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German Pages 394 Year 2014
Antje Matern Mehrwert Metropolregion
Urban Studies
Antje Matern (Dr. rer. pol.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-Doc) im Bereich Raum- und Infrastrukturplanung an der Technischen Universität Darmstadt. Sie forscht u.a. im DFG-Projekt »Wege zur nachhaltigen Entwicklung von Städten, Teilprojekt Infrastrukturen« zu städtischen Infrastrukturregimen im Spannungsfeld zwischen übergreifenden Sektorstrukturen und stadtspezifischen Eigenlogiken. Zudem ist sie Gesellschafterin von Nexthamburg, übernahm Gutachtertätigkeiten für die transnationale Zusammenarbeit und war in der niedersächsischen Landesplanung für die europäische und regionale Zusammenarbeit zuständig.
Antje Matern
Mehrwert Metropolregion Stadt-Land-Partnerschaften und Praktiken der Raumkonstruktion in der Metropolregion Hamburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Abbildungsverzeichnis | 8 Tabellenverzeichnis | 10 Abkürzungsverzeichnis | 11 Vorwort | 15
1
Stadt-Land-Zusammenarbeit in Metropolregionen | 19
1.1 1.2 1.3 1.4
Phänomen Metropolregionen | 19 Forschungsfrage | 25 Metropolregion Hamburg: Vorgehensweise | 27 Aufbau des Buches | 29
2
Regionsbildung in gesellschaftlichen Räumen | 31 Raum zwischen Alltags- und Wissenschaftsverständnis | 31 Objektivierende Raumkonzepte | 34 Subjektivierende Raumkonzepte | 39 Gesellschaftliche Raumkonzepte | 43 Konstruktion gesellschaftlicher Räume | 46
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
3
Stadt-Land-Zusammenarbeit in der Raumentwicklung | 51
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Stadt-Land-Beziehungen im historischen Rückblick | 52 Von ländlich zu peripher. Definitionsansätze | 60 Stadt-Land-Beziehungen in raumplanerischen Konzepten | 64 Zentralisierung und Peripherisierung | 75 Stadt-Land-Partnerschaften in der neuen Kohäsionspolitik | 79
4
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Konzept der Metropolregionen | 89 Metropolregionen: eine semantische Annäherung | 90 Metropolregionen als Standorträume | 95 Metropolregionen als normative Leitvorstellungen | 100 Metropolregionen als Handlungsräume | 105 Handlungsmuster in Metropolregionen | 111 Zwischenfazit aus der Analyse der Metropolregionen | 120
5 5.1 5.2 5.3 5.4
PerspektiveMehrwert | 123 Theoretische Vorüberlegungen zu Spezifika d. Metropolregionen | 123 Mehrwert der Metropolregionen für territoriale Kohäsion | 143 Thesen für Mehrwerte und Hindernisse der Raumproduktion | 148 Zwischenfazit zu akteursbezogenen Mehrwertoptionen | 155
6
Vorgehen in der Fallstudie Metropolregion Hamburg | 161
6.1 Untersuchungsgegenstand Metropolregion Hamburg | 161 6.2 Methodik der Untersuchung | 164 6.3 Vorgehensweise | 165
Metropolregion Hamburg: Standortraum | 171 7.1 Einordnung der Metropolregion Hamburg | 172 7.2 Strukturdaten ausgewählter Untersuchungsräume | 179 7.3 Zwischenfazit der Raumanalyse Standortraum | 196
7
8
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
Metropolregion Hamburg: Handlungsraum | 197 Institutionenbildung | 198 Identitätsproduktion m. Kommunikation in Leitbildprozessen | 205 Regionalentwicklung durch Projektarbeit | 211 Identitätsstiftende Gemeinschaftsprojekte | 217 Bildproduktion und diskursive Raumaushandlung | 225 Zwischenfazit zur Raumanalyse Handlungsraum | 233
9
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
Metropolregion Hamburg: Bewertung durch Akteure | 237 Meinungsbild der Landräte peripherer Teilräume | 237 Einschätzung zur Metropolregion Hamburg als Standortraum | 239 Handlungsmuster der regionalen Akteure in der Metropolregion | 246 Mehrwerte der Zusammenarbeit aus Sicht der Akteure | 257 Hindernisse der Zusammenarbeit aus Sicht der Akteure | 278
10 Metropolregion Hamburg: Fazit der Empirie | 299 10.1 Metropolregion als Spiegel der Metropolregionsdiskurse | 300 10.2 Metropolregion als Handlungsraum | 307 10.3 Akteurskonstellationen | 312 10.4 Wahrnehmung von Mehrwerten | 315
11 Fazit und Schlussfolgerungen | 319 11.1 Zwischen Metropole und Verantwortungsgemeinschaft
| 319 11.2 Vom Handlungsraum Metropolregion zum Mehrwert | 327 11.3 Raumproduktionen in der Metropolregion Hamburg | 332 11.4 Erklärungsansätze zu Raumproduktionen in Metropolregionen | 344 11.5 Schlussfolgerungen | 349
Literatur | 359
Anhang | 389
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Werbekampagne Buxtehude | 16 Abbildung 2: Matrixraum | 45 Abbildung 3: Europäische Metropolregionen in Deutschland 2013 | 102 Abbildung 4: Elemente des akteurszentrierten Institutionalismus | 108 Abbildung 5: Mehrwerte von Metropolregionen für beteiligte Akteure | 148 Abbildung 6: Hindernisse von Metropolregionen für beteiligte Akteure | 154 Abbildung 7: Thesen zur empirischen Untersuchung MRH | 162 Abbildung 8: Vorgehensweise bei der empirischen Untersuchung | 166 Abbildung 9: Raumzuschnitt der MRH 2009 | 171 Abbildung 10: Organigramm der Gremien der MRH 2008 | 174 Abbildung 11: Metropolfunktionen in Städten 2004 | 178 Abbildung 12: Bevölkerungsprognose 2006 bis 2025 nach Kreisen 2008 | 180 Abbildung 13: Einpendler aus den Kreisen der Metropolregion | 183 Abbildung 14: Wirtschaftsraum Brunsbüttel | 190 Abbildung 15: Wendland im Widerstand gegen die Atomkraft | 193 Abbildung 16: Regionale Leitprojekte der MRH im Jahr 1997 und 2000 | 212 Abbildung 17: Förderungen der bilateralen Förderfonds 1998 | 213 Abbildung 18: Schwebefähre Oste | 216 Abbildung 19: Neugestaltung von Freiflächen | 217 Abbildung 20: Informationszentrum Maritime Landschaft Unterelbe | 219 Abbildung 21: Kulturlandschaft Lüneburger Heide | 226 Abbildung 22: Hafenkonzept Unterelbe | 231 Abbildung 23: Zwischen Landwirtschaft und Energieerzeugung | 243 Abbildung 24: Seehundstation Friedrichskoog | 254 Abbildung 25: Mehrwerte der MRH aus Sicht der befragten Akteure | 276 Abbildung 26: Hindernisse der MRH aus Sicht der befragten Akteure | 297
Abbildung 27: Rolle und Erwartungen aus Sicht peripherer Akteure | 311 Abbildung 28: Charakteristiken der Metropolregion als Handlungsraum | 324 Abbildung 29: Potenzielle Mehrwerte von Metropolregionen für Akteure | 330 Abbildung 30: Handlungspraktik Projektumsetzung in der MRH | 336 Abbildung 31: Bildsprache und Symbolproduktion in der MRH | 338 Abbildung 32: Überblick über die zentralen Forschungsergebnisse | 354 (Quellennachweise der Kartendarstellungen im Anhang)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Gegenüberstellung staatlicher Ausgleichspolitik und Verantwortungsgemeinschaften | 84 Tabelle 2: Säulen regionaler Kohäsionsstrategien | 86 Tabelle 3: Kopplung und Handlungsorientierung regionaler Kooperation | 110 Tabelle 4: Strukturdaten der Metropolregion Hamburg 2009 | 172 Tabelle 5: Darstellung der Metropolfunktionen in der MRH | 177 Tabelle 6: Übersicht der Entwicklungsgeschiche der MRH | 201 Tabelle 7: Darstellung der Handlungsmuster der Akteure der MRH | 257 Tabelle 8: Handlungsformen der Akteure der MRH | 341
Abkürzungsverzeichnis
Abb. AG ARGE ARL BAB BBR BBSR BMVBS BIP BSP BSU bzw. ca. d.h. EUR e.V. ebd. EFRE EG et. al. etc. EU EW EXPANSION f / ff FAG FHH
Abbildung Aktiengesellschaft Arbeitsgemeinschaft (Hamburger Randkreise) Akademie für Raumforschung und Landesplanung Autobahn Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Bruttoinlandsprodukt Bruttosozialprodukt Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt beziehungsweise circa das heißt Euro eingetragener Verein ebenda Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung Europäische Gemeinschaft lateinisch für: und andere ecetera Europäische Union Einwohner Gewerbeimmobilien-Messe in der Metropolregion Hamburg folgende / und folgende Facharbeitsgruppe Freie und Hansestadt Hamburg
GA/GRW GDI GEFIS ggf. GmbH ha HCU HMG HVV HWK IHK IKM IBA IT Kap. KEK K.E.R.N. KLIMZUG km² LA LK METREX Mio. MIV MKRO MLU MORO MR MRH MUSIS MV NDS/nds. NGO NSG ÖPNV P+R RAG REK ROB RV
Bund-Länder Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ Geodateninfrastruktur Gewerbflächen-Informationssystem gegebenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung Hektar HafenCity Universität Hamburg Marketing GmbH Hamburger Verkehrsverbund Handwerkskammer Industrie- und Handelskammer Initiativkreis Europäische Metropolregionen in Deutschland Internationale Bauausstellung Informationstechnologie Kapitel Kreisentwicklungskonzept Technologieregion Kiel Eckernförde Rendsburg Neumünster Akronym für das BMBF Projekt Klimaanpassung in Regionen Quadratkilometer Lenkungsausschuss Landkreis Network of European Metropolitan Regions and Areas Millionen Motorisierter Individualverkehr Ministerkonferenz für Raumordnung Maritime Landschaft Unterelbe Modellvorhaben der Raumordnung Metropolregion Metropolregion Hamburg Multifunktionales-Standort-Informations-System Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen/ niedersächsisch Nicht-Regierungsorganisation Naturschutzgebiet Öffentlicher Personennahverkehr Park und Ride Regionale Arbeitsgemeinschaft Regionales Entwicklungskonzept Raumordnungsbericht Regierungsvertretung
SH SPNV t TU UAG vgl. WiFö z.B. %
Schleswig-Holstein/ schleswig-holsteinisch Schienenpersonennahverkehr Tonnen Technische Universität Unterarbeitsgruppe vergleiche Wirtschaftsförderung zum Beispiel Prozent
Vorwort
Dieses Buch erzählt die Geschichte regionaler Zusammenarbeit in einer norddeutschen Metropolregion und nimmt dafür einen Seitenpfad: Nicht die Entwicklungsgeschichte von der gemeinsamen Landesplanung bis zur wirtschaftsorientierten Zusammenarbeit wird erzählt, sondern ich spreche über Akteure, ihr Engagement, Motivationen und ihre Sichtweisen, durch die diese Zusammenarbeit entwickelt und fortgeschrieben wird. Dafür habe ich mich der Metropolregion über ihre ländlichen und peripheren Räume genähert: Während vorangegangener Forschungsprojekte zu Schrumpfungsräumen in Sachsen habe ich immer wieder gefragt, ob eine Kooperation mit einem Wachstumszentrum für Akteure peripherer Teilräume attraktiver ist als eine Zusammenarbeit, in der es nichts zu verteilen gibt. Die Geschichte ist eng mit dem Aufstieg von Metropolregionen in der deutschen Raumordnung verknüpft. Das raumplanerische Konzept reagierte auf den als wachsend empfundenen internationalen Wettbewerbsdruck zwischen Städten und Regionen um Personen, Unternehmen und Kapitalinvestitionen und lehnt sich an Debatten von Global Cities und World Cities an. Metropolregion ist ein Inbegriff dessen, was als großstädtische Qualität und erfolgreiches Agieren auf internationalem Parkett bezeichnet werden kann. Die Qualitäten von Urbanität, Dichte und Vielfalt gibt es nicht nur in Paris, New York oder Tokio, sondern gleich hier in direkter Nachbarschaft! Mit Akteuren, die man kennt und wo man dazugehören kann. Ein angenehm irritierendes Versprechen. Buxtehude hat es mit einer bezaubernden Werbekampagne in den 1980er Jahren vorweg genommen, was ein Jahrzehnt später für weite Teile norddeutscher Städte und Gemeinden Realität wurde – sie ordnete sich in die Metropolen dieser Welt ein. Hat Buxtehude auch deshalb 2007 den S-Bahn-Anschluss bekommen, während das innerstädtische Steilshoop bis heute auf die Stadt- oder U-Bahn wartet? Und was hat Cuxhaven davon in einer Metropolregion zu sein? Soll Hamburg Dithmarschen adoptieren oder wo liegen die Potenziale einer großräumigen Regionsbildung? Eine schnelle Einordnung von gemeinschaftlichem Handeln und dessen Ergebnissen in „nützlich“ (Mehrwert) oder „überflüssig“ wird durch die Vielfalt individueller Anliegen unmöglich. Auch lassen sich keine heißen Konflikte analysieren und keine klaren Störenfriede und Helden benennen. Jedoch erscheint die Analyse umso vielversprechender, was den Ausblick auf die gesellschaftliche Entwicklung angeht. Erzählt wird nämlich die Geschichte wechselseitigen Ausbalancierens und Aushandelns von Interessen – und deren Mühen.
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Allerdings bleibt die Skepsis bestehen, ob es sich nicht bei dem einen oder anderen um einen ironischen Umgang mit Planungsideen und Visionen handelt. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, die Frage zu beantworten wie weit eine Metropolregion reichen oder welche Sichtweisen und Anliegen als planerisch sinnvoll gelten sollten. Aus planerischer Sicht kann diese fehlende normative Festlegung Unbehagen auslösen, aber für das Verstehen der Ausprägung der Stadt-Land-Partnerschaften in der Metropolregion eröffnete die deskriptive Perspektive aussichtsvolle Einblicke. Eingefangen werden damit Alltagsbilder großräumiger Zusammenarbeit, die ebenso vorsichtige Unterstützer, Pragmatiker und Skeptiker zu Wort kommen lassen wie Visionäre und Strategen. Abbildung 1: Werbekampagne Buxtehude
(Foto: Weinhold 2013)
Viele Akteurinnen und Akteure haben mir ihre Sichtweisen, Erwartungen und Informationen zur Verfügung gestellt und dafür möchte ich ihnen herzlich danken. Ich entschuldige mich bei denen, die nicht zu Wort gekommen sind oder deren Aussagen gekürzt wurden. Zugleich bitte ich meine Interviewpartnerinnen und Leserinnen um Nachsicht, dass ich im Text nur die männliche Form verwende wenngleich alle Geschlechter gemeint sind. Ich habe mich dafür entschieden, da die deutliche Mehrheit der Interviewpartner und der Akteure in der Regionalentwicklung (immer noch) männlich ist.
Die vorliegende Arbeit ist während meiner Tätigkeit im Bereich Stadtplanung an der Technischen Universität Hamburg-Harburg und der Hafencity Universität Hamburg entstanden. Der Freien und Hansestadt Hamburg und Hafencity Universität sei für die Stipendien und die Rahmenbedingungen des HCU-Promotions– kollegs gedankt. Sie ermöglichten, mich in der Abschlussphase auf die Promotion zu konzentrieren und boten einen hilfreichen Rahmen für die Anfertigung der Dissertation. Meinem Betreuer Prof. Dr.Ing. Jörg Knieling möchte ich für die Unterstützung bei der Themenwahl, die Begleitung im Bearbeitungsprozess und die Ermunterung zur Fertigstellung der Arbeit danken. Seine guten Kontakte in die Metropolregion und die Mitwirkung an Forschungsprojekten haben mir den Zugang zu
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wichtigen Personen ermöglicht und gute Einblicke gewährt. Darüber hinaus bot mir der ARL-Arbeitskreis „Metropolregionen“ einen weiten Überblick über die Theoriedebatten über Metropolregionen. Zudem danke ich meinem Zweitgutachter Prof. Dr. habil. Thorsten Wiechmann, meiner Mentorin Prof. Dr. Lise Herslund und Prof. Dr. Ingrid Breckner (als Vorsitzende der Prüfungskomission) für die wertvollen Hinweise und Anregungen zu meinem Thema. Ein herzliches Dankeschön, ich hätte die Gelegenheit zum Austausch öfter nutzen sollen! Ein großer Dank gilt auch zahlreichen Kolleginnen und Kollegen sowie den Beteiligten des Europäischen Jungen Forum (ARL) für die vielfältigen Anregungen und kritischen Kommentare. Die Erstellung der Dissertation war eine ereignisreiche Zeit und ich danke all jenen, die an mich und den Abschluss der Dissertation geglaubt und großes Verständnis für mein enges Zeitbudget aufgebracht haben. Mein ganz besonderer Dank gilt Sabine v. Löwis, Lena Dammann, Jan Gehrken, Tanja Gohrbandt, Andreas Obersteg und Stefanie Maeck, die mich in der Endphase tapfer aus jeder Krise geholt oder für vergnügliche Ablenkungen gesorgt haben. Ein herzliches Dankeschön geht auch an meine einfühlsamen Lektoren Sabine v. Löwis, Andreas Obersteg, Andreas Otto, Markus Beier, Thomas Zimmermann und meine Eltern. Zugleich danke ich Julian Petrin und Jörn Weinhold für die richtige Unterstützung in einer kritischen Phase sowie Annette Buschermöhle und Heino Wenig für die grafische Unterstützung beim Feinschliff des Layouts. Nicht zuletzt möchte ich meinen Eltern und meiner Schwester danken, die mich ermutigt haben meinen Weg zu gehen. Frankfurt/M. Sommer 2013
1 Stadt-Land-Zusammenarbeit in Metropolregionen
Die Vernetzung von Akteuren und Teilräumen in Form einer Regional Governance ist in der Raumordnung eine wesentliche Strategie zur Bewältigung von Regionalentwicklungsaufgaben geworden. Im Standortwettbewerb der Regionen in sich globalisierenden Wirtschafts- und Gesellschaftsvernetzungen scheint die Bündelung der gemeinsamen Stärken eine wichtige Voraussetzung für die regionale Leistungsfähigkeit. Die Raumordnung hat auf diese wahrgenommene Anforderung mit der Festlegung von Metropolregionen reagiert, die zunehmend auch Entwicklungsaufgaben für periphere Teilräume übernehmen sollen. Im Rahmen der Promotion wird anhand der Fallstudie Metropolregion Hamburg (MRH) der Frage nachgegangen werden, inwiefern großräumige Metropolregionen Mehrwerte für Akteure der ländlichen, peripheren Teilräume erzeugen und ob dadurch zum Ausgleich der Disparitäten beigetragen werden kann. Dafür werden die bestehenden Zusammenarbeitsstrukturen der MRH analysiert und mittels Befragung von regionalen Akteuren die bisherigen Kooperationsergebnisse sowie ihre Entwicklungsperspektiven eingeschätzt.
1.1 P HÄNOMEN M ETROPOLREGIONEN Die Raumentwicklungspolitik in Europa und in Deutschland zielt traditionell auf den Ausgleich von sozialen und räumlichen Entwicklungsunterschieden zwischen Teilräumen. Dabei ist sie gegenwärtig verschiedenen Herausforderungen konfrontiert (z.B. dem demographischen Wandel, Globalisierungstendenzen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie einem Steuerungsverlust des Staates), die neue Anforde– rungen an die Planung stellen und zu Veränderungen der Raumstrukturen führen. In den raumplanerischen Diskursen wurde in den vergangenen Jahren eine weltweit stattfindende Renaissance der (Groß-) Städte (Global Cities Debatte, vgl. Sassen 1991) konstatiert. Neben Größen- und Agglomerationsvorteilen (vgl. neue
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Agglomerationstheorie, New Economic Geography, z.B. Bathelt, Glückler 2002; Sternberg 2001) bieten die Großstädte Nähevorteile, die in der Wissensökonomie entscheidende Standortvorteile versprechen und damit die Grundlage für ihre Innovationskraft und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit liefern.1 Die bundesdeutsche Raumentwicklungspolitik reagierte Mitte der 1990er Jahre mit der Festlegung von Metropolregionen, die in der Planungspraxis wie in der raumwissenschaftlichen Diskussion eine hohe Resonanz verzeichnete (BMBau 1996; Aring 2009, Wiechmann 2009, Schmitt 2008). Metropolregionen in der deutschen Raumordnung Metropolregionen sind ein unklar definiertes Konzept, das (im europäischen Kontext) meist synonym für Ballungsräumen und Großstadtregionen verwendet wird, ohne dass eine weitere Differenzierung stattfindet. Grundsätzlich können Metropolregionen (bzw. metropolitane Räume) aus analytischer Sicht und Metropolregionen im normativen Verständnis (im Sinne eines raumplanerischen Instruments) unterschieden werden. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich seit 1995 der funktional definierte Begriff ‚Metropolregion’ durchgesetzt (Blotevogel, Danielzyk 2008). Die Metropolregion ist demnach definiert als „Standort („Cluster“) von metropolitanen Einrichtungen, die großräumig wirksame Steuerungs-, Innovations- und Dienstleistungsfunktionen ausüben.“ (Blotevogel 2005: 642). Diese Infrastrukturen lassen sich den vier Funktionsbereichen Entscheidungs- und Kontrollfunktion, Innovations- und Wettbewerbsfunktion, Gatewayfunktion und Symbolfunktion zuordnen (Blotevogel 2005; Blotevogel, Danielzyk 2008). Durch diese Offenheit der Definition, was Metropolregionen sind und welche Aufgaben damit verknüpft sind, hatten sie von Anbeginn eine andere Bedeutung als Zentrale Orte oder verschiedene weitere (formale) raumplanerische Konzepte. Seitens der Raumordnung wurde nur eine vage Zielvorstellung formuliert, die keine weiteren Vorgaben zur Ausgestaltung des Konzepts trifft: Als Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung sollen sie die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands und Europas erhalten (BMBau 1995). Metropolregionen wurde in den Leitbildern zur Raumentwicklung in Deutschland (BBR; BMVBS 2006) eine zentrale Rolle im Leitbild 1 „Wachstum und Innovation“ zugewiesen. Sie übernehmen eine Doppelfunktion für die Raumentwicklung: einerseits sollen sie Wachstumsbündnisse bilden, die durch Bündelung ihrer regionalen Kräfte ihre Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Standortwettbewerb verbessern. Andererseits sind sie Teil einer Verantwortungsgemein1
Der Zugang zu Menschen, Märkten und insbesondere Wissen (besonders dem nichtkodifzierten Wissen) spielt eine wichtige Rolle. Großstädten wird die Funktion als Knoten im Netz der globalen Ströme zugewiesen (vgl. Fujita et al 1999, Castells 2004).
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schaft, die schwächere Teilräume in der Regionalentwicklung unterstützen sollen, um damit ein nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen (Sinz 2007). Entwicklungsperspektiven nicht-metropolitaner Räume Das Konzept der Metropolregionen fordert die Frage nach den Entwicklungsaussichten von nicht-metropolitanen Räumen heraus. Denn die Dynamik der Wachstumsräume ist gegenwärtig relativ unabhängig von den Entwicklungen in den peripheren bzw. den sie umgebenden (ländlich strukturierten) Räumen. Dadurch verteilen sich Investitionen, Produktivitäten und Beschäftigung im Raum sehr ungleich und können die Herausbildung von Gewinner- und Verliererregionen verstärken (vgl. Kap. 1, Keim 2006). Mit diesen Befürchtungen einer unausgewogenen Raumentwicklung treten eine Reihe von Fragestellungen der raumplanerischen Steuerung in den Blickpunkt, die sowohl soziale Aspekte der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen und der Chancengleichheit der Bevölkerung in den unterschiedlichen Teilräumen Deutschlands ansprechen als auch die ökologische Nachhaltigkeit der Entwicklung (z.B. Ballungsnachteile in Agglomerationen und Verlust von Kulturlandschaft) betreffen. So stellt sich vor dem normativen Anspruch einer nachhaltigen Raumentwicklung die Frage, wie unter den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen qualitatives Wachstum auch in Teilräume jenseits der Metropolregionen getragen und nachteilige Umverteilungsprozesse aufgehalten werden können. Eine Antwort ist das raumordnerische Konzept der großräumigen Verantwortungsgemeinschaften, das durch den Aufbau von überregionalen Partnerschaften zwischen wachstumsstarken und strukturschwächeren Teilräumen oder Metropolen und peripheren Räumen darauf zielt, Entwicklungsimpulse in alle Teilräume zu tragen. Verantwortungsgemeinschaften sollen als ‚Bottom-up’-Prozess initiiert werden und in Form einer freiwilligen und gleichberechtigten Partnerschaft der Akteure unterschiedlicher Teilräume ausgestaltet sein, die einseitige Abhängigkeiten strukturschwacher Regionen von wirtschaftsstarken Partnern ausschließt. Anlass zur Zusammenarbeit soll die Wahrnehmung einer gemeinsamen Verantwortung für den Raum bieten. Das Konzept der Verantwortungsgemeinschaft versucht den Spagat zwischen Wachstum und Ausgleich durch den Aufbau von regionalen Governancestrukturen zwischen Metropolregionen und strukturschwachen Teilräumen (vgl. Kap.1). Allerdings ist die Tragfähigkeit dieses Konzeptes der gegenseitigen Solidarität und Entwicklungsförderung bisher wenig erprobt und erforscht.
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Metropolregionen als Handlungsräume Seit Mitte der 1990er Jahre haben sich Metropolregionen als großräumige Kooperationsformen in deutschen Großstadtregionen entwickelt, die – trotz großer Offenheit des Konzeptes der Metropolregionen – spezifische Strukturen ausbilden und sich dadurch von Stadt-Umland-Regionen unterscheiden (vgl. Kap. 3.2). In ihren raumstrukturellen Ausprägungen weisen sie teils Parallelen zum Konzept der Verantwortungsgemeinschaft auf, so dass sie sich eignen, um Stadt-Land-Partnerschaften in Metropolregionen auf ihre Potenziale für die Regionalentwicklung und ihren Beitrag zu Anliegen der territorialen Kohäsion hin zu untersuchen. Metropolregionen sind hinsichtlich ihrer Organisation durch eine Vielzahl von Akteuren, Institutionen und Netzwerken geprägt. Der Konzeptionierung der Steuerungsstrukturen widmen sich vor allem Theorieansätze des Metropolitan oder Regional Governance. Mit der neuen Aufmerksamkeit der Regionen als Handlungsraum (von Stadt-Umland-Regionen der 1990er Jahre bis zu den Metropol- oder Makroregionen der europäischen Raumentwicklung) erleben auch Forschungsansätze der Analyse und regionaler Organisations- und Steuerungsformen eine neue Beachtung. Für die 1990er Jahren kann eine Renaissance an Reformansätzen interkommunaler2 und regionaler3 Zusammenarbeit konstatiert werden. Die informellen Planungsansätze etablierten sich neben dem formalen planerischen Instrumentarium und der planerische Fokus wurde verstärkt auf die Entwicklungsaufgaben gerichtet (Fürst 2001; Danielzyk 1999; Heinz 1998; Beermann et al. 2002). Seit Ende der 1990er Jahre wird die Diskussion über regionale Zusammenarbeit unter dem Begriff „Regional Governance“ geführt. Mit dem Ziel der Stärkung der regionalen Handlungsfähigkeit richtet sich der Blick auf Steuerungsstrukturen, die auf die Kooperation von staatlichen und privaten Akteuren zielen und in denen kooperative 2
Interkommunale Kooperation wird verstanden als die Zusammenarbeit, die zwischen Gebietskörperschaften bzw. räumlich-gebundenen Akteuren stattfindet (Fürst, Knieling 2005: 531). Interkommunale Kooperation ist eng mit der Suche nach Interessensausgleich, regionalem Konsens und Intensivierung der Kontakte zwischen den Kommunen verbunden, z.B. um Kirchturmdenken zu überwinden. Die Begriffe interkommunale und regionale Kooperation werden häufig synonym verwendet, doch haben sich seit Mitte der 1990er Jahre die Kooperationsformen deutlich differenziert, so dass eine definitorische Unterscheidung sinnvoll ist (Danielzyk 1999; Maier 1995).
3
Regionale Kooperation bezeichnet Zusammenarbeitsformen in räumlich größeren Einheiten, meist auf der Ebene von Landkreisen. Zudem schließt der Begriff der regionalen Kooperation (im Gegensatz zur interkommunalen Kooperation) neben räumlich gebundenen Akteuren auch funktional gebundene Akteure in die Kooperation ein. Diese funktional gebundenen Akteure sind beispielsweise gesellschaftliche Interessenvertreter oder Fachexperten der Verwaltung (Fürst, Knieling 2005; Danielzyk 1999).
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Elemente hierarchische Regulation und Politikwettbewerb ergänzen (vgl. Schuppert 2005). Dieser Paradigmenwechsel zu kooperativen, aktivierenden und verhandelnden Steuerungsformen ergänzt die klassische (hierarchisch-organisierte) formale Planung. Erklärungsmuster zielen einerseits auf neue Anforderungen der Steuerung durch veränderte Rahmenbedingungen, wie z.B. dem Steuerungsverlust des Nationalstaates infolge gesellschaftlicher Veränderungen (vgl. EU-Einigungsprozess und Regionalisierungstendenzen im Zuge der Globalisierung; vgl. Fürst 2002, Blatter 2005, Diller 2004). Anderseits erscheint eine umfassende Verbesserung der Steuerungsleistung innerhalb der hierarchischen und sektoral-organisierten Strukturen bei Betrachtung der Defizite der klassischen planerischen Steuerungsinstrumente (z.B. mangelnde Umsetzungsorientierung, Starrheit und Langwierigkeit der Verfahren, hohe Kosten bei der Durchsetzung hierarchischer Entscheidungen) nicht lösbar. Definition und Forschungslücken in der Governance-Forschung Regional Governance4 kennzeichnet Steuerungs- und Koordinationsformen in auf mittlerer räumlicher Ebene (Benz 2005:405). Es beruht auf Kommunikations- und Austauschbeziehungen zwischen Akteuren, die sich innerhalb institutioneller Rahmensetzung herausbilden (Fürst 2003; Benz 2005). Mayntz (2003: 72) definiert Governance als „Gesamtheit aller nebeneinander bestehenden Formen kollektiver Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte“. Dies schließt institutionalisierte zivilgesellschaftliche Selbstregelung, verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure und hoheitliches Handeln staatlicher Akteure ein (vgl. Mayntz 2004; Pütz 2004). Diese Verständnisform der Regional Governance richtet den Blick auf akteurszentrierte Steuerungsformen und auf deren institutionelle Einbindung sowie den Rahmenbedingungen des Akteurshandeln. Gegenstand bildet die Koordination des Handelns von Akteuren innerhalb von Regelungsstrukturen (Schuppert 2005; Benz, Fürst 2003; Benz 2001). Regional Governance bietet einen Orientierungsrahmen zur Untersuchung komplexer Planungs- und Steuerungsstrukturen sowie von Steuerungsprozessen in Regionen. Forschungs- und Untersuchungsbedarf besteht innerhalb der Governance-Forschung z.B. hinsichtlich der bestimmenden Einflussfaktoren verschiedener Governance-Typen, des erforderlichen Grades der Regionsabgrenzung und deren Institutionalisierung für einzelne Aufgabenbereiche, der politischen Legitimation von Governance-Strukturen oder des Einflusses von Machtungleichgewichten (vgl. 4
Governance kann sowohl als Analyserahmen für Steuerungsformen dienen, als auch – z.B. im Sinne eines Good Governance – ein normatives Zielsystem beinhalten. Für die vorliegende Arbeit wird ein analytisches Governance-Verständnis zugrunde gelegt.
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Pütz 2005; Einig et al 2005). Zudem können aus den bisher durchgeführten Vergleichen der Governance-Strukturen keine Aussagen über die Leistungsfähigkeit der Regionen und ihrer Steuerungsformen, z.B. zur planerischen Aufgabenbewältigung, getroffen werden (vgl. Herrschel, Newman 2002; Salet et al 2003). Im Kontext dieser Arbeit interessiert insbesondere die Frage nach der Fähigkeit von spezifischen Strukturen der Regional Governance in großräumigen Metropolregionen, auf Anforderungen von Regionalentwicklung in unterschiedlichen Teilräumen und auf Fragen des regionalen Ausgleichs von Entwicklungsunterschieden zu reagieren.5 Forschungslücke: Rolle des Raumes Regional Governance-Forschung konzentriert sich auf Formen regionaler Steuerung sowie deren Muster und insbesondere auf die Analyse von Kooperationsprozessen in Konfliktfällen. Autoren wie Blatter (2005: 132f) betonen dabei die Bedeutung sozialen Handelns in Zeiten der Globalisierung und der Informationsgesellschaft. Aber die Rolle des Raumes als konkreten Ortes mit spezifischen physischmateriellen, symbolischen Objekten und normativen sowie institutionellen Zusammenhängen und der Mensch-Umwelt Beziehung werden in der politikwissenschaftlichen und raumwissenschaftlichen Governance-Forschung vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt. Es läst sich eine Entkopplung der Debatten der Politikwissenschaft sowie der Geographie und Sozialwissenschaft konstatieren. Während in der Geographie und den Sozialwissenschaften der spatial turn zum neuen Bedeutungsgewinn des Raumes als Untersuchungsgegenstand und Einflussgröße führte. Dieser Forschungslücke widmet sich diese Arbeit, denn „territory matters“ und Regionen können nicht länger auf Orte der Produktivität reduziert werden. Entsprechend dem Verständnis gesellschaftlicher Räume (Werlen 2000, Läpple 1992) sind Regionen intermediäre Orte mit spezifischen historischen, kulturellen und sozioökonomischen Strukturen, die in makroökonomische und gesellschaftliche Entwicklungsrahmen integriert und durch regionale Entwicklungslinien geprägt sind (Knieling, Matern 2006:14). Sie kennzeichnet ein spezifisches regionales Milieu, das durch die Traditionen, Erfahrungen und Ressourcen beeinflusst und durch die wechselseitigen Beziehungen von endogenen Potenzialen, wahrgenommenen Entwicklungsherausforderungen und -einschränkungen sowie gemeinsamen Werten der regionalen Akteure charakterisiert ist (Berking, Löw 2008). Der Erfolg von Regionen hängt sowohl stark von den Fähigkeiten, Qualifikationen und Erfahrungen der regionalen Akteure ab, als auch von deren Lernfähigkeit und Fähigkeit zur 5
So zeigt die kritische Reflektion des Konzepts der Verantwortungsgemeinschaften in den raumwissenschaftlichen Diskursen, dass die Tragfähigkeit und die notwendigen Rahmenbedingungen von Governance-Strukturen für Ausgleichsaufgaben infrage gestellt werden.
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Selbstreflektion ihres regionalen Milieus und der Fähigkeit, auf wandelnde Rahmenbedingungen in ihrer politischen Strategieentwicklung und Entscheidungsfindung zu reagieren (Healey 2003, 2001; Fürst 2003).
1.2 F ORSCHUNGSFRAGE Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll dieser Forschungslücke der Regionsbildung innerhalb der Governance-Forschung Beachtung geschenkt werden. Vor dem Hintergrund der Diskussion um Metropolregion und überregionale Partnerschaften soll anhand einer Analyse der Stadt-Land-Zusammenarbeit in der Metropolregion Hamburg die Frage untersucht werden: •
Inwiefern bieten Stadt-Land-Partnerschaften in der Metropolregion Hamburg einen Mehrwert für Akteure der peripheren Teilräume?
Die Arbeit folgt einem akteursbezogenen Untersuchungsansatz, der den Mehrwert der Bildung einer Metropolregion für die Gesamtregion aus dem wahrgenommenen Mehrwert der Akteure ableitet. In welchen Aspekten des Raumes und der Handlungsstrukturen werden individuell Mehrwerte der Metropolregion wahrgenommen und wodurch entstehen aus dem Mosaik kollektive Wahrnehmungen und Mehrwerte für die Region als Gesamtheit? Der zentralen Fragestellung der Dissertation ordnen sich die folgenden Fragen unter: •
•
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Wie kann der Mehrwert einer Regionsbildung definiert werden? Welcher Mehrwert kann in Stadt-Land-Partnerschaften in Metropolregionen entstehen und wie lässt er sich abbilden? (Frage der Regionsbildung) Welche Rolle spielen die sozioökonomischen Strukturen der Teilräume für die Inhalte und Themen sowie Akteurskonstellationen in der Kooperation und welche Formen der Zusammenarbeit bilden sich dabei heraus? (Rolle der physischen und administrativen Strukturen, Ausstattungsfaktoren und Relationen) Inwiefern unterscheidet sich der tatsächlich wahrgenommene Mehrwert von dem potenziell möglichen Mehrwert der Stadt-Land-Zusammenarbeit? Inwiefern beeinflussen die Handlungsformen des kollektiven Akteurs Metropolregion und die Bewertung dieser durch individuelle Akteure den tatsächlichen Mehrwert für die beteiligten Akteure? Unter welchen Rahmenbedingungen werden der territoriale Zusammenhalt und ein Ausgleich regionaler Disparitäten mittels Kooperation und Regionsbildung möglich oder unterstützt?
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Die Untersuchung erarbeitet Thesen zu Erklärungszusammenhängen, wie und warum ein Mehrwert von Stadt-Land-Partnerschaften in Metropolregionen entstehen und inwiefern insbesondere Akteure peripherer Teilräume davon profitieren können. Die Arbeit möchte damit Beiträge zur Governance-Forschung, Regionsbildung und zur aktuellen Debatte um territoriale Kohäsion auf europäischer Ebene leisten. Auf Grundlage der offenen Fragen und Kritikpunkte der Regional Governance in Metropolregionen möchte diese Arbeit zu den folgenden Fragen beisteuern: •
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Inwieweit lassen heterogene Raumstrukturen und Entwicklungsziele der verschiedenen Akteure eine klare Fokussierung der Themen der Zusammenarbeit zu? Schwerpunkt der Zusammenarbeit in Metropolregionen bildet bisher die wirtschaftliche Entwicklung. Ausgleichs- und Ordnungsaufgaben müssen daran angepasst werden oder sind im Rahmen der Metropolregion schwer verhandelbar. Auch in der Wirtschafts- und Regionalentwicklung sind Themenkonflikte innerhalb der heterogenen Gebietskulisse und Interessenlage nicht zu umgehen. Vermutet wird, dass in Stadt-Land-Kooperationen in Metropolregionen z.B. ein dauerhafter Interessenskonflikt zwischen der starken Außenorientierung und den Interessen zur Binnenvernetzung und Ankopplung der (peripheren) Landkreise entsteht. Welche Governance-Strukturen sind für Stadt-Land-Kooperationen zwischen zentralen und peripheren Teilräumen typisch und inwiefern kann durch die Struktur einer Metropolregion diese Kooperation erleichtert werden? Anforderungen an die Organisationsstrukturen der Metropolregionen sind laut raumwissenschaftlicher Konzepte, dass sie ein Dach für großräumige Abstimmung jenseits des bestehenden Macht- und Einflussgefälles zwischen den kommunalen Akteuren bieten und helfen, Barrieren der Kooperation zwischen entfernt gelegenen Teilräumen zu verringern und einen leichten Zugang zu Informationen zu ermöglichen. Ein Erfolg der Metropolregionen wäre dementsprechend, eine enge Vernetzung zwischen den Akteuren der Teilräume und einen verbesserten Zugang zu Information und Kommunikation zu erreichen. Aufgrund der Schwerpunkte in der Fachdebatte über Metropolregionen, kann angenommen werden, dass die Interessen von Akteuren ländlicher Räume in Metropolregionen weniger stark vertreten sind als die der großstädtischen Partner. So soll in der Untersuchung überprüft werden, welche Rolle Akteure unterschiedlicher Teilräume in der Stadt-Land-Partnerschaft übernehmen und inwiefern die kollektive Wirklichkeitsdeutungen, Handlungs- und Organisationsstrukturen eine gleichberechtigte Partnerschaft der Teilräume unterstützen. Inwiefern weist der Prozess der Regionsbildung in den großräumigen Metropolregionen Besonderheiten auf?
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Metropolregionen als gesellschaftliche Räume müssen sie durch Regionsbildungsprozesse kommuniziert und angeeignet werden. Durch die Aushandlung der Wirklichkeitsdeutung und der Definition eines gemeinsamen Verständnisses von Herausforderungen, Zielen und Strategien entsteht eine Identifizierung mit dem Raum, die Abstimmungsprozesse initiieren kann (Pütz 2000). Es ist anzunehmen, dass sich die notwendigen Bindungen an den Raum in großräumigen Kooperationen (wie Stadt-Land-Kooperationen in Metropolregionen) schwerer aufbauen lassen, da die sozialen Bindungen und die Dichte der Nachbarschaftsnetzwerke mit wachsender Entfernung geringer werden. Deshalb stellt sich nicht zuletzt die Frage, wie in großräumigen Stadt-Land-Kooperationen der Prozess der Regionsbildung zum Aufbau eines regionalen Zusammenhalt und dauerhafter Governance-Strukturen bewältigt werden und welchen der Planungsaufgaben (regionale Entwicklung, sozialer Ausgleich und das Management natürlicher Ressourcen) sie langfristig übernehmen .
1.3 M ETROPOLREGION H AMBURG : V ORGEHENSWEISE Zur Erforschung der Fragestellung inwieweit großräumige Stadt-Land-Partnerschaften in Metropolregionen einen Mehrwert für die peripheren Teilräume bieten, wird das Verfahren der Abduktion angewendet. Im Kern der Untersuchungen stehen die Handlungsweisen und Kooperationsformen zwischen städtischen und ländlichen Teilräumen innerhalb der Metropolregion Hamburg, die in unterschiedlichen Handlungsarenen stattfinden und zu den bestehenden Organisationsstrukturen geführt haben. Dabei wird analysiert, wie und warum die Raumstrukturen in der Fallstudienregion ausgestaltet wurden, welche Ergebnisse in der Zusammenarbeit bisher erreicht werden und wie die Akteure diese Strukturen und die Ergebnisse der Zusammenarbeit bewerten. Die Untersuchung folgt einem qualitativen Forschungsansatz, dessen Ziel eine erklärende Hypothese zu den Wirkungszusammenhängen in diesem offenen und bisher ungeordneten Forschungsfeld der großräumigen Partnerschaften ist. Die Bearbeitung der Fragestellung erfolgt anhand einer Einzelfallstudie. Als Untersuchungsrahmen wurde die Zusammenarbeit in der Metropolregion Hamburg (MRH) ausgewählt. Eine Einzelfallstudie bietet die Möglichkeit eines detaillierten Zugangs in der Analyse von Rahmenbedingungen, Interaktions- und Entscheidungsstrukturen regionaler Selbststeuerung (Yin 2003: 39ff). Dies wird durch die räumliche Nähe zum Untersuchungsgegenstand unterstützt, so dass eine tiefe Prozesskenntnis und ein guter Zugang zu Akteuren und deren Interaktionsplattformen möglich sind.
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Methodik Die Einzelfallstudie der MRH folgt dem Verfahren der Grounded Theory (Glaser, Strauss 2010). Angewendet wird ein Verfahren, das verschiedene wissenschaftliche Methoden kombiniert. Im Erkenntnisinteresse dieses eher pragmatischen Forschungsvorgehens der gegenstandsbezogenen Theoriebildung stehen Strukturen und Handlungsweisen, die dem beobachteten Phänomen der Stadt-Land-Partnerschaften in Metropolregionen zugrunde liegen. Eine Annäherung an den Mehrwert von Metropolregionen erfolgt über die Differenzierung der Metropolregion als Standortcluster (mit spezifischen räumlichen, sozioökonomischen und institutionellen Strukturen) und Metropolregionen als Handlungsräume (mit spezifischen Handlungsmustern und Motivationen der beteiligten Akteure). Spezifische Muster und Ausprägungen in diesen beiden Dimensionen sind Ausdruck abgeschlossener Raumproduktionen und bilden die Basis für Mehrwerte und Potenziale sowie Hindernisse und Schwierigkeiten der Stadt-LandZusammenarbeit. Abgebildet werden diese anhand von Konzepten gesellschaftlicher Räume, wofür in der vorliegenden Arbeit das Konzept des Matrixraums (Läpple 1992) verwendet wurde. Die Analyse der Regionsbildung in der Metropolregion Hamburg erfolgt als Ableitung potenzieller Mehrwerte und Hindernisse von Konzepten der Metropolregionen, neuer Ansätze zur territorialen Kohäsion sowie Handlungstheorien und durch Rückgriff auf Ergebnisse der Governance-Forschung. Aus den Handlungstheorien und der Literaturanalyse zu Handlungsmustern und Akteurskonstellationen werden zugleich Hinweise für potenzielle Einschränkungen möglich, warum die real wahrgenommenen Mehrwerte von den potenziell möglichen abweichen. In der empirischen Untersuchung wird die Relevanz der theoretisch ermittelten Mehrwerte und Hindernisse der Stadt-Land-Partnerschaften in Metropolregionen am Beispiel der Metropolregion Hamburg untersucht. Die Untersuchung in der Metropolregion Hamburg gliedert sich in vier Analyseschritte, die Analyse der metropolregionalen Raumstrukturen als Ausdruck vorangegangener Raumproduktionen, die Untersuchung der aktuellen Handlungsmuster der Metropolregion als kollektiver Akteur sowie die Wahrnehmung und Bewertung der Stadt-Land-Zusammenarbeit durch beteiligte Akteure und die Gesamtauswertung der Analyseschritte. Dabei wird zwischen kollektiven und individuellen Mehrwerten und Hindernissen unterschieden, da diese von einzelnen Akteuren unterschiedlich bewertet werden. Aus den empirischen Analysen können Thesen abgeleitet werden, die zur Beantwortung der oben genannten Forschungsfragen dienen bzw. die theoriegeleiteten Thesen einordnen und ergänzen.
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1.4 A UFBAU
DES
B UCHES
Die theoretische Einführung beginnt mit der Beschreibung des gesellschaftlichen Raummodells, das als Grundlage zur Erarbeitung unterschiedlicher Dimensionen von Mehrwert der Regionsbildung und der Schwierigkeiten der Stadt-Land-Zusammenarbeit dient. Daran schließt sich eine Darstellung der Stadt-Land-Beziehungen in Deutschland und von Konzepten der raumplanerischen Steuerung dieser Beziehungen in Kap. 2 an. Aktuelle Herausforderungen der Raumentwicklung sowie die raumplanerischen Konzepte der Verantwortungsgemeinschaften in Deutschland und der regionsbasierten Kohäsion im europäischen Raum bilden einen Schwerpunkt. Im 3. Kapitel folgt eine Annäherung an das theoretische Konzept der Metropolregionen als normatives Leitbild der Raumentwicklung und im Spiegel der aktuellen Fachdiskurse. Diese Darstellungen werden durch die Charakterisierung der Metropolregionen als Handlungsräume und ihrer Merkmale (Kap.4) ergänzt. Das 5. Kapitel widmet sich der Erarbeitung von möglichen Mehrwerten der Regionsbildung in Metropolregionen anhand theoretischer Konzepte. Die Darstellung mündet in Thesen zu Mehrwerten und Hindernissen der Stadt-Land-Zusammenarbeit in Metropolregionen und schließt den theoretischen Teil der Arbeit ab. Kapitel 6 beschreibt die Vorgehensweise bei der empirischen Untersuchung in der Metropolregion Hamburg, die in vier Analyseschritten erfolgt. Die Ergebnisse der Untersuchung entsprechend dieser Raumanalysen beschreiben die Kapitel 7 bis 9. Die empirische Untersuchung mündet in Thesen, die im Kapitel 10 dargestellt werden. Eine Reflektion der Ergebnisse der theoretischen und empirischen Analysen erfolgt in Kapitel 11. Die empirische Auswertung wird an den Thesen gespiegelt, die in Kapitel 5 entwickelt wurden. Mittels Interpretation entstehen Annahmen und Thesen zu weiterem Forschungsbedarf.
2 Regionsbildung in gesellschaftlichen Räumen
2.1 R AUM ZWISCHEN A LLTAGS - UND W ISSENSCHAFTSVERSTÄNDNIS In der Darstellung von Metropolregionen wird deutlich, dass sich Raum als Standortmuster und Handlungsstrukturen untergliedern lässt. Wie passt das mit dem Alltagsverständnis von Raum zusammen? Und was ist der Wert von Räumen? Ist Raum nicht nur der Behälter für physische Objekte und Menschen und Ausdruck einer Verteilung von Objekten in Raum, die zufällig oder bewusst angeordnet sind? Welchen Nutzen kann diese Verteilung für die darin lebenden Akteure haben? Im Alltagsverständnis – und oft auch innerhalb wissenschaftlicher Untersuchungen – wird „mit ‚Geographie‘ meist nach wie vor eine naturhaft vorgegebene räumliche Konstellation bezeichnet.“ (Werlen 2010:7) oder „Raum wird als eine Naturgegebenheit, ein ‚Ding an sich‘ oder eine Eigenschaft des materiellen Natur betrachtet“ (Läpple 1992:36). Nachdem im 20. Jahrhundert viele sozialtheoretische Arbeiten die Zeit sehr stark betonten und den Raum dabei vernachlässigten, trat in den 1990er Jahren eine Wende in der Betrachtung ein. Die bis dahin ‚raumblinden‘ sozialgeographischen Theorien erweiterten Raum als eine sozialwissenschaftliche Reflexionsstufe: „Mit dem Gleichschritt von cultural turn und spatial turn hat die Geographie als traditionell raumorientierte Forschungsdisziplin par excellence daher wieder eine hohe transdisziplinäre Aufmerksamkeit erlangt.“ (Werlen 2010:50). Der Raum rückt in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Hintergrund bildet die Erkenntnis, dass die Moderne das Bild eines territorial gebundenen Bezugssystems zwar ausgehöhlt und den Raum raschen Veränderungen preisgegeben hat. Doch die erwartete vollständige Emanzipation sozialer Beziehungen von ihrer Ortsbezogenheit und Einbettung ist ausgeblieben (Keim 1998: 84). Vielmehr wird mit dem Rückbau der Sicherungssysteme in Arbeits- und Sozialwelt, ein Bedeutungsgewinn des Raumes als Bezugssystem wahrgenommen. Der Bedeutungsgewinn spiegelt sich auch in der Betonung des ‚Eigenen‘ einer Stadt oder Region wider, die als Strategie im Städtewettbewerb in Reaktion auf Globalisierungstendenzen und
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wachsende internationale Abhängigkeiten zunehmend als Stadtentwicklungs- und Marketingstrategie genutzt wird (vgl. Löw 2008: 13-14). So stellen Berking und Löw (2008:9) heraus, dass „interessanterweise der Globalisierungsdiskurs diese Blindstelle des Lokalen überdeutlich ins Bewusstsein (hat) treten lassen.“ Es ist also kein Zufall, dass die Stärkung des Lokalen, der Globalisierungsdynamiken und die Schwächung des Nationalstaates zeitgleich diskutiert werden. Die Aufmerksamkeitswelle der räumlichen Dimensionen wurde u.a. von der kritischen Geographie – mit ihren Vertretern wie z.B. Lippuner, Lossau oder Weichhart (im deutschsprachigen Raum) und Massey (1994), Scott und Soja (1996), Harvey (1991) oder Amin, Thrift (1995, im angelsächsischen Raum) – aufgegriffen und genutzt, um den traditionellen geographischen (objektivierenden) Raumbegriff in Frage zu stellen und ihn um Implikationen der soziokulturellen Verhältnisse und sowie Wertemuster zu einem gesellschaftlichen Raumverständnis zu öffnen (Werlen 2010:51). Dies schien nötig, denn: „Zu häufig blieb der ‚Erdraum‘ als vorgegebene Entität, als jeder sozialen Praxis vorausgehende Gegebenheit unangetastet“ (Werlen 2010:15). Der Sozialgeograph Werlen fordert Raum als eine hergestellte Wirklichkeit zu betrachten, die durch gesellschaftliche Gewissheiten und sozialen Praktiken geformt wird (Werlen 2010:7). Diese Neuorientierung in der Sichtweise auf Geographien und Raum6 wurde in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen (Werlen 2010:16) und hat das Nachdenken über Raum auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen salonfähig gemacht (Dünne 2006; Günzel 2007). Ein zweiter Aspekt, der in Bezug auf Raum thematisiert wird, ist dessen Abgrenzung und die damit verbundene Definition von innen und außen. In der deutschen Raumordnung wird die Abgrenzung besonders für die regionale Ebene diskutiert, die als mittlere Planungseinheit zwischen kommunaler und staatlicher Ebene laut Raumordnungsgesetz für die Durchführung einer Regionalplanung verantwortlich ist (Sinz 2005:919). Neben den administrativen Regionen werden z.B. wirtschaftlich oder sozial abgegrenzte Regionen (z.B. Arbeitsmarktregionen, Pendlerre6
Der Bedeutungsgewinn von Raum oder der spatial turn in der Betrachtung von Phänomenen lässt sich auf allen räumlichen Ebenen beobachten. Agnew und Corbridge (1995) sprechen vom mastering space, dass zur zentralen Herausforderung europäischer Politik wurde. Die Herausforderung besteht in der Verräumlichung sozialer, politischer und ökonomischer Diskurse. Dieser spatial turn führt zu einer Verschiebung der Zugänge und Blickwinkel mit Konzentration auf die räumliche Seite der geschichtlichen Welt, die neben dem zeitlichen Nacheinander auch der Komplexität des räumlichen Nebeneinanders Aufmerksamkeit schenkt (Schlögel 2003). Von anderen Autoren wird das verstärkte Raumdenken in der europäischen Union seit der politischen Wende 1989 dem spatial turn zugeordnet, während zuvor bestritten wurde, dass die EU ein Territorium besitze, sondern es lediglich einen räumlichen Geltungsbereich der europäischen Verträge gebe (Battis, Kersten 2008: 6).
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gionen) oder kulturelle Regionen (Sprachräume, Heimaträume) unterschieden (vgl. Blotevogel 1995; Pütz 2004).7 In der Abgrenzung von Räumen zeigt sich ein neues Phänomen – das der Entgrenzung, das immer wieder in den Raumwissenschaften thematisiert wird. Sei es mit dem Plädoyer „Die Stadt ist die Region“ von Priebs (1999) oder dem prägnanten Titel Blatters Forschung zu Grenzräumen (2000): „Entgrenzung der Staatenwelt“. Ebenso wie das Erforschen vom Nutzen der Räume beschreibt auch die Frage nach dessen Grenzen die Suche nach einer Definition: „Die Städte sind entgrenzt. Sie verschmieren an den Rändern, wuchern aus, zerfasern ohne Kontur und sichtbares Zentrum. Ihr Ausmaß scheint fraglich, ebenso, worin der städtische Raum heute besteht. Eher gleicht er einer Krümmung, einer fortgesetzten Faltung, deren Karte fehlt und deren Topologie keiner Berechnung genügt. Folglich haben wir es nicht mehr mit einem euklidisch messbaren Raum zu tun, sondern mit einer Streuung lokaler Punkte, mit Geschwindigkeiten oder raumzeitlichen „Atopien“, die sich der Überschaubarkeit entziehen und durch die Relativität des Aufenthalts oder der Bewegung bestimmt sind. Sie lassen die Homogenität der Räume schwinden, das Städtische büßt seine Definierbarkeit ein. Alles was bleibt, ist eine Unbestimmbarkeit.“ (Mersch 2005: 51). Andere Autoren diskutieren das Phänomen der Entgrenzung unter dem Begriff „Rescaling“ von Handlungsräumen (Brenner 2003; Haughton 2010). Das Phänomen wirkt in zwei Richtungen: einerseits kann damit die Ausdehnung funktionaler Zusammenhänge (z.B. in Stadtregionen auf periurbane Gebiete) beschrieben werden, die sich z.B. in neuen Clusterorganisationen niederschlägt. Andererseits kann damit der Trend zur Aufgabenverlagerung von der staatlichen zu einer regionalen Ebene beschrieben werden. Diese Phänomene weisen auf die Dynamik des Raumes hin und darauf, dass Räume keine natürlichen Einheiten sind, deren Abgrenzung sich durch eine objektive Analyse ergibt und dauerhaft Bestand haben. Es wird deutlich, dass Probleme des Raumes nicht nur Fragen der gesellschaftspolitischen Ordnung sind, sondern auch der Begriffsbildung.
7
Die Diskussion über die Abgrenzung von Regionen kreist oft um die Suche nach natürlichen Regionen, als eindeutig abgrenzbare Natur- und Kulturräume (Sinz 2005:920). Allerdings wird schnell deutlich, dass die „Bildung von Regionen als gedanklicher Abstraktions- und Generalisierungsvorgang“ der Problemvereinfachung und Komplexitätsreduktion dient und in engem Zusammenhang zum untersuchten Problem steht. Trotzdem gibt es immer wieder Ansätze der Raumanalyse, die eine multifunktionale Regionsabgrenzung anstreben, z.B. nach dem Ähnlichkeitsprinzip oder nach dem Verflechtungsgrad (vgl. Sinz 2005:921).
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Vom Alltags- zum Wissenschaftsverständnis von Räumen Kehrt man zur Frage nach dem Mehrwert von Räumen zurück, zeigen sich rasch die Grenzen des Alltagsverständnisses. Im alltagsweltlichen Verständnis wird Raum als die Ausdehnung materieller Dinge gebraucht, d.h. Raum wird mit Dingen angefüllt und deren Reichweite kann wahrgenommen werden (Blotevogel 2005b: 831). Dessen Nutzen liegt einzig in den darin befindlichen Objekten, die als Ressourcen den Menschen für deren Handeln zur Verfügung stehen. Für die Forschungsfrage ist hingegen ein Raummodell notwendig, dass Raum zugleich als Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen und als Handlungs- und Interaktionsraum konzipiert, bevor Mehrwerte von Räumen bzw. Metropolregionen (Kap.5) theoretisch abgeleitet werden können. Wissenschaftliche Begriffsverständnisse von Raum knüpfen an alltagsweltliche Definitionen an und können unterschiedlichen Denkschulen zugeordnet werden. Blotevogel (2005b:839) stellt heraus, dass in raumwissenschaftlichen Studien oft unklar bleibt, welches Raumverständnis zugrunde liegt und Konzepte des Raumes als natürliche physische Umwelt oder als Ordnungsraum in der Raumplanung keine Ausnahme sind. Subjektivierende Raumkonzepte wurden in der Raumplanung hingegen lange ignoriert und gelangten erst mit neuen Ansätzen der Bürgerbeteiligung und mit der Risikovorsorge ins Blickfeld. Zum besseren Verständnis für das verwendete Raumkonzept soll nun ein kurzer Überblick über die wissenschaftlichen Raumverständnisse dienen, deren Teilaspekte zugleich in das Raumverständnis eines gesellschaftlichen Raumes einfließen.
2.2 O BJEKTIVIERENDE R AUMKONZEPTE 2.2.1
Der Containerraum
„Zunächst kann man ‚Räume‘ als ‚Behälter‘ (container) betrachten, in denen bestimmte Sachverhalte der physisch-materiellen Welt, wie z.B. Oberflächenformen und Böden, Klima und Gewässer, Vegetation und Tierwelt sowie die Werke des Menschen enthalten sind. In dieser Perspektive werden ‚Räume‘ als Entitäten gesehen, d.h. es wird ohne Reflexion davon ausgegangen, dass sie in ‚der‘ Wirklichkeit vorkommen“ (Wardenga 2002:8).
Der Containerraum8 ist endlich, durch Fixsterne begrenzt (Geozentrismus) und umschließt Dinge, Lebewesen und Sphären als eine vom Körper unabhängige Realität 8
Bekannt wurde dieses Raumverständnis durch I. Newton, der seine Vorstellungen vom homogenen Raum im 17. Jahrhundert entwickelte. Der Raum wurde zur Grundlage der klassischen Mechanik, deren Bewegungsgesetze ein räumliches Bezugssystem benötigen,
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(Löw 1999). Seit der Antike hat sich dieses Raumverständnis durchsetzen können und in der Folgezeit entwickelten sich daraus zwei Varianten: •
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Raum als Territorium: Nach Talcott Parsons ist Raum etwas, dass vorgefunden wird und vom Handeln getrennt ist, aber nach der analytischen Trennung werden Raum und handelndes Subjekt aufeinander bezogen. Auf diesen Vorstellungen beruht, z.B. Luhmanns Systemtheorie, der sich von der Begrenztheit dieses Raumes zu lösen versucht, indem er eine raumfreie Theorie entwickelt (Löw 1999). Raum als konkreter Ort: Entsprechend dieses Verständnisses strukturiert Raum das Handeln vor und determiniert die Alltagswelt. Raum wird dadurch auf den Ort und damit auf eine (unter mehreren) Umweltbedingungen reduziert und vernachlässigt die Relationen zwischen den Orten. Damit wird er zu etwas Starrem, während die Zeit in Form von Geschichte zum Untersuchungsgegenstand gerät (Löw 1999).
Raum als natürliche Umwelt In der Geographie des 19. Jahrhunderts ist vor allem die Vorstellung des Raumes als gegebene und natürliche Größe verankert. Die geodeterminierte Sichtweise geht auf Ritter und Ratzel zurück, die eine Abhängigkeit des Menschen und seines Handelns von der „dinglich gefüllten Erdoberfläche“ betonen (Blotevogel 2005b: 833). Daneben konnten sich die Forschungsstränge des Raumes als Ergebnis historischer landschaftsgestaltender Prozesse und der Landschaft als Registrierplatte sozialer Prozesse (nach Hartke) etablieren, die sich dahingehend ergänzen, dass einerseits Menschen den Raum zur Kulturlandschaft umgestalten und damit andererseits die natürliche Umwelt (bis zu ihrer Zerstörung) belasten.9 (Blotevogel 2005b: 833). Blotevogel (2005b:833) stellt heraus, dass die Vorstellung eines vom Menschen gestalteten Erdraums als Kulturlandschaft gut mit dem Anliegen der Raumordnung harmoniert und zeitlich mit deren Entstehung zusammenfällt. Ähnlich wie die Betrachtung des Raumes als Behälterraum galt die geodeterministische Raumsicht in der Wissenschaft weitgehend überwunden und die Emanzipation des Menschen von ihrer Umwelt wird betont. Dies führte dazu, dass der physische Raum als natürliche Umwelt komplett ausgeblendet wurde. Im Rahmen der Debatte um Nachhaltigkeit und im Zuge der Diskussionen um den Klimawandel und dessen Auswirkungen auf das wiederum in Form eines Behälters oder Containers veranschaulicht wird (vgl. Blotevogel 2005b, Löw 2007). 9
Auf Grundlage des Raummodelles und der wechselseitigen Beeinflussung von Mensch und Umwelt gründet die moderne Ökologie bzw. Landschaftsökologie nach Troll oder Neef (vgl. Blotevogel 2005b:833)
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Menschen haben die Mensch-Umwelt-Beziehung und landschaftsökologische Ansätze des Raumes als Wirkungsgefüge natürlicher und anthropogener Faktoren neue Bedeutung erlangt (Blotevogel 2005b:833). Grenzen des Raumverständnisses Die Vorstellung des Raums als Container birgt jedoch Beschränkungen: •
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Die Behälter können zu klein werden, d.h. die Vorstellung, dass es eine optimale Konfiguration an Dingen und Lebewesen für einen bestimmten Raum gibt, schwingt mit dem Containerbegriff mit und kann die politisch-gesellschaftswissenschaftliche Diskussion um Raum beeinflussen (Löw 1999). Die Verteilung der Objekte (oder Materie) innerhalb des Behälters erfolgt nach Gesetzen, die in keinem inneren Zusammenhang mit dem ‚Raum‘ stehen. Geht man jedoch von der Vorstellung eines relationalen Ordnungsraumes aus, so darf Raum und Materie nicht unabhängig voneinander betrachtet werden (Läpple 1992:41). Für die theoretischen Betrachtungen ist die Vorstellung problematisch, dass Raum eine Rahmenbedingung des menschlichen Handelns ist und damit nicht Gegenstand der Betrachtung. Es knüpft sich die Vorstellung an, dass Menschen sich vom Raum emanzipieren und dieser immer stärker vernachlässigt werden kann. Diese Herangehensweise steht einerseits in Widerspruch zu empirisch beobachtbaren Raumproblemen (Löw 1999) und andererseits impliziert das Behälterraumkonzept auch eine Entkopplung des Raumes von dem Funktions- und Entwicklungszusammenhang der Inhalte (Läpple 1992:41).
Die Kritik am Containerraum kann durch aktuelle Entwicklungen, wie z.B. der sich globalisierenden Wirtschaft, bestätigt werden. Nach Annahmen des Containerraums würden diese Entwicklungen auf die Auflösung des Raumes bzw. dessen gegenwärtige Bedeutungslosigkeit hindeuten. Allerdings zeigt die Empirie, dass sich die Wirtschaft keineswegs vollständig vom Raum löst, sondern neue Verschränkungen zwischen global und lokal entstehen und Milieus, Stadtbilder und Images einen entscheidenden Standortvorteil im globalen Wettbewerb der Städte und Regionen versprechen (Löw 1999, 2008). 2.2.2
Raum als Ensemble von Elementen und Relationen
Kritik am Containerraum wurde bereits durch Leibniz formuliert, der die Relativität des Raumes betont und als Lagerelation materieller Objekte beschreibt. Impulse in die Diskussion über Raum trugen die Erkenntnissen aus der nicht-euklidischen
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Geometrie und relativistischen Physik bei. Im relationalen Raumverständnis sind Räume Strukturen von Lagebeziehungen, die die Bedeutung von Standorten, LageRelationen und Distanzen von Wirklichkeiten betonen und nach deren Rolle für die gesellschaftlichen Wirklichkeiten und die Grenzziehungen fragen (Wardenga 2002). Das von Leibniz’sche Raumverständnis konnte sich im 19. Jahrhundert nicht durchsetzen, sondern erlangte erst durch die Relativitätstheorie Bedeutung als das Verständnis eines absoluten Raumes in Frage gestellt wurde. Die Vorstellung der Existenz des Raumes unabhängig von der materiellen Welt wurde aufgegeben (Blotevogel 2005b:832). Das neue Verständnis wird mit Foucault und Elias (1970) verknüpft und Raum als Ensemble von Relationen verstanden, dass dessen Elemente nebeneinander stellt, entgegensetzt, ineinander enthaltene darstellt und Relationen zwischen bewegten Ereignissen herstellt (Löw 2007:34). Er ist eine Konfiguration oder ein Netzwerk von Menschen, Dingen und Handlungen, die in einer bestimmten Ordnung auftreten bzw. in diese gebracht werden. Er präsentiert sich durch Platzierungen und Lagebeziehungen, bei denen zeitliche und bauliche Veränderungen mitgedacht werden müssen (Löw 1999). In den Raumwissenschaften erlangte das relationale Raumverständnis in den vergangenen Jahren neue Beachtung und in Abgrenzung des gegenständlichen Raumes wird „Räumlichkeit“ zur Beschreibung der Phänomene verwendet (Blotevogel 2005b:832). Sie unterstellen, dass (themenspezifisch oder holistisch) natürliche Räume bestehen, die sich durch das Ähnlichkeitsprinzip zu homogenen Regionen oder nach dem Verflechtungsprinzip zu funktionalen Regionen zusammenfassen und abgrenzen lassen (Sinz 2005:921). Mit dem relationalen Raumverständnis wird einerseits deutlich, dass Raum und Zeit ein Kontinuum darstellen (Läpple 1992: 39) und andererseits wird im Bild des Raumes als Beziehungssystem die Beeinflussbarkeit des Raumes durch die Anordnung von Körpern und Objekten deutlich herausgestellt, die den Raum als Ort des Handelns stärkt (Löw 2007:34). Raum als dynamische Einheit von Objekten und (gestaltenden) Subjekten wird auch durch Kevin Hetheringtons (1997:185) Vergleich des Raumes als Schiff treffend charakterisiert: „Imagine place as being like a ship. They are not something that stays in one location but move around within networks if agents, humans and nonhumans. Places are about relationships, about placing of materials and the system of difference that they perform. Places are located in relation to sets of objects rather than being fixed only through subjects and their uniquely human meanings and interactions.” (Hetheringtons 1997 in Urry 2007: 80) Raumproduktion in relationalen Räumen Raumbildung durch Relationen der Elemente erfolgt nicht zufällig, sondern sie werden durch Formen der Machtausübung in eine Ordnung gebracht. Auf- und Ein-
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teilung als Ordnungsprinzipien des Raums sind Prinzipien der Machtentfaltung, d.h. im Verteilungsprozess konstituiert sich die Macht. Die Konstitution von Raum ist folglich eine Konfiguration von Macht und sozialen Funktionszuweisungen, die sich u.a. materiell und sozial im Raum niederschlagen. Aus dem Verständnis der relationalen Räume werden folgende Wirkungszusammenhänge zum Handeln abgeleitet (Löw 1999): •
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Ordnungen sind nur durch die Kontrolle von Raum und Zeit zu generieren. Die Parzellierung des Raums determiniert zugleich die vielfältigen Relationen und Verknüpfungen zwischen Handelnden. Raum entsteht als Netzwerk von Platzierungen und Gegenplazierungen (Deleuze, Guattari 1977). Erst durch das räumliche Vorstellungsvermögen sind diese Platzierungen miteinander verknüpft und strukturiert. Entscheidend ist, wie diese Verknüpfung erfolgt sowie wer sie herstellt und vor welchem Prinzipiengebäude sie entwickelt wurde. Grundvoraussetzung ist reflexives Wissen über Raumzusammenhänge und Wirkungen von Handlungen und Veränderungen.
2.2.3
Nutzen der objektivierenden Raumkonzepte für die Analyse von Stadt-Land-Partnerschaften
Objektivierende Raumverständnisse fokussieren stark auf die sichtbaren Strukturen der räumlichen (An-)Ordnung von Artefakten und Objekten. Insbesondere auf regionaler Ebene vermitteln diese Konzepte die Endlichkeit von Raum und die Bedeutung für Platzierungen, die für die planerische Betrachtung (z.B. von Raumkonflikten) immer wieder eine wichtige Rolle spielen. Sie betonen den Mehrwert von Strukturen, indem sie in der Konzeption von Räumen einerseits die Rolle der Ressourcenausstattung und von Relationen, i.S. von Nähe und Distanz thematisieren. Dadurch lassen sich abstrakte Modelle zum Einfluss von Distanzen und Entfernungen erarbeiten. Damit bilden sie die Grundlage für Standorttheorien und abstrakte (2-Regionen-) Modelle der Regionalöko– nomie, mittels deren z.B. Mechanismen des Ausgleichs von Entwicklungsunterschieden oder Verhaltensweisen im Raum modelliert werden (vgl. Kap.3). Im Mittelpunkt des Verständnisses von Raum als zwei- oder dreidimensionaler Ordnungsraum stehen die lokalisierbaren Objekte und deren Lage und Distanzen (Blotevogel 2005b:834). Zudem wird der Einfluss von Macht und Einflussnahme auf die räumliche Ordnung und Prägung der Strukturen im Raum betont. Raum wird als prozesshaft dargestellt und schließt Widersprüche und Brüche in den Strukturen ein. Dualistische Betrachtungsweisen wie ‚europäisch’ vs. ‚lokal’ oder ‚innen‘ und ‚außen‘ (Metropolenkern vs. Außenraum) verschwimmen und müssen in ihren Relationen, Platzierungen und Gegenplatzierungen verstanden werden (Löw 1999).
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In Hinblick auf die Gestaltung der Stadt-Land-Beziehungen durch die Raumplanung können diese Raumverständnisse einerseits einen Beitrag zur Rolle von Ressourcen, Strukturen und Lagekonstellationen für den Nutzen und die Hindernisse der Zusammenarbeit in der Metropolregion leisten. Andererseits reduziert diese Betrachtungsweise gesellschaftlich strukturierte Räume auf erdräumliche Standortkonfigurationen und erzeugt die Illusion, von einem „Zusammenfallen der politischen Räume mit den ökonomischen und sozialen Räumen“ (Läpple 1992:44). Diese Theorieansätze liefern Hinweise, warum Großräumigkeit für Metropolregionen von Vorteil sein kann, aber sie können nicht erklären, warum Akteure ländlich-peripherer Teilräume ihre knappen Ressourcen in die Kooperation einbringen sollten.
2.3 S UBJEKTIVIERENDE R AUMKONZEPTE „Statt ‚die‘ Geographie der Erdoberfläche an sich zu erforschen, sollten wir es uns vielmehr zur Aufgabe machen, jene Geographien zu erforschen, die täglich von den handelnden Subjekten von unterschiedlichen Machtpositionen aus gemacht und reproduziert werden“ (Werlen 2010:17). Er identifiziert drei Hauptprobleme des geographischen Verständnisses des Raumes und erweitert damit die oben beschriebene Kritik des objektiven Raumverständnisses: • •
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die gesamte physische Welt (oder der erfassbare Perzeptionsausschnitt von einem Standort aus) wird als vergegenständlichter Raum begriffen, formale Aspekte, die einem Gegenstand auferlegt werden können, werden als deren produktive Ursache begriffen (wie z.B. Distanz im raumwissenschaftlichen Ansatz) der chorische Raumbegriff wird zur Lokalisierung sozio-kultureller Sachverhalte verwendet und zwar nicht nur für physisch-materielle, sondern auch für die abstrakt-symbolischen.
Entsprechend dem Kantschen Verständnis ist Raum weder Gegenstand noch Eigenschaft von Gegenständen. Er wird nicht als empirischer Begriff verwendet, sondern beschreibt – ähnlich der Zeit – eine gegebene und notwendige Voraussetzung zur Sinneswahrnehmung (Blotevogel 2005b:832). Raum wird zur sujektivierenden Anschauungsform und dient als Ordnungsmuster zur Wahrnehmung der Inhalte und der Erkenntnisse. Dieses Raumverständnis liefert die Grundlage für konstruktivistische Raumkonzepte in der Sozialgeographie und Kulturanthropologie, die eine sujektivierende Raumkonstruktion unterstellen und die Wahrnehmung und Deutung des Raumes und deren Bedeutung für das Handeln in den Mittelpunkt rücken (Werlen 2000:309).
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Das Verständnis der Räume als gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeiten geht davon aus, dass Räume „Artefakte von gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen“ sind (Wardenga 2002:9). Sie werden über Handeln und Kommunikation produziert und reproduziert und Anlass der Untersuchung der Räume bietet die Frage nach den Konstruktionsbedingungen wie Interessen, Instrumente und Formen der Konstruktion. Ein konsequent konstruktivistische Verständnis von Raum wurde im deutschsprachigen Raum von Hartke 1957, Bartels 1968 gefordert und von Klüter (1986) entwickelt, die das Containerraumdenken in den wahrnehmungsgeographischen Ansätze kritisierten. Räume können als Kategorie der subjektiven Sinneswahrnehmung definiert werden. Dazu wird gefragt, welche und wie ‚Räume‘ von Individuen wahrgenommen und wie diese von ihnen bewertet werden. Im Ergebnis entstehen unterschiedliche Begriffe der räumlichen Wirklichkeiten (Wardenga 2002). Diese Raumkonzeptionen werden als Anschauungs- oder Wahrnehmungsraum beschrieben und gehen auf den Begriff des „gelebten Raumes“ von Dürckheim/Minkowski als erfahrenen und vorgestellten Raum zurück. Der Wahrnehmungsraum wird als inhomogen und qualitativ strukturiert verstanden und steht damit im Widerspruch zur intersubjektiven Struktur des objektivierenden Raumes. Die materielle Beschaffenheit des Raumes wird in seiner Bedeutung für das menschliche Verhalten aufgefasst (Paasi 1986, Hard 1970) und die unterschiedliche Territorialität von Handeln gilt es sichtbar zu machen, z.B. mittels kognitive Karten (Wardenga 2002, Blotevogel 2005b). Raum wird als Handhabungsbereich unterschiedlicher Reichweiten erfasst, der durch Benennen, Erforschen und Erobern angeeignet wird. Er konstituiert sich aus der Sinnzuschreibung durch den Menschen, der seine Umgebung mit symbolischen Bedeutungen belegt (Blotevogel 2005b:835). Die physische Umwelt wird von handelnden Akteuren geschaffen, gedeutet und gelesen, sodass sich nicht nur in den Produktions-, sondern auch in den Deutungsprozess kulturelle, soziale und politische Einflüsse einschreiben. 2.3.1
Werlens Sozialgeographie
Die geographische Theoriedebatte um Raum und Handeln wurde insbesondere durch Werlens handlungstheoretischem Ansatz gestärkt, der das Verhältnis von physischer Umwelt und subjektiver Wahrnehmung der handelnden Akteure neu konzipierte (Werlen 1997, 2000). Anliegen Werlens ist es, eine raumorientierte Handlungswissenschaft zu betreiben, in denen Raumprobleme als Handlungsprobleme begriffen werden, die sich auf die Erforschung der Frage konzentriert, welche Bedeutung räumlichen Aspekten für die Umsetzung von Handeln zugeordnet wird und welche Handlungslogiken ihnen zugrunde liegen (Werlen 2000:310-312).
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Das zentrale Forschungsinteresse Werlens Sozialgeographie ist das Handeln, dass nur durch Individuen erfolgt, wenngleich Handeln teils im Interesse von Institutionen geschieht und immer sozial (im Sinne des Aufeinander-Bezogenseins) ist. „Unabhängig vom fachspezifischen Forschungsinteresse geht es der handlungstheoretischen Sozialwissenschaft darum, gesellschaftliche Sachverhalte weder von Individuen noch von Kollektiven aus zu untersuchen, sondern von Handlungen“ (Werlen 2000: 320). Handlung bleibt ein individueller, intentionaler Akt und Ausdruck des jeweiligen soziokulturellen Kontexts. Werlen definiert Raum als ein formales Ordnungsraster, das auf alle Sachverhalte anwendbar ist, um deren Lage und Position innerhalb festgelegter Kategorien zu kennzeichnen (Werlen 2010:39). Raum ist ‚kein Ding’ oder inhaltliches Merkmal, das Ereignisse bewirkt, sondern (wie die Zeit) eine formale Bedingung unter der ein Ereignis stattfindet. Er kehrt die Kausalbeziehung von Raum und Handeln um, indem nicht der Raum das Handeln sondern durch Handeln materielle und institutionelle Rahmenbedingungen des Handelns verändert (Glückler, Bathelt 2003). Allerdings beruht Raum auf Erfahrungen der eigenen Körperlichkeit im Verhältnis zu anderen Gegebenheiten, die ermöglichend oder restriktiv auf das individuelle Handeln wirken kann, so dass es lohnt sich mit den Gegebenheiten zu befassen, die der Konstruktion der Wirklichkeit zugrunde liegen anstatt die Forschungen auf die materiellen Objekte im Erdraum zu konzentrieren. Räume sind als Medien der Handlungsorganisation zu begreifen und als einschränkender oder ermöglichender Kontext inhärenter Aspekt des Handels (Werlen 2000: 320f). Der handlungsbezogene Raumbegriff soll die Forscher bei der Strukturierung der sozialen Welt „in die Lage versetzen, einerseits eine allgemeingültige Ordnungsstruktur von sozial-kulturellen Sinngehalten angemessen abzubilden und andererseits den Handelnden erfolgreiche Orientierungshilfen geben zu können.“ (Werlen 2010:45) Die Strukturierung der subjektiven Welt mittels eines adäquaten Raumbegriffs bezieht sich auf den typenspezifisch geordneten Wissensvorrat des handelnden Subjektes, die Werlen (2000: 334) in den produktiv-konsumtiven, normativ-politischen und informativ-signifikaten Handlungstypen klassifiziert. Kritisiert wird an Werlens handlungsorientierter Sozialgeographie in erster Linie, dass Raum nur noch ein Begriff für einen Zustand materiell-gewordenen Handelns ist, aber die gesellschaftlichen Strukturen, im Rahmen dessen das Handeln stattfindet, nicht näher berücksichtigt werden. Zudem kontrastiert Werlen seine Darstellung der Handlungsstrukturen im Vergleich spätmoderner zu frühmoderner Gesellschaften. Daran knüpfen weitere Kritikpunkte an, die eine Homogenisierung spätmoderner Gesellschaften infrage stellen. Auch wird die Intentionalität von Handeln kritisiert, die strukturelle Zwänge und Einschränkungen der handelnden Akteure ebenso wenig Bedeutung beimisst wie den strukturierenden Einflüssen physischer Artefakte auf das Handeln der Akteure.
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2.3.2
Bourdieus sozialer Raum
Der Rolle sozialräumlicher Prägungen widmet sich hingegen Pierre Bourdieu. Er plädiert in seinen Untersuchungen zu sozialer und räumlicher Ungleichheit für eine Konzeption von Raum zwischen deterministischen Strukturalismus und subjektbezogenen Individualismus und verknüpft Struktur und Handeln in seinem Theorieansatz vom sozialen Raum (Löw 2007:179). Die Objektivität der sozialen Strukturen zeigt sich (seinem Ansatz folgend) z.B. in Statistiken zu sozioökonomischen Strukturen. Er geht davon aus, dass die Strukturen von handelnden Menschen geschaffen werden und nicht unabhängig existieren. Dieses Handeln ist jedoch kein Ergebnis kognitiver Prozesse, sondern Resultat kollektiver Aushandlungsformen und damit ein relationales Gefüge, dass aus dem angeeigneten, physischen Raum und aus sozialem Raum zusammengesetzt wird (Bourdieu 1991:28). Bourdieus Hauptwerk baut auf die strukturalistische Theorie von Lévi-Strauß auf, aber er versteht die symbolische Konstruktion als soziale Tätigkeit, die unter dem Aspekt der Nutzenmaximierung erfolgt. Sie wird zu einer wirtschaftlichen Praxis in der Konkurrenz um eine Positionierung im Raum. „Die Fähigkeit, den angeeigneten Raum zu dominieren, und zwar durch (materielle oder symbolische) Aneignung der in ihm verteilten (öffentlichen und privaten) seltenen Güter, hängt ab vom jeweiligen Kapital. Kapital (in seinen grundlegenden Formen: ökonomisches, kulturelles, soziales) ermöglicht gleichermaßen, sich die unerwünschten Personen und Dinge vom Leib zu halten wie sich den begehrten Personen und Dingen zu nähern und damit die zu ihrer Aneignung notwendigen Aufwendungen (zumal an Zeit) so gering wie möglich zu halten.“ (Bourdieu 1991:30). Personen mit begrenzten Ressourcen sind hingegen stärker an den Ort gebunden und in ihren Freiheiten eingeschränkt, denn sie werden von seltenen Gütern fern gehalten und erfahren dadurch die Machtunterschiede in ihrer Raumaneignung ganz individuell. Die räumliche Struktur und die Unterschiede in den Lebensstilen repräsentieren die Verteilung der Machtfaktoren und reproduzieren Strukturen der Ungleichheit über Generationen durch Zugang oder Distanz und unterschiedliche Ausstattungsfaktoren mit seltenen Gütern (Bourdieu 1991). Kritisiert wird Bourdieus Raumtheorie darin, dass er ein absolutes Bild des angeeigneten sozialen Raumes zugrunde legt und das Soziale einseitig strukturierend auf das Räumliche wirkt. Die strukturierende Wirkung des Räumlichen auf das soziale Handeln bleibt untergeordnet und die Wechselwirkungen von Raum und sozialem Handeln werden zu wenig berücksichtigt (Löw 2007:183).
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2.3.3
Nutzen der subjektivierenden Raumkonzepte für die Mehrwertanalyse in Stadt-Land-Partnerschaften
Subjektivierende Raumverständnisse eröffnen für die Betrachtung der Stadt-LandBeziehungen in Metropolregionen die Möglichkeit, Raum als konstruierte Wirklichkeit zu begreifen, die durch die Akteure wahrgenommen, mit Symbolen und Erfahrungen belegt werden und in ihrem Handeln reproduziert wird. Raum in seiner materiell-physischen Gestalt kann als Ausdruck oder Ergebnis des Handelns im Sinn der Wahrnehmung, Doxa sowie Aushandlung und Zuschreibung von Bedeutungen gelesen werden. Mit der Konstruktion von Zusammenhängen und Herausforderungen für das Handeln entstehen zugleich Identifikationen und Bezugssysteme für Akteure, die integrativ wirken und ein kollektives Bewusstsein formen können. Die konstruktivistische Dimension des Raumes eröffnet Einblicke in die Mechanismen und die kommunikativen Instrumente, die zur Raumkonstruktion eingesetzt werden und Machtkonstellationen offenlegen. Mit dem Bezug auf Handlungstheorien wird einerseits die Intentionalität der Raumproduktion hervorgehoben und zugleich deutlich, dass die Handlungslogik der Akteure unterschiedlichen Typen und Mustern folgen kann und damit spezifische Handlungsweisen begründet. Trotz der Betonung von Kapital und Ressourcen gehen Werlens und Bourdieus Ansätze der sozialen Konstruktion von Raum durch Handeln mit einer Vernachlässigung des physischen Raumes einher. Die Forschung löst sich von physischen Strukturen und Raum wird reine Begrifflichkeit und Ausdruck des Handelns der Akteure.
2.4
GESELLSCHAFTLICHE
R AUMKONZEPTE
Mit der Kritik an der Annahme handlungstheoretischer Ansätze, das Handeln von Akteuren wäre intentional und frei gewählt, öffnen sich gesellschaftliche Raumkonzepte stärker für strukturellen Komponenten und lösen sich von den Ansätzen der reinen Handlungstheorie und konzipieren Raum als inhärenten Prozess der gesellschaftlichen Praxis, indem Raum zum Ausgangspunkt bzw. Voraussetzung, Teil und Ergebnis dieser gesellschaftlichen Praxis wird. Sie verknüpfen strukturalistische und handlungstheoretische Raumtheorien (Blotevogel 2005b:838). Der gesellschaftliche (ökonomische und soziale) Raum wird nicht nur durch physisch-materielle Objekte und ihre Konstellationen strukturiert, sondern ist zugleich ein Produkt sozialer Konstruktion. Es wird darauf verwiesen, dass soziale Organisationen (wie Staaten und Volkswirtschaften) ein materielles Substrat besitzen, durch das die soziale Konzeption des Raumes erst möglich wird (Blotevogel 2005b:836). Zum sozialen Raum wird er durch seine Bedeutung für die soziale Welt, z.B. das nationalstaatliche Territorium als Wirtschaftsraum oder als Kulturraum (vgl. Blotevogel
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2005b).10 Eine typologische Ordnung gesellschaftlicher Räume erfolgt oft nach Maßstäblichkeit in Mikro-, Meso- und Makroräume (Stratmann 1999; Sturm 2000: 203) oder nach theoretischen Zugängen wie sozialpsychologische Raumkonzepte, symbolische Räume oder politischer Raum (Blotevogel 2005b: 837). In die Kategorie der gesellschaftlichen Räume ordnen sich z.B. die Strukturationstheorie (Giddens 1997), die Eigenlogik der Städte (Berking, Löw 2008) Läpples Matrixraum (1992) und das Analysemodell nach Sturm (2000). Sie konzipieren den Raum in seinen unterschiedlichen Dimensionen und bieten zugleich Verweise auf dessen Reproduktionsbedingungen, die u.a. durch Forschung zu Praxistheorien ergänzt wird (Schatzki 2001). 2.4.1
Matrixraumes
Einen wichtigen Beitrag zur Diskussion von Raummodellen lieferte Läpples ‚Essay über den Raum‘ (1992). Die Konzeption des Matrixraumes entwickelt er in der Auseinandersetzung mit den geographischen und regionalökonomischen Raumverständnissen und kombiniert objektivierende mit subjektivierenden Aspekten der Raumkonzepte. Läpple formuliert die Anforderung an die gesellschaftlichen Raumanalysen als systematisches, theoriegeleitetes Vorgehen, in das sich gegenseitig bedingende Aspekte der Raumentwicklung (materielles Substrat und gesellschaftliche Praxis) integriert werden. Da vorfindbare Strukturen Ausdruck vorangegangener Handlungen sind, bedarf es zugleich einer dynamischen Raumkonzeption und historischen Rekonstruktion gesellschaftlicher Strukturen (Läpple 1992:45). Dieter Läpple (vgl. 1992:196-197) differenziert in vier Dimensionen, die die Charakteristik von Räumen prägen und ihre Unterschiedlichkeit beeinflussen, aber betont die wechselseitige Abhängigkeit der Dimensionen voneinander: •
•
•
Das materiell-physische Substrat entspricht der materiellen Erscheinungsform des gesellschaftlichen Raumes. Es besteht aus menschlichen, ortsgebundenen Artefakten, materiellen Nutzungsstrukturen und kulturell überformter Natur. Die Interaktions- und Handlungsstrukturen repräsentieren die gesellschaftliche Praxis der Raumproduktion durch die sozialen Akteure und sind durch Machtverhältnisse ebenso geprägt wie durch lokale Traditionen und Identitäten. Das normative und institutionalisierte Regelungssystem setzt einen weiteren Rahmen der gesellschaftlichen Produktion von Räumen, und zwar durch das Festschreiben von Macht- und Kontrollbeziehungen, rechtlichen und Planungsrichtlinien und -festlegungen sowie Eigentumsverhältnissen.
10 Diese Konzeption des Raumes bildet bereits die Grundlage für Raumwirtschaftstheorie von Lösch oder Böventer (1979) und Thünens Modellierung ökonomischer Zusammenhänge und erlebte mit dem spatial turn eine neue Renaissance (vgl. Blotevogel 2005b).
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•
Die vierte Dimension des Symbol- und Zeichensystems ist eng mit dem materiell-physischen Substrat verbunden, das durch seine funktionale und ästhetische Gestaltung auch Symbolträger ist und Identifikationspotenzial bietet. Zugleich dient es durch den bewahrenden Charakter als kollektives Gedächtnis von gesellschaftlichem Handeln der Vergangenheit (Läpple 1992:196-197).
Abbildung 2: Matrixraum (nach Läpple 1991)
(Eigene Darstellung)
Im materiell-physischen Substrat manifestiert sich der gesellschaftliche Raum in Form seiner physischen Raumstruktur als erdräumliches Beziehungsgefüge von Standorten und Lagerelationen der Objekte. Es ist die Erscheinungsform „der naturgesetzlichen Ortsgebundenheit des menschlichen Lebens“ (Läpple 1992: 41) und Handelns. Die Betrachtung der physischen Raumdimension bildet weder die Bedingungen ihres gesellschaftlichen Entwicklungszusammenhang ab noch beschreibt es gesellschaftliche Funktionen der jeweiligen Raumelemente, die ebenso wie die sozialen Aushandlungsprozesse der Akteure die materiell-physische Ausprägung reproduzieren. Die funktionale und ästhetische Gestaltung der Artefakte macht diese zu intersubjektiven Symbol- und Zeichenträgern, die kontextspezifische Identifikation und kognitive Erkennbarkeit ihrer sozialen Funktionen ermöglichen.
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„Als kristallisierte, vergegenständlichte Formen gesellschaftlichen Handelns und als – vielfach standortgebundene – Sachsysteme, die soziale Verhältnisse begründen und vermitteln, repräsentieren diese Artefakte zugleich ‚hochselektive, spezifische Gebrauchsanweisungen‘, die das räumliche Verhalten der Menschen strukturieren.“ (Läpple 1992:43)
Der materielle Raum und dessen Symbolik verkörpert ein kollektives Gedächtnis, die Geschichte aufbewahren. Der gesellschaftliche Raum kann folglich anhand des Produktions- und Aneignungszusammenhangs des materiellen Substrats erklärt werden, seinen gesellschaftlichen Charakter entfaltet er jedoch durch die gesellschaftliche Praxis der Produktion der handelnden Akteure. Die Akteure, die mit der Produktion, Nutzung und Aneignung des Raumsubstrats befasst sind, sowie ihre gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen werden durch Klassen und Machtstrukturen determiniert und von (lokalen) Traditionen und Identitäten beeinflusst (Läpple 1992:42). Die normative Dimension des institutionalisierten Normund Regelungssystems kann als Bindeglied zwischen materiellen Substrat und handelnden Akteuren und ihrer gesellschaftlichen Praxis konzipiert werden. Gabriele Sturm (2000) erweitert Läpples Matrixraumes um die zeitliche Dimension und betont den prozessualen Charakter der Raumproduktion. Damit stellt sie das Zusammenwirken der unterschiedlichen Raumdimensionen dar und ermöglicht Aussagen, inwiefern Prozesse strukturerhaltend oder strukturverändernd wirken. Sturm betont, dass jede der Dimensionen eine eigenständige Facette einer komplexen Raumvorstellung widerspiegelt, deren Gesamtheit notwendig ist um den Raum entstehen lassen zu können. Sturms dynamisches Analysemodell bietet eine Brücke zur Auseinandersetzung mit Mechanismen und Produktionsbedingungen bei der (Re-)Produktion von Raum. Sie stellt heraus: „dass Raum seinen Charakter nur im Kontext der gesellschaftlichen Praxis entfaltet.“ (Sturm 2000:186)
2.5 K ONSTRUKTION
GESELLSCHAFTLICHER
R ÄUME
Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Räumen wirft die Frage, nach den Produktionsweisen auf. Im Verständnis von Raum als ein gesellschaftlich-produzierter, wird Raumproduktion als sozialer und intentionaler Prozess verstanden, in dem Raumdeutungen als (kollektives) Raumwissen unter den Akteuren abgestimmt werden (Löw 1999). Raum ist nicht nur ein Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse und historischer Prozesse, sondern reproduziert, stabilisiert und verändert diese Verhältnisse durch Wechselwirkungen der einzelnen Dimensionen und die Bedeutungszuschreibungen und Aneignungen der Akteure (Christmann 2010: 27). Räume entstehen nach Löws Raumsoziologie (2007:158-159) durch Spacing, das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen im Raum. Es folgt dem Prozess
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der Wahrnehmung als individuelle Syntheseleistung handelnder Akteure. „Die Raumkonstitution durch die Syntheseleistung ermöglicht es, dass Ensembles sozialer Güter oder Menschen wie ein Element wahrgenommen, erinnert oder abstrahiert werden, und dementsprechend als ein Baustein in die Konstruktion von Raum einbezogen werden.“ (Löw 2007:159). Im Spacing werden die Syntheseleistungen der handelnden Akteure zusammengefügt und ihre „Wahrnehmungs-, Vorstellungsund Erinnerungsprozesse“ zu Ordnungen von Menschen und physische Strukturen zu Räumen verknüpft. Im alltäglichen Handeln laufen Spacing und Syntheseleistung meist parallel ab (Löw 2007:159). Giddens (1997) konzipiert in seiner Theorie der Strukturierung die Raumkonstruktion als Regionalisierungsprozesse, die einerseits durch die regionalen Konfigurationen von physisch-materiellem Substrat und institutionellen Rahmensetzungen und andererseits durch das Handeln der Akteure (re-) produziert werden. Auf der Akteursseite des handelnden Individuums und kollektiven Akteurs sind die Raumproduktionen das Ergebnis von intendiertem, gerichtetem Handeln und emergenten und unintendierten Prozessen. Zugleich handeln die Akteure nicht ohne Einbettung in ihren sozialen und räumlichen Kontext, wie Wirtschaftswissenschafter, im Ansatz regionaler Milieus aufzeigen: „Embeddedness means that interaction of regional stakeholders, outcomes and institutions are affected by personal relations and by the structure of overall network of relations.“ (Bathelt, Glückler 2002:160). Christmann (2010) betont in ihrem Ansatz der Protogovernance die Rolle gewachsener Identitäten der handelnden Akteure, für die Syntheseleistungen als Grundlage der Raumgestaltung. Dem Raum wird eine Geschichte mit materiellen Objekten, Gewohnheiten zugeschrieben, die den Raum mitkonstituieren und den Akteuren helfen, sich darin zu verorten. Dadurch entstehen personale und kollektive Identitäten – als Wissen über sich selbst in der Auseinandersetzung mit anderen (Christmann 2010:37). Kollektive Identitäten kristallisieren sich in Symbolik (Bauwerken, -stilen und Landschaftsmerkmalen), geteilten Erzählungen und Kulinarik. Aber sie können nur in die Identitätsbildung eingehen, wenn sie „wahrgenommen, regelmäßig thematisiert, ausgehandelt und weithin als typisch für den Raum anerkannt worden sind“ (Christmann 2010: 37), denn dadurch prägen sie die personale Identität und Raumbindung der Akteure. Das kollektive Gedächtnis eines Raumes ist daher eine wichtige Grundlage zur Herausbildung und Stabilisierung der Raumkonstruktion und dieses Erinnern erfolgt kommunikativ. Der Erinnerungsprozess ist durch Praktiken bestimmt, die das Erinnern strukturieren und beeinflussen, was als erinnerungsrelevant bewertet wird. Der Erinnerungsprozess und die Auswahl verdeutlichen strukturelle Aspekte, wie Machtkonstellationen der Akteure: „Welche Wirklichkeitsdeutungen bzw. welche Handelnden sich durchsetzen können, hängt von Machtkonstellationen ab.“ (Christmann 2010:40) Berking / Löw (2008) erklären in ihrem Theorieansatz der Eigenlogik der Städte die Unterschiedlichkeit von Städten auch anhand praktischer Logiken und Pfadab-
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hängigkeiten. Vor der Beobachtung der Eigenart von Städten trotz vergleichbarer Rahmenbedingungen, stellt der stadtsoziologische Theorieansatz die während der Moderne aufgekommene Annahme infrage, dass alle Strukturprozesse in Städten ihre Ursache anderswo haben (Berking, Löw 2008: 10). Die Eigenlogik verbindet die Frage, wie eine Stadt zu dem geworden ist, was sie ist, mit den Fragen, was sie charakterisiert und aus welchen Gründen sie anders funktioniert als andere Städte (Löw 2008: 11ff; Rodenstein 2008: 262). Entsprechend der Lesart der Eigenlogik zeigt sich das Besondere einer Stadt in ihrem Abbild: in unterschiedlichen materiellen Ressourcen und der baulichen Gestalt; im Akteurshandeln, ihren Entscheidungsmustern, Machtstrukturen und Handlungsmotivationen; der politischen Kultur, in Normen, Leitbildern und Vereinbarungen manifestierten Wertvorstellungen und Organisationsformen sowie in Symbolen, Metaerzählungen und Atmosphären (Berking 2008:21f). Grundlage der Reproduktion eigenlogischer Stadtstrukturen sind präreflexive und damit unbewusste Prozesse der Sinnformung, die als Routinen der Raumkonstruktion in Abhängigkeit des Vergesellschaftungskontext der Stadt praktischen Sinn entfalten (Löw 2008, Berking 2008). Mit der Kopplung zwischen lokaler Spezifik von Struktur und Handeln sowie Wahrnehmungsmustern und Wertesystemen einerseits und die Einbindung der Raumkonstruktion in stadtexterne Diskurse und Räume andererseits, sind sie von Ort und Zeitpunkt abhängige Gebilde und verknüpfen sich Geschichte und Gegenwart einer Stadt (Frank 2012:300). In den dargestellten Konzepten erfolgt Raumproduktion durch soziale Praktiken. In Abgrenzung zu den klassischen Handlungstheorien sind soziale Praktiken der Ausdruck für ein modifiziertes Verständnis von Handeln, Akteur und Subjekt (Reckwitz 2003:283). Praxeologische Theorieansätze lösen sich von der Annahme eines rein zweckrationalen Handelns und stellen den Rationalismen informelle Logiken gegenüber. Sie berücksichtigen rekursive, sozial und kulturell beeinflusste Verhaltensroutinen als Grundlage von Entscheidungen. „Practice, in sum, displace mind das the central phenomenon in human life“ (Schatzki 2001: 11). Handeln enthält zwar Elemente der Intentionalität, ist aber vor allem eine Aktivität, in der praktisches Wissen (vgl. Giddens praktisches Bewusstsein) eingesetzt wird (Reckwitz 2003:285). Praxistheorien berücksichtigen neben kulturell-erklärbaren Gewohnheiten und Handlungen (vgl. Gender studies) insbesondere Materialität und die Rolle von Artefakten sowie physischer Umwelt, die einerseits in Abhängigkeit vom Benutzer „kulturalisiert“ werden, aber in denen sich andererseits Handlungsweisen materialisieren (Reckwitz 2003: 286). Im Zentrum der Ansätze stehen Praktiken, die die kleinste Einheit des Sozialen bilden und durch implizites Verstehen zusammengehalten werden (Schatzki 2001: 9). Sie umfasst mittels Körperlichkeit die Inkorporiertheit von Wissen und Performativität von Handeln. Das Soziale und Prägende räumlicher Ordnungen entsteht durch Wiederholung der sozialen Praktiken über zeitliche und räumliche Grenzen
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hinweg, die durch kollektives (praktisches, kulturelles, methodisches) Wissen und Verstehen ermöglicht wird (Reckwitz 2003:300ff). In den vergangenen Jahren fanden praxeologische Ansätze eine wachsende Beachtung und stellen aktuell eine sozialkonstruktivistische Forschungsperspektive dar, unter der eine Reihe von Ansätzen subsummiert wird.11 Im Vergleich mit Max Webers Annahmen entsteht der Eindruck, dass anstelle rationalen Handelns, das traditionale Handeln in den praxeologischen Denkmodellen dominiert, wenngleich die soziale Praktiken nicht mit reinen Routinehandeln gleichgesetzt werden sollten und z.B. durch (inter-) subjektive Reflexivität, spezifische Intention oder entsprechend der Kontextualität verändert und angepasst werden (Reckwitz 2003:303f). Offene Fragen und Kritikpunkte der Praxistheorien sind die Unklarheit der Abgrenzung von sozialen Praktiken, z.B. in ihrem Verhältnis zu Diskursen und im Spannungsfeld von Routine und Innovation sowie die Rolle von Artefakten (zwischen Gegenstand und Akteur) sowie die Rolle von Macht. Praktiken stehen in der Betrachtung neben Strukturen, Arrangements oder Institutionen, die diese Praktiken zusammenführen (Schatzki et al 2001). Anwendung auf den Untersuchungsgegenstand In der theoretischen Auseinandersetzung mit Raum und Raumproduktion wird deutlich, dass die Charakteristiken der Metropolregionen und der Stadt-Land-Partnerschaften in den einzelnen Raummodellen sehr unterschiedlich konzeptualisiert werden können. Während Containerraum-Konzepte und relationale Räume die Bedeutung von Ausstattungs-, Nähe- und Lagefaktoren betonen, stehen für sozialgeographische Ansätze Akteure, deren Handeln und Wirklichkeitsdeutung sowie Machtkonstellationen im Mittelpunkt. Die gesellschaftlichen Raummodelle kombinieren die Verständnisse von raumprägenden und raumproduzierenden Faktoren zu komplexen Erklärungsmodellen. Es wird angenommen, dass mit diesen mehrdimensionalen Raummodellen eine größere Vielfalt an Mehrwerten und möglichen Hindernissen der Zusammenarbeit in Metropolregionen erschlossen werden als mit dem raumwissenschaftlichen Konzept der Metropolregionen. Für die vorliegende Arbeit wird der Matrixraum zur Beschreibung und Analyse der Metropolregionen als Arrangement und Ausdruck vergangener Raumproduktionen zugrunde gelegt. In Annäherung an aktuelle Muster der Reproduktion von Metropolregionen werden die sozialen Praktiken der Stadt-Land-Zusammenarbeit untersucht. Da diese Theorieansätze für die Reproduktion von Raum zwischen Struktur und Handeln aufgrund der Lösung von Rationalismen im (raumbezogenen) Handeln, der raumzeitlichen Einbettung der Handlungen und der Verknüpfung von 11 Reckwitz (2003: 290ff) kategorisiert diese Ansätze beispielsweise in strukturtheoretische, ökonomisch-individualistische, normativistische und kulturtheoretische Ansätze.
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Handeln und Materialität vielversprechend sind. Folglich steht die Akteursdimension des Matrixraumes im Mittelpunkt der Betrachtung und an diese Schwerpunktsetzung knüpft sich die Erwartung, dass in der Kombination die Vorstellung des möglichen Mehrwertes gegenüber dem rein objektivierenden Raumverständnis des Konzepts der Metropolregionen oder rein handlungsbezogenen Raumverständnissen (der Regional Governance) erweitert werden kann.
3 Stadt-Land-Zusammenarbeit in der Raumentwicklung
Stadt und Land werden seit Jahrhunderten als gegensätzliche Raumeinheiten wahrgenommen, die aufgrund unterschiedlicher physiognomischer, funktionaler und sozialer Merkmale spezifische Identitäten, Arbeits- und Lebenswelten entwickelten. Zugleich besteht ein enger Austausch zwischen Stadt und Land, der an Menschen-, Güter-, Ideen- und Kapitalströmen deutlich wird und unterschiedlich ausgerichtet sein kann. Henkel (2004: 38-40) nennt die folgenden drei Formen von Stadt-LandBeziehungen, wenngleich die Entwicklungsimpulse der ländlichen Räume zumeist von den Städten ausgehen: •
•
•
Verstädterung und Urbanisierung: Diese Prozesse beschreiben die Ausweitung der städtischen Siedlungsweise und Bauformen sowie die Ausweitung von städtischen Lebensformen und Verhaltensweisen. Suburbanisierung oder Rurbanisierung: bezeichnet Austauschprozesse, in denen weder Städte noch ländliche Räume die Entwicklungsrichtung der Austauschprozesse bestimmen. Suburbanisierung beschreibt das Wachstum der Vororte (Suburbs) und Stadtrandsiedlungen, der insbesondere durch den Bevölkerungszuzug aus der Kernstadt getragen wird. Die Ausbildung von neuen vorstädtischen Lebensstilen wird teils als Rurbanisierung bezeichnet. Sie kombiniert städtische und ländliche Sozialstrukturen. Ruralisierung: Bei der Verländlichung dominieren die ländlichen Räume die Austauschprozesse und der Anteil der Landbevölkerung wächst an. Diese Form findet nur in Notsituationen statt, wenn z.B. Evakuierungen von Großstädten vorgenommen werden. Unter Ruralisierung wird die Einführung ländlicher Lebensformen und Lebensvorstellungen in den städtischen Kontext verstanden, der durch Zuzügler, z.B. durch Pflege von Traditionen, eingeführt wird.
Die Entwicklung der Industrieregionen war und ist vor allem durch die Tendenzen der Verstädterung gekennzeichnet (vgl. Kap. 3.1). Daraus resultierte, dass Raum-
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planer ländliche Räume oft als „Rest- oder Zwischenraum“ wahrnehmen, der in erster Linie Ausgleichsfunktionen für benachbarte Verdichtungsräume erfüllen sollte, während der politische, wirtschaftliche und kulturelle Eigenwert der ländlichen Räume oft vernachlässigt wurde (Linzer 1999, Leber, Kunzmann 2006). Hingegen hat der ländliche Raum seit den 1970er Jahren als Wohnstandort in der Präferenz der Befragten eine Renaissance erlebt, die zu einer wachsenden Vielfalt ländlicher Räume führte. Die Entwicklungstrends zur Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft wurden später als Grund benannt, dass die Gegensätze zwischen Stadt und ländlichen Räumen auch hinsichtlich der soziokulturellen Struktur ihrer Bevölkerung aufgehoben werden könnten. Doch dieser Trend lässt sich bisher nicht erkennen. Aus diesem Grund werden auch aktuell Handlungsstrategien diskutiert, wie die Disparitäten zwischen ländlichen und städtischen oder zentralen und peripheren Teilräumen ausgeglichen werden können.12
3.1 S TADT -L AND -B EZIEHUNGEN IM HISTORISCHEN R ÜCKBLICK 3.1.1
Beginn der räumlichen Arbeitsteilung im Frühmittelalter
Für die Betrachtung des Stadt-Land-Verhältnisses in Mitteleuropa bietet sich ein Untersuchungshorizont ab dem frühen Mittelalter an, da mit der Völkerwanderung die Bevölkerungsdichte wuchs und die Arbeitsteilung etabliert wurde. Zuvor siedelte die Bevölkerung Mitteleuropas in kleinen Einheiten über die Fläche verstreut, aus denen wenige Städte (meist Bischofssitze und Erbe des römischen Reiches) herausragten. Existenzgrundlage der Bevölkerung bildeten landwirtschaftliche Produkte, die für den Eigenbedarf durch einzelne oder im Verband siedelnde Familien produziert wurden (Brake 1980). Infolge des Bevölkerungsanstiegs bestand ein Bedarf zur Intensivierung der Landwirtschaft, die durch neue Ackergeräte, Rodungen und die Einführung der Dreifelderwirtschaft ermöglicht wurde. Die intensivierte Landwirtschaft sicherte nicht nur die Existenzgrundlagen, sondern konnte auch Überschüsse erwirtschaften, so dass Teile der Bevölkerung für andere Tätigkeitsfelder freigestellt werden konnten und es entstand die erste Arbeitsteilung zwischen landwirtschaftlicher Arbeit sowie Handwerk und Handel (Brake 1980). Im 11. Jh. begann also die Herausbildung von Städten, die die Streusiedlung landwirtschaftlicher Produktion ergänzten. Denn die Standortvoraussetzungen von
12 Wenngleich sich das räumliche Bild sozio-ökonomischer Strukturen differenziert hat und sowohl prosperierende ländliche Regionen als auch strukturschwache schrumpfenden Städte umfasst.
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Handwerk und Handel konnten die Kopplung an den Boden überwinden und führten zu einer räumlichen Konzentration ihrer Tätigkeiten und Märkte an Sitzen eines Feudalherren, einer kirchlichen Einrichtung oder des Königs, da an diesen Orten mehr Arbeitskräfte und größere finanzielle Ressourcen zur Verfügung standen (Brake 1980). Die Städte übernahmen die Funktionen Handel, Nachrichtenversorgung und den Aufbau des Gewerbes. Zur Sicherung der Produktionsmittel und zum Schutz vor ruinöser Konkurrenz bilden sich Gilden und Zünfte, die festsetzten wie und wo ein Beruf auszuüben ist und was zu leisten ist (durch Qualitätsmaßstäbe, Preise und Ehrenkodizes, Brake 1980). Die Handwerker und Kaufleute wurden zu den treibenden Kräften für die Eigenständigkeit der Städte mit einer eigenen Verfassung. Städte entwickelten sich zu Selbstverwaltungsverbänden von gleichberechtigten Mitgliedern (Adel, Klerus und Bürger). Die Bürgerschaft war souverän und nur an gemeinschaftliche Rechte und Pflichten gebunden, die zur Erhaltung des Arbeits- und Lebensstandortes Stadt auferlegt wurden, z.B. der Einrichtung indirekter Steuern (Brake 1980). Die räumliche Struktur im Mittelalter wurde also stark durch die Herausbildung von Städten geprägt. Diese orientierten sich erst an bestehenden Städten und Siedlungen (Römerstädte, Bischofssitze, Königspfalzen, Klöster) und führten zu einer allmählichen Verschmelzung der alten und neuen, handwerklichen Strukturen (12./13. Jh.). Spätere Stadtneugründungen erfolgten an Handelswegen und Furten. Insgesamt blühten die Städte seit dem Mittelalter auf und entwickelten sich zu wirtschaftlichen Zentren, die durch ihre neuen Funktionen an Anziehungskraft gewannen (Benevolo 1999:81). Im 14. Jh. lebten bereits 12-13 Mio. Einwohner in den ca. 3000 Städten, die sich hinsichtlich ihrer Größe, Lage und Charakteristik unterschieden (vgl. Häußermann 2004). Zum Schutz vor Feudalmächten und zur Absicherung von Handelsinteressen wurden überregionale Städteverbünde mit eigenen Streitkräfte gegründet (vgl. Benevolo 1999: 84). Die beginnende räumliche Arbeitsteilung verstetigte die gesellschaftliche Arbeitsteilung und verfestigte das Nebeneinander von Stadt und Land. Die neuen Migrationsströme zielten auf die Städte – verursacht durch neue Optionen (Stadtluft macht frei) als auch durch steigende Lasten der Feudalherren (Brake 1980, Häußermann 2004).13 Die ländlichen Räume änderten ihre Charakteristik wenig und blieben dünn besiedelt. Wenngleich die Städte sich nur aufgrund des Überschusses aus der landwirtschaftlicher Produktion entwickeln konnten, so übernahmen sie im Zuge der neuen Arbeitsteilung und aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung eine Führungsposition. Diese begründete sich im Gewerbemonopol der Städte bzw. den 13 Befreiungsbestrebungen von der Feudalherrschaft wurden durch Handwerk vorangetrieben, dass sich das Gewerbemonopol sichern wollte, als auch vom Handel gefördert, der mit seinem Anliegen der gesicherten Wege und Marktbeziehungen die politische Herauslösung der Städte aus ihrem agrarischen Umland unterstützte.
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Zünften und deren Bannmeile, ihren Stapelrechten und Marktgesetzen, die die städtischen Handelsfunktionen förderten (Benevolo 1999: 60f). Durch die Monopolstellung und das Preisdiktat sowie die Überlegenheit der Städte in der Produktivitätsentwicklung konzentrierte sich der technische Fortschritt auf die Städte (Brake 1980). Parallel zur Trennung der Produktionsweisen verkörperten Stadt und Land im Mittelalter getrennte Rechts-, Politik- und Wirtschaftssysteme, die auch die Sozialsysteme beeinflussten. In den Städten entstand mit den Gilden und Zünften ein System der Arbeitsteilung, Lohnarbeit und des Kapitaleinsatzes, dass in einer Versachlichung der gesellschaftlichen Beziehungen mündete. Auf dem Land hingegen bestimmen weiterhin die feudalen, personifizierten Verhältnisse mit der Leibeigenschaft der Bauern die Lebens- und Arbeitsbedingungen (Häußermann et al 2008:31). 3.1.2
Relativierung der Rolle von Städten im Absolutismus
Der Handel entwickelte sich zu einem maßgeblichen Wirtschaftszweig, der von einer hohen Nachfrage nach Gütern, der Einführung des Geldhandels und der Entdeckung von Übersee profitierte. Durch die Intensivierung des (Fern-) Handels konnte dieser effizienter gestaltet werden und bessere Transportwege und Finanzierungsmöglichkeiten unterstützten diese Entwicklungen (Brake 1980, Häußermann 2004). Ergebnis der Ausweitung des Handels war die Konzentration des Geldvermögens bei den Kaufleuten in den Städten, die dieses wiederum zur Weiterentwicklung des Handwerks und die Förderung von neuen Produktionsweisen einsetzten. Dabei bildeten sich u.a. Manufakturen14 als neue effiziente gewerbliche Produktionsform heraus, deren Entwicklung nicht zuletzt durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (d.h. Sicherheit im Handel, Ausbau der Verkehrswege, Erweite-
14 Es bildeten sich zwei unterschiedliche Formen der Produktion heraus: 1.Manufakturen: In Manufakturen produzierten mehrere handwerklich Tätige unter einem Dach in großen Betrieb. Dadurch konnten Synergieeffekte durch Größenvorteile z.B. Arbeitsmaterialien, Gebäude oder Energiequellen und erschlossen werden, die eine betriebliche Arbeitsteilung und Kooperation ermöglichten. Aufgrund der Zunftbeschränkungen und des Energiebedarfs etablierten sich die Manufakturen vor allem außerhalb der Städte. Manufakturen entstanden aus einer hohen Nachfrage nach Textilien, dem Vorhandensein von Arbeitskräften – sowohl aus ländlichen Gebieten als auch kleinen Handwerkern der Städte – und aus der Freiheit zur handwerklichen Produktion jenseits der Bannmeilen der Städte. Eine zweite Form der Produktion stellte das Verlagswesen dar. Dabei übernahmen Kaufleute den Einkauf der Rohstoffe, die an kooperierende Handwerker zur Verarbeitung weitergegeben wurden und im Anschluss zu Festpreis abgekauft wurden und durch Kaufleute vermarktet wurden. Das Verlagswesen wird als Übergangsform zur Manufaktur wahrgenommen werden und etablierte sich sowohl in Städten als auch dem Land (vgl. Brake 1980).
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rung der Absatzmärkte sowie Erfindungen in der Werkzeugproduktion) unterstützt wurden (Brake 1980). Diese Entwicklungstendenzen schwächten die Städte im Vergleich gegenüber den Territorialstaaten. Einerseits behinderten in den Städten die Zunftbeschränkungen (Beschränkung der Handwerker, Produktmenge und Preise) die neuen Produktionsweisen, so dass sich insbesondere Manufakturen vor allem in ländlichen Gebieten ansiedelten. Andererseits gerieten die städtischen Zünfte durch Konkurrenz der Manufakturen unter Druck. Die gewerbliche Wirtschaft im Absolutismus unterteilte sich in das traditionelle Handwerk, das in den Städten beheimatet ist und nahezu keine Produktivitätssteigerungen verzeichnet, das Verlagswesen, das sowohl in Städten als auch im ländlichen Räumen beheimatet ist, und die Manufakturen (mit der höchsten Produktivität), die als Neugründungen auf dem Land jenseits der bestehenden Städte etabliert wurden (Brake 1980). Diese Entwicklungen führten zu einem Bedeutungsgewinn der Territorialstaaten und der Feudalherren, die gegen Abgaben Monopole für die Produktion in Manufakturen vergaben. Zugleich setzte sich mit dem Absolutismus das feudale Herrschaftswesen auf Staatsebene durch und stärkte die Landesebene. Landesherren übernahmen Staatsaufgaben, wie beispielsweise die Ausbildung, die Ansiedlung von qualifizierten Handwerkern, den Infrastrukturausbau (Straßen, Brücken, Kanäle, Landgewinnung) und die Bereitstellung von stehenden Heeren zur Sicherung wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse. Als Wirtschaftspolitik setzt sich der Merkantilismus durch, der für einen überregionalen Güteraustausch, die Stärkung staatlichen Handelns und des Haushalts durch Abgaben und Steuern sowie die Einführung von Zöllen in Form von Eintrittsgeldern anstelle von Wegezöllen steht (Brake 1980, Häußermann 2004). Landesfürsten gelang eine weitgehende Unterordnung der Städte, deren ökonomische Entwicklung durch eine wirtschaftliche Schwäche des Handwerks und wachsende sozialen Spannungen zwischen reichen Kaufleuten und verarmenden Handwerkern gehemmt wurde. Ein Indiz für die Entkräftung der Städte war die Auflösung der Städteverbünde. Mit dem Westfälischen Frieden 1648 wurde die Stadtfreiheit aufgehoben und der Bedeutungsverlust der Städte besiegelt. Diese Auflösungen stehen in Deutschland zugleich für die Stärkung der Territorialstaaten und Landesfürsten, während andere europäischen Staaten (insbesondere Frankreich und England) die Zentralstaaten stärkten (Brake 1980). Während des Absolutismus verloren die Städte damit ihre rechtliche und politische Eigenständigkeit und ihre Belange wurden in die nationale Wirtschaft integriert. Die Wirtschaft- und Sozialsysteme unterschieden sich weiterhin zwischen Stadt und Land und waren durch eine intensive Arbeitsteilung geprägt. In ländlichen Gebieten dominierte die Landwirtschaft die Arbeits- und Lebensformen, während in den Städten Erwerbstätigkeit im handwerklichen Bereich, in der staatlichen Verwaltung und im Handel hohe Bedeutung hatte (Häußermann 2004; Ipsen 1991). Die
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ländliche Bevölkerung und die Landwirtschaft stellte auch im Absolutismus die Mehrheit der Gesellschaft, wenngleich die Produktivität unter der der gewerblichen Wirtschaft und des Handels zurückstand. In den Dörfern herrschte weiterhin Selbstversorgung und Familie sowie Kirche stellten den Mittelpunkt des Lebens dar. Hintergrund der unterschiedlichen Ausprägungen zwischen Stadt und Land bildet die enge Verknüpfung von Wohn- und Arbeitsorten. In der Stadt konnte die Bevölkerung zwischen heterogenen Wohnformen wählen und war im Alltag auf eine Reihe städtischer Dienstleistungen angewiesen. Der städtische Arbeitsmarkt war bereits vielfältig genug um eine Berufswahl anzubieten. Weiterführende Schulen waren ausschließlich in den Städten verortet ebenso wie diverse Kulturangebote und die ersten Warenhäuser (Häußermann et al 2008). Die Geburtenrate lag auf dem Land deutlich über der Geburtenrate der Städte. Dies war vor allem den hohen Kosten für die Familien in den Städten geschuldet (Häußermann 2004). Die Raumstruktur charakterisierten im Absolutismus spezialisierte Orte des Handels und Gewerbes in den Städten sowie Landwirtschaft, Manufakturen und Verlagsniederlassungen auf dem Land. Daneben etablierten sich Residenz- und Reichsstädte als Orte des administrativen, wissenschaftlichen und kulturellen Lebens (Benevolo 1999:148ff). Zwar verlieren die Städte ihr Monopol in der gewerblichen Produktion, sind aber weiterhin Orte, in denen sich das Kapital konzentriert und gesellschaftliches Leben stattfindet. Die Städte repräsentieren weiterhin eine Souveränität, die sich im Verhalten der Bürger widerspiegelt und die sich in Landstädten und auf dem Land nicht in der gleichen Form wiederfindet. 3.1.3
Stadt-Land-Verhältnis in der Industrialisierung
Mit der Erfindung von Spinnrad und Webstuhl und der Durchsetzung von Fabriken als Produktionsort wurde das Maschinenzeitalter eingeleitet, das eine neue Ära der Lebens- und Arbeitsbedingungen und des Stadt-Land-Verhältnisses nach sich ziehen sollte (Benevolo 1999:184ff). Für die Einführung der neuen Produktions- und Wirtschaftsformen wurden neue Standortvoraussetzungen bedeutsam. Denn die bestehenden Regelungen entsprachen in den unterschiedlichen Bereichen nicht mehr den Bedürfnissen der Wirtschaft: •
•
Durch die Bindungen der unfreien Landbevölkerung an Grundherren (z.B. durch das preußische Landrecht) war ein Abwandern von Arbeitskräften in die Städte unterbunden. Dadurch konnten Arbeitskräfte, die durch unrentabel gewordene Betriebe der landwirtschaftlichen und handwerklichen Produktion freigesetzt wurden, nicht ungehindert ein neues Tätigkeitsfeld suchen. Aufgrund der Erfindungen waren Energiequellen nicht mehr die entscheidende Standortvoraussetzung der Produktion. Vielmehr wurden die Nähe zu den
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Märkten und Zulieferern, der Zugang zu den Rohstoffen, die Sicherheit der Handelswege und die Höhe der Zollgrenzen wichtiger. Zunftzwang, Bannmeilen und Bodenmonopol des Adels behinderten die freie Wahl des ausgeübten Gewerbes und des Standorts. Die Einführung der Gewerbefreiheit war deshalb damit für alle, die über die Voraussetzungen über die Produktion besaßen, eine Teilhabe an der wirtschaftlichen Tätigkeit bestehen ermöglichen zu können.
Politische Veränderungen gingen auf deutschem Territorium von Preußen mit den Stein-Hardenbergschen Reformen aus. Besonders relevant für die Entwicklung des Stadt-Land-Verhältnisses waren: die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern (1807), die Einführung der Gewerbefreiheit und zum Erwerb landwirtschaftlicher Flächen (1810-69), die Gemeindeordnung für kommunale Selbstverwaltung und die Erhebung kommunaler Steuern (Gewerbesteueredikt 1810) und der Abbau der Zollschranken in Deutschland (1834 dt. Zollverein) sowie die Bildung des Deutschen Reiches (1871). Die Herausbildung der neuen Produktions- und Wirtschaftsweise wurde durch die Umsetzung staatlicher Aufgaben unterstützt, z.B. durch Bau der Eisenbahn oder die Einführung neuer Eigentumsrechte sowie demokratischer Städteverfassungen (vgl. Müller 1990:151ff.) Die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen beeinflussten auch das Stadt-Land-Verhältnis. Die Ansiedlung der Industrieproduktion führte weniger zu neuen Standorten, sondern vollzog sich in Form von Konzentrationen in größer werdenden Ballungsgebieten, während Landstädte oft einem Bedeutungsverlust konfrontiert waren. Große Städte entwickelten sich zu Absatzmärkten, die durch die Konzentration verschiedener Industrien, Dienstleistungen, Verwaltungen einen raschen Produktumschlag ermöglichten und ein günstiges Produktionsmilieu anbieten konnten. Die Nähe zu Arbeitskräften, Märkten, Verkehrsknotenpunkten und dem Sitz alter Gewerbe stellten wichtige Standortvoraussetzungen dar, die eine Ansiedlung weiterer Aktivitäten des Waren- und Geldhandels förderten (Brake 1980). Mit den Freiheitsrechten in der Standortwahl setzte eine enorme Wanderungsbewegung von den ländlichen Gebieten in die Städte ein. Der Abbau der Transportkosten beschleunigte die Erschließung größerer Absatzmärkte und damit den Entzug von Produktions- und Bevölkerungspotenzials vom Land. Agglomerationen übernahmen das Industriemonopol und entwickelten sich zu Zentren des Kapitalmarktes, der Verwaltung, der Kultur und des Vergnügung. Sie behaupteten ihre Bedeutung als Orte des höheren Arbeits- und Lebensniveaus sowie der politischen und ökonomischen Macht (Brake 1980). In ländlichen Entleerungsgebieten hingegen sank die Qualität der Verkehrswege und öffentlichen Einrichtungen, denn aus dem relativ gleichmäßigen Netzwerk von Dörfern auf Basis der gewerblichen Wirtschaft entstand mit der Industrialisierung eine ungleiche Raumstruktur, die zunehmend den Prinzipien industrieller Produktion folgte. Die Rolle der ländlichen Gebiete re-
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duzierte sich verstärkt auf die von Rohstofflieferanten, Abnehmer industrieller Fertigwaren, Lebensmittelproduzent und Arbeitskräftereservoir (Brake 1980). Die Industrialisierung förderte also eine umfassende gesellschaftliche und territoriale Arbeitsteilung. Auf Grundlage kapitalistischer Produktionsformen und neuer Transportverbindungen wurden überschaubare, regionale Märkte durch wachsende (inter-)nationale Austauschbeziehungen abgelöst. Anstelle der sich selbstversorgenden Lebenseinheiten bildeten sich Agglomerationen industrieller Produktion und dazwischen liegende Streugebiete der landwirtschaftlichen Produktion (Brake 1980). Die Abhängigkeit ländlicher Gebiete von Städten basierte auf Unterschieden in der Arbeitsproduktivität, die sich im Preisdruck und politisch vermittelte. Zwar hat die Vereinheitlichung der zunächst unterschiedlichen Existenzformen der Bevölkerung in Stadt und Land zu einer Angleichung der Regeln und Rahmensetzungen für die Warenproduktion geführt. Doch unter ökonomischen Gesichtspunkten wurden die zunächst territorial vernetzten Lebenswelten von Landwirtschaft und Gewerbe in der Industrialisierung voneinander getrennt, woraus eine extreme territoriale Arbeitsteilung und eine Ungleichheit der Raumstruktur folgten. Daraus resultierten ungleiche Arbeits- und Lebensverhältnisse, die ungleiche Ausgangsbedingungen für die individuellen Entwicklungsbedingungen der Menschen in Stadt und Land nach sich zogen (Häußermann et al 2008: 32f). Ipsen untergliedert die Stadt-Land-Beziehungen seit Beginn der Industrialisierung in folgende Phasen: •
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Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg existierten der traditionelle Sektor und die Industrie nebeneinander. Im ländlichen Raum waren Landwirtschaft, Handwerk und Teile des Handels fest verankert und zugleich dient der ländliche Raum dem städtisch-industriellen Räumen als Ressourcenraum und stellt Lebensmittel, Menschen und Naturraum – für die Sommerfrische – bereit. Allerdings „bleibt der ländliche Raum dabei jedoch sich selbst überlassen“ (Ipsen 1991:119) und die Abwanderungen von ländlichen in städtische Gebiete entlasteten den ländlichen Raum von Personen, die durch die Landwirtschaft nicht hinreichend ernährt wurden und versorgten Industriegebiete mit einen hohen Nachfrage nach Arbeitskräften. Nach dem ersten Weltkrieg setzte eine Kolonisierung des Landes durch die Städte ein (Häußermann et al 2008: 34). Als Ordnungsprinzipien setzten sich moderne, fordistische Arbeits- und Lebensweisen durch, die eine weitere Arbeitsteilung und Rationalisierung der Arbeitswelt förderten und auf ländliche Räume übertrugen. Zugleich wurden städtische Lebensweisen, Institutionen und Bauformen in den ländlichen Raum hineingetragen und die traditionellen Lebensformen zunehmend verdrängt (Ipsen 1991:119f). Seit den 1970er Jahren werden die Krise des fordistischen Gesellschaftsmodells proklamiert und postfordistische Arbeits- und Lebensweisen identifiziert, die auf flexibleren Produktionsweisen und sozialer Individualisierung beruhen.
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Damit verändern sich die Stadt-Land-Beziehungen, da die Rolle von qualifizierter Arbeit, Arbeitsteilung und staatlicher Steuerung neu bewertet werden und Aspekte von Selbstregulation, Vernetzungen und Wirtschaftskreisläufen und Subsistenz stärkere Beachtung finden. „In nachmodernen Strukturen werde der Stadt-Land-Unterschied zweitrangig, weil die ökonomischen und sozialen Aktionsräume sich in einer regionalen Verflechtung bilden.“ (Ipsen 1991 nach Häußermann: 6). Das Stadt-Land-Verhältnis veränderte sich in Form einer Ausweitung suburbaner Gebiete im Umland der Groß- und Mittelstädte und es bildete sich der Typus des suburbanen Raumes oder der Zwischenstadt, die weder dem klassischen Modell der Stadt als dem traditionellen Bild des ländlichen Raumes entsprechen. Suburbanisierung in Form von Stadt-Umland-Wanderungsbewegungen von Familien, Unternehmen und Einzelhandel werden ein neues Phänomen, das die Raumstrukturen und planerische Aufgabenschwerpunkte prägte.15 Mit der Reurbanisierung Mitte der 1990er Jahre, die die Städte in ihrem Einwohnergewicht und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung stärkt, lassen sich neue Entwicklungstendenzen und raumplanerische Diskussionen um Herausforderungen und Strategien zur Förderung einer ausgewogenen Raumentwicklung feststellen. Dabei wird meist die ‚Diskussion‘ um Stadt-Land-Gegensätze von der Diskussion um Zentralisierung und Peripherisierung abgelöst (Keim 1998; Bürkner 2006) und eine differenzierte Sichtweise auf städtische und ländliche Räume in ihrer Vielfalt angemahnt (Leber 2006). 3.1.4
Schlussfolgerungen aus historischer Perspektive
Veränderungen der Stadt-Land-Beziehungen stehen in engem Zusammenhang mit den jeweiligen Gesellschaftsformen und spiegeln unterschiedliche Rechts- und Herrschaftsverhältnisse wider. Prägend ist seit der Herausbildung von Städten die räumliche Arbeitsteilung, die unterschiedliche Lebens- und Arbeitsformen, ökonomische Logiken und getrennte Rechts- und Herrschaftssysteme zwischen Städten und ländlichen Räumen umfassen konnte (Brake 1980). Der Blick auf historische Stadt-Land-Beziehungen macht deutlich, dass Kerne neuer Aktivitäten sich oft aufgrund ökonomischer und politisch-rechtlicher Gelegenheiten bilden und die naturräumliche Ausstattung nur eine begrenzte Rolle für die Erklärung der ökonomischen Unterschiede spielt. Neue Aktivitäten entstehen einerseits meist in bestehenden Siedlungskernen sowie Orten des Kapitals, an denen Überschüsse erwirtschaftet und Bevölkerung für neue Tätigkeiten freigestellt werden konnten (Ipsen 1991). Oder es werden Freiräume genutzt, die durch weniger re15 Vgl. für die deutsche Debatte z.B. Brake, Dangschat, Herfert (2001) oder Orfield (1997), Lewis (1996) für die US-amerikanische Forschung zur Suburbanisierung.
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striktive Beschränkungen gekennzeichnet sind und eine Erprobung neuer Lebensund Arbeitsformen ermöglichen, wie das Beispiel von Gewerbeentwicklungen jenseits der Städte im Übergang zum Absolutismus zeigt. Für neue Tätigkeiten werden den Räumen Bevölkerung und Produktivkräfte entzogen, die für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung weniger relevant sind (Brake 1980). In der Moderne wurde schließlich die Zentrum-Peripherie-Konstellation synonym zum Stadt-Land-Gegensatz verwendet wurde und das Verhältnis als ein funktional aufeinander bezogenes Arrangement von Metropole und „ihrem Hinterland“ beschrieben (Bürkner 2006:549). Während die Städte und Metropolen mit Fortschritt und Motorenfunktion gleichgesetzt wurden, stellten die ländlichen Regionen bremsende Elemente dar, die Ausgleichs- und Unterstützungsfunktionen für Aufgaben übernahmen, die das Zentrum nicht leisten konnte. Diese eindeutige Zuordnung ist nicht mehr möglich, wie sich in kleinräumigen Entwicklungsdifferenzierungen zeigt und auch in einem gewandelten Verständnis der Städte und ihren Regionen zum Ausdruck kommt. Ökonomische Ausstrahlungseffekte unterliegen heute neuen Selektivitäten und lassen sich z. B. nur noch in einzelnen Sektoren (in Form von Suburbanisierungseffekten) finden (Bürkner 2006:549). Doch bevor die Zusammenhänge von aktuellen Debatten und raumplanerischen Ansätze zum Umgang mit Herausforderungen der Stadt-Land-Beziehungen diskutiert werden, wird definiert, was als ländlicher Raum bzw. als ländliche Räume bezeichnet werden kann.
3.2 V ON
LÄNDLICH ZU PERIPHER .
D EFINITIONSANSÄTZE
„Der ländliche Raum ist nicht leicht zu fassen. Er ist vielfarbig und tiefgründig zugleich, von unterschiedlichen Wandlungsprozessen betroffen; seine ausgeprägten regionalen und lokalen Individualitäten, seine vielschichtigen Potenziale und Probleme, entziehen sich einer schnellfüßigen Darstellung und Generalisierung“ (Henkel 2004:17).
Eine Definition von ländlichem Raum erfolgt meist im Plural, denn spätestens seit den 1970er Jahren haben sich die Raumstrukturen soweit ausdifferenziert, dass eine Subsummierung der Teilräume unter einer Raumkategorie zu unscharf bliebe (Leber, Kunzmann 2006). Oft erfolgt die Abgrenzung des ländlichen Raumes als Negativdefinition, indem die ländlichen Räume der Teil der Bundesrepublik ist, der nach Abzug der Verdichtungsräume und sonstiger verdichteter Räume übrig bleibt (Henkel 2004:33). Laut Handwörterbuch der Raumordnung (ARL 2005) werden ländliche Räume als Gebiete charakterisiert, „in denen dörfliche bis kleinstädtische Siedlungsstrukturen vorherrschen, die Bevölkerungsdichte relativ gering ist und die erwerbstätige Bevölkerung größtenteils oder überwiegend in der Landwirtschaft beschäftigt ist“
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(Mose 2005:575). An dieser Definition wird deutlich, dass zur Beschreibung landschaftliche, demographische, soziale, wirtschaftliche und administrative Kriterien herangezogen werden. Auch Henkel folgt in seiner Definition ähnlichen Kriterien: „Zusammengefasst ist der ländliche Raum damit ein naturnaher, von der Land- und Forstwirtschaft geprägter Siedlungs- und Landschaftsraum mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte sowie niedriger Wirtschaftskraft und Zentralität der Orte, aber höherer Dichte an zwischenmenschlichen Bindungen“ (Henkel 2004:33). Für die Vergleiche der Regionen werden für die Klassifikation der ländlichen Räume in Deutschland oft folgende Kriterien herangezogen16 (Henkel 2004:34): • • •
Bevölkerungsdichte (