellt. 255
ENTGRENZTE STADT
Abbildung 16: Schematische Darstellung der Raum-Zeit-Zonen in der Stadt (Chronotope)
Eigener Entwurf
Als strukturierende Dimensionen für die raum-zeitliche Regionalisierung stehen die Aktivitätsintensität (aktive vs. passive Areale) sowie die tageszeitliche Rhythmik (entgrenzte zeitliche Rhythmen vs. starre, deutlich getaktete und damit kollektiv geteilte Rhythmen) im Vordergrund. Damit ist die Entgrenzungshypothese implizit der Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung. Ergänzt werden diese Ebenen durch die sozialräumliche Differenzierung (Fragmentierungshypothese) sowie die Betrachtung der Zeitverwendungsmuster (Konvergenzhypothese). 256
REGIONALISIERUNG VON ZEITSTRUKTUREN
Hinsichtlich der Dimension „Aktivitätsintensität“ sind raum-zeitlich eher aktive von raum-zeitlich eher passiven Arealen zu unterscheiden. Raum-zeitlich aktive, mit Einschränkungen auch raum-zeitlich passive Areale, können hinsichtlich ihrer Zeitverwendungsmuster sowie ihrer Rhythmik differenziert betrachtet werden.
I. Raum-zeitlich eher aktive Areale Zum Ersten sind dies durch eine im Tagesverlauf hinsichtlich ihrer Aktivitätsintensität deutlich getaktete Quartiere, die in der Regel entscheidend durch die Funktion Arbeit geprägt sind. Am deutlichsten ist der Central Business District als ein solcher raum-zeitlicher Typus zu erkennen (Typ A1), ferner einzelne Gewerbegebiete mit einer relativ hohen Dichte an Arbeitsplätzen (Typ A2). Der dominante tageszeitliche Rhythmus in diesen Gebieten der Stadt ist durch eine relativ große Homogenität geprägt, die im Bild des „Normalarbeitstages“ ihre Entsprechung findet. Die Aktivitätsrhythmen dieser Areale der Stadt lassen auf eine konventionelle Zeitordnung schließen, die im Bild der „fordistischen Moderne“ ihren Ausdruck findet. Kennzeichnend für diese Areale der Stadt ist die starke funktionsräumliche Spezialisierung, die diesen aktiven und deutlich getakteten Quartieren zu eigen ist. So ist der Central Business District zuallererst Ort der (vorwiegend: unternehmensbezogenen) Dienstleistungen und der Administration, also der „White Collar Jobs“. Demgegenüber sind alle anderen Funktionen deutlich nachgeordnet, insbesondere die Wohnfunktion tritt kaum zutage. Allenfalls die Versorgung mit Gütern des langfristigen Bedarfs findet in der „City“ noch ihren althergebrachten Stammplatz, ist aber durch Suburbanisierungsprozesse (etwa Shopping-Malls oder Outlet-Center) bedroht. Doch auch die Versorgungsfunktion der City entspricht weitgehend diesen „kollektiv geteilten Zeiten“, eine Ausdehnung der Aktivitätszeiten in die Abendstunden ist nicht zu erkennen. So beginnt die Aktivitätsphase in diesem Areal etwa um neun Uhr morgens und endet recht deutlich um 20 Uhr.3 Auch beim Typ A2 (Gewerbegebiete) herrscht ein deutlicher tageszeitlicher Wechsel von Aktivitäts- und Ruhezeiten vor, allerdings beginnt und endet die Aktivitätsphase tageszeitlich jeweils früher (Aktivitätsphase ca. 6 bis 16 Uhr).
3
Inwiefern die jüngste Verlängerung der möglichen Öffnungszeiten des Einzelhandels bis 22 Uhr zu einer nennenswerten Ausdehnung der Aktivitätszeiten geführt hat, kann anhand der Sekundäranalyse der MiD 2002-Daten nicht beantwortet werden. 257
ENTGRENZTE STADT
Zum Zweiten lassen sich die hochverdichteten innenstadtnahen Quartiere mit hohem Altbaubesatz als raum-zeitlich aktive Areale mit einer heterogenen Rhythmik beschreiben. Zwar ist auch hier der „Normalarbeitstag“ als rhythmusprägend erkennbar, hinzu treten aber weitere, einander überlagernde Rhythmen, die insbesondere durch zeitlich (teil)flexibilisierte Arbeitszeiten sowie die (abendliche) Freizeitnutzung verursacht werden. Dieses räumliche, tendenziell auch zeitliche Ineinandergreifen der ehemals getrennten Lebenssphären „Arbeit“ und „Freizeit“ bildet den physisch-materiellen Ausdruck der „Konvergenz von Arbeit und Leben“ ab. Insbesondere die urbanen Quartiere mit hoher Openness to Diversity weisen zeitlich weitgehend entgrenzte Aktivitätsphasen auf (Typ B1). In diesen funktional durchmischten Arealen sind auch kleinräumige Zitadellen kontinuierlicher Aktivität (EBERLING/HENCKEL 2002, S. 315 f.) zu vermuten, die auf gesamtstädtischer Maßstabsebene jedoch nicht empirisch zugänglich sind und die Notwendigkeit einer zeitgeographischen Quartiersstudie zu ihrer Entdeckung und Beschreibung erkennen lassen (vgl. Kapitel 6). Ferner zeigen urbane Mischquartiere mit überwiegend statushoher Wohnbevölkerung Tendenzen zur zeitlichen Entgrenzung, mindestens aber zur Ausdehnung der Aktivitätszeiten in den Abendstunden (Typ B2). Auch hier ist die Tendenz zur funktionalen Mischung anhand der Zeitverwendungsmuster zu erkennen, allerdings weniger deutlich als beim Typ B1. Zum Dritten verweisen innerstädtische Subzentren auf eine raumzeitlich teilaktive „Stadt in der Stadt“, die die vorgenannten Typen A und B, aber auch die Strukturen und Funktionen, lokal in sich vereint (in Hamburg trifft dies vor allem auf Harburg sowie mit Einschränkungen auf Bergedorf und Wandsbek zu). So dominieren in diesen Quartieren zwar starre tageszeitliche Rhythmen, in den Abendstunden sinkt das Aktivitätsniveau jedoch weniger deutlich ab als im (stark getakteten) Central Business District. Das Aktivitätsniveau – insbesondere in den Abendstunden – ist in diesen Quartieren jedoch deutlich geringer, als dies in den vorgenannten raum-zeitlich aktiven Typen der Fall ist.
II. Raum-zeitlich eher passive Areale Bei städtischen raum-zeitlich passiven Arealen handelt es sich um vorwiegend durch Wohnnutzung geprägte rückseitige Räume, die allenfalls durch den Durchgangsverkehr zur Rush-Hour eine deutlichere Belebung
258
REGIONALISIERUNG VON ZEITSTRUKTUREN
entfalten. 4 Diese lassen sich als (rückseitige) „Schlafstädte“ ansprechen (EBERLING/HENCKEL 2002, S. 313) und umfassen einen Großteil der sozialräumlichen Cluster, die zuvor mit dem Attribut „suburban“ bzw. „Wohngebiet“ gekennzeichnet wurden (Typ D). 5 Für die Kennzeichnung dieser Areale eignen sich zeitbezogene Analyseschemata aufgrund des niedrigen Aktivitätsniveaus nur bedingt. Aufgrund des Fehlens von Merkmalen, die auf eine zeitliche Entgrenzung hindeuten, muss aber für die „Schlafstädte“ eine konventionelle Zeitordnung (oder anders ausgedrückt: kollektiv geteilte Rhythmen) angenommen werden. So stellen die „Schlafstädte“ das Komplementär zu den raum-zeitlich aktiven Arealen dar. Sie sind als Ausdruck der räumlichen sowie zeitlichen Trennung der Sphären Arbeit und Leben zu verstehen und damit ein Kennzeichen der Stadt der Moderne. Die Voraussetzung für das Wohnen in diesen städtischen Teilgebieten ist die Bereitschaft zur Mobilität, mindestens zum Berufspendeln, zumeist aber durch die starke funktionale Spezialisierung auf die Wohnfunktion auch zum Einkaufspendeln sowie zum Freizeitpendeln. Während die raum-zeitlich aktiven Areale ihr jeweiliges StadtteilImage aus ihren funktionalen Zuschreibungen beziehen, die treffend in dem Begriff der „Urbanität“ zum Ausdruck kommen, beziehen die Schlafstädte ihr Image aus der sozialen Positionierung ihrer Bewohner. Wesentlich stärker als in den aktiven Arealen mit heterogener Rhythmik, die ja ebenfalls einer großen Zahl von Menschen als Wohnstandort dienen, werden hier die Merkmale der sozialen Lagen der Bewohner auf das Wohnquartier übertragen, was etwa in Begrifflichkeiten wie „Villenvorort“, „besserer Stadtteil“ oder „einfaches Wohngebiet“ zum 4
5
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass in der vorliegenden Betrachtung nur räumlich stationäre Aktivitäten erfasst sind; raum-zeitlich passive Räume können also sehr wohl durch einen starken Durchgangsverkehr geprägt sein. Da Mobilität in der Chronotopenanalyse jedoch nicht abgebildet wird, sind Durchgangsverkehrsaktivitäten für diesen Zugang unsichtbar. Zwar finden die meisten wohnbezogenen Aktivitäten aufgrund ihrer Privatheit in rückseitigen Regionen statt, darüber hinaus gibt es aber auch wohnbezogene Aktivitäten, die nicht dem Typus der rückseitigen Regionalisierung entsprechen. Insbesondere in suburbanen Gebieten mit Einzeloder Doppelhausbebauung wäre hier der (öffentlich sichtbare) Aufenthalt im hauseigenen Garten zu nennen, der durchaus eine Relevanz für die Gestalt der raum-zeitlichen Aktivität eines Quartiers hat. Aufgrund der MiDErhebungsmethodik können derartige wohnungsnahe, aber vorderseitig regionalisierbare Aktivitäten allerdings nicht erfasst werden, da zu ihrer Durchführung keine erfasste Wegstrecke zurückgelegt wurde. Das hier vorgestellte Vorgehen bleibt also hinsichtlich der wohnbezogenen Aktivitäten in vorderseitigen Regionen unscharf. Dies dürfte insbesondere bei einer Übertragung der hier vorgestellten Methode in ländliche Gebiete ein Problem darstellen. 259
ENTGRENZTE STADT
Ausdruck kommt. Die soziale Stellung der Bewohner dieser Gebiete ist im Regelfall auch eindeutiger von außen über Merkmale wie Größe, Alter und Zustand des Wohngebäudes erkennbar, als dies in urbanen Mischquartieren der Fall ist. Ebenfalls als raum-zeitlich passiv erscheinen die Quartiere mit prekärem sozialem Status, sogenannte „Marienthalghettos“ (EBERLING/ HENCKEL, S. 314), in denen Tendenzen zur Auflösung zeitlicher Strukturen angenommen werden müssen (Typ E). So könnte das in diesen Gebieten verstärkte Fehlen von institutionalisierten Taktgebern wie Erwerbsarbeit eine Form der Zeitanomie bedingen. Zur Bestätigung der Zeitanomiethese sind jedoch weiterführende lokale Einzelfallstudien nötig, da die Sekundäranalyse der MiD-Daten hierüber keine hinreichende Auskunft zu geben vermag. Daneben können auch land- oder forstwirtschaftliche Nutzflächen und Naherho-lungsgebiete in Stadtrandlage, aber auch größere innerstädtische Freiflächen sowie Parks als raum-zeitlich passive Areale gelten (Typ F). 6 Diese räumlichen Ruhezonen fungieren zugleich als zeitliche Ruhezonen und können vor dem Hintergrund einer zunehmenden gesellschaftlichen Beschleunigung (ROSA 2005) als Ausgleichsflächen zum dominierenden gesellschaftlichen Trend der chronischen Zeitknappheit verstanden werden.
5.5 Zwischenergebnisse: Der Beitrag der Chronotop-Perspektive zum Verständnis städtischer Strukturen Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die ChronotopPerspektive neue Wege zum Verständnis der räumlichen Organisation und der zeitlichen Strukturierung der Stadt aufzeigt, die über bloße Funktions-, Struktur- oder Sozialraumanalysen hinausreicht, da die tatsächliche Nutzungsart, -frequenz und -dauer sowie die Taktung städtischer Teilräume erfasst wird. Mit diesem Vorgehen eröffnen sich auch neue Chancen für die städtische Planung, beispielsweise um Tendenzen zukünftiger innerstädtischer Fragmentierung entgegenwirken zu können. Vor dem Hintergrund der aktuell bedeutsamen zeitbezogenen Prozesse des gesellschaftlichen Wandels, die mit den Begriffen Beschleunigung, zeitliche Ausdehnung (bzw. Entgrenzung) und Fle6
An dieser Stelle sei auf das Fehlen einer wochentags- und jahreszeitspezifischen Rhythmusanalyse hingewiesen. So liegt die Vermutung nahe, dass in Abhängigkeit von Wochenende, Jahreszeit sowie Wetterlage stadtrandnahe Erholungsflächen durchaus eine hohe Aktivität aufweisen.
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REGIONALISIERUNG VON ZEITSTRUKTUREN
xibilisierung beschrieben werden können (ALR 2002; OSSENBRÜGGE/HAFERBURG 2004), erscheinen Analysen zeit-räumlicher Strukturen städtischer Quartiere zum Verständnis der Alltagsorganisation in Städten hilfreich. Einhergehend mit dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft stellt sich die Frage, wie eine routinisierte Alltagsgestaltung unter den Bedingungen der zunehmenden Konvergenz von Arbeit und Leben am besten zu bewerkstelligen ist. Konkret zeigt sich dies besonders deutlich am Beispiel des Chronotop-Typus der „raum-zeitlich aktiven Areale mit einer heterogenen Rhythmik“, der im besonderen Maße Kopplungschancen von Arbeit, Versorgung, Freizeit sowie Wohnen bietet. Gerade für die dort lebenden gesellschaftlichen Gruppen mit hoher Openness to Diversity scheinen diese Kopplungschancen gute Möglichkeiten zur sozialen Integration zu versprechen. Des Weiteren kann in funktionsgemischten Quartieren, in denen Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Bildung etc. zu verwirklichen sind, zumindest ansatzweise das „Leitbild der kompakten ‚Stadt der kurzen Wege‘ als Lösung für Nachhaltigkeitsprobleme aufgenommen“ werden (OSSENBRÜGGE/HAFERBURG 2004, S. 6), was eine Relevanz dieses Chronotop-Typus für die zukünftige Stadtplanung erahnen lässt. Die Überlagerung verschiedener Rhythmen in städtischen Teilräumen birgt aber auch – insbesondere in hochverdichteten Quartieren – die Gefahr des Konfliktes verschiedener Nutzungsinteressen. Neben einem verstärkten ökonomischen Wettbewerb um Fläche kann sich dieser Konflikt etwa in Auseinandersetzungen um die soziokulturelle Hegemonie im Viertel ausdrücken, beispielsweise wenn es um die Durchsetzung von Ruhezeiten oder (teilprivaten) Rückzugsräumen geht. Im Interesse eines Idealbilds der „Sozialen Stadt“, die nicht nur die Durchsetzung der kapitalstärksten Interessen im Blick hat, sondern auch Kriterien der Nachhaltigkeit berücksichtigt, wird an dieser Stelle die Bedeutung der Etablierung neuer Strategien der lokalen Zeitpolitik, wie sie etwa von MÜCKENBERGER (2000; 2007) initiiert werden, besonders deutlich. Erkennbar wird, dass die zeitlichen Strukturen in unterschiedlichen Stadtquartieren deutliche Querbezüge zur sozialräumlichen Organisation aufweisen, aber nicht hinlänglich durch diese erklärt werden können. Tendenziell sind Gebiete mit hoher Openness to Diversity zugleich auch die Gebiete in der Stadt, in denen zeitliche Entgrenzungsprozesse am deutlichsten zu erkennen sind. Die Verzeitlichungshypothese (V1), die für Gebiete mit einem hohen Maß an Toleranz gegenüber vielfältigen Lebensformen (Openness to Diversity) auch ein hohes Maß an zeitlicher
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ENTGRENZTE STADT
Vielfalt (entgrenzte und flexibilisierte Alltagsrhythmen) behauptet, kann damit bestätigt werden. Demgegenüber sind monofunktionale Quartiere wie der CBD oder die suburbanen Wohngebiete tageszeitlich deutlich differenziert und lassen derzeit kaum Tendenzen einer zeitlichen Entgrenzung und Flexibilisierung erkennen. Vielmehr kann für diese Areale der Stadt eine Persistenz fordistischer Alltagsorganisationsmuster festgestellt werden. In der relativ starken temporalen Taktung der Aktivitäten kommt auch die funktionale Spezialisierung dieser Quartiere zum Ausdruck. Alltagsorganisationsweisen, die durch eine starke Konvergenz von Leben und Arbeiten geprägt sind, scheinen mit diesen raum-zeitlichen Strukturen kaum vereinbar zu sein. Hieraus resultiert eine Spaltung der Stadt in Areale, die den raum-zeitlichen Mustern des Fordismus einerseits sowie des Postfordismus andererseits folgen. Die Verzeitlichungshypothese (V2), die diese Trennung der Stadt zum einen in fordistische Gebiete wie den CBD, suburbane Wohnquartiere und Gewerbestandorte, und zum anderen in postfordistische funktionsgemische Quartiere behauptet, kann somit ebenfalls bestätigt werden. Wenngleich diese Zuspitzung als vereinfachtes Modell gedacht werden muss und in der Praxis vielfach durch Übergänge und Brüche gekennzeichnet sein dürfte, lassen sich tendenziell Areale benennen, die zukünftigen Anforderungen an eine stärkere alltägliche Kopplung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und weiteren Lebensbereichen immer weniger entsprechen dürfte. Vor dem Hintergrund des von GRABOW/HENCKEL (1988) postulierten Weges in eine kontinuierlich aktive Gesellschaft sind die zeitlich weitgehend entgrenzten Quartiere des Typs B1 besonders interessant. In diesem Chronotop-Typ ist mit der nachweisbaren rhyth-mischen Differenzierung eine weitreichende tageszeitliche Entgrenzung von Aktivitätszeiten verbunden. Hierdurch kommt es zu einer deutlich erkennbaren Schrumpfung von Rand- und Ruhezeiten, allerdings nicht in dem Maße, wie dies im Rahmen der Verzeitlichungshypothese V3 angenommen wurde. „Zitadellen kontinuierlicher Aktivität“, also Quartiere, die rund um die Uhr aktiv sind, lassen sich – zumindest auf gesamtstädtischer Maßstabsebene – nicht nachweisen. Dies schließt eine prinzipielle Existenz derart zeitlich entgrenzter (also kontinuierlich aktiver) Chronotope nicht aus, sondern bietet vielmehr einen weiteren Anlass, im Rahmen einer vergleichenden Quartiersstudie lokale Zeitstrukturen näher zu analysieren. Eine derartige empirische Studie ist Gegenstand von Kapitel 6.
262
6 RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION IN DER SPÄTMODERNE
DES
ALLTAGS
Aufbauend auf die Untersuchung der raum-zeitlichen Strukturierung der Stadt in Kapitel 5 soll im Folgenden eine Analyse der Entstehung von lokalen Alltagsrhythmen erfolgen. Ergänzend zu der gesamtstädtischen Betrachtung wird in diesem Kapitel die Perspektive der handelnden Individuen in Bezug auf ihre alltäglichen Routinisierungen verfolgt. Dabei soll geprüft werden, inwiefern die zuvor beschriebene raum-zeitliche Differenzierung der Stadt in verschiedene Chronotope auf die routinisierte Alltagsorganisation ihrer Nutzer bezogen werden kann. Die Ergebnisse der raum-zeitlichen Regionalisierung Hamburgs weisen auf eine unterschiedlich starke Flexibilisierung zeitlicher Rhythmen in verschiedenen Teilen der Stadt hin (vgl. Kapitel 5). Während der CBD, klassische Gewerbegebiete sowie monofunktionale (i.d.R. suburbane) Wohnquartiere relativ starre alltagszeitliche Rhythmen mit einem deutlichen Wechsel von örtlichen Aktivitäts- und Ruhezeiten aufweisen, lassen sich funktionsgemischte Quartiere raum-zeitlich durch eine Vielzahl sich überlagernder und zeitlich zueinander versetzter Aktivitätsrhythmen kennzeichnen. Hiermit verbunden ist eine Ausdehnung der tageszeitlichen Gesamtaktivität der betreffenden Areale, die sich als alltagszeitliche Entgrenzung charakterisieren lässt. Die derart zeitlich entgrenzten Quartiere können als „postfordistisch“ interpretiert werden, während die funktionsgetrennten und relativ starr getakteten Quartiere als sozialräumliche und zugleich städtebauliche Manifestation einer fordistischen Moderne zu verstehen sind. Unklar ist dabei bislang, welche Chancen zur routinierten Alltagsorganisation verschiedene Areale der Stadt für ihre Bewohner eröffnen
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ENTGRENZTE STADT
bzw. welche erschwert oder gar verhindert werden. Zudem verschafft das Erkennen verschiedener Quartiersrhythmen in unterschiedlichen Teilgebieten der Stadt noch keine Klarheit darüber, wie diese Rhythmen generiert werden, da die Menschen, die die hiermit verbundenen Aktivitäten durchführen, räumlich mobil sind und verschiedene Gelegenheiten der Stadt an verschiedenen Tageszeiten bzw. Wochentagen nutzen. Zum Verständnis der Genese von Chronotopen kann eine Analyse der raumzeitlichen Routinen in Form von Aktionsräumen beitragen. Ausgangspunkt dieses Analyseschrittes ist die Annahme, dass raumzeitlich getrennte funktionsräumliche Strukturen die Realisierung auf der Konvergenz von Lebens- und Arbeitswelt basierender Alltagsorganisationsweisen erheblich erschweren, wenn nicht gar verhindern. So scheinen suburbane Wohnstandorte für die raum-zeitliche Alltagsorganisation fordistisch organisierter Familienhaushalte optimiert zu sein, die dem klassischen Bild des männlichen Alleinverdienerhaushalts in einer automobilen Gesellschaft entsprechen (vgl. Kapitel 2.1.4). Hiervon abweichende Rollenmuster und Formen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung bedeuten vermutlich deutlich höhere Opportunitätskosten für jeden Einzelnen. Folgt man diesem Gedanken, so sollte mit der empirischen Untersuchung alltäglicher Routinen geprüft werden können, ob sich die unterschiedlichen Zeitstrukturen verschiedener städtischer Subgebiete in einer Segregation verschiedener Alltags-, Zeitverwendungs-, Mobilitäts- oder Lebensstile spiegeln. Unterstellt wird also, dass verschiedene Stadtviertel eine sehr unterschiedliche Chance zur Realisierung postfordistischer Lebensstile (mit den dazugehörigen Mobilitätsmustern und Rollenbildern) bieten. Funktionsoffene Quartiere, die durch ihre soziale sowie bauliche Struktur eine Umnutzung von Wohngebäuden zu kleinen und mittelständischen Büros, von Ladenlokalen zu Bars und Cafés ermöglichen, wären dann als besondere Gunsträume der spätmodernen Wissensgesellschaft anzusprechen, da sie die Konvergenz von Arbeitsund Lebenswelt am ehesten unterstützen. Dies würde die innere Differenzierung der Stadt in sozialräumlicher und zeitlicher Perspektive, die in Kapitel 5 herausgearbeitet wurde, erklären. Hiermit verbunden ist die Frage, ob die bereits herausgearbeitete Segregation nach Lebensstilen (Kapitel 4) gleichfalls eine Segregation alltäglicher Zeitverwendungsmuster bedeutet. In diesem Fall wären Aktionsräume als Kennzeichen des Lebensstils anzusprechen. So kann etwa vermutet werden, dass bestimmte Lebensstilgruppen eine „Stadt der kurzen Wege“ bevorzugen, die ihre raum-zeitliche Alltagsorganisation unterstützt und in vielen Fällen erst ermöglicht. Dies wäre als dialektischer Zusammenhang zwischen der raum-zeitlichen Alltags264
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
organisation einerseits und Lebensstilen andererseits zu deuten: Aktionsräume sind dann sowohl als Ausdruck des Lebensstils zu erfassen als auch für die raum-zeitliche Struktur von Quartieren konstituierend. Die hier skizzierten vermuteten Zusammenhänge von Lebensstil und raum-zeitlicher Alltagsorganisation lassen sich nur im Rückgriff auf Individualdaten überprüfen. Als räumlicher Bezugs- bzw. Ankerpunkt eines solchen analytischen Zugangs kann dabei der Wohnort der Individuen gelten, der (trotz der Debatte um die raum-zeitliche Entankerung) immer noch als bedeutsamste Station des Aktionsraumes verstanden werden muss. Während der in Kapitel 5 als Basis der Untersuchung zur Anwendung kommende Datensatz „Mobilität in Deutschland 2002“ (MiD) Rückschlüsse auf die raum-zeitliche Alltagsgestaltung und damit die Aktionsräume von Personen zulässt, sind Informationen zu Lebensstilen in der MiD 2002-Studie allerdings nicht erfasst worden. Zudem ist die Stichprobe dieses Datensatzes zu klein, um differenzierte Aussagen über einzelne Chronotope (also lokale Zeitregimes in Stadtquartieren) treffen zu können. Um den vermuteten Zusammenhängen zwischen Lebensstilen, Haushaltsstrukturen, Erwerbskontexten und raum-zeitlicher Alltagsorganisation dennoch nachgehen zu können, wurde in vier ausgewählten Stadtvierteln Hamburgs eine empirische Untersuchung durchgeführt. Nach einer kurzen Vorstellung des methodischen Vorgehens sowie der Auswahl und der Beschreibung der Untersuchungsgebiete werden die oben genannten Fragestellungen unter Rückgriff auf diese im November 2006 erhobenen Daten erörtert.
6.1 Methodisches Vorgehen, Eigenschaften der Stichprobe, Datenqualität Im November 2006 erhielten insgesamt 2.800 zufällig ausgewählte Einwohner der zuvor bestimmten Untersuchungsgebiete in Hamburg im Alter von mindestens 18 Jahren einen A4-Umschlag mit Erbebungsunterlagen. Neben dem Fragebogen enthielt die Sendung ein Anschreiben, in dem das Forschungsvorhaben kurz erläutert und Kontaktpersonen für Rückfragen angegeben wurden, sowie einen Freiumschlag zur Rücksendung des ausgefüllten Fragebogens an eine Postfachadresse der Universität. Die hierzu verwendete Stichprobe wurde vom Amt für Statistik und Einwohnerwesen der Freien und Hansestadt Hamburg gezogen. Nach einigen Wochen erfolgte ein Erinnerungsschreiben (Postkarte) an alle Probanden, da aufgrund der Anonymisierung nicht nachvollzogen 265
ENTGRENZTE STADT
werden konnte, welche Probanden bereits an der Untersuchung teilgenommen und die ausgefüllten Unterlagen zurückgesendet hatten. Insgesamt konnte so ein Rücklauf von 694 Fragebögen erzielt werden, was einer für schriftliche Befragungen als durchschnittlich zu bezeichnenden Rücklaufquote von 25% entspricht. Das Durchschnittsalter der Befragten liegt bei 46,0 Jahren mit einer Standardabweichung von 16,5 Jahren (Median 43). Bedingt durch die ausgewählten Alterskohorten (keine Personen unter 18 Jahren) ergab sich ein etwas erhöhter Frauenanteil in der Bruttostichprobe von 51,2%. In der Nettostichprobe wurden demgegenüber deutlich mehr Frauen erfasst (Frauenanteil 59,7%). Einerseits muss davon ausgegangen werden, dass unter den befragten Frauen eine höhere Antwortbereitschaft bestand. Andererseits deuten die noch höheren Frauenanteile der Befragten in Familienhaushalten (62,2%) darauf hin, dass die Fragebögen von einigen männlichen Probanden innerhalb der Haushalte weitergegeben und durch eine weibliche Person ausgefüllt wurden, obgleich die Erhebungsunterlagen an individuelle Personen (und nicht an eine beliebige im Haushalt lebende Person) gesendet wurden. Gegenstand der schriftlichen Befragung in den Untersuchungsgebieten war die raum-zeitliche Alltagsorganisation, die Haushaltsstruktur sowie die Lebensstile der jeweiligen Bewohner. Zusätzlich wurden einige soziodemographische Standardvariablen erhoben (Alter, Einkommen, Beruf etc.). Der Fragebogen wurde als teilstandardisiertes Instrument konzipiert und enthielt verschiedene Schwerpunktbereiche. Neben allgemeinen Einschätzungen, die die jeweilige Wohnumgebung betreffen, enthielt der erste Teil des Fragebogens vor allem Fragen zum Freizeitverhalten und regelmäßig ausgeübten Aktivitäten sowie den jeweiligen Orten der Ausübung dieser Aktivitäten. Im Mittelteil des Fragebogens sollten die Probanden ein Wegeprotokoll nach der Tagebuchmethode ausfüllen, das ihre Aktivitäten, die jeweiligen Aktivitätsorte sowie die für Mobilität aufgewendeten Zeiten am jeweiligen Vortag beschreibt. Zusätzlich wurden die zum Aufsuchen der Aktivitätsorte verwendeten Verkehrsmittel erhoben (inkl. Modal Split). Um in der Stichprobe alle Wochentage etwa zu gleichen Häufigkeiten abzudecken, wurden die Fragebögen über eine Woche hinweg verteilt versendet. Knapp 80% der Mobilitätsprotokolle wurden an einem Wochentag (Montag bis Freitag) ausgefüllt, 12% an einem Samstag, 9% an einem Sonntag. Grundlage des Wegeprotokolls stellt das für die Untersuchung MiD 2002 verwendete Wegeprotokoll dar, um eine Anschlussfähigkeit der so erhobenen Daten zu ermöglichen.
266
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Im Schlussteil des Fragebogens wurden soziodemographische Variablen wie Alter, Einkommen, Bildungsabschluss, Beruf erfasst. Zusätzlich wurden die Arbeitszeiten erfragt, um zeitliche Entgrenzungsphänomene auch branchenspezifisch abbilden zu können. Darüber hinaus wurden die Probanden über die Struktur ihres Haushaltes befragt. Um symbiotische Existenzverflechtungen bzw. die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familienhaushalten abbilden zu können, sollten die Probanden Auskunft über das jeweilige Alter und die Tätigkeit aller ihrer Haushaltsmitglieder geben. Während angenommen werden konnte, dass weite Teile der in dem Fragebogen angewandten Techniken den Probanden aus anderen (teil)standardisierten schriftlichen Befragungen bekannt sind (z.B. Einschätzungsfragen auf fünfstufigen Likert-Skalen; offene Fragen mit der Möglichkeit, einige Stichworte zu notieren etc.), dürfte das Ausfüllen eines Wegeprotokolls eines Stichtags für die meisten Probanden neu gewesen sein. Daher wurde ein mehrere Absätze umfassender, aber angemessen knapper Erläuterungstext dem Wegeprotokoll vorangestellt, um den Probanden das Bearbeiten dieses „raum-zeitlichen Tagebuchs“ zu erläutern. Bei der Auswertung der Mobilitätsprotokolle, die nach dieser „Tagebuchmethode“ erhoben wurden, sind einige Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die mit diesem methodischen Vorgehen verbunden sind. Insbesondere ergibt sich bei der Tagebuchmethode ein Informationsverlust, der dadurch bedingt ist, dass in der protokollierten Zeit bestimmte Tätigkeiten überhaupt nicht ausgeführt wurden, die aber über längere Perioden zum aktionsräumlichen Muster des Individuums gehören (vgl. KLINGBEIL 1978, S. 75). VON ROSENBLADT (1969; zitiert nach KLINGBEIL 1978) bezeichnet diese Unschärfe als „Wochentagsgewichtungsproblem“. Hierunter ist die Verzerrung zu verstehen, die sich durch die Tatsache ergibt, dass einzelne Probanden jeweils nur einen Wochentag protokollieren, der aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht alle relevanten Tätigkeiten und aufgesuchten Orte des Aktionsraums erfasst. Ungenau wird hierdurch insbesondere die Zuweisung von Individuen zu (mobilitäts- bzw. verhaltenshomogenen) Gruppen oder die Suche nach den Motiven für bestimmte Mobilitätsereignisse. 1 Hieraus folgt für Mobilitätsstudien, die mit Hilfe der Tagebuchmethode durchgeführt werden, dass „die Untersuchungseinheit [...] daher immer ein Aggregat sein [muss, (T.P.)], das um so größer zu wählen ist, je seltener 1
Umgehen lässt sich dieses Problem, indem ein entsprechend längerer Zeitraum protokolliert wird. Andererseits ist die Bereitschaft zur Teilnahme an einer Studie größer, wenn der Aufwand für den Probanden überschaubar bleibt. 267
ENTGRENZTE STADT
die Ereignisse sind“ (KLINGBEIL 1978, S. 75). Damit ist streng genommen auch der integrierten Betrachtung von Mobilitätsverhalten (erhoben über die Tagebuchmethode) und Lebensstil (erhoben durch Präferenzmuster) eine enge Grenze gesetzt. Auf dieses grundlegende Problem wurde bereits in der frühen Phase der Aktionsraumforschung hingewiesen: „Die Verarbeitung von Tagebuchdaten auf der Aggregatebene schließt auch die Anwendung typologischer und multivariater Methoden aus. TagebuchStudien sind daher statistisch-methodisch auf die Mittelwertstatistik begrenzt. Es wäre sicherlich wünschenswert, Individuen nach ihrem aktionsräumlichen Verhalten zu typisieren und zu analysieren, wie es Interviewdaten ermöglichen. Da Tagebuchdaten jedoch nur die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen in einer Population [...] wiedergeben, könnten auch nur die Aggregatwerte (Mittelwerte) für die Typisierung und Analyse herangezogen werden.“ (KLINGBEIL 1978, S. 76f.)
Obgleich diese Unschärfe bei allen vergleichbaren Studien besteht, führt für das Erkenntnisinteresse der räumlichen und zeitlichen Dimensionen von Aktivitäten kaum ein Weg an einer Stichtags-Befragung nach dem Muster der „Tagebuchmethode“ vorbei. Nur so können im Rahmen einer umfangreichen schriftlichen Befragung die genauen Zeitpunkte, die Dauer sowie die Örtlichkeit von Aktivitäten erfasst werden. Da bei der vorliegenden Untersuchungen zudem im Wesentlichen soziale Gruppen als unabhängige Variablen verwendet werden (Lebensstilgruppen, Berufsgruppen, Existenzverflechtungen), ist die Beschränkung auf die Aggregatwerte (Lage- und Streuungsparameter, Varianzanalysen) vertretbar. Um die Daten aus dem Wegeprotokoll dennoch hinsichtlich ihrer „Zufälligkeit“ bezüglich der Auswahl des Stichtages qualifizieren und für die integrierte Betrachtung mit anderen Individualdaten anschlussfähig zu gestalten, wurden die Probanden nach der „Normalität“ des jeweils protokollierten Stichtages für den jeweiligen Wochentag gefragt. Hierdurch werden bei Wochentagen, die von den jeweiligen Befragten als „normale Tage“ bezeichnet wurden, zumindest die Daten, die sich auf stark routinisierte Tätigkeiten wie das Aufsuchen des Arbeitsortes beziehen, für die individualdatenbezogene Auswertung nutzbar. So lassen sich etwa die mit der Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt verbundenen raum-zeitlichen Entgrenzungsphänomene messen und im Kontext von Lebensstilen, Erwerbsbeziehungen sowie Haushaltsstrukturen untersuchen.
268
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
6.2 Auswahl und Kennzeichen der Untersuchungsgebiete Basis der vergleichenden lokalen Quartierstudien sind die Ergebnisse der Strukturuntersuchungen Hamburgs (Sozialraumanalyse und raumzeitliche Regionalisierung, vgl. Kapitel 4 und 5). Bei der Auswahl der Quartiere steht die Überlegung im Vordergrund, möglichst unterschiedliche Chronotope zu erfassen und dabei die Habitate verschiedener Lebensstilgruppen abzubilden. Naheliegend ist, zwei Quartieren, in denen aufgrund der Ergebnisse aus den Strukturuntersuchungen spätmoderne Entgrenzungsprozesse vermutet werden, zwei Quartiere, die eher konventionell-moderne Zeitregimes aufweisen, gegenüberzustellen. Ferner sollen Wohnquartiere unterschiedlicher sozialer Gruppen erfasst werden. Ausgehend von dem innenstadtnahen Altbaugürtel, in dem sich die raum-zeitlich aktiven Areale mit einer heterogenen Rhythmik lokalisieren lassen und in denen die Zitadellen kontinuierlicher Aktivität vermutet werden (vgl. Kapitel 5), wurden zwei Quartiere ausgewählt, die in unterschiedlichen sozialräumlichen Clustern liegen und damit eine Status- sowie Lebensstilheterogenität aufweisen (vgl. Clusteranalyse der Stadtteile Hamburgs in Kapitel 4): Hierbei handelt es sich einerseits um Eppendorf, das zu den urbanen Mischquartieren mit gehobenem Wohnen zu rechnen ist, sowie andererseits um das Schanzenviertel, das als urbanes Quartier mit hoher Openness to Diversity anzusprechen ist. Dem gegenübergestellt sollen zwei Quartiere näher betrachtet werden, die hinsichtlich ihrer Aktivitätsintensität im Tagesverlauf deutlich getaktet sind. Auch für diese Vergleichsgruppe der Stadtteile, die aus der Perspektive der raum-zeitlichen Regionalisierung dem Typus der „fordistischen Stadt“ zugerechnet werden können, soll die sozialräumliche Differenzierung berücksichtigt werden. Daher fiel die Wahl auf ein eher urban geprägtes Untersuchungsgebiet mit einer deutlichen inneren Differenzierung (Hamburg-Hamm) sowie einen suburban geprägten Stadtteil, der neben der reinen Wohnfunktion auch grundlegende Versorgungsfunktionen des alltäglichen Bedarfs bedient (Niendorf). Keine Berücksichtigung in den lokalen Quartiersstudien finden die innerstädtischen Subzentren vom Typus der raum-zeitlich teilaktiven „Stadt in der Stadt“. Da sich in diesen Quartieren Muster der Moderne und Muster der Spätmoderne überlagern, erscheinen diese Teile der Stadt für die Herausarbeitung der jeweiligen lokalen Realisierungschancen für verschiedene Alltagsrhythmen als eher ungeeignet. Tabelle 7 ermöglicht einen Strukturvergleich der vier ausgewählten Gebiete anhand ausgewählter Indikatoren sowie einen Vergleich der 269
ENTGRENZTE STADT
Untersuchungsgebiete zu Hamburg insgesamt. Die Lage der Untersuchungsgebiete innerhalb der Stadt Hamburg ist in Abbildung 17 dargestellt. Im Folgenden werden die Untersuchungsgebiete hinsichtlich ihrer Struktur und Entwicklung vorgestellt. Aufgrund der recht unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken, die die Gebiete in den letzten Jahrzehnten geprägt haben, erfolgt die Beschreibung nicht gleichgewichtig. Insbesondere das Schanzenviertel, das sich durch eine ausgeprägte Dynamik auszeichnet und in dem auch die Zeichen der spätmodernen Stadtentwicklung am deutlichsten zu erkennen sind, wird dabei genauer charakterisiert. Die übrigen drei Untersuchungsgebiete sollen demgegenüber als Vergleichsräume für die Analyse der raum-zeitlichen Strukturen dienen. Abbildung 17: Lage der Untersuchungsgebiete in Hamburg
Wohldorf-Ohls. Duvenstedt
Lemsahl-Mell. Bergstedt
Langenhorn Poppenbüttel
5 km
Hummelsbüttel
Volksdorf
Sasel
Wellingsbüttel
Schnelsen Fuhlsbüttel
Ohlsdorf Bramfeld Groß Borstel Alsterdorf
Eidelstedt
Steilshoop
Rahlstedt
FarmsenBerne
Lokstedt Lurup
Winterhude
BarmbekNord Tonndorf DulsbergWandsbek
Stellingen
Rissen Sülldorf Iserbrook
Osdorf
Bahrenfeld
Eimsbüttel
3
Groß Flottbek
Blankenese Nienstedten
AltonaNord Othmarschen Ottensen Altona- St. Altst. Pauli
4
Barmbek-Süd Harvestehude Uhlenhorst RotherEilbek baum 1 St. Neu2 Georg stadt
Jenfeld
1 Hohenfelde 2 Borgfelde
Marienthal
3 Hoheluft-West 4 Hoheluft-Ost Horn Billstedt
Rothenburgsort Finkenwerder Veddel Neuenfelde
Lohbrügge
Wilhelmsburg Allermöhe
Neugraben-Fi.
Bergedorf
Hausbruch Heimfeld Harburg
Curslack
Ochsenwerder
Eißendorf Neuengamme
Wilstorf
Altengamme Marmstorf
Langen- Rönnebek burg Sinstorf
Eigener Entwurf
270
Kirchwerder
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Tabelle 7: Strukturvergleich der Untersuchungsgebiete SchanzenEppendorf viertel Fläche in km²
Hamm
Niendorf
Hamburg 755,2
0,4
2,7
3,8
12,7
23.096
8.398
9.262
3.139
2.271
9.457
22.810
35.195
39.861
1.715.225
Anteil der unter 18-Jährigen
11,7
11,5
10,9
15,5
15,9
Anteil der über 65-Jährigen
12,4
15,9
18,5
22,7
18,2
Anteil der Ausländer/innen
20,4
10,2
17,4
6,9
14,9
Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen Anteil der Arbeitslosen
43,2
48,5
52,3
49,8
47,1
44,6
48,7
52,4
47,8
45,5
8,4
4,4
7,8
4,8
6,9
Anteil der Arbeitslosen unter den 15- bis unter 25-Jährigen Anteil der Arbeitslosen unter den 55- bis unter 65-Jährigen Private PKW je 1000 der Bevölkerung
5,6
1,9
3,7
2,9
3,7
6,7
4,3
6,0
3,9
4,8
201(*)
375
322
445
370
CDU
13,3%
41,7%
37,1%
48,9%
42,6%
SPD
40,7%
32,0%
38,3%
35,6%
34,1%
GRÜNE/GAL
24,9%
13,7%
9,2%
7,6%
9,6%
1,9%
6,4%
4,1%
4,9%
4,8%
16,2%
4,9%
7,8%
4,7%
6,4%
Durchschnittliche Wohnungsgröße in m² Wohnfläche je Einwohner/in in m² Immobilienpreise (2007) für
62,6(*)
76,0
57,0
79,0
71,5
31,3(*)
43,6
35,5
39,4
36,4
Ein- und Zweifamilienhäuser je m² Eigentumswohnungen je m²
k. A.
3.599
k. A.
2.062
2.179
2.227(*)
2.580
1.127(**)
1.741
2.012
Kindergärten**) (2005)
16
12
18
20
1052
Grundschulen (2004)
2
3
5
5
272
Weiterführende Schulen (2004)
2
2
3
4
202
722
1.418
2.190
3.873
166.156
44,5
12,6
44,3
5,6
17,9
46
115
158
224
9370
5
117
35
74
3705
Einwohner/innen je km² Bevölkerung absolut
Sozialstruktur
Bürgerschaftswahl 2008
FDP Die Linke Wohnen
Infrastruktur
Schülerinnen und Schüler insgesamt (2004) Anteil ausländischer Schüler/ innen an allen Schüler/innen Handwerksbetriebe (2004) Niedergelassene Ärzte (2004)
(*) Stadtteil St. Pauli
(**) HammMitte
Quelle: Statistikamt Nord, Stadtteilprofile
271
ENTGRENZTE STADT
6.2.1 Schanzenviertel Mit einer Größe von 0,4km² ist das Schanzenviertel, bezogen auf die Fläche, das kleinste der vier Untersuchungsgebiete. Zum Zeitpunkt der empirischen Untersuchung ist das Schanzenviertel noch kein eigener Stadtteil, sondern liegt im Grenzbereich dreier Stadtteile, die ihrerseits unterschiedlichen Bezirken angehören. Der anteilsmäßig größte Teil des Schanzenviertels ist dem Stadtteil St. Pauli und damit dem Bezirk Mitte zuzurechnen. Der süd-westliche Teil des Schanzenviertels gehört zum Stadtteil Altona (Bezirk Altona), die Baublöcke nord-westlich der Eisenbahntrasse sind administrativ zum Stadtteil Eimsbüttel (Bezirk Eimsbüttel) zu rechnen. In der öffentlichen Wahrnehmung sowie der medialen Darstellung stellt das Schanzenviertel, obgleich es administrativ zu verschiedenen Stadtteilen zählt, eine mehr oder weniger geschlossene Einheit dar, die mit differenzierten Imagezuschreibungen belegt ist. Dieser Diskrepanz von „wahrgenommenem Quartier“ und administrativer Zugehörigkeit begegnete die Hamburger Bürgerschaft mit dem „Gesetz zur Bestimmung der Ortsteilgrenzen des Stadtteils Sternschanze“ vom 6. März 2007, das Anfang 2008 in Kraft trat. Mit dieser Neufestlegung der administrativen Grenzen wird ein neuer Stadtteil „Sternschanze“ ausgewiesen, der Teil des Bezirks Altona ist.
Historische Entwicklung Die Bezeichnung „Schanzenviertel“ leitet sich aus einer historischen Befestigungsanlage, der „Sternschanze“ her, die als Vorposten vor dem Verteidigungsrayon der Stadt Hamburg lag und von dem aus ab 1682 die Grenze zum dänischen Altona kontrolliert wurde (vgl. HANKE 1997). So verlief die hamburgisch-dänische Grenze entlang der Straße mit dem Namen „Schulterblatt“, die heute die zentrale Achse des Quartiers darstellt. Die bauliche Entwicklung des Schanzenviertels nahm ihren Anfang in der Zeit der Industrialisierung, als sich vor allem Betriebe der Lebensmittelindustrie westlich des ehemaligen Schlachthofs ansiedelten. Im Zuge dessen wurde das Quartier auch Standort für zahlreiche Zuliefer- und Handwerksbetriebe, aber auch für die Gastronomie und den Groß- und Einzelhandel. Mit dem „Conzerthaus Flora“ (später „Flora-Theater“) sowie der „Schilleroper“ begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Entwicklung des Schanzenviertels zu einem Freizeitund Amüsierviertel.
272
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Die Deindustrialisierung und Tertiärisierung führte ab den 1970er Jahren zu einem Niedergang des Schanzenviertels (vgl. LÄPPLE/ WALTER 2007). Das Quartier, dessen Bewohnerschaft in wesentlichem Maße aus den Arbeitern der umliegenden und nun im Niedergang befindlichen Industriebetriebe bestand, verlor an Kaufkraft. Damit einher gingen zahlreiche Geschäftsaufgaben lokaler Einzelhändler und der Zuzug weniger kaufkräftiger Gruppen, insbesondere ausländischer Herkunft. In den 1980er Jahren war das Schanzenviertel ein lokaler Kristallisationspunkt für links-alternative Gegenkulturen, die in dieser sozialökologischen Nische einen antikonventionellen Habitus zu verwirklichen suchten (vgl. hierzu Kapitel 2.1.3 zur Entstehung des „Spannungsschemas“). Als 1987 Pläne bekannt wurden, dass das ehemalige „Flora-Theater“, in das inzwischen ein Low Budget Markt eingezogen war, grundsaniert und zu einem Musicaltheater umgebaut werden sollte, regte sich massiver Widerstand der „linken Szene“ gegen dieses Vorhaben. Insbesondere stand die Befürchtung im Raum, dass mit dieser Entwicklung eine sozialstrukturelle Aufwertung des Schanzenviertels einhergehen würde, die von der Stadt intendiert sei und zur Gentrifizierung des Quartiers führen könnte. Dies hätte in der Konsequenz einen Wegfall der „ökologischen Nische“ für die linke Szene bedeutet. In Folge dieses Konfliktes um das später als „Rote Flora“ bekannt gewordene Gebäude kam es im Schanzenviertel zu Ausschreitungen zwischen der linken Szene und der Polizei. Das „Flora-Theater“ wurde zum Teil abgerissen, kurz darauf wurde das ehemalige Foyer von der Hausbesetzerszene eingenommen. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen zog sich schließlich der Investor zurück; das Musicaltheater zog in einen Neubau an anderer Stelle. Die nun als „Rote Flora“ bezeichnete Bauruine wurde zum räumlichen Symbol der Alternativkultur, die das Gebäude zu einem linken Szenetreff umgestaltete. Die 1990er Jahre waren zunächst durch einen weiteren sozioökonomischen Niedergang des Schanzenviertels gekennzeichnet, was auch durch die offene Drogenszene im Quartier begründet war, die aus dem Gebiet um den Hamburger Hauptbahnhof verdrängt wurde und im Schanzenviertel eine neue Bleibe fand. Etwa seit Mitte der 1990er Jahre wurde das Quartier öffentlich als „Problemgebiet“ wahrgenommen (vgl. LÄPPLE/WALTER 2007). Interessanterweise trat gegen Ende 1990er Jahre mit dem Aufkommen der „New Economy“ eine Wende ein. Das Schanzenviertel wurde zum bevorzugten Standort für unternehmensbezogene Dienstleister im Bereich Werbung, Marketing, IT, Medien, Grafik und Design – also genau jene Branchen, die als „Kreative Klasse“ bzw. „creative 273
ENTGRENZTE STADT
professionals“ angesprochen werden können (vgl. Kapitel 2.2.2). Auch wenn der „Dot-Com-Boom“ inzwischen verklungen und viele der Pionierfirmen infolge der Marktkonsolidierungen wieder verschwunden sind, ist das Schanzenviertel noch immer durch eine hohe Dichte von Betrieben geprägt, die den kultur- sowie wissensbasierten Dienstleistungsunternehmen zugerechnet werden können. Mit dem ökonomischen Aufschwung des Schanzenviertels ging ein verstärkter Einzug von Gastronomiebetrieben in das Quartier einher, der von städtebaulichen Aufwertungen begleitet wurde. Das „Schulterblatt“ wurde 2003 im Rahmen einer Sanierungsmaßnahme auf der Höhe der „Roten Flora“ nach dem Vorbild einer italienischen Piazza umgestaltet. Gegenüber der „Roten Flora“ ist heute eine geschlossene Front verschiedenster Gastronomiebetriebe lokalisiert, die die „Piazza“ auf einer sehr ausgedehnten Fläche zur Außengastronomie nutzen. Obgleich die Hausbesetzung der „Roten Flora“ in den späten 1980er Jahren zu einer Aufgabe der Umbaupläne zu einem Musicaltheater führte, konnte offenkundig die sozial-strukturelle Aufwertung des Quartiers durch die „linke Szene“ mittelfristig nicht verhindert werden. Im Gegenteil verleiht das heute noch besetzte Flora-Gebäude dem „Szeneviertel Schanze“ eine antikonventionelle Authentizität, die durchgeplanten Wohn- oder Gewerbestandorten vollständig fehlt und zum subkulturellen Image des inzwischen stark gentrifizierten Quartiers beiträgt. Neben der „Roten Flora“ ist vor allem der Wasserturm im Sternschanzenpark als identitätsstiftendes Symbol der „alltäglichen Regionalisierung“ des Schanzenviertels zu verstehen. Das zu Anfang des 20. Jahrhunderts erbaute und bis 1961 als Wasserturm genutzte Gebäude wurde in den vergangenen Jahren saniert und ab 2005 zu einem Hotel umgebaut. Im Kontext des Umbaus des Wasserturms kam es zu Konflikten bzw. Auseinandersetzungen, die – wie gegen Ende der 1980er Jahre im Falle des Flora-Theaters – im Wesentlichen gegen die mit der Sanierung und Umnutzung befürchtete Gentrifizierung des Quartiers in Zusammenhang zu sehen sind. Zudem führt die Umnutzung des Wasserturms zum Hotel durch die Privatisierung der an den Turm angrenzenden Flächen zu einer Verkleinerung der öffentlichen Parkfläche. Obgleich der Konflikt um den „Schanzenturm“ auf verschiedenen Ebenen ausgetragen wurde, nahm die Auseinandersetzung nicht die Schärfe des Kampfes gegen die Sanierung und Kommerzialisierung des Flora-Theaters an. Im Frühjahr 2006 im Schanzenviertel durchgeführte Befragungen weisen zudem darauf hin, dass die Umnutzung des Wasserturms für einen Großteil der Menschen im Quartier kein vorrangiges Thema zu sein scheint.
274
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Heutige Struktur des Quartiers Mit einer Bevölkerungsdichte von über 23.000 Einwohnern pro Quadratkilometer ist der Stadtteil „Sternschanze“ heute der am dichtesten besiedelte Ortsteil aller Städte in Deutschland. Dies ist auch auf einen relativ geringen Anteil an öffentlichen Grünflächen zurückzuführen. 2 So ist der mit ca. 12 ha recht kleine Sternschanzenpark, der auf dem Gebiet der 1863–1865 geschleiften Verteidigungsanlage „Sternschanze“ liegt, die einzige öffentlich zugängliche Parkanlage in unmittelbarer Nähe des Viertels. Die Altersstruktur der Einwohner im Schanzenviertel weist im Vergleich zu Hamburg insgesamt einen überdurchschnittlichen Anteil von Personen im erwerbsfähigen Alter aus. Im Schanzenviertel ist insbesondere die Altersgruppe der 25- bis 40-Jährigen mit einem Anteil von 41% der Wohnbevölkerung deutlich überrepräsentiert (vgl. Abbildung 18). In Hamburg insgesamt ist nur jeder vierte Einwohner dieser Altersgruppe zugehörig, sodass von einer besonderen Attraktivität ausgegangen werden kann, die dieses Quartier auf jüngere Erwachsene ausübt (vgl. LÄPPLE/WALTER 2007). Im Vergleich zu Hamburg insgesamt sind vor allem ältere Menschen sowie Jugendliche ab zehn Jahren unterrepräsentiert. Diese recht „junge“ Bevölkerungsstruktur des Stadtteils lässt sich auch anhand der Daten erkennen, die im Rahmen der empirischen Untersuchung im Schanzenviertel erhoben wurden. Da nur erwachsene Personen (ab 18 Jahren) befragt wurden, liegt das Durchschnittsalter der Probanden mit 38 Jahren relativ hoch; im Vergleich zu den drei anderen Untersuchungsgebieten handelt es sich jedoch eindeutig um die „jüngste“ Teilstichprobe. Zudem ist die Altersstruktur der Befragten im Schanzenviertel deutlich homogener als die Altersstruktur der übrigen Untersuchungsgebiete. 3 Jeder fünfte Bewohner des Schanzenviertels hat keinen deutschen Pass, dieser Anteil ist im Vergleich zu Hamburg insgesamt zwar leicht überproportional, im Vergleich zum angrenzenden Stadtteil Sankt Pauli, der einen Ausländeranteil von fast 30% aufweist, aber eine eher geringe Quote. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Gentrifizierungswelle des Quartiers ist von einem Rückgang der ethnischen Vielfalt im Quartier auszugehen. 2
3
Höhere Bevölkerungsdichten finden sich zwar innerhalb der bebauten Areale von Großwohnsiedlungen, diese sind allerdings in aller Regel von administrativ dazugehörigen Grünflächen umgeben. s[Schanzenviertel] = 11,4 Jahre; s[Eppendorf] = 15,7 Jahre; s[Niendorf] = 16,2 Jahre; s[Hamm] = 18,3 Jahre 275
ENTGRENZTE STADT
Abbildung 18: Altersstruktur im Schanzenviertel männlich
weiblich
über 80 75 bis unter 80 70 bis unter 75 65 bis unter 70 60 bis unter 65 55 bis unter 60 50 bis unter 55 45 bis unter 50 40 bis unter 45 35 bis unter 40 30 bis unter 35 25 bis unter 30 20 bis unter 25 15 bis unter 20 10 bis unter 15 5 bis unter 10 0 bis unter 5 20%
15%
10%
5%
0%
5%
10%
15%
20%
Blocksignatur: Altersstruktur im Untersuchungsgebiet; Liniensignatur: Altersstruktur in Hamburg insgesamt; Angaben von 2005; Eigener Entwurf; Datenquelle: Statistik Nord
Der Arbeitslosenanteil im Schanzenviertel ist im Vergleich zur Gesamtstadt überdurchschnittlich, erreicht aber nicht die Werte benachteiligter Quartiere Hamburgs. Bedingt durch die Aufwertungen der letzten Jahre, die auch mit Sanierungsmaßnahmen an vielen Gebäuden im Quartier einhergingen, ist das Schanzenviertel heute als sozial heterogenes Gebiet anzusprechen, das dem Typus des „B-Quartiers“ nach HERMANN/LEUTHOLD (2002) entspricht (vgl. Kapitel 2.2 der vorliegenden Arbeit). Der für innerstädtische Subgebiete dieses Typs charakteristische Eindruck eines „durchmischten, multikulturellen Quartiers“ bestätigt sich auch in der Sozialraumanalyse der Stadtteile Hamburgs (vgl. Kapitel 4). So sind die administrativen Stadtteile St. Pauli und Altona, die die größten Anteile des Schanzenviertels ausmachen, dem Typus der „urbanen Quartiere mit hoher Openness to Diversity“ zuzurechnen. In ähnlicher Weise charakterisieren auch LÄPPLE/WALTER (2007) das Schanzenviertel: „Typisch für das Schanzenviertel ist das ‚Sowohl-als-auch‘: Es gibt dort sowohl sehr viel gering oder schlecht qualifizierte Arbeitnehmer, als auch viele gut ausgebildete und aka-demisch qualifizierte Bewohner. Es gibt sowohl relativ viele Selbstständige und Freiberufler, als auch viele Un- und Angelernte“ (ebd., S. 14). In den Bürgerschaftswahlen 2004 wurde die GAL (Grün-Alternative Liste) stärkste Partei im Schanzenviertel. Bei dieser Wahl (wie auch bei den letzten Bürgerschaftswahlen davor) entfielen fast 40% der gültigen
276
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Stimmen auf die GAL. Demgegenüber stimmten nur 18% der Wähler für die CDU, die 2004 in Hamburg insgesamt eine absolute Mehrheit erringen konnte. Bei der Bürgerschaftswahl im Februar 2008 ging der Anteil der CDU-Stimmen im Schanzenviertel sogar auf 13% zurück. Die Grünen erhielten „nur“ noch 25% der Wählerstimmen, was insbesondere auf den Wahlerfolg der Linkspartei zurückgeführt werden kann, die im Quartier 16% der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte. In dem Stimmenverhältnis der letzten Bürgerschaftswahl kommt eine Konfliktlinie zum Ausdruck, die mit dem Wandel des Schanzenviertels in den letzten Jahren von einem Ort des links-alternativen Protests zu einem „hippen“ Szeneviertel einhergeht. Der GAL-Anteil kann dabei als Indikator eines links-liberalen, „kreativen“ Milieus verstanden werden, das konservativen bzw. rechts-autoritären Werten ablehnend begegnet und anstelle fordistischer Alltagserfahrungen die „Markt- und Arbeitserfahrungen in der postindustriellen Gesellschaft“ spiegelt (KLEIN/FALTER 2003, S. 34; vgl. auch Kapitel 4.1 dieser Arbeit). Demgegenüber lässt sich der Anteil der Linkspartei als Indikator für die Relikte einer sozialreformerischen Protestbewegung deuten, die im Schanzenviertel zwar noch präsent ist, aber durch die lokalen Aufwertungsprozesse mehr und mehr unter Druck gerät.
6.2.2 Eppendorf Der Stadtteil Eppendorf ist mit einer Fläche von 2,7 Quadratkilometern und einer Bevölkerungszahl von knapp 23.000 Einwohnern das zweitkleinste der vier Untersuchungsgebiete. Bezogen auf die administrativen Grenzen des Stadtteils beträgt die Bevölkerungsdichte 8.400 Einwohner pro Quadratkilometer. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Universitätsklinikum Eppendorf etwa ein Sechstel der Fläche des Stadtteils umfasst und das im Norden des Stadtteils gelegene Gewerbegebiet Nedderfeld ebenfalls innerhalb der administrativen Grenzen Eppendorfs liegt, sodass die tatsächliche Bevölkerungsdichte in den vorwiegend zum Wohnen genutzten Arealen höher ist. Die „gefühlten Grenzen“ des Stadtteils reichen stellenweise über seine administrativen Grenzen hinaus. Da eine wahrnehmbare Grenze zum südwestlich anschließenden Stadtteil Hoheluft-Ost fehlt, wird dieser oftmals als Teil von Eppendorf aufgefasst. 4
4
Ein Indikator für diese „gefühlten Stadtteilgrenzen“ ist etwa das Internetportal „eppendorf-online.de“, das sich als „Internet-Portal für Eppendorf und Hoheluft“ versteht. 277
ENTGRENZTE STADT
Historische Entwicklung Im Vergleich zum Schanzenviertel beginnt die Entwicklung Eppendorfs wesentlich früher, allerdings verlief die jüngere Geschichte des Stadtteils deutlich weniger turbulent. Die erste urkundliche Erwähnung des früheren Dorfes erfolgte im Jahr 1140. Seit 1343 gehörte das Dorf zum Besitz Hamburgs (vgl. BECKERSHAUS 1998). Ein bedeutsames Siedlungswachstum des außerhalb der Stadtbefestigung Hamburgs gelegenen Eppendorf stellte sich ab dem 19. Jahrhundert ein, als reiche Bürger der Stadt dort Land kauften und sich in Eppendorf einen „Landsitz“ errichten ließen. Einen Bedeutungszuwachs erhielt Eppendorf, das 1894 in Hamburg eingemeindet wurde, mit dem Bau des „Neuen Allgemeinen Krankenhauses“ Ende des 19. Jahrhunderts. Mit dem Neubau reagierte die Stadt auf die permanente Überfüllung des Allgemeinen Krankenhauses St. Georg in Folge des massiven Städtewachstums und der grassierenden Seuchen (insbesondere Cholera-Epidemien) in der Stadt. In etwa dieselbe Zeit fällt eine massive Bebauungsphase Eppendorfs, in der ein Großteil der gründerzeitlichen Bauten entstand, die das Stadtbild in Eppendorf heute noch prägen. Die Einwohnerzahl Eppendorfs stieg von ca. 4.300 im Jahr 1880 auf knapp 30.000 im Jahr 1900 an. In den darauffolgenden zehn Jahren schnellte die Einwohnerzahl noch einmal in die Höhe, sodass der Stadtteil im Jahr 1910 über 72.000 Bewohner zählte. Die höchste Wohndichte wurde um 1925 mit ca. 86.000 Einwohnern erreicht, was einer auf den gesamten Stadtteil bezogenen Bevölkerungsdichte von über 20.000 Einwohnern pro Quadratkilometer entspricht (vgl. MÖLLER 1999, S. 57). Seit Mitte der 1920er Jahren nahm die Einwohnerzahl Eppendorfs ab, was auch durch die Entwicklung des ÖPNV-Streckennetzes ermöglicht wurde. Von besonderer Bedeutung ist hier der intensive Ausbau der Hamburger Hochbahn in dieser Zeit.
Heutige Struktur des Quartiers Im Rahmen der Sozialraumanalyse Hamburgs wurde Eppendorf als urbanes Mischquartier mit gehobenem Wohnen charakterisiert (vgl. Kapitel 4). Kennzeichnend für dieses „urbane Mischquartier“ ist die enge Verzahnung unterschiedlicher Funktionen, insbesondere was Einkaufsmöglichkeiten sowie das Gastronomieangebot, eine umfassende Gelegenheitsstruktur zu Gestaltung der Freizeit, aber auch was die Wohn- und Arbeitsfunktion betrifft. In dieser Hinsicht weist Eppendorf 278
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
eine Ähnlichkeit zum zuvor beschriebenen Schanzenviertel auf, allerdings unterscheidet sich der soziale Status der beiden Untersuchungsgebiete deutlich. Im Internetauftritt der Stadt Hamburg wird Eppendorf als „Anziehungspunkt der Besserverdienenden der Stadt“ beschrieben. 5 Obgleich die Immobilienpreise in etlichen Stadtteilen noch höher liegen,6 kann Eppendorf als stark gentrifizierter Stadtteil angesehen werden. Dieser auch in der clusteranalytischen Typisierung zum Ausdruck gebrachte „gehobene“ Status des Viertels lässt sich anhand verschiedener Indikatoren belegen. So ist etwa die durchschnittliche Wohnfläche pro Einwohner mit knapp 44 m² wesentlich höher als in Hamburg insgesamt (36 m²). Des Weiteren ist der Anteil an Arbeitslosen sowie der Anteil an Sozialhilfeempfängern in Eppendorf stark unterdurchschnittlich. Abbildung 19: Altersstruktur in Eppendorf männlich
weiblich
über 80 75 bis unter 80 70 bis unter 75 65 bis unter 70 60 bis unter 65 55 bis unter 60 50 bis unter 55 45 bis unter 50 40 bis unter 45 35 bis unter 40 30 bis unter 35 25 bis unter 30 20 bis unter 25 15 bis unter 20 10 bis unter 15 5 bis unter 10 0 bis unter 5 20%
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Blocksignatur: Altersstruktur im Untersuchungsgebiet; Liniensignatur: Altersstruktur in Hamburg insgesamt; Angaben von 2005; Eigener Entwurf, Datenquelle: Statistik Nord
Für innenstadtnahe Quartiere ist ein überproportionaler Anteil von Personen im erwerbsfähigen Alter charakteristisch. Im Vergleich zum 5 6
http://www.hamburg.de/artikel.do?ok=21800/teaserId=42689/uk=30517/ cid=3879884 Urban geprägte Stadtteile mit höheren Immobilienpreisen sind Harvestehude, Rotherbaum, Winterhude und Uhlenhorst. Ferner sind die Immobilienpreise in den (suburban geprägten) „Elbvororten“ Othmarschen, Nienstedten und Blankenese höher als in Eppendorf. 279
ENTGRENZTE STADT
Schanzenviertel weist Eppendorf allerdings eine etwas ältere Bevölkerungsstruktur auf, obgleich auch hier die Gruppe der 25- bis 40-Jährigen deutlich überrepräsentiert ist. Der Anteil von Kindern ab fünf Jahren sowie Jugendlichen ist im Vergleich zur Gesamtstadt unter-durchschnittlich (vgl. Abbildung 19). Die im Rahmen der empirischen Untersuchung erfassten Probanden in Eppendorf haben ein Durchschnittsalter von 45,5 Jahren bei einer relativ großen Altershomogenität der Befragten (Standardabweichung 15,7 Jahre). 7 Aufgrund der Lage des Stadtteils und der guten ÖPNV-Erschließung, insbesondere aber infolge der vielfältigen Infrastruktur sowie der attraktiven und fast flächendeckend modernisierten gründerzeitlichen Bausubstanz kann Eppendorf heute als Quartier angesehen werden, das von verschiedenen sozialen Gruppen in der Stadt als „gut“ bewertet wird. Hieraus resultiert ein recht hoher Konkurrenzdruck um Fläche im Stadtteil, der für die hohen Bodenpreise verantwortlich ist. Eppendorf kann daher als A-Quartier gemäß der Typisierung von HERMANN/LEUTHOLD (2002) angesprochen werden. Bei der Bürgerschaftswahl im Februar 2008 entfielen auf die CDU knapp 42%, auf die SPD 32% der Stimmen. Damit erzielen die beiden Volksparteien in Eppendorf ein im Vergleich zur Gesamtstadt nur leicht unterdurchschnittliches Ergebnis. 8 Die GAL (13,7%) sowie die FDP (6,4%) erreichten in Eppendorf im Vergleich zu Hamburg insgesamt ein überproportional gutes Ergebnis, die Anhängerschaft der Linken ist mit 4,9% der Stimmen in Eppendorf unterdurchschnittlich vertreten. Vor dem Hintergrund, dass das Wahlverhalten nicht nur durch eine Kandidaten- sowie Programmorientierung, sondern auch aufgrund bestehender Wertorientierungen getroffen wird (vgl. FALTER/SCHUMANN/ WINKLER 1990), lässt sich eine in Eppendorf überproportional ausgeprägte Affinität zu den zuvor beschriebenen (liberalen) Werten der Kreativen Klasse annehmen.
6.2.3 Hamm Der Stadtteil Hamburg-Hamm hat eine Gesamtfläche von 3,8 Quadratkilometern und eine heutige Einwohnerzahl von über 35.000 Personen. Administrativ ist Hamm in drei Stadtteile geteilt (Hamm-Nord, Hamm7 8
Ausschließlich Einwohner ab 18 Jahren wurden befragt, was das Durchschnittsalter der Befragten vergleichsweise hoch erscheinen lässt. Bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg 2008 entfielen auf die CDU insgesamt 42,6%, auf die SPD 34,1% der Stimmen. Die GAL erhielt 9,6%, die FDP 4,8%, die Linke 6,4%.
280
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Mitte und Hamm-Süd), die jeweils unterschiedlich strukturiert sind. Während Hamm-Nord und Hamm-Mitte mit einer Bevölkerungsdichte von jeweils ca. 12.000 Einwohnern pro Quadratkilometer durch die Wohnfunktion geprägt sind, ist Hamm-Süd auf-grund der dort dominierenden Gewerbefunktion deutlich dünner besiedelt (ca. 3.500 Einwohner pro Quadratkilometer). Quer durch Hamm verläuft eine „natürliche“ Grenze, die sich auch im Relief und damit in der Bebauung und Straßenführung ausdrückt. So liegt der Stadtteil Hamm-Nord auf dem Geestrücken, während HammMitte und Hamm-Süd in der (ehemaligen) Elbmarsch liegen. Entlang dem Geesthang verläuft heute die Trasse der U-Bahnlinie U3, die im westlichen Teil Hamms oberirdisch verläuft und den Eindruck einer Teilung des Stadtteils in einen nördlichen und einen südlichen Teil noch verstärkt.
Historische Entwicklung Die Herkunft des Wortstamms „Hamm“ ist nicht eindeutig geklärt, vermutlich aber stand der Ortsname bereits für die „Hammaburg“ Pate, die nahe dem heutigen Stadtteil Hamm lag und der Hamburg seinen Namen verdankt. Der ersten urkundlichen Erwähnung Hamms, die auf das Jahr 1256 datiert ist, geht vermutlich also eine sehr viel längere Besiedelungsgeschichte voraus (vgl. BECKERSHAUS 1998). Die bauliche Entwicklung Hamms von einer dörflichen Struktur hin zur „Vorstadt“ geht auf das ausgehende 19. Jahrhundert zurück, als eine erste frühe Suburbanisierungswelle Hamburgs stattfand. Von 1880 bis 1900 verdreifachte sich die Einwohnerzahl Hamms nahezu von 7.300 auf knapp 20.000 Einwohner (vgl. MÖLLER 1999, S. 57). Eine Eingemeindung Hamms erfolgte bereits 1894 (vgl. BECKERSHAUS 1998). Im beginnenden 20. Jahrhundert beschleunigte sich das Wachstum Hamms noch weiter; im Jahr 1910 lebten bereits knapp 45.000 Menschen dort, im Jahr 1937 98.000. Damit war Hamm vor dem Zweiten Weltkrieg einer der bevölkerungsreichsten Stadtteile bzw. Vororte Hamburgs und wurde absolut nur noch von Barmbek und Eimsbüttel übertroffen (vgl. MÖLLER 1999, S. 57). Im Zweiten Weltkrieg wurde Hamm durch Luftangriffe stark zerstört. Insbesondere der südliche Teil Hamms „versank im alliierten Luftbombardement des Sommers 1943 nahezu vollständig“ (SCHMIDT 2007, S. 153). Die Hammer Landstraße, die zuvor als „Flaniermeile Hamms“ galt, veränderte grundlegend ihren Charakter und ist heute kaum mehr als eine Hauptverkehrsachse des motorisierten Individualverkehrs. 281
ENTGRENZTE STADT
Der Wiederaufbau Hamms nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte insbesondere durch genossenschaftlichen Wohnungsbau, der bis heute die bauliche Struktur – insbesondere von Hamm-Mitte – prägt. Auf dem Gebiet des heutigen Stadtteils Hamm-Süd wurden Gewerbe- bzw. Industrieflächen entwickelt. Dabei war der Gedanke des funktionalistischen Städtebaus bestimmend, der eine strikte Trennung der Funktionen (insbesondere Wohnen und Arbeiten) vorsieht (LANGE 1994). „Nördlich der Scheidelinie Eiffestraße sollte sich das Wohnen konzentrieren. Der südliche Bereich war als reines Industrie- und Gewerbegebiet vorgesehen“ (SCHMIDT 2007, S. 155). Obgleich im Rahmen von Bürgerbeteiligungen bei Stadterneuerungsmaßnahmen Wünsche nach einer stärkeren funktionalen Mischung insbesondere in Hamm-Süd lautwurden (vgl. SCHMIDT 2007, S. 168ff.), kann die heutige Struktur des Stadtteils im Wesentlichen als Produkt der funktionalistischen Phase des Nachkriegsstädtebaus gelten.
Heutige Struktur des Quartiers Die administrative Dreiteilung findet sich in den unterschiedlichen Strukturen der Teile Hamms wieder, die auch in einer disproportionalen Bevölkerungs- und Sozialstruktur dieses Untersuchungsgebietes zum Ausdruck kommt. Der einwohnerstärkste Teil Hamms ist der Stadtteil Hamm-Nord mit über 21.000 Einwohnern, der im Rahmen der Sozialraumanalyse Hamburgs dem Typus der zentrumsnahen, einfachen Wohngebiete mit wenig Familien zugerechnet wurde (vgl. Kapitel 4). Das flächenmäßig kleinste Teilgebiet Hamms, der Stadtteil HammMitte, wurde in der Sozialraumanalyse als Wohngebiet mit niedrigem sozialem Status klassifiziert. Hier leben knapp 11.000 Einwohner, vor allem in Wohnungen des genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Der maßgeblich durch Gewerbestandorte geprägte Stadtteil Hamm-Süd weist eine im Vergleich zu Hamm-Mitte und Hamm-Nord geringe Einwohnerdichte auf. Hier wohnen etwa 4.000 Menschen, vor allem konzentriert auf den östlichen Teil des Quartiers. Hamm-Süd ist heute vor allem der Standort von Speditionen, allerdings finden sich dort auch Unternehmen des produzierenden Gewerbes. Jüngere Erwachsene sind in Hamm überrepräsentiert (vgl. Abbildung 20), Familien mit Kindern tendenziell unterrepräsentiert. Dies mag auch auf die Wohnungsgrößen zurückzuführen sein, die zwi-
282
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
schen 56 m² (Hamm-Mitte) und 58 m² (Hamm-Süd) liegen und heute von Familien wohl in der Regel als zu klein empfunden werden. 9 Bedingt durch die planerisch gewollte und in Hamm auch heute noch vorherrschende funktionale Trennung von Wohnen und Arbeiten sind weite Teile von Hamm-Nord und Hamm-Mitte als monofunktionale Wohnquartiere anzusprechen. Es gibt zwar Versorgungseinrichtungen des täglichen Bedarfs, allerdings kaum Straßenzüge, in denen die Einkaufsgelegenheiten über das bloße „Versorgen mit Gütern“ hinausweisen und damit einen zusätzlichen Freizeitwert bieten könnten, wie dies etwa in Eppendorf oder im Schanzenviertel der Fall ist. Zudem erscheinen die Haupt- bzw. Erschließungsstraßen Hamms aufgrund der dominierenden Verkehrsfunktion als weitgehend unwirtlich für derartige Nutzungen. Die meisten Erschließungsstraßen sind mehrspurig für den MIV ausgebaut und weisen insbesondere in den Hauptverkehrszeiten eine hohe Verkehrsbelastung auf. Abbildung 20: Altersstruktur in Hamm männlich
weiblich
über 80 75 bis unter 80 70 bis unter 75 65 bis unter 70 60 bis unter 65 55 bis unter 60 50 bis unter 55 45 bis unter 50 40 bis unter 45 35 bis unter 40 30 bis unter 35 25 bis unter 30 20 bis unter 25 15 bis unter 20 10 bis unter 15 5 bis unter 10 0 bis unter 5 20%
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Blocksignatur: Altersstruktur im Untersuchungsgebiet; Liniensignatur: Altersstruktur in Hamburg insgesamt; Angaben von 2005; Eigener Entwurf, Datenquelle: Statistik Nord
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Die Wohnungsgrößen wurden im Jahr 1995 erhoben, jüngere Erhebungen hierzu liegen nicht flächendeckend vor. Da die Zahl der Wohngebäude vor allem in Hamm-Nord und Hamm-Mitte recht konstant geblieben ist, ist zu vermuten dass die heutigen Wohnungsgrößen diesen Werten weitgehend entsprechen. Einzig in Hamm-Süd ist die Zahl der Wohngebäude von 250 im Jahr 1995 auf 271 im Jahr 2006 angestiegen. (Quelle aller Werte: Stadtteildatenbank des Statistikamtes für Hamburg und SchleswigHolstein.) 283
ENTGRENZTE STADT
Dies gilt nicht nur für die vorwiegend durch die Wohnfunktion geprägten Stadtteile Hamm-Nord und Hamm-Mitte, sondern auch für das vorwiegend durch Gewerbestandorte geprägte Hamm-Süd. Zwar durchziehen zahlreiche Kanäle das Quartier, diese sind jedoch fast an keiner Stelle öffentlich zugänglich und vermögen derzeit kaum einen Freizeitwert zu bieten. Zudem verläuft durch Hamm-Süd die Süderstraße, die auf etwa einem Kilometer Länge ab den frühen Abendstunden maßgeblich durch die Straßenprostitution genutzt wird. In unmittelbarer Nachbarschaft der Süderstraße findet sich in den Seitenstraßen neben der Wohnwagenprostitution eine zweistellige Zahl an Bordellen. Aufgrund der zuvor genannten Faktoren (bauliche Struktur, Gelegenheitsausstattung, Verkehrsbelastung, geringe Freizeitmöglichkeiten etc.) sind die Bodenpreise in Hamm vergleichsweise niedrig (vgl. Tabelle 7 auf Seite 271). Die relativ günstigen Mieten, die Nähe zum CBD sowie die gute Verkehrserschließung können andererseits auch als Standortvorteil verstanden werden, der das Quartier insbesondere für jüngere Single- und Paarhaushalte mit vergleichsweise geringem Einkommen attraktiv macht. In der Typisierung von HERMANN/LEUTHOLD (2002) dürfte Hamm daher weitgehend einem „C-Quartier“ entsprechen (vgl. Kapitel 2.2.1). Der Anteil an Arbeitslosen in Hamm ist im Vergleich zur Gesamtstadt überdurchschnittlich. Vor allem ältere Erwerbsfähige sind überproportional oft von Arbeitslosigkeit betroffen, während der Anteil an jüngeren Arbeitslosen dem Hamburger Durchschnitt entspricht (vgl. Tabelle 7 auf Seite 271). Der Anteil an Ausländern in Hamm ist mit 17,4% der Wohnbevölkerung hingegen nur leicht überdurchschnittlich. Bei der jüngsten Bürgerschaftswahl im Februar 2008 konnten vor allem die SPD sowie die Linke in Hamm überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Insbesondere CDU und FDP schneiden bei Wahlen in Hamm schlechter ab als in Hamburg insgesamt. Überraschenderweise erreichte die GAL bei der letzten Bürgerschaftswahl in Hamm ein nur geringfügig schlechteres Ergebnis als in der Gesamtstadt (9,2% in Hamm gegenüber 9,6% in Hamburg insgesamt). Die für dieses Quartier relativ hohe Zustimmung für die Grünen könnte auch auf ihre stadtentwicklungspolitischen Zielvorstellungen für Hamm-Süd zurückzuführen sein. So soll Hamm-Süd nach dem Willen der örtlichen GAL zu einem „Gebiet der aktiven Stadtteilentwicklung“ werden. Hierbei handelt es sich um ein Förderprogramm, bei dem das Bezirksamt federführend über die Dauer von vier Jahren innerhalb eines Stadtteils „ausgesuchte thematische Schwerpunkte innerhalb schlanker Verfahren [...] bearbeiten kann“ (Antrag GAL Bezirksfraktion Mitte
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RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
vom 16. Oktober 2007). 10 Die Vorstellungen der GAL reichen dabei von recht allgemeinen Zielformulierungen wie etwa der Förderung einer „besseren Durchmischung des Quartiers“ sowie der „Stärkung von Kunst & Kultur im Stadtteil“, die eine Parallele zu den stadtentwicklungspolitischen Vorschlägen Richard FLORIDAs erkennen lassen (vgl. Kapitel 2.2.2), bis hin zu Vorschlägen für bauliche und soziale Maßnahmen. So soll nach dem Willen der GAL die Sanierung und Modernisierung des Wohnungsbestandes, die Entwicklung eines Quartierzentrums sowie die Stärkung des Einzelhandels in Hamm-Süd erfolgen. Flankiert werden soll dieser Prozess nach dem Willen der GAL durch eine initiierte Aufwertungsstrategie, die neben der Förderung des „Wohnens am Wasser mit Hausbooten und Gebäuden mit Wasserbezug“ die „Auflösung des Straßenstrichs Süderstraße“ vorsieht. Offenkundig macht die Hochbewertung von Vielfalt (bzw. Diversity) in der stadtpolitischen Praxis der GAL spätestens bei den Prostituierten halt. 11 Ungeachtet dessen kann insbesondere Hamm-Süd aufgrund der dort prinzipiell möglichen Umnutzungen von Gewerbe- zu Wohnflächen als interessantes Gebiet für zukünftige Stadtentwicklungsprozesse gelten.
6.2.4 Niendorf Der Stadtteil Niendorf liegt im Norden Hamburgs und hat entgegen den drei vorgenannten Untersuchungsgebieten einen deutlich suburbaneren Charakter. Mit insgesamt 12,7 Quadratkilometern ist Niendorf, bezogen auf die Fläche, das größte der vier Untersuchungsgebiete. Innerhalb der administrativen Grenzen des Stadtteils findet sich aber bei weitem nicht nur Siedlungs- und Verkehrsfläche. Insbesondere der Süden des Stadtteils umfasst das etwa 142 ha große „Niendorfer Gehege“, dem als stadtnahem Waldgebiet vor allem eine Naherholungsfunktion beizumessen ist. Im Norden der Siedlungsfläche Niendorfs schließt ebenfalls eine Grünfläche (Ohmoor) an, die administrativ zum Teil zu Niendorf gehört. Darüber hinaus sind im östlichen Teil Niendorfs einige kleinere Grünflächen sowie Kleingartenkolonien zu finden.
10 Vgl.: http://www.gal-mitte.de/cms/antrag/anmeldung_von_hamm_sud_als _themengebiet_ der_aktiven_stadtteilentwicklung 11 In diesem Kontext ist zu bemerken, dass Straßenprostitution einzig durch Verbote wie Sperrbezirksverordnungen (das heißt in Bezug auf die Frage nach raum-zeitlicher Zugangsgerechtigkeit durch die Etablierung neuer authority constraints) unterbunden werden kann. 285
ENTGRENZTE STADT
Im Süd-Osten grenzt der Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel unmittelbar an Niendorf an. Mit der Begrenzung der geschlossenen Bebauung durch das Niendorfer Gehege sowie den Flughafen ist die Siedlungsfläche Niendorfs von den südlich angrenzenden Stadtteilen weitgehend isoliert.
Historische Entwicklung Die erste urkundliche Erwähnung Niendorfs, dessen Ortsname sich von „neues Dorf“ herleitet, datiert auf das Jahr 1343. Die ersten Keimzellen des Dorfes dürften aber schon weit früher bestanden haben, spätestens aber seit Ende des 12. Jahrhunderts (vgl. BECKERSHAUS 1998). Im 14. Jahrhundert war Niendorf bereits ein für die damalige Zeit mittelgroßes Haufendorf, wobei der ehemalige Dorfanger auch das heutige Stadtteilzentrum (Tibarg) darstellt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieben Funktion und Struktur Niendorfs noch weitgehend dörflich. Allerdings haben „gründerzeitliche Vorstadthäuser [...] schon am Ende des 19. Jahrhunderts das Erscheinungsbild des Dorfes verändert und waren ein Anzeichen für eine fortschreitende städtische Entwicklung unter dem Einfluss des großstädtischen Ballungsraumes“ (WARNCKE/BAURIEDL/WITTEK 2001, S. 42). Die Eingemeindung Niendorfs erfolgte 1937 mit dem GroßHamburg-Gesetz. Der intensive Wandel von der ehemals dörflichen Struktur zum suburbanen Stadtteil fand aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Die meisten der im Krieg zerstörten Bauernhäuser wurden im Rahmen dieses Wachstums ab den 1950er Jahren durch Wohnbebauung ersetzt. In dieser Phase wurde auch der Tibarg gemeinsam mit dem Niendorfer Marktplatz zum Zentrum des Stadtteils umgestaltet. Dabei ist wie auch in Hamm die Trennung der Funktionen als städtebaulicher Leitgedanke zu erkennen. Die Bevölkerungszahl stieg von 14.000 Einwohnern im Jahr 1946 auf über 35.000 im Jahr 1970 an (vgl. MARUT-SCHRÖTER/SCHRÖTER 1992), wobei der wesentliche Bevölkerungszuwachs in den 1960er Jahren erfolgte. Bis dahin war der Stadtteil noch relativ dünn besiedelt (vgl. WARNCKE/BAURIEDL/WITTEK 2001). Die Entwicklung Niendorfs in den 1960er Jahren ist eng mit der Massenautomobilisierung der Bevölkerung verbunden, die die Suburbanisierung dieser Zeit erst ermöglichte. Vergleichsweise spät wurde eine schnellere ÖPNV-Verbindung mit der Verlängerung der U-Bahnlinie U2 bis Niendorf-Markt im Jahr 1985 realisiert, die auch von einer baulichen Umgestaltung des Tibarg 286
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flankiert wurde. Eine weitere Verlängerung der U-Bahn bis NiendorfNord und damit eine bessere öffentliche Verkehrsanbindung der meisten Wohngebiete erfolgte im Jahr 1991 (vgl. GRIGAT 1991). Der südliche Tibarg wurde 2007 erneut umgestaltet und im Zuge dessen verbreitert. Dieser Ausbau verleiht dem Stadtteilzentrum Tibarg stärker als bisher den Charakter einer „Flaniermeile“, der nicht nur die Versorgungsfunktion, sondern darüber hinaus auch ein Freizeitwert zugeschrieben werden kann.
Heutige Struktur des Quartiers Heute hat Niendorf knapp 40.000 Einwohner. Wie anhand von Abbildung 21 erkennbar ist, sind ältere Menschen (über 60 Jahre) in Niendorf deutlich überrepräsentiert. Diese Überalterung kann vermutlich auf einen Kohorteneffekt zurückgeführt werden, da die Bewohner der Haushalte, die als junge Familien in der Expansionsphase in den 1960er und 1970er Jahren nach Niendorf gezogen sind, mittlerweile das Rentenalter erreicht haben, während die Kindergeneration bereits seit langem den Haushalt verlassen hat (vgl. WARNCKE/BAURIEDL/WITTEK 2001). Neben dieser Gruppe der Suburbaniten der 1960er und 1970er Jahre wohnen in Niendorf auch jüngere Familien mit Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter. Deutlich unterrepräsentiert sind dagegen junge Erwachsene unter 35 Jahren. Ob das Meiden des Stadtteils von dieser Altersgruppe allein durch Kohorteneffekte zu erklären ist oder ob in dieser Generation veränderte Wohnansprüche bestehen, denen Niendorf nicht entspricht, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden. In der Sozialraumanalyse Hamburgs wurde Niendorf als suburbanes einfaches Wohngebiet mit niedriger Openness to Diversity typisiert (vgl. Kapitel 4). Obgleich im suburbanen Raum gelegen ist Niendorf kein „Villenvorort“ bzw. typisches Wohngebiet der „Besserverdienenden“. Die Immobilienpreise für Ein- und Zweifamilienhäuser entsprechen nahezu denen in Hamburg insgesamt (durchschnittlich 2.062 Euro in Niendorf gegenüber 2.179 im Hamburger Durchschnitt im Jahr 2007), die Immobilienpreise für Eigentumswohnungen liegen etwa 15% unterhalb des gesamtstädtischen Preisniveaus (vgl. Tabelle 7 auf Seite 271). Die Wohnfläche je Einwohner ist in Niendorf mit durchschnittlich 39,4 Quadratmetern nur unwesentlich höher als in Hamburg insgesamt (36,4 Quadratmeter).
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Abbildung 21: Altersstruktur in Niendorf männlich
weiblich
über 80 75 bis unter 80 70 bis unter 75 65 bis unter 70 60 bis unter 65 55 bis unter 60 50 bis unter 55 45 bis unter 50 40 bis unter 45 35 bis unter 40 30 bis unter 35 25 bis unter 30 20 bis unter 25 15 bis unter 20 10 bis unter 15 5 bis unter 10 0 bis unter 5 20%
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5%
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Blocksignatur: Altersstruktur im Untersuchungsgebiet; Liniensignatur: Altersstruktur in Hamburg insgesamt; Angaben von 2005; Eigener Entwurf, Datenquelle: Statistik Nord
Überdurchschnittlich in Niendorf ist allerdings die Zahl der privaten PKW. Auf 1.000 Einwohner kommen 445 Autos, im Hamburger Durchschnitt sind es nur 370. Als Ursache hierfür ist zumindest zum Teil die Lage Niendorfs innerhalb der Stadt anzunehmen, die trotz inzwischen relativ guter ÖPNV-Erschließung die Verfügbarkeit von (mindestens) einem Auto pro Haushalt nahelegt. Der Anteil an Ausländern ist in Niendorf mit knapp 7% deutlich unterdurchschnittlich, ebenso der Anteil an Arbeitslosen sowie der Anteil an Sozialhilfeempfängern. Diese Indikatoren verweisen (zumindest statistisch gesehen) auf eine vergleichsweise große soziale Homogenität der Bewohner und entsprechen folglich dem Gegenteil dessen, was zuvor unter dem Begriff der „Diversity“ diskutiert wurde (vgl. Kapitel 2.2.2). Insgesamt zeichnen die statistischen Indikatoren Niendorfs das Gesamtbild eines Stadtteils, der mit dem Begriff des sozial homogenen „kleinbürgerlichen Vorortes“ beschrieben werden könnte. In dieses Bild passen auch die proportionalen Ergebnisse, die die verschiedenen politischen Parteien in Niendorf bei Wahlen erreichen. So konnte etwa die CDU bei der letzten Bürgerschaftswahl 49% der Wählerstimmen in Niendorf auf sich vereinen. Die SPD schnitt mit knapp 36% in Niendorf leicht besser ab als in Hamburg insgesamt. Insbesondere die Linke und
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die GAL erfuhren in Niendorf (verglichen mit Hamburg insgesamt) einen unterdurchschnittlichen Zuspruch bei den Wählern.
6.3 Zugang zur Analyse von Aktionsräumen Die auf gesamtstädtischer Ebene herausgearbeiteten Strukturmuster weisen auf eine deutliche Ausdifferenzierung der zeitlichen Rhythmen im Stadtraum hin. Obgleich die Korrespondenz der zeitstrukturellen Differenzierung mit den sozialräumlichen Mustern als Indikator für diese Ausdifferenzierungsprozesse und die Herausbildung von Chronotopen zu verstehen ist, die auf den eingangs erörterten spätmodernen Wandel hindeuten, bleibt die Ursache für die zeit-räumliche Differenzierung der Stadt bisher noch im Unklaren. Insbesondere kann aus der Betrachtung raumstruktureller Muster noch nicht auf die Handlungsebene geschlossen werden. Die Entstehung von Chronotopen ist allerdings nur im Rückgriff auf die Handlungsebene nachvollziehbar, da die raum-zeitliche Einbettung der verschiedenen Aktivitäten der Menschen in ihrer Summe das Aktivitätsniveau, den Rhythmus und damit die zeitliche Struktur eines Ortes bestimmen. Diese von den alltäglichen Routinen der Menschen ausgehende Perspektive soll im Folgenden im Fokus der Betrachtung stehen. Der Aktionsraum wird dabei dem Ansatz der „klassischen Aktionsraumforschung“ folgend als Folge raum-zeit-wirksamer Handlungsentscheidungen angenommen. In diesem Forschungszugang ist die raum-zeitliche Strukturierung der Stadt die abhängige Variable, das Handeln der Menschen in Raum und Zeit die unabhängige Variable. Dieser Zugang ist an die sozialräumliche Perspektive HARTKEs (1959) angelehnt, da die räumlichen Folgen menschlichen Handelns der Gegenstand der Betrachtung sind. Dem Raum als abhängiger Variable kann dabei die Funktion einer „Registrierplatte“ beigemessen werden, an der die Folgen menschlicher Handlungen erkennbar werden. Wenngleich diese Forschungsperspektive heute nicht mehr als umfassendes Paradigma der Humangeographie dienen kann, erscheint sie für diesen Analyseschritt mit Blick auf das Erkenntnisinteresse als angemessen: Die auf gesamtstädtischer Ebene herausgearbeiteten raum-zeitlichen Strukturmuster (Chronotop-Analyse, vgl. Kap 5) sind als das Produkt der alltäglichen Routinen von Menschen interpretierbar, die sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten bewegen und dort Handlungen durchführen. Der zeitliche Rhythmus eines konkreten Ortes (oder anders ausgedrückt: das Chronotop) ist als Produkt menschlicher Handlungen in Raum und Zeit zu verstehen. Ziel ist es, die relevanten Einflussgrößen 289
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bewerten zu können, die die raum-zeitliche Strukturierung von Chronotopen beeinflussen. Allerdings wird die Perspektive HARTKEs für die vorliegende Fragestellung um eine strukturorientierte Komponente erweitert: Die zur Erklärung verwendeten unabhängigen Variablen folgen den in Kapitel 2 erörterten theoretischen Zugängen und nehmen die aktuellen Debatten um die Ausdifferenzierung des Arbeitsmarktes in der Spätmoderne („Arbeitsbeziehungen der Kreativen Klasse“, vgl. Kapitel 2.2.2), die Individualisierungsdebatte („Ausdifferenzierung von Lebensstilen“, vgl. Kapitel 2.1.3) sowie die veränderten geschlechterkulturellen Rollenmodelle im Kontext der Pluralisierung der Haushaltsstrukturen (vgl. Kapitel 2.1.4) auf. Ausgangspunkt der Betrachtung der Ausdifferenzierung von Aktionsräumen ist dabei der für die Spätmoderne als kennzeichnend verstandene Wandel, der erstens von einem Nebeneinander „alter“ und „neuer“ Weisen der routinisierten Alltagsgestaltung ausgeht (Fragmentierungshypothese), zweitens für die „neuen“ Weisen der Alltagsorganisation eine Entgrenzung – zumindest in zeitlicher Dimension – behauptet (Entgrenzungshypothese) und drittens eine zunehmende Konvergenz von Arbeit und Leben als zentrales Kennzeichen der Spätmoderne annimmt (Konvergenzhypothese). Die ersten beiden Hypothesen konnten auf gesamtstädtischer Ebene schon bestätigt werden, obgleich mit der folgenden Erweiterung der Forschungsperspektive auf der individuellen Aggregatebene liegende Handlungszusammenhänge, die auf stadtstruktureller Ebene zur raum-zeitlichen Ausdifferenzierung führen, noch besser verstanden werden sollen. Für die Konvergenzhypothese fehlt allerdings noch eine geeignete Operationalisierung, die mit der Betrachtung der raum-zeitlichen Alltagsorganisation in den Untersuchungsgebieten gelingen soll. Hierzu werden zunächst einige heuristische Überlegungen formuliert, an denen sich die Betrachtungswinkel der Aktionsraumanalyse ausrichten lassen.
6.3.1 Überlegungen zu den Ursachen einer zunehmenden Konvergenz von Arbeit und Leben Mit Konvergenz von „Arbeit“ und „Leben“ ist eine zunehmende Entgrenzung dieser ehemals getrennten Lebenssphären angesprochen, die auch in der raum-zeitlichen Alltagsorganisation zum Ausdruck kommen müsste. Die Folge für die von dieser Entgrenzung der Lebenssphären Betroffenen ist ein erhöhter raum-zeitlicher Koordinationsbedarf. Die damit einhergehende größere Zahl an Stationen, die im Alltag auf290
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gesucht werden, ist einerseits als Kennzeichen wachsender Synchronisationsanforderungen an den Einzelnen zu deuten, zugleich aber auch ein Ausdruck seiner gestiegenen raum-zeitlichen Flexibilität. Zugespitzt kommt dies beispielsweise in der Gegenüberstellung des Typus des (männlichen) „fordistischen Arbeitnehmers“ einerseits sowie des „entgrenzten Kreativarbeiters“ andererseits zum Ausdruck. Bei Ersterem ist eine raum-zeitliche Organisation des Alltags anzunehmen, die stark durch eine Bipolarität von Arbeits- und Wohnort geprägt ist. Während der Wohnort dieses idealtypischen „fordistischen Arbeitnehmers“ im suburbanen Raum zu verorten ist, liegt sein Arbeitsort klassischerweise im CBD (vorwiegend White-Collar-Jobs) oder in einem Gewerbegebiet (vorwiegend Blue-Collar-Jobs). Die ChronotopAnalyse Hamburgs hat gezeigt, dass sowohl die suburbanen Wohnquartiere als auch der CBD sowie die klassischen Gewerbestandorte durch relativ starr getaktete alltägliche Aktivitätsrhythmen gekennzeichnet sind und damit als „Stadt der Moderne“ angesprochen werden können. Die starre zeitliche Ordnung dieser Areale ist als Folge der alltäglichen Routinen des idealtypischen „fordistischen Arbeitnehmers“ zu verstehen: Der Arbeitsplatz wird zu einem festgelegten Zeitpunkt alltäglich aufgesucht und zu einem ebenso festgelegten Zeitpunkt nachmittags oder abends wieder verlassen. Die Zahl der im Tagesverlauf zurückgelegten Wege ist daraus resultierend gering (zwei Pendelwege, ggf. noch zwei Wege in der Mittagspause). Die gesamte Tageskilometerleistung kann aber durchaus beachtlich sein, was durch die räumliche Trennung der Lebensbereiche bedingt ist und durch entsprechende symbiotische Existenzverflechtungen auf der Ebene des Haushalts ermöglicht wird: Mit dem Stereotyp des „fordistischen Arbeitnehmers“ geht das idealtypische Muster einer deutlich geschlechtsspezifisch organisierten Arbeitsteilung im Haushalt einher, in der fast die gesamte Reproduktionsarbeit von der Frau übernommen wird. Diese Form der Alltagsorganisation eines Haushalts wurde verschiedentlich als „male breadwinner model“ beschrieben und kennzeichnet Paar- oder Familienhaushalte, die nach dem traditionell-bürgerlichen Modell organisiert sind (vgl. Kapitel 2.1). Komplementär zum Aktionsraum des „männlichen Ernährers“, der sich auf wenige, dafür aber längere Pendelwege beschränkt, steht folglich der Aktionsraum der Frau, die dem Familienideal der Moderne entsprechenden Rollenmodell der „Hausfrau und Mutter“ folgt. Durch das Bringen und Abholen der Kinder, das Einkaufen der Güter des täglichen Bedarfs, aber auch weiterer organisatorischer Aufgaben, die mit Wegen verbunden sind, ist ihr Aktionsraum durch eine hohe Zahl von Wegen gekennzeichnet, die aber verglichen mit den Berufspendelwegen des männlichen Alleinverdieners eher kurz sind. 291
ENTGRENZTE STADT
Der Alltag beider Geschlechterrollenmodelle ist dabei hoch standardisiert bzw. routinisiert. Konträr zum Stereotyp des „fordistischen Arbeitnehmers“ steht das Idealbild des (weiblichen oder männlichen) „spätmodernen Kreativarbeiters“. Im Gegensatz zu Ersterem sind seine Arbeitszeiten flexibilisiert, zudem ist die Ausführung der Arbeit nicht unbedingt an einen singulären Ort gebunden, sondern durch die ubiquitäre Verfügbarkeit der Informations- und Kommunikationstechnologie prinzipiell von überall ausführbar. Dennoch werden im Tagesverlauf verschiedene Orte aufgesucht, die mit der Erwerbsarbeit im Kontext stehen (etwa ein Meeting mit einem Kooperationspartner in einem Café), oder auch – je nach Auftragslage und Tagesform – einen stärker privaten Charakter haben können. 12 Die „Zwangsflexibilisierung“ der Arbeitszeit bringt oftmals Zeitkonflikte mit sich, die durch Substitutionsstrategien, Beschleunigung von Arbeitsschritten oder „Multitasking“ (das heißt das parallele Durchführen mehrerer Tätigkeiten) kreativ gelöst werden müssen. Hierzu bedarf es einer entsprechenden – in aller Regel urbanen – Infrastruktur sowie eines möglichst geringen Zeitvolumens, das zwingend für Mobilität aufgewendet werden muss. Wenn Kinder im Haushalt leben, müssen Betreuungsangebote existieren, die eine entsprechende zeitliche Vielseitigkeit ermöglichen. Ebenso sind lange Ladenöffnungszeiten von hoher Bedeutung, um auch an Randzeiten noch die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs „dazwischenschieben“ zu können. Dennoch klappt die zeitliche Organisation eines Einkaufs nicht immer, sodass ein umfangreiches und vor allem schnell erreichbares Angebot an Gastronomiebetrieben häufig in Anspruch genommen wird. Zudem eröffnen sich hierdurch Chancen zur Zeitersparnis durch die mögliche Gleichzeitigkeit verschiedener Funktionen („Arbeitsessen“, „AfterWork-Meeting“ etc.). Allerdings wird die derartig aufwändige Alltagsorganisation vom „spätmodernen Kreativarbeiter“ nicht ausschließlich als Stress bzw. Belastung empfunden, sondern vielmehr als Ausdruck eines (augenscheinlich selbstgewählten) abwechslungsreichen Lebensstils gedeutet. In diesem Lebensstil kommen gegenkulturelle Distinktionen gegenüber den als „spießig“ oder „langweilig“ erachteten Typen der Alltagsorganisation nach fordistischem Muster zum Ausdruck. Gerade die Vielseitigkeit, die Offenheit, die Neuheit wird als Herausforderung und als Indikator für ein erfülltes Leben begriffen, das in einem deutlichen Kontrast zum „eingefahrenen“, eintönigen oder „lang12 Die eindeutige Zuordnung eines Weges zu einem bestimmten (Haupt-) Zweck, wie sie in den gängigen Mobilitätsuntersuchungen Usus ist, gelangt hier an ihre methodischen Grenzen. Vgl. zur Leistungsfähigkeit von Mobilitätsprotokollen Kapitel 7. 292
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
weiligen“ Alltag des fordistischen Suburbaniten und Berufspendlers steht. Der hier skizzierte Typus des „postfordistischen Kreativarbeiters“ ist demnach anschlussfähig an das alltagsästhetische Spannungsschema nach SCHULZE (1992), das genau diese kulturellen Symbole in sich vereint.
6.3.2 Zu überprüfende Bestimmungsgrößen der raum-zeitlichen Organisation In der hier in stark zugespitzter Form dargestellten Gegenüberstellung heuristischer Typen raum-zeitlicher Alltagsorganisation kommen verschiedene Dimensionen zum Ausdruck, anhand derer sich diese Figuren unterscheiden lassen sollten. Ungeachtet der hier aus Anschauungszwecken postulierten inneren Kohärenz der idealisierten Figuren ist zu überprüfen, welche dieser Dimensionen für die Ausgestaltung von Aktionsräumen und damit für die raum-zeitliche Alltagsorganisation als handlungswirksam erachtet werden können. Diese Dimensionen sollen als unabhängige Variablen in ihrer Bedeutung für die Ausgestaltung der Aktionsräume überprüft werden: Zum Ersten sind dies das Feld der Arbeitsbeziehungen, die im Spannungsverhältnis „fordistisch/konventionell vs. postfordistisch/kreativ“ zu stehen scheinen. Zur Analyse der Wirkung dieses Gegensatzes soll eine Operationalisierung der „Kreativen Klasse“ anhand der Berufe der Befragten erfolgen. Während für „fordistisch-konventionelle“ Berufsgruppen eine räumliche Trennung von Arbeits- und Wohnort, eine geringe Zahl von Wegen am Stichtag und eine weitgehend standardisierte tägliche Arbeitszeit angenommen werden, sollten Menschen, die der „Kreativen Klasse“ zugerechnet werden können, über flexibilisierte Arbeitszeiten und einen gering standardisierten Tagesablauf verfügen. In Kapitel 6.4 wird diese Dimension im Hinblick auf ihre Relevanz für die raum-zeitliche Alltagsgestaltung betrachtet. Zweitens lassen sich anhand der Gegenüberstellung der beiden heuristischen Typen unterschiedliche Modelle der geschlechterkulturellen Arbeitsteilung erkennen, denen ein je bestimmtes aktionsräumliches Verhalten zu eigen sein müsste. Während die „fordistische“ Alltagsorganisation auf eine deutliche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verweist, ist von egalitären Geschlechterrollen ohne klar definierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Fall der „postfordistischen“ Wissensarbeiter auszugehen. In Abhängigkeit der geschlechtsspezifischen Rollen soll überprüft werden, ob diese tatsächlich mit dem oben angenommenen Aktionsraum bzw. Alltagsorganisationsmodell einher293
ENTGRENZTE STADT
gehen. Die Operationalisierung dieser Dimension soll mittels der in Kapitel 2.1.4 erörterten geschlechterkulturellen Familienmodelle nach PFAU-EFFINGER gelingen. Die empirische Überprüfung der Hypothese erfolgt in Kapitel 6.5. Drittens können Lebensstile als Prädiktoren des Aktionsraums angenommen werden. Zu erwarten wäre, dass die Zeichen des Spannungsschemas bzw. des sogenannten Selbstverwirklichungsmilieus mit denen nach dem oben skizzierten Modell des „spätmodernen Kreativarbeiters“ korrespondieren. Hierzu erfolgt eine Betrachtung des Zusammenhangs alltagsästhetischer Schemata (nach SCHULZE) mit dem aktionsräumlichen Verhalten in Kapitel 6.6. Schließlich soll viertens die Bedeutung von Ortseffekten betrachtet werden. So deuten bisherige Aktionsraumstudien darauf hin, dass zwischen der Ausstattung der Wohnumgebung und der Chance zur Nutzung infrastruktureller Gelegenheiten Zusammenhänge bestehen (vgl. Kapitel 2.1.2). Umgekehrt ist davon auszugehen, dass Menschen ihre Wohnumgebung (in den Grenzen ihrer ökonomischen Möglichkeiten) im Hinblick auf die für sie bestehenden „constraints“ wählen. Vor dem Hintergrund der oben formulierten heuristischen Überlegungen wäre eine Wohnstandortwahl im suburbanen Raum zur Realisierung eines weitgehend zeitlich entgrenzten und durch die Konvergenz von Arbeit und Leben geprägten Alltagsstils suboptimal. So ist davon auszugehen, dass eine urbane und funktionsvielfältige Infrastruktur einen Aktionsraum vom Typus des „spätmodernen Kreativarbeiters“ erst ermöglicht. Erwartet werden daher deutliche Ortseffekte hinsichtlich der Wohnstandortwahl. Diese Effekte werden in Kapitel 6.7 analysiert und diskutiert.
6.3.3 Parameter von Aktionsräumen und aktionsräumliche Typen Während die vorgenannten Merkmale des gesellschaftlichen Wandels in der Spätmoderne vier Dimensionen erkennen lassen, anhand deren die Aspekte der sozialen Transformation deutlich werden und operationalisierbar sind, sollen im Folgenden die relevanten Differenzierungsgrößen zur Analyse der Aktionsräume entwickelt werden. Aktionsräume werden dabei als Ausdruck der raum-zeitlichen Alltagsorganisation der Individuen verstanden. Dabei stehen die Fragen der Entgrenzung von Alltagszeiten, der Auflösung kollektiv geteilter Zeitnormen, der Veränderung von Mobilität sowie der raum-zeitlichen Implikationen der Konvergenz von Arbeit und Leben im Vordergrund. 294
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Klassische Analysegrößen der Aktionsraumforschung sind zunächst die räumlichen Parameter (Zahl der zurückgelegten Wege pro Tag, Länge der einzelnen Wege, zurückgelegte Gesamtdistanz). Diese geben Aufschluss über die räumliche Be- oder Entgrenzung des Aktionsraumes. Mit zunehmenden Flexibilisierungszumutungen für den Einzelnen und wachsenden alltäglichen Koordinationsanforderungen ist von einer steigenden absoluten Zahl der zurückgelegten Wege pro Tag auszugehen. Gleichzeitig verlangt dieser erhöhte Koordinationsaufwand nach einer hohen Gelegenheitsdichte. Angenommen wird daher, dass die Distanzen der einzelnen Wege geringer sind, je höher die Koordinationsanforderungen werden. Ferner sind für die Frage nach der Entgrenzung von Aktivitätszeiten sowie der Flexibilisierung zeitlicher Rhythmen die temporalen Merkmale der alltäglichen Routinen von Interesse, die über Zeit und Dauer der außerhäuslichen Aktivitätsphase im Alltag Aufschluss geben. Als relevante Indikatoren zur Beschreibung zeitlicher Entgrenzung sollen die Startzeit des ersten Weges und die Ankunftszeit des letzten Weges am Tag betrachtet werden, welche die Dauer der außerhäuslich aktiven Phase kennzeichnen. Die Flexbilisierung der Aktivitätszeiten lassen sich anhand der Standardabweichungen der Start- und Zielzeiten erkennen: Je geringer die Standardabweichung der morgendlichen Start- und abendlichen Rückkehrzeiten nach Hause ist, desto deutlicher gelten kollektiv geteilte Zeitnormen. Umgekehrt deutet eine große Varianz dieser Zeiten auf eine Auflösung der kollektiven „Normalzeiten“ hin und beschreibt eine zeitlich flexibilisierte Gesellschaft. Bevor der Einfluss der in Kapitel 6.3.2 genannten Bestimmungsgrößen der raum-zeitlichen Organisation der Spätmoderne für die routinisierte Alltagsorganisation überprüft wird, soll die heutige Bedeutung der „klassischen“ Dimensionen sozialer Ungleichheit geklärt werden. Dabei zeigt sich, dass die Variablen der klassischen Sozialstrukturanalyse (Bildungsniveau, Berufstätigkeit, Alter, Einkommen, Geschlecht) nur zu einem geringen Teil zum Verständnis der Ausgestaltung der Aktionsräume (gemessen durch die aktionsräumlichen Parameter) beitragen: Das Bildungsniveau hat einen signifikanten Einfluss auf die Zahl der zurückgelegten Wege, insbesondere aber auf die abendliche Ankunftszeit zu Hause. Tendenziell kehren Personen mit einem höheren Bildungsstand tageszeitlich später nach Hause zurück als Personen mit einem niedrigen Bildungsstand. Auch legen sie eine etwas höhere Zahl an Wegen im Tagesverlauf zurück.13 Die morgendliche Startzeit sowie
13 Vertrauenswahrscheinlichkeit der Zusammenhänge mind. 95% 295
ENTGRENZTE STADT
die am Tag zurückgelegte Weglänge lassen hingegen keine Zusammenhänge zum Bildungsniveau erkennen. Berufstätige Personen verlassen ihre Wohnung im Schnitt morgens früher und kehren abends später zurück als nicht berufstätige Personen. Auch legen sie etwas längere Strecken pro Tag bei einer leicht höheren Wegezahl zurück. Das Einkommen des Haushaltes, wie auch das Geschlecht der Probanden lassen hingegen keinen signifikanten Zusammenhang zu den räumlichen oder den zeitlichen Parametern des Aktionsraumes erkennen. Das Alter der Probanden hat zwar keinen nennenswerten Einfluss auf die räumlichen Parameter der routinisierten Alltagsgestaltung, wohl aber auf die zeitlichen: Ältere Menschen verlassen die Wohnung tendenziell später am Tag und kehren früher wieder nach Hause zurück. Bei Kontrolle des Merkmals „Berufstätigkeit“ zerfällt aber der Zusammenhang zwischen der Uhrzeit des morgendlichen Verlassens der Wohnung und dem Alter; der Zusammenhang mit der Rückkehrzeit nach Hause bleibt allerdings bestehen. Insgesamt ist die Erklärungskraft der Variablen der klassischen Sozialstrukturanalyse für die routinisierte Alltagsorganisation als gering zu bewerten. Die entlang den Dimensionen der Bevölkerungsstatistik zu erzielenden Erkenntnisse über das aktionsräumliche Verhalten weisen kaum über triviale Zusammenhänge hinaus: Berufstätige sind länger unterwegs als Nichtberufstätige, ältere Menschen kommen abends früher wieder nach Hause als jüngere. Daher sollen ab Kapitel 6.4 alternative Gruppenkonzeptionen in Hinblick auf ihre raum-zeitlichen Parameter getestet werden, von denen, ausgehend von den zuvor formulierten Überlegungen, ein besseres Verständnis der Entgrenzung und Flexibilisierung von Aktivitätszeiten in der Spätmoderne erwartet wird. Darüber hinaus soll der Frage nach der Bedeutung der zunehmenden Konvergenz von Arbeit und Leben nachgegangen werden.
Aktionsräumliche Typen: Messgröße der Konvergenz von Arbeit und Leben Die Konvergenzhypothese behauptet eine zunehmende Auflösung der Bipolarität der ehemals räumlich und zeitlich voneinander getrennten Bereiche „Arbeit“ und „Leben“ als Kennzeichen der spätmodernen Gesellschaft. Während die Aufhebung der räumlichen Trennung von Arbeits- und Lebenswelt in einer Verkürzung der Berufspendelwege zum Ausdruck kommt, kann für die alltagszeitliche Verzahnung der Bereiche „Arbeit“ und „Leben“ ein Ineinandergreifen verschiedener 296
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Tätigkeiten angenommen werden, mit dem ein erhöhter raum-zeitlicher Koordinationsaufwand einhergehen sollte. Die Überprüfung der Konvergenzhypothese kann aus naheliegenden Gründen nur anhand der Aktionsräume erfolgen, die am Stichtag zumindest einen Weg aufweisen, dem der Zweck „Arbeit“ zugeordnet wurde. 14 Anders ausgedrückt: Nur für Personen, die am Stichtag auch erwerbstätig waren, kann die Konvergenzhypothese überhaupt bestätigt bzw. verworfen werden. Ferner ist die Konvergenz von Arbeit und Leben immer als prozessuale und damit relative Größe zu betrachten. An welchem Punkt von einer „totalen Entgrenzung“ der ehemals getrennten Lebensbereiche gesprochen werden kann, ist hingegen unklar. Die obige, heuristischen Gegenüberstellung eines „fordistischen Arbeitnehmertyps“ und eines „postfordistischen Arbeitnehmertyps“ behauptet für Ersteren eine deutlich geringere Zahl der Wege bei wenigen, aber langen Pendelwegen, für Letzteren hingegen eine höhere Wegzahl bei einer insgesamt vergleichsweise geringen Tageskilometerleistung. Das arithmetische Mittel der zurückgelegten Luftliniendistanz 15 aller Wege von allen 694 Befragten beträgt 20 km, der Median 10,5 km. Die Diskrepanz der beiden Lageparameter verdeutlicht die Schiefe der Verteilung, die aus einigen wenigen Langstrecken mit einer Distanz von mehreren hundert Kilometern resultiert. Um die folgenden Analysen nicht durch diese „Fernreisenden“ zu verzerren, werden im Folgenden nur noch Befragte mit einer maximalen Tagesdistanz von insgesamt 100km Luftliniendistanz betrachtet. Hierdurch reduziert sich die Zahl der Probanden um 16 Befragte, die am Stichtag eine Gesamtdistanz von mehr als 100 km zurückgelegt haben. Nach Limitierung der maximalen Tageskilometerleistung auf 100 km beträgt die Länge der durchschnittlich zurückgelegten Gesamtstrecke aller betrachteten Probanden 12,7 km (Median 9,8 km). Die Probanden haben durchschnittlich 4,1 Wege am Stichtag zurückgelegt (inkl. der am Stichtag inmobilen Befragten). Der Median der am Stich14 Hier deutet sich ein methodisches Problem der Untersuchung an, das darin begründet liegt, dass der Wegzweck als diskrete Kategorie erhoben wurde. Für eine vollkommene Entgrenzung der Bereiche „Arbeit“ und „Leben“ ist jedoch anzunehmen, dass kein einzelner eindeutiger Wegzweck mehr vorliegt. Vgl. hierzu die Kritik in Kapitel 7. 15 In der Befragung wurden lediglich die Start- und Zielorte erfasst und im Rahmen der Datenaufbereitung geokodiert. Die Strecken zwischen Startund Zielort wurden als Luftlinien berechnet, da die gewählten Routen im Einzelnen nicht bekannt sind und auch nicht engerer Gegenstand der Betrachtung sind. Im Folgenden werden „Luftliniendistanz“ und „Weglänge“ daher synonym verwendet. 297
ENTGRENZTE STADT
tag zurückgelegten Wege liegt ebenfalls bei vier Wegen und damit etwas höher als in vergleichbaren Mobilitätsuntersuchungen, die eine durchschnittliche Wegezahl von 3,6 Wegen pro Tag über alle Probanden feststellen (vgl. MiD 2002). Die etwas höhere durchschnittliche Wegezahl in der vorliegenden Untersuchung ist zum einen auf die größere Nähe von Gelegenheiten innerhalb der Stadt zurückzuführen, andererseits durch die Auswahl der Stichprobe bedingt, da im Gegensatz zu MiD 2002/Kontiv ausschließlich erwachsene Personen befragt wurden. An Werktagen ist die gesamte zurückgelegte Wegstrecke mit durchschnittlich 13,6 km (Median 11,3 km) etwas länger als an Wochenendtagen (arithmetisches Mittel 11,6 km; Median 6,3 km). An Wochentagen werden im Durchschnitt auch etwas mehr Wege unternommen als am Wochenende (durchschnittlich 4,3 Wege gegenüber 3,9 Wegen an Wochenendtagen). 63% der Probanden haben am jeweiligen Stichtag maximal vier Wege zurückgelegt; nur 37% fünf oder mehr Wege. Personen, die an Werktagen fünf und mehr Wege am Stichtag unternommen haben, können demzufolge als überdurchschnittlich mobil gelten. Als Indikator einer Konvergenz von Arbeit und Leben, die als erhöhter raum-zeitlicher Koordinationsaufwand interpretierbar ist, können somit Aktionsräume mit einer Wegezahl von fünf und mehr Wegen am Tag verstanden werden, wenn zudem mindestens ein Weg zum Zweck „Arbeit“ unternommen wurde. Diesen deduktiven Überlegungen folgend kann die Stichprobe in vier „Aktionsräumliche Typen“ aufgeteilt werden, die durch die räumlichen Parameter des Aktionsraums bestimmt sind (vgl. Tabelle 8). 16 Aktionsräume mit bis zu vier Wegen am Tag, von denen mindestens ein Weg zum Zweck des Aufsuchens des Arbeitsplatzes unternommen wurde, können als „Berufspendlertyp“ bezeichnet werden. Dieser aktionsräumliche Typ entspricht am ehesten dem idealtypischen Bild des (fordistischen) Arbeitnehmers, der morgens seinen Arbeitsplatz aufsucht, gegebenenfalls in der Mittagspause essen geht oder eine Besorgung macht, um dann nachmittags oder abends zurück nach Hause zu fahren. Die durchschnittliche Startzeit des ersten Weges am Tag ist dementsprechend auch um kurz nach acht Uhr morgens, bei vergleichsweise geringer Streuung (1:43 Stunden). Personen, deren Alltagsgestaltung 16 Hierbei ist zu betonen, dass es sich um eine Gruppierung von Aktionsräumen handelt – nicht um eine Gruppierung von Personen. Auch wenn das methodische Vorgehen das Gleiche ist, muss darauf hingewiesen werden, dass die Zuweisung von Personen zu Mobilitätsgruppen anhand eines einzigen Stichtags aus methodologischen Überlegungen unzulässig wäre (vgl. hierzu Kapitel 6.1). 298
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
dem Berufspendlertypus entspricht, kehren am Abend durchschnittlich gegen kurz nach halb sieben nach Hause zurück. Im Schnitt wird am Tag eine gesamte Wegstrecke von 13,6 km zurückgelegt. Unter allen Befragten ist dieser aktionsräumliche Typus der am häufigsten anzutreffende (31% der Probanden, die an einem Werktag das Mobilitätsprotokoll ausgefüllt haben). Aktionsräume mit maximal vier Wegen am Tag, von denen kein einziger Weg im Kontext mit Erwerbsarbeit steht, lassen sich hingegen als „wenig mobiler Typ“ ansprechen. Kennzeichnend für die Gestaltung dieses Aktionsraumtyps ist der tageszeitlich relativ späte Beginn des ersten außerhäuslichen Weges (in der Regel nach 10 Uhr) sowie eine durchschnittlich sehr frühe Rückkehr nach Hause vom letzten alltäglichen Weg (im Schnitt noch vor 17 Uhr). Allerdings ist bei diesem aktionsräumlichen Typ die Rückkehrzeit nach Hause recht variabel (Standardabweichung: 3,5 Stunden). Die gesamte Tageskilometerleistung des „wenig mobilen Typus“ ist mit unter 10 km die kürzeste aller aktionsräumlichen Typen. Der alltägliche Aktionsraum der überwiegenden Zahl von Rentnern entspricht diesem Typus. Eine deutlich von diesem Muster abweichende raum-zeitliche Alltagsgestaltung ist dem „hypermobilen Typ“ zu eigen, auf den mit 17% der Probanden der geringste Anteil aller Befragten entfällt. Obgleich bei diesem Typus wie auch beim „wenig mobilen Typ“ kein Weg zum Zweck des Aufsuchens der Arbeitsstelle unternommen wird, beginnt der erste Weg des Tages des „hypermobilen Typs“ durchschnittlich um mehr als eine Stunde früher (9:10h). Die Ankunftszeit nach dem letzten Weg des Tages ist mit 19:14h deutlich später, als dies bei den vorgenannten beiden aktionsräumlichen Typen der Fall ist. Dabei wird insgesamt eine Strecke von knapp 17 km zurückgelegt, wobei die Streuung der Tageskilometerleistung mit über 15 km im Vergleich zu allen anderen aktionsräumlichen Typen am höchsten ist. Beim „hypermobilen Typ“ verteilt sich die Tageskilometerleistung auf durchschnittlich 6,5 Wege, was im Vergleich zu den anderen drei aktionsräumlichen Typen die höchste absolute Zahl an Wegen darstellt. Während sich das Geschlechterverhältnis in den übrigen aktionsräumlichen Typen ausgleicht, sind Frauen im „hypermobilen Typus“ leicht überrepräsentiert. Im „Konvergenztyp“ kommen schließlich die aktionsräumlichen Indikatoren der oben beschriebenen raum-zeitlichen Koordinationsanforderungen der Spätmoderne zum Ausdruck. Dieser aktionsräumliche Typ kann als „zeitgeographische Übersetzung“ der Konvergenz von Arbeit und Leben interpretiert werden: Im Schnitt wird das Haus morgens um kurz vor sieben Uhr verlassen, wobei im Vergleich zum „fordistischen“ Berufspendlertyp mit 2,5 Stunden eine recht hohe Variabilität dieser 299
ENTGRENZTE STADT
Anfangszeit zu erkennen ist. Der letzte Weg des Tages endet im Durchschnitt erst um 20:18h, sodass dieser aktionsräumliche Typus im Vergleich zu den drei übrigen Typen mit insgesamt 13,3 Stunden die längste tageszeitliche Aktivitätsperiode außer Haus aufweist. Durchschnittlich werden sechs Wege durchgeführt, wobei im Vergleich zum „Berufspendlertyp“ die durchschnittliche Weglänge mit drei Kilometern relativ kurz ist. Anders als der „hypermobile Typ“ zeigt der Konvergenztyp keine geschlechtsspezifische Prägung. Personen mit einem abgeschlossenen (Fach-)Hochschulstudium weisen allerdings überproportional häufig einen Aktionsraum dieses Typs auf. Tabelle 8: Aktionsräumliche Typen Mind. ein Weg zur Arbeit
Bis zu vier Wege am Werktag
„Berufspendlertyp“
„wenig mobiler Typ“
n/Anteil
146/31%
n/Anteil
119/25%
Durchschnittliche Startzeit erster Weg
8:02h
Durchschnittliche Startzeit erster Weg
10:19h
Std. Abw. Startzeit erster Weg
1:43 Stunden
Std. Abw. Startzeit erster Weg
2:44 Stunden
Durchschnittliche Ankunft letzter Weg
18:37h
Durchschnittliche Ankunft letzter Weg
16:39h
Std. Abw. Ankunftszeit letzter Weg
2:36 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit letzter Weg
3:27 Stunden
Durchschnittliche gesamte Weglänge
13,6 km
Durchschnittliche gesamte Weglänge
9,1 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
10,9 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
9,3 km
Durchschnittliche Länge eines Weges
4,7 km
Durchschnittliche Länge eines Weges
3,2 km
„Konvergenztyp“ Fünf oder mehr Wege am Werktag
Keine Wege zur Arbeit
„Hypermobiler Typ“
n/Anteil
107/23%
n/Anteil
79/17%
Durchschnittliche Startzeit erster Weg
6:58h
Durchschnittliche Startzeit erster Weg
9:10h
Std. Abw. Startzeit erster Weg
2:33 Stunden
Std. Abw. Startzeit erster Weg
2:53 Stunden
Durchschnittliche Ankunft letzter Weg
20:18h
Durchschnittliche Ankunft letzter Weg
19:14h
Std. Abw. Ankunftszeit letzter Weg
2:28 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit letzter Weg
2:35 Stunden
Durchschnittliche gesamte Weglänge
18,5 km
Durchschnittliche gesamte Weglänge
16,8 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
12,5 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
15,3 km
Durchschnittliche Länge eines Weges
3,0 km
Durchschnittliche Länge eines Weges
2,6 km
max. gesamte Weglänge 100 km; 18 Probanden (4%) waren am Stichtag immobil. n = 469
300
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Die Gruppierung der Aktionsräumlichen Typen gemäß der Wegzahl sowie des Wegzwecks ist auch trennscharf hinsichtlich der gesamten zurückgelegten Wegstrecke sowie der zeitlichen Parameter (Startzeit des ersten Weges, Ankunftszeit nach dem letzten Weg). Die vier Aktionsräumlichen Typen unterscheiden sich voneinander also in räumlicher und in zeitlicher Dimension. 17 Wie bereits aus der Beschreibung der vier Aktionsräumlichen Typen zu entnehmen ist, erklären die klassischen Strukturparameter der Bevölkerungsstatistik (Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen) die Ausgestaltung von Aktionsräumen nur sehr bedingt. Zwar haben etwa ältere Menschen häufiger ein aktionsräumliches Verhalten, das dem „wenig mobilen Typus“ entspricht, dieser Zusammenhang zerfällt aber bei Kontrolle der Variable „Berufstätigkeit“: Nur wer überhaupt einer Berufstätigkeit nachgeht, kann im Alltag Wege zur Arbeitsstelle realisieren. Zwischen dem gewichteten Nettoequivalenzeinkommen und der Ausgestaltung der Aktionsräume besteht hingegen kein Zusammenhang. In den folgenden Kapiteln sollen die vermuteten Korrespondenzen zwischen gesellschaftlichen Parametern des spätmodernen Wandels (Veränderungen der Arbeitsbeziehungen in der Spätmoderne, Differenzierung geschlechterkultureller Haushaltsmodelle, Pluralisierung der Lebensstile) einerseits und den Aktionsräumlichen Typen andererseits überprüft werden (Konvergenzhypothese). Darüber hinaus erfolgt die vergleichende Analyse der aktionsräumlichen Parameter, da vermutet wird, dass für die auf gesamtstädtischer Ebene beschriebene raumzeitliche Differenzierung die Veränderungen von Arbeitsbeziehungen, Haushaltsmodellen und Lebensstilen von maßgeblicher Bedeutung sind. Ferner soll die residenzielle Segregation getestet werden, die als Teil des Aktionsraumes verstanden wird. Mit dem Wohnstandort sind unterschiedliche raum-zeitliche constraints (Zwänge bzw. Möglichkeiten) verbunden. Die vier Untersuchungsgebiete sind dabei als Repräsentanten unterschiedlicher stadträumlicher Idealtypen zu verstehen, worauf in Kapitel 6.2 hingewiesen wurde. Vermutet wird eine sozialräumliche Differenzierung der Stadtgesellschaft, die sich mit den in den Kapiteln 4 und 5 herausgearbeiteten stadtstrukturellen Mustern in raum-zeitlicher Sicht deckt. Dabei sollten die als relevant erachteten Parameter der gesellschaftlichen Differenzierung in der Spätmoderne (Arbeitsbeziehungen, Organisationsweise der Haushalte im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Lebensstile) in den vier Untersuchungsquartieren in einem charakteristischen Maße zur Geltung 17 Alle Zusammenhänge sind auf dem 0,01 Niveau signifikant. 301
ENTGRENZTE STADT
kommen: Während für das Schanzenviertel und Eppendorf eher Momente des spätmodernen Wandels zu erwarten sind (alltagszeitliche Entgrenzung, Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Konvergenz von Arbeit und Leben, Dominanz außerhäuslicher und erlebnisorientierter Lebensstilgruppen etc.), sollten Hamm und Niendorf als idealtypische Vertreter der „Stadt der Moderne“ eher durch konventionell getaktete Zeitstrukturen, eine deutliche Trennung der Bereiche Arbeit und Leben im Alltag sowie eine Dominanz innenorientierter Lebensstile gekennzeichnet sein. Abbildung 22 stellt das Design der folgenden Arbeitsschritte schematisch dar. Die Kapitelaufteilung der Kapitel 6.4 bis 6.7 erfolgt entlang den unabhängigen Variablen. Mit Ausnahme der Ortseffekte werden die Bestimmungsgrößen jeweils hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die aktionsräumlichen Parameter (als Messgröße für die raumzeitliche Entgrenzung und Flexibilisierung), die Aktionsräumlichen Typen (als Messgröße der Konvergenz von Arbeit und Leben) sowie auf die Wohnstandortwahl (als Messgröße für die Fragmentierung der Stadt in verschiedene Chronotope) untersucht. Da die Betrachtung der Ortseffekte hinsichtlich der Wohnstandortwahl tautologisch wäre, kann diese Analyseperspektive nicht verfolgt werden. Abbildung 22: Übersicht der analytischen Arbeitsschritte der Aktionsraumanalyse
6.4
6.5
6.6
6.7
Eigener Entwurf
302
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
6.4 Spätmoderne Arbeitsbeziehungen und raum-zeitliche Alltagsorganisation Die spätmoderne Wissensgesellschaft ist, wie bereits in den einleitenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit umfassend dargestellt wurde, durch einen tiefgreifenden Wandel der Arbeitsbeziehungen gekennzeichnet. Insbesondere in den Städten ist diese Restrukturierung der Arbeitsgesellschaft, als deren Katalysatoren technologische Innovation, politische Deregulierung sowie der gesellschaftliche und ökonomische Wandel gelten können, deutlich zu erkennen. Die Städte der westlichen Industrienationen können in einem immer geringer werdenden Maße als zukunftsträchtige Standorte für die industrielle Produktion gelten. An die Stelle der Produktion von Waren in der Stadt tritt die Produktion von Wissen; wissensbasierte Dienstleistungsunternehmen können als „spätmoderne Variante der Stadtökonomie“ gelten. Eine notwendige Voraussetzung für diese ökonomische Restrukturierung ist eine hohe Zahl von „kreativen Wissensarbeitern“ in den Städten. Während die industrielle Produktion von Gütern an bestimmte Standortfaktoren gebunden ist, die als infrastrukturelle und logistische Voraussetzungen für Beschaffung, Produktion und Absatz unerlässlich erscheinen, wirken die Anforderungen der wissensbasierten Dienstleistungsunternehmen auf den ersten Blick marginal. Durch die nahezu ubiquitäre Verfügbarkeit der benötigten Informations- und Kommunikationstechnologie erscheint der Standort eines wissensbasierten Dienstleistungsunternehmens als nahezu frei wählbar. Obgleich nicht nur in den Metropolen die benötigte Infrastruktur für derartige Unternehmen vorhanden ist und prinzipiell auch ein Standort „auf der grünen Wiese“ denkbar und vermutlich auch deutlich kostengünstiger wäre, ist eine Konzentration von wissensbasierten Dienstleistungen in den großen Städten festzustellen. Wie bereits in Kapitel 2.2.2 dargestellt, ist diese Konzentration auf bestimmte metropolitane Standorte den Ansprüchen der kreativen Wissensarbeiter an ihr Wohnumfeld geschuldet. Da diese „kreativen Köpfe“ das Kapital der wissensbasierten Unternehmen darstellen, kann der Unternehmensstandort nicht beliebig an einen anderen Ort verlagert werden, der nicht ein entsprechendes Maß an Lebensqualität verspricht. Offenkundig scheint also diese neue „Kreative Klasse“ Erwartungen an ihr Wohnumfeld zu stellen, die über ein günstiges Baugrundstück, Versorgungseinrichtungen in akzeptabler Reichweite und eine gute Verkehrsinfrastruktur zum Arbeitsort hinausreichen. Die Befriedigung der klassischen Daseinsgrundfunktionen allein genügt nicht den Standortansprüchen der sogenannten Kreativarbeiter. Viele Städte begegnen diesen neuen An303
ENTGRENZTE STADT
forderungen mit einer Kulturpolitik, die auf die Befriedigung dieser Ansprüche ausgerichtet wird. Mit der Annahme dieses Kulturangebotes, aber auch mit der Nachfrage nach darüber hinausreichenden infrastrukturellen Gelegenheiten, wie etwa einem umfangreichen Gastronomie- und Freizeitangebot, ist eine Ausweitung der Zeiten verbunden, die nicht in den eigenen vier Wänden verbracht werden. Diese Überlegungen geben allen Anlass zur Vermutung, dass die klassische Bipolarität von Arbeits- und Wohnort, die den Aktionsraum des „fordistischen Arbeitnehmers“ kennzeichnet, unter den Vorzeichen des spätmodernen Wandels keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr beanspruchen kann. Zu erwarten ist, dass zu den alltäglichen Wegen des klassischen Berufspendlers zwischen Wohn- und Arbeitsort weitere (Freizeit-)Wege hinzukommen, die eine Ausdifferenzierung der individuellen Aktionsräume mit sich bringen. Andernfalls wäre der erhöhte Anspruch an das Lebensumfeld, der der „Kreativen Klasse“ nachgesagt wird, kaum zu erklären. Es soll demnach überprüft werden, ob Berufsgruppen, die als kennzeichnend für die spätmoderne Wissensgesellschaft gelten können, mit veränderten aktionsräumlichen Mustern einhergehen. Wenn sich diese Hypothese bestätigen ließe, wäre mit einem fortschreitenden Wandel der Spätmoderne eine Restrukturierung der Aktionsräume zu erwarten, die die städtische Verkehrs- und Infrastrukturplanung mit neuen Herausforderungen konfrontiert und anhand derer sich neben einem raumplanerischen unter Umständen auch ein zeitpolitischer Steuerungsbedarf ableiten ließe. Anhand der erhobenen Daten aus den vier Untersuchungsgebieten, die auch detaillierte Informationen über die Berufe der Befragten enthalten, soll die hier implizit vermutete raum-zeitliche Entgrenzung der Aktionsräume der kreativen Wissensarbeiter überprüft werden. Hierzu müssen zunächst die Berufsgruppen, die als Träger dieser auf Kreativität basierenden Wissensökonomie verstanden werden, bestimmt und herausgearbeitet werden. Die Operationalisierung erfolgte in einem ersten Schritt mittels einer Zuordnung der Angaben der Probanden zu ihrer beruflichen Tätigkeit zu 17 Berufsgruppen bzw. Branchen. Diese Branchen wurden in einem zweiten Schritt hinsichtlich ihres Kreativitätspotentials in drei Kategorien eingeteilt, die als Core of Creative Class, Less Creative Jobs und Uncreative Jobs typisiert wurden (vgl. Tabelle 8). Die als Core of Creative Class bezeichneten Berufsfelder sind als Träger der kreativen Wissensökonomie zu verstehen. 16% der im Rahmen der empirischen Untersuchung befragten Erwerbstätigen können diesem Berufssektor zugeordnet werden. Neben den im klassischen Sinne als kreativ verstandenen Berufsfeldern aus dem Be304
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
reich von Kunst und Kultur sind diese Probanden insbesondere in Berufsfeldern tätig, die mit der Produktion von (alten sowie neuen) Medien verbunden sind. Darüber hinaus kann der Bereich der Wissenschaft als kreative Tätigkeit verstanden werden. Der Selbstständigenanteil in dieser Gruppe der „Kreativarbeiter“ ist mit 44% deutlich höher als in den beiden Vergleichsgruppen (16% Selbstständigenanteil bei den Less Creative Jobs, 10% Selbstständigenanteil bei den Uncreative Jobs). Die Zuweisung dieser Berufsgruppen zum Bereich Core of Creative Class folgt dabei weitgehend der Typisierung FLORIDAs: „The SuperCreative Core of this class includes scientists and engineers, university professors, poets and novelists, artists, entertainers, actors, designers and architects as well as the thought leadership of modern society: nonfiction writers, editors, cultural figures, think-tank researchers, analysts or other opinion makers“ (ebd., 2002, S. 68f.). Im Unterschied zu FLORIDA wurden allerdings die Architekten zusammen mit den technischen Berufen sowie den Berufen in leitenden Tätigkeiten in einer Mittelkategorie zusammengefasst, die als Less Creative Jobs bezeichnet werden kann und die 40% der befragten Berufstätigen umfasst. Diese Differenzierung folgt der Überlegung, dass diese wissensbasierten Tätigkeitsfelder zwar ein hohes Maß an Kreativität erfordern, dabei aber stärker regulativen Richtlinien unterworfen sind. So werden etwa die Grenzen der Kreativität von Architekten durch Bebauungspläne festgesetzt. Ähnliche Limitierungen existieren etwa im Bildungsbereich (Lehrpläne). In großen Unternehmen gelten zudem oftmals Richtlinien, die sich in einer Unternehmenskultur ausdrücken und den Handlungsspielraum von Führungskräften einschränken. Als zweite Kontrollgruppe können schließlich die Berufsgruppen verstanden werden, die keiner der beiden anderen Gruppen angehören. Dies sind insgesamt 44% der befragten Berufstätigen, die als Uncreative Jobs verstanden werden können. Hierbei handelt es sich um Berufsbilder, die weitgehend dem funktionalen Bild der „Stadt der Moderne“ entsprechen (basic sowie non-basic Funktionen). Neben unternehmensbezogenen Dienstleistungen, Tätigkeiten in der Verwaltung, dem Rechts-, Finanz- und Bankwesen sind dies auch personenbezogene Dienstleistungen und der Gastronomiebereich. Insbesondere in letzterer Berufsgruppe sind klassischerweise entgrenzte und flexible Arbeitszeiten von jeher die Norm. An dieser Stelle muss betont werden, dass das Bild einer zeitlich entgrenzten und flexibilisierten Stadt der Spätmoderne einerseits und einer zeitlich strikt getakteten „Stadt der Moderne“ andererseits durch die Berufsgruppierung explizit nicht vorweggenommen werden soll. Vielmehr soll überprüft werden, ob die Tätigkeitsmuster der „Kreativarbeiter“, die für die spätmoderne 305
ENTGRENZTE STADT
Wissensgesellschaft als kennzeichnend gelten, tatsächlich eine stärkere Entgrenzung und Flexibilisierung der zeitlichen Organisation ihres Alltags aufweisen, als dies bei der „Stadt der Moderne“ der Fall ist. 18
6.4.1 Aktionsräumliche Parameter Als zentrale Kennzeichen, anhand deren sich das routinisierte Alltagshandeln in raum-zeitlicher Sicht beschreiben lässt, lassen sich räumliche sowie zeitliche Indikatoren benennen. Neben den klassischen Kennwerten zur Beschreibung von Aktionsräumen (Zahl der zurückgelegten Wege pro Tag, Länge der einzelnen Wege, zurückgelegte Gesamtdistanz) werden im Folgenden zeitliche Indikatoren betrachtet, welche die Zeit und Dauer der außerhäuslichen Aktivitätsphase im Alltag kennzeichnen. Dies ist insbesondere die Startzeit des ersten Weges und die Ankunftszeit des letzten Weges am Tag, die als Eckwerte die Dauer der raum-zeitlich aktiven Phase beschreiben. Des Weiteren geben die Standardabweichungen dieser Zeiten Aufschluss über den Grad an Flexibilisierung der Aktivitätszeiten. Bei der vergleichenden Analyse dieser Parameter der Berufsgruppen wird deutlich, dass sich die Aktionsräume der Kreativarbeiter (Core of Creative Class) sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht signifikant von den beiden Vergleichsgruppen unterscheiden. Die durchschnittliche Startzeit des ersten Weges sowie die durchschnittliche Ankunftszeit nach dem letzten Weg eines Tages weist auf die Zeitspanne von Aktivitäten hin, die als „vorderseitig“ bezeichnet werden können und damit für die raum-zeitliche Strukturierung von Chronotopen maßgeblich sind (vgl. hierzu Kapitel 3.2). Wie Tabelle 9 verdeutlicht, beginnt und endet der Werktag der Kreativarbeiter im Schnitt tageszeitlich später (Beginn: 9:20h gegenüber 7:47h bzw. 8:02h; Ende: 19:55h gegenüber 19:25h bzw. 18:37h); er ist gegenüber den Vergleichsgruppen tendenziell zeitversetzt. Für die lokalen Alltagsrhythmen in Quartieren mit einem hohen Anteil an Kreativarbeitern bedeutet dies, dass sich die Alltagsrhythmen verschiedener Berufstypen überlagern. Nicht mehr ein einziger Takt (des „Nine-to-five-Jobs“) bestimmt die zeitliche Struktur des Chronotops, 18 Allerdings sollte auch beachtet werden, dass es durch eine Veränderung der Zeitstrukturen unter den kreativen Wissensarbeitern zu einer verstärkten Nachfrage nach personenbezogenen Dienstleistungen (etwa Gastronomie) in den ehemaligen „Randzeiten“ kommt. Diese Form der Ausweitung zeitlicher Strukturen (etwa von Arbeitszeiten) kann als sekundär induzierte Entgrenzung verstanden werden. 306
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
sondern mehrere Zeitnormen verschiedener Berufstypen koexistieren nebeneinander – der lokale Rhythmus des Chronotops wird also komplexer. Die Konsequenz ist, dass sich die gesamte Aktivitätszeit des „kreativen“ Quartiers verlängert – die Aktivitätsphase des Quartiers erfährt also eine zeitliche Entgrenzung. Tabelle 9: Aktionsräumliche Parameter nach Berufstypisierung / Kreative Klasse Core of Creative Class Werbung und Marketing Foto und Design Medien und Journalismus Kunst und Kultur Wissenschaft
Less Creative Jobs
Uncreative Jobs
Architektur, Ingenieurwesen Technische Berufe, IT Gesundheits- und Sozialwesen, leitend, qualifiziert Unternehmensmanagement Beratungsberufe Bildungsbereich (Schule und Weiterbildung)
Verwaltung und Organisation Gastronomie Gesundheits- und Sozialwesen, technisch Handwerk und produzierendes Gewerbe Rechts-, Finanz- und Bankwesen Sonstige unternehmensbezogene Dienstleistungen
n/Anteil
63/16%
n/Anteil
157/40%
n/Anteil
175/44%
∅ Startzeit erster Weg
9:20h
∅ Startzeit erster Weg
7:47h
∅ Startzeit erster Weg
8:02h
Std. Abw. Std. Abw. Std. Abw. Startzeit erster 3:40 Stunden Startzeit erster 2:31 Stunden Startzeit erster 2:45 Stunden Weg Weg Weg ∅ Ankunftszeit letzter Weg
19:55h
∅ Ankunftszeit letzter Weg
19:25h
∅ Ankunftszeit letzter Weg
18:37h
Std. Abw. Ankunftszeit letzter Weg
3:05 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit letzter Weg
2:44 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit letzter Weg
2:38 Stunden
∅ Anzahl an Wegen insgesamt
4,7
∅ Anzahl an Wegen insgesamt
4,5
∅ Anzahl an Wegen insgesamt
4,3
∅ gesamte Weglänge am Tag
10,1 km
∅ gesamte Weglänge am Tag
17,3 km
∅ gesamte Weglänge am Tag
15,3 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
8,4 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
14,2 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
11,5 km
∅ Länge eines Weges
2,2 km
∅ Länge eines Weges
4,6 km
∅ Länge eines Weges
3,9 km
∅ Distanz Wohnort zum Arbeitsort
4,2 km
∅ Distanz Wohnort zum Arbeitsort
6,9 km
∅ Distanz Wohnort zum Arbeitsort
5,5 km
Betrachtet wurden ausschließlich Werktage; max. Tageskilometerleistung 100 km
307
ENTGRENZTE STADT
Zu dieser zeitlichen Entgrenzung der Aktivität tritt ein zweites Phänomen hinzu, das auf eine zunehmende zeitliche Flexibilisierung des Alltags hinweist: Die Standardabweichungen der durchschnittlichen Startund Ankunftszeiten von Kreativarbeitern sind jeweils höher als bei den beiden Vergleichsgruppen. Besonders deutlich ist dies bei den Startzeiten des ersten Weges an Werktagen. Während der erste Weg bei der Gruppe der Less Creative Jobs im Durchschnitt um 7:47h beginnt und um diese Startzeit um 2,5 Stunden streut, beginnt der erste Weg bei der Gruppe Core of Creative Class im Schnitt um 9:20h, streut aber mit 3:40h deutlich stärker um diesen Mittelwert. Die Alltagsrhythmen der Kreativarbeiter sind also – verglichen mit den beiden anderen Gruppen – deutlich uneinheitlicher, sodass tendenziell eine Auflösung früherer kollektiv geteilter Zeitnormen erkennbar wird. Die Aktivitätszeiten werden flexibilisiert. Neben diesen zeitlichen Parametern zeigen die Aktionsräume der Kreativarbeiter auch in der räumlichen Dimension deutliche Unterschiede zu den Vergleichsgruppen. Dies betrifft allerdings nur die Tageskilometerleistung. Die Gesamtstrecke, die Kreativarbeiter an einem durchschnittlichen Werktag zurücklegen, ist um einiges kürzer als die zurückgelegte Gesamtstrecke der Vergleichsgruppen. Probanden mit Less Creative Jobs legen an Werktagen durchschnittlich 17,3 km Gesamtstrecke zurück; Probanden in Uncreative Jobs eine Gesamtstrecke von 15,3 km. Demgegenüber legen Menschen in Berufen, die als Core of Creative Class typisiert wurden, im Schnitt jeweils nur eine Gesamtstrecke von 10,1 km zurück. Die Aktionsräume der Kreativarbeiter sind also im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen nicht nur zeitlich flexibler und beginnen sowie enden tageszeitlich später, sie sind auch räumlich dichter als die Aktionsräume der Vergleichsgruppen. Dabei unterscheidet sich die absolute Zahl der Wege, die die Probanden an Werktagen unternommen haben, nicht signifikant voneinander. Die Hypothese, dass sich Aktionsräume in der Wissensgesellschaft durch kürzere Wege, dafür aber eine höhere Zahl an Wegen kennzeichnen lassen, muss differenziert betrachtet werden: Zwar ist die Zahl der zurückgelegten Wege der Kreativarbeiter mit 4,7 Wegen etwas höher als die Zahl der Wege der beiden Vergleichsgruppen, der Zusammenhang zwischen der Art der Arbeit und der Wegezahl ist jedoch nicht signifikant – die Nullhypothese kann nicht verworfen werden. Allerdings haben Kreativarbeiter eine geringere aktionsräumliche Reichweite gemäß einer „Stadt der kurzen Wege“.
308
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
6.4.2 Wohnstandortwahl Die räumliche Dichte der Aktionsräume spiegelt sich auch in der Wohnstandortwahl der „Kreativen“ wider, die eine eindeutige Präferenz für die Untersuchungsgebiete Eppendorf bzw. das Schanzenviertel erkennen lässt (vgl. Tabelle 10). Während in diesen beiden Quartieren mindestens einer von fünf Erwerbstätigen dem Core of Creative Class zugerechnet werden kann, ist dies in Hamm gerade mal einer von zehn, in Niendorf lediglich einer von 20 Erwerbstätigen. Die Hypothese, dass die „Kreative Klasse“ ein multifunktionales und vielfältiges Wohnquartier bevorzugt, kann durch die vorliegende aktionsräumliche Untersuchung bestätigt werden. Eppendorf ist darüber hinaus bevorzugter Wohnstandort von Personen mit Berufen, die als „less creative“ klassifiziert wurden. Personen mit gänzlich unkreativen Tätigkeitsfeldern sind hier eindeutig in der Minderheit. Hamm wird als monofunktionaler, aber zentrumsnaher Wohnstandort von den „kreativen Wissensarbeitern“ ebenso gemieden wie das suburban geprägte Niendorf. Sowohl in Hamm als auch in Niendorf dominieren demgegenüber Personen in den als „uncreative“ typisierten Berufsfeldern. Die auf gesamtstädtischer Aggragatebene herausgearbeitete sozialräumliche Segregation nach dem Faktor „Openness to Diversity“, der als Indikator für die „Kreative Klasse“ interpretiert wurde, kann also auch auf der Individualebene bestätigt werden (c = 0,27). Tabelle 10: Wohnstandortwahl nach Berufstypisierung/Kreative Klasse Untersuchungsgebiet
Berufstypisierung/Kreative Klasse
Schanzenviertel
Eppendorf
Niendorf
Gesamt
7
24
4
63
21,7%
9,9%
22,2%
4,6%
15,9%
Korr. Residuen
2,2
-1,5
2,1
-3,3
Anzahl
51
22
52
32
157
39,5%
31,0%
48,1%
36,8%
39,7%
-0,1
-1,7
2,1
-0,6
50
42
32
51
175
38,8%
59,2%
29,6%
58,6%
44,3%
-1,5
2,8
-3,6
3,0
Anzahl
Less Creative Jobs
Anteil
Anteil Korr. Residuen
Uncreative Anzahl Jobs Anteil
Gesamt
Hamm
28
Core of Creative Class
Korr. Residuen Anzahl Anteil
129
71
108
87
395
100%
100%
100%
100%
100%
Eigene Berechnungen
309
ENTGRENZTE STADT
Vor dem Hintergrund, dass der spätmoderne Wandel als noch nicht abgeschlossener Prozess zu verstehen ist, ist zukünftig eine weitere sozialräumliche Fragmentierung der Stadt nach der Art der Arbeit anzunehmen. Mit einer Zunahme der Zahl der Personen, die in „kreativen“ Jobs tätig sind, muss von einer noch weiter zunehmenden Nachfrage nach urbanen und funktionsvielfältigen Wohnstandorten ausgegangen werden. Demgegenüber ist zu vermuten, dass monofunktionale bzw. suburbane Quartiere mittelfristig an Attraktivität verlieren werden und die Nachfrage nach diesen Wohnstandorten tendenziell stagnieren wird.
6.4.3 Aktionsräumliche Typen Schließlich gilt es noch, die Zeitverwendungsmuster der Kreativarbeiter zu betrachten, um bewerten zu können, ob die vermutete Konvergenz von Arbeit und Leben dieser Gruppe auch aktionsräumlich bedeutsam ist. Neben der zeitlichen Entgrenzung der lokalen Alltagsrhythmen in Stadtquartieren ist ja mit der Konvergenzhypothese anzunehmen, dass es auch zu einer individuellen Entgrenzung der Bereiche Arbeit und Leben in zeitlicher sowie räumlicher Hinsicht kommt. Jeder vierte Beschäftigte, der in einem sogenannten Kreativberuf tätig ist (Core of Creative Class) gibt an, sehr flexible Arbeitszeiten zu haben. Bei den übrigen Berufstypen (Less Creative Jobs sowie Uncreative Jobs) hat nur etwa jeder siebte Befragte sehr flexible Arbeitszeiten. Demnach wäre zu vermuten, dass die hohe zeitliche Disponibilität, die mit kreativen Berufen einhergeht, eine stärkere Konvergenz von Arbeit und Leben ermöglicht, die sich im Alltag auch aktionsräumlich erkennen lässt. Die vier Aktionsräumlichen Typen sollten sich somit in den Berufstypisierungen nach dem Grad ihrer Kreativität wiederfinden lassen. Erwartet wird, dass Berufsgruppen, die dem Core of Creative Class zugeordnet wurden, signifikant häufiger einen Aktionsraum aufweisen, der als Konvergenztyp bezeichnet wurde (fünf oder mehr Wege am Tag, davon mind. ein Weg zum Zweck „Arbeit“). Demgegenüber sollten die weniger kreativen Berufsgruppen häufiger ein aktionsräumliches Muster nach dem Berufspendlertypus aufweisen (maximal vier Wege am Tag, davon mind. ein Weg zum Zweck „Arbeit“). Dieses klare Zusammenfallen von aktionsräumlichen Typen und der Berufstypisierung nach dem Grad der Kreativität der Tätigkeit lässt sich jedoch entgegen der Annahme nicht durch die empirische Untersuchung bestätigen (vgl. Abbildung 23): So legen die „kreativen Berufstätigen“ (Core of Creative Class sowie Less Creative Jobs) zwar mehr Wege zurück als die Berufstätigen in eher unkreativen Berufsfeldern (Un310
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
creative Jobs), dies geht allerdings nicht unbedingt mit höheren Koordinationsanforderungen von Arbeit und Leben einher, wie mit der Konvergenzhypothese behauptet wird. Im Gegenteil haben diejenigen Berufstätigen, die zum Core of Creative Class gerechnet werden können, weniger häufig einen Aktionsraum, der dem Konvergenztyp entspricht. Obgleich ausschließlich die Aktionsräume an Werktagen betrachtet wurden, ist der Hypermobile Typ (Aktionsraum mit hoher Zahl an Wegen, davon kein einziger Weg zur Arbeit) unter den „Kreativarbeitern“ überrepräsentiert. Der Grund hierfür ist anhand der vorliegenden Daten nicht eindeutig zu bestimmen; denkbar sind vor allem zwei Erklärungsmuster: Zum Ersten weist der oben dargelegte Umstand, dass Kreativarbeiter (Core of Creative Class) häufiger über sehr flexible Arbeitszeiten verfügen, darauf hin, dass an einigen Werktagen der Woche überhaupt nicht gearbeitet wird und sich die „flexible Arbeitszeit“ auf wenige Tage (u.U. auch Wochenendtage) konzentriert. Zum Zweiten ist aber auch eine derart weit fortgeschrittene Konvergenz von Arbeit und Leben in dieser Gruppe von Beschäftigten denkbar, die sich einer aktionsräumlichen Betrachtung gänzlich verschließt: Wenn sich die raum-zeitliche Trennung der Lebensbereiche in einem Auflösungsprozess befindet, wie die Konvergenzhypothese behauptet, dann werden Wege auch nicht mehr zum Zweck des Aufsuchens des Arbeitsplatzes unternommen. Damit wäre der Wegzweck als Indikator für aktionsräumliche Entgrenzungsprozesse in der Spätmoderne nahezu unbrauchbar. Abbildung 23: Aktionsräumliche Typen und Berufstypisierung 100% am Stichtag immobil 80% wenig mobiler Typ 60% Berufspendlertyp 40% Hypermobiler Typ 20% Konvergenztyp 0% Core of Creative Class Less Creative Jobs
Uncreative Jobs
Ausschließlich Werktage wurden betrachtet, n=394
311
ENTGRENZTE STADT
Auch wenn dies an dieser Stelle nicht abschließend beurteilt werden kann, lassen sich bestimmte Querbezüge zwischen spätmodernen Arbeitsbeziehungen nach dem Grad der Kreativität bei der beruflichen Tätigkeit einerseits und aktionsräumlichen Parametern andererseits hervorheben: • Menschen in Kreativberufen legen im Alltag deutlich weniger Wegstrecke (gesamte Tageskilometerleistung) zurück als Menschen in weniger kreativen Tätigkeitsfeldern. • Die Anzahl der zurückgelegten Wege ist bei Kreativarbeitern nicht signifikant höher als bei Menschen in weniger kreativen Tätigkeiten. • Die außerhäuslichen Tätigkeiten von Kreativarbeitern beginnen im Vergleich zu den übrigen Berufsgruppen um durchschnittlich 1,5 Stunden später. Dafür endet der Tag auch später am Abend; der Alltag folgt damit einem anderen (späteren) Rhythmus und kann als „zeitversetzt“ verstanden werden. • Die zeitliche Streuung der Tätigkeiten ist bei Kreativarbeiten deutlich höher als bei Menschen in weniger kreativen Berufsfeldern. Dies kann als zeitliche Flexibilisierung des Alltags gedeutet werden. • Menschen in Kreativberufen bevorzugen bei ihrer Wohnstandortwahl funktionsvielfältige und -offene Quartiere. Monofunktionale Stadtviertel oder suburbane Wohngebiete werden dagegen gemieden. Die Teilhypothese K1 der Konvergenzhypothese (vgl. Kapitel 3.3) hingegen lässt sich anhand der Betrachtung der spätmodernen Arbeitsbeziehungen nicht, wie eingangs dieses Abschnitts vermutet, bestätigen. Die alltäglichen Routinen der „spätmodernen Kreativarbeiter“ deuten nicht darauf hin, dass Arbeit und Leben dergestalt miteinander verwoben wären, als dass sich mehrmals am Tag arbeits- und freizeitbezogene Wege abwechselten. Deutlich wird aber die Tendenz zur zeitlichen Entgrenzung der Aktivitätsrhythmen, die mit der Zunahme spätmoderner Arbeitsbeziehungen einhergehen. Als Indikator hierfür lassen sich die tageszeitlich versetzten Alltagsrhythmen der Beschäftigten des Core of Creative Class verstehen. Ferner deutet die höhere zeitliche Streuung der tageszeitlichen Rhythmen unter den Kreativarbeitern auf die tendenzielle Auflösung kollektiv geteilter Alltagsrhythmen hin. Dieser Wandel der Zeitstrukturen ist eine Folge der (Zwangs?-)Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Ob die geringere Tageskilometerleistung von Kreativarbeitern als Anpassungsstrategie auf eine erhöhte Flexibilisierungszumutung zu begreifen ist, kann mit der zur Verfügung stehenden Datenbasis nicht abschließend geklärt werden. 312
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
6.5 Pluralisierung geschlechterkultureller Haushaltsmodelle und raum-zeitliche Alltagsorganisation Personen, die in Haushaltsgemeinschaften mit anderen leben, können sich gegenseitig durch Unterstützungsleistungen materieller und immaterieller Art helfen. Hierzu zählen etwa das gemeinsame Erwirtschaften des Haushaltseinkommens, das gemeinsame Versorgen von Kindern oder älteren Menschen (einschließlich des Bringens oder Abholens dieser Personen) oder das Besorgen von Gütern des täglichen Bedarfs. Diese gegenseitigen Unterstützungsleistungen in Haushalten wurden von SIEVERTS (2002) als symbiotische Existenzverflechtungen beschrieben (vgl. Kapitel 2.1.4). Insbesondere wenn Ver- bzw. Besorgungswege aufgrund eines zu den relevanten Gelegenheiten peripheren Wohnstandortes weit sind, kann mit der Alltagsmobilität ein hoher Aufwand verbunden sein. Demgegenüber ist der Aufwand für Mobilität in einem funktionsvielfältigen Wohnumfeld mit einer hohen Gelegenheitsdichte vergleichsweise geringer. Wie FRIEDRICHS (1990) gezeigt hat, hängen die Chancen zum Erreichen von Gelegenheiten maßgeblich vom Wohnstandort ab – insbesondere dann, wenn den ökonomischen Möglichkeiten des Haushaltes deutliche Grenzen gesetzt sind. Arbeitsteilige Prozesse können Synergieeffekte in Mehrpersonenhaushalten erzeugen, sodass die Frage nach der Organisation der Arbeitsteilung die Frage nach der Gestaltbarkeit der Aktionsräume berührt. So kann angenommen werden, dass mit der Wahl eines suburbanen Wohnstandortes zunächst die Mobilitätsanforderungen für alle Haushaltsmitglieder in zeitlicher, räumlicher und monetärer Hinsicht steigen. Wenn aber durch die arbeitsteilige Organisation innerhalb des Haushaltes nicht alle Haushaltsmitglieder im Alltag weite Pendelwege zurücklegen müssen, kann dieser Wohnstandort dennoch optimal sein. Umgekehrt ist die Wahl eines Wohnstandortes im suburbanen Raum oftmals erst dann denkbar, wenn mit ihr eine Arbeitsteilung innerhalb des Haushaltes einhergeht: Zwei längere Pendelwege pro Tag erscheinen eher dann als akzeptabel, wenn nicht auch noch weitere Versorgungswege bzw. Wege, die im Kontext der Reproduktionsarbeit anfallen, hinzukommen, sondern diese in Nähe des Wohnstandortes von einem anderen Haushaltsmitglied übernommen werden können. Das Vorhandensein symbiotischer Existenzverflechtungen mit den entsprechenden Unterstützungsleistungen wird folglich mit in die Wohnstandortentscheidung einbezogen.
313
ENTGRENZTE STADT
Die Frage nach der Arbeitsteilung in Mehrpersonenhaushalten ist zugleich aber auch eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Wenn Frau und Mann eine Beteiligung am Erwerbsprozess zu gleichen Teilen anstreben, bedeutet dies bei suburbanen Wohnstandorten eine Ausweitung der Mobilitätskosten in raum-zeitlicher sowie in ökonomischer Hinsicht. Zu überprüfen ist im Folgenden, welche Zusammenhänge zwischen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Paar- und Familienhaushalten und der Ausgestaltung von Aktionsräumen bestehen. Dabei wird angenommen, dass zukünftig von einer weiter steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen auszugehen ist, insbesondere auch, da in der derzeitigen Transformationsphase zur „spätmodernen Wissensgesellschaft“ die sozialintegrierende Funktion von Arbeit mit neuer Bedeutung belegt wird: Über das Erwirtschaften des Haushaltseinkommens hinaus bedeutet Arbeit in der „kreativen Wissensgesellschaft“ in starkem Maße gesellschaftliche Partizipation. Erwerbsarbeit in der Spätmoderne hat stärker noch als in der Moderne einen identitätsstiftenden Charakter. Dies betrifft die „Kreativarbeit“ in besonderem Maße. Die Operationalisierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Paar- und Familienhaushalten erfolgt entlang den von BÜHLER (2001) vorgeschlagenen Kategorien der geschlechterkulturellen Familienmodelle (vgl. Kapitel 2.1.4). Im Unterschied zum Vorgehen von BÜHLER wird im Folgenden aber nicht nur die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familienhaushalten betrachtet, sondern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Paarhaushalten generell, wenn wenigstens einer der Partner einer Erwerbstätigkeit nachgeht – ungeachtet dessen, ob zu versorgende Kinder im Haushalt leben oder nicht. Dieses Vorgehen ist der Tatsache geschuldet, dass bereits heute das Leben in Familienhaushalten – zumindest in den Städten – eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Zwei Drittel aller im Rahmen der Untersuchung befragten Personen leben in Einpersonenhaushalten oder Paarhaushalten. Insgesamt nur 119 Befragte (17%) leben in einem Familienhaushalt mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren (vgl. Abbildung 24). Eine Reduktion der Betrachtung auf die Familienhaushalte wäre nicht aufgrund ihrer insgesamt geringen quantitativen Bedeutung unangemessen, sondern aufgrund der sehr kleinen Fallzahlen auch nahezu unmöglich. Geschlechterkulturelle Arbeitsteilung wird daher im Folgenden für Paar- und Familienhaushalte gemeinsam betrachtet. Als Vergleichsgruppen werden die übrigen Haushaltstypen betrachtet (Einpersonenhaushalte, Rentnerhaushalte, Alleinerziehendenhaushalte, Personen in Wohngemeinschaften). Die in der Stichprobe vorkommenden verschiedenen geschlechterkulturellen Haushaltsmodelle in Familien- und Paarhaushalten beschrän314
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
ken sich auf das traditionell-bürgerliche Modell (Mann in Vollzeit erwerbstätig, Frau nicht erwerbstätig), das modernisiert-bürgerliche Modell (Mann in Vollzeit erwerbstätig, Frau in Teilzeit erwerbstätig) sowie das egalitär-erwerbsbezogene Modell (Mann und Frau in Vollzeit erwerbstätig). Das bei BÜHLER (2001) genannte egalitär-familienbezogene Modell (Mann und Frau in Teilzeit erwerbstätig) ist hingegen quasi nicht existent; es kommt in so geringer Fallzahl vor, dass eine quantitativ-statistische Auswertung nicht möglich ist. Daneben existieren eine Reihe weiterer Sonderformen der Arbeitsteilung in Familienhaushalten (z.B. Haushalte mit teilzeitbeschäftigten Männern und nicht erwerbstätigen Frauen, Arbeitslosenhaushalte, gleichgeschlechtliche Paarhaushalte etc.). Diese können aber ebenfalls aufgrund der geringen Fallzahl nicht eingehend betrachtet werden. Zu beachten ist, dass nicht Haushalte, sondern Einzelpersonen befragt wurden. Das bedeutet, dass zwar die geschlechterkulturellen Haushaltsmodelle bekannt sind, nicht jedoch die Aktionsräume des jeweiligen Partners. Eine Gruppierung von Haushalten gemäß ihrem aktionsräumlichen Verhalten ist daher mit den vorliegenden Daten nicht möglich. Abbildung 24: Anteile verschiedener Haushaltstypen sonstiges 4% Wohngemeinschaft 8%
Familienhaushalt 17%
Einpersonenhaushalt 20%
Einpersonenhaushalt (Rentner) 9%
Alleinerziehendenhaushalt 4% Paarhaushalt (Rentner) 14%
Paarhaushalt 24%
Eigene Berechnungen
315
ENTGRENZTE STADT
6.5.1 Aktionsräumliche Parameter Die aktionsräumlichen Parameter der gemäß den geschlechterkulturellen Haushaltsmodellen gruppierten Probanden sind in Tabelle 11 bzw. Tabelle 12 dargestellt. Dabei wurden elf unterschiedliche Typen ausgewiesen: Jeweils Männer bzw. Frauen in traditionell-bürgerlichen, modernisiert-bürgerlichen sowie egalitär-erwerbsbezogenen Haushaltsmodellen, des Weiteren Erziehungspersonen in Alleinerziehendenhaushalten, Männer bzw. Frauen in Einpersonenhaushalten, Personen in Rentnerhaushalten sowie Personen, die in Wohngemeinschaften leben. Bei der Betrachtung der Aktionsräume der Männer in Paar- oder Familienhaushalten fällt auf, dass sich die aktionsräumlichen Parameter in Abhängigkeit des jeweiligen geschlechterkulturellen Modells nur geringfügig voneinander unterscheiden. So verlassen etwa Männer in Familien- oder Paarhaushalten, die gemäß dem traditionell-bürgerlichen Modell organisiert sind, die Wohnung tageszeitlich etwas früher und kehren abends etwas später nach Hause zurück. Auch legen sie durchschnittlich eine geringfügig längere Strecke zurück. Diese Unterschiede der aktionsräumlichen Parameter zwischen den drei Gruppen der Männer in Paar- oder Familienhaushalten sind jedoch nicht statistisch signifikant. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Form der geschlechterkulturellen Arbeitsteilung in Paar- und Familienhaushalten auf die Aktionsräume der Männer keinen Einfluss hat. In ähnlicher Weise wirken sich die Geschlechterarrangements auf die Aktionsräume der Frauen aus. Frauen in Haushalten, die gemäß dem traditionell-bürgerlichen Modell organisiert sind, legen zwar durchschnittlich mehr Wege zurück als alle anderen Vergleichsgruppen (5,4 Wege pro Tag). Dabei ist die zurückgelegte gesamte Wegstrecke mit durchschnittlich insgesamt 11,1 km vergleichsweise kurz, was dem Bild einer hypermobilen Hausfrau mit einer Vielzahl kurzer Wege im Tagesverlauf entspricht. Allerdings ist auch diese Differenz im Vergleich zu den Aktionsräumen der Frauen in modernisiert-bürgerlichen und egalitär-erwerbsbezogenen Haushaltsmodellen nicht signifikant. Lediglich die Startzeit des ersten Weges am Tag zeigt eine signifikante Unterscheidung zwischen den Gruppen: Frauen in Haushalten, die gemäß dem traditionell-bürgerlichen Modell organisiert sind, verlassen die Wohnung tageszeitlich später als die Vergleichsgruppen. Die Erkenntnis, dass Berufstätige früher aus dem Haus gehen als Nichtberufstätige, überrascht jedoch nicht sonderlich. In ähnlicher Weise stellt sich ein Vergleich der aktionsräumlichen Parameter der meisten Vergleichsgruppen (Alleinerziehende, Männer und Frauen in Einpersonenhaushalten sowie Wohngemeinschaften) dar. 316
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
So lassen sich zwar vereinzelte Unterschiede der routinisierten Alltagsgestaltung zwischen den Gruppen erkennen, diese sind jedoch sämtlich nicht signifikant. Obgleich z.B. Personen, die in Wohngemeinschaften leben, im Schnitt abends länger außerhalb des Hauses unterwegs sind, sind diese Abweichungen zu den übrigen Gruppen nicht dergestalt bedeutsam, dass die Nullhypothese verworfen werden könnte. Die einzige Gruppe, die eine signifikant unterschiedliche raum-zeitliche Alltagsgestaltung zu den übrigen Gruppen aufweist, sind Personen, die in Rentnerhaushalten leben. Die Aktionsräume der Rentner unterscheiden sich in allen betrachteten räumlichen und zeitlichen Dimensionen deutlich von denen der Vergleichsgruppen: Die Wohnung wird tageszeitlich später verlassen und in den Nachmittagsstunden früher wieder aufgesucht, die durchschnittlich zurückgelegte Strecke ist um einiges kürzer, die Zahl der Wege ebenfalls. Zumindest auf der Ebene der aktionsräumlichen Parameter ist eine Abhängigkeit des raum-zeitlichen Verhaltens vom Geschlechterarrangement nicht – zumindest nicht deutlich – zu erkennen. Das bedeutet auch, dass eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gemäß dem traditionellbürgerlichen Modell nicht unbedingt mit einem höheren Mobilitätsaufwand der Frau (höhere Zahl der zurückgelegten Wege) einhergehen muss. Offen ist dabei aber noch die Rolle der Wohnlage. So wurde ja vermutet, dass insbesondere suburbane Wohnlagen zu einem höheren raum-zeitlichen Koordinationsaufwand führen. Im nächsten Analyseschritt soll daher der Frage nachgegangen werden, inwiefern bestimmte geschlechterkulturelle Haushaltsmodelle mit der Wohnstandortwahl einhergehen und als Prädiktoren des Aktionsraums zu verstehen sind, da sie die raum-zeitlichen constraints durch die Wahl des Wohnortes vorstrukturieren.
317
ENTGRENZTE STADT
Tabelle 11: Aktionsräumliche Typen nach Haushaltstypen (1) Mann in traditionellbürgerlichem Modell N/Anteil
Mann in modernisiertbürgerlichem Modell
Mann in egalitärerwerbsbezogenem Modell
10/2%
n/Anteil
15/3%
n/Anteil
33/7%
Startzeit erster Weg
7:30h
Startzeit erster Weg
8:08h
Startzeit erster Weg
7:55h
Std. Abw. Startzeit
2:28 Stunden
Std. Abw. Startzeit
1:17 Stunden
Std. Abw. Startzeit
3:05 Stunden
Ankunftszeit letzter Weg
19:40h
Ankunftszeit letzter Weg
19:04h
Ankunftszeit letzter Weg
19:09h
Std. Abw. Ankunftszeit
2:10 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit
1:55 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit
2:33 Stunden
Anzahl an Wegen
4,6
Anzahl an Wegen
5,1
Anzahl an Wegen
4,2
gesamte Weglänge
19,4 km
gesamte Weglänge
17,5 km
gesamte Weglänge
15,2 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
18,8 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
9,6 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
10,4 km
Länge eines Weges
3,9 km
Länge eines Weges
3,8 km
Länge eines Weges
4,3 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
4,3 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
6,4 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
5,1 km
Frau in traditionellbürgerlichem Modell N/Anteil
Frau in modernisiertbürgerlichem Modell
Frau in egalitärerwerbsbezogenem Modell
16/4%
N/Anteil
30/7%
N/Anteil
49/11%
Startzeit erster Weg
9:51h
Startzeit erster Weg
8:41h
Startzeit erster Weg
7:56h
Std. Abw. Startzeit
2:22 Stunden
Std. Abw. Startzeit
2:47 Stunden
Std. Abw. Startzeit
2:20 Stunden
Ankunftszeit letzter Weg
17:35h
Ankunftszeit letzter Weg
18:52h
Ankunftszeit letzter Weg
19:12h
Std. Abw. Ankunftszeit
2:22 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit
2:33 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit
2:58 Stunden
Anzahl an Wegen
5,4
Anzahl an Wegen
5,2
Anzahl an Wegen
4,5
gesamte Weglänge
11,1 km
gesamte Weglänge
13,8 km
gesamte Weglänge
16,1 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
8,4 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
9,5 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
11,5 km
Länge eines Weges
1,9 km
Länge eines Weges
3,0 km
Länge eines Weges
3,9 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
-
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
4,5 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
4,9 km
Eigene Berechnungen
318
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Tabelle 12: Aktionsräumliche Typen nach Haushaltstypen (2) Erziehungsperson in Alleinerziehendenhaushalt N/Anteil
Mann in Einpersonenhaushalt
Frau in Einpersonenhaushalt
14/3%
N/Anteil
38/9%
N/Anteil
48/11%
Startzeit erster Weg
8:08h
Startzeit erster Weg
7:58h
Startzeit erster Weg
8:22h
Std. Abw. Startzeit
1:50 Stunden
Std. Abw. Startzeit
3:40 Stunden
Std. Abw. Startzeit
2:44 Stunden
Ankunftszeit letzter Weg
19:01h
Ankunftszeit letzter Weg
19:05h
Ankunftszeit letzter Weg
19:24h
Std. Abw. Ankunftszeit
2:25 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit
3:36 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit
2:32 Stunden
Anzahl an Wegen
5,1
Anzahl an Wegen
4,4
Anzahl an Wegen
4,3
gesamte Weglänge
11,8 km
gesamte Weglänge
14,6 km
gesamte Weglänge
16,0 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
11,7 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
15,4 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
16,0 km
Länge eines Weges
2,5 km
Länge eines Weges
4,2 km
Länge eines Weges
4,3 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
4,1 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
5,1 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
4,0 km
Mann oder Frau in Rentnerhaushalt N/Anteil
Mann oder Frau in Wohngemeinschaft
Gesamt
88/20%
N/Anteil
43/10%
N/Anteil
469/100%
Startzeit erster Weg
9:44h
Startzeit erster Weg
8:26h
Startzeit erster Weg
8:35h
Std. Abw. Startzeit
2:13 Stunden
Std. Abw. Startzeit
3:04 Stunden
Std. Abw. Startzeit
2:44 Stunden
Ankunftszeit letzter Weg
16:41h
Ankunftszeit letzter Weg
19:35h
Ankunftszeit letzter Weg
18:37h
Std. Abw. Ankunftszeit
3:16 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit
2:30 Stunden
Std. Abw. Ankunftszeit
3:07 Stunden
Anzahl an Wegen
3,8
Anzahl an Wegen
4,7
Anzahl an Wegen
4,3
gesamte Weglänge
10,4 km
gesamte Weglänge
12,5 km
gesamte Weglänge
13,6 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
11,4 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
8,4 km
Std. Abw. gesamte Weglänge
12,3 km
Länge eines Weges
2,9 km
Länge eines Weges
3,1 km
Länge eines Weges
3,5 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
-
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
4,0 km
Distanz Wohnort zum Arbeitsort
6,8 km
Eigene Berechnungen
319
ENTGRENZTE STADT
6.5.2 Wohnstandortwahl Obgleich zwischen verschiedenen Formen der Haushaltsorganisation und den aktionsräumlichen Parametern kein unmittelbarer Zusammenhang nachweisbar ist, zeigt sich mit Blick auf Tabelle 13 eine deutliche sozialräumliche Segregation der Haushaltstypen nach verschiedenen Wohnstandorten. Im Wesentlichen lassen sich hier die sozialräumlichen Muster wiedererkennen, die in Kapitel 4 auf gesamtstädtischer Ebene beschrieben wurden. So entfallen etwa auf die innenstadtnahen Wohnstandorte Schanzenviertel und Hamm deutlich mehr Einpersonenhaushalte. Im Schanzenviertel sind nicht nur Einpersonenhaushalte, sondern auch Alleinerziehendenhaushalte und alternative Haushaltsformen überrepräsentiert. Zudem lebt im Schanzenviertel jede fünfte befragte Person in einer Wohngemeinschaft; in allen weiteren Untersuchungsgebieten ist der Anteil an Wohngemeinschaften bedeutend geringer. Familien- und Paarhaushalte sind, so sie denn im Schanzenviertel vorkommen, im Regelfall gemäß dem egalitär-erwerbsbezogenen Modell organisiert. Die bürgerlichen Modelle finden hingegen kaum eine Verbreitung. In ähnlicher Weise sind die Geschlechterarrangements in Paar- und Familienhaushalten in Eppendorf strukturiert. Auch hier überwiegen egalitär-erwerbsbezogene Geschlechterarrangements im Vergleich zu den bürgerlichen Modellen deutlich. In Hamm sind Familienhaushalte dagegen insgesamt deutlich unterrepräsentiert – und zwar nahezu unabhängig vom Geschlechterarrangement. Einpersonenhaushalte sowie Rentnerhaushalte überwiegen deutlich. Niendorf als typisch suburbaner Wohnstandort weist eine zu den übrigen drei Untersuchungsgebieten deutlich andere Verteilung der Haushaltstypen auf. Einpersonenhaushalte mit Personen im erwerbsfähigen Alter sowie Wohngemeinschaften und alternative Haushaltsorganisationsweisen sind stark unterrepräsentiert. Der hohe Anteil an Rentnerhaushalten kann auf einen Kohorteneffekt zurückgeführt werden, der aus dem Alter der Wohngebäude resultiert. Paar- und Familienhaushalte mit Personen im erwerbsfähigen Alter sind in der Regel nach den bürgerlichen Arbeitsteilungsmodellen organisiert, die eine höhere Beteiligung des Mannes an der Erwerbsarbeit bedeuten (traditionell-bürgerliches sowie modernisiert-bürgerliches Modell). Eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gemäß dem egalitär-erwerbsbezogenen Modell ist in Niendorf eher selten zu finden.
320
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Tabelle 13: Wohnstandortwahl und Haushaltsstrukturen / Geschlechterkulturelle Haushaltsmodelle Untersuchungsgebiet Schanzenviertel
Niendorf
Gesamt
13
20
48
3,4%
6,4%
7,4%
10,1%
6,9%
-2,2
-0,3
0,3
2,1
11
5
18
30
64
6,2%
3,5%
10,2%
15,1%
9,2%
-1,6
-2,6
0,5
3,4
34
14
43
24
115
19,1%
9,9%
24,4%
12,1%
16,6%
Korr. Residuen
1,1
-2,4
3,2
-2,0
Anzahl
11
3
10
4
28
6,2%
2,1%
5,7%
2,0%
4,0%
Korr. Residuen
1,7
-1,3
1,3
-1,7
Anzahl
43
41
35
16
135
24,2%
29,1%
19,9%
8,0%
19,5%
1,8
3,2
0,2
-4,8
7
36
31
81
155
3,9%
25,5%
17,6%
40,7%
22,3%
-6,8
1,0
-1,7
7,4
36
7
10
4
57
20,2%
5,0%
5,7%
2,0%
8,2%
Korr. Residuen
6,8
-1,6
-1,4
-3,8
Anzahl
30
26
16
20
92
16,9%
18,4%
9,1%
10,1%
13,3%
-1,6
modernisiertbürgerliches Modell
Anzahl
egalitärerwerbsbezogenes Modell
Anzahl
Alleinerziehendenhaushalt Einpersonenhaushalt
Rentnerhaushalt
Anzahl
Wohngemeinschaft
Anzahl
Sonstige Haushalte
Anteil Korr. Residuen
Anteil Korr. Residuen
Haushaltsmodell/Genderarrangement
Eppendorf
9
Anzahl
Anteil
Anteil
Anteil Korr. Residuen
Anteil Korr. Residuen
Gesamt
Hamm
6
traditionellbürgerliches Modell
Anteil
Anteil Korr. Residuen
1,6
2,0
-1,9
Anzahl
178
141
176
199
694
100%
100%
100%
100%
100%
Anteil Eigene Berechnungen
Insgesamt kann ein deutlicher Zusammenhang zwischen Wohnstandort und Haushaltstypen im Allgemeinen (c = 0,45), aber auch zwischen Wohnstandort und geschlechterkulturellen Arbeitsteilungsmodellen in Paar- und Familienhaushalten im Besonderen (c = 0,28) festgestellt werden. Hieraus lassen sich auch sekundäre Konsequenzen für die Gestaltung von Aktionsräumen ableiten (vgl. die Analyse der Bedeutung von Ortseffekten für die raum-zeitliche Alltagsorganisation in Kapitel 6.7).
321
ENTGRENZTE STADT
6.5.3 Aktionsräumliche Typen Der Konvergenzhypothese (K1) folgend ist von einem erhöhten raumzeitlichen Koordinationsaufwand bei Probanden auszugehen, die in Familien- oder Paarhaushalten leben und gemäß dem egalitär-erwerbsbezogenen Modell organisiert sind. Im Unterschied zu Haushalten, die eine starke geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufweisen, ist zu vermuten dass die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Freizeit besonders dann aufwendiger zu realisieren ist, wenn beide Partner in Vollzeit berufstätig sind, da die Übernahme von Leistungen für andere Haushaltsmitglieder symbiotischen Existenzverflechtungen gemäß nur in geringerem Umfang möglich ist. Dies sollte sich auch in der raumzeitlichen Alltagsorganisation widerspiegeln. Diesen Überlegungen folgend wird erwartet, dass Personen, die in Paar- oder Familienhaushalten leben, die nach dem egalitär-erwerbsbezogenen Modell organisiert sind, deutlich häufiger ein aktionsräumliches Verhalten gemäß dem Konvergenztypus aufweisen. Im Umkehrschluss sollten Männer, die in Paar- oder Familienhaushalten leben, die dem traditionell-bürgerlichen Modell folgend organisiert sind, deutlich häufiger dem Berufspendlertypus entsprechen. Für Frauen in Haushalten mit traditionell-bürgerlichem Geschlechterarrangement wird überproportional häufig ein Aktionsraum gemäß dem „hypermobilen Typ“ erwartet (hohe Wegezahl pro Tag ohne Wege zur Arbeit). Wie Abbildung 25 zeigt, können diese theoretischen Annahmen mit den erhobenen Daten nur teilweise bestätigt werden. So unterscheiden sich die Aktionsräume von Männern, die in Paar- und Familienhaushalten leben, nur unwesentlich in Abhängigkeit des gelebten Geschlechterarrangement-Modells. Männer, die in Haushalten leben, in denen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung den bürgerlichen Modellen folgend organisiert ist, weisen nicht häufiger einen Aktionsraum gemäß dem Berufspendlertyp (max. vier Wege am Tag, davon wenigstens ein Weg zur Arbeit) auf, als Männer die in Haushalten leben, die dem egalitär-erwerbsbezogenen Modell folgen. Umgekehrt ist sogar erkennbar, dass Männer, die in egalitär-erwerbsbezogenen Haushalten leben, weniger häufig einen erhöhten raum-zeitlichen Koordinationsaufwand zeigen, der am Konvergenztyp orientiert ist. Diese Befunde spiegeln sich in den Aktionsräumen der Frauen. Zwar haben Frauen in traditionell-bürgerlichen Geschlechterarrangements häufiger einen Aktionsraum vom Typus des „hypermobilen Typs“, der vermutete erhöhte raum-zeitliche Koordinationsaufwand bei Frauen mit einem egalitär-erwerbsbezogenen Geschlechterarrangement ist jedoch nicht zu erkennen. Die größten Koordinationsaufwendungen weisen 322
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Frauen auf, die in Paar- oder Familienhaushalten leben und teilzeitbeschäftigt sind (modernisiert-bürgerliches Modell). Einen noch größeren raum-zeitlichen Koordinationsaufwand haben nur noch (die zumeist ebenfalls weiblichen) Erziehungspersonen in einem Alleinerziehendenhaushalt. Abbildung 25: Aktionsräumliche Typen nach Haushaltstypen / Geschlechterarrangements 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Konvergenztyp
Hypermobiler Typ
Berufspendlertyp
wenig mobiler Typ
am Stichtag immobil
Ausschließlich Werktage wurden betrachtet. n = 424
Insgesamt kann festgestellt werden, dass in Paar- und Familienhaushalten die Männer weniger häufig einen überdurchschnittlichen raumzeitlichen Koordinationsaufwand aufweisen als die Frauen. Die Last der zunehmenden Konvergenz von Arbeit und Leben in der Spätmoderne scheint vor dem Hintergrund dieses Befundes ungleich auf die Geschlechter verteilt zu sein. Die Aktionsräume von männlichen bzw. weiblichen Einpersonenhaushalten sowie Probanden, die in Wohngemeinschaften leben, unterscheiden sich diesbezüglich kaum voneinander. Dies erstaunt auch nicht sonderlich, denn wo keine symbiotischen Existenzverflechtungen auf Haushaltsebene existieren, können auch kaum mobilitätsbezogene Unterstützungsleistungen erbracht oder in Empfang genommen werden.
323
ENTGRENZTE STADT
Auf die Mobilität von Rentnern, die im Vergleich zu den anderen Gruppen geringer ist, wurde bereits mehrfach hingewiesen. Zusammenfassend lässt sich zur Bedeutung verschiedener Haushaltsstrukturen sowie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Haushalten im Hinblick auf die Aktionsräume Folgendes festhalten: • Die unterschiedlichen geschlechterkulturellen Haushaltmodelle haben auf die Ausgestaltung von Aktionsräumen einen geringeren Einfluss als angenommen. Eine in der Spätmoderne festzustellende höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen führt damit nicht zwingend zu einer Zunahme des raum-zeitlichen Koordinationsaufwandes. • Frauen in Familien- und Paarhaushalten weisen vielmehr ganz generell und unabhängig vom gelebten Geschlechterarrangement einen höheren raum-zeitlichen Koordinationsaufwand auf als Männer, die in Familien- und Paarhaushalten leben. Frauen in Familien- und Paarhaushalten tragen damit die Hauptlast der zunehmenden Konvergenz von Arbeit und Leben in der Spätmoderne – und zwar unabhängig von ihrer Beteiligung an der Erwerbsarbeit. • Alleinerziehende haben den größten raum-zeitlichen Koordinationsaufwand von allen Befragten. • Die raum-zeitliche Alltagsgestaltung von Personen, die in Einpersonenhaushalten leben, ist unabhängig vom Geschlecht. Die Wohnstandortwahl und Haushaltsstruktur zeigen einen deutlichen Zusammenhang. Darüber hinaus besteht ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen geschlechterkulturellen Modellen in Familien- und Paarhaushalten sowie dem gewählten Wohnstandort. In urbanen Quartieren überwiegt das egalitär-erwerbsbezogene Modell, in suburbanen Quartieren dominieren hingegen die bürgerlichen Modelle.
6.6 Lebensstile und raum-zeitliche Alltagsorganisation Auf stadtstruktureller Ebene konnte bereits die zunehmende Bedeutung der Pluralisierung von Lebensstilen für Prozesse der sozialräumlichen Differenzierung in Hamburg nachgewiesen werden (vgl. Kapitel 4). In Kapitel 5 wurden zudem Querbezüge zwischen Aspekten der sozialräumlichen Strukturierung der Stadt auf der einen Seite und Tendenzen der Entgrenzung von Aktivitätszeiten auf der anderen Seite herausgestellt. Zu prüfen ist im folgenden Untersuchungsschritt, inwieweit sich die Pluralisierung der Lebensstile auch in einer Pluralisierung von Raumnutzungs- und Zeitverwendungsmustern spiegelt. 324
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Wenngleich bis dato keine eindeutige Klärung des komplexen Zusammenhangs von Lebensstil und Mobilität gelungen ist (vgl. Kapitel 2.1.3), sind Querbezüge zwischen diesen beiden Dimensionen aus theoretischen Erwägungen naheliegend. Auf diese Querbezüge wurde etwa im Kontext der Ausdifferenzierung der Arbeitsbeziehungen in der Spätmoderne und der Affinität zu alltagsästhetischen Schemata hingewiesen. So lassen sich insbesondere Parallelen der Symbole und Werte des Spannungsschemas (nach SCHULZE) zu den signifikanten Zeichen der „Kreativen Klasse“ herausarbeiten (vgl. Kapitel 2.2.2). Im Folgenden soll versucht werden, Lebensstile entlang von Präferenzmustern sowie durch expressive Merkmale der Alltagsgestaltung zu operationalisieren. Dies erfolgt im Rückgriff auf das Konzept der alltagsästhetischen Schemata nach SCHULZE (1992; vgl. hierzu Kapitel 2.1.3). Alltagsästhetische Schemata sind als normative Bezugssysteme zu deuten, die durch spezifische Präferenzstrukturen der Individuen zum Ausdruck kommen. Die Messung der alltagsästhetischen Schemata erfolgt daher durch relevante Zeichengruppen, die sich im expressiven Alltagshandeln der Individuen spiegeln. Angenommen wird, dass sich Lebensstilgruppen anhand ihrer Nähe bzw. Distanz zu den relevanten alltagsästhetischen Schemata unterscheiden lassen. Für das empirische Vorgehen zur Entdeckung von Lebensstilgruppen wurden Merkmale der Stilisierung (Freizeitaktivitäten und Präferenzmuster) als zentrale Größe betrachtet und im Fragebogen erhoben: Im Wesentlichen handelt es sich um die Nutzung kultureller Angebote, Präferenzen hinsichtlich des Fernsehkonsums, Wünsche für die ideale Wohnumgebung sowie Ausstattungsmerkmale der eigenen Wohnung. Ohne Zweifel ist dies insofern ein reduktionistisches Vorgehen, als Werthaltungen sowie Lebensziele – beides bedeutende Größen in verschiedenen anderen Lebensstilstudien (vgl. etwa GLUCHOWSKI 1987 oder VESTER 1993) – nicht in die Untersuchung einfließen. Dieses Forschungsdesign wurde aber bewusst so gewählt, da hierdurch die stärker mit dem praktischen Alltagsleben verbundenen Aspekte des Lebensstils betont werden (Konzentration auf die Handlungsroutinen); ein Vorgehen, das unter Betrachtung der Fragestellung angemessen erscheint. Anlehnend an wegweisende Studien in der Lebensstilforschung (vgl. Kapitel 2.1.3) wurden für die vorliegende Untersuchung unter den erhobenen Lebensstil-Variablen diejenigen extrahiert, die sich als hinreichend trennscharf erwiesen. 19 Im Unterschied zu einer Lebensstil19 Hierzu wurden im Vorfeld diverse uni- sowie bivariate Analysen durchgeführt. Im Rahmen der Faktorenanalyse wurde das KMO-Kriterium angewendet, das die Eignung der Stichprobe für dieses Verfahren misst. Das 325
ENTGRENZTE STADT
Untersuchung, die vom Autor in Köln durchgeführt wurde (vgl. POHL 2003), konnten Ausstattungsmerkmale der Wohnung in der vorliegenden Untersuchung in Hamburg nicht zur Erklärung alltagsästhetischer Schemata beitragen, da sie kaum einen Zusammenhang zu den übrigen Indikatoren aufwiesen. 20 Zur Reproduktion der alltagsästhetischen Schemata wurden folgende zehn Variablen verwendet, zu denen die Probanden ihre jeweiligen Präferenzen auf einer fünfstufigen Likert-Skala verzeichneten: • Häufigkeit des Besuchs von Rock- und Popkonzerten • Häufigkeit des Besuchs von Musicals • Vorliebe bzw. Abneigung Rock- und Popmusik • Vorliebe bzw. Abneigung von Dokumentarfilmen im Fernsehen • Vorliebe bzw. Abneigung für Vorabendserien • Vorliebe bzw. Abneigung für volkstümliche Unterhaltung • Vorliebe bzw. Abneigung für Shows bzw. Gameshows im Fernsehen • Vorliebe bzw. Abneigung für Actionfilme • Interesse für Nachrichten und Politik • Erwünschte Nähe der Wohnumgebung zum „Nightlife“ Mittels einer Varimax-rotierten Faktorenanalyse konnten diese Variablen zu drei Dimensionen verdichtet werden, in denen die drei von SCHULZE (1992) benannten alltagsästhetischen Schemata zum Ausdruck kommen (vgl. Tabelle 14). Auch 15 Jahre nach der Veröffentlichung der „Erlebnisgesellschaft“ scheinen die drei alltagsästhetischen Schemata noch weitgehend persistent zu sein, sodass sie faktoranalytisch reproduzierbar sind. Jeder Proband weist zu jeder der drei Dimensionen einen bestimmten Grad der Affinität auf (Zu- oder Abneigung); Gruppen von Personen mit einem ähnlichen Affinitätsmuster können zu kohärenten Lebensstilgruppen (operationalisiert durch Präferenzmuster) zusammengefasst werden. Die drei derart gebildeten Dimensionen sind aufgrund des gewählten Verfahrens der Varimax-Rotation linear unabhängig und eignen sich daher für die Bildung von Lebensstilgruppen mittels einer Clusteranalyse. Gesamt-KMO der durchgeführten Analyse liegt bei 0,62, was (nur) als mittelmäßige Eignung zu bewerten ist. Aus inhaltlichen Erwägungen (Reproduktion der drei alltagsästhetischen Schemata) wurde diese Güte für die durchgeführte Analyse als hinreichend angesehen. Es ist jedoch offensichtlich, dass weitere Indikatoren, die auf das Hochkulturschema verweisen, die Modellgüte deutlich verbessert hätten. 20 Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass die symbolischen Bezüge der Wohnungsausstattung gegenwärtig eine Neuzuschreibung erfahren. 326
RAUM-ZEITLICHE ORGANISATION DES ALLTAGS
Tabelle 14: Alltagsästhetische Schemata/Hauptkomponentenanalyse Trivialschema Vorliebe bzw. Abneigung für Shows bzw. Gameshows
+0,81
Vorliebe bzw. Abneigung für Vorabendserien
+0,65
Vorliebe bzw. Abneigung für volkstümliche Unterhaltung
+0,65
Häufigkeit des Besuchs von Musicals
+0,34
Häufigkeit des Besuchs von Rock- und Popkonzerten
Spannungsschema
-0,35
+0,73
Vorliebe bzw. Abneigung Rock- und Popmusik
+0,30
+0,67
Vorliebe bzw. Abneigung für Actionfilme
+0,37
+0,55
Erwünschte Nähe der Wohnumgebung zum „Nightlife“
Hochkulturschema
+0,54
Interesse für Nachrichten und Politik
+0,86
Vorliebe bzw. Abneigung von Dokumentarfilmen im Fernsehen
+0,82
Faktorladungen